Gesellschaft und Musik - Wege zur Musiksoziologie: Festgabe für Robert H. Reichardt zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428474493, 9783428074495

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Gesellschaft und Musik - Wege zur Musiksoziologie: Festgabe für Robert H. Reichardt zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428474493, 9783428074495

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WOLFGANG LIPP (Hg.)

Gesellschaft und Musik · Wege zur Musiksoziologie

SOCIOLOGIA INTERNATIONALlS Internationale Zeitschrift für Soziologie, Kommunikations· und Kulturforschung Herausgegeben von Eckhart Pankoke, Justin Stagl, Johannes Weiß und Robert Wuthnow

Beiheft 1

Gesellschaft und Musik Wege zur Musiksoziologie Festgabe für Robert H. Reichardt zum 65. Geburtstag herausgegeben von

Prof. Dr. Wolfgang Lipp Universität Würzburg

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Gesellschaft und Musik : Wege zur Musiksoziologie ; Festgabe für Robert H. Reichardt zum 65. Geburtstag I hrsg. von Wolfgang Lipp.- Berlin : Duncker und Humblot, 1992. (Sociologia intemationalis : Beiheft ; 1) ISBN 3-428-07449-1 NE: Lipp, Wolfgang [Hrsg.]; Reichardt, Robert H.: Festschrift; Sociologia intemationalis I Beiheft

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0942-4482 ISBN 3-428-07449-l

INHALT Wolfgang Lipp Gesellschaft und Musik. Zur Einführung

Reinhard Knall Für Robert H . Reichardt

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Ausgangspunkte, Theorien

Christian Kaden Abschied von der Harmonie der Welt. Zu Genese des neuzeitlichen MusikBegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Walburga Gdspar-Ruppert Musik verstehen. Annäherungen an ein Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Peter Fuchs Die soziale Funktion der Musik

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Frank Rotter Kultursoziologische Perspektiven musikalischen Ausdrucks

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Reinhard Kannonier Gesellschaftliche Moderne und künstlerische Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Theoriegeschichte, exemplarisch

Horst Jürgen Helle Musik als Thema bei Georg Simmel und Max Weber

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Michael Benedikt Eine Begegnung: Alfred Schütz besinnt sich auf Mozart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Kurt Blaukopf Musik als Musiksoziologie im Werk Karl Poppers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 161

Inhalt

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Gesellschaft und Musik I Große Musik, musikalische Biographien

Wolfgang Lipp Mozarts "Ehre". Genie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Reinhard Knoll Die Wiedergeburt der Triebe aus der Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 En.oin Horn Anton Bruckner in bester Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Wolfgang Suppan Donaueschingen 1926: Paul Hindemiths Bemühungen um eine amateurgerechte Blasmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Manfred Gabriel Der Komponist und das Musiktheater. Bestimmungsgriinde musikalischen Handelns zeitgenössischer Musiktheaterkomponisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Gesellschaft und Musik ß Klangwelten heute, sozialer Musikbetrieb

Helmut Rösing Musik als Lebenshilfe? Funktionen und Alltagskontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Robert Hettlage Musik-"Szene". Über den Zusammenhang von jugendlicher Musikkultur, Modernität und sozialer Inflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Renate Casagrande und Ralf Risser Musikhören im Privat-Pkw. Demonstration des persönlichen Lebensstils oder Bedürfnis des musikinteressierten Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Wolfgang Schulz Musik als Beruf - zwischen Erfolgszwang und Entfremdung . . . . . . . . . . . . . . 385 Ernst Gehmacher Musik als Kulturaktivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Hans-Peter Meier-Dallach und Hanna Meier Die Stadt als Tonlandschaft Beobachtungen und soziologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 AntonAmann Kunst zwischen Einmaligkeit und Massenware . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

Inhalt

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Musik und Kultur Ethnosoziologische Aspekte

Horst Reimann Die Funktion der Musik in der Operadei Pupi.... . .... . .................... . 445 Mario Prinz Irische Volksmusik- Musik ohne Grenzen? .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . .. .. .. . 463 Andreas J. Obrecht Die Täler der Flöten. Eine ethnosoziologische Abhandlung über die symbolische, rituelle und mythologische Bedeutung der Flöten in den traditionellen Hochlandethnien Papua Neuguineas . . . . . . . . . . .. .. .. . . . . .. . . . . . . . . . .. . 475 Roland Girtler Mitgliedsaufnahme in den noblen Bund der Wiener Philharmoniker als MannbarkeitsrituaL Kulturanthropologische und kultursoziologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Dietrich Schüller Phonographische Dokumentationsmethoden in der Ethnomusikologie. Ein historisch-technisch-quellenkritischer Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Tabula gratulatoria zu Ehren von Robert H. Reichardt

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Zu den Autoren

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GESELLSCHAFT UND MUSIK Zur Einführung

Von Wolfgang Lipp, Würzburg "Gesellschaft und Musik"- der Titel des Bandes ist weit formuliert. Zwar gibt er eine erklärte editorische Zielrichtung an: Beiträge zusammenzuführen, die das Verhältnis von "Gesellschaft" und "Musik"- sozialen Gruppen, Institutionen und Abläufen hier, Klangwelten und organisierten, werthaften Schallereignissen da - näher zu erfassen versuchen. Doch bleibt die Richtung Programm; die Konkretisierung des Vorhabens zeigt, daß das Thema, der Komplexität der Sache selbst entsprechend, nicht nur über eine einzige, stramme Hauptlinie, sondern über verzweigte, vielfältige Stränge, über Exkurse und Exemplifikationen zu entwickeln ist, die ein Netzwerk bilden. Weder "die" Gesellschaft noch "die" Musik stellen einheitliche Größen dar; sie facettieren sich um so deutlicher im Wechselbezug, und es ist nur konsequent, wenn auch die Zugänge zu ihnen, die Methoden wissenschaftlicher Analyse, als heterogen und im Plural erscheinen. Der Untertitel der Sammlung, "Wege zur Musiksoziologie", hält diese Lage expressis verbis fest. Gewiß, als "Bindestrich-Soziologie" und soziologische Teildisziplin existiert die Musiksoziologie inzwischen unumstritten; weder theoretisch noch methodisch sind ihre Voraussetzungen aber definitiv geklärt, und ebenso sehr, wie sich im Bereich der Soziologie die Positionen allgemein hier streuen, bieten sich auch für Fragen, wie die Musiksoziologie sie entwirft, eine Mehrzahl von Näherungsweisen an. So läßt sich der Band, um es nochmals zu sagen, sehenden Auges auf ein offenes pluralistisches Unternehmen ein; das ist sicherlich weniger, als methodische Puristen fordern; es geht im Ertrag in manchem aber über sie vielleicht auch hinaus. "Gesellschaft und Musik" -dieser Titel ist mit Bedacht auch aus einem anderen Grund gewählt: Indem er mit "Musik", nicht mit "Gesellschaft" schließt, will er mögliche soziologistische Mißverständnisse vermeiden und zum Ausdruck bringen, daß Musik auf Gesellschaft virtuell zwar bezogen ist, in Gesellschaft allein aber nicht auch schon aufgeht. Zwar ist Musik in Gesellschaft überall eingespielt; sie korreliert mit unterschiedlichsten soziohistorischen, soziokulturellen, soziopsychischen Größen und übt vielfältige soziale Funktionen aus. Musik schießt über gegebene soziale Zusammenhänge immer wieder aber auch hinaus; sie übertönt sie gewissermaßen, und sie

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übertönt sie nicht nur dergestalt, daß sie als gesellschaftlich zunehmend "ausdifferenziert" erscheint und zum autonomen, mit eigenem Anspruch, nach eigenen Regeln arbeitenden Musikbetrieb avancierte; Musik übertönt das Dasein- soziales Alltagsdasein und seine Normen- im Kern vielmehr dahingehend, daß sie es überhöht, ja übersteigt; sie transzendiert die Routinen und bahnt Übergänge an zu anklingenden anderen Wirklichkeiten. "Hör, es klagt die Flöte wieder, Und die kühlen Brunnen rauschen; Golden wehn die Töne nieder Stille, stille, laß uns lauschen! Holdes Sehnen, mild Verlangen, Wie es süß zum Herzen spricht! Durch die Nacht, die mich umfangen, Blickt zu mir der Töne Licht." (Clemens Brentano) Nicht Gesellschaft ist es, die auf Musik das gleichsam letzte Wort darstellte: Gesellschaft, die Musik- einer Logik von "Musik und Gesellschaft" folgend - reduktionistisch zurückführte auf den je fraglichen sozialen status quo. Das Verhältnis gestaltet sich eher umgekehrt: Musik- im Sinne von "Gesellschaft und Musik" verstanden- beschließt- oder stärkt und bestätigtGesellschaft nicht wie ein spätes, einhakendes Kettenglied, sondern öffnet, ja sprengt ihre Modi; sie führt sie über in Zustände neuer, freierer, transfunktionaler Art. Ehe der Gedanke präzisiert werden kann, sei der Rahmen, der ihn trägt, seien die Berührungsflächen, die zwischen Gesellschaft und Musik bestehen, schematisch einmal näher umrissen: Evolutionäre Aspekte drängen sich dabei zuerst ins Bild. Kann man für frühe entwicklungsgeschichtliche Phasen davon ausgehen, daß Musik als mitschwingendes ästhetisches Moment diffus in nahezu alle soziokulturellen Abläufe eingeflochten war - und besonders Musik und Tanz (im Sinne ursprünglicher leibnaher Musikausübung), Musik und Sprechen (Sprechgesang), Vokal- und Instrumentalmusik ineinanderflossen-, löst sich dieses Band auf späteren evolutionärenStufen und macht zunehmender sozialfunktionaler Differenzierung Platz. "Umgangsmusik", wie sie Arbeitsprozesse (vgl. z. B. Bücher 1919, zum Zusammenhang von "Arbeit und Rhythmus"), das gesellige Leben, rituelle und religiöse Praktiken lebensweltlich lange begleitet hatte, trat hinter "Darbietungsmusik" relativ zurück und gab, was die Erzeugung, Formung und Verbreitung von Klängen betraf, den funktionalen Primat allmählich an verselbständigte, arbeitsteilig spezialisierte, soziale Einzelgruppen, später an das verbetrieblichte moderne Musikwesen als ganzes ab. Dieses, das Musikwesen der Gegenwart, war seinerseits- gehen wir von Europa aus - aus dem frühneuzeitlich entstandenen, auf mittelalterliche Spuren zurückführenden, sozialen

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System der "Künste" hervorgegangen, einem Bereich, der sich neben Wirtschaft und Recht, Politik oder Religion zunehmend mitetablierte; er gliedert sich, von innen betrachtet, heute nach Schaffenden und Nachschaffenden, Produzenten und Konsumenten, Agenten und Kritikem von Musik, und weiteren intemen sozialen Differenzierungen scheinen keine Grenzen gesetzt. Gesamtgesellschaftlich gesehen werden Prozesse indessen auch der Entdifferenzierung, der neuerliche!l sozialen Vermischung, Aneignung und Nutzung bisher getrennter, musikpraktischer Funktionen beobachtbar: Neben den Typen der "Umgangs-" und der "Darbietungsmusik" (siehe zu diesen Begriffen Besseler, 1959) hat sich als weiteres wichtiges Feld musiksoziologischer Forschung inzwischen "Übertragungsmusik" (Blaukopf 1982) herausgestellt. Sie basiert auf dem Umstand, daß es infolge immer perfekterer elektronischer Techniken immer rasanter heute möglich ist, Musik über Tonträger wie Platten (siehe dazu schon Reichardt 1962), Bänder, Kassetten teils zu speichem, teils abzurufen und zu rekombinieren (Synthesizer, Keyboards, Computerisierungen aller Art), so daß Klangwelten und das, was sie sozial und individuell bedeuten, in der Tat nahezu unbegrenzt erzeugt, wiederholt, verstärkt und zu beliebigen, freigesetzten Zwecken ausgebeutet werden können. Für die Musiksoziologie folgt daraus nicht nur, daß sie es in Gesellschaft, Kultur und Kulturgeschichte mit sehr unterschiedlichen sozialen Gattungen von Musik zu tun hat - Gegenständen, an die sie auch unterschiedliche Fragen stellt; ihr wird zudem klar, daß Musik, im großen wie im kleinen, fortwährend auch ihren Stellenwert, ihre Bedeutung im Dasein selbst verändert. Dabei ist es der Beobachter - in Form bald des Alltagsmenschen, bald des Forschers-, nicht aber die Musik, die solchen Bedeutungswandel reflektiert, und zu den Deutungsgrundmustem, die der Beobachter kulturgeschichtlich hierfür entwickelt hat, gehört im Sinne möglicher differentieller Zuordnung gewiß die Unterscheidung, a) daß (und inwieweit) Musik die "Harmonie der Welt", das Zusammenspiel von "Sphärenklängen" wiederspiegelt (siehe musikgeschichtlich dazu Christian Kaden; in diesem Band); b) daß (und inwieweit) sie auf Schöpfungsakte- das spezifische Kunstwollen -des Menschen selbst zurückgeht; oder c) daß (und inwieweit) sie Material und Konsumgut ist, das der Animation und Selbstanimation endloser sozialer Massen dient. Greift man jenen letzteren Aspekt heraus -der seinerseits höchst verschiedene empirisch-soziologische Bearbeitungen zuläßt - , kann man auf den scheinbar banalen, quantitativen, freilich nicht unwichtigen Umstand stoßen, daß der Output von Musik immer mehr heute anwächst, daß die Lärmpegel steigen und Musik - wie man fürchten mag - von Geräuschen, ja bloßem botschaftslosen "Rauschen" am Ende überwuchert wird. Und liegt es dann vielleicht nicht auch nahe, sei es "kritisch", sei es schlicht aus Neugier, die Ohren - einschließlich der Ohren der Musiksoziologie- darauf zu schärfen, ob und wo in einer Welt, die in Geräuschkulissen

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zu versinken, ja ökoakustisch zu vermüHen droht, noch Klänge vernehmbar werden, die klingen, Klänge, durch die die "Sphären" schwingen? Was überhaupt ist das, Musik? Die Frage zu stellen muß nicht heißen, auf ein "Wesen" aus zu sein; es bedeutet, auf Relationen- die Bezüge hier von Gesellschaft auf Musik, und vice versa - zu achten, und eben sie zu klären ist Ziel und Aufgabe der Musiksoziologie. Daß die Theorieansätze, die Kategorien und Methoden, denen die Disziplin hierbei folgt, durchaus differieren, wurde schon gesagt; waren schon die Klassiker auf einen gemeinsamen Nenner hier nicht zu bringen - Max Weber sah Musik als Paradefall okzidentaler Rationalisierung an (vgl. jetzt Braun 1990; ferner Helle, in diesem Band), Georg Simmel stellte sie ins Konfliktfeld von "Formen", emotionalem "Leben" und ihren Wechselwegen -,so gehen auch die modernen Vertreter von uneinheitlichen theoretischen Startpunkten aus. Durchgesetzt hat sich namentlich der Handlungsansatz, wie ihn Kurt Blaukopf (1982) und seine Schule vertritt; zunehmende Bedeutung erhalten daneben systemtheoretische und funktionalistische Frageweisen (vgl. Peter Fuchs, hier; ferner, mit eigener Variante, Frank Rotter 198 5, und in diesem Band), während die neomarxistisch-kritischeRichtung, wie sie Theodor W. Adorno repräsentiert hat (1973), ein anspruchsvolles Eigendasein führt. Gemein ist allen diesen Bemühungen immerhin, daß sie Musik als Artikulation von "Kunst", Kunst wiederum als Teil von "Kultur" (oder des sozialen "Kultursystems") ansehen. Musiksoziologie - dies gilt wohl allgemein- wird als Kultursoziologie begriffen, ja gewinnt als Kultursoziologie erst Substanz, und zu den Implikationen dieses Umstands zählt nicht zuletzt, daß die Disziplin ihre dichtesten, anregendsten und besten Ergebnisse dort erbringt, wo sie interdisziplinär mit benachbarten kulturwissenschaftlichen Fächern überhaupt, so der Kultur- (und Musik-)Geschichte, der Kulturanthropologie und (Musik-)Ethnologie, der Kulturpsychologie und Psychologie der Emotionen, einschließlich der (musikalischen) Lebenslaufforschung, zusammenarbeitet. Die Frage, was Musik, soziologisch-kultursoziologisch gesehen, denn am Ende nun sei, ist damit freilich nicht erledigt. So variantenreich die Antworten, wie der vorliegende Band erweist, dazu auch ausfallen: es bestehen am Ende Konvergenzen, und in ihrem Fluchtpunkt zeichnen sich Aussagen, die tragfähig scheinen, ab. Musik, als Kulturtatbestand, ist zuvörderst als Phänomen zu begreifen, das "Bedeutungen" aufweist, dem "Sinn" zukommt und das "Zeichencharakter" hat; es geht- vom gegebenen internen Weisungsgefüge einmal abgesehen - über bloße Gegenständlichkeit prinzipiell hinaus, trägt dem, der Musik hört, Anmutungen, Wahrnehmungen oder Botschaften zu, die "Wert" für ihn haben, und erbringt Funktionen, sinnhafte Wirkungen, auch gegenüber Gruppen, Kollektiven und ganzen sozialen Welten. Daß man Musik mit "Sprache" - einer Art Sprache wenigstens - verglichen hat, liegt insoweit auf der Hand. Dagegen steht freilich nicht nur, daß diese

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Sprache so recht, so genau, so evident vom Hörer gar nicht verstanden wird - sie dringt durch Gefühle, die sie anrührt, nur wie durch Schleier durch; dagegen steht vor allem auch, daß man nicht "gegensprechen" kann gegen sie, daß sie Dialoge, Rückfragen, Antworten nicht kennt und "Bi-referentialität" (Fuchs, in diesem Band)- Selbst- und Fremdrechtfertigung von Sinn im Wechsel- unterläuft. Eher liegt es nahe, Musik als "Medium" generell, als Fluidum von Übertragungen zu sehen, das Sinn auf über- (oder unter-) sprachlichem Niveau- einem Niveau sui generis- transportiert. Welcher Sinn aber ist es, den Musik hier befördert? Und woraufzu, woraufhinaus geht ihre Wirkung? Plausibel ist ohne Zweifel die These, daß Musik, die über den Hörsinn die ontogenetisch früheste menschliche Sinnesleistung affiziert, anknüpft an das schon vorgeburtliche "mutternahe akustische Erleben" (ursprünglich der Herztöne der Mutter), das die erste "existentielle Vertrautheitsbasis" des Menschen darstellt (vgl. Rotter, op. cit.). Musik halluziniert- mit wechselndem Komplexitätsgrad, wechselndem Raffinement - demnach die Wiederherstellung dieser Basis; sie erscheint für den Hörer- und eben dies macht ihre elementare "symbiotische Bindung", ihre tiefe emotionale Verankerung aus - noch in elaboriertester Gestalt als "Muttersubstitution", gerät -bei allen "Chaoszitaten"- zum beruhigend pochenden, "akustischen Fetisch", der zärtlich näherkommt, und hat insoweit regressive Züge. Der Sinn, den Musik hier transportiert, weist über Regressivität gleichwohl hinaus; er ist auf die schließliche, über "Angstlust" regulierte, ästhetische Öffnung von Mutter-Kind-Symbiosen, die Identitätsfindung und Individuierung des konkreten, menschlichen Einzelnen selbst gerichtet, und Rotter spricht ihm erkennbare "personfunktionale" Bedeutung zu. Musik vermittelt -bis hin zur Qualität gleichsam selbstgenießerischer "narzißtischer" Befriedigung - Gefühle affektiver Sicherheit; trotz des "regressiven Sogs", den sie mitschwingen läßt, trägt sie, je differenzierter sie selbst erscheint, auf dieser Grundlage zum Aufbau immer differenzierterer Strukturen auch beim Hörer bei; Sie begleitet und leitet, wenn man so will, den Menschen im Übergang vom Kind, das mit der Mutter verschmolzen war, bis hin zum Erwachsenen, der der Welt als selbstgewisses, selbstsicheres, emotional zentriertes Individuum gegenübertritt. So attraktiv diese These als Gedanke erscheint, so einseitig und ergänzungsbedürftig bleibt sie empirisch. Zunächst: Musik ist mehr als nur ein großes, wenn auch variantenreiches Schlummerlied; sie wird nicht nur gleichsam immer zur Wiege gesungen, sondern kann als Schlachtruf schallen, ertönt als Marschmusik und klingt auf auch im Walzer, in rauschhaftem Tanz. Deutlich in diesem Zusammenhang wird zugleich, daß Musik nicht nur personale, sondern ausdrückliche soziale Funktionen erfüllt, Funktionen, die über bloße mediale und kommunikative Zwecke hinausgehen und

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auf distinkte soziale Inhalte: Feste und Feiern, Kriege und Jagden, auf Religion oder Politik, Arbeit oder Vergnügen gerichtet sind. Muß man hier nicht vermuten, daß Musik, in entsprechend konkrete soziokulturelle Daseinsfelder eingelassen, typisch auch eingeht auf sie und somit genuinen soziokulturellen Erfordernissen entgegenkommt? Oder war Mozart, der zwischen aufsteigender bürgerlichen Welt und ancien regime, Fürstenthronen und der Loge zur "gekrönten Hoffnung" , revolutionärem Geist und christlichem Miserere komponiert hat, bloß narzißtischer Muttersohn? Litt er unter der Mutter gar? Und hat er nur daraus geschöpft? Die Evidenz spricht dagegen. Inspiziert man die soziale Funktion von Musik einmal näher, gibt gute Hinweise die Systemtheorie. Indem sie Musik als "Kunst" begreift, attestiert sie ihr namentlich, daß sie mittels der Phantasmen, Glasperlenspiele und besonderen Fiktionen, die sie schafft, in der Realität im Kern den Raum des Möglichen, die Appräsenz von Alternativen erweitert, und dies nicht nur dergestalt, daß das Andere, als mögliches Anderes, ausgegrenzt aus der Wirklichkeit und bloß denkbar bliebe; im Sinne der Widerständigkeit, jener Materialität und zugleich Wertgeladenheit, wie sie Kunst eben auszeichnet, wird es ins Konkrete vielmehr eingegrenzt. Musik führt, wie Kunst generell, die Differenz, durch die die Wirklichkeit das bloß Mögliche, um sich mit sich identisch zu halten, nach dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten von sich abtrennt, als Binnendifferenz inmitten ihrer wieder in sie ein; sie wirkt, um es mit Arnold Gehlen (1965) zu sagen, als "Transzendenz ins Diesseits" und schärft beim Hörer, an welchem psychischen, sozialen oder kulturellen Ort er auch steht, die Sensibilität, das Dasein als ganzes als fließend, als unterwegs zu wechselnder anderer Gestaltung wahrzunehmen. Beschließen wir diesen abstrakten Diskurs und erheben die Frage, was er konkret bedeutet! Ich stelle die These auf, daß Musik, soziologisch gesehen, die Funktion hat, im Medium von Kunst dazu beizutragen, im sozialen Dasein Übergänge, Wandlungen, kurz: "Passagen" zu organisieren. Gesellschaft ist ja nirgendwo starr gefügt; jenseits rigiderer Formen, die sie sicherlich kennt, öffnen sich vielfach Zonen der "Transformation", kommt es zu "Bewegungen" , gehen "Entwicklungen" vor. Dies gilt nicht nur im einfachen diachronen Sinn, daß die "Zeit nicht stehen bleibt" und auch Gesellschaft eben sich "wandelt"; es gilt, wichtiger noch, in der Bedeutung, daß Gesellschaft und Kultur, gerade synchron genommen, höchst spannungsreiche, vibrierende, von "normativem Gefälle", sozialen Stromschnellen sozusagen, durchzogene Gebilde darstellen; sie erlegen es nicht nur dem Einzelmenschen, sondern Gruppen und Kollektiven, ja integral auch sich selber auf, diesen "Tonus" zu überwinden - den Status bald also anzuheben, bald auszugleichen - , und fordern die Bereitschaft ab, in andere, neue, oft extreme soziale Aggregatzustände am Ende umzuspringen.

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Passagen, wie sie hier sichtbar werden, werden- darauf hat ursprünglich die Kulturanthropologie aufmerksam gemacht (van Gennep, 1909) - im allgemeinen rituell begleitet und von stilisierten, religiös überhöhten Praktiken gesäumt. Sie übersteigen die Routinen, vollziehen sich im Modus der "Begeisterung" (im Sinne Max Webers, Emile Durkheims) und finden, so behaupte ich, ihre angemessenste, evidenteste, unmittelbarste Führung durch die Kunst der Musik. Augenscheinlich ist dies schon empirisch: Statuspassagen wie Geburt, Hochzeit oder Tod, Initiationen wie Jugendweihen, ja die Exzesse von Jugendsubkultur generell (vgl. Robert Hettlage, in diesem Band), hervorgehobene sportliche (z. B. Olympiaden), politische (z. B. Staatsakte) oder kulturelle (z. B. Jubiläen) Ereignisse, Ventilsitten wie Saturnalien und umgekehrt: die Pflege hochsublimierter soziopsychischer Feinzustände: sie alle werden getragen, befördert und vorangetrieben von Musik, und man kann gleichsam an den Phänomenen selbst ablesen, daß hier wechselseitige Verstärkung, "Resonanz" und strukturelle Analogie vorliegt. Sieht man die These, Musik habe die Funktion, soziale Passagen anzuführen, in der Tat als realistisch an, wird man Auffassungen, wie sie Goethe vertrat: "Musik (sei) ... das unschuldigste und angenehmste Bindungsmittel der Gesellschaft" (an Christiane [Vulpius], 12. 9.1815), freilich sogleich als verkürzt abweisen. Was Goethe, dessen Musikverstand vom Rokoko noch der Vorklassik geprägt war, barmonistisch hier vorschnell verharmlost hat, ist in Wahrheit nicht ohne Konflikte, ohne Ängste und Aggressionen zu haben; ebenso wenig, wie die Gesellschaft nur aus der Unschuld lebte, glänzte in weißer Helle auch nur die Musik; auch sie entwickelt ihre Disharmonien, schreit auf in Dissonanz, tanzt ihre valsestristes und wechselt von Dur zu Moll. Jener oft zerreißende seelische und kulturelle Tonus, der Spannungsbogen, den die Gesellschaft spannt, hallt wider in der Musik, in typischer musikalischer Tonalität, und er verträgt und verstärkt sich in ihr und weitete in ihr sich noch aus. Zieht man hier eine Zwischensumme, geht jene oben, im Anschluß an Rotter herausgestellte, personfunktionale Gabe von Musik: den Weg des Menschen zu freierer, individueller und personaler Lebensführung vorzubahnen, mit der Wirkung, Passagen sozialer Art zu befördern, durchaus zusammen. Hier wie dort begleitet Musik Übergänge; in ihrem ihr eigenen Medium, dem Fluidum von Tönen, gibt sie Passagen dabei nicht nur oberflächliches, spielerisches, nur akzidentielles Gesicht; sie knüpft das Geschehen, das überformenden, sehr realen, soziokulturellen Zwängen unterliegt, an unterbauende emotionale Engführungen in der Tat der Substanz nach an und erleichtert, von Ebene zu Ebene, Synchronisation, Symbiose und Übersetzung. Was im Effekt geschieht, ist gerade nicht hierbei Regression. Musik macht es vielmehr erst möglich, individuelle, im Psychischen, bloß Psychischen,

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befangene Empfindsamkeiten aufzubrechen; sie überwindet sie, indem sie weitergreifenden, weiterschwingenden, ästhetischen Sinn - Sinn, der die "Sphären" klingen läßt- offeriert, und läuft dem Einzelmenschen im Ahnen, Vernehmen, Aufnehmen kultureller, ja verallgemeinerter "kosmischer" Bezüge animatorisch gleichsam voraus. Hebt man die Sache noch einmal ins Abstrakte, sind es vor allem zwei Momente, die Musik dazu prädestinieren, Passagen anzubahnen und Menschen, Gruppen, Kollektive durch Passagen hindurchzuführen: Zu nennen ist erstens (im Anschluß an Fuchs 1987, und in diesem Band) die typische zeitliche Organisation von Musik. Musik ist im Kern temporal strukturiert (vgl. a. Dahlhaus I Eggebrecht 1985, bes. Abschn. IX und X; musikwissenschaftlich); ihre Töne, ihre Tonfolgen stellen Wegweiser dar, die den Hörer auf Exkursion in die Zeit einladen, und wer immer Musik, wenn er sie hört, auch wirklich hört, wird in ihren Rhythmus, ihren Zeitwirbel suggestiv, bis hin ins Mitschwingen und -klingen, ins Mitbewegtsein des Leibes miteinbezogen. Er tritt eine Reise an- "Ich schreite kaum, doch wähn' ich mich schon weit.- Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit" (Richard Wagner, Parsifal; vgl. Dahlhaus 1989, mit näheren Differenzierungen) -, und begibt sich gleichwohl auf ein Schiff, das schwanken und schaukeln kann, dessen Kurs er nicht kennt und dessen Hafen ferne liegt. Das zweite Moment des in der Tat "passageren" (Fuchs)- Transitionen, und zugleich Trancen, ermöglichenden - Charakters, der Musik eignet, knüpft unmittelbar daran an: Zwar ist Musik, wie wir sahen, sinnhaft, also sprachförmig aufgebaut. Sie spricht freilich nicht wirklich, schließt Gegenreden aus und bleibt auch selbst außerstande, ihren Sinn, ihre Botschaft zu explizieren. Musik, die sich nach eigenen Regeln, nach freier Willkür entfaltet, läßt den Hörer gleichsam sprachlos werden; sie verblüfft sein Fragen von Ton zu Ton, enttäuscht ihn und enttäuscht ihn auch nicht - und zieht ihn gleichwohl in den Bann. Ebendies entspricht der Struktur, der Passagen, Bewegungen, Übergänge auf der hier fraglichen soziokulturellen Ebene unterliegen. Das Kind, das zum Mann initiiert wird, weiß nicht wirklich, was es erwartet, Avantgarden, die Revolutionen betreiben, schwärmen von Zeiten, die sich erweisen werden, und Krieger, die sich zum Kampfe rüsten, werden Tod oder Sieg immer später- und vielleicht nie - erfahren. So sehr auch Sprache, als dialogisches Prinzip, im sozialen Alltag unter gefestigten, normativ geregelten, "durchformulierten" Bedingungen zu dominieren scheint: Im Falle des Verfransens, des Brüchigwerdens dieser Bedingungen, im Falle nötiger struktureller Aufstufung- im Falle von Passagen also, die ein Fall sozialer "Ausnahme" sind-, muß Sprache tendenziell verstummen; sie kann das Ziel des Prozesses, dessen "Code" sie nicht kennt noch entschlüsselt, in Worte angemessen nicht fassen, verfällt ins Stammeln (vgl., unter dem Stichwort einer Theorie des Tragischen, dazu auch Walter Benjamin 1963) und muß den Sinn des Geschehens, das vorbeizieht an ihr, an offenere, weil zum

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"Tiefsinn" befreite- und zugleich verschlossenere, weil nur "weisende", "zeigende" - andere Symbolismen, an Rituale, Künste, am Ende die Musik überstellen. War dies die Einsicht nicht schon Nietzsches? Wenn Nietzsche die "Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (1872) herführte, hat er eine Theorie nicht nur der Entstehung des attischen "Dramas" vorgelegt; auch wäre es falsch, in seiner Schrift, bei allen Bezügen auf "Götterdämmerung", eine Verherrlichung nur der Musik Richard Wagners zu sehen. Zieht man aus seinem Text ein allgemeineres soziologisches Resümee (vgl. a. Lipp 1984)und setzt man anstelle der Chiffre der "Tragödie" die homolog angelegte, soziokulturelle Kategorie der "Passage", anstelle des "Chores" die bewegte soziale "Gruppe" ein-, konvergieren die Ergebnisse ersichtlich. Passagen entwickeln sich, ihrer Struktur nach, in der Tat als Tragödie; Tragödien, umgekehrt, wie sie Gruppen, Massen, das "Volk" erleiden, haben Passagencharakter; sie gehen- jenseits der Helle versprachlichter, hoher, "apollinischer" Formvollendung- über Brüche - das soziale wie normative Nichts - hinweg, erfahren Chaos, Spannung und Tortur - und treiben sich doch in satyrhafter, "dionysischer" , auferstehender Lebensfülle, in Trance und Taumel, weiter. Ihr Ausdruck- wenn sie resonanten eigenen Ausdruck denn finden -, ihr Fahrensmann aber ist, bis hin zu Louis Armstrong, Musik. Stimmt dieses Bild? Natürlich nicht- so nicht, oder so doch nicht ganz. Die Forschung wird Einwände haben, und gewiß ist es gut, daß sie im einzelnen die Probe auf Exempel macht. Wie etwa ist der Status von kommerzialisierter Musik, jener Soundtracks der Supermärkte, oder ubiquitärer medialer Musikberieselung einzuschätzen? Was hat Partymusik, ja überhaupt Musik, die aus Kulissen und Hintergründen träufelt, mit jenen Zeitreisen zu tun, durch die der Mensch, durch die Gesellschaft und Kultur existentiell auf neue, ihnen noch fremde Ufer zugehen? Oder: Wie läßt sich, anders gesprochen, "Unterhaltungsmusik", wie jene hochartifizielle, sogenannte "ernste" Musik einordnen, Musik, die zwar viel mit abgehobener individueller Stimmung- exklusiver personaler Trance -, wenig aber mit korrelierenden sozialen Transitionen zu tun zu haben scheint? Wie schließlich muß man "atonale", wie "experimentelle" Musik verstehen? Die Fragen ließen sich vermehren- und ich breche sie dennoch hier ab. Um Antworten, jedenfalls, muß man nicht verlegen sein; sie sind, in repräsentativer Streuung, gerade in diesem Band gesammelt, und die Musiksoziologie wird auch in Zukunft ambitioniert hinter ihnen her sein! So mündet meine Einführung zuletzt nicht bloß in ein Fragezeichen, sondern in die Einsicht aus, daß die Musik der Musiksoziologie, durch sie am Ende aber der Gesellschaft selbst, für lange zu denken gibt. In der Tat ist es die Musik, nicht aber die Gesellschaft - oder die sie beobachtende, zuständige Wissenschaft - , die das Dasein öffnet, seine Panzerung löst, sein inneres 2 Beiheft 1 zu Sociologia Intemationalis

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Wolfgang Lipp

Leben in Bewegung setzt; Musik begleitet, ja bahnt soziale Passagen, und man wird erst sekundär, für das "Hinterland" von Musik, die musikalische "Etappe", sagen können, daß die Gesellschaft Musik auf sich selbst zuschreibt und sie einspannt in intranszendente, vorgegebene, sozial schon geschlossene Funktionen. So lautet die Formel, die dem vorliegenden Band voransteht, durch die Überlegungen inzwischen bestärkt, "Gesellschaft und Musik" auch an dieser Stelle; sie wurde mit Bedacht nicht nur für die hier präsentierte, musiksozioloische Einzelsammlung gewählt, sondern soll Anstoß auch für die künftige theoretische und empirische Forschung geben.

* Forschung geht nicht ohne Forscher, nicht ohne Forscherpersönlichkeiten vonstatten. Wenn diese Sammlung Robert H. Reichardt, dem an der Universität Wien lehrenden Soziologen, Kultursoziologen, Komponisten und lange aktiven, praktizierenden Musiker, zum 65. Geburtstag als Festgabe gewidmet ist, hat dies guten Grund. Nicht nur, daß Reichardt musiksoziologisch schon seit den frühen sechziger Jahren gefragt und gearbeitet hat - er zählt insoweit zu den Beharrlichsten auf diesem Gebiet und ist dem Thema zeitlebens treu geblieben -; indem er das spezifische Interesse methodisch ebenso nüchtern, im Sinne klassischer empirischer Haltung, wie theoretisch vertieft und mit hoher interdisziplinärer Kompetenz verfolgte, hat er dazu beigetragen, die Anliegen der Musiksoziologie in der Profession auch qualitativ zu sichern. So ist es einerseits die verläßliche erfahrungswissenschaftliche Perspektive, die der Arbeit Reichardts Kredit gibt; sie hat nicht zuletzt auch bewirkt, daß Reichardt gerade die zeitgenössischen musikalischen Entwicklungen- die Revolution der Elektronik, die Mediatisierung und Kommerzialisierung von Musik - früh in den Blick nahm und analysierte. So ist es zum anderen aber auch der weite, von einem genuinen Verständnis von Kultur, von Kulturwerten und kultureller Arbeit gespeiste, geisteswissenschaftliche Horizont, der Reichardt befähigt hat, seine Interessen, Anregungen und Einsichten weiterzugeben, ja eine veritable kleine akademische "Schule" zu bilden. Einige, nicht alle seiner Schüler, Mitarbeiter und Freunde haben sich mit Beiträgen nun auch in diesem Band eingestellt, und ihre Reverenz erweisen auch die anderen Autoren der Sammlung. Robert H. Reichardt, der gebürtige Schweizer, der der Österreichischen Akademie der Wissenschaften seit vielen Jahren angehört, hat es in der Tat verstanden, im sprichwörtlich fruchtbaren, universitären und geistigen Klima Wienseigene thematische und fachliche Impulse zu geben; wenn die vorliegende Festgabe auch Beiträge vieler, zum Geburtstag gratulierender Kollegen aus Deutschland enthält, möge der Jubilar dies als weiteres Zeichen des Dankes und der Anerkennung nehmen!

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Literatur Adorno, Theodor W. (1973): Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt IM. - Benjamin, Walter (1963): Ursprung des deutschen Trauerspiels (1927). Frankfurt IM. - Besseler, Heinrich (1959): Das musikalische Hören der Neuzeit. Berlin I Ost.- Blaukopf, Kurt (1982): Musik im Wandel der Gesellschaft. Grundzüge der Musiksoziologie. München.- Braun, Christoph (unter Mitarbeit von R. Mehring) (1990): Torso und Synthese. Zu Max Webers "Musiksoziologie", in: Musiktheorie 5, Heft 3, 237-245. -Bücher, Karl (1919): Arbeit und Rhythmus. Leipzig, 5. Aufl. Dahlhaus, Carl (1989): Wagners "Bühnenfestspiel" - Revolutionsfest und Kunstreligion, in: Haug, W. IWarning R. (Hg.): Das Fest. München, 592-609.- Dahlhaus, Carl I Eggebrecht, Hans Heinrich (1985): Was ist Musik?(= Taschenbücher zur Musikwissenschaft, 100). Wilhelmshaven.- Fuchs, Peter (1987): Vom Zeitzauber der Musik. Eine Diskussionsanregung, in: Baecker, D. et. al. (Hg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag. FrankfurtiM., 214-237.- Gehlen, Arnold (1963): Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt I M., 2. Aufl.- Gennep, Arnold van (1909): Les rites de passage. Paris.- Lipp, Wolfgang (1984): Kultur, dramatologisch, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 9, Heft 1+2 (Kunst - Kultur - Gesellschaft), Wien, 8-25. - Nietzsche, Friedrich (1872): Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. - Reichardt, Robert H. (1962): Die Schallplatte als kulturelles und ökonomisches Phänomen. Ein Beitrag zum Problem der Kunstkommerzialisierung. Zürich.- Rotter, Frank (1985): Musik als Kommunikationsmedium. Soziologische Medientheorien und Musiksoziologie. Berlin.

2*

FÜR ROBERT H. REICHARDT Von Reinhold Knoll, Wien Eine Festgabe kann innerhalb eines klar umrissenen Fachgebietes nicht auf eine Rechtfertigung verzichten. Ist sie zwar eine Sammlung von Beiträgen, die in idealer Weise thematisch mit der Musiksoziologie und einem Musiksoziologen übereinstimmen, soll sie dennoch im Sinn einer Fortsetzung wissenschaftlicher Diskussion verstanden werden, was gewiß auch in der Absicht von Robert H. Reichardt liegt. So war nicht die Ausgewogenheit zwischen Thema und dessen Personalisierung das Ziel, sondern die Sichtung eines weiten Terrains der Musiksoziologie, das Robert H . Reichardt in seinen wissenschaftlichen "Wanderjahren" ebenfalls durchschritten hatte. Nun war der Antritt dieser wissenschaftlichen Reise für Robert H. Reichardt nicht leicht gewesen. Nach seinen frühen Jahren in Basel- von 1927 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs- finanzierte er sein Studium auch als Werkstudent. Waren schon seine Ausbildungswege, gemäß der Interessen, weit verzweigt - zu seinen Lehrern zählten in Ökonomie Edgar Salin, in Philosophie Karl Jaspers, in der Soziologie Heinrich Popitz - so entwikkelten sich auch seine kurzfristigen Beschäftigungen neben dem Studium sehr verschiedenartig: vom Versicherungsmathematiker bis zum Mitbegründer einer kleinen Jazzband. Später, während seines Studienaufenthaltes in den USA, vor allem bei Oskar Morgenstern, war Reichardt nebenbei auch als ein fast professioneller Pianist abends unterwegs, der in den damals noch subkulturellen Zentren Jazz spielte. Nun ist es kein nebensächliches Merkmal von Robert H. Reichardt, daß er nicht nur seine wissenschaftlichen Interessen schulte, sondern auch sein musikalisches Talent nutzt. Diese "Doppelstrategie" zwischen Wissenschafter und ambitioniertem Musiker begünstigten Reichardts Neigung zur Musiksoziologie und er hatte sich auch mit einem Thema aus diesem Bereich habilitiert: "Die Schallplatte als kulturelles und ökonomisches Phänomen". In dieser Studie, die 1962 erschienen war, hatte Robert H. Reichardt schon die Verknüpfung jener Themen gesehen, die ihn weiterhin beschäftigen sollten: Die Verknüpfung von Kunst, Kommerzialisierung und damit die veränderte Topoi von Kultur. Ferner die Fragen der erleichterten Teilnahme an einer "konsumfreundlicheren" Kunst und einer auf lange Frist hin veränderten sozialen Umgehungen. Immerhin war er damals zu der Schlußfolgerung gekommen: "Nicht nur emanzipiert sich die technische Perfektion des Wer-

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Reinhold Knoll

kes an sich zu einem selbständigen Wert, sondern seine Verflechtung mit der Technik ... wird stark aufgewertet. Im Bereich der Schallplatte im speziellen entwickelt sich eine eigentliche ,Kunst der perfekten Wiedergabe' ... ja die zum, Selbstzweck wird." Oder: "Der ,Personalkult', der sich an künstlerische Leistungen anknüpft, übernimmt geseilschaftliche Bedürfnisbefriedigungen, die mit dem Typischen der Kunst nichts mehr zu tun haben. Er wird zu einem Haupt-Motor des Absatzes von kommerzialisierter Kunst." In der Folgezeit hatte sich Robert H. Reichardt aber vom Gelände der Kultur- und Musiksoziologie wieder zurückgezogen. Allgemein waren "laute Zeiten" angebrochen, die Dominanz über das Territorium insgesamt beansprucht worden- das war Reichardts Sache nicht. Zwichen Frankfurt und Donaueschingen wurde der Ton angegeben und diesen Richtungen fühlte er sich nicht verbunden. Mit der Übersiedlung nach Wien an das "Institut für Höhere Studien" öffnete sich ein gänzlich neuer Tätigkeitsbereich, der von zwei Richtungen skizziert ist: Einerseits setzte er seine Studien innerhalb der Verbindung von Mathematik und Soziologie fort, versuchte auch später innerhalb der deutschen Gesellschaft für Soziologie eine diesbezügliche Arbeitsgruppe einzurichten, andererseits beginnt er gerade in Wien seine praktischen Forschungsprojekte zur Stadtforschung und über den Großstadtverkehr. In der kultur-soziologischen "Nutzung" des ersten Bereiches entwarf er seine Skizzen zur "artificial intelligence" oder zur "Kreativität im Kontext des Computers" und seither ist die Verschmelzung von Technologie und Kultur unverzichtbarer Schwerpunkt der Forschungen; im anderen Bereich versuchte er eine praktisch-politische Umsetzung zu erreichen, doch waren die Schlußfolgerungen Reichardts zu früh gewesen. Hatte er dem Individualverkehr 1974 in der "Bedürfnisforschung im Dienste der Stadtplanung" in den Möglichkeiten einer Soziologie des Kfz-Verkehrs 1969 jene Beschränkung auferlegen wollen, wie diese erst heute notwendig erscheint, so erntete er dafür Achselzucken und Unverständnis. In den zahlreichen Publikationen zeigt sich nicht nur ein umfassendes Interessengebiet von der Allgemeinen Soziologie bis zu interdisziplinären Fragestellungen, sondern neben den drängenden Problemen der Ökologie hält Reichardt der Kultursoziologie die Treue. Kommt ihm hier sein formalanalytisches Verständnis von konfliktarischen Relationen zu Hilfe- so etwa in der Anwendung von Austauschtheorien in der Veranschaulichung der Behandlung des ursprünglichen Gegensatzes von Wirtschaft, Ökologie und Politik, dargestellt in den "Strukturellen Aspekten der Rezipr ozität und allgemeiner sozialer Austauschphänomene" von 1973, so sieht er die Fundierung dieser gesellschaftspolitischen Fragen in der Kultur, deren gewandelte Bedeutung "im" und für den Menschen und für die Zukunft. Diesen Fragen widmete Reichardt eine Reihe von Arbeiten, unter anderem eine mit prognostischem Tenor: "Manipulation und Gewalt- Die Bedrohung des Menschen durch den Menschen" 1973. In dieser Studie ist die Warnung enthalten, die

Für Robert H. Reichardt

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die Bildungspolitiker erst langsam zu beherzigen beginnen: "Die Suche nach neuen Indikatoren, die mehr über das Wohlbefinden der Bevölkerung aussagen als Zahlen des Bruttosozialproduktes, können im günstigen Fall zu Grundsatzdiskussionen über Ziele sozialer Entwicklungen führen; im ungünstigen Falle führen sie zur Anbetung neuer quantitativer Maße ... , was bereits im Bereich der Bildung eintritt, wo Alphabetisierungsziffern oder Prozentzahlen von Hochschulabsolventen die Unterschiede der Ausbildungsqualität verschleiern sollen." Nun sind diese kritischen Äußerungen im Rahmen der wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht im Vordergrund zu sehen. Reichardt wägt seine Meinungen ruhig ab, bevorzugt eher die zurückhaltende Bescheidenheit und nicht die Dramaturgie der Untergangsvisionen. Es widerspräche auch zutiefst seiner genuinen philosophischen Haltung, die ihn zur Kontemplation, zur Ruhe der Betrachtung der Dinge zurückzwingt. Es ist daher keineswegs überraschend, daß er eine Monographie Josef Mathias Hauer zum 100. Geburtstag schreibt, 1983, sieht er doch im "Zwölftonspiel" nicht nur einen Schlüssel des Verständnisses für die außereuropäische Musik, sondern erkennt in der Schönheit der Kompositionen Hauers das Wirken eines "Prinzips der Vermenschlichung einer abstrakten formalen Gestalt". "So streng determiniert und formal abstrakt die Struktur des Zwölftonspiels ist, so widersinnig wäre doch eine starre, kalte oder gar automatenhafte Interpretation .. . Es muß eben gleichsam durch das Medium eines fühlenden musikalischen Menschen durchgegangen sein, um die spezifische psychische Tiefenwirkung entfalten zu können, deren es fähig ist." Gleichzeitig mit monographischen Arbeiten publizierte er einerseits die "Einführung in die Soziologie für Juristen", in der er einen knappen, klaren Überblick über das Fach bietet und somit auch als Grundlage der Information über ein Wissensgebiet weit über den studentischen Gebrauch hinaus dienen kann, andererseits Forschungsarbeiten zu kultursoziologischen Phänomenen. Als Beispiel ist seine Arbeit "Der sozialwissenschaftliche Kontext einer Soziographie des Österreichischen Musiklebens" 1979 zu werten, in der nicht nur die empirischen Befunde ihre Erkenntnisfunktion zeigen, sondern zugleich auch methodische Probleme einer musiksoziologischen Soziographie vorgelegt werden. Reichardt weist darin auf die Symbolisierungsfunktion von Musik hin, "daß faktische Musikausübung, passiver Musikkonsum sowie geäußerte Präferenzen als wichtige Orientierungshilfen in das Interaktionssystem eintreten. So bildet, wenn sich bisher unbekannte Menschen näher kennenlernen wollen, der musikalische Geschmack eine wichtige Orientierungshilfe - wohl gar nicht so sehr über die Differenziertheit des ästhetischen Wahrnehmungsvermögens als vielmehr über Werthaltungen der Interaktionspartner." Im Rückblick darf man Robert H. Reichardt sowohl hohe Spezialisierung innerhalb der Soziologie zuerkennen wie auch "arbeitsteilige" Grenzbezie-

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Reinhold Knall

hungen: In seiner Kultursoziologie müssen seine Terminologien und Begriffe gleichsam die Lager wechseln, zwischen den Disziplinen pendeln, denn wie wären denn die UniversaHa der Kultur anders zu schildern? Es zeigt aberzum Positiven gewendet -, welche Vorteile die Interdisziplinarität birgt, wie sie aber auch zu der Einsicht überredet, diesen schwierigen Bereich, der schließlich in der Musiksoziologie eine nochmalige Spezialisierung erfährt, nicht scholastisch verteidigen zu wollen, sondern dialogfähig zu erhalten. Daß Robert H . Reichardt den Nachweis hiefür erbrachte, soll diese Festgabe zu seinem 65. Geburtstag besagen.

ERSTER TEIL

Ausgangspunkte, Theorien

ABSCHIED VON DER HARMONIE DER WELT

Zur Genese des neuzeitlichen Musik-Begriffs Von Christian Kaden, Berlin I.

Gibt es einen Zweifel, daß Musik "absichtsvolle Organisation von Schallereignissen" 1 sei, geordneter Klang, Tonkunstper se? Das Sprichwort ruft es uns allen zu: der Ton mache die Musik, und er allein; wir könnten uns daran genügen lassen. Gerade Sprichwörter aber haben ihre Geschichte; und lediglich in deren Grenzen erweist sich ihre Gültigkeit. Das Selbstverständliche versteht sich nur von selbst, solange man seinen historischen Ort aus dem Sinn verliert. Für den zitierten Musik-Begriff- "unseren" Begriff, den Begriff unserer Tage - gilt dies in besonders hohen Graden: Er ist von beachtenswerter Jugendlichkeit. Kaum vor dem 18. Jahrhundert verfestigt sich die Vorstellung von "Tonkunst" zum Terminus 2 , zumindest nicht mit den Würden einer Bildungs-Definition. Ältere Quellen, namentlich musiktheoretische Schriften des Mittelalters, setzen andere Akzente. Vielfach beziehen sie sich nicht auf das Resultat einer Tongebung ("die Töne" schlechthin), sondern auf den Akt der Hervorbringung, die Tätigkeit des Musizierens. Musik ist "scientia bene modulandi" 3 , "peritia modulationis" 4, "veraciter canendi scientia" 5 , "ars . .. regulariter canendi" 6 : das heißt Kunst des Singens und Spielens, praktischer Vollzug 7 • Alltagssprachliche Texte scheinen sogar, bis etwa 1600, den verallgemeinernden Oberbegriff von "musica I Musik I music 1 musique" vollends zu meiden 8 ; vorgezogen werden sinnlich konkrete Prägungen wie "Gesang", "Lieder", "Singen" , auch- mit Blick auf König David, den Ahnherrn der Instrumentalisten- die Formulierung "Saitenspiel" 9 . Selbst dort 1

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Meyers Großes Universallexikon 1983, Bd. 9: 562. Vgl. Riethmüller 1985: 68 ff.; Eggebrecht 1987: 20 f. Augustinus, De musica: 86. Isidor: 20. Dialogus: 252 . Anonymus 11:417. Rüschen 1961: 976-77. Kaden 1989: 55. Siehe Kaspar Stielers Wortschatzlexikon noch 1691.

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aber, wo Klanglichkeit definitorisch unmittelbar Erwähnung findet, ist es wesentlich ihr noetischer Kern, ihr zum Klingen gebrachter numerus, der Aufmerksamkeit entbindet 10 , sowie das geistige Vermögen, die facultas, solcher "Numerierung" gewahr zu werden 11 . Das Tönende am Tönen erscheint mithin als gleichsam akzidentiell bzw. als lediglich ein musikalisches Moment, ein Moment unter anderen. Erst recht relativiert sich der uns geläufige Musik-Begriff, wenn man den abendländischen Kulturkreis verläßt. Tibetische Ritualgesänge- um extrem zu argumentieren - gründen nicht auf festen Tonstufen und entsprechend rationalisierbaren Tonsystemen, sondern auf "Tonkonturen" 12 , glissandoartigen melodischen Gesten. Javanische Gongspiele arbeiten mit hochkomplexen Klangfarben und -spektren, deren Diastematie und "Stimmung" prinzipiell unscharf bleibt. Afrikanische Rhythmen bieten oft nur Impulsmuster in spezieller klanglicher Schattierung; zudem wollen sie in der Regel gehört sein und gesehen. Neben die tönend-auditive Komponente tritt eine visuellbewegungsmäßige, motionale; die Rhythmen enthalten "stille" Bewegungsanteile 13 , deren wiederum "stillschweigender" Mitvollzug kommunikativ unerläßlich ist 14 . Musik wendet sich nicht an die Ohren allein; sie ist intermodale Aktion in der "Einheit der Sinne" 15 . Aus ähnlich ganzheitlicher Wurzel entspringt, wie man weiß, das Konzept der antiken musike 16. Und vor allem im europäischen Mittelalter muß die einschlägige Tradition hochlebendig gewesen sein. Bereits die Augustinische Musik-Definition ("scientia bene modulandi ")könnte angesichtsder semantischen Komplexität von "modulari" 17 in die bezeichnete Richtung weisen. Zweifelsfrei thematisiert wird eine visuell-motionale Musik im Opus tertium (Kap. 59) des Roger Bacon. Zwar räumt Bacon ein, "alle Autoren" seien sich darin einig, daß den Gegenstand der Musik die Töne (soni) bildeten. Mit dem gleichen Atemzug aber hält er fest, "außer [jenen] Teilen der Musik ... , die sich auf den Ton beziehen", gebe es noch andere, "die Sichtbares zum Gegenstand haben, nämlich die Gestik, welche Exultationen und Körperwendungen aller Art umfaßt";

Cassiodor: 16. Boethius, V: Kap. 1. 12 Ellingson 1979: 478. 13 Vgl. Orozco 1987: 72. 14 Kubik 1973: 174. 15 Hornbostel1925. 16 Zaminer 1989: 113. 17 = "nach dem Takt rythmisch abmessen; taktmäßig, melodisch singen, spielen" - Heiniehen 1909: 516; laut Cicero "sonum vocis pulsu pedum", d. h . "Takt schlagen zum Gesang"- Georges 1909: 1777. 10

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Begründung: "damit eine allseitige Ergätzung der Sinne statthabe, nicht nur des Gehörs, sondern auch des Gesichts." 18 Plastischer noch markiert den Sachverhalt Jean Gerson in seinem Traktatwerk De cantico. Für das canticum sensuale, den sinnlich wahrnehmbaren Gesang (im Unterschied zum canticum rationale oder intellectuale), werden drei Apperzeptionsebenen ausgeschrieben, die des Sehens, des Hörensund die des Fühlens: "visu ut in gesticulationibus, auditu ut in carminibus, tactu ut in venis pulsantibus" 19. Johannes Mauburnus, der am Ausgang des 15. Jahrhunderts ein Handbuch der zeitgenössisch liturgischen Praktiken vorlegt (und sich dabei wiederholt in die Tradition des Hugo von St. Victor stellt), beschreibt Formen eines affektbetonten Singens und Tanzens. Bezugsgrund sind weltliche Musizierweisen der "lascivi homines", bei denen jene, "qui psallunt vel psallentes audiunt saltare debent" 20 • Vergleichbarer Brauch wird jedoch auch für die geistliche Sphäre reklamiert, unter der Voraussetzung, daß sich die "saltationes" (Tanzbewegungen, pantomimische Gesten) als "motus spirituales" verstünden 21 • Einem wiederum weitherzigen Musik-Begriff huldigen Franchino Gaffori 22 und, in seiner Nachfolge, der deutsche Humanist J ohannes Cochlaeus 23 , und zwar durch die Unterscheidung von vier Musiker-Kategorien: 1. der oratores, lectores, Psalmen- und Antiphonensänger;

2. derer, die komplex-mensurierte Polyphonie darzubieten vermöchten; 3. der Liedersänger (musici und cantores) im engeren Sinne; 4. der mimi und histriones, welche in Nachahmung der Stimme mit dem Körper zu agieren wüßten ("ad vocis imitationem gestibus corporis commovent"). Noch für Claudius Sebastianus (Claude Sebastien), einen Metzer Organisten, der in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts als Musiktheoretiker wirkt, zählt es zum absolut Üblichen und aufführungspraktisch Normalen, den Psalmenvortrag" cum voce ac gestu" zu gestalten und der Freude des Herzens,

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Übersetzung bei Pfrogner 1954: 136. 1484: fol. Ff 8 v. 1494: fol. C IV. Ebenda. 1496: Kap. 1. 1511: fol. A III v; vgl. Reimer 1978: 8.

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ingeistlicher iubilatio, ganzkörperlichen Ausdruck zu verleihen 24 . Zur gleichen Zeit- Beweisstück ex negativo- wird Kritik an derlei Gepflogenheiten laut, etwa bei Lodovico Zacconi 25 , der den Kirchensängern gebietet, unter allen Umständen ihren Leib zu zügeln und ja nicht mit Händen und Füßen zu singen. In die Summe gebracht und mit einem Wort: Bis an die Schwelle zur Neuzeit begegnen uns Musikauffassungen- und musikalische Verfahrensweisen -, die nach Maßgabe bloßer Klanglichkeit schwerlich zu begreifen sind, vielmehr: das Klangliche planvoll überschreiten. Es sind dies Konzepte, die der vielzitiert Boethianischen Musik-Klassifikation 26 , angeblich Frucht eines spekulativen Geistes, zu immerhin blutvoller Realität verhelfen mochten- und die die tönende Faktizität der instrumentalis musica stets in eine Musik des Leibes und der Seele, humana musica, einzubetten wußten, ja darüberhinaus einer Musik des Kosmos, mundana musica, anagogisch sich verpflichtet fühlten. Es sind Konzepte nicht ästhetischer Immanenz, sondern der Transzendenz, Konzepte, die " unserer" Musik nicht zuarbeiten und nicht hinführen zu ihr, sondern ihr entgegenstehen: als ein kulturell Anderes, als Alternative. Durchaus bohrend muß daher die Frage werden, mit welchem Recht und mit welchen Motivationen aus solch "Ganz Anderem" das Unsere, uns Selbstverständliche wurde- und was der Gewinn war, was der Verlust.

II.

Musikwissenschaft, so will es scheinen, unterschätzt die Brisanz dieser Entwicklung zielbewußt. Einerseits pflegt sie hervorzuheben, daß die "Unterschiede zwischen den Epochen der europäischen Musikgeschichte ... , so tiefgreifend sie waren, die innere Einheit des Musikbegriffs im Wesentlichen unangetastet [ließen], solange die antike Tradition bestimmend blieb: eine Tradition, deren essentieller Teil das Prinzip eines den verschiedenen musikalischen Stilen unverändert zugrundeliegenden, durch direkte und indirekte Konsonanzbeziehungen konstituierten Tonsystems war" 27 ; Zeugnisse wie die des Roger Bacon werden füglieh "vergessen" , verdrängt, ja zuweilen sogar unvollständig zitiert 28. Andererseits ist es üblich, die Umbrüche im Musikverständnis zwischen den 15. und dem 17. Jahrhundert nach dem Muster des "Stilwandels" zu behandeln 29 , und dies bei weitem nicht ohne Grund,

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1563: fol. c 3. 1592: 55. Vgl. Pietzsch 1929. Dahlhaus 1987: 13. Riethmüller 1985: 76. Vgl. Braun 1982.

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wenn man an die Durchsetzung der Akkordharmonik 30 und des bis zur Gegenwart tragfähigen Dur-Moll-Systems denkt, oder an die Entstehung der monodischen "seconda prattica" und der Generalbaßtechnik. Freilich handelt es sich bei diesen Erscheinungen ausnahmslos um Neugewichtungen innerhalb der Tonordnung selbst, um Transformationen sozusagen der Oberflächenstruktur, nicht der konzeptualen Tiefenschicht. Auf Veränderungen im letztgenannten Bereich macht am ehesten die These aufmerksam, Musik habe, beim "Übergang vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit" 31 , eine wachsende" VersprachZiehung" und" Vermenschlichung" erfahren 32 : durch die Nachahmung von Affekten und Leidenschaften, die Unterordnung unter das poetische Wort, die Abkehr von einer mittelalterlich-ontologischen Fundierung ("derzufolge Kosmos, menschliche Seele und Musik [als] nach den gleichen mathematischen Verhältnissen" gefügt erscheinen 33 ) und durch die immer stärkere Hinwendung zu einer "rhetorisch-empirischen Ebene" 34 . Drei Modelle also der Geschichtsinterpretation, von durchaus unterscheidbarer Überzeugungskraft. Dem ersten, das die Einheit des abendländischen Musik-Begriffs postuliert, soll diese Studie polemisch begegnen, und zwar in ihrer Gänze, mit einem Gegenentwurf. Das zweite Modell, das sich an Stilwandlungen hält, wird von dieser Polemik mehr oder weniger indirekt erlaßt. Das dritte endlich, das der Versprachlichung und Rhetorisierung, ist deutlich zu differenzieren; es verdient das größte Interesse - und die größte Kritik. Daß dabei im gegebenen Rahmen nur Umrisse einerneuen Sichtweise zu skizzieren sind, bedarf keiner Rechtfertigung, wohl aber der Notiz. Gefragt werden muß zuallererst und allem voran, ob mit "Versprachlichung" ernstlich jener Paradigmenwechsel sich erschließt, der neuzeitliches Musikverständnis begründen half- und ob die Versprachlichung überhaupt eine Versprachlichung war. Denn so unverwüstlich sich die Ansicht kontinuiert, "zu den grundlegenden Errungenschaften", speziell der Musik des 16. Jahrhunderts, gehöre "das vollkommen neuartige Verhältnis, das die Musiker zur Sprache, zum Wort und zum Vers, zur Prosodie und zum Metrum, zum Vorstellungs- und Gefühlsinhalt ihrer Texte fanden" - wohingegen im Mittelalter "das Verhältnis zwischen Wort und Ton indifferent geblieben" sei35 - , so anfechtbar ist dieser Gedankenzug auch. Namentlich mediävistische Forschungen aus jüngster Zeit3 6 haben zeigen können, daß antike Ethos- und Affektenlehren, 30

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Blaukopf 1982: 180 ff. Reckow 1989: 1. Osthoff 1962. Reckow 1989: 8. Ebenda: 22. Blume 1963: 276. Haas 1981; Reckow 1986, 1989; Arlt 1986.

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mit ihren Topoi der Seelen-, Sinnes- und Gefühlsbewegung ("movere animos", "movere affectus"), ja selbst mit den lmplikationen einer" wirkungsorientierten imitatio" von Textgehalten37, nahezu das gesamte Mittelalter hindurch ungebrochen überliefert wurden- und sehr wohl musikpraktische Folgen zeitigen konnten 38 • Tatsächlich dürfte die deklamatorisch-homiletische Durchformung von Sprachtexten, nicht minder als ihre "logische" Durchgliederung entsprechend dem "grammatikalischen Bau" 39 , zum zentralen Anliegen beispielsweise der gregorianischen Liturgik zählen: in der Psalmodie, der Antiphonie, in den Responsorien. Selbst melismenreiche Gesänge wie das Alleluia geben unzweideutig ihre Affektlage zu erkennen; und noch in der Negation, als Jubilationen "sine verbis" 40, rechnen sie mit dem Wortbezug. Auch Gattungen wie die Motette, in ihrer konstitutionellen Vielheit von Texten und der daraus erwachsenden Intertextualität, sind von Sprachmustern aufs innigste durchwebt. Bei weitem nicht lassen sie, wie gelegentlich behauptet, verschiedene Textschichten in nur unterschiedlichen Stimmen transportieren und beziehungslos nebeneinandertreten. Der Regel nach heben sie semantische Schlüsselwörter und -konstellationen polyphonisch hervor, bisweilen in einer Art kanonischer Verschränkung 41. Immer wieder unterstützen sie, durch Satztechnik und Faktur, grammatische Funktionselemente, so etwa, wenn in der Motette "Dominator Domine" 42 der schlußkräftige Dativ "/benedicamus domi/- no" durch ein konkordierendes Zusammenschießen der zuvor ausdrücklich dissonierenden Stimmen sinnfällig- und unvergeßlich- wird. Nähme man Wittgensteins Unterscheidung der Grundmodalitäten menschlischer Mitteilung auf: der Modalität des Sagens und der des Zeigens 43 , so könnte man formulieren, daß Melodiebildung, Rhythmus, klangliche Disposition beim Sagen des Textes unverstellt mitzuwirken hätten, in genuiner Verschwisterung mit dem Wort, einschließlich der Teilhabe an logisch-propositionalen Strukturen- und daß eine intensivere, "tiefere" Versprachlichung schlechterdings nicht sich denken lasse. Vokalmusik des Mittelalters erweist sich in solchem Licht, cum grano salis, als eine Einheit von Wort und Ton, sehr familienähnlich jener von Platon favorisierten Definition des Gesanges 44, derzufolge dieser aus logos, harmonia und rhythmos sich zusammenbaue, unter dem funktionalen Primat des Wortes.

37 Reckow 1989: 14. 38 Ebenda: 23 ff. 39 Stäblein 1975: 140. 40 Augustinus, Enarratio in psalmum: 1272; vgl. Stäblein 1949 I 51. 41 Pesce 1987: 425 f .; vgl. die Edition des Codex Bamberg = Ba bei Anderson 1977. 42 Ba, Nr. 31. 43 Vgl. Bierwisch 1979: 50 ff. 44 Politeia: 398d.

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Bekanntlich nun spielt dieser Platonische Ansatz auch im späten 15. und 16. Jahrhundert eine tragende Rolle; fast scheint es, als habe er die benannte "Versprachlichung" animiert45. Und doch wird ihm eine merkliche Umwertung zuteil, wenn nicht eine Veräußerlichung. Sowohl nämlich in der musiktheoretischen Reflexion als auch in der Kunstübung selbst schiebt sich ein Paradigma nach vorn, das der bisher analysierten Praxis entgegenwirkt: Tongebung konstituiert den Sprachtext nicht länger mit, in unmittelbar generativer Umklammerung des Wortes; aufgetragen ist ihr, dessen Inhalt nachzuahmen, zumeist mit bildhaft-anschaulichen, affettuos-malerischen Mitteln. DieseNachahmung aber von Haltungen, Passionen, Gefühlen, Ideen: in den Kategorien Vincenzo Galileis 46 die "imitazione" bzw. "espressione di concetti dell'animo ",bleibt dem propositionalen Wesen von Sprache weitgehend fremd. Sofern sie sich mimetischer Demonstration bedient- beispielhaft läßt sich dies an Erscheinungen des sogenannten Madrigalismus studieren 47 -, speist sie sich weniger aus Formen des Sagens als vielmehr des Zeigens. Sie ist, von der Basis her, nicht logischer, sondern ikonischer Natur. Der imitatorisch behandelte Text wird mithin gleichsam in ein sprachfernes Medium "übersetzt". Und er fällt dabei, da klangliche Ikone oft semantisch unscharf oder abstrakt geraten müssen 48 , einer inhaltlichen Ausdünnung anheim- es sei denn, man nähme stets seine propositionale Grundsubstanz wahr (was durch die Bebilderung keineswegs zwangsläufig begünstigt wird). Klangliche Mimetisierung läuft, kurz gesagt, Gefahr, die Begrifflichkeit des concettos "zeigerisch" zu überwuchern. Noch dort aber, wo sie Satzmelodien und Tonfälle nachgestaltet- Galilei 49 spricht von direkter Imitation "delle parole" -, beweist sie Affinität nicht zur "eigentlichen" Sprache, sondern zur Rede, zum Akt des Sprechens. Im Zusammengehen mit dem Wort hält sich Tongebung an lautpantomimische Außenseiten, an sprachliche Peripherie. Statt "Versprachlichung" -so ein Vorschlag von Gerd Rienäcker- ein Prozeß der" Versprechlichung ". Oder eben: der Rhetorisierung, in einem sehr engen Sinne. Gewiß ist die hier gestellte Diagnose ein wenig grobkörnig und überhitzt. Eine genauere Untersuchung der musikpraktischen Strömungen des 16. Jahrhunderts hätte neben dem bezeichneten Ikonisierungsstreben auch andere Tendenzen zu respektieren: so die Bemühungen um eine subtile Textdeklamation 50 , die zur Verdeutlichung propositionaler Momente durchaus beitragen mochten. Aber: daß Klangbildung, wo immer sie sich mimetisch definiert, die genuine Bindung zwischen Wort und Ton fraglich werden läßt, 45 Vgl. Reckow 1989: 1. 46 1581: 82 ff.; 1587 I 91: 184; vgl. auch Vicentino 1555: Kap. 29. 47 Vgl. van den Borren 1930. Kaden 1984: 131 f. 1581: 82. so Palisca 1988: 348 ff.

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daß sie mit dem Zugewinn von Bildhaftigkeit zugleich an semantischer Präzision verliert- vergleichbar jener allgemeinen Entwicklung in der Redekunst des 16. Jahrhunderts, die wegführt von definitiven Sprachinhalten, hin zu abstraktiver Gestikulation an und für sich 51 - , dies jedenfalls kann festgeschrieben werden. Die Rhetorisierung früh-neuzeitlicher Musik war Ergebnis nicht einer Integration (Ver-sprachlichung), sondern offenkundig eines Zerfalls und Verfalls. Der Ton, indem er das Wort imitiert, setzt zu diesem systematisch sich in Distanz, ja er gewinnt Eigenwert. Wenn Musiktheorie fordern muß, ausschließlich und allein habe er dem Text zu dienen 52 , dann bezeugt dies immerhin, daß es bereits anders ging. Die "alte" Musik nach Platons Maß: synkretisches Ganzes, "Singsprache" 53, Wort-Ton-Kunst, gelangt mit der Neuzeit zur existenziell endgültigen Krise. Sie treibt das Sprachliche aus sich heraus- und stellt es sich gegenüber, oder neben sich. Um denkbaren Mißverständnissen vorzubeugen: Ich behaupte keineswegs, mittelalterliche Musik sei propositional gewesen durch und durch; allein ihre Körpernähe ( die eingangs apostrophiert wurde) kündet von einem beachtlichen gestisch-mimetischen Potential. Aber ich halte daran fest, daß Zeigen und Sagen, Gestisches und Logisches (mit Ausnahme reiner Instrumentalmusik) in ihr nicht spezialistisch aufgesplittert waren, als Funktion des Tons einerseits und andererseits des Worts, sondern daß sie sich überkreuz-ganzheitlich verteilten- und daß ebendies Überkreuz im 16. Jahrhundert zersprang. Vielleicht liegt hierin sogar eine Wurzel für die Entkörperlichung neuzeitlicher Musik (von der ebenfalls andeutungsweise die Rede war). Denn wo das Tönen katexochen zur Geste wird, wo es nurmehr zeigt und nicht mehr sagt 54, kann es des expressiven "Körperkommentars" entraten bzw. ihn aufheben in eigenem GebärdenspieL Rhetorisierung von Musik, "Vergestelung" bedeutete, so gefaßt, nicht die Abtrennung und Ausgliederung des Worts allein; sie stünde für eine übergreifende Desintegration.

m. Der Befund ist allen Ernstes paradox. Die vermeintliche "Versprachlichung" von Musik erweist sich als deren Gegenteil. Und sie bezeugt einen Stabilitätsverlust. Was Rhetorisierung verhindern und behindern soll: das Auseinanderdriften von Wort und Ton, wird durch sie erweitert reproduziert. Man wird sich daher nicht wundern müssen, daß ausgefächerte Theorien musikalischer Redekunst- und schon gar Anweisungen für ihren praktiVgl. Klotz 1992: Kap. 2. Vicentino 1555: 86; Galilei 1587 /91: 184; vgl. auch Marinati 1587: 86 ff. ; Artusi 1598: 38 ff. 53 Zaminer 1989: 123. 54 Vgl. Bierwisch 1979: passim. 51 52

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sehen Vollzug- in den meisten Musik-Traktaten des 16. Jahrhunderts fehlen. Mehr noch: Selbst Autoren, die sich explizit mit ihr befassen, wie z. B. Setbus Calvisius, der in seiner Melopoeia von 1592 ein eigenes Kapitel "De oratione sive textu" entwirft, scheinen an dieser Aufgabe nahezu zu scheitern; und sie treten ihr, bei späterer Behandlung 55, eher ausweichend-skeptisch gegenüber. Es bleibt daher zu überlegen, ob Rhetorisierung "die Last einer zumindest partiellen Neubegründung von Musik" überhaupt zu tragen imstande war und ob sie die Rolle eines "fundierenden, legitimierenden Prinzips" 56 de facto auf sich nehmen konnte. Dies lenkt zugleich den Blick auf ältere Legitimationskonzepte, vor allem die ontologischen Begründungen des Mittelalters, und deren Schicksal im frühneuzeitlichen Geschichtsprozeß. Dabei konnte schon andernorts klargestellt werden 57 , daß mit "einer regelrechten ,Ablösung' der Ontologie durch Rhetorik" schwerlich zu rechnen ist. Nicht nur, daß seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts Anzeichen einer sogar sich "verstärkenden quadrivialen Musikanschauung" bemerkbar werden 58 : in umfangreichen Zahlen- und Proportionslehren, bei Abhandlung namentlich kontrapunktischer Probleme 59· Auch das Herzstück jenes mittelalterlichen Musik- Verständnisses, das auf Boethius sich zurückleitet die Vorstellung von einer Musik der Sphären, ja der Welt, einer mundana musica, bleibt als Denkmodell über die Zeiten erhalten, bis weit hinein ins 17. Jahrhundert. Sicher: Mehr als einmal wird Polemik laut. Sonderlich das harmonische Tönen der Gestirne wird in seiner empirischen Realität angezweifelt oder als überflüssige Spekulation qualifiziert, mit Argumenten nota bene, die schon Aristotelesso ausgebreitet hatte. Johannes Tinctoris 61 , Pietro Aaron 62 , Francisco Salinas 63 reihen sich in diese Phalanx ein. Einen originellen Akzent setzt Gioseffo Zarlino 64, dem die "musica mondana" als eine solch komplizierte Sache gilt (als "tanta diversita di harmonia di cose"), daß sie einer wirklichen Erhellung unzugänglich bleibe ("ehe e impossibile di poterla esplicare"). Aber neben solch abwertenden Stellungnahmen "contra" finden sich stets höchst affirmative "pro", nicht immer bei den größten Zeitgenossen, jedoch auch bei ihnen. Ders. 1609: 34 f. Reckow 1989: 37. 57 Reckow, loc. cit. 58 Staehelin 1985: 90. 59 Vgl. Zarlino 1558. so De caelo II: 290 b; vgl. Palisca 1988: 181 ff. s1 1477: Prologus. s2 1523: Kap. 4. 63 1577, I: Kap. 1. 64 1558, I: Kap. 6. 55 56

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Franchino Gaffori- um nur wenige Belege beizubringen- erläutert die Tonarten und ihre ethische Kraft anband der Zuordnung zu Himmelskörpern und antiken Göttern 65 • Zur Vergewisserung dient das Bild eines Monochords66, dessen Saite einer Schlange gleicht, ausgestattet mit den Köpfen des Höllenhundes Zerheros (Abb. 1). Das Instrument ist kein objekthaftes Gerät; es ist ein Organismus, ein lebendig-kosmomorphischer Leib. Nicht minder eindrucksstark über das Schallen und Klingen "in ipso ... caelo" äußert sich Giorgio Valla 67 , mit graphisch strengeren Schemata allerdings aus dem Geist der Astronomie. Gregorius Reisch, dessen Margarita philosophica zu den meistgelesenen Enzyklopädien der Humanisten-Ära zählt, gesteht den "orbes celestes" süßestes Tönen zu 68 , in ungetrübt Platonischer Denkungsart 69 . Für Michael Keinspeck 70 erschließt sich, neuerlich platonisch-pythagoreisch, das Höchstharmonierende im Wesen Gottes: durch Maß, Zahl und Gewicht. Francesco Bocchi, dessen Discorso sopra la Musica im Florenz des Vincenzo Galilei und der aufblühenden Camerata erscheint, preist den "gran suono del cielo" 71 , nicht unähnlich dem Nil, dessen Dahinströmen ebenfalls menschlichen Ohren verschlossen sei. Und so fort. Bis zu Johannes Keplers Harmonices mundi (1619), im mindesten, und zu Athanasius Kirebers Musurgia universalis (1650) führt der Überlieferungszug. Legt man eine statistische Optik ein, die nur rohe Überblicke schafft, immerhin aber Übersicht- für diese Studie wurden rund 100 Traktate des 16. und frühen 17. Jahrhunderts geprüft-, so ist es etwa jeder dritte Autor, der zur musica mundana sich noch bekennt. Ontologie, Kosmologie füglieh als Gegenspieler der Rhetorisierung? "Spaltung der Musik" 72 in zwei konkurrierende Systeme, im Sinne sogar jener "prima" und "seconda prattica", die um 1600 zur Diskussion sich stellen 73? Man wird es so sehen dürfen- und auch wieder nicht. Ohne Frage ist die frühe Neuzeit eine bewegte Epoche, die unterschiedliche Lebensformen und Mentalitäten im Nacheinander ebenso wie im Mit- und Gegeneinander zur Erscheinung bringt. Allein der Umstand, daß antike Tradition in ihr nicht länger linear fortgeerbt wird, gefiltert durch mittelalterliches Fühlen und Wissen, sondern zugleich im direkten Rückgriff auf klassische Quellen, bürgt für eine entsprechend spannungsvolle Synchronie. Fast möchte man sogar meinen, der "Prozeß der Zivilisation" (Norbert Elias) mache im 16. Jahrhun65 66

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Vgl. Palisca 1988: 18, 167 ff. 1496: Titelblatt. 1501, I: Kap. 2 1503: 104. Vgl. Politeia: 617 b. 1496: Dedicatio. 1581: 12. Groth 1989: 323. Vgl. Reckow 1989: 42.

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dert halt- oder spreize sich auf, verzweige sich: zu einer Fülle der Optionen. Auch die kosmologische Musikauffassung brauchte dann nicht als Relikt des Überlebten zu gelten; sie könnte aufbewahrt worden sein in einem Goldenen Fonds menschlicher Möglichkeiten, menschlicher Alternativen.

Abbildung 1

Und doch bleibt eine solche Deutung zu arglos und kompromißbereit. Vor allem muß sie sich dem Verdacht aussetzen, an den Wandlungen der Kosmo-

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logie selbst vorüberzublicken, Wandlungen, die im 16. Jahrhundert gravierend sind. Fritz Reckow 74, unter Anlehnung an Kurt Flasch 75 , hat dafür die einleuchtende Formel gefunden, daß Musik parallel mit der " ,Entsakralisierung' des ,Kosmos zur Weltmaschine' immer stärker nach einer ,mechanisch'mathematischen Absicherung" frage, daß sie mithin, pointiert gefaßt, das Konzept einer noetischen und ethischen Welt umformuliere: zu einem Entwurf der Welt-Technizität und der Welt-Physik. Ich will diesem Gedanken einen weiteren Aspekt hinzugewinnen. Er betrifft die "Interpunktion" im Verhältnis von himmlischer und irdischer Harmonie. Für Boethius 76 , und mit ihm die mittelalterliche Musiklehre schlechthin, war es völlig offenliegend und unantastbar gewesen, daß irdisch-erklingende instrumentalismusicanur als Abbild von musica mundana sich beweise 77 : als ihr "Nachhall" sozusagen, ihr Implikat. Wo daher Tonarten und Tonstufen dem Welthaften zu-geordnet werden, ist dessen Über-ordnung und Priorität stets gegenwärtig. Noch Franchino Gaffori - wir sahen es - oder Giorgio Valla 78 oder auch der einflußreiche Musiktheoretiker Faber Stapulensis79 sind sich solcher Herleitung des "Unteren" vom "Oberen" voll bewußt. Genau sie nun freilich wird dem 16. und 17. Jahrhundert problematisch. In meist unscheinbarer sprachlicher Diktion, im seelisch Halbverborgenen kehrt sich das Verhältniss um: nicht generell, doch in mehr als einem Fall. Ludovicus Coelius Richerius beispielsweise 80 läßt nach den Saiten der Lyra, die er als Orphisches Instrument einführt, die Jahreszeiten wechseln: die Hypate erzeuge den Winter, die Nete den Sommer, die mittleren Tonlagen brächten Frühling und Herbst hervor (kaum zufällig wird die Vokabel "producere" verwandt). Nicht der kosmische Zyklus lenkt das Instrument, sondern das Instrument den Kosmos selbst. Nun schreibt zwar antike Mythologie dem Gesang des Orpheus spektakulärste Wirkungen zu: auf Mensch und Tier, auf Pflanzen, Täler, Berge, Flüsse usf. 81 , ja sie berichtet sogar, daß des Sängers Leier, nach seinem Tod, durch Zeus "unter die Sterne versetzt" worden sei, "verstirnt" 82 • Als "Zeitordner" freilich, der "alle natürlichen Zeitbestimmungen" reguliert 83, wird Apollon, der Licht- und Sonnengott, verehrt; und er ist in dieser Beamtung durchaus dem 16. Jahrhundert noch 74

1989: 38.

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Vgl. Pietzsch 1929: 42.

75 1986: 483. 76 I: Kap. 27.

78 Loc. cit. 79 1496: 44 ff. 80

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1566: 312. Pauly-Wissowa, Bd 18. I: 1249 f. Ebenda: 1296 ff. Roscher, Bd. 1: 423.

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vertraut. (U. a. gibt Rudolf Schlick 84 zu wissen: "Ex trium cordarum nervis [lyrae], seu ex tribus his vocibus tria anni tempora Apollo non immerito invenisse fertur".) Die Verlagerung also der Kompetenzen, vom Lichtgott auf den Wirkkreis eines "der edelsten Menschen" 85 , bedeutet eine kraftvolle Verschiebung zum Irdischen hin. Sehr viel vorsichtiger beschreibt demgegenüber Claude Sebastien 86 die Lyra als ein "signum celeste", als Himmelssymbol, "cum stellis collocatum". Er seinesteils fährt dann allerdings fort, just Mensuralmusik sei Gott wohlgefällig, nach der Devise: "Similis enim similem sibi quaerit." De facto heißt dies offenbar, daß Göttliches dem Irdischen ähnele vice versa, und auf jeden Fall: daß Himmelsmusik in den Bahnen der Mensuralpolyphonie zu denken sei. Einen Schritt weiter geht Erycus Puteanus87, mit der Formulierung, "die Alten" hätten den Saiten der Lyra die sieben Himmelskreise zugewiesen,

nicht etwa umgekehrt:

"Lyrae chordis septem Deorum stellis illustres orbes tribuebant." Historisch ist die Beobachtung sicher "richtig" 88 . Gleichwohl ersetzt sie die kosmomorphische durch eine anthropozentrische Perspektive. Dies übrigens umso mehr, als Puteanus im gleichen Zusammenhang den Spruch eines zeitgenössisch dänischen Dichters, Venusinus, zitiert: "Musa dedit fidibus divos", der, wie immer man ihn verdeutscht, die Götter (oder göttlichen Wesen) gleichsam zu Gefangenen macht: gefesselt von den Saiten, in den Saiten. Vollends manifest schließlich wird die kulturelle Mutation, wenn Robert Fludd als Sinnbild des "Weltgetriebes" 89 ein Weltenmonochord konstruiert - dem des Gaffori wesensfern -, so, als sei göttliches Schöpfungswerk ein gigantischer Instrumentenbau (Abb. 2). Und: wenn Johannes Kepler 90 die Tonleitern der Planeten in Mensuralnoten seiner Zeit wiedergibt, als folgten sie den Weisungen einer Himmelspartitur. Für Kepler sind denn auch die "Himmelsbewegungen nichts anderes als eine [unhörbare, jedoch] fortwährende mehrstimmige Musik" 91 . 84 1588: 17. 85 Vollmer 1874: 363. 86 87

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1563: fol. G 2. 1602: 53. Vgl. Zaminer 1989: 182. 1617: Kap. 1. 1619: 5. Buch. Kap. 7.

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r; Abbildung 2

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Und die Erde gar "singt(!) MiFaMi, so daß man schon aus diesen Silben entnehmen kann, daß auf unserem Wohnsitz ,Mlseria et FArnes' herrschen" 92. Ununterdrückbar: Die Alte Erde kann Latein. Man mag hinter solchen Zeugnissen das Walten von Irrtum und Laxität vermuten, zumal neben den ver-kehrten Lesarten oft die noch un-verkehrten sich behaupten (so bei Puteanus und Sebastien). Aber man wird darin auch charakteristische Fehlleistungen eines Halb-Bewußten erblicken dürfen, zögerlich-zielstrebige Bekundungen einerneuen Mentalität. Denn dies immerhin ist für die frühe Neuzeit evident: daß des Protagaras umstrittener Satz, Maß aller Dinge sei der Mensch, zu einem sozialen Wert wird katexochen. Wenn kosmische Musik daher von der menschlich-irdischen sich abzieht, als deren Anwendungsform in Fernen Welten (Vicentino 93 erzählt, Boethius habe die musikalische Proportionslehre auf die Gestirne appliziert), dann spiegelt sich darin nur jener Prozeß, der, spätestens seit dem Ausgang des Mittelalters und mit selbstverständlich neoplatonischem touch, Mikrokosmos und Makrokosmos isomorph werden ließ 9 4, ja im Mikrokosmischen das Makrokosmische voll enthalten fand: im Menschen die Welt. Das freilich ist nicht nur eine neue Sicht 95 · Es ist auch eine schöne Illusion. Es ist Vermenschlichung als Selbstüberhebung, als" Vermenschelung" und Verlust von "Gottnatur" 96. Daß Welt-Musik- für die es bereits eine Trivialisierung bedeutet, ausschließlich tönend vorgestellt zu werden (selbst humana musica geht bekanntlich über das Erklingen hinaus) - , daß Welt-Musik nach dem Charakterzug empirischer Klanglichkeit sich zu bemessen habe, konnte nichts anderes heißen als sie zu instrumentalisieren. In der menschlichen Perspektive, nach ihrem tiefsten Sinn, wird Kosmologisches nicht aufbewahrt, sondern aufgehoben und aufgelöst. Für" unsere" Musik gilt das bis zum heutigen Tag. IV.

So konkurrent also die ontologische und die rhetorische Musik-Begründung in der frühen Neuzeit einander gegenübertreten, so verwandt sind sie nach ihrer inneren Strategie. Sich auf ehrwürdige Autoritäten berufend: auf Platons logozentrischen Musik-Begriff, auf des Boethius mundana musica, schmelzen sie deren Substanzen um. Auf alte Geleise setzen sie ein neues Kap. 6; Übersetzungen sämtlich bei Pfrogner 1954: 173 und 168. 1555: 6 V. 94 Peuckert 1943: 44 f. 95 Vgl. die Identifizierung von Weltseele und Menschenseele schon in Marsilio Ficinos Timaios-Kommentar (Palisca 1988: 169). 96 Graddeck 1909: 30. 92

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Gefährt. Weniger Paradigmenwechsel ist es, was sie zelebrieren, eher schon: Paradigmenwende, ein Umwenden des Geläufigen. Nun gibt es freilich im Musikschrifttum dieser Epoche eine recht ansehnliche Gruppe von Traktaten, die weder um Rhetorik noch um Kosmologie zureichend intensiv sich bekümmern, ja kaum um Ethos und Affekt - und schon gar nicht um das Wechselspiel von Seele und Leib. Was ihnen am Herzen liegt und Mühe macht, ist stofflich Trockenstes vom Trockenen: die Unterweisung über Tonstufen und Intervalle, Solmisation und Notenschrift, die Lehre von den Kirchentönen (deren Gefühlswert und Semantik oft bereits unbenannt bleibt), schließlich von Zeitabmessung und rhythmischer Faktur. Auf den ersten Blick geben sich die Schriften erzkonservativ. Nicht selten schreiben sie ihre Weisheit aus ältesten Quellen ab; namentlich Guido von Arezzo, Urzeuger aller Musikpädagogen, "Erfinder" der bis zur Gegenwart gebräuchlichen Terzlinien-Notation, wird ausgiebig geplündert- und vielfach auch zitiert. Die Argumentation ist vorsätzlich praktisch-technizistisch, der Kreis des zu Behandelnden aufNotwendigstes eingeschränkt: Ich spreche von jenen Werken (und ihrer Tradition), die landläufig als HumanistenTraktate bezeichnet werden, tief beeindruckt durch reformationszeitliche Gesinnung, in der Regel deutscher oder deutschsprachiger Provenienz, bestimmt für Lateinschulen bzw. Universitäten und deren Musikunterricht Die Neuartigkeit und geschichtliche Brisanz dieser Traktate ist daher auch nicht primär in ihren Inhalten beschlossen, vielmehr: in ihrem "Geist" und in ihrer Funktion. Wohl erstmals in abendländischer Kulturentwicklung tragen sie Musiklehre in die soziale Breite 97 . In ihnen steht gedruckt und aufgeschrieben, was eine neue Generation humanistsch gebildeter discipuli von Musik zu halten und zu wissen hatte. Folgerichtig ist ihr Anspruch bescheiden und ehrgeizig zugleich. Häufig verstehen die Autoren ihre Texte als Einführung "pro incipientibus" 98 , aber eben doch als "Compendiolum" 99 oder gar "Compendium" 100 , das heißt: als Handbuch 101 mit den Insignien der Gesamtdarstellung. Zuweilen gibt sich das Praktische des Unternehmens unmittelbar im Titel zu erkennen: die "Practica musica" 102 , die "Musurgia" 103 und die "Paideia" 104. Mehr als einmal jedoch wird auch die Musik im ganzen ausgezeichnet: sei es als "Ein kurtz Deudsche Musica" 105 , als "Musica Teutsch" 106 , "Deutsche Musica" 101, Vgl. Niemöller 1983. Faber 1548. 99 Ders.; Eismann 1617. 1oo Lampadius 1537; Machold 1595; Stiphelius 1614. 101 Rhaw 1517 I 20. 102 Finck 1556; Figulus 1565; Lossius 1563; Hoffmann 1572. 103 Luscinius 1536. 104 Fesser 1572. 105 Agricola 1528. 97 98

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ja sogar lapidar als "Musica" 108 . Das bedeutet insofern nicht einmal einen Widerspruch, als die zitierten Schriften einem ohnehin speziellen MusikBegriff anhängen. In gut Augustinischer Abstamrnungslinie, freilich ohne tiefere Augustinische Theologie, werben sie für die "ars bene canendi" und sie allein 109 • Erneut also das Anknüpfen an eine mittelalterliche Überlieferung? Erneut - so halte ich dagegen - deren Ümstülpung. Erstens gewinnt die bezeichnete Tradition (ich wiederhole es) iml6. Jahrhundert ein verändertes Gewicht, und zwar soziologisch, soziofunktional. Vertrat sie im Mittelalter einen Musik-Begriff lediglich neben anderen, muß sie nun, pädagogisch multipliziert, zur sozialen Norm werden, wenn nicht zur Alltäglichkeit 110. Zweitensengt humanistische "Singekunst" -erinnert man sich, zur Kontrastverstärkung, etwa an die skrupulösen Erwägungen des Augustinus über den Zwiespalt von "voce" und "corde canere" 111 - ihr Selbstverständnis nunmehr rigoros ein. Gelehrt unter den Auspizien von Tonproduktion und Notenkunde, schiebt sie nicht nur moralische Verpflichtungen an den Rand (allenfalls in Vorwörtern und Epigrammen wird diesen Raum gewährt), sondern auch und gerade das ihr inhärente Wort- Ton-Problem. Prominente Ausnahmen 112 bestätigen diese Regel nur. In rund 80 % der Quellen 113 werden Wort-Ton-Fragen nicht einmal erwähnt- oder lediglich so kursorisch gestreift, daß daraus nichts Ernsthaftes zu lernen ist. Für ein Zeitalter vorgeblicher Versprachlichung statistisch immerhin ein starkes Stück. Drittens muß die so gewählte Interessenlage programmatisch und konzeptbildend wirksam werden. Mittelalterliche Musiklehre hatte mit der fallweisen Konzentration auf Tongebung und Tonsystematik noch keineN ot. Solange die Einbettung von instrumentaUs musica in einen übergreifend ontologischen Zusammenhang außer Zweifel stand, war die Hinwendung zu "Mechanischem" und "Technischem": zu Aspekten des mehrstimmigen Satzes, des Kontrapunkts, der rythmischen Mensur etc., etwas Aus-der-Ordnung-Fallendes nicht 114 . Mehr sogar: Die zeitweilig-vorübergehende Spezialisierung Wilfflingseder 1561. Schneegass 1592. 108 Listenius 1537; vgl. Freige 1582. 109 Vgl. u . a . Heyden 1537; Orgosinus 1603; Beringer 1605. 110 Vgl. Rüschen 1961: 977. 111 Vgl. Abert 1964: 89 ff. 112 die Schriften von Ornitoparchus, Hermann Finck, Adrian Petit Coclico, Seth Calvisius, Joachim Burmeister. 113 bei einer zugrundeliegenden Stichprobe von 60 Texten. 114 Man führe sich u. a . die Organum-Traktate des 11. I 12. Jahrhunderts vor Augen - Eggebrecht I Zaminer 1970- oder Johannes de Garlaudias De mensurabili musica oder auch die Lehrschrift des Anonymus 4. 106 101

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konnte ohne Mühe ins Kosmologische zurückgewendet werden; in diesem Sinne verfährt z. B. die Musica enchiriadis, die nach umfassender Debatte über Intervallstrukturen und polyphonen Klang mit wenigen, aber höchst anmutigen Worten die anagogische Heimkehr zu Gott undNaturvollzieht 115 . Für die frühe Neuzeit demgegenüber, die Ontologie zum Wanken bringt, muß jede Fokussierung auf den Ton "an und für sich" ihre Naivität und Unschuld verlieren - auch wenn sie unschuldig gemeint sein sollte. Im kopernikanisch verunsicherten Weltgefüge- dies meine These- wird sie selbst zu einem Modell der Orientierung und Versicherung. Da also ist der Kern unserer Problemstellung erreicht. Über einen rhetorisierten und einen (fragwürdig werdenden) kosmologischen Musik-Begriff hinaus scheint im 16. und 17. Jahrhundert ein "dritter Weg" sich zu eröffnen: die Fundierung von Musik in tonaler Ordnung schlechterdings. Gewiß wäre es anachronistisch, dies schon "Tonkunst" zu nennen, mit der modernen Akzentuierung klanglicher Materialität. Zu deutlich noch kehren die Humanisten-Schriften das Machen von Musik hervor: das "canere", das "componere", die "ars poetica". Auch könnten sich die in Rede stehenden Autoren wozu sie freilich nur selten geneigt sind - auf eine spezielle Schule antiker Musikphilosophie rückbeziehen: den Kreis der sogenannten Aristoxeneer. Hingegen: Ein gewichtiger Schritt in Richtung des modernen Musik-Konzepts wird auf dem "dritten Weg" sehr wohl getan. Und: Neben dem Machen thematisiert sich bereits das Gemachte, die geronnene Aktion, das musikalische "Produkt" . Die Gründungsurkunde solch neuen Denkens ist des Nikolaus Listenius vielgerühmte Musica (1537), ein anspruchsarmes Büchlein von nicht einmal 100 Seiten, jedoch serienweise aufgelegt. In ihm wird, mit dieser Entschlossenheit zum ersten Mal, das "opus perfeeturnet absolutum", auch "opus consumatum et effectum" gefeiert116. Nach seiner Zuständlichkeit definiert es sich als "post laborem" 117 , als Ding und Objekt, das in sich selber ruht. Seine Seinsbestimmung ist füglieh die des Fortdauerns und Hinterlassenwerdens, damit "etiam artifice mortuo [aliquid] ... relinquat" 118. Das Werk hat die Todeslinie zu überschreiten; es entsteht- so füge ich hinzu- im Angesicht von Todesfurcht. Denn Perfektes zu machen 119 , hat nur jener nötig, der jenseits des Todes leben will, nicht freilich in kosmomorphischer Geborgenheit, zurückgenommen in den Staub, sondern kraft ichhafter Konservierung und Verkapselung: weder im Himmel noch auf Erden, vielmehr "zwischen" Himmel und Erde, im abgelöst-absoluten Gegenstand. 115 Waeltner 1975: 181 19. 116 Fol. A III v. 117 Ebenda. 118 Ebenda. 119 "facere sive fabricare" - ebenda.

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Von hier aus datiert Musikgeschichte als Werkgeschichte. Menschliche Selbstbehauptung 120 findet im Sachlichen- und in Sachen- ihr Element. Mittelalterlicher Musikübung hätte solcher Konservierungszwang - und solche Vergehensangst-ganz und gar rätselhaft bleiben müssen. "Selbst berühmte Kompositionen machen in [ihren) Quellen rasch jüngeren Platz, auch die meisterhafte Bearbeitung einer geistlichen Melodie steht einer neuen, jüngeren nicht im Wege ... Verstorbene große Meisterwerden schnell zur Legende, da man ihre Werke schon bald nicht mehr kennt ... Nur, wenn man für bestimmte Zwecke keine neukomponierte Musik besaß, benutzte man die ältere weiter" 12 1. Tradition ist selbst lebendig und wird, mit vitaler Rück-sichtslosigkeit, stets fortgelebt. Nun jedoch, mit dem frühneuzeitlichen Opus-Gedanken, tritt zumindest der "artifex", der poetische Musiker, der Komponist aus dem Lebensstrom heraus. Er überwindet und überwältigt Leben - in der dingversicherten Unsterblichkeit. Nur konsequent ist es daher, daß zum Daseinselixier unsterblicher Musik deren Starrestes, "Totestes" avanciert: die Notenschrift. Werk, Notation und Musik werden begrifflich eins. Die Populärfassung etwa von Heinrich Glareans Dodekachordon: "Us Glareani Musick ein ußzug" 122 , stilisiert die sechs "Zeichen" ut, re, mi, fa, so, la 123 zum "anfang, und [zur] grundfeste" des Musizierens empor. Im Compendium musices des Auetor Lampadius 124 sind die Noten definitorisches Kriterium der mensuralis musica; diese ist "ars quae variis notarum ac pausarum figuriis constat". Auch Johannes Zanger 125 weiß in der "notarum pausarumque consideratio" den Nervpunkt der Musik. Alles, verfügt Nicolaus Roggius 126 , stecke in den Noten: "Omnis enim cantus notulis scribendo exprimitur"ein Aberglaube, der die Ästhetik noch des 19. und 20. Jahrhunderts durchziehtl27. Verdinglichung, mit Verlaub, im Kostüm der Vernotelung. Sollte es dieser Musik nicht sogar wichtiger sein, daß etwas von ihr bleibe, "proprie componistarum" 128 , als was dies Zu-bleiben-Habende im einzelnen sei? Natürlich: "Gott zu Lob und Ehren", "den Menschen selbst zu Nutz und 120 Blumenberg 1983 121 Gülke 1975: 14-15 122 Basel 1557, II: 2 123 eigentlich Solmisationssilben; Hervorhebung von mir, C. K. 124 Bern 1537: fol. C VII 125 Leipzig 1554; fol. B 126 Wittenberg 1566: fol. A 8 v. 127 Kaden 1984: 166 f. 128 Finck 1556: fol. A IIv.

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Frommen" - dergleichen bewährt sich als musikalischer Endzweck allemal. Der thüringisch-protestantische Kantor Georg Quitschreiber, von dem wir das Diktum übernehmen 129 , vertritt eine ganze Gemeinde lutherisch-fröhlicher Gesinnungsgenossen. Aber auf die Konkretisierung des Gotteslobes, z. B. im poetischen Wort, kommt es so genau unter Umständen gar nicht an. Namentlich "in den alten Gesengen", so Quitschreiber weiter- und dies können, nach protestantischem Maß, schwerlich die uralt-katholischen Liturgica sein, sondern allenfalls Werke des mittleren 16. Jahrhunderts -, namentlich in ihnen solle "Niemand [sich durch] den Text irre und stützig machen lassen, wie offt geschieht, sondern die Noten immer steif! fort singen 130 , mit etzlichem Text, Welche die Vorfahren zum Theil ubel untergeleget." Rhetorisierung, parodiert durch Steifigkeit. Wahrscheinlich wird man es daher auch sehr ernst nehmen müssen, wenn im 16. Jahrhundert Kritik sich geltend macht, Kritik an einer Musik, die sich ihrer Bedeutung entleert. Da geht von einer Polyphonie die Kunde, die nurmehr wie ein riesenhaftes "Rauschen" seil 31 , von Büchern voller Noten, ohne Verstand und Sinn 132 , ja von bloß gefälligem OhrenkitzeP 33 . Denn so eifrig-eilfertig die Opus-Musik sich mit (protestantischer) Arbeitsethik verbündet: mit" vleis und erbeyt" 134 , mit "labor" und "doctrina" 135 , so gefährdet ist sie auch, in ihrem Abgelöst-Sein, sonderlich als Instrumentalmusik 136, zum Zeitvertreib schlechthin herunterzukommen, zu einem "Spielzeug" und zu bloßer "Ergötzlichkeit" 137 • Die letzterwähnten Vokabeln (ludicrum, oblectamentum) werden übrigens bereits ganz positiv-zustimmend gebraucht. Und eine Idee, wie sie Giovanni Maria Artusi buchstäblich am Beginn seines Kontrapunkt-Traktats ausspricht 138: "La Musica

e un diletto",

setzt im 16. Jahrhundert schon als Topos sich durch. Sie bezeichnet jenen Entwicklungsgang, auf dem, nach dem Willen der Fachwissenschaft, Musik zu sich selber kommt, bei sich selbst einkehrt 139· Aber sie benennt auch eine Sinn-Krise, die das Große Ethos der Musik verschwinden läßt, ihre Gabe, 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139

Leipzig 1605: A IV v. Hervorhebung von mir, C. K. Agrippa von Nettesheim 1527: 79. Carlo Valgulio, zit. nach Palisca 1988: 90. Galilei 1581: 87. Agricola 1528: fol. III; vgl. Figulus 1565: A Il. Rhaw 1517 I 20: B VII. Galilei 1581: 87. Lossius 1563: A II. 1598: fol. a 3. Vgl. Eggebrecht 1973.

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"auf alle Dinge sich zu erstrecken", "ad omnia extendere" 140 , wie Welt zu sein. Zweifellos wird man die Fäden des hier geknüpften begriffsgeschichtlichen Netzes im einzelnen sehr viel genauer nachzuzeichnen haben. Und bei weitem nicht soll an dieser Stelle ein schlichtes Umschlagen von funktional-ritualer zu abgelöst-absoluter Musik suggeriert werden. Die "Geburt" der absoluten Musik- will man überhaupt von ihr sprechen- ist ein langwieriger Prozeß, ein Prozeß der longue duree 141 . Ergebnis genug bleibt es, daß bereits die frühe Neuzeit eine Musik kannte, eine Musik, die jenseits von Kosmologie und Rhetorik stand - und dies nicht nur im Theoretisch-Konzeptualen, sondern zugleich im praktischen Tätigsein. Vielleicht darf man in diesem Zusammenhang einer Vision des Nicolaus von Cues gedenken. Es ist die Vision von nicht-abbildender, non-imitatorischer Kunst. Und sie verbindet sich mit der Vorstellung eines sich selbst verwirklichenden Menschen, eines humanus deus, der Kraft eigener Imaginationen schafft 142 · Cusanus erläutert das Problem, nicht ohne Ironie, am Gleichnis eines Löffelmachers, der für sich eine größere Perfektion in Anspruch nimmt als für jeden Schöpfer von bildnerischer Kunst. Der Grund: Löffel- und ähnliche Geräte- sind von der Natur nicht vorgegeben; sie entspringen dem Erfindungsgeist des Menschen per se: "Coclear extra mentis nostrae ideam aliud non habet exemplar. Nam etsi statuarius aut pictor trahat exemplaria a rebus, quas figurare satagit, non tarnen ego, qui ex lignis coclearia et scutellas et ollas ex luto educo. Non enim in hoc imitor figuram cuiuscumque rei naturalis. Tales enim formae cocleares, scutellares et ollares sola humana arte perficiuntur. Unde ars mea est magis perfectoria quam imitatoria figurarum creatarum et in hoc infinitae arti similior" 143. In einer anderen Schrift 144 baut Cusanus den Gedanken aus; und er nennt als Beispiele für solch "erfinderische Urleistungen" des Menschen 145 die Arithmetik, Geometrie, Astronomie (!) - und die Musik. Sowie als eines jener Instrumente, die ganz und gar menschlichem Geist sich verdanken, die uns längst vertraute Lyra des Orpheus. Es dürfte sehr leicht vermutlich niemandem werden, zwischen diesem philosophischen Ansatz einer "größeJacobus von Lüttich , Speculum musicae, I: Kap. 2. Auch wenn andemorts, an der Analyse alltagssprachlicher Texte - Kaden 1989: 62 ff.- gezeigt werden konnte, daß in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine Interessenverlagerung eingesetzt: von musikalischen Gebrauchseigenschaften zu "rein" klanglichen Aspekten. 142 Blumenberg 1982: 91 ff. 143 Idiota de mente: 62. 144 De ludo globi II, zit. nach Blumenberg 1982: 95. 145 Blumenberg: ebenda. 140 141

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ren Perfektion", die "sola humana arte" sich artikuliert, und dem OpusBegriff des Listenius eine unmittelbare Verbindung nachzuweisen. Aber jene Erhöhung des Löffel-Produzenten zum Menschen- Gott, jene Verselbständigung der Musik zum Vorbildlosen: sollte sie nicht die passende Mentalität bereitgehalten haben für den "dritten Weg" der Musik, der hier umschrieben wurde?

V. Die Skepsis vorliegender Studie ist durchdringend, penetrant. Statt der Versprachlichung von Musik waren Rhetorisierung und Vergestelung abzuhandeln, statt Humanisierung eine Vermenschelung, dazu VersachZiehung und Vernotelung, der Verlust musikalischer Körperlichkeit und das Selbstgenügsam-Werden des Klangs. Das mutet aufreizend an und tendenziös; und es wird den Verwicklungen der Überlieferungsstränge im 16. Jahrhundert auch nicht ein für allemal gerecht. Dennoch will ich darauf beharren, daß das Gesamtbild, geradeangesichtsseiner idealtypischen Überschärfung, triftig ist - und neuartiges Fragen anregen kann. Vor allem muß bemerklich werden, daß die vielerlei Strebungen, von denen gesprochen wurde, in zumindest einer Hinsicht sich konzentrisch verhalten: Sie bezeichnen samt und sonders den Verlust einer balancierten Existenz, in der der Mensch sich als Ganzes wußte und einbeschlossen in einer Ganzen Welt. Am markantesten tritt dieser Zug an der Umwertung des Kosmischen hervor, als eines Seienden, das nurmehr nach irdischer Erfahrung sich bestimmt. Wohl mag man darin den Protest gegen scholastische Unter-Werfungs-Theologie erkennen 146 , die Befreiung des Menschlichen von religiöser Indoktrination- die eine wirkliche Befreiung war. Nach ihrer "objektiven" Seite genommen jedoch, mußte ebensie jene Herrschaft über die Nat ur begründen, die längst als unlebbar sich bewiesen hatl 47 · Und so erscheint denn menschliche Selbstverherrlichung, die mit der frühen Neuzeit massenhaft sich etabliert, uns Heutigen als eine zutiefst gesellschaftliche Not. Wo soziales Leben, durch Mißachtung und Expropriation der Natur, seiner Quellen, seiner Seins-Gründe sich beraubt, wird offenbar, daß im Triumph und in der Wucherung von Selbstbehauptung Sozialität ihresteils Schaden nimmt. Freilich sollten wir auch jener Linienführung uns erinnern, die die Entzweiung des Menschen in persona bezeugt: der Zerstörung leib-seelischer Einheit und Harmonie, der Spezialisierung der Sinne, Fähigkeiten, Aktionen, welche der Opus-Produzent nötig hat oder nötig zu haben meint. Und wir sollten jene Verdinglichung nicht vergessen, die in Sachen, Objekten höchste Überlebenswerte erblickt, ja sogar den Regulator zwischenmenschlichen 146 147

Blumenberg 1983: 75 ff. Berman 1985.

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Verkehrs. All diese Momente gehören zur sozialen Psychologie des Industriezeitalters; sie bauen an ihm mit, lange vor seinem Siegeszug. Verwirren mag, daß dies für ein Terrain aufzuweisen war, das vor Kulturkritik meist sich abzuschirmen pflegt: für das Reich der Freiheit, der Träume, des menschlich Anderen- der Kunst, der Musik. Gleichwohl scheint es dem Wesen neuzeitlicher Zivilisation eingeschrieben zu sein, just dort seine Bekräftigung zu suchen- und zu finden-, wo die Konditionierung unauffällig bleibt und wo Leidhaftes sich umkodiert in Lust. Das Affirmative neuzeitlicher Kunst, neuzeitlicher Musik (dem "post" Horkheimer, "post" Adorno nur wenige noch nachzuspüren sich ermutigt fühlen) 148 enthüllt allenfalls an seiner Oberfläche sich in ideologischen und politischen Programmen. Weitaus wirkkräftiger waltet es in seelischen Tiefen: in künstlerischen Konzepten, "Selbstverständlichkeiten", sprichwörtlich gewordenen Basis-Begriffen. Maßlose Übertreibung? Ich denke nicht. Machen wir uns doch nochmals deutlich, daß jene Entsprachlichung der Musik im 16. Jahrhundert, jenes Überhandnehmen der Gestikulation und der tönenden Ikonizität eine tatsächliche Zersplitterung menschlichen Vermögens mit sich brachte, eine Entflechtung ganzheitlicher Verhaltensformen-und deren Spezialistische Zerstreuung auch im sozialen Raum. Halten wir uns noch einmal gegenwärtig, daß die Fokussierung auf Klanglichkeit und den auditiven Sinn - in der Regel wird sie als Versinnlichung begrüßt- gerade nicht Sinnlichkeit zu steigern verstand: in ganzkörperlicher Intermodalität, sondern sie portionierte und isolierte, zur Wahrnehmungsweise des je vereinzelten Organs. Führen wir uns schließlich vor Augen, daß die Verkapselung musikalischen Handeins im dinghaften Speicher, im Werk, in der Notation einer lebendigentropischen Überlieferung den Todesstoß versetzte (oder zumindest diese Überlieferung verschnitt): Dann zeigt sich, daß Musik exakt jenen Beitrag zur Mechanisierung des Lebendigen leistete, den sie beizusteuern imstande war. "Alle Sachen [aber], die ein Mensch hat, haben ihn doch in gewissem Sinne wieder". So wissen wir es; das Wort stammt von den Frühromantikern, aus einem Athenaeums-Fragment 149 . Die gleiche Gewalt freilich der Sachen über den Menschen hat schon Hieronymus Bosch uns zur Anschaung gebracht. Seine Musikantenhölle, Gegenbild zum Natur-Paradies, zum Garten der Lust 150 , ist bevölkert von Wesen, die nicht mehr Instrumente spielen, sondern von diesen sich spielen lassen, zwanghaft, voller Qual. Da steckt einer in der Trommel und wird an- und aufgeschlagen; ein anderer ist in die Saiten der Harfe gespannt; ein dritter trägt Noten auf der blanken Haut, wird 148 149 I SO

Vgl. Federhofer 1990. 1798 1 1800: 82. Vgl. Fraenger 1975: 31 ff.

4 Beiheft 1 zu Sociologia Internationalis

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gesungen; ein vierter wird gepommert, in einem Bornhart verdampft. Die Instrumentalisierung des Menschen: sie ist das Grauen. Mit Verkehrungen solch apokalyptischer Dimension - und präzis mit ihnen - geht auch die Genese des neuzeitlichen Musik-Konzepts einher. Der Mensch regiert den Kosmos, in Musik, durch Musik. Den Menschen treibt, in Musik, durch Musik, das Werk. Der Mensch ist, in Musik, durch Musik, mit sich selber zerfallen: Dies stellt sich auf dem Weg zur "Tonkunst" heraus. Der Übergang von der Transzendenz zur Immanenz wird auf allen Stationen von einer Logik bewegt. Der Pfad zur Verkapselung: des Menschen in sich und im Ding, ist der Pfad zur Instrumentenhölle. So endet, in einem sehr ausgreifenden Sinn, ganz und gar musikalisch, die Harmonie der Welt. Nicht Sphärenklängen kündigt "unsere" Musik das Existenzrecht auf, zugunsten sogar einer Öffnung zum Empirischen hin. Aufgegeben wird menschliche Selbstbescheidung, in der Schönheit, im ästhetischen Sein. Aufgegeben wird der Ort des Menschen in einem "ökologisch" gewichteten Weltgefüge. Nur eines kann uns, trauervoll-freudig, betroffen machen: daß das 16. Jahrhundert diesen Übergang schweren Herzens auf sich nahm; daß es seine Paradigmen nicht wechselt, sondern wendet; daß der Abschied von der Harmonie der Welt ein Abschied war. Dieser Abschied, in seiner Zögerlichkeit, hält Umkehr noch für möglich. Er zuallererst ist des Eingedenkens wert. Literatur Aaron, Pietro: Toscanello, Venedig 1523. -Abert, Hermann: Die Musikanschauung des Mittelalters und ihre Grundlagen, Tutzing 2 1964.- Agricola, Martin: Ein kurtz Deudsche Musica, Wittenberg 1528. - Agrippa von Nettes heim, Heinrich Cornelius: De incertitudine et vanitate omnium scientiarum et artium, Köln 1527.- Anderson, Gordon A. (Hrsg.): Compositions of the Bamberg Manuscript, Neuhausen-Stuttgart 1977. - Anonymus 4 =Reckow, Fritz (Hrsg.): Der Musiktraktat des Anonymus 4, Bd. 1: Edition, Wiesbaden 1967. -Anonymus 11: Tractatus de musica plana et mensurabili, in: Coussemaker Scriptores III: 416-475. - Aristoteles: De caelo (dt. Übers. 0. Gigon), Zürich 1950.- Arlt, Wulf: Nova cantica. Grundsätzliches und Spezielles zur Interpretation musikalischer Texte des Mittelalters, in: Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis 10 (1986): 13-62.- Artusi, Giovanni Maria: L'arte del contrapunto. Venedig 2 1598. - Athenaeum: Zeitschrift von A. W. Schlegel und F. Schlegel (1798-1800), Auswahl, Leipzig 1978. - Augustinus, Aurelius: De musica (Hrsg. G. Marzi), Florenz 1969. - Augustinus, Aurelius: Enarratio in psalmum, in: Patrologia latina, Bd. 37.- Bacon, Roger: Opus tertium (Hrsg. J. S. Brewer), London 1859.Beringer, Maternus: Musica Das ist die Singkunst, Nürnberg 1605. - Berman, Morris: Wiederverzauberung der Welt. Am Ende des Newtonsehen Zeitalters, Reinbek 1985. - Bierwisch, Manfred: Musik und Sprache, in: Jahrbuch Peters 1978, Leipzig 1979: 9-102. - Blaukopf, Kurt: Musik im Wandel der Gesellschaft. München 1982. Blume, Friedrich: Renaissance, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 11,

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MUSIK VERSTEHEN

Annäherungen an ein Problem Von Walburga Gaspar-Ruppert, Wien

I.

Auch wenn der Emanzipationsprozeß musiksoziologischen Forschens und Reflektierensaus der Umklammerung durch andere Disziplinen- vor allem musikwissenschaftlicher und philosophisch-ästhetischer Begründungszusammenhänge-durchaus dornig und mühevoll war, hat sich, seit den Tagen Max Webers, Musiksoziologie inzwischen zweifelsfrei als eigenständige Teildisziplin im Gesamtspektrum der Soziologie etablieren können. Obwohl die Zeiten der zum Teil- zumindest im deutschsprachigen Raum- nachgerade leidenschaftlich und erbittert geführten Diskussionen im Prozeß ihrer Selbstreflexion vorbei sind, die den Weg zur "kognitiven Identität" (W. Lepenies, 1981) begleitet haben, ist die Musiksoziologie vom Inhaltlichen wie vom Methodischen her eine außerordentlich heterogene Disziplin. Es hat sich inzwischen nicht nur der vordem enge Bezug zur Kunstsoziologie gelockert, da praktisch alle musikalischen Bereiche - bis hin zur Produktion und Rezeption trivialer Werbe-Jingles- einbezogen werden. Darüber hinaus ist auch methodisch ein Problem nach wie vor nicht verbindlich abgeklärt: wie eng der Bezug zum konkreten musikalischen Material sein muß, um soziologisch relevante Zusammenhänge analysieren zu können. So kann dann eine Definition des Gegenstandsbereichs z. B. durch Blaukopf, nämlich "die materiellen und geistigen, die wirtschaftlichen und politischen Bestimmungsstücke musikalischen Handeins und Verhaltens aufzuspüren" (K. Blaukopf, 1984), als Versuch begriffen werden, einen gleichsam kleinsten gemeinsamen Nenner für die unterschiedlichsten Interessensschwerpunkte und Forschungsansätze innerhalb der Musiksoziologie zu finden, und diesen spricht Blaukopf durch die terminologischen Traditionen der Begriffe des Verhaltens und Handeins an. Musik ist dadurch sowohl unter dem Aspekt von beobachtbaren Handlungen (bzw. Unterlassungen) und analysierbaren Regelmäßigkeiten auf der Basis von Verhaltenserwartungen zu fassen, als auch unter dem Blickwinkel intentionaler Handlungen, die Sinnbezüge konstituieren. Somit ist Musik soziale Manifestation, die das wie immer geartete musikalische Ton-Material und dessen immanente Sinn-

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Walburga Gaspar-Ruppert

gehalte transzendiert. Musikalisches Handeln und Verhalten bezieht sich also nicht nur auf Musik als selbstreferentielles (autoreflexives) System, sondern immer auch auf die damit verknüpften gesellschaftlichen Bezüge, Normen und Werte, Erwartungen und Randbedingungen. Musik kann zudem im gesellschaftlichen Kontext zugleich "zum symbolischen Material" werden, mit dessen Hilfe bestimmte Werte signalisiert werden können" (R. H. Reichardt, 1978, S. 35). Mitall diesen unterschiedlichen Ebenen sind Sinnstrukturen verknüpft, die in der musiksoziologischen Analyse auf einander bezogen werden müssen, das heißt aber vorgängig einmal: verstanden werden müssen, denn erst dann sind ihre spezifischen Zusammenhänge erklärbar. Dabei kann das musikalische Material selbst nicht ausgespart werden, da es mit dem sozialen bzw. kulturellen Kontext eine spezifische Mittel- bzw. Zweck-Relation eingeht. Dies führt aber zu dem Problem, wie überhaupt Musik verstanden werden kann. Sie hat zwar bestimmte Strukturmerkmale und -eigenschaften und ist kulturell definiert, zugleich aber historisch variablen Regeln und Normen unterworfen, die sie als Klangerfahrung identifizierbar machen. Doch diese sind nicht unmittelbar aus dem Material heraus mitteilbar. Ebenso muß das konnotative Umfeld begriffen werden können, ohne das die Zuweisung z. B. von Symbolfunktionen verschiedenster Art nicht denkbar ist. Musiksoziologie gerät durch ihren Gegenstand in die Situation, sich mit Ausdrucksformen zu befassen, die zwar sprachlich interpretiert werden müssen, selbst aber außerhalb der diskursiven Sphäre stehen, obwohl sie als Formen sprachgeprägte sind, nämlich sich und etwas mitteilend. II.

Einige Hinweise, wie die Verstehensprozesse musikalischen Verhaltens und Handeins ablaufen können, geben jene Funktionsdifferenzierungen, die auch für sprachliche Mitteilungen gelten, ohne in letzteren aufzugehen (vgl. U. Eco, 1972, S. 145 f.). Auch auf die Gefahr hin, die Analogie zur Sprache zu weit zu treiben, kann man aber Musik doch wohl folgende, ihr immanente Funktionen zuweisen, die in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen bzw. Relationen zueinander auftreten können: eine emotive oder expressive eine phatische oder Kontaktfunktion eineappellativeoder konative eine kognitive und schließlich eine ästhetische Funktion. Verwehrt hingegen ist Musik die "metasprachliche" Funktion. Diese Leistungen sind es dann auch, die erlauben, Musik in den Dienst außermusikalischer Bedürfnisse und deren Befriedigung einzubetten. Musikalische Pro-

Musik verstehen

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duktion, wobei hier davon abgesehen werden kann, ob es sich um individuelle oder "kollektive" Kreativität handelt, ebenso wie Reproduktion (ob unmittelbare oder technisch vermittelte) und Rezeption beziehen sich auf weitgehend identische Bedürfnisebenen, wie Reichardt (R. H. Reichardt, 1962, S. 48 ff.) nachgewiesen hat: Ob es sich nun um sehr basale (primäre) Bedürfnisse nach Trance, Ekstase, Traum, nach Gemeinschaftsstiftung und -abstützung, nach Disziplinierung, nach magischen oder religiösen und daraus ableitbaren Handlungszusammenhängen dreht, oder ob sekundäre, also höhere Bedürfnisse z. B. nach ästhetischer und mentaler Befriedigung angesprochen sind, es können jeweils spezifische musikalische Ausdrucksformen die erforderlichen "Mittel" anbieten. Die Tatsache, daß diese höchst heterogenen Leistungen erbracht werden können, gibt aber nur insofern Anhaltspunkte für das "Wie", als eben "musikalische Mittel" offensichtlich durch ihre jeweiligen formalen Gegebenheiten für den Hörenden wie den Produzierenden mit einem gesellschaftlich abgestützten "Mehr" anreicherbar sind, dessen man sich zumindest intrakulturell einigermaßen sicher sein muß, um die Mitteilung zu verstehen bzw. um solcherart verständliche Mitteilungen zu kreieren. Das, was für sprachliche Zeichen gilt, müßte dann auch für musikalische "Zeichen" gelten, nämlich daß sie einen wie immer gearteten Sinn haben bzw. transportieren, der ihnen als rein physikalischen Phänomenen nicht zueignet. Musik kann daher- mit Vorbehalten, die noch zu diskutieren sind - als Zeichen- oder Symbolsystem aufgeiaßt werden, das Sinnzusammenhänge zwischen Zeichensetzenden und Zeichendeutenden konstituiert und absichert. Jedes Zeichensystem ist zugleich ein Schema der Erfahrung und zwar in zweifacher Hinsicht. Es ist 1. Ausdrucksschema: "d. h. das Zeichen wurde für das Bezeichnete von mir bereits mindestens einmal, sei es in spontaner Aktivität, sei es in nachvollziehender Phantasie gesetzt", und

2. Deutungsschema: "d. h. ich habe das betreffende Zeichen bereits früher als Zeichen für das Bezeichnete gedeutet" (A. Schütz, 1974, S. 170 f.) . Schütz verdeutlicht das Gemeinteam Beispiel einer individuell erfundenen und nur für den persönlichen Gebrauch bestimmten Geheimschrift; sie ist dann sowohl Ausdrucksschema, wenn sie für Aufzeichnungen verwendet wird, als auch Deutungsschema, sofern sie nochmals gelesen oder für weitere Aufzeichnungen eingesetzt wird. Um ein Zeichensystem erfassen zu können, müssen beide Funktionen (Ausdruck und Deutung) als Wissen präsent sein, es weist daher "jedes Zeichen auf Erfahrungen zurück, welche seiner Konstituierung vorangegangen sind. Als Ausdrucks- und als Deutungsschema ist ein Zeichen nur von eben jenen es konstituierenden Erlebnissen her verstehbar, die es bezeichnet; sein Sinn besteht in der Transponierbarkeit, d. h. in seiner Rückführbarkeit auf anderweitig Bekanntes. Dieses kann entweder das Schema der Erfahrung selbst, in das das Bezeichnete eingeordnet ist, oder aber ein anderes Zeichensystem sein" (A. Schütz, 1974). Die angespro-

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chene Problematik wird im musikalischen Bereich besonders dann brisant, wenn der Erfahrungshorizont, d. h. der zugrunde liegende kulturelle Kontext einer Musik und I oder ihrer inneren formalen Strukturen, nicht oder nur ungenügend bekannt ist. Derartiges Tonmaterial kann eventuell dann verstanden werden, also Sinn transportieren, wenn es z. B. große strukturelle Nähe zu besser bekannten und ausreichend analysierten Formen aufweist. Max Weber hat die damit auftretenden Probleme ausführlich diskutiert (M. Weber, 1972), und zwar auf beiden Funktionsebenen, wenn er sich mit den Materialanalysen und -interpretationen u. a. von Helmholtz auseinandersetzt oder das Problem verlorengegangener ,o der niemals bekannter Notationssysteme diskutiert: Die Rekonstruktion von Sinnzusammenhängen hat dann durch den Rückgriff auf reine Analogieschlüsse notwendig obskuren Charakter. Ähnliche Probleme können sich aber auch ergeben, wenn zwar das "Umfeld" bekannt und präsent ist, die Musik aber eine bewußt intendierte künstlerische Innovation darstellt: "Das Schaffen von etwas ganz Neuem, eines eigenen Kosmos" (R. H. Reichardt, 1987, S. 157). Auch wenn Musik sich mitteilen will, wird sich der Prozeß des Verstehens unter diesen Bedingungen nur dann leisten lassen, wenn umfangreiche Erfahrungen mit vorangegangenem Material vorhanden und präsent sind. Obwohl solcherart explizit künstlerische Produktion für die musiksoziologische Forschung nur mehr ein Teilgebiet darstellt, verweist dieses Problem auf einen weiteren Aspekt der Sinnkonstitution, der jedoch auch für kollektive bzw. nicht-künstlerische Formen wichtig ist, nämlich Möglichkeiten zum Fremdverstehen. III.

Auf "Zeugnisse aller Art" (Objektivationen fremder Bewußtseinserlebnisse z. B. in Form von Artefakten, also auch Symbolsystemen) "erstreckt sich die Problematik vom objektiven und subjektiven Sinn. Es kann nämlich das Erzeugnis durch denjenigen, dem es als Erzeugtes vorgegeben ist, einmal als Gegenständlichkeit realer oder idealer Art unabhängig von dem Erzeuger interpretiert werden, oder aber als Zeugnis für den Bewußtseinsablauf dessen, der seine Gegenständlichkeit in konstituierenden Setzungen in seinem Bewußtsein erzeugte" (A. Schütz, a. a. 0., S. 186 f.). Das hier als subjektiver Sinn bezeichnete Moment geht jedoch nicht in rein individualistischen Bezügen auf, sondern verweist als Erfahrungs- und Erlebniswelt des Sinnsetzenden immer schon auf seine spezifische und prägende soziale Mit- und Vorwelt. Nun bestehen im wissenschaftlichen und dem- den Sozialwissenschaften immer schon notwendig vorausgehenden - vorwissenschaftliehen Bereich

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jeweils gesellschaftlich getragene Regeln der Sinndeutungen (vgl. A. Schütz, 1981, S. 264 f.), die auf das vorhandene Wissen, aber auch auf sozial akzeptierte Bewertungssysteme abgestützt sind. Das heißt aber, daß der Bezug zwischen objektivem und subjektivem Sinngehalt weder individuell interpretatorischer Willkür unterliegt, noch invariant ist- gleichsam außerhalb der gesellschaftlichen Entwicklung stehend. Als kulturelle Manifestationen treten so die musikalischen Formen dem Hörer gegenüber, losgelöst von ihrem individuellen oder kollektiven Produzenten. Auf dieser Ebene des Sinnbezugs sind sie in ihrer funktionalen Relation zu gesellschaftlichen Bedürfnissen differenzierbar: an die menschliche Stimme gebunden oder externalisiert ins Instrumentale, mit sprachlicher Bindung oder wortlos. Je nach geltenden Wissens- und Bewertungsmustern erfolgen auf dieser Ebene auch die Zuweisungen, Revisionen oder Verweigerungen ästhetischer Urteile, sofern diese zum kulturell-gesellschaftlichen Bestand gehören. Hier liegt auch die Möglichkeit begründet, "nicht das SoSein der musikalischen Praxis, sondern ihr Anders-Werden" (K. Blaukopf, 1982) zu verstehen und gegebenenfalls auch erklären zu können. Die Ebene des subjektiven Sinnzusammenhangs hingegen bezieht sich auf einen anderen Modus der Erfahrung. Die Deutung des Sinnzusammenhangs vollzieht sich auf einer gleichsam interpersonalen Ebene zwischen alter und ego, in dem Sinne, daß "jede Deutung des subjektiven Sinnes eines Erzeugnisses auf ein besonderes Du verweist, von welchem der Deutende Erfahrung hat und dessen aufbauende Bewußtseinsakte er in Gleichzeitigkeit oder Quasigleichzeitigkeitnachvollziehen kann" (A. Schütz, 1981, S. 190). So wird Sinndeutung ein in der Vorstellungswelt des Deutenden ablaufender Nachvollzug eines intentionalen Aktes von alter- unter der Annahme, einen zumindestens sehr ähnlichen Erfahrungshorizont wie der selbst Zeichensetzende zu haben. Im aktuellen Dialog ist diese Beziehung am unmittelbarsten; wenn also ein Komponist über seine Intentionen und sinnsetzenden Akte befragt werden kann, besteht eine große Chance, daß die Relation zwischen Sinnsetzendem und Deutendem, zwischen subjektivem und objektivem Sinn auf der Basis eines kommunizierbaren Ausdrucksschemas zur Deckung gebracht werden kann, obwohl diese Beziehung niemals gänzlich ineinander aufgehen kann. Je weiter aber der ursprüngliche Sinnsetzungsakt z. B. historisch zurückliegt, umso vager müssen alle Versuche sein, sich dem subjektiven Gehalt auf der Basis des eigenen Erlebnishorizontes anzunähern. Sie stützen sich dann auf die Tragfähigkeit nachvollziehbarer kultureller Traditionslinien ab, die sich in der Sinnsetzung widerspiegeln. Lassen sich solche Bezüge durch zu große Ferne (zeitliche, aber ebenso auch kulturelle) nicht (mehr) herstellen, scheint auch das subjektive Moment dem Deutungsprozeß zu entgleiten, und die musikalischen Formen würden zu bloßen Ausdrucksschemata mit spezifischen, objektiven Struktureigenschaften erstarren. Doch die Erfahrung widerspricht dieser Logik, denn ein wesentliches

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Kennzeichen der Musik ist ihre Fähigkeit, sich als lebendige Einheit aus objektiver und objektivierbarer Form sowie subjektiver Sinnsetzung vermitteln zu können und als solche erlebbar und verstehbar zu werden.

IV.

Daß überhaupt die Frage nach dem "Was" in der Musik gestellt werden muß, d. h. also die Frage nach möglichen Inhalten dieses Symbolsystems, die das klangliche Material transzendieren oder durch dieses hindurch vermittelt sind, ist bekanntlich kein der Musik immanentes Spezifikum, sondern das Produkt gesellschaftlich-kulturellen Wandels. Dazu müssen zunächst Töne und Klänge aus ihrer Natureingebundenheit loslösbar werden (vgl. u. a. H. Besseler, 1978), und zu ihrer Eigenschaft als bloße Symptome bzw. Anzeichen muß der Zeichencharakter treten. Erst dann können sie in einen Sinnzusammenhang eingebunden, d. h . zu einem Ausdrucks- und Deutungsschema geformt und als intentionale Handlung mit gesellschaftlichen Funktionen verknüpft werden, wie z. B. Ritus, Magie, Tanz oder Arbeit; Verbindungen, die sich bis in die Gegenwart als tragfähig erwiesen haben. Doch nicht erst die Emanzipation der klanglichen Zeichensysteme von den außermusikalischen Funktionen kann die Frage nach der Bedeutung provozieren, bereits beim Obsoletwerden ebenso wie bei der Innovation einer Form,.ohne die musikalische Entwicklung nicht denkbar wäre, können Bewertungsprozesse einsetzen, die sich an das Material selbst richten. Kategorien wie "angemessen - unangemessen" beziehen sich zwar zunächst auf die Relation von Material und Funktion; sofern aber dem Klang bereits Zeichencharakterund damit selbst eine Bedeutung- zugeschrieben wird, müssen auch Deutungsmuster für die musikalischen Inhalte zur Verfügung stehen. Mit der zunehmenden Befreiung der Musik - vornehmlich im europäischen Kulturbereich - von den funktionalen Zusammenhängen und weiters auch vom Text, der dem Gesang wohl primär Sinn verleiht, wird die Frage nach dem immer aktueller, was die "Sprache" der Musik "spricht", wenn sie erklingt. Dieser Emanzipationsprozeß ist jedoch nicht losgelöst vom allgemeinen gesellschaftlichen Wandel in den europäischen Gesellschaften zu sehen. Die spezifische okzidentale Rationalität, die zunehmend alle gesellschaftlichen Bereiche seit dem ausgehenden Mittelalter erlaßt, prägt im besonderen Maße auch die Kulturentwicklung und die gesellschaftlich vermittelten Lebensformen. Verwissenschaftlichung, Spezialisierung und "Kognitivierung" (dazu besonders: R. H. Reichardt, 1990) sind notwendige Voraussetzungen, um die umfassenden Rationalisierungsprozesse abzustützen, die vornehmlich auf die Optimierung der Zweck-Mittel-Relationen, d. h. Effizienzsteigerung, hinzielen. Das Muster des zweckrationalen Handelns, im ökonomischen und politischen Bereich immer erfolgreicher verglichen mit tradierten Verhaltensformen, findet seinen Widerschein auch im Kulturellen, d. h. daß daher

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auch die europäische Musikpraxis von den Rationalisierungstendenzen nicht unberührt bleiben konnte. Dies betrifft aber nicht nur das Musikschaffen selbst, die Darbietungsformen, die technischen Voraussetzungen, das Rezeptionsverhalten etc. (vgl. R. Kannonier, 1884), sondern auch die "unterste" Ebene, das Hören selbst. Sogar eine so grundlegende Fähigkeit wie das Hören-Können von Tonschritten dürfte kein anthropologisch konstantes "Datum" sein, das z. B. bei der Differenzierungsmöglichkeit von Halbtönen endet, sondern ein Produkt des gesellschaftlichen und kulturell-musikalischen Umfeldes, in dem das Hören gelernt wird. Diese wahrscheinlich von Hornbostel erstmals deutlich gemachte und vor allem durch Max Weber in den musiksoziologischen Wissensbestand eingegangene Tatsache relativiert demnach auch ein so basales Faktum wie das funktionsfähige Ohr durch den gesellschaftlich-kulturellen Kontext: Hören-Können ist immer dem vermittelt, was gehört wird und werden kann. Hier wird eine spezifische Form der Standardisierung, die ihren Begriff im Wohltemperierten findet, für die Hörgewohnheiten kulturell prägend, während subtilere Differenzierungsmöglichkeiten eher zur Ausbildung von Spezialisten zählen. Parallel dazu wird aber die Definition eines Tones zunehmend exakteren Kriterien (auf der Basis seiner physikalischen Parameter) unterzogen, ohne daß beide Tendenzen in Widerspruch geraten müßten. Mit der Ausformung einer gleichsam von allem Beiwerk "gereinigten" Musik, deren vorläufiger Endpunkt wohl das Konzept der "absoluten Musik" als "tragende(r) Idee des klassisch-romantischen Zeitalters in der Musikästhetik" des 19. Jahrhunderts (C. Dahlhaus, 1978) bildet, erhält nicht nur die erkenntnistheoretische Frage nach den Inhalten des reinen Materials neue Impulse, sondern es beginnt sich mit dieser Musikform auch ein neuartiger Rezeptions- und Deutungsstil kulturell durchzusetzen. Obwohl im Gesamtspektrum auch der europäischen Musikpraxis das "Paradigma der absoluten Musik" nur eine "Enklave" bildet (C. Dahlhaus, 1978), verfestigen sich Verhaltensmuster, die nicht nur gegenüber der europäischen Kunstmusik der letzten dreiJahrhunderteals adäquat definiert wurden und werden, sondern sich zu einem sehr dominanten und gesellschaftlich hochbewerteten "Stil" gegenüber jeder musikalischen Form etabliert haben. Mit der Konzentration auf das werkimmanente Material, die hohe Disziplin verlangt- ähnlich der "innerweltlichen Askese" im Rationalisierungsprozeß des Religiösen - , dechiffriert der ideale Hörer analytisch das Gebotene: der gebändigte Hörer, der körperlos und daher distanziert sich in seiner Wahrnehmung nur mehr auf einen Aspekt der Musik konzentriert, nämlich den der funktionslosen Darstellung ihrer selbst. Sinndeutendes Verstehen, das seine Maßstäbe am autonomen Kunstwerk, der höchststehenden künstlerischen Form der "ernsten" europäischen Musikkultur, gewinnt, verschließt nicht die Augen vor der Tatsache, daß der eigene Bezugspunkt eine zeitlich wie räumlich nur sehr b eschränkte Facette der musikalischen Ausdrucksformen insgesamt

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darstellt; es lassen sich daraus durchaus intersubjektiv vermittelbare Kriterien für eine Beurteilung gewinnen, sofern es sich um Musikformen handelt, die im kulturellen Kontext der europäischen Musikentwicklung verankert sind. Dies gilt vor allem auch für die trivialisierten Formen der sogenannten Gebrauchsmusik. Der Idealtypus des kompetenten Analytikers (und Musiksoziologen), den z. B. Adorno aus der Logik dieser autonomen Kunst heraus als Leitbild musikalischen Verstehens überhaupt entwickelt hat (Th. W. Adorno, 1968), kann aber mit Formen, deren Ausdrucks- wie Deutungsschemata andersartig sind, nur wenig anfangen (eine Lehre, die sich aus Adornos Jazz-Rezeption und -Interpretation unmittelbar ziehen läßt). Nun basiert diese Distanz sicher nicht auf Schwierigkeiten, die sich im formalen, nur auf das Tonmaterial bezogenen Bereich ergäben. Vielmehr verweist sie auf eine andere Ebene der Sinnkonstituierung, die im weiteren erörtert werden soll.

V. Mit den ersten Reflexionen über Musik als Musik wird die spezifische assoziative Kraft zum Emotionalen, zu tieferen seelischen Bereichen hervorgehoben und diskutiert (ein Sinndeutungspfad, der seit der Antike Griechenlands beschritten wird). Musik als kulturell variables, klangliches Symbolsystem verfügt offensichtlich über die Fähigkeit, Erfahrungen zu vermitteln, die nicht im Kognitiven begründet liegen, die aber dennoch - über den kulturellen Kontext hinaus, in dem das System entstanden ist- als sinnhaft erlebt und nachvollzogen werden können. Es wird etwas "UrmenschlichGemeinsames angesprochen, das einer tieferen psychischen Schicht entspricht als das Urteilen und Meinen über das Gehörte" (R. H . Reichardt, 1968). Hinweise darauf, wie Musik dies zu leisten vermag, finden sich in der Analyse symbolischer Formen bei S. Langer (S. Langer, 1984). Als Basis dient das wohl universellste und flexibelste Symbolsystem, das Menschen geschaffen haben: die Sprache. Bei der Ausdifferenzierung jener Komponenten, die allgemein Sprachen definieren, zeigt sich, daß Musik- obwohl ebenfalls ein Symbol- bzw. Zeichensystem - in einem ganz zentralen Bereich keine Sprache darstellt: sie kennt keine Lexeme und damit keine Syntax, die diese Einheiten z. B. zu Sätzen verknüpfte. Durch diese Besonderheit des musikalischen Zeichensystems können keine Aussagen gespeichert werden. Indem Musik nicht lexikalisiert ist - von einigen onomatopoetischen Floskeln abgesehen - , ist sie als Zeichensystem nicht diskursiv, sondern "präsentativ" (S. Langer, 1984, S. 86 ff.); das Erkennen verläuft analog zu der weitgehend intuitiven Wahrnehmung eines Bildes in seiner "Gestalt" und der "Vernachlässigung" der Einzelkomponenten. Nun "geht der Gedanke, daß etwas gewußt werden

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kann, was nicht auch benannt werden kann, ... unserm ans Wort gebundenen Denken besonders schwer (ein ...)" (S. Langer, 1984, S. 229). Da es aber Erfahrungsbereiche gibt, die sich der rationalen Welt des Diskurses nur widerwillig fügen oder sich auch gänzlich verweigern, müssen sich solche Bewußtseinserlebnisse, sollen sie objektiviert werden, anderer Ausdrucksformen bedienen. Daraus ist aber nicht zu schließen, daß Musik als Form unmittelbarer Selbstausdruck des Sinnsetzenden ist, ein "psychologischer Reflex" oder eine "Reproduktion psychischer Gehalte" (Th. W. Adorno, 1964, S. 24 f.). Dies würde musikalische Formen auf die Funktion der bloßen Anzeichen für emotionale Gehalte reduzieren. Damit würde nicht nur eine weitgehende Invarianz des Ausdrucksschemas, sondern auch der Sinndeutungen unterstellt, die dieses präsentative Symbolsystem aber gerade nicht aufweist, denn die Annahme dürfte gerechtfertigt sein, daß emotionale Befindlichkeiten wie Freude, Trauer, Liebe oder Haß allen Menschen zueignen. Durch den in diesem Sinne nicht-konventionellen Charakter wird mit Musik ausdrückbar und dadurch erlebbar, was mit anderen Symbolsystemen in dieser Form nicht adäquat artikuliert werden kann: "Formulierung und Darstellung von Gemütsbewegungen, Stimmungen, geistigen Spannungen und Entschlüssen" (S. Langer, 1984, S. 219). Abgestützt wird dieser Zugang zu inneren Vorgängen zudem dadurch, daß Musik bestimmte formale Eigentümlichkeiten aufweist, die denen der psychisch-emotionalen Erfahrungen gleichen. "Muster von Ruhe und Bewegung, Spannung und Entspannung, Übereinstimmung und Unstimmigkeit, Vorbereitung, Erfüllung, Errregung, plötzlichem Wechsel u. s. w." (S. Langer, 1984, S. 225) in stetiger Abfolge charakterisieren beide Erlebnisbereiche und begründen ein Naheverhältnis, das in dieser unvermittelten Art sprachlich weder konstmiert noch rekonstruiert werden kann. Trotz aller inter- wie intrakultureller Varianz der Ausdrucksmittel kann Musik durch ihre spezifische Fähigkeit, Gemütszustände und Gefühlslagen anzusprechen, Zugang zu Erfahrungen schaffen, die den individuellen wie den kulturellen Kontext transzendieren (dies muß aber nicht der Fall sein). Auch wenn das Ausdrucksschema "fremd" ist, eröffnet sich eine Ebene des Verstehens außerhalb des rein Kognitiven (und des kognitiv abgestützten Ästhetischen), die ebenfalls Sinndeutungen zugänglich ist. Die Sinnkonstitution bezieht sich aber nicht- wie schon gesagt- auf eine Übertragung der eigenen emotionalen Befindlichlichkeit auf die subjektiven Intentionen des Sinnsetzenden. Der Sinnzusammenhang gründet sich vielmehr auf den Prozeß des Erfahrensund Erlebens selbst, das heißt nicht auf das, "was" angesprochen wird, sondern darauf, "daß" Artikulation von Emotionalem sich vollzielu:!n kann.

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VI.

Musik und die damit verknüpften sinnsetzenden und sinndeutenden Akte als Basis des Verstehens beziehen sich- über ihre kognitive und emotionale Ebene hinaus- notwendig auf sinnliche Erfahrungen, d. h. "ihr Sinngehalt läßt sich von ihrer Realisierung nicht trennen, auch wenn er in solcher nicht aufgeht" (H. Plessner, 1970, S. 224). Selbst wenn diese Erfahrung nicht unmittelbar sein muß, ist Musik nicht abhebbar von ihrer lautlichen Gestalt; eine Bemerkung von Brahms illustriert den Sachverhalt: "Wenn ich eine hervorragende Aufführung von ,Don Giovanni' hören möchte, zünde ich mir eine gute Zigarre an und lege mich auf mein Sofa" (A. Schütz, 1971, S. 174). Sie bezieht über das Hören, auch als inneres, den Körper ganz unvermittelt ein, auch wenn sich diese Körperlichkeit zumindest in jenen Gesellschaften, die ihr prägendes kulturell-gesellschaftliches Verhalten auf europäische Muster abstützen, auf ein gleichsam "abstraktes Ohr" reduziert hat. Daß Musik mit Atmung, Herzschlag und Bewegung eine ursprüngliche Einheit bildet (W. Suppan, 1984), läßt sich aus den unterschiedlichsten funktionalen Zusammenhängen ableiten, die ja die unmittelbare Körperbezogenheit der Musik gezielt für außermusikalische Zwecke einsetzen; ein Wissen, das so alt wie die Musik selbst ist. Neben der emotionalen Ebene ist es also die Sinnlichkeit, die sie aus ihrem jeweiligen kulturellen Kontext loslösen kann und auf einer ganz basalen Stufe des Verstehens erfahrbar macht. Denn der eigene Körper ist zunächst - wahrscheinlich phylogenetisch wie ontogenetisch der "erste fraglose Erfahrungskomplex", auf den sich alle weiteren Verstehens-und Sinnsetzungsprozesse beziehen müssen (A. Schütz, 1982), denn er sichert als Bezugspunkt die räumliche und dadurch auch zeitliche Orientierung ab. Die Verschränkung von Emotionalem und Sinnlich-Körperlichem in der Musik spiegelt sich zwar noch in der Sprache, wenn von Ergriffen- oder Bewegtsein die Rede ist, tatsächlich ist aber der Körper längst ausgeschlossen, bis auf die wenigen gesellschaftlichen Bereiche im europäischen Kulturkreis, in denen die körperliche Bewegung mit der Musik eine eigenständige Ausdrucksform bildet. Körperbezogene Reaktionen auf Musik in der Öffentlichkeit, die z. B. den gesellschaftlich akzeptierten Applaus der Zuhörer oder - im Tanz - das Repertoire an erlaubten Bewegungsabläufen überschreiten, werden als unerwünscht, als Barbarei diskreditiert. Eine der wenigen, gesellschaftlich z. T. sogar sehr hochbewerteten Möglichkeiten, den unmittelbar sinnlichen Bezug zum körperlichen Erleben im Musikalischen herzustellen, ist das aktive Musizieren. Hier darf sich der ganze Körper als sinnliche Einheit unmittelbar auf die Musik beziehen und sich ihrer Führung überlassen, diszipliniert oder ekstatisch, entspannt und gelöst oder in höchster Konzentration gefangen. Für den Musizierenden er-

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schließen sich zudem auch die emotionalen Bezüge sehr direkt, denn im Nachvollzug einer fremden Erfahrung- ob einer individuellen oder kollektiven - kann der Sinngehalt, erfahren und erleben zu können, im musikalischen Ausdruck unmittelbar evident werden. Hier kann das, was Musik "meint", in seiner intensivsten und tiefsten Form nachvollzogen werden, da alle Ebenen der Erfahrung und des Verstehens im Handeln vermittelt sind, wenn Kopf, Herz und Körper im Musizieren eine Einheit bilden. Dies führt zum Ausgangspunkt und der Frage nach dem Verstehen von Musik zurück, die einen elementaren Bestandteil musiksoziologischer Arbeit bildet. Auch wenn die Aufgabe des Sozialwissenschaftlers "in der ordnenden Betrachtung" liegt, ist doch die Basis, auf die sich die Betrachtung richten kann, schon vorher als "lebendiges Erleben" der Sozialwelt aufgebaut und konstituiert. "Denn alles das, auch unsere verstehenden und sinnsetzenden Akte also, auch unsere Vorstellungen vom Sinn fremden oder eigenen Verhaltens, oder vom Sinn eines Erzeugnisses (im weiteren Wortgebrauch, worunter auch die sogenannten Kulturobjektivationen fallen) gehören mit zu der Sozialwelt, welche als ein Sinnvolles zu erforschen Aufgabe der Sozialwissenschaft ist" (A. Schütz, 1974). Wie wichtig dieser Bezug für die Musiksoziologie ist, lehren die Ergebnisse: je umfassender das Verstehen durch Kopf, Herz und Körper fundiert ist, umso adäquater wird auch die "ordnende" Betrachtung sein.

Literatur Adorno, Theodor W. (1968): Einleitung in die Musiksoziologie, Rowohlt Verlag, Reinbek b . Hamburg.- Adorno, Theodor W. (1964): Moments musicaux, Suhrkamp Verlag, Frankfurt I Main. - Besseler, Heinrich (1978): Aufsätze zur Musikästhetik und Musikgeschichte, Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig. - Blaukopf, Kurt (1984): Musik im Wandel der Gesellschaft. Grundzüge der Musiksoziologie, dtv- Bärenreiter Verlag, München.- Blaukopf, Kurt (1989): Beethovens Erben in der Mediamorphose, Verlag Arthur Niggli AG, Heiden.- Dahlhaus, Carl (1978): Die Idee der absoluten Musik, dtv- Bärenreiter Verlag, München. - Eco, Umberto (1972): Einführung in die Semiotik, Wilhelm Fink Verlag, München.- Kannonier, Reinhard (1984): Zeitwenden und Stilwenden, Hermann Böhlaus Nachf., Wien-Köln-Graz. - Lepenies, Wolf, (Hrsg.) (1981): Geschichte der Soziologie, Bd. 1, Suhrkamp Verlag, Frankfurt I Main.- Langer, Susanne K. (1984): Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, S. Fischer Verlag, Frankfurt I Main.- Plessner, Helmuth (1984): Philosophische Anthropologie, S. Fischer Verlag, Frankfurt I Main. - Reichardt, Robert H. (1962): Die Schallplatte als kulturelles und ökonomisches Phänomen, Polygraphischer Verlag, Zürich. - Reichardt, Robert H. (1978): Der sozialwissenschaftliche Kontext einer Soziographie des Österreichischen Musiklebens, in: G. Braun (Hrsg.), Soziographie des Musiklebens, Schriftenreihe Musik und Gesell5 Beiheft 1 zu Sociologia InternationaUs

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schaft, Heft 17, Karlsruhe. - Reichardt, Robert H. (1987): Selbstverständnis und Bedingungen schöpferischer Arbeit zeitgenössischer Künstler, in: Wolfgang Lipp (Hrsg.), Kulturtypen, Kulturcharaktere -Träger, Mittler und Stifter von Kultur, Dietrich Reimer Verlag, Berlin. - Reichardt, Robert H. (1990): Die Facetten der europäischen Rationalität am Beispiel der moderenen Kunst, unveröffentlichtes Manuskript, Wien.- Schütz, Alfred (1971): Making Music Together, in: Collected Papers, Vol. II, Martinus Nijhoff Verlag, Den Haag. -Schütz, Alfred (1974): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Suhrkamp Verlag, Frankfurt I Main. - Schütz, Alfred (1981): Theorie der Lebensformen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt I Main. - Schütz, Alfred (1982): Das Problem der Relevanz, Suhrkamp Verlag, Frankfurt I Main. Suppan, Wolfgang (1984): Der musizierende Mensch. Eine Anthropologie der Musik, Schott, Mainz-London-New York-Tokyo. - Weber, Max (1972): Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen.

DIE SOZIALE FUNKTION DER MUSIK Von Peter Fuchs, Gießen Man kann nicht überhören, daß Musik überall vorkommt, wo Menschen vorkommen. Unter modernen weltgesellschaftlichen Bedingungen wird es nur noch wenig Orte geben, wo sie sich nicht aufdrängt, wenige Zeiten, in der man ihr ganz und gar ausweichen kann. Man braucht sie nicht zu suchen, sie findet sich immer: in Knopfdruck- und Hörweite, vom Walkman bis zum Opernhaus, von der Wiege bis zur Bahre. Ein gigantischer, weltweit operierender Apparat ist damit befaßt, inmitten allen sozialen Lärms Klanginseln zu organisieren, für die offenbar ein nahezu fragloser Bedarf besteht, so fraglos, daß man allenfalls noch behaupten kann, bestimmte Typen von Musik nicht zu mögen, kaum aber: sie insgesamt für störend, überflüssig, widerwärtig zu halten. Aber was ist das für ein Bedarf, den zu befriedigen so ungeheure soziale Anstrengungen unternommen werden? Ist Musik nicht vordringlich etwas Psychisches? Entfaltet sie ihre Wirkungen nicht auf der psychischen Innenseite der Welt, jenseits von Kommunikation und Handlung? Jenseits von allem, worauf die Soziologie üblicherweise zugreift, wenn sie ihren Gegenstandshereich beobachtet? Was sieht man von der Musik, wenn man Institutionen, Strukturen, Handlungszusammenhänge beschreibt, die zwar Musik ermöglichen, aber ihr in gewisser Weise extern sind, und müßte man nicht zuvor erklären können, welches Problem durch Musik so gelöst wird, daß eine Welt von Kommunikation sich organisiert, damit Musik sich hören läßt? In der Tat, man müßte die soziale Funktion eines unter Umständen asozialen Phänomens bestimmen, um diese Fragen beantworten zu können. Vorsichtig, annäherungsweise und eher im Sinne einer Diskussionsanregung soll dieser Versuch im weiteren unternommen werden. Daß es dabei streckenweise sehr abstrakt zugehen wird, darf vielleicht im Falle der Musik zugemutet werden. I.

So trivial wie wahr ist wohl, daß Musik nicht Sprache ist. Mitunter ist von der ,Sprache der Musik' die Rede, aber mit dieser Metapher bezeichnet man ja gerade eine nichtsprachliche Sprache, eine, die ohne Wörter auskommt, ohne deren perspektivische Verklammerung durch grammatische 5*

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Peter Fuchs

und syntaktische Strukturen, ohne zuweisbare Bedeutungen, ohne an Sätzen identifizierbaren Sinn. Man bezeichnet auf diesem Weg etwas, das wie Sprache sich von anderen Geräuschen scharf unterscheidet, aber sich anders unterscheidet und dennoch etwas mit ihr gemeinsam hat: die Verständigungsfunktion. Die Metapher unterstellt, Musik führe so etwas wie Sinn mit sich, der zu verstehen sei, wenn auch auf eine eigentümliche, von sprachlicher Sinnproduktion- undrezeptionunterschiedene Weise. Und dieser Sinn sei nicht nur tiefer und deswegen belangvoller als sprachlich mitteilbarer Sinn, sondern darüber hinaus unmittelbarer in der Übertragung. Er stifte "sympathetic vibrations" 1 unter Umgehung des Kopfes und bei Direktzugriff auf das ,Herz', darin der Dichtung eng verwandt, die ihr eigentliches (und unerreichbares) Vorbild in der Musik und ihrer Direktübertragung sprachlosen Sinns habe. 2 Der darauf bezogene semantische Komplex, jahrtausendealt und Wissenschaft wie Alltag durchdringend, ist nicht auslotbar und hat vielleicht darin seine eigentümliche Faszination; aber er läßt sich mit einer Frage anschneiden, die den Sprache und Sprachlosigkeit, Musik und Sinnübertragung kombinierenden Topos sehr ernst nimmt im Hinblick darauf, daß es irgendwie um Verstehen, um Sinnübertragung, um die Überbrückung des Abgrundes zwischen Subjekten geht und damit letztlich: um Kommunikation. Daß Musik nicht Sprache ist (und die Metapher, die dies behauptet, deswegen eine raffinierte rhetorische Figur), liegt auf der Hand, aber das schließt ja nicht aus, daß sich in der Musik eine Form von Kommunikation nichtsprachlichen Typs realisiert. Das tertium comparationis zwischen Musik und Sprache wäre, daß mit beiden Kommunikation betrieben würde, nur eben unterschiedlich, und wenn das so wäre, dann wäre Musik als Kommunikation hochsozial und würde nur den Kanon der Formen, mit denen in der Gesellschaft kommuniziert wird, um eine Variante bereichern. Sie wäre ein genuin soziales Phänomen, das Informationen über etwas in der Gesellschaft eigentümlich verteilte, und zwar so, daß die Adressaten dieser Mitteilungen ver1 So schon in der Stoa, hier zit. nach Chismar, D ., Empathy and Sympathy: The Important Difference, in: The Journal of Value Inquiry 22, 1988, S. 257-266, hier S. 257 ff. 2 Technisch gesehen, setzt hier das vor allem in der Romantik beliebte Mittel der Synästhesie an. Vgl. dazu umfangreicher Utz, P., Das Auge und das Ohr im Text, Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990. Sieh e für weitere Hinweise Luhmann, N. /Fuchs, P., Reden und Schweigen, Frankfurt 1989, S. 170 ff. Zu begrifflichen Versuchen, den Zusammenhang und die Differenz von Sprache und Musik zu fassen, siehe Simmel, G., Psychologische und ethnologische Studien über Musik, in: Kneif, T. (Hrsg.), Texte zur Musiksoziologie, Köln 1975, S . 110 - 139; Plessner, H ., Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks, in: Gadamer, H .-G. (Hrsg.), Das Problem der Sprache, München 1967, S. 555-566; Lehrdahl, F. I Jackendoff, R., A Generative Theory of Tonal Music, Cambridge (Massachusetts)-London 1983, S . 314 ff. Vgl. auch Fuchs, P., Vom Zeitzauber der Musik, Eine Diskussionsanregung, in: Baecker, D. et al. (Hrsg.), Theorie als Passion, Frankfurt 1987, S. 214-237.

Die soziale Funktion der Musik

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stünden, wovon die Rede (wovon die Musik) gehe. Diese sonderbare Formulierung deutet an, daß die Frage, ob Musik als Kommunikation begriffen oder irgendwie anders behandelt werden müsse, zwingt anzugeben, was unter Kommunikation zu verstehen sei. Ich entscheide mich an dieser Stelle dazu, diese Frage mit Hilfe eines Kommunikationsbegriffes zu prüfen, der im Rahmen der funktional-strukturellen Systemtheorie entwickelt wurde, vor allem, weil in dieser Theorie behauptet wird, die elementare Einheit des Sozialen sei Kommunikation, und nichts außer ihr. II.

Vorausgesetzt wird ein Begriff von Kommunikation, der die Metapher des ,Ideenaustausches' oder- moderner gesprochen- die Übertragungs- bzw. Röhrenmetapher auflöst. 3 Diese Metaphern erwecken den Eindruck, es handle sich bei Kommunikation um einen Prozeß, bei dem zwischen Prozessoren (psychischen oder maschinellen) Nachrichten (Sinnatome) ausgetauscht, hin- und hergeschoben würden, die beim Grenzübertritt ihre Identität bewahren. Man kann stattdessen davon ausgehen, daß Kommunikation ein emergentes Geschehen ist, in dem drei Selektionsmomente integriert werden: Information, Mitteilung und Verstehen. 4 Etwas wird mitgeteilt, und die Mitteilung wird als Ansatzpunkt für eine Operation benutzt, die Anschlußmöglichkeiten auf der Basis der Differenz von Information und Mitteilung ermittelt, und dies Ermitteln heißt: Verstehen. Auf vielerlei Weise kann mitgeteilt werden, daß man Durst hat, aber wie die Kommunikation an dieses ,Bedürfnis' anschließt, hängt davon ab, wie das bloße ,Faktum' 5 (die Information) kreiert wird: "Mich dürstet!", oder "Meine Kehle ist trocken!" , oder "Laßt uns·einen heben! " - Verstanden wird in jedem dieser Fälle etwas anderes, und was als verstanden sozial gehandhabt wird, entscheidet sich 3 Siehe zur Kritik dieser Metaphern Luhmann, N., Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984, S. 193; zur Kritik der Röhrenmetapher Maturana, H. R. I Varela, F., Der Baum der Erkenntnis, Bern-München-Wien 1987, S. 212. Siehe auch Shanon, B., Metaphors for Language and Communication, Revue internationale de systemique 3, 1989, S. 43-59. 4 Die ausführlichere Begründung dafür findet sich im Kapitel Kommunikation in Luhmann 1984, a. a. 0.; Luhmann verweist dabei auf das Bühler'sche Organon-Modell (Anm. 7, S. 196). Siehe aber zur Triadisierung in Bezug auf die Funktion der Sprache Austin, J . L., How to do Things with Words, Oxford 1962; Searle, J. R., Sprechakte, Frankfurt 1971. 5 Das natürlich kein Faktum ist, sondern seinerseits Selektion, seinerseits kopfinternes Ermitteln der Beschreibung eines Zustandes. Die interne Nachricht von einem Unterschied (vorheriger I jetziger Zustand) wird dann noch einmal zum Zweck der Kommunikation präpariert. Dieses Präpapieren hängt im Normalfall an Routinen, und nur in prekären Lagen wird man, sofern Zeit ist, darüber nachdenken, wie man sagen will, was man sagen will.

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mit der Anschlußoperation, die ein Ereignis ist, das die Differenz zwischen Information und Mitteilung benutzt, um das, was das vorangegangene Ereignis war, im Blick auf weitere Ereignisse zu beschreiben: als angemessenes Pathos oder atheistische Ironie, als Bitte um Mineralwasser oder Kritik am Klima, als Aufforderung zum Besäufnis oder als kommunikative Rüpelei. Entscheidend ist, daß Verstehen sich als Operation auffassen läßt, die eine Differenz von Information und Mitteilung auf ein Ereignis projiziert und im Rahmen dieser Differenz die ,Botschaft' konstruiert, sie als verstanden kennzeichnend in einem Anschluß, der das gerade Geschehene als ein bestimmt Geschehenes qualifiziert, an das auf nicht mehr beliebige Weise angeschlossen werden kann. 6 Für die Kommunikation ist diese Kennzeichnung das je nächste Ereignis (Äußerung, utterance, Gebärde etc.), das von ihr registriert (beobachtet) werden kann, und nicht: jene Schauer von Gedankenereignissen in Bewußtseinen, auf die sie nicht den mindesten Zugriff hat. 7 Eben diese, an jedem konununikativen Ereignis erscheinende Explosion von Sinnmöglichkeiten in die Tiefen psychischer Systeme hinein, die sich der Kommunikation entziehen, und eben diese an jedem konununikativen Ereignis erscheinende Engführung von Sinnmöglichkeiten in kommunikative Horizonte hinein, die sich den Bewußtseinen entziehen, begründet die Rede davon, daß Kommunikation im Verstehen emergiert, mithin einen Systemtyp produziert und reproduziert, der - wie immer angewiesen darauf, daß es Bewußtsein gibt - auf Bewußtsein nicht zurückgeführt werden kann, so wenig wie Bewußtsein auf Kommunikation. Im Hintergrund dieser Argumentation steht, daß die Bedingung der Möglichkeit wietlle Bedingung der Notwendigkeit von Kommunikation identisch sind: Bewußtseine sind sich wechselseitig intransparent, sie sind vollkommen geschlossene Systeme, denen Selbstreferenz unterstellt werden muß, oder einfacher gesagt: die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Möglichkeiten, uneinsehbar für andere und anderes, zu wählen. Was diese Systeme produzieren, was sie gleichsam an ihrer Außenseite zeigen (z. B. Äußerungen), muß nicht nur als Unterschied (Produktion von Nichtlärmgeräuschen wie Sprechen in Differenz zu Lärmgeräuschen wie Toilettenspülungsrauschen), sondern als Selektion aufgefaßt werden, und wenn auf diese (aufgefaßte) Selektion im Rahmen einer Unterscheidung von Information und Mitteilung (also im Blick auf die Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz) referiert wird und wenn im Rahmen dieser Unterscheidung durch nächste, die gleiche 6 Und das bestimmt Geschehene kann mit jeder nächsten oder überhaupt einer der weiteren Kommunikationen wieder disqualifiziert und neu bestimmt werden. Unsicherheitslagen (wie etwa der Golfkrieg) zwingen zu neuen Dispositionen: die Friedensbewegung kann plötzlich antisemitisch sein und ein friedfertiger Intellektueller als Kriegstreiber gebrandmarkt werden. 7 Psychische Systeme nehmen wahr, daß etwas in ihrer Umwelt geschieht, während sie sprechen, und weil das so ist, modifizieren sie ihre Äußerungen noch im Vollzug.

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Unterscheidung aktualisierende Ereignisse angeschlossen wird, eben dann realisiert sich Kommunikation. Man kann diesen Zusammenhang beobachtungs- bzw. differenztheoretisch reformulieren: Jedes Ereignis, das in den Einzugsbereich von Kommunikation fällt (also als Mitteilung einer Information gedeutet wird), ist eine Diskontinuität, nicht mehr und nicht weniger, vor allem aber nicht: eine Zweierleiheit, oder anders gesagt: keine- gleichsam immanent- differenzierte Einheit. Diese Differentialität ,erscheint' an dem einen Ereignis erst durch eine Beobachtung, die an ihm zweierlei unterscheidet, es als doppelt codierte Einheit auffaßt: als die Mitteilung einer Information. Diese Beobachtungsoperation unterstellt, daß der Prozessor, dem sie dieses Ereignis zurechnet, intern unterscheidet zwischen zwei Selektionen, die in der kommunikativen Präsentation (und zugeschnitten auf den Zweck der Präsentation) ,verschmolzen' werden. 8 Daß dies unterstellt wird, ist entscheidend, nicht etwa, ob tatsächlich der Unterstellung interne Verfahrensweisen solchen Typs entsprechen. 9 Auf der Ebene der Kommunikation, auf die es uns hier ganz allein ankommt, ist die Operation, die das vorangegangene Ereignis mit Hilfe der Unterscheidung von Information und Mitteilung beobachtet, das Folgeereignis: Es ist die Bezeichnung einer Seite jener Unterscheidung, oder (sperriger gesagt): das bezeichnende Ereignis, das die Unterscheidung aktiviert, das vorangegangene Ereignis als mitgeteilte Information, als informative Mitteilung beschreibt, und dies nur kann, weil ein Folgeereignis es selbst als Bezeichnung im Rahmen einer Unterscheidung von Information und Mitteilung behandelt. Die Wendung vom ,bezeichnenden Ereignis' verweist darauf, daß die Unterscheidung, in deren Rahmen das Ereignis als Bezeichnung verbucht werden kann, eine operativ eingesetzte Unterscheidung ist. Zwischen Information, Mitteilung und Verstehen wird unterschieden; es ist der Fall, daß Information mitgeteilt und verstanden I mißverstanden wird, was sie besagt. 10 Es ist nicht automatisch so, daß die fundierende Unterscheidung (die sich- in actu- nicht von sich selbst noch einmal unterscheiden 8 Siehe dazu, wie schon die Unterstellung kommunikative Wirkungen zeitigt, Fuchs, P., Kommunikation mit Computern? Zur Korrektur einer Fragestellung, in: Sociologia Internationalis, Bd. 29, H. 1, 1991, S. 1-30. 9 Nur so ist zu erklären, daß ein Nichtereignis (das Übersehen von jemandem, das Vergessen des Hutziehens, der liegengebliebene Brief, die Nichtentschuldigung) im Kontext von Kommunikation als ein Ereignis behandelt werden kann, in dem jemand etwas mitteilt, Vgl. dazu im Blick auf Information Bateson 1982, S. 62 f. mit der hier passenden Schlußfolgerung, daß der Empfänger einer Mitteilung den Kontext konstruiert, in dem ein Ereignis als Information erscheinen kann. Dies meint Luhmann mutatis mutandis, wenn er sagt, daß Kommunikation sich "von hinten her" ermögliche. Vgl. Luhmann 1984, a . a. 0 ., S. 198. 10 Siehe dazu und zu den folgenden Überlegungen Luhmann, N., Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990, S. 115 f.

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und sich damit selbst beobachten könnte) "benutzt, das heißt: zur Bezeichnung der Information (aber nicht der Mitteilung) oder der Mitteilung (aber nicht der Information)" gebraucht würde. 11 Wie alles, was in Systemen aktuell geschieht, geschieht auch Kommunikation als eine Operation, mit der beobachtet wird, und nicht als eine Operation, die sich selbst beobachtet. Das gilt (und deshalb ist die Trennung von Operation und Beobachtung analytisch) für jede Kommunikation, also auch für diejenige, die sich auf ein vorangegangenes Ereignis bezieht und jetzt (aber wiederum als Operation, die selbstunbemerksam die Unterscheidung von Information, Mitteilung und Verstehen einsetzt) an diesem Ereignis das Wie oder das Was an diesem Ereignis unterscheidet und bezeichnet: Man liest, und das ist es, was geschieht, und erst, wenn ein Verstehensproblem auftaucht, sieht man sich genötigt, das Wie des Textes zu differenzieren gegen sein Was und im Rahmen dieser Unterscheidung Anschlüsse für weitere Kommunikation zu ermitteln, aber die Ermittlung geschieht selbstverständlich lesend, also unter Einsatz jener basalen Operation, die die Zeichen auf dem Papier als Mitteilung einer Information behandelt, also übersieht oder durch sie hindurch sieht. 12 Man hört, was gesprochen wird, und man sagt, was man sagt, und nur wenn man nicht versteht, was man hört, bemerkt man, daß man etwas gehört hat, was man nicht versteht- und fragt. Und nur wenn man nicht versteht, was man sagt, bemerkt man, wie man spricht - und verheddert sich. Die Frage oder das Verhedderungsereignis sind dann Ereignisse, die Kommunikation zwingen, die Unterscheidung von Information, Mitteilung und Verstehen zur Beobachtung zu benutzen und damit - sich selbst zu beobachten. Die Frage kann beantwortet oder als Zeichen für mangelnde Präsenz thematisiert werden; das Verhedderte kann entknotet werden durch einen Anschluß, der der Wirrnis das an Information entnimmt, was ihr allenfalls zu entnehmen ist, oder anschließt an ihr selbst: Denk nach, bevor du sprichst!Aus alledem folgt, daß Kommunikation - solange keine Probleme auftreten- sich nicht selbst beobachten muß, sie kann sich geschehen lassen, sie schließt an dem an, worum es geht, an dem, "wovon sie handelt" , an dem, "worüber sie informiert" . 13 Das tut sie immer und auch dann, wenn sie (durch Irritationen veranlaßt) genötigt wird, sich selbst zu beobachten und die Unterscheidung, der sie sich verdankt, zu benutzen, um Anschlüsse zu errechnen, die entweder an der Mitteilung oder an der Information ansetzen. Gilt dies alles auch für Musik?

a. a. 0., S. 116. Wer gewohnt ist, Korrektur zu lesen, weiß, welche Fehlerquelle daraus resultiert, daß man unentwegt ins Lesen verfällt statt auf die Zeichen acht zu haben. 13 Ebenda. 11

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III.

Schwerlich! Faßte man Musik als etwas auf, das wie Kommunikation funktioniert (oder genauer noch: Kommunikation ist!), müßte am musikalischen Ereignis zwischen Information und Mitteilung unterschieden werden können, zwischen dem als Information Bezeichenbaren und der Faktur der Mitteilung. Die Musik müßte von etwas handeln, müßte Unterschiede machende Unterschiede in der Welt (Informationen über Blumen, Hunger, Waffen, Flüsse oder Kakerlaken) differenzieren können gegen die Weisen, wie sie sich mitteilen lassen. Es ist ja gerade bezeichnend, daß der Versuch, die Referenz auf Informationen über etwas in einem musikalischen Ereignis mitlaufen zu lassen, auf Sprache zurückgreift, auf Mischformen wie Oper oder Schlager, wie Musical und Chanson. 14 Und Programmmusik ist offenkundig genötigt (wiewohl sie als Ereignis ohne Sprache auskommt), Titel zu vergeben, die - sprachlich verfaßt - die musikalische Sequenz als Mitteilung von etwas erscheinen lassen. Man muß wissen, daß man die ,Moldau' hört, um zu wissen, daß es um einen Fluß geht; man muß wissen, daß man es mit der ,Pastorale' zu tun hat, soll man bemerken, daß von LändlichDramatischem, von Vogelruf und Donnerschlag ,gesprochen' wird. 15 Wäre Musik Kommunikation, wäre unabdingbar, daß ein alter Ego ein musikalisches Ereignis so sondiert, daß Information und Mitteilung auseinanderfallen und aufeinander bezogen werden im Sinne eines: Diese Kombination von Klangereignissen ist ein Ausschluß anderer (möglicher) Kombinationen von Klangereignissen und wird als Mitteilungsverhalten so gewählt, daß eine ebenfalls aus anderen Möglichkeiten gewählte oder andere Möglichkeiten ausschließende Information (über Häuser und Banken, Frauen oder Sumpfzedern) mir nun bestimmteAnschlußmöglichkeiten-oder notwendigkeiten nahelegt, die ihrerseits das nächste mögliche (musikalische) Ereignis modifizieren. 16 14 Im übrigen will ich ganz und gar nicht bestreiten, daß Musik mit Bedeutung aufgeladen werden kann, aber das scheint der Effekt von Kommunikation zu sein, die sich auf Musik bezieht, oder der Effekt von Kommunikationskontexten, in denen Musik auftaucht. "Ist das nicht lustig?" sagt man zu einem Kind, das Hänschen-Klein hört, und man muß das nur oft genug sagen, dann werden sich musikalische Sequenzen wie diese heiter anhören, auch wenn sie's (wie gerade bei diesem Lied) eigentlich nicht sind. Und man muß sehr oft Musik gehört haben und darauf hingewiesen worden sein, wenn man beim Webersehen Jungfernkranzlied das berühmte Ticken der Totenuhr mitvernehmen will oder soll. 15 Ob eine Melodie etwa sakrale Empfindungen oder weltlich Erotisches bezeichnet, läßt sich nicht an ihr abgreifen, sondern hängt vom sozialen Kontext, von Hörroutinen ab. Siehe dazu etwa Hanslick, E., Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Tonkunst, Wiesbaden 1971, S. 41 f. 16 Vorsichtshalber sei angemer kt, daß es hier wie immer Randfälle gibt, die schwer entscheidbar sind. Zwei Leute können sich durch das wechselseitige Zupfeifen von Melodien verständigen; das ist sicher Kommunika tion, aber die Frage ist, wie komplex sie sich gestalten ließe, wenn das das Normalverfahren wäre. Beobachtet man etwa

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Erschwerend fällt ins Gewicht, daß sich Rückfragen, Verstehenskontrollen, Metakommunikation (Metamusik?), eben jene Sinn erst in Sicht bringenden Prozesse der Kommunikation auf der Beobachtungsebene zweiter Ordnung allenfalls sperrig, allenfalls als hochaufwendige Sonderveranstaltung im Rahmen musikalischer Ereignisverkettungen verwirklichen lassen. Man kann schlecht aufzeigen und um die Wiederholung einer Passage in anderen Worten (Klängen, Tönen) bitten, man kann schlecht eigenes Nichtverstehen signalisieren und Präzisierungsbedarf anmelden, und ebensowenig ist es üblich, zu widersprechen (widerzumusizieren), Einwände zu erheben, eigene Redeanteile einzufordern oder zu bezweifeln, daß es mit dem eben Gehörten im Blick auf einen Weltsachverhalt (auf eine mögliche Information) seine Richtigkeit habe. Was in einem der späten Quartette Beethovens ,gesagt' ist, darüber läßt sich sehr lange und sehr kundig und von vielen diskutieren (kommunizieren), aber gerade deshalb, weil im Quartett nichts ,gesagt' ist, und wenn Horst J. oder James L. musikalisch durch den Schwarzwald hoppeln, wird man kommunikativ kaum anschließen können an dem, was dabei über diesen Wald mitgeteilt wird. 17 Schließlich (und gesetzt, es ließe sich noch immer die These aufrechterhalten, bei Musik handle es sich um einen Sonderfall von Kommunikation) ist es problematisch, sich vorzustellen, daß musikalische Ereignisse (aufeinander reagierend, von sich aufeinander beziehenden psychischen Prozessoren verfertigt und betrieben) ein emergentes System produzieren könnten, das (sprachlos) in seine Umwelt stellt, was sonst (und überwiegend sprachlich) geschieht: Kommunikation. Das setzte voraus, was eben bestritten wurde: daß an musikalischen Sequenzen Information und Mitteilung so unterschieden werden könnten, daß Verstehensprozesse ablaufen, die zu ,utterances' führen, an denen ihrerseits wieder Information und Mitteilung auf ein Verstehen hin unterschieden würden, für das dasselbe gilt. 18 Jazzsessions, kann man den Eindruck gewinnen, es spiele sich ein Dialog ab, in dem jedes Ereignis das vorangehende als ein bestimmtes qualifiziert und weitere Ereignisse modifiziert, aber man wird sehr genau prüfen müssen, wieviel Routine, Übung, vor allem aber wieviel Wiederholung oft wiederholter Sequenzen hinter diesem ,Dialog' steckt. Und natürlich ist die Frage, wovon er handelt. Diesen Hinweis verdanke ich Kay Junge. 17 Man könnte vielleicht einwenden, daß ein eigentümlicher Stimmungsgehalt mitgeteilt werde, aber der ist dann davon abhängig, daß man zuvor informiert ist etwa über Instrumente, die nur in bestimmten Gegenden vorkommen (Alphörner, Maultrommeln, Ukulelen), oder davon, daß man zuvor weiß, daß ein bestimmter Musikstil in einer Gegend gepflegt wird, der sich gleichsam indexikal wiedererkennen läßt: Pentatonik und Dudelsack. Anderenfalls wäre Stimmungsgehalt so unspezifisch, daß sich Sauerland, Schwarzwald oder Oberbayern hinsichtlich der entsprechenden Konnotationen nicht mehr unterschieden. Entscheidend ist, die Musik redet nicht vom Schwarzwald, sie teilt nichts mit, an das sich hinsichtlich der Höhe der Bäume, der Farbe des Licht, der Tracht der Mädchen und der Idyllik der Dörfer anschließen ließe. 18 Noch einmal: Man kann jodelnd von Berg zu Berg sich über Probleme mit Kühen verständigen (oder mit Alphörnern, gepfiffenenen Melodien), aber es ist kaum zu

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Kurz: Es ist schwer, unter der Voraussetzung des diskutierten Kommunikationsbegriffes den Entschluß zu fassen, Musik für eine Form von Kommunikation zu halten: Sie ist nicht nur nicht Sprache, sie ist auch nicht Kommunikation. 19 Sie muß ihre soziale Bedeutung anders als kommunikativ haben, was nicht ausschließt, daß diese Bedeutung mit Kommunikation zu tun hat. Um hier eine Antwort zu finden, muß man zurückgehen auf die nichtgesellschaftlichen Funktionsbedingungen von Musik, auf den Effekt, den sie in Köpfen macht. IV. Es nimmt nicht wunder, daß dieser Effekt mit Zeit zu tun hat. 20 Die These ist, daß Musik autopoiesis-isomorph organisiert und deshalb in der Lage ist, die Autopoiesis des Bewußtseins gleichsam in ihre eigenen zeitlichen Bewandtnisse so einzufädeln, daß die Zeit des Bewußtseins (dessen Autopoiesis) kurzfristig ,storniert' wird. 21 Das hört sich schlimm an, läßt sich aber auf eine einfache Grundannahme zurückführen, die besagt (um hier die kanonische Formulierung zu wählen), daß es Systeme gibt, die die Elemente, aus denen sie bestehen, mit Hilfe der Elemente, aus denen sie bestehen, in einem Netzwerk gleicher Elemente reproduzieren. 22 Lebende Systeme scheinen auf erwarten, daß sich daraus ein Sozialsystem bildet, das längerfristig sich jodelnd, pfeifend oder maultrommelnd reproduziert. Das wäre zu aufwendig, und führte, davon abgesehen, zu ständigen Problemen hinsichtlich der Frage, worum es bei dieser oder jener Kombination von Tönen inhaltlich geht. 19 Wir setzen damit die Ausgangsprämissen anders als Rotter, F., Musik als Kommunikationsmedium, Soziologische Medientheorien und Musiksoziologie, Berlin 1985. 2o Siehe zum Topos ,temps musicale' als kleinen Ausschnitt aus einer unübersichtlichen Fülle von Literatur Dahlhaus, C., Musikästhetik, Köln 1967, S. 112; Dietrich, F ., Musik und Zeit, Kassel 1933; Brelet, G., Le temps musicale, Paris 1949; Briner, A., DerWandel der Musik als Zeitkunst, Zürich 1955; Wiora, W., Musik als Zeitkunst, in: Die Musikforschung 10, 1957; Klugmann, F ., Die Kategorie der Zeit in der Musik, Inauguraldissertation Bonn 1961; Ernst, A., Philosophische Untersuchungen zum Zeitbegriff in der Musik, Aachen 1973. 21 Siehe dazu ausführlicher und im Detail begründend Fuchs 1987, a. a. 0. 22 Vgl. zur Prozeßform Autopoiesis Varela, F. J. I Maturana, H . R. 1 Uribe, R. B., Autopoiesis: The Organization of Living Systems, Its Characteristics and a Model, in: Biosystems 5,1974, S. 187 -196; Maturana, H. R. I Varela, F. J., Autopoiesisand Cognition: The Realization of the Living, in: Boston Studies in the Philosophy of Science, Vol. 42, Boston-Dordrecht 1980; Zeleny, M. (Hrsg.), Autopoiesis. A Theory of Living Organization, N ew York- Oxford 1981. Siehe zum Ereignisbegriff, der hier zugrundegelegt wird, Whitehead, A. N., Prozeß und Realität, Entwurf einer Kosmologie, Frankfurt 1979; Wiehl, R., Zeit und Zeitlosigkeit in der Philosophie A. N. Whiteheads, in: Braun, H . I Riedel, M. (Hrsg.), Natur und Geschichte, Festschrift für Karl Löwith, Stuttgart 1967, bes. S. 385. Vgl. Zur Differenz von Autopoiesis und Allopoiesis Zeleny, M. I Pierre, N. A., Simulation of Self-Renewing Systems, in: Jantsch, E. I Waddington, C. H. (Hrsg.), Evolution and Consciousness, Human Systems in Transition, London 1976, S. 150-165, hier S . 151. Siehe als Überblick zu Kontakten zwischen Sozialwissenschaft und Autopoiesistheorem Benseler, F. et al. (Hrsg.), Autopoiesis, Communica-

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diese Weise organisiert zu sein, ebenso Sozialsysteme, ebenso Bewußtseine. Sozialsysteme reproduzieren sich, indem sie ihre elementare Einheit Kommunikation aus Kommunikationen produzieren. Bewußtseine produzieren Gedanken aus Gedanken. Die Produktion benutzt dabei die Unterscheidung von Selbst- und Fremdbezug: Im Falle der Kommunikation wird über etwas kommuniziert (das kann auch die Kommunikation sein), und im Falle des Bewußtsein gibt es Gedanken, die sich von weiteren Gedanken als Vorstellung von etwas beobachten lassen oder als Vorstellung von Vorstellungen. 23 Sowohl für Bewußtseine wie für Sozialsysteme gilt, daß die je aktuell sich vollziehende Operation sich selbst nicht erreicht. Sie kann sich nicht selbst bemerken, weil sie Anderes bemerkt; sie kann sich nicht selbst in den Blick nehmen, weil sie sich dann temporal extern zu sich selbst verhalten und dabei doch simultan Beobachtetes und Beobachtendes bleiben müßte. Daraus ergibt sich die operative (aktuelle) Selbstintransparenz autopoietischer Systeme. Die aktuelle Kommunikation kann nur (indem sie verschwindet) von einer nächsten, der dasselbe bevorsteht, als eine bestimmte identifiziert werden; der aktuelle Gedanke sieht sich selbst nicht, er läßt sich erst sehen, wenn er passiert ist, und ein nächster Gedanke, der registriert, was der vorangehende sehen ließ, bestimmt, was zu sehen war - und verschwindet seinerseits. Dieser, wenn man so sagen darf, unentwegt passagere Charakter autopoietischer Systeme, der Umstand, daß nichts ,stofflich' festgehalten werden kann, daß nichts- kein Körnchen- indenNetzen dieses Prozeßtyps hängen bleibt, zwingt zur Annahme einer (sich evolutionär bzw. sozialisatorisch) ausbildenden Strukturalität, zur Annahme einer nichtbeliebigen Beobachtbarkeit von Kommunikations- oder Gedankenereignissen. Es werden Strukturen benötigt, Engführungen für die Deut- oder Bestimmbarkeit gefallener Ereignisse, Engführungen für die Ermittlung anschließender Ereignisse, Limitationen für eine Kombinatorik, die Identität und Differenz ,weltangemessen' und relativ orientierungssicher handhabt, ohne sich im Horizont des Sonst-und-auch-noch-Möglichen zu verlieren. Man kann hier, manch einer tut das, auf Regeln rekurrieren, auf wie immer sozial oder psychisch verankerte Vorschrifts- oder Normenbündel, die Ereignisspielräume so einengen, daß sich etwas wie angemessen I unangemessen, erfüllt I nichterfüllt oder üblich I abweichend als beobachtungsleitendes Schema ergibt; man kann auch auf Erwartungen abstellen und sich dann mit dem Problem befassen, wie Kommunikationen ,erwarten' können. Für tion and Society. The Theory of Autopoietic System in the Social Sciences, Frankfurt 1980. Vgl. zur Übernahme des Autopoiesiskonzeptes in die Soziologie Luhmann, N., Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung, in: ZfS 11, 1982, S. 366379; zum vielzitierten Paradigmawechsel vgl. Luhmann, N., 1984. Siehe als Kritik für viele Lipp, W., Autopoiesis biologisch, Autopoiesis soziologisch, Wohin führt Luhmanns Paradigmawechsel?, in: KZfSS, Jg. 39, 1987, S. 452-470. 23 Vgl. dazu Luhmann, N ., Die Autopoiesis des Bewußtseins, Soziale Welt 36, 1985, S . 402-446.

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den hier erörterten Zusammenhang genügt es, die Limitationsfunktion von Sprache in den Blick zu nehmen. Sie scheint das Medium zu sein, das sich psychisch und kommunikativ ,formen' läßt, aber als Medium hinreichende Festigkeit hat, um nicht beliebige Formung zuzulassen. 24 Anders formuliert: Es setzt sich aus Formen zusammen, die sich medial benutzen lassen, aber nur in den Grenzen, in denen die Formen, die das Medium Sprache zur Verfügung stellt, biegbar, prägbar sind. Man kann vieles denken, aber nur wenig davon sagen, und man kann es nur in Sprache sagen, die aus dem, was man gedacht hat, ein Fremdes macht, weil sie als Medium nur über die Formen verfügt, über die sie verfügt. Man kann in Sand oder Ton unendlich viele Variationen von Abdrücken hinterlassen, aber dann doch nur in den Grenzen, die Sand nach Maßgabe seiner Kompressions- und Bröselfähigkeiten toleriert, und wer mehr will, wird die Formen des Mediums verändern müssen: mit Hitze, Wasser oder Farbe. Diese ,Eigenwertigkeit' des Mediums Sprache hat nicht nur den (für Dichter beklagenswerten) Nachteil, daß Gedachtes und Gefühltes außerhalb des Kopfes nur ,mutiert', nur als ein Anderes erscheinen kann. Sie hat, und gravierender, den Vorteil, daß sich Bewußtsein und Kommunikation in ihrer Reproduktion an einer beiden ,externen' Struktur orientieren können und müssen, die immer schon Anhaltspunkte für nächste Ereignisse, gleichsam motorische Momente zum Finden weiterer Ereignisse bereitstellt. Wer in den Wald hineinruft, wird Herausschallen erwarten können; wer nach Werkzeug fragt, wird mit dem Hammer rechnen müssen, das Subjekt verlangt nach dem Verb, und die Zeit des Verbums strukturiert den dann noch möglichen Satz. Konzentriert man sich hier auf die psychische Systemreferenz, sieht man, daß das, was für den Zusammenhang von Sprache und Bewußtsein gilt, auch für den Zusammenhang von Musik und Bewußtsein gilt. Jene Externalitäten, die man Sprech- oder Schreibereignisse nennen könnte, konfrontieren das Bewußtsein mit einem Medium, dessen Formen Bewußtseins- und Kommunikationsmöglichkeiten limitieren; musikalische Ereignisse (eigenstrukturiert wie Sprache) besetzen via akustischer Wahrnehmung die Eigenstruktur des Bewußtseins. 25 Wer versucht, eine musikalische Sequenz gleichsam intern abzubrechen und anders weiterzudenken (zu summen), wird bemerken, daß dazu ein hoher Aufwand erforderlich ist, vor allem, wenn er versucht, das zu tun, während das musikalische Ereignis noch geschieht. 26 24 Zur hier angedeuteten Medium I Form-Theorie siehe für andere Arbeiten dieses Autors, die auf diese Differenz setzen, Luhmann, N ., Das Medium der Kunst, in: Delfin 4, 1986, S. 6- 15; siehe grundlegend Heider, F., Ding und Medium, in: Symposion I, 1926, S. 109-157. 25 Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß ich im Augenblick nicht von der musikalischen Avantgarde spreche. Sie setzt ja alles daran, eben das unmöglich zu machen, was hier beschrieben wird, indem sie die Welt der Geräusche mit der Welt dessen, was als Musik bekannt ist, verwischt.

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Entscheidend ist, daß die Okkupation des Bewußtseins durch Sprache fremdreferent pointiert ist. Die nächsten Ereignisse schließen vordringlich am Was des Gesagten an, an der Information, die im Medium Sprache erscheint und an den Formen des Mediums Sprache die Grenzen ihrer Mitteilbarkeit findet. Bei musikalischen Ereignissen fällt eben diese Anschlußmöglichkeit aus, sie sind im Blick auf fremdreferente Informativität leer. 27 Sie bannen das Bewußtsein nicht mit Informationen über etwas, sondern nur mit sich selbst, mit der Operativität ihrer Formen, mit ihrer spezifischen (autopoiesisisomorphen 28 ) Temporalität. Das schließt nicht aus, daß man, indem die Musik spielt, woandershin denkt, von anderem träumt, aber das bedarf dann typisch einer besonderen Anstrengung: Die Gedanken müssen, um ein etwas bizarres Bild zu benutzen, die Wände eines Trichters hochkrabbeln oder sich einem Sog widersetzen, der sie laufend auseinanderreißt. Im Auseinanderriß gewahren sie sich nur schattenhafter oder gar nicht mehr. Wenn das Bewußtsein sich auf Musik einläßt, verliert es sich und damit die Welt; es beobachtet nicht mehr, es operiert nur noch, und seine Operationen (die Produktion der nächsten Ereignisse) sind, um ganz scharf zu formulieren, allopoietisch geführt. 29 Das Bewußtsein, könnte man deshalb sagen, wird weniger einem Medium Musik ausgesetzt, sondern durch die Form Musik wie ein Medium behandelt. Diese Form ist gekennzeichnet durch eine sehr starke Autoreferentialität, die das Bewußtsein in einem sehr genauen Sinne zeitweise bindet. 30 Die Außenseite dieser Form, das, was durch sie operativ ausgeschlossen wird, das, was sie nicht ist, weil sie ist, was sie ist, ließe sich dann probeweise Bireferentialität nennen. 31 Gemeint wäre damit das Vermögen, zwischen

26 Manchmal beobachtet man in Bierzelten, daß Gruppen gegeneinander ansingen, und jede versucht, ein eigenes musikalisches Ereignis durchzusetzen: ,Es ist noch Suppe da' versus ,Es gibt kein Bier auf Hawai', aber typisch setzt sich dabei Lautstärke durch, und typisch entsteht kein Madrigalchor. 27 Um es noch einmal sicherheitshalber zu betonen: diese ,Leere' kann sozial und psychisch aufgeladen werden. Sie kann unscharfe Bedeutungen aufnehmen, wofür die Katachresen ,Dur' und ,Moll' in der westlichen Hemisphäre wohl gute Belege sind. Aber dieses Aufladen setzt Gesellschaft und Evolution voraus, die Repetition musikalischer Strukturen in sich repetierenden Kontexten. 28 Siehe als Ausarbeitung dieser These noch einmal Fuchs 1987. 29 Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß man Musik beobachten kann, also mit seinem Bewußtsein beobachtet, was akustisch geschieht und wie sich da verknüpft und ordnet, was dem Ohr begegnet. Aber das ist mühsam und an Kennerschaft gebunden, vor allem jedoch mit dem Verlust dessen verknüpft, was topalogisch das Dionysische an Musik heißt: mit dem Verlust der Möglichkeit des Selbstverlustes. Im übrigen gibt es Bücher (Krimis z. B.) oder Filme, die das Bewußtsein ebenfalls temporär ,besetzen', aber eben gerade durch Bezug auf etwas. 30 Deswegen müssen Sondervorkehrungen für seine Entlassung getroffen werden, Schlußformeln und Kadenzen, an denen alljene sehr komplexen Formen kondensierten, durch die die europäisch geprägte Musik gekennzeichnet ist.

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Selbst- und Fremdreferenz hin- und herzuschaUen. Wo Musik ist, so die These, wird die Bireferentialität des Bewußtsein der Tendenz nach fristweise ,gelöscht'. 32Und das mag dann von den davon betroffenen und betreffbaren Menschen als Entlastungsgenuß gesucht und genossen werden. In psychischer Systemreferenz könnte man hierin die Ursache des Bedarfs für die Produktion musikalischer Ereignisse vermuten. Wenn die bisherige Argumentation zutrifft, erzeugen musikalische Ereignisse psychische Absencen, schwarze Löcher, die Bewußtseine kurzfristig ansaugen, festhalten, von ihrer Bi-referentialität entlasten und- sie gleichsam stornierend - aus der Kommunikation herausziehen. Man kann äquifinale psychische Zustände identifizieren, Trance und Rausch, Ekstase und meditativen Selbstverlust, die sich nicht selten der befördernden Wirkung von Musik bedienen, und man kann bei alledem mitsehen, daß diese Funktion von Musik in einer lärmenden und ereignisreichen Welt kaum mehr voll gelingt. Angesichts der sozialen Turbulenzen, mit denen Bewußtsein nahezu unentwegt konfrontiert wird, müssen schon Augen geschlossen und Knöpfe in die Ohren gesteckt werden, um psychische Absencen noch realisieren zu können; aber als Möglichkeit dazu, als Ahnung möglicher Selbstabwesenheit, als Echo musikalischer Erlebnisse in der eigenen Biographie und als Versprechen, wirkt Musik noch so stark, daß es sich zu lohnen scheint, die sozialen Bedingungen ihrer Möglichkeit zu schaffen: Konzertsäle, Guitarren, CDPlayers, Folklorefestivals, Musikhochschulen und Akademien. Soziologisch gesehen, hätte man es mit dem Fall zu tun, daß sehr viel kommuniziert werden muß, damit etwas Nichtkommunikatives geschehen kann. 33 Der psychische Bedarf wirkt wie ein Katalysator, der (sich unaufhörlich regenerierend) soziale Systeme produziert, die den Bedarf befriedigen: Kontrapunkt wird gelehrt, Noten werden gestochen, Plattengepreßt und die Domingos dieser Welt für viel Geld engagiert. Bezieht man sich auf diese Systeme, wird man Kommunikation wie andere Kommunikation auch finden, deren Spezifik sich aus dem ergibt, worüber sie spricht. Und worüber und wie sie spricht, das ließe sich und läßt sich mit üblichen soziologischen 31 In Anlehnung an die von Luhmann unterstellte dynamische Bistabilität sinnintegrierter Systeme. Im Anschluß daran könnte man überlegen, ob Sprache sich dem Bewußtsein und der Kommunikation nicht deswegen als Medium besonders empfiehlt, weil sie das einzige bi-referentielle Medium ist (und kein System) . 32 In gewisser Weise gilt das, was hier für Musik in Anspruch genommen wird, auch für Medien wie Film, Unterhaltungsbuch, Tonbandkasette etc. Auch dort wird die Bireferentialität außer Kraft gesetzt, aber- so könnte man vermuten vordringlich durch Stornierung von Rückfragemöglichkeiten im Blick auf Information und Mitteilung. 33 Das liegt durchaus parallel zur Organisation des Schweigens in religiösen Kontexten. Siehe dazu Fuchs, P., Die Weltflucht der Mönche, Anmerkungen zur Funktion des monastisch-aszetischen Schweigens, in: ZfS, H. 6, Jg. 15, 1986, S . 393-405 (erneut und erweitert abgedruckt in Luhmann I Fuchs 1989).

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Instrumentarien untersuchen. Darin unterschiede sich die Kommunikation in Ziegeleien oder Rotlichtvierteln nicht von Kommunikation in Konzertagenturen oder bei OpenAir-Veranstaltungen der Rock- und Popszene. Kann man es dabei bewenden lassen? Läßt sich von den bisher gewonnenen Einsichten zur Funktionsweise von Musik nicht noch etwas über die soziale Funktion von Musik ausmachen?

V. Ja und nein, und beides sehr behutsam und vorläufig! Der Versuch einer Antwort setzt nämlich voraus, daß man eine Engführung konstruiert, durch die nicht mehr problemlos alles gepumpt werden kann, was als akustisches Ereignis Musik begegnet. Sie muß nämlich der Kunst (genauer: dem Sozialsystem Kunst) zugeordnet werden, und wenn man Musikwerke als Kunstwerke auffaßt, ist nicht mehr alles Kunst, was klingt, sondern nur noch das, was durch die Kommunikationen des Kunst(musik)systems als raisonables Artefakt behandelt wird. 34 Verfährt man so, wird ein Vergleichsbereich eröffnet, der sich aus der Konstruktion eines gesellschaftlichen Problems (und damit der Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion von Kunst) herleitet. In diesen Vergleichsbereich fallen dann Gedichte, Romane, Dramen, Gemälde, Plastiken, Happenings, Sinfonien, Konzerte, mithin alle ,Objekte', an denen sich Kommunikation über Kunst orientiert oder die Kommunikation über Kunst als Kunstwerke erfaßt. Vermuten läßt sich, daß dieses Auffassen als Kunstwerk, das Einstellen von Objekten in einen imaginären Raum, in dem sie nicht mehr Holz, Eisen, Farbe, Geschriebenes, Klingendes, sondern Kunstwerke sind, nicht beliebig geschieht, oder anders gesagt, daß es sich an einer bestimmten Form orientiert, die in der Welt vorkommende Konstellationen von Zeichen, Dingen, Geräuschen und Klängen einer anderen Art von Beobachtung exponiert oder durch diese andere Art der Beobachtung dem Beobachter als Kunstwerke imponieren. Viel hängt dann davon ab, wie man den Begriff der Form bestimmt, von dem wir oben einer eher noch losen (auf Plausibilität fußenden) Gebrauch gemacht haben. Form läßt sich begreifen als Ergebnis einer Operation, die in eine Zone des Unbestimmten (Ununterschiedenen) eine Unterscheidung einführt, die das, was sie durchschneidet, erhält, aber als Unterschiedenes, als Differenz von Innen und Außen, die nur als Differenz (als Einheit beider Seiten), als differenziertesTotumForm ist. 35 Die "Form ist im elementarsten 34 Die Kriterien werden kunstsystemintern gewonnen, und deshalb ist es möglich, Geräuschsequenzen als Musik zu behandeln, die der Alltag für bloßen Lärm hält, und auszuschließen, was der Alltag für Musik hält: Schlager beispielsweise. 35 Vgl. dazu mit weiteren Angaben Luhmann, N., Weltkunst, in: Luhmann, N. 1 Bunsen, F . D . I Baecker, D ., Unbeobachtbare Welt, Über Kunst und Architektur, Bie-

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Sinne eine Grenze mit der Folge, daß es einen Unterschied macht, ob man sich mit Zuwendung und mit Anschlußmöglichkeiten an die eine oder andere Seite der Grenze hält. Form mag willkürlich gewonnen werden, aber sie limitiert dann das, was auf der einen bzw. der anderen Seite möglich ist." 36 Weil in diesem Sinne beobachtbar nichts vorkommt, was nicht Form ist, 37 sind auch Kunstwerke Formen, und die Form dieser Formen (der Unterschied, den sie alle machen oder die Unterscheidung, die sie von anderen Unterscheidungen unterscheidet) ist gekennzeichnet durch die Grenze (die Markierung), die gezogen (gesetzt) wird, wenn Fiktion und Realität unterschieden werden. Die Bezeichnung als Kunstwerk (die Beobachtungsleistung, die Kunst I Sonstiges unterscheidet und Kunst bezeichnet), in der bildenden Kunst etwa typisch durch Schilder vollzogen, 38 ver-rückt das bezeichnete Objekt ins Fiktive (es entschreitet ins Imaginäre), aber das Objekt bleibt dennoch an seiner Stelle: es ist real und nicht fiktiv, aber es entfaltet diesen Unterschied, es lebt aus der Einheit dieser Differenz, es ,präsentiert' Anhaltspunkte für ein Beobachten, für das dieser Unterschied ein Unterschied ist, der Unterschiede macht. Die Realität gerät in ein Changieren zwischen vertrauten und nichtvertrauten Anschlußmöglichkeiten, zwischen Normalerwartungen und irrealen (aber dann realen) Ordnungsmöglichkeiten. Die Unterscheidung fiktiv I real (diese Form) läßt sich, wie man aus schmerzlichen Erfahrungen gerade mit ultramoderner Kunst wissen kann, kontingent anwenden, sie ist im Prinzip (und mitunter kann man meinen : jetzt tatsächlich) inflationierbar. Die Fiktionalität von etwas läßt sich deklarieren (nachdrücklich seit Duchamps) durch Schilder, durch Verlagssignets, durch Orte wie Museen, Galerien, Bankvorplätze und führt (allein aufgrund der Deklaration) zu jener Beobachtungsirritation, die mit der forminduzierten Doppelsinnigkeit der Realität fertig werden muß. Über Kunst oder Nichtkunst läßt sich dann endlos streiten, weil man - wenn es um die Entscheidung geht - auf nichts anderes verweisen kann als auf das Schild, den Ort, den Namen, und damit zum Kriterium macht, was umstritten ist. Sieht man davon einmal ab, ignoriert man, daß die moderne Kunst ihre eigene Form zur Disposition stellen kann, indem sie nur noch auf sie verweist, dann läßt sich beobachten, daß der Anschluß für weitere Operationen auf lefeld 1990, S. 7-45, hier S. 10 ff. Die weitere Analyse or ientiert sich weitgehend an diesem Text. 36 a . a. 0., S. 10. 37 Weil Beobachten Unterscheiden voraussetzt! Siehe dazu beispielsreicher Fuchs, P., Die Welt, die Kunst und soziale Systeme, Düsseldorf 1991 (Kulturwissenschaftliche Weiterbildung). 38 Die Museumslandschaft der Insel Hombroich überrascht genau damit, daß sie auf die Schilder verzichtet und damit die Beobachter extrem irritiert. Ein Objekt von Schwitters oder ein polynesischer Totempfahl, das wird plötzlich entscheidungsbedürftig. Man genießt den Augenblick, in dem ein Gemälde leserlich signiert ist. 6 Beiheft 1 zu Sociologia Internationalis

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der Seite der Fiktionalität durch ,De-arbitrarisierung' reguliert wird. 39 Das Kunstwerk appräsentiert dem Beobachter eine Formkomplexion, die- obwohl sie auf eine Weise realist-den Unterschied der Fiktion zur Realität bestätigt und verschärft: mit sich, in der Referenz auf sich selbst. Diese Selbstreferenz realisiert sich in der Ko-ordination von werkinternen Unterscheidungen. Das Bild mag einen Heuhaufen zeigen, ein Jesuskind, Sonnenblumen oder Dreiecke, aber die Kunst liegt nicht in dem, was gezeigt wird, sondern in dem Wie der Relationierung von Unterscheidungen, klassisch: im com-ponere. 40 Wir würden sagen: in der Weise, wie sich- was immer als Kunst vorgezeigt wird - dem Beobachter als Konstruktion zeigt. Man kann hier in Richtung ,Weltkunst' weiterdiskutieren und zeigen, wie die Formen, die die Seite der fiktionalen Realität durcharbeiten, gleichsam eine Kaverne von Weltverlust und Weltgewinn durch Aufforderung zur Beobachtung spezifischen Unterscheidungseinsatzes schaffen; wir greifen jedoch nur einen Aspekt heraus, da es uns auf musikalische Kunstwerke ankommt, für die all das gilt, was eben skizziert wurde, aber mit einer kleinen, wiewohl entscheidenden Modifikation. Die Form von Kunst, die Konstruktion der Grenze, die das Innen 1 Außen am Kunstobjekt als Differenz von Realität und Fiktionalität ,erscheinen' läßt, hat die Eigentümlichkeit, daß die Fiktionalität durchgängig real ist, daß es (wie bei der Unterscheidung von lnunanenz und Transzendenz, die inuner nur immanent unterschieden werden kann) 41 kein einziges real fiktionales ,Atom' am Kunstwerk gibt. Es ist hiesig wie alles Hiesige, durch und durch real, und all seine interne Differentialität ist reale Differentialität, materialgebunden selbst in der äußersten Destruktivität, in der raffiniertesten Metamorphose. Nur so und nur deswegen kann die Selbstreferenz des Kunstwerkes beobachtet werden, sie wird am Material, an dessen Widerständigkeit, an dessen Eigenwerten ,gebremst'. 42 Reine Selbstreferenz würde gleichsam ,aufeinanderklappen', sie wäre nicht beobachtbar. Die Konstruktion kann man nicht sehen, nur rekonstruieren, und die Rekonstruktion setzt ein ,Medium' voraus, in dem die Konstruktion ,aufscheint' als das Andere des Mediums: als Form. Die ,Bremswirkung' des Materials enttautologisiert den Selbstbezug, und deswegen kann er beobachtet werden. Man sieht Holz, Marmor, Farben, Stahlgestelle, Buchstabengruppen, agierende Körper, und Vgl. Luhmann, a. a. 0., S . 14. In gewisser Hinsicht ist die Unterscheidung von Information und Mitteilung dazu ein ParallelfalL Der Rekurs auf die Mitteilung aktualisiert die Selbstreferenz von Kommunikation, wie der Rekurs auf die Kom-position die Sdbstreferenz des Kunstwerkes aktualisiert (natürlich durch einen Beobachter, der diese Unterscheidung benutzt). 41 Siehe dazu und im Blick auf die morphogenetischen Konsequenzen dieses Umstandes Fuchs 1986. 42 Wesentliche Anregungen hierzu verdanke ich der Diskussion mit meinen Kollegen Wolfgang L. Schneider und Kay Junge. 39 40

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deshalb kann man sehen, daß damit geschieht, was normal nicht geschieht. Man sieht die Konstellation an der Stellage, die Faktur am Faktum, und nicht beides gleichzeitig, sondern in einem unentwegten ,switching' zwischen Realität und Fiktionalität, im wie immer sorgfältigen oder kennerhaft beschleunigten (aber zeitverbrauchenden) Hin- und Herschalten zwischen Medium und Form. Natürlich gilt das auch für musikalische Kunstwerke, sie müssen gehört werden können, und sie haben die Form von Kunst, weil sie sich (und ungeheuer deutlich) von dem, was man üblicherweise hören kann, unterscheiden, als hörbare (aber eben anders organisierte) akustische Realität. 43 Aber anders als bei anderen Typen von Kunstwerken scheint die ,Bremswirkung' des Mediums, die erlaubt, auf die Selbstreferenz des Objektes einzugehen, geringfügiger zu sein. Musikwerke als Zeitkunstwerke (im oben diskutierten Sinne) lassen den Beobachter verschwinden, wenn er beobachtet, und wenn er dies beobachtet (wenn er als Beobachter von Beobachtungen auftritt), verschwindet die Musik. Und: sie verschwindet (für den Beobachter) in beiden Fällen. Das ist nur ein anderer Ausdruck dafür, daß man Musik nicht hören kann, wenn man sie hört. 44 Entweder das Bewußtsein wird ,besetzt' durch Formen (die zeitliche Kombination musikinterner Unterscheidungen), und dann ist es in einem gewissen Sinne nicht da: Seine Bi-referentialität ist befristet gelöscht; oder das Bewußtsein hat acht auf jene Formen, und dann ist es selbst in Betrieb (bireferentiell). Die Musik kann nur noch unvollständig, fragmentarisch leisten, was sie leistet: Bewußtseinsentlastung. Alltäglicher formuliert: Entweder ,Man ist weg', überwältigt (und muß sich gleichsam aus dem Weg-sein wieder aufrappeln), oder man nimmt die Anstrengung auf sich, Musik zu beobachten, Formen zu identifizieren, Problemlösungen zu registrieren, und dann rennt man der Musik hinterher. Es ist deshalb kein Zufall, daß der Versuch, Musikwerke ihrer Formkomplexion nach zu beobachten, das Musikwerk ,zerreißt' 45 oder sofort auf ,Text' umsetzt: auf die Diskussion anhand der Partitur. Dieses abstrakt gewonnene Entweder I Oder schließt im Blick auf die künstlerisch-musikalische Praxis keineswegs aus, daß sich kondensierende Erfahrungen mit Musikwerken darin auszahlen, daß man die Formen (wie aus den ,Ohrwinkeln') mithört, den Effekt der De-arbitrarisierung mitgenießt (selten kommt man in die Lage, gewissermaßen ,jungfräulich' hören 43 Ausna hmen, das habe ich schon angedeutet, bestätigen hier die Regel. Es bedarf aufwendiger Kontextoperationen, damit eine Serie von Geräuschen noch als Musik, wenn auch der Avantgarde, erscheinen kann. Genau besehen, lebt diese Musik aus dem Gegensatz zur Musik, und es wäre eine andere Aufgabe, dafür Gründe zu finden. 44 Siehe dazu noch einmal eingehender Fuchs 1987. 45 Leonard Bernsteins Musiklektionen sind dafür ein Beispiel: die Themen müssen wiederholt, Takte mehrfach gespielt, Zusammenhänge unter Auslassung der Übergänge thematisiert werden.

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zu dürfen). Aber als Differenz verweist es darauf, daß Musik (durch ihre spezifische Form: Autoreferentialität I Bireferentialität) die kunstkonstitutive Differenz von Realität und Fiktionalität, wenn man so sagen darf, auf der Seite der Fiktionalität ,überschärft'. Sie löscht (der Tendenz nach) ihre Gegenseite und spitzt damit Kunst zu. Das mag der wahre Grund dafür sein, daß die Musik (insofern sie der Kunst zugerechnet wird) von anderen Kunsttypen, vor allem von der Dichtung, der ähnliches vorschwebt, nicht selten wie ein Paradigma aufgefaßt wird, als etwas wie ein Exempel dafür, daß man sich loslösen kann von dem, wovon man sich nicht lösen kann: der Realität. In diesem Sinne übrigens verwundert der Topos nicht, Musik entbinde vom Tod.

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Sozial gesehen, hat diese eigentümliche Funktionsweise von Musik Folgen für Kommunikationen, die sich im Kunstsystem an Musikwerken orientieren und disziplinieren. Sie beziehen sich in einem viel stärkeren Maße als Kommunikationen über Bilder, Plastiken, Romane auf die Selbstreferenz ihrer ,Objekte'. 46 Zwar kann sich jeder begeistern lassen (irgendwie ist eine musikalische Urkompetenz vorausgesetzt), aber ein Darüber-reden, das über die Bekundung von Begeisterung hinausgeht und nur so im Kunstsystem anschlußfähig ist, benötigt die Möglichkeit, jene Selbstreferenz zu beschreiben, das heißt: Man muß über ein gediegenes Unterscheidungsvermögen hinsichtlich musikalischer Formen verfügen, vor allem, weil man nicht mühelos ausweichen kann auf das, worüber das Werk etwas (es ins Licht anderer Möglichkeiten rückend) sagt. Nimmt man das ernst, wird klar, warum die Musiksoziologie (wenn sie es sich nicht einfach macht) eine so schwierige Disziplin ist. Sie ist ja nicht nur damit befaßt, die Selbstreferenz von Musikwerken zu artikulieren, deren komplexes Formenspiel zu erfassen; vielmehr muß sie die Kovariation dieser Formen mit der Gesellschaftsstruktur, mit den wechselnden Formen ihrer Differenzierung, beschreiben und darf sich dabei nicht (wie es - folgt man unserem Ansatz - fehlerhafterweise oft geschieht) beziehen auf das, was die Musik über die jeweilige Welt sagt. Bei alledem muß sie sich eines Mediums (der Sprache) bedienen, das voraussetzt, was die Musik ausschließt: Bireferentialität. Und schließlich ist sie genötigt, über Kommunikationen zu kommunizieren, die sich an etwas ,formieren', das selbst genau nicht Kommunikation ist. 46 Es ist bezeichnend, daß im Augenblick, in dem es in anderen Kunsttypen verstärkt um Selbstreferenz geht, von l 'art pour l'art die Rede ist. Ob man sich dabei auf Mallarme, auf konkrete Poesie, auf abstrakte Kunst, concept art o. ä . bezieht, immer rücken die Formen in den Vordergrund: Sie müssen gesehen werden (sich sehen lassen).

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Aber gerade in diesen hier nur angedeuteten Schwierigkeiten der Musiksoziologie liegt ja die Herausforderung zu einem hochentwickelten Unterscheidungsvermögen, das nicht nur die Kombination mehrerer Disziplinen voraussetzt, sondern auch den intimen Anschluß an das, was sich musikalisch erleben läßt. Musiksoziologie hat deswegen (gemessen an ,üblicher' Soziologie) etwas Grenz- und Durchgängerisches, aber man weiß - und das sollte im Rahmen dieser Festgabe gesagt werden dürfen -, daß manche Grenzen durch das Zentrum dessen führen, was sie zu begrenzen scheinen. Vielleicht finden sich deswegen dort draußen im Innen die schlechtesten Köpfe wahrlich nicht. Literatur Austin, J. L .: How to do Things with Words, Oxford 1962. - Benseler, F. et al. (Hrsg.): Autopoiesis, Communication and Society. The Theory of Autopoietic System in the Social Sciences, Frankfurt 1980.- Brelet, G.: Le temps musicale, Paris 1949. - Briner, A.: Der Wandel der Musik als Zeitkunst, Zürich 1955. - Chismar, D.: Empathy and Sympathy: The Important Difference, in: The Journal of Value Inquiry 22, 1988, S. 257-266.- Dahlhaus, C. : Musikästhetik, Köln 1967.- Dietrich, F.: Musik und Zeit, Kassel1933.- Ernst, A.: Philosophische Untersuchungen zum Zeitbegriff in der Musik, Aachen 1973.- Fuchs, P.: Die Weltflucht der Mönche, Anmerkungen zur Funktion des monastisch-aszetischen Schweigens, in: ZfS, H. 6, Jg. 15, 1986, S. 393-405 (erneut und erweitert abgedruckt in Luhmann I Fuchs 1989. Fuchs, P.: Vom Zeitzauber der Musik, Eine Diskussionsanregung, in: Baecker, D. et al. (Hrsg.), Theorie als Passion, Frankfurt 1987, S. 214-237.- Fuchs, P.: Die Welt, die Kunst und soziale Systeme, Düsseldorf 1991 (Kulturwissenschaftliche Weiterbildung.- Fuchs, P.: Kommunikation mit Computern? Zur Korrektur einer Fragestellung, in: Sociologia Internationalis, Bd. 29, H. 1, 1991, S. 1-30.- Hanslick, E.: Vom MusikalischSchönen. Ein Beitrag zur Revision der Tonkunst, Wiesbaden 1971. Heider, F.: Ding und Medium, in: Symposion I, 1926, S. 109-157. - Klugmann, F.: Die Kategorie der Zeit in der Musik, Inauguraldissertation Bonn 1961. - Lehrdahl, F . IR. Jackendoft: A Generative Theory of Tonal Music, Cambridge (Massachusetts) - London 1983. - Lipp, W.: Autopoiesis biologisch, Autopoiesis soziologisch, Wohin führt Luhmanns Paradigmawechsel?, in: KZfSS, Jg. 39, 1987, S. 452-470. - Luhmann, N.: Autopoiesis, Handlung und kommunikative Verständigung, in: ZfS 11, 1982, S. 366-379.- Luhmann, N .: Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 1984. - Luhmann, N.: Die Autopoiesis des Bewußtseins, Soziale Welt 36, 1985, S . 402-446.- Luhmann, N.: Das Medium der Kunst, in: Delfin 4, 1986, S. 6-15.- Luhmann, N. I P. Fuchs: Reden und Schweigen, Frankfurt 1989. - Luhmann, N .: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990. - Luhmann, N.: Weltkunst, in: Luhmann, N. I Bunsen, F . D. I Baecker, D., Unbeobachtbare Welt, Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 7-45. - Maturana, H. R. I F. J. Varela: Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living, in: Boston Studies in the Philosophy of Science, Vol. 42, Boston- Dordrecht 1980. - Maturana, H. R. I F . J . Varela: Der Baum der Erkenntnis, Bern- München- Wien 1987.- Plessner, H.: Zur Hermeneutik nichtsprachlichen Ausdrucks, in: Gadamer, H.-G. (Hrsg.), Das Problem der Sprache, München 1967, S. 555-566. - Rotter, F.: Musik als Kommunika-

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KULTURSOZIOLOGISCHE PERSPEKTIVEN MUSIKALISCHEN AUSDRUCKS Von Frank Rotter, Fulda

I. Vorbemerkungen

1. Disziplinäres und Interdisziplinäres Die vorfindliehe Bedeutung der Soziologie gegenüber dem Phänomenbereich Musik bleibt gewiß hinter ihren disziplinären Möglichkeiten zurück, und es ist sicher auch eine Frage gängiger Soziologenidentität, die Soziologen wie Soziologinnen typisch an diesem Phänomenbereich vorbeiführt. Auffällig ist, daß dieses disziplinäre Defizit interdisziplinär durchaus zu beruhigen scheint, denkt man an die Wissenschaft, die sich den Gegenstand Musik direkt eingeschrieben hat- die Musikwissenschaft. An repräsentativer Stelle etwa wird eine recht allgemeine Erwartung an die Musiksoziologie sogleich im Konjunktiv ihrer Enttäuschung formuliert: das Thema "Musik und Gesellschaft" hätte eine Ergänzung oder Weiterführung der Musikästhetik sein können. Diese Fragestellung sei aber fast ausschließlich im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Marxismus debattiert worden, wobei "die Musiksoziologie einstweilen zwischen den Fronten aufgerieben" worden sei. In der (Un-)Verbindlichkeit bürgerlicher Kommunikationsformen heißt es dann, damit sei der Musiksoziologie eine Zukunft nicht abgesprochen. Doch angetrieben von einem die Soziologie überhaupt treffenden Vorurteil wird das Null-Resümee in einem nächsten Schritt genutzt, mit einer Prognose die Musiksoziologie aus der Musikforschergemeinschaft zu exkommunizieren. Die Soziologie als eine noch nicht so gute Mischung aus Philosophie und Nationalökonomie werde noch durch ernsthafte Spannungen geprägt. Deshalb sei nicht auszuschließen, daß auch die Musiksoziologie diese Spannungen lediglich registrieren und nicht integrieren könne. Sie komme dann über die Bedeutung einer Randerscheinung nicht hinaus, nämlich als Lehre von den Institutionen und Organisationen mit kulturpolitischer Relevanz, während "die zentralen Aufgaben von ästhetischen und sozialpsychologischen Untersuchungen erfüllt würden. Denn die Fragen nach den gesellschaftlichen Bedingungen und Auswirkungen der Musik und des Musikhörens können von einer als Philosophie verstandenen Ästhetik und von der Sozialpsychologie zureichend beantwortet werden" (de la Motte-Haber 1982: 17). Man

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merkt die Absicht und wäre amüsiert, wenn man ausschließen könnte, daß diese Grundhaltung im Wissenschaftssystem folgenlos wäre. Aber auch Positionen eines Ansatzes interdisziplinären Entgegenkommens - etwa daß man "ohne Kontext eines soziologisch geprägten Funktionszusammenhangs nicht restlos" auskomme- verbürgen nicht unbedingt interdisziplinäre Kooperationsbereitschaft, wenn man dazu die wissensproduktive Bereitschaft zählt, interdisziplinär mit- und weiterzudenken. Ich meine z. B. das doppelte Luftwurzeln-Verdikt, das Dahlhaus mit Blick auf Silbermann und Adorno ausspricht. Soziographische Erhebungstechnik wie sozialphilosophische Dechiffrierung musikalischer Werke seien in gleicher Weise Luftwurzeln. Die Besonderheit Adornos wird mit einem Marxismushinweis eher desidentifiziert, und zur Silbermann-Ecke heißt es: "Die zunächst durch Nüchternheit bestechende Voraussetzung, daß ein akustischer Vorgang ein bloßer ,Stimulus' sei, dessen Rezeption durch das Publikum- das ,Musikerlebnis' ... - die einzige feste Gegebenheit und Instanz darstelle, von der eine empirische Wissenschaft ausgehen könne, erweist sich unversehens als borniert", weil der Musikbegriff aufgegeben sei (Dahlhaus 1982: 46 f.). Abgesehen davon, daß hier vielleicht nur ein anderer Musikbegriff eingeführt ist, ließe sich statt solcher Abkanzelei ja auch weiterfragen, z. B.: Erlaubt die Stimulus-Perspektive tiefergehende Aufschlüsse darüber, was Merkmale des Akustischen etwa im Vergleich mit dem Visuellen angeht? Mit Blick auf die Herstellungs- bzw. primäre Handlungsseite von Musik könnte es interessieren, was die Besonderheit selbstzwecklieh orientierter klanglicher bzw. geräuschlicher Phantasie ausmacht. Würde die zum Maßstab erhobene und damit außer Frage gestellte Musikwissenschaft, wie sie überkommen ist, funktionslos, oder führte es zu einer interessanten neuen oder auch nur modifizierten Funktionsbestimmung - die Chance einer überzeugenderen Selbstbeschreibung musikwissenschaftlicher Arbeit -, wenn man "Musikerlebnis" (auch des Musikwissenschaftlers) zum Startpunkt wählte? An Silbermanns Selbstrestriktionen wäre man ja nicht gebunden. Dahlhaus' rigoroser Trennungsstrich zwischen empirischer Sozialforschung und Sozialphilosophie verstellt im übrigen den Blick dafür, daß es eine erstaunlich große gemeinsame Schnittmenge von stimulusorientierten Vorstellungen (Informationstheorie) und Adornos ästhetischer Theorie I Musiksoziologie hinsichtlich ihres breiten strukturtheoretischen Zuschnitts gibt (Rotter 1985: 85 f., 95, 111). Angesichts der kritisierten Positionen und Aussagen aus der Musikwissenschaft wird man musiksoziologische Forschungsinteressen nicht gerne der Obhut solcher Wissenschaftler überlassen (konkret bestätigend Bontinck 1986: 202 f.) . Das interdisziplinäre Versprechen der Systematischen Musikwissenschaft, die definitionsgemäß aus den Teilbereichen Musiktheorie, -ästhetik, -soziologie und-psychologiebesteht (de la Motte-Haber 1982: 1417), sollten Soziologen beim Wort nehmen. Definitionsgemäß gehören sie als

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Musiksoziologen sowieso dazu. Der vorgeführten Zurückhaltung gegenüber der Soziologie entspricht freilich eine überkommene und institutionell etablierte eingeschränkte Ausrichtung von "Musikwissenschaft" . Ganz dominant ist bekanntlich ihre historische Orientierung, gefolgt von (auch) systematischer "material"-naher Orientierung, wofür insbesondere Musiktheorie und musikalische Analyse zu nennen wären (Karbusicky 1979: 21 f. ; Groth 1989: 56 ff.). Die soziologische Perspektive erscheint in diesem Sinne materialfern. Diese interdisziplinäre Differenz mag zwar objektiv kleiner werden, wenn man von dem Musikerlebnis als musiknäherem "Material" ausgehtdem Kommunikat, von dem sich die Frage nach der Bedeutung des musikalischen Textes zwangsläufiger stellt, als dies offenkundig umgekehrt der Fall ist (Casimir 1991: 24 Fn. 13, 193 f., 196; Großmann 1991: 119, 126). Aber auch gebremste Retourkutschen erhöhen nicht unbedingt die Kooperationsneigung. Jedenfalls hat man es in der institutionalisierten Musikwissenschaft erwartbar mit Kommunikationspartnern zu tun, die gewiß nicht nur traditions-, sondern auch arbeitsgestützt das Gefühl haben, den Gegenstand (nicht unbedingt sein Geheimnis) disziplinär zu besitzen . Wer dieses Besitzverhältnis, und sei es nur relativ, in Frage stellt, wertet implizit die zugehörige Arbeit und das in sie eingegangene spezifische Gegenstandsinteresse ab. Solche Rücksichtslosigkeit ist (im Mantel des Hypothetischen) wissenschaftstheoretisch als legitim ausgewiesen, beflügelt freilich nicht die wünschenswerte interdisziplinäre Kooperation, zumal wenn außerdem die Art des Interesses interessierter Soziologen unklar ist. Wollte man sich musiksoziologisch direkt auf dieses Kommunikationsund Kooperationsproblem einstellen, wäre es sicher hilfreich, bei Musikwissenschaftlern der dargelegten Tradition wie bei Musiksoziologen bzw. musiksoziologisch arbeitenden Soziologen das Interesse am Objekt zu klären. Stattdessen ist derzeit vielleicht ein Blick auf die fernere interdisziplinäre Nachbarschaft hilfreich - nämlich auf das Verhältnis von Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Dort sieht eine (zugespitzte) Verhältnisbestimmung so aus, daß Rechtstheorie und Rechtsdogmatik als Formen der Selbstbeschreibung des Rechtssystem gefaßt werden, während die Rechtssoziologie das System von außen beobachtet und beschreibt und dadurch mehr, aber auch weniger sieht als die Rechtstheorie (Luhmann 1987: 360).

2. Eigene Absichten Mir geht es im folgenden freilich mehr um Soziologisch-Disziplinäres als um Interdisziplinäres- bis auf einen letzten Punkt. Zunächst reagiere ich auf die auffälligste Theorieproduktion der Disziplin: auf Luhmanns Systemtheorie, welche die Künste mitthematisiert und damit erst einmal den Verbund "große Theorie" und Thema Kunst von der Kritischen Theorie (Adorno) in einen ganz anderen Theoriekontext herübergeholt hat. Anders als bei

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Adorno ist es zwar nicht die Musik, die als Modell-Kunst fungiert, doch liegen insoweit unterdessen musiksoziologische Arbeiten anderer Autoren vor (Fuchs bereits 1987; Casimir 1991). Die gegenüber drei theoretischen Vorgaben Luhmanns von mir geltend gemachte kritische Perspektive wird sodann zum eigenen Thema erhoben. Dabei führe ich meine schon früher vorgelegte sozialisationstheoretische Interpretation des Themas "Musik als expressive Symbolisierung" weiter und plädiere darüber hinaus für einen Vergleich musikalischen Erlebens mit dem Erleben anderer Situationeneine Zusammenschau von Musik und Gesellschaft, welche die Besonderheit von Musikgezielterklären kann als Adornos Vorgehensweise, die in totalisierender Weise Musik und Gesellschaft entweder in eins sieht oder nur wenig spezifisch (dialektisch) vermittelt gegeneinander ausspielt. Die mit der Überschrift angekündigten kultursoziologischen Perspektiven meinen eine sozialisationstheoretische Vertiefung, jenen Vergleich und schließlich den Wechsel zur Musiktherapie als einem nichtkünstlerischen Kontext musikalischen Ausdrucks. Einen Teil der nachfolgenden Überlegungen konnte ich ein erstes Mal auf dem von der Sektion Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie veranstalteten Kolloquium "Kunstsoziologie in der Diskussion" im Herbst 1990 in Bad Hornburg diskutieren, wobei dort der Hauptakzent auf bildender Kunst und Maltherapie lag.

II. Zu drei Theorievorgaben Niklas Lohmanns 1. Form I Medium und Weltkunst

Bereits Luhmanns erste medientheoretische Konzeptualisierung von Kunst überzeugte vor allem bei der Erfassung von Entwicklungsproblemen zeitgenössischer Kunst (Luhmann 1976: 78 f., 83, 93 ff.). Auch die nun herangezogene Theorievorgabe des jüngsten Stadiums seiner Theoriekonstruktionen bietet eine Begrifflichkeit, mit der sich bestandskritische Umschlagseffekte evolutionärer Entwicklungen und das gerade noch Mögliche gut erfassen lassen. Mehr als früher kommen allerdings die Unterschiede der Künste in den Blick, was die Chance unmittelbarer musiksoziologischer Relevanz erhöht. Die direkte Relevanz muß aber nicht weit führen, wie dies bei dem Aufriß einer mehrstufigen Medium I Form-Folge im auditiven Bereich der Fall ist. Die Folge läuft von Geräusch über gut klingende (von Instrumenten erzeugte) Töne bis zu Kompositionen. Mittelbar bedeutsam, aber wichtiger ist eine mit dem Beispiel Literatur verknüpfte Grundaussage: Kunst gilt Luhmann hier als höchste (Form-)Stufe eines überprägnanten Sprachgebrauchs in Kombination mit Fiktionalität, d. h. der Erschließung neuer Möglichkeitsräume. Insoweit rangiert die Prägnanz der Form als Aufmerksam-

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keitsfänger vor der Semantik des Fiktionalen (Luhmann 1988: 63 ff.) Was dies musikspezifisch bedeutet, bedürfte der weiteren Ausarbeitung. Die semantikferne und insoweit konkretionsarme Theorievorgabe begünstigt freilich diese Fragestellung nicht. Die Perspektive Weltkunst setzt elementar bei der vorkünstlerischen Differenz ein, die durch Beobachtung der Welt notwendigerweise entsteht. Diese Differenz wird Form genannt. Sie erscheint als Einschnitt, der einen unbestimmten Bereich von Möglichkeiten verletzt und durch die damit verbundene Unterscheidung unbestimmte in bestimmte Komplexität transformiert. Mit der Form geheißenen Differenz ist bereits vorkünstlerisch ein dynamisches Moment gegeben. Die Form erscheint als unbewegter Beweger, weil mit ihr eigentümliche Zeitverhältnisse verknüpft seien. Sie markiert eine Innen- und eine Außenseite, die gleichzeitig entstehen, die aber nicht gleichzeitig beobachtet werden können. Dieser Umstand nötigt die Beobachtung in die Zeit: in eine Vorher I Nachher-Unterscheidung. Privilegiert diese Struktur von Form die Zeitkünste und damit Musik? Luhmann vertieft diesen Aspekt nicht künstespezifisch. Seine Aussage hingegen, die in den Kunstwerken fixierten Beobachtungen würden miteinander kommunizieren, wirkt auf mich verdächtig soziologisch metaphorisiert (zu Luhmann 1990a: 10, 15; zum Verhältnis von Malerei und Literatur s. ebd., 34). Spezifischer heißt es, Kunstobjekte zeichneten sich durch das Privileg aus, nur für den Zweck der (künstlerischen) Kommunikation hergestellt werden zu können; von anderen Bemühungen um Wirkung, die durch Beobachtung eher irritiert würden, unterscheide sich das Kunstwerk darin, daß es gerade auf Beobachtung aus sei (Luhmann 1990a: 26). Welche Art der Irritation möglicherweise eintreten könnte, wenn ich mich bei einem nichtkünstlerischen musikalischen Ausdrucksverhalten beobachtet sehe, bleibt als spezifischere Frage offen wie die nach der Art der Künste spezifische Sicherheit künstlerischen Ausdrucks. Spezifischere oder gar musiksoziologische "Beobachtungs"-Interessen werden auch allein gelassen, wo Luhmann mit der Kategorie des Möglichen die Funktion von Kunst bestimmen will. Angesichts der immensen Komplexität alles Möglichen, mit der die moderne Gesellschaft operiert, zeige Kunst, "daß und wie im Überschreiten des Wirklichen im Hinblick auf das nur Mögliche Form zu gewinnen ist" (Luhmann 1990a: 38 f.). Nicht nur bleibt die Kategorie des Möglichen eher eine Unbekannte. Die pauschale Unterscheidung von Wirklichkeit und Möglichkeit verliert Luhmann-immanent zusätzlich an Eindeutigkeit, wenn man für alle Sozialsysteme die (autopoietische) Konstruktion von Wirklichkeit als den eigentlich nur zugänglichen Bezugspunkt ansetzt. Um das Faszinosum der Kunst zu bestimmen, bezieht Luhmann den Steigerungsimperativ der anderen autonomen Funktionssysteme auf sie (1990a: 43 f.): "Ähnlich . .. wie die Religion läßt die Kunst sich durch das faszinieren,

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was ihr entgeht; und ihre Anstrengung könnte darin kulminieren, sich genau dies nicht entgehen zu lassen" (gemeint ist der Weltverlust, der durch die zur Beobachtung gehörende Unterscheidung eintritt). Gerade mit dem Seitenblick auf die zitierte Religion halte ich es für plausibler, den Faszinationseffekt auf eine besondere Form der Angstbewältigung zurückzuführen, wobei die Möglichkeitsräume der Kunst im Gegensatz zur Religion Angstlust sind; beide Funktionssysteme stellen gesellschaftlich etablierte Kommunikationsformen der Angstbannung zur Verfügung. Daß es eine durch das Kunstwerk gelenkte Gleichsinnigkeit von Produzent und Rezipient gebe (Luhmann 1990a: 21), ist nicht nur weitab, von der Rezeptionsforschung zumal der Musiksoziologie formuliert, die gerade die inter- und intraindividuellen Unterschiede herausstreicht. Diese Aussage ist darüber hinaus für seine eigenen Grundannahmen unplausibel, die Bewußtsein als Operationsmodus psychischer Systeme und Kommunikation (soziale Systeme) strikt voneinander absetzen (Luhmann 1984: 367 f.; s. denn auch zu Musik Casimir 1991: 194). Die Aussage schließlich, man könne ganz gut auch ohne Kunst leben (Luhmann 1990a: 43), lenkt die Aufmerksamkeit auf gegenläufige empirische Daten: bei einer Umfrage gaben 68% der 15 -70jährigen an, sie könnten sich ein Leben ohne Musik nicht vorstellen; was den Künstebedarf angeht, steht Musik obenan (Blaukopf 1982: 247, 280 f.). Bei der hier herangezogenen Theorievorgabe sehe ich erst einmal keine Möglichkeit, solche Daten zu interpretieren, die nicht nur Musik (aus welchen Gründen?) privilegieren, sondern überhaupt zur Differenzierung der Künste einladen.

2. Bewußtsein, Kommunikation und Kunst An der bereits erwähnten autopoietologisch unterlegten Unterscheidung zwischen Bewußtsein und Kommunikation ist nun von besonderem Interesse, daß sie qua Bewußtsein psychische Systeme mitthematisiert. Einerseits gelten Bewußtsein und Kommunikation als strikt voneinander geschiedene, weil geschlossene Systeme, die in ihrer emergenten Unterschiedlichkeit nicht aufeinander zurückgeführt werden können. Dies schließt aber durchaus ein, daß psychische und soziale Systeme wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Das Verhältnis beider Systemtypen zueinander wird als Interpenetration und Co-Evolution gesehen. Zur Sprache heißt es dann, sie überführe soziale in psychische Komplexität (Luhmann 1984: 291 ff., 367 f.). Die Sequenzialität der Bewußtseins- und kommunikativen Ereignisse, die sich in einem irreversiblen Prozeß selbst (re-)produzieren, hat Fuchs (nach und für Luhmann) zu der These angeregt, die Zeitkunst Musik habe die Form der Autopoiesis und sei darin -wenn auch mit anderer Ausrichtung- der Sprache verwandt. Gedanken produzieren Gedanken - so wird die Autopoiesis des Bewußtseins gefaßt. Beobachtete Gedanken heißen Vorstellungen. Als "Vorstellungen von etwas" kombinieren sie Selbst- und Fremdreferenz.

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Die sprachliche Formung von Gedanken verstärke das "etwas" der Fremdreferenz und belaste sie mit der Schwerfälligkeit der Wirklichkeitssemantik Bei der Musik sei es nicht das Etwas einer Vorstellung, an das weiteres angeschlossen werden könne, sondern einzig die musikinvolvierte Zeitlichkeit selber, die "mit ihren durch jeden Ton aufgeblendeten Erwartungshorizonten die Anschlußselektivität beinahe nolens volens determiniert" (Fuchs 1987: 218, 222-226). Für Fuchs steht hier der Zeitzauber der Musik derart im Vordergrund, daß aus der "Ton"-Folge nur noch eine Abfolge wirdeine Sequentialität, die im übrigen der Reproduktionsweise psychischer Systeme so sehr ähnlich sei und deshalb von Reproduktionsdrücken entlasten könne (ebd., 225 f.). Daß es eine- wenn auch unscharfe- Semantik der Musik gibt (Karbusicky 1986: 51) und Klänge I Geräusche durch ihre Bedeutung in der primären Sozialisation, wie sie fortwirkt, "schwerfälliger" sein dürften als reiner Zeitzauber (hierzu unten III.l.), markiert eine Einseitigkeit, welche die Gefahr eines strukturtheoretischen Animismus birgt. Luhmanns Text selber stiftet zu einer weiteren Fuchs-kritischen Überlegung an. Er problematisiert nämlich dessen Annahme (Fuchs 1987: 225), Musik sei der Sequentialität des Bewußtseinsprozesses auf die innere Uhr geschrieben ("so ähnlich"). Luhmann (1985: 406) betont die Tempodifferenz zwischen Bewußtseins- und Kommunikationsprozeß- das Bewußtsein sei typisch schneller. Manche Luftschwingungsfrequenzen mögen diesem Tempo nicht nachstehen, aber Töne werden nicht so, sondern als deren konstantgradliniger Effekt gehört (Obertöne als Klangfarbe), und der Aufbau musikalischer Komplexität und deren Rezeption brauchen kommunikationszuträgliche Zeit. Insofern erlaubt die Gleichzeitigkeit visueller Reize eines Bildes ein schnelleres und jedenfalls nicht durch Aufführung sozial reglementiertes bewußtseinsnäheres Rezeptionstempo. Die erlebte zeitliche Konkordanz von Bewußtsein und Musik könnte daher rühren, daß der zur Musikrezeption gehörende Verstehensaufwand die genuine Tempodifferenz austrickst, ja zum Teil umkehrt, wenn man ein Stück beim ersten Hören nicht (ganz) versteht. Andererseits könnte es deshalb die im Vergleich zur Sprache grundlegend erweiterte Gleichzeitigkeit von lautlichen Ereignissen in der Zeit sein, welche es dem Hörer erlaubt, mit der herausgestrichenen Tempodifferenz zu spielen (die "Bild"-Anteile im reglementierten dynamischen Zeitkunstzusammenhang). Demgegenüber ist es in der Malerei nur der Beobachter, der das Bild bewegt. L uhmanns (a utopoietologisch-)bewußtseinsbezogener Erwartungsbegriff erreicht zwar etwas spezifischer als auf der Ebene solcher Begrifflichkeit üblich Strukturen zeitgenössischer Musik. Während beispielweise L. B. Meyer direkt musikbezogen die Ereignisfolge eines Musikstücks als Reizfolge sieht, bei der jeder Reiz - etwa eine musikalische Phrase - Erwartungen hinsichtlich möglicher folgender Reize weckt (1956: 20, 35) und damit einen fast alles offen lassenden Erwartungsbegriff mit einem inhaltlich ebenso fast

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alles offen lassenden Reizbegriff zusammenpackt, radikalisiert Luhmann den Erwartungsbegriff sozusagen auf der Zeitschiene: "Erwartungen begiiinden beendbare Episoden des Bewußtseinsverlaufs" (1984: 362). Diese Erwartungslogik erkennt man bei Ligetis Kompositionslogik musikalisch auf die Spitze getrieben- eine Wahrnehmung, die Meyers Begrifflichkeit nicht anleiten könnte: "Weil die Ligetischen Klangstrukturen von sich aus ... ein so geringes abschließendes Vermögen aufweisen, wird die abschließende Gebärde oft von außen herbeigeschafft, durch Montage oder schiere Unterbrechung. (Die Stille wirkt hier nicht als zuzüglicher, sondern als struktureller Faktor, der als einziger die Abgrenzung eines sonst von keinem Abgrenzungsverfahren gekennzeichneten Verlaufs realisiert, der erst nachträglich, von der Stille als seiner puren Negation aus, als abgeschlossen erkannt wird ... )" (Sabbe 1987: 12). Viel mehr ist freilich interpretatorisch nicht möglich, dies aber immerhin. Als weitere musikrelevante Anknüpfungsangebote betrachte ich die Funktionsbeschreibungder Gefühle für die Autopoiesis des Bewußtseins; die Konstatierung eines "emotionalen Stützbedarfs der Selbstkonzepte"; die Annahme der Überführung sozialer in psychische Komplexität auch emotionsbezogen nicht nur durch Sprache, sondern auch Künste, der kommunikativen Unbestreitbarkeit von Angst, der gesteigerten Interdependenz zwischen Gefühlen und körperlichem Geschehen; die Perspektive, daß das Bewußtsein des Beobachtetwerdens über die Sichtbarkeit des eigenen Körpers läuft (Luhmann 1985:416-421, 439; s. auch unten II.3.). HierinAngebote zu sehen, die emotionale Seite von Musik theoretisch zu vertiefen, setzt allerdings eine gegenintentionale Lesart voraus. Für Luhmann steht die abstoßende Funktion eines Immunsystems für die Bedeutung der Gefühle im Vordergrund. Insoweit hat Casimir tendenziell recht, wenn er sagt, das Autopoiesis-Konzept vertreibe die Psyche aus dem Bewußtsein. Doch auch Luhmann selbst ist auf diesen Punkt gestoßen. Er merkt nämlich an, daß Gefühle auch die Sensibilität für spezifische Informationen steigern könnten, reagiert aber darauf nicht weiter (Casimir 1991: 256; Luhmann 1985: 371 Fn. 43).

3. Symbiotische Symbole und Künste Nach dem Konzept der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien werden die Künste unter der Sequenz Handeln - Erleben aufgeführt. Die Wahrscheinlichkeit eines Selektionstransfers hängt nicht nur an der Etablierung eines Präferenzcodes (schön I häßlich bzw. gelungen I nicht gelungen), sondern auch an dessen Verkoppelung mit einem symbiotischen Symbol (bis in jüngste Zeit ist aber noch von symbiotischem Mechanismus die Rede). Gemeint ist eine medienspezifische Bezugnahme auf die Körperlichkeit der Kommunikanten und die damit verbundenen Irritationsmöglichkeiten. Bei dem Kommunikationsmedium Recht mit dem Präferenzcode

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Recht I Unrecht zum Beispiel ist es physische Gewalt. Hinsichtlich der Künste bleibt diese Stelle jedoch unbesetzt (Luhmann 1976; ders. 1989b: Kap. 2; ders. 1990b: 230). Die unter (11.2. a. E.) aufgeführten Anknüpfungsangebote können hier als Zugang zu relevanten Phänomenen eingesetzt werden. Das sind einmal die Funktion der körpertangierenden Gefühle und ihr Angstbezug mit seinem Unbestreitbarkeitshintergrund. Zum anderen erscheint hier auch die Schlüsselrolle bedeutsam, welche die Sichtbarkeit des eigenen Körpers für das Bewußtsein des Beobachtetwerdens einnimmt. Insoweit fällt auf, daß Musik einen ganz anderen Körperbezug aufweist als etwa die Malerei. Ontogenetisch sind es erst die sehsinnvermittelten Wahrnehmungsfähigkeiten, die zur Ausbildung des Körperschemas führen. In der vorausgehenden Phase der führenden Bedeutung des Hörsinns fehlt es auch mediumbedingt an der Kompetenz, Körpergrenzen zu hören. Geht diese Differenz in den jeweiligen Wahrnehmungszusammenhang von Bildbetrachtern und Musikhörern ein, gerade wenn sie - was typisch möglich ist - unbeobachtet von Dritten rezipieren? Was folgt aus der Asymmetrie auf der Herstellungsseite: Darbietung eines Musikstücks unter den Augen der Zuhörer und Herstellung eines Bildes ohne (dritte) Betrachter? Es gibt aber noch eine existentiellere Perspektive. Das imaginäre Hören von Stimmen, eine Wahnerscheinung schizophrener Erkrankung, kann derart (körper)grenzenlos bedrohlich werden, daß die Autopoiesis des Bewußtseins aussetzt. Das verweist auf einen elementaren Funktionszusammenhang von Musik, von dem im folgenden sogleich die Rede sein soll.

ßl. Zwei Gegenakzentuierungen

1. Zur emotionalen Basis von Musik Gerade diese erste Gegenakzentuierung will Phänomene und ihre Rekonstruktionen ins Spiel bringen, deren Beachtung sich Theorietraditionen verdankt, denen gegenüber Luhmann absichtsvoll mehr oder weniger Distanz hält. Das betrifft insbesondere die Psychoanalyse ohne naheliegende Berücksichtigung der neueren Ich-Psychologie oder des psychoanalytischen Strukturalismus eines Jacques Lacan (Luhmann 1989a; Kernberg 1985; S. Weber 1990: 115; zur kommunikativen Anschlußfähigkeit s. Flader I Grodzicki 1982: 180 f.) . Das markiert nicht nur einen Differenzpunkt zur Kritischen Theorie und speziell zu Luhmanns Widerpart Habermas, sondern auch zu dem soziologischen Systemtheoretiker Talcott Parsons, der zudem in seiner Medientheorie Voraussetzungen der primären Sozialisation mit einbezieht (Rotter 1985: 22 f., 44 f. mit weiteren Nachweisen). Bei der Frage der emotionalen Basis von Musik plädiere ich für eine interdisziplinäre Kooperation

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der Musiksoziologie mit (Sozial-)Psychologie. Das läßt mehr Differenz zu und rückt mehr Phänomene in den Blick als Luhmanns disziplinär nicht differenzierte Gegenüberstellung und Verbindung von Bewußtsein und Kommunikation. Andererseits zeigt diese Fragestellung, daß Musiksoziologie insoweit auch einen Beitrag zur Soziologie der Emotionen (Gerhards 1988) leisten kann. Denn die positive Bewertung akustischer Ereignisse als solcher hat zugleich gefühlsbildende und -regulierende Bedeutung. Schon für die emotionale Basis von Musik(machen und -hören) ist mehr als eine Ebene anzusetzen, wobei diese Basisbestimmung durchaus im Bereich der primären Sozialisation verbleibt. Bezüglich der ersten Ebene habe ich bereits früher (1985) zwei Aspekte geltend gemacht. Gemeinsamer Ausgangspunkt beider Aspekte ist der Umstand, daß die Ontogenese mit dem Primat des Hörsinns (als Fernsinn) beginnt. Die Wahrnehmungskompetenz für die materiale Seite (Luftschwingungen) der medialen Basis der Musik entwickelt sich vor dem Sehsinn. D. h. insoweit wird die mediale Basis der Musik früher grundgelegt als die mediale Basis der Malerei. Für die künstetypische Emotionalität wichtiger ist freilich die Frage nach dem jeweiligen Initialproblem. Was nun das Initialproblem- die Initialangst-von Musik angeht, habe ich einen strukturtheoretischen und einen individuationstheoretischen Aspekt unterschieden. Strukturtheoretisch handelt es sich um eine Spielart des Mechanismus Reduktion und Aufbau von Komplexität. Eindringliches akustisches Chaos löst Existenzangst aus. Reduktion dieses Chaos zu einer Stimme oder zu Klängen führt zu existentiellen Entlastungseffekten. Wiegenlieder stehen für diese elementare Entlastungsfunktion. Die emotionale Triftigkeit nichtregressiver Erwachsenenmusik beruht unter diesem Aspekt auf Angstlust, d. h. zu dieser Musik gehört Chaoszitation - ein natürlich bewußtseinsbedingter Erlebensmodus, der sich an sehr verschiedenen akustischen Unterschieden (eines Musikstücks) festmachen kann. Der individuationstheoretische Aspekt verweist auf den ersten Individuationsschock der Acht-Monats-Angst. Gemeint ist die erstmals unabweisbare Wahrnehmung, von der Mutter oder anderen erwachsenen Bezugspersonen abgelöst zu sein. Diese Sehsinn-vermittelte Wahrnehmung wird durch die akustisch getragene Fetischisierung einer "Mutter"-nahen Hörwelt distanziert und kompensiert. Elementar und mit deutlichen Differenz(ierungs)schnitten ist hier der kunstsoziologisch zentrale Zusammenhang von sozialem Realismus, Individuation und Fiktionalität ein erstes Mal aktualisiert. Die emotionale Qualität der etwa mit Lallgesängen halluzinierten "Mutter"nahen Hörwelt erscheint dabei als schock-kompensatorisch intensiv und positiv, wobei das akustische Medium das Erleben von paradiesisch schöner verschmelzender Aufgehobenheit begünstigt. Auch an dieser Struktur des Erlebens zeigt sich der kompensatorische differenzverleugnende Bedarf (Rotter 1985: 45-69, 125- übrigens einschließlich der ontogenetisch späteren Variante akustisch lebbarer Aggressivität).

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Für die zweite Ebene ist von maßgeblicher Bedeutung, daß zur Musikwahrnehmung auch visuelle Vorstellungen gehören (im Falle von Blindheit taktile und verbale Vermittelbarkeit). Erst dann können sukzessive akustische Ereignisse als Differenz setzender Zusammenhang wahrgenommen, in Abgrenzung von dem Ich I Selbst als akustisches Objekt erlebt werden. Das Phänomen Visualität in der Musik wurde jüngst von Helga de la Motte-Haber herausgestellt. Sie betont, Musik lasse sich nicht hinreichend als Zeitkunst begreifen., _Die Wahrnehmung einzelner Töne und von Musik überhaupt sei immer mit räumlichen Vorstellungen verbunden- Vorstellungen von einem physikalischen Raum oder von einem virtuellen Tonraum, die beide auch ineinander verfließen könnten. Diese Aussagen sind elementar und prinzipiell gemeint. Hinsichtlich der beiden Typen von Raumvorstellungen verweist sie auf eine hübsche Entsprechung in der europäischen Musikgeschichte. Bei den Psalmen Davids (1619) von Heinrich Schütz sei der Raum regelrecht mitkomponiert, weil Schütz in einem ausführlichen Vorwort vorschlage, wie die einzelnen Teilchöre "an unterschiedlichen Örthern" aufzustellen seien. Erfahrungshintergrund, durch seinen Lehrer Giovanni Gabrieli vermittelt, war die Praxis im venezianischen San Marco, wo zwei gegenüberliegende Emporen zur Verfügung standen, die zu mehrehörigem Musizieren anregten. Die Sonata Pian e forte (1597) Gabrielis zeigt exemplarisch, wie außermusikalischer Raum zu einem innermusikalischen Formprinzip werden kann. Bei diesem Werk wird "das Piano der einzelnen Chöre ... zum Forte bei ihrem Zusammentreten. Darüber hinaus sind die beiden konzertierenden Ensembles in unterschiedlichen Tonhöhenlagen konzipiert. Im Wechsel von hoch und tief entfaltet die Musik den Raum in seiner ganzen Höhe und Tiefe nur im Tutti." Die von der physikalisch-räumlichen Semantik emanzipierte Objektivierung des Akustischen in raumunabhängigen Werken wird bereits wenig später mit Bauwerk-Metaphern revisualisiert. Das kulminiert zu Beginn unseresJahrhundertsbei Ernst Kurth. Zwölftonkompositionen schließlich erscheinen bei ihr nachgerade als visuelle Musik (de la Motte-Haber 1990: 12, 14, 22, 24, 29 f., 44 f. Im übrigen Schäfer 1986: 297 f.; Kuhns 1986: 76; Rotter 1985: 56). Worauf bezieht sich dieser Sehsinn-vermittelte Anteil an Musik ontogenetisch, was bedeutet er emotional? Zunächst nimmt er auf, was bei (Erwachsenen-)Musik naheliegende Vorgabe ist: die bereits in der primären Sozialisation dominant werdenden visuell vermittelten Erfahrungen und Bedürfnisse. Auch hier lassen sich nun zwei allerdings sehr viel dichter aufeinander beziehbare Aspekte unterscheiden. Der strukturtheoretisch angelegte Aspekt macht sich an dem "Spiegelstadium" fest, das übrigens- wie der Schock der Acht-Monats-Angst - ab dem 6. Monat beobachtet wird: der Säugling, der noch nicht gehen und nicht einmal aufrecht stehen kann, nimmt mit jubilatorischen Reaktionen sein eigenes Spiegelbild wahr. Vor dem Hintergrund motorischer Ohnmacht und pflegebedürftiger Abhängigkeit erscheint 7 Beiheft 1 zu Sociologia Internationalis

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das Spiegelbild als Körperschema-integrierende Gestalt auf unwiderstehliche Weise beglückend. Dies führt zur Bestimmung von Initialangst und Initialbedürfnis für die bildende Kunst, voran die Malerei. Bilder bannen nämlich (auch) die Angst vor der so erst unterscheidbar werdenden, so erst vorstellungsfähigen "Zerstückelung des Körpers" oder- Angstlust-spielen mit ihr (Lacan 1973: 63 ff.; Müller-Braunschweig 1967: 10; Rose 1980: 4; Rotter 1988: 107 f.). Die Widerspiegelung solcher Strukturierung in Musik, die schärfer geschnitten ist als auf der ersten Ebene, das invariant setzende Identifizierend-Identifikatorische daran erscheint in diesem Zusammenhang als weiterer, in dieser Akzentuierung meines Wissens unbeachtet gebliebener Gesichtspunkt, der zur Erklärung eines vertrauten Phänomens herangezogen werden kann: daß entgegen einer ersten informationstheoretischen, auf Neuheit zielenden Vermutung das Hörinteresse durchaus auf schon bekannte oder doch ihr verwandte (in diesem Sinne identische) Musik gerichtet ist (zu anderen Gesichtspunkten Rotter 1985: 46, 55, 83; Hoffmann 1988: 971). Individuationstheoretisch steht der Übergang von der paranoid-schizoiden zur depressiven Position an, für welche Sehsinn-vermittelte Erfahrungen wie die des Spiegelstadiums konstitutiv sind, was wiederum die emotionale Grundlage der bildenden Kunst präzisiert. Der (paranoid-schizoide) Spaltungsprozeß, der mit der akustischen Fetischisierung verknüpft ist und das sichtbar Gewordene angstbedingt verdunkelt, wird durch einen integrierenden Objektbildungsprozeß überwunden. Die depressive Position privilegiert Visualität aus einsichtigen Gründen. Zum einen handelt es sich hinsichtlich der ersten einschneidenden Differenzerfahrung um den Wahrnehmungsmodus, über den sich die alarmierenden und darum aufmerksamkeitsengagierenden Beobachtungen aufdrängen. Zum anderen erleichtert Visualität Grenzziehung, Differenzierung und vor allem Fixierung. Diese (ersatz)objektbildende Angstbannung hat natürlich die emotional bestärkende Seite eines Bewältigungsgefühls. Die zur depressiven Position gehörende Gefühlslage wird freilich auch von der Schattenseite des Sistierensund damit Differenzsetzens mitbestimmt. Das gilt insbesondere gegenüber den schweifenden, durch Lallgesänge akustisch gestützten Halluzinationen einer differenzfreien "Mutter"-nahen Hörwelt. D. h. zur depressiven Position gehört die Trauer über den Verlust dieses künstlichen Paradieses, das einen verleugnenden Erlebensbedarf immerhin phasenweise aufnehmen konnte (Klein 1972: 115; Kernberg 1985: 64-69; Hampe 1986: 184; Kuhns 1986: 76; Heinz 1977: 18). Insoweit bringt auf der zweiten Ebene Visualität auch eine grundlegend depressive Seite von Musik mit sich. Dieses Resultat der vorgestellten elementaren Rekonstruktion findet sich in einem nun sicher nicht mehr nur intuitiv wirkenden Gedanken Adornos zu Robert Schumann wieder: "Nichts vermöchte Trauer als Grund ins Inwendige gewandter Musik sichtlicher herauszustellen als Schumanns Vorschrift: ,Im fröhlichen Ton'. Der Name

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der Freude dementiert ihre Wirklichkeit, und das ,im' , das einen fröhlichen Ton als bekannt und vergangen voraussetzt, meldet seine Verlorenheit zugleich und den Vorsatz, ihn zu beschwören" (Adorno 1963: 19; ebd.: 36: "Der Affekt der Rührung in Schuberts Musik ist Ergebung, nicht Resignation"). Was die beiden herausgestellten grundlegenden Ebenen für Musikmachen und -erleben betrifft, findet sich eine verwandte Konstellation bei Ehrenzweigs Phasen künstlerischer wie überhaupt kreativer Arbeit. Er unterscheidet die Phase schizoider Projektion, die manische Phase integrierender Dedifferenzierung und die depressive Phase der Redifferenzierung (Ehrenzweig 1974: 129 f., 200-203. S . auch McNiff 1981: 51). Dies läßt sich auf die kreative musikalische Handlungsebene unmittelbar anwenden, würde aber auch Musikrezeption interpretieren können (Rotter 1985: 90). Jedenfalls kann man aus dieser Phasenfolge den Schluß ziehen, daß Musik(machen und -hören) primär manisch und sekundär depressiv ist; für bildende Kunst gilt dann das Umgekehrte. Das dargestellte Zwei-Ebenen-Modell präzisiert, was die emotionale Basis von Musik ausmacht und insoweit als symbiotisches Symbol bzw. als symbiotischer Mechanismus (s.o. sub II.3.) zusammen mit dem Präferenzcode schön I häßlich (gelungen I nicht gelungen) den Selektionstransfer musikalischer Angebote wahrscheinlich macht, wobei diese emotionale Grundqualität nicht mit einerweitergehenden G leichsinnigkeit von Angebot und Abnahme verwechselt werden darf; von einer in diesem Sinne gleichschaltenden Selektionskette wird gerade nicht ausgegangen. Die Einbezogenheit des Spiegelstadiums I der depressiven Position besagt aber auch, daß Differenziertheit des musikalischen Ausdrucks dessen emotionale Triftigkeit grundsätzlich nicht relativiert (zu feministischen Erwartungen an das musikalische Medium s. Rotter 1992: 77 ff.). An eine konsequente ontogenetische Fortschreibung des Zwei-EbenenModells ist hier nicht gedacht. Für eine solche Absicht scheint mir aber die Sichtweise Lacans besonders hilfreich, der von einem Zusammenspiel des Imaginären und Symbolischen ausgeht (hierzu S. Weber 1990: 130 ff.). Stattdessen sei vermerkt, daß die über die zweite Ebene laufende Objektivierung akustischer Ereignisse und damit ihre Fetischisierbarkeit durch den gesellschaftlichen Ausweis als Musik in qualitativ neuer Weise verstärkt wird, was übrigens verschiedensinnige Rezeptionen akustisch identischer musikalischer Angebot, d. h. musikalische Individualisierung erheblich begünstigt (Rotter 1985: 72 f.). Die fundierende Dynamik des Manisch-Depressiven muß nicht mit einem und speziell dem akustischen Medium inszeniert werden. Insofern gibt es auch keinen Einwand gegen polyästhetische Vorstellungen, wonach die Ausdrücke tendenziell aller Künste integriert werden sollen. Aus zwei Gründen kommt solchen Kombinationen aber lediglich eine sekundäre Bedeutung zu. Zum einen stört der ja erhebliche Wechsel von dem primär auditiven etwa zu einem primär visuellen Wahrnehmungsmodus die emotio7*

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nale Dynamik gerade in ihrer Regressivität (exklusive "Mutter"-nahe Hörwelt), der sie ihre besondere emotionale Stärke verdankt - von dem Gesichtspunkt verstärkter medialer (sozialer) Kontrolle von synästhetischen (hier also primär visuellen) Vorstellungen einmal abgesehen. Zum anderen liegt die größere Chance differenzierten künstlerischen Handeins und Erlebens in dem Verbleib in einem Medium, weil Differenziertheit Vergleichbarkeit voraussetzt, die über den gemeinsamen "Nenner" des einen Mediums gegeben und polyästhetisch höchst offen ist (Rotter 1988: 45 f.; ders. 1971: 303 ff.). Insofern erscheint Musik gegenüber bildender Kunst auffallend privilegiert, wenn es heißt, daß selbst abstrakte Formen der bildenden Künste kaum auf ein so weit entwickeltes gestaltungstechnisches Wissen zurückgreifen könnten wie die abendländische Musik (Großmann 1991: 132). Das emotionale Privileg der Musik besteht darin, daß sie am regressivsten verankert ist, medial bedingt besonders gut manische Gefühle aufnehmen und wegen großer Offenheit für Strukturierung (Visualität) entsprechend weitgehend depressiv-objektivierende Antworten anbieten kann. Angesichts der psychoanalytischen Orientierung der unterbreiteten Rekonstruktionen ist es nötig, die neuere Säuglingsforschung zu beachten, die einerseits einige psychoanalytische Grundannahmen wie von der anfänglichen Passivität des Säuglings, der anfänglichen Undifferenziertheit von Selbst- und Objektvorstellungen und der Spannungsabfuhr als des hauptsächlichen primären Regulationsprinzips (Triebtheorie) widerlegt hat, andererseits aber auch mit komplementär einbeziehbaren Resultaten aufwartet: "Die Säuglingsforschung beschreibt, wie subjektive Strukturen in der Frühzeit objektiv hergestellt und erarbeitet werden und welche biologisch-psychologischen Voraussetzungen dafür notwendig sind; die analytische Entwicklungsforschung zeigt, wie das in der Beziehung Erarbeitete subjektiv verarbeitet wird" (Baumgart 1991: 805 und überhaupt. Im übrigen Emde 1991; Zelnick I Buchholz 1991; Eagle 1988). Die vorgestellte Affektlogik hat sich von den widerlegten Grundannahmen nicht abhängig gemacht, sondern ist in jenem interessanten Bereich komplementärer Herausforderung angesiedelt.

2. Musikalisches und anderes soziales Erleben und Handeln Die nun zu verfolgende Perspektive wird von einer komplettierten Merkmalbestimmung von Musik(hören und -machen) ausgehen, um Erleben und Handeln in zwei nichtmusikalischen Kontexten darauf zu beziehen - u. a. mit der Möglichkeit, gezielter zu fragen, was soziale Metaphern für eine Charakterisierung von Musikalischem verraten. Das Interesse gilt der Frage, wie sich grundsätzlich die Möglichkeiten und Grenzen von Erleben und Handlen jeweils unterscheiden, um spezifischere Hinweise für das Bedürfnis nach Musik zu gewinnen. Wegen der großen Bedeutung des Emotionalen bei

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der Musik habe ich Liebes- und Gruppenbeziehungen als die beiden anderen Vergleichsobjekte ausgewählt (zu einem entsprechenden, aber insoweit emotionsfernen Vergleich von musikalischer und anderer Arbeits. Rotter 1988: 64 -75). a) Musik und Liebe Wie unter (III.l.) rekonstruiert, wird Musik durch eine kompensatorische Fetischisierung akustischer Ereignisse grundgelegt. Das schließt bezüglich der ersten einschneidenden Differenzerfahrung des Kleinkindes gegenüber seiner Bezugsperson zweierlei ein: zum einen die bereits dargelegte akustisch getragene Halluzination einer emotional dichten symbiotischen Welt, die aufgrund der physiologischen Entwicklung des Gehörs und der hautnahen Zuwendung von Bezugspersonen (oral)erotische Qualtität haben kann, und zum anderen - gerade in Abwendung von der konkreten Bezugsperson die Unpersönlichkeit und Abstraktheit des Fetischs. Auch angesichts des ontogenetisch zunehmenden Differenzbewußtseins mit entsprechenden Ambivalenzgefühlen bleibt die Aktualisierung einer Hörwelt funktionsvoll, die als versöhnt-verwöhnend, als harmonisch in einer Weise erlebt werden kann, wie dies gegenüber Interaktionspartnern (doppelte Kontingenz) nicht möglich wäre. Daß die akustischen Differenzen des musikalischen Ausdrucks im Erleben diese Differenz-scheue Imagination nicht stören, wird durch einen entsprechend zurückhaltenden Differenzgebrauch begünstigt. Forcierte akustische Differenzen können andererseits aggressive, Unlustgefühle aufnehmen, und zwar gleichfalls in einem Ausmaß, wie dies gegenüber Interaktionspartnern straflos kaum möglich wäre- man denke etwa an eine harte Schlagzeugimprovisation. Noch vor einer akustisch getragenen Kombination von harmonischen und dissonanten Gefühlen in einem Objekt (Musikstück) gibt es bereits bei aggressiv gemeintem und gehörtem musikalischem Ausdruck eine konstitutive Verknüpfung von positiven und negativen Gefühlen: der Ausdruck und das zugehörige Instrument werden selbstzwecklieh bzw. hierfür instrumentell positiv bewertet und nicht etwa als feindliche und zu zerstörende Objekte. Nimmt man schließlich das weit getriebene Spiel mit akustischen Differenzen gerade in der abendländischen Musik, läßt sich ein Fluchtpunkt dieser Entwicklung gut mit einer Schönberg-naben Utopie bestimmen, nämlich der Utopie "der leibhaft-szenischen, primärprozeßbestimmten Reimagination von Musik, die so aufhörte, arbeitsteilig spezialisiert, am Prozeß fortschreitender Rationalitätserzeugung teilzunehmen, ohne aber nur das Geringste an Differentiation aus diesem Prozeß einzubüßen" (Heinz 1974: 28 a . E. Fn. 4. Im übrigen Rotter 1985: 47- 55; Kernberg 1985: 58-77). Der vergleichende Blick auf Liebesbeziehungen bedient sich ihrer für das Alltagsverständnis überraschenden Fassung als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, deren Begrifflichkeit an (II.3.) anschließt und für

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die hier verfolgte Absicht wie zugeschnitten erscheint. Dabei richtet sich das Augenmerk freilich in erster Linie auf dort pointiert gefaßte Phänomene, die zum Vergleich sozusagen drängen, nicht auf das Konzept an sich. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß Liebesverhältnisse soziale Beziehungen, soziale Systeme mit der intensivsten personalen Orientierung sind. Es werden prinzipiell alle Eigenschaften einer Person gerade in ihrer Individualität bedeutsam. Diese Intimverhältnisse müssen also dem gerecht werden, was Personen in ihrer Individualität von ihnen erwarten. Ihr sozialer Zusammenhalt ist dadurch besonders gefährdet. Deshalb sind Intimverhältnisse auf eine extreme Reduktion angewiesen: Liebesbeziehungen können grundsätzlich nur als Zweierbeziehungen gelingen und sind auch dann noch erheblich konfliktträchtig (Luhmann 1982: 14, 198, 217). Musik demgegenüber wird gerade durch temporäre Ausblendung einer personalen Beziehung grundgelegt und ist trotz ihrer hohen emotionalen Wertigkeit mitnichten auf eine Zweier-Reduktion angewiesen- man stelle sich etwa die Szenerie der Aufführung der (nach der Zahl der Aufführenden so genannten) "Sinfonie der Tausend" von Gustav Mahler, die noch größere Zahl der Konzertbesucher und die Millionen Zuhörer vor, die massenmedial einbezogen sind. Was die Hörenden betrifft, fällt das Thema Konfliktanfälligkeit völlig aus. Kollegiale und persönliche Konflikte unter den Aufführenden gefährden den Bestand von Ensembles und das Gelingen von Aufführungen weit weniger bis überhaupt nicht. Das liegt vor allem am schwerer wiegenden professionellen Engagement der Musiker und an arbeitsrechtlichen Mechanismen, also durchaus in beiderlei Hinsicht an sozialen und nicht an persönlich-individuellen Momenten. Angesichts der Art des Initialproblems für Musik muß man andererseits die soziale Kompetenz, sich in Intimbeziehungen als Person voll einzubringen, besonders hoch- und das heißt ontogenetisch: relativ spät- ansetzen; siebenjährige Wunderkinder gibt es hier nicht (Kernberg 1985: 191; Gilligan 1984: 201 f.). Die Andersartigkeit der Chance, sich als Person voll zu kommunizieren, wird zudem durch folgende Sequenzumkehr zusätzlich pointiert: während bei Musik aus Alters Handeln (Selbstzurechnung des Musikmachens) Egos Erleben (Fremdzurechnung des Hörens) wird, ist bei der Liebe Alters Erleben von Ego Egos Vorgabe für sein Handeln gegenüber Alter (Alter = Geliebte Ir, Ego = Liebender). Dabei ist Lieben nicht nur vor die Aufgabe gestellt, durch Handeln das egozentrische Weltbild des Geliebten zu bestätigen, das man außerhalb der Liebesbeziehung nicht vertreten könnte. Da Handeln Selbstzurechenbarkeit und nicht Unterwerfung voraussetzt, muß der Liebende initiativ sein, dem Erleben des Geliebten ein Stück weit zuvorkommen, um es mitzudefinieren; er muß dies freilich als einer tun, der seine Gewohnheiten und Interessen überschreitet. Der Totalität - nur Du - des persönlichen Versprechens, das zum Lieben gehört, entspricht die Notwendigkeit, daß sich der Liebende mit seinem Handeln jeweils identifi-

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ziert und darüber hinaus dauernde Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft verspricht, Verläßlichkeit im Engagement für die Beziehungsdynamik. Schließlich ist häufiger Wechsel der Positionen des Geliebten und Liebenden angesagt, weil die interindividuelle Differenz durch die Unterschiedlichkeit der Perspektiven von Erleben und Handeln noch verstärkt wird. Das Risiko, daß der Handelnde die Erwartungen des Erlebenden verfehlt, ist deshalb sehr groß und wird durch gleiche Verteilung der Positionen auf der Zeitachse geringer (Luhmann 1982: 24-28, 44 f., 219 f.). Dieser strukturell in Liebesbeziehungen angelegte Druck, die Positionen des Liebenden und des Geliebten permanent zu wechseln, findet bei der Musik keine Entsprechung. Im Gegenteil, gerade in unserer Musikkultur ist die Festlegung auf die Rollen des Musikmachens und -hörens eine zwar hin und wieder problematisierte, aber dennoch fest etablierte Produktionsbedingung, nicht nur, was die Qualifizierung musikalischer Angebote, sondern auch, was die Qualifizierung des Hörens (Kennerschaft) angeht. Die Möglichkeit, entweder die Rolle des Erlebenden oder die Rolle der Handelnden zu wählen, erlaubt zugleich, sich für ein relativ streBfreies (Hören) oder ein stressiges Verhältnis zur Musik, was anspruchsvollere Musikdarbietungen betrifft, zu entscheiden. Und für den Handelnden taucht nicht das Problem der bedrohten musikalischen Handlungsfreiheit auf: er setzt den Anfang der Sequenz, ohne als Komponist oder Musiker Schwierigkeiten zu haben, das, was er tut, sich zuzurechnen. Schon die größere Eindeutigkeit der Selbstzurechenbarkeit läßt vermuten, was angesichts der vergleichsweise diffusen Erwartungen des Publikums, denkt man an den Geliebten, offenbar ist. Die Individualisierungschancen des musikalisch Handelnden sind größer, obwohl musikalische Kommunikation nicht (primär} personorientiert ist. Auf der einen Seite haben wir die Gleichsinnigkeit einer sozialen Generalisierung, insbesondere eine (traditions)reiche Musikkultur, die Handelnde und Erlebende verbindet, und durch Hochschulen gesicherte Standards der Musikdarbietung, aber auch des Komponierens. Das erlaubt und verlangt Spezialisierung, Probehandeln, Üben und Vorbereitungmusikalischer Angebote, mit deren gesellschaftlich eröffneter Differenziertheit sich der Handelnde identifizieren kann. Auf der anderen Seite findet sich ein situationsgebundener Handlungszwang in der sozialen Kleinräumigkeit einer Zweierbeziehung, doch mit den identitätsbestärkenden Chancen abweichenden und zumal höchstpersönlichen subkultureilen (privat-weltlichen) Verhaltens. In dieser Konstellation hängen nicht nur die Chancen für die Entwicklung einer differenzierten (Differenz-reichen) Privatwelt an bereits eingebrachter Individualität, weil in sozialen Nahbereichen nur begrenzt Individualität aufgebaut werden kann (Luhmann 1982: 17). Bei der personalen Orientierung ist die Differenz der beteiligten Individuen auch die einzige (primäre) Differenzierungsvorgabe- ohne gesellschaftliche, sondern lediglich mit biographischer Verlängerung.

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In diesem Zusammenhang stellt sich eine weitere Pointierung ein, wenn man die Codierung von Liebe und Musik vergleicht- Code hier verstanden als bewertender Dual wie gut I schlecht oder stark I schwach. Musik als gelungene (vs. nicht gelungene) akustische Selektion ist nur auf die Verläßlichkeit des Produkts gebaut- dies ist die Verläßlichkeit, die von dem Handelnden erwartet wird. Das dem Geliebten in dessen persönlicher Eigenart gewidmete Handeln bedarf nur des Ausweises "persönlich" (vs. unpersönlich), um vom Ausdruck her als ausgewiesen zu gelten; damit das Handeln in dieser Beziehung aber Bestätigungsgewicht haben kann, ist es auf den persönlichen Kredit des Handelnden angewiesen, auf die verläßlich persönliche Verankerung der Liebesadressen (nach Luhmann 1982: 25, 205). Angesichts der Eigensinnigkeit der egozentrischen Welt des Geliebten haben dessen erlebensbedingte Erwartungen (auch) Zumutungscharakter. Das symbiotische Symbol bzw. der symbiotische Mechanismus, der insoweit dennoch zur handelnden Orientierung am Erleben des Geliebten animiert, ist Sexualität. Für diese symbiotische Basis ist einmal charakteristisch, daß sie ohne Darstellungszwang nach außen ihren Sinn in sich selbst erfüllt und intim kultiviert werden kann. Zum anderen steht sie für Unmittelbarkeit und Nähe. Verbale Kommunikation kann sich auf körperliche Berührung beziehen und dadurch intime Eigensinnigkeit gewinnen. Die relative Eigenständigkeit von Sexualität schafft freilich Grenzen der Semantisierbarkeit. Da die persönlichen Privatwelten der Intimbeziehungen vor allem gesprächsweise hergestellt werden, ist die integrationsbedürftige Differenz von taktilem und verbalem Diskurs augenfällig (Luhmann 1982: 31 ff., 36 Fn. 26, 45). Eine solche Differenz gibt es bei Musik nicht. Während in Liebesbeziehungen Poesie durchaus eine eigenwertige Rolle spielen kann (und vor allem konnte), verliert ein Gedicht durch Vertonung seine poetische Eigenständigkeit, wird zu einem Element eines innermusikalischen Zusammenhangs (Luhmann 1982: 171; Kabisch 1988: 90). Musik wandelt sich in der Variante Vertonung nicht zu einem symbiotischen Symbol, sondern behauptet sich vielmehr als eine starke, gegenüber der Dichtung imperialistisch wirkende Kunstgattung. Ihr symbiotisches Symbol hat durchaus eine sexuelle, allerdings prägenitale, nämlich oral- und hauterotische Vorgeschichte. Doch es beruht selber auf einer Transformation dieser Erfahrungen, auf ihrer körperdistanzierenden reaktiven Verarbeitung, die mit der Fetischisierung akustischer Ereignisse einen unwahrscheinlichen Erlebnismodus etabliert: hoch und unmittelbar emotional erlebbare symbiotische Beziehungsdichte, die nicht weiter semantisiert wird und deshalb für semantische Projektionen (Anknüpfungen) entsprechend offen ist. Dies kontrastiert mit dem objekthaften Körperbezug der genitalen Sexualität, dem symbiotischen Symbol bei Liebesbeziehungen (Kernberg 1985: 223, 234). Daß übrigens musikalisches Erleben genital-sexuelles Anschlußverhalten eher unwahrscheinlich macht, zeigt sich besonders dort, wo Sexualität Text- und Kontext-Thema ist. Von

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im Jahr 197 4 befragten jugendlichen Besuchern eines Rockkonzerts bejahten nur 5%, daß sie durch Musik und Show sexuell stimuliert worden seien (Spengler 1987: 93). Doch von grundsätzlicher Bedeutung ist etwas anderes: der halluzinatorischen Befriedigungsunmittelbarkeit des musikalischen Ausdrucks stehen bei Liebesbeziehungen die körperliche Direkt- und Begrenztheit sexueller Befriedigung sowie die mediale Abgesetztheit verbal vermittelter Verliebtheit gegenüber. Die fetischistische Künstlichkeit der Musik verlangt Explizitheit des Ausdrucks, was in Liebesbeziehungen nicht unbedingt nötig ist, ja sogar stören kann. Unabhängig davon ist verstehende Liebe kognitiv so strapaziös, daß es realistischer und befriedigender erscheinen mag, sich nur an ein starkes Gefühl zu halten. Dann unterliegt die Beziehung aber dessen Instabilität (Luhmann 1982: 29). Mit dieser Regressionsform vergleichbar ist der Modus des emotionalen Hörens (Adorno) bei der Musik, allerdings ohne das Problem der Instabilität zuwendungsfähiger Emotionen. Zu einer weitergehenden Regressionsform von Liebesbeziehungen, nämlich daß Sexualität zur Sache selbst wird (Luhmann 1982: 201 f.), fehlt es bei der Musik an einer Entsprechung: der halluzinatorische Effekt ist auf das akustische Medium angewiesen. Zum Kontext eines solchen Vergleichs gehören weitere Fragen, u. a. diese: In welcher Weise beeinflußt es eine Liebesbeziehung, wenn beide Partner Musiker sind, wenn sie gemeinsam bzw. getrennt spielen oder wenn für beide (gemeinsames) Musikhören ein zentraler Punkt ihrer Beziehung ist? Oder was bedeutet es für welchen Musikbdarf, daß- wie Beck I Beck-Gernsheim (1990) darstellen - die Individualisierungsdynamik unserer Gesellschaft Männerund Frauen in Liebesbeziehungen treibt, die an verständlicherweise überzogenen Erwartungen immer wieder scheitern und doch immer wieder gesucht werden? Spielt die darin zum Ausdruck kommende überfordernde Individualisierungszumutung für Erwachsene eine Rolle, die dem Schock der Acht-Monats-Angst ähnelt, was eine markante zusätzliche Funktionszuweisung für Musik wäre, oder ist das zu Intimbeziehungen gehörende Interesse an (modifizierender) Selbstdarstellung für das akustische Medium zu persönlich-körperlich-visuell? b) Gruppe, Musik und Sozialmetaphorik Es ist an Gruppen gedacht, die aus mehr als zwei Mitgliedern bestehen. Da ein Sonderfall von Zweier-Gruppen unter (111.2 a)) bereits behandelt wurde, geht es hier also nur um die erweiternde Abwandlung und Ergänzung einer bereits vorgestellten Konfiguration. In Gruppen überhaupt gilt der Primat der Binnenorientierung mit einer entsprechend starken Indifferenz und Widerständigkeit gegenüber der Umwelt. Anders als bei elementarer Interaktion besteht eine Gruppe auch unabhängig von der Anwesenheit ihrer

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Mitglieder. Doch kommt es auf eine hinreichende Gemeinsamkeitserfahrung unter Anwesenden an- man darf sich nicht zu selten treffen. Anwesenheit bedeutet unmittelbare Wahrnehmung der anderen, die zwangsläufig deren jeweilige individuelle Erscheinung aufnimmt, was freilich eine Stereotypie diesbezüglicher Vorstellungen von den anderen nicht ausschließt. Diese persönliche Orientierung der Mitglieder geht typischerweise nicht so voll auf die Person wie bei der Liebe. Es fehlt schon wegen der Mehrheit der Personen an einer solch exklusiven Ausgangslage. Trotzdem schließt dies ein, daß die einzelnen Mitglieder sich in ihrer jeweiligen Individualität, mit ihren subjektiven Erfahrungen, Interessen und Gefühlen darstellen und dafür erwartbar Aufmerksamkeit gewinnen, daß dies primär thematisiert und handlungsrelevant wird- ganz anders als etwa bei formal organisierten Systemen. Integrationsmodus sind Gefühle wie Sympathie, die nicht nur die Differenzen dieser Interindividualität an sich, sondern auch zugehörige Konflikte überbrückt (Neidhardt 1979: 645-653; ders. 1983: 14, 26). Musikalisches Handeln und Erleben erscheinen insoweit sozial regressiver, weil soziale Beziehungen und ihre Differenzzumutungen als solche ausgeklammert sind. Aus der Perspektive Gefühlskultur kommt man andererseits zu einer gegenläufigen Akzentuierung. Die diffusen sympathischen Gefühle (Wir) in der Gruppe folgen nicht den Differenzen der Individualitäten und Konflikte, sondern leisten ihre integrative Wirkung gerade durch ihre Indifferenz diesen Differenzen gegenüber. Bei der Musik hingegen sind auch weitgetriebene akustische Differenzen (Dissonanzen) typisch darauf angelegt, dafür positive Gefühle differenzierend aufzunehmen bzw. mitzuziehen. Bezüglich ihres Verhältnisses zur Umwelt gibt es sehr unterschiedliche Gruppenkonstellationen, die aber strukturell den gefühlskulturellen Möglichkeiten der Musik nicht näherkommen. Strukturell interessant ist insoweit insbesondere jene Wir-Gefühls-Verdichtung, die mit einer Freund-Feind-Polarisierung einhergeht. Diese eindeutige Differenz mit einer positiv und negativ zuwendenden sozialen Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit wirft zwar ein Schlaglicht auf die höchst regressive Grundlegung von Musik, wo eine akustisch getragene differenzfeindliche Halluzination der Verleugnung sozialer Realität dient. Doch der künstlerischen Differenzierung dieses Allsgangsmaterials steht innerhalb der elementaren Freund-Feind-Differenz eine radikale Differenzverleugnung gegenüber, die gerade auf der "Freund"Seite, also für die Gruppenmitglieder selber prekär ist. Die emotionale Verdichtung des Zusammenrückens ist mit einem Konformitätszwang gekoppelt, für den die Auseinandersetzung mit dem Feind wichtiger ist als die kommunikative Offenheit für die Differenz des Individuell-Persönlichen und der außerdem wegen seiner Repressivität zu diffusen negativen Gefühlen führt, die kommunikativ ausgeschlossen oder negativ bewertet sind. Emotionale Verdichtung und Diffusität negativer Gefühle bilden in unterschiedlicher Verteilung ein unartikuliertes Ampivalenzknäuel, das bei Hinzutreten

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einer Führer-Gestalt Unterwerfungseindeutigkeit gewinnen kann (zu Neidhardt 1983: 27; ders. 1982: 351-378). Von musikbezogenen Fan-Gruppen, die sich aus Jugendlichen zusammensetzen, sei hier nur soviel gesagt, daß sie Musik(repräsentanten) und Gruppe differenzfeindlich kombinieren- sie tauchen ein- und sich damit absetzen, also damit zugleich eine Differenz setzen, die etwa gegenüber dem Elternhaus durchaus emanzipatorisch sein kann. Anfänglich elitär-exklusiv, aber im übrigen gegenläufig präsentiert die Theorie des Streichquartetts parallel zu dessen geschichtlicher Entwicklung ihr Objekt: in höchstem Maße differenzfreundlich und personzentriert. Merkmalsbestimmungen aus dieser Theoriegeschichte lesen sich bisweilen wie eine Idealisierung der Gruppenstruktur als Individualisierungs- und kooperative Höchstleistungschance. Das Zusammenspielvierer solistischer Streichinstrumente nährte von Anfang an Vorstellungen, die sich in sozialen Metaphern äußerten. Zentral ist die Redeweise von einem "Gespräch" unter vier "Personen" oder "Charakteren". Die zugehörige Differenzfreundlichkeit kommt darin zum Ausdruck, daß es heißt, diese Musik verlange "weit mehr Fleiß und Ausarbeitung als sonst, will nette, reine Mittelpartien haben, die mit den Oberstimmen beständig und auf eine angenehme Art gleichsam um den Vorzug streiten". Es geht bei allen vier Stimmen darum, daß "keine der anderen das Vorrecht einer Hauptstimme streitig machen kann". Höchster Kunstanspruch erscheint konstitutiv gekoppelt an die gesprächshafte Intimität der kleinen Gruppe der besonders kompetenten vier Streicher und des kleinen (exklusiven) Kreises musikalisch gebildeter Kenner. Dieses Quartett-" Gespräch" wird unterschieden von der "Versammlung" größerer Instrumental-Ensembles, wo sich die Distanz zu einem (durchaus als gebildet gesehenem) Publikum und die geringere Differenziertheit des musikalischen Ausdrucks funktional verbinden. Es geht diesem Publikum gegenüber lediglich um Beweise der "Kraft im Auffassen und Durchführen einer Idee" in "würdiger Sprache"- man ist an den monologisch-plakativen Aspekt von Massenkommunikation gemahnt (wie er für Musik freilich nicht gilt). Die Personzentriertheit der Vorstellung vom Quartett-"Gespräch" zeigt sich besonders in der technisch wie metaphorisch verstandenen Rede von der "Individualität der ,sprechenden' Stimmen", zu denen bestimmte Personen imaginiert werden sollten (Finscher 1974: 285, im übrigen 279-293 mit entsprechenden Nachweisen. Zur jüngeren Entwicklung des Streichquartetts s. ders. 1965: u . a . 1578 f., 1591). Diese historische Sozialmetaphorik ist immerhin nachvollziehbar und in ihrer Intention verständlich, führt aber überwiegend in die Irre. Sie ist zu musikfern und für ihren Blickwinkel zu individualisierungsfreundlich. Der topos vom musikalischen "Gespräch" verschleiert die Differenz zwischen der Gleichzeitigkeit der "aufeinander hörenden Stimmen", die zudem von homogen handelnden Musikern getragen werden, und dem "realen" Ge-

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spräch, für das ein striktes Nacheinander von Handeln und Erleben, von Sprecher- und Hörerpositionen charakteristisch ist - außerdem mit der Möglichkeit, Nein zu sagen. Stattdessen wird ein differenz-, nämlich individualitätseinschränkender Aspekt mitformuliert, aber nicht mitbedacht. Es wird die Gleichgestimmtheit der kammermusikalisch Versammelten unterstellt (Finscher 1974: 290). Noch musikferner als "Gespräch" erscheint die Metapher "philosophische Ideenreihe", weil dann völlig unerfindlich wird, warum ein Quartett als Musikstück aus der Einheit differenter (musikalischer) Sätze besteht (Finscher 1974: 278; Fisher 1981: 1, 204 f.). Die mit dieser Metapher weitergetriebene Intellektualisierung, zu der das musiknahe Prädikat "gelehrter und künstlicher gesetzt" paßt, blendet den ins Regressive reichenden Kontext völlig aus, wobei die Homogenität von Streichinstrumenten mit ihrer taktilen Bedeutung noch verstärkend hinzukommt (Finscher 1974: 283; Klausmeier 1978: 121). Im übrigen verweist dies auf die oben (11!.2 a)) eingeführte Schönberg-nahe Utopie von höchster Elaboriertheit bei voller Regressivität als Fluchtpunkt. Nicht mitbedacht bzw. -metaphorisiert ist der für solch elaborierte Musik konstitutive Umstand, daß Quartett-Spiel durch Komposition programmiertes Handeln, das "Gespräch" also von einer individuellen Person durch Dispositionen im Kontext (gesellschaftlicher) musikalischer Tradition vorgeschrieben ist. Theoretisch unvermittelt wird über die demgegenüber sekundäre, aber doch gegebene interpretatorische Freiheit der kooperierenden vier Solisten hinaus deren schlußendliche Individualitätsausschließung postuliert. Deren "Eigenliebe dürfte sich nur darauf beschränken, wie sie zusammen Ein schönes Gemälde liefern wollten" (Cambini in Paris 1803 I 4, zitiert nach Finscher 1974: 297). Um ein spezifischeres Vorverständnis für die Individualisierungschancen und- was die gemeinsame musikalische Darbietung betrifft - Differenzierungschancen des Streichquartett-Spiels zu gewinnen, erscheint abermals eine vergleichende Perspektive hilfreich: der Blick auf sozialwissenschaftliehe Forschungsteams mit ihrer Aufgabe der Produktion wissenschaftlichen Wissens. Die besondere Differenzfreudigkeit des wissenschaftlichen Diskurses und die- im Vergleich zum Quartett- primäre Formulierungszuständigkeit könnten besonders positiv zu Buche schlagen. Dem steht freilich die Aufgabe gegenüber, gemeinsam nichtkonkurrierende wissenschaftliche Aussagen zu erarbeiten . Diesbezüglich aufschlußreiche Zusammenhänge hat Neidhardt herausgestellt. Je mehr Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich des Arbeitsinhalts die persönliche Identität der Beteiligten, ihre individuelle Philosophie tangieren, umso diffuser gerät die Auseinandersetzung. Die einsetzende Individualitätsbehauptung geht zu Lasten der Sachorientierung auf die Forschungsaufgabe. Starke sym- oder antipathische Gefühle führen bei Dissens leicht zu einer Konfusion zwischen Inhalts- und Beziehungsaspekten, etwa: Freunden stimme ich auch zu, wenn ich in der Sache mehr oder weniger bewußt anders denke; wen ich nicht mag, dem stimme ich nicht

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zu; wer mir widerspricht, ist mein Gegner, dem gegenüber ich meine Kooperationsbeziehung zurücknehme, von zusätzlich belastenden wie sachfernen persönlichen Abwertungsdiskursen ganz abgesehen. Andererseits stellt der Zwang zu termingerechter Aufgabenerfüllung einen Konsensdruck her, der den Kooperationsmodus der Kollegialität begünstigt, wie er für formal organisierte, also auf Unpersönlichkeit bauende soziale Systeme typisch ist. Der zugehörige (relative) persönliche Rückzug aus der kooperativen Beziehung kassiert ein entsprechendes identifikatorisches Sachengagement und verkürzt die Chancen wissenschaftlicher Erkenntnis (Neidhardt 19 83: 56 0 - 56 6). Beim (professionellen) Streichquartett sind nicht nur wegen der Marktkonkurrenz, sondern auch wegen der Aufführungslogik die Leistungserwartungen eindeutiger. Die Situationslogik der Aufführung besagt, daß nicht zu, sondern in einem Termin - im Konzert direkt unter den Augen und Ohren der Adressaten -eine Höchst- und Gesamtleistung zu erbringen sind. Dies erzwingt nachgerade eine im höchsten Maße - bis in feinste Details stimmige Kooperation. Diese eindeutige und im Vergleich zum Forschungsbericht wegen der Aufführungssituation auch dramatischere inhaltliche Vorgabe wird durch die doppelte Fraglosigkeit der aufgeführten Musikstücke verstärkt. Diese sind als Kunstwerke gesellschaftlich positiv ausgezeichnet und durch Aufnahme in das Repertoire von dem Ensemble konkret mehr als bloß akzeptiert. Das professionelle Spiel setzt jedenfalls mit Aufnahme in das Repertoire eine identifikatorische Auseinandersetzung mit dem Stück voraus, das unter Umständen bereits während des Hochschulstudiums konkret erarbeitet wurde. Hinzu kommt eine Gleichsinnigkeit aus der ins Regressive weisenden emotionalen Basis der Musik, verstärkt durch die taktile Gleichsinnigkeit der Streichinstrumente. Fraglos gestellt sind schließlich die hohen Standards der solistischen Instrumentenbeherrschung. D. h. neben der Spezifität der Leistungserwartungen addieren sich gegenüber Forschungsteams in erheblichem Maße integrativ wirkende Faktoren, welche die Kooperation von der Notwendigkeit eines Differenzmanagements insoweit befreien. Angesichts der Unverzichtbarkeit identifikatorischer Auseinandersetzung, der Selbstbewußseinsbasis solistischer Kompetenz, der Vertretung unterschiedlicher Streichinstrumente (Geige, Bratsche, Cello) und der biographisch unterschiedlichen und doch gemeinsamen starken emotionalen Bindungen an besonders ernsthafte Musik steht zu vermuten: sowohl individuelle Beiträge zur Aufgabe der gemeinsamen Interpretation wie deren kooperationsbereite Diskussion (Ausprobieren) bis definitive Aufnahme mit dem Effekt einer differenzierteren Interpretation sind wahrscheinlicher als ihre Entsprechungen bei sozialwissenschaftliehen Forschungsteams. Die unterschiedlichen vergleichenden Aussagen möchte ich nun nicht durch eine abschließende Zusammenfassung entdifferenzieren. Daß die gewählte vergleichende Vorgehensweise differenzierungs-und damit erkennt-

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nisfreundlicher als Adornos Thematisierung von Musik und Gesellschaft ist, dafür kann Müller als ein aktueller Beleg dienen (1990: etwa 81 ff., 131 f., 135,154,160 f., 164 ff.). WennerhinsichtlicheinerhochkomplexenKomposition Alban Bergs behauptet, Adornos Analysen seien der Komplexität dieses Stückes "zumindest adäquat" (1990: 133), ist das für deren soziologischen Gehalt nicht nachvollziehbar und vielleicht mit deren suggestivem gesellschaftskritischem Gestus zu erklären. Das hindert nicht, sie dem Phänomenbereich selber zuzurechnen, nämlich als eindrücklichen Teil unserer jüngeren Musikkultur zu thematisieren. - Was die strukturtheoretischen Vorüberlegungen zu einer Soziologie des Streichquartetts betrifft, würde empirische Forschung davon profitieren, wenn sich Ensemble-Mitglieder auf die Bildung von Balint-Gruppen einließen (Rotter 1985: 115 f.), deren Reflexionsverläufe diskursanalytisch untersucht werden könnten. So würde auch etwas von den Vorstellungen der einzelnen Ensemble-Mitglieder sichtbar werden können, die hinter ihren kommunikativen Beiträgen oder auch nur Andeutungen während der Proben standen.

IV. Zur kultursoziologischen Bedeutung der Musiktherapieforschung Musiktherapie findet als Einzel- und Gruppentherapie statt. Sie ist hier nicht primär als Therapie, sondern insoweit von Interesse, als in ihr Vorstellungen kornmuniziert werden, die einen Zusammenhang mit musikalischen Äußerungen aufweisen. Für die Inszenierung dieses Zusammentreffens von musikalischen und sprachlichen Äußerungen haben entsprechende Formen der Musiktherapie eine tatsächliche Monopolstellung inne. Im Gegensatz zu Balint-Gruppen für Musiker (III.2 b)) oder auch professionelle Rezipienten wie Musikwissenschaftler oder -kritiker, die lediglich auf einem Wunschzettel existieren, handelt es sich um ein vorfindliebes Feld gesellschaftlich etablierter Praxis, das auch schon für musikpsychologische Forschung entdeckt worden ist (Gernbris 1991: 95). Qua Therapie handelt es sich allerdings um eine erhebliche Abweichung von dem kunstspezifischen Umgang mit Musik. Diese Abweichung wird u. a. darin sichtbar, daß rezeptive Formen der Musiktherapie in den Hintergrund getreten sind, bei denen Musik als künstlerischer Ausdruck eingesetzt wird (in einer Therapiesitzung wird von einem Tonträger etwa ein Satz der Sinfonie eingespielt). Für die vorherrschenden aktiven Formen der Musiktherapie sind freie Improvisationen von Therapeut und Patient charakteristisch, die prinzipiell gewollt musikalischer Ausdruck unterhalb künstlerischer Standards sind (Strobel I Hupprnann 1978: 70 f.; Strobel1990: 315). Die Variante, die sich auf denAusdruck im musikalischen Medium beschränken will und deshalb lediglich die Entwicklung des musikalischen Ausdrucks als unmittelbares therapeutisches Ziel verfolgt (Nordoff I Robbins 1986), gerät dabei schon von der therapeutischen Ausbildung

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her kunstnäher als die hier interessierenden Varianten, bei denen improvisationsbezogene Vorstellungen unter psychotherapeutischem Vorzeichen verbalisiert werden. Die damit vorgegebene vergleichsweise elementare Qualität des musikalischen Ausdrucks birgt freilich-zumal bei genauerem Hinhören und -sehen (Transkripte)- genügend Differenziertheit, um auch über den therapeutischen Kontext hinaus interessant zu sein. Das gilt besonders dann, wenn die therapeutische Kommunikation dem musikalischen Ausdruck einen Eigenwert zuweist, d. h. wenn er nicht den Status eines bloßen Stimulus für die Erweiterung der Selbstwahrnehmung des Patienten hat, deren Verbalisierung dann allein im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Musiktherapieforschung eröffnet darum vor allem dann eine bedeutsame kultursoziologische Perspektive, wenn sie musikalischen wie sprachlichen Ausdruck eigenwertig behandelt und positiv identifizieren kann- etwa mit Kategorien expressiver und kognitiver (selbstreflexiver) Kompetenz. Ein aktuelles und im übrigen sehr begrüßenswertes Forschungsvorhaben von Kächele u. a . zeigt, in welcher Weise eine Fragestellung gleichwohl kultursoziologisch unergiebig gewählt sein kann. Das hängt mit einem insoweit reduktionistischen Krankheitsverständnis und dem Interesse zusammen, entsprechende defizitäre Strukturen im interaktiven wie Ausdrucksverhalten zu identifizieren. So wird Depressivität recht umstandslos ins Musikalische übersetzt (Hypothesen): depressiv Erkrankte werden weniger "reichhaltig" als die Mitglieder der Kontrollgruppe improvisieren, sie werden vergleichsweise isoliert auf sich bezogen spielen, ohne auf musikalisch-dialogische Angebote des Therapeuten einzugehen. Die (mögliche) mediale Eigenständigkeit des musikalischen Ausdrucks wird durch ein expressiv abgemagertes Interaktionsverständnis ausgeklammert, etwa wenn es zu einer zusätzlichen musiktherapeutischen Intervention eines bereits vorher bekannten Patienten heißt, daß er "auch in dem neuen Setting jene Beziehungsmuster etablierte", die der Psychoanalytiker "aus langfristiger Arbeit mit dem Patienten kannte" (Bauer u. a. 1990: 249. Im übrigen Kächele I Czogalik 1991: 17, 24 f.). Ganz andere Landschaften tun sich auf, wenn man einen Schritt therapiedistanzierter nach dem Komplexitätsgrad des musikalischen wie sprachlichen Ausdrucks fragt und danach, was er organisiert und welche Wechselwirkungen es insoweit zwischen beiden Ausdrucksformen gibt. Mayerle-Eise und ich bedienen uns für ein solches Forschungsvorhaben der kognitiven 'Entwicklungspsychologie Piagets, um (pädagogisch wertfrei) den Kompetenzgrad des musikalischen Ausdrucks und seiner Veränderungen zu bestimmen, und der verwandten jüngeren Moralforschung a la Kohlberg, um den Kompetenzgrad der verbalisierten Selbstwahrnehmung auszumachen. Kohlbergs Stufen der Moralentwicklung sind kultursoziologisch deshalb so bedeutsam, weil sie Vorstellungen von Konfliktlösungen betreffen, deren Kontext bei der Primärgruppe beginnt und bis zur (Welt-)Gesellschaft (Kulturkonflikte) reicht. Da diese Entwicklungsstufen Achtung als (Selbst-)Bezie-

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hungsproblem thematisieren, lassen sie sich gut auf den psychotherapeutisch verbalisierenden Teil der Musiktherapie einstellen (Rotter I Mayerle-Eise 1990: 26-34). Trotz einer entsprechenden Tradition halte ich es kultursoziologisch für nicht so spannend, der für sich berechtigten Aufforderung nachzugeben, den körperlichen Ausdruck in die therapeutische Wahrnehmung systematisch einzubeziehen, Musiktherapie also als Musik-Körper-Psychotherapie zu verstehen (Strobel 1990: 330; Kächele I Scheytt-Hölzer 1990: 292 f.). Die Konzentration auf den musik- und sprachmedialen Ausäruck rechtfertigt sich deshalb, weil hier die größeren und deshalb entscheidenden Ausdrucksmöglichkeiten liegen-zumal wo der Körperausdruck durch die Konzentration gerade auch auf den musikalischenAusdruck in seinen Möglichkeiten zusätzlich eingeschränkt ist.

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GESELLSCHAFTLICHE MODERNE UND KÜNSTLERISCHE AVANTGARDE Von Reinhard Kannonier, Linz

I. Begriffe, Modelle, Fragen

AlsPierrede Coubertin 1909 den Modernen Fünfkampf als physische Vielseitigkeitsprüfungfür Männer in den Sport einbrachte (und 1912, wen verwundert's, olympisch adelte), da war das einzig wirklich "moderne" an diesem Wettkampftypus die Pistole, die man zum Schießen brauchte. Als Vorbild diente ihm das Pentathlon der griechischen Antike. Damals war die leibliche Ertüchtigung allerdings eingebettet in das große Götterfest Agon, wo man sich auch in den Disziplinen Wissenschaft, Rhetorik und Kunst maß. Was es noch nicht gab, waren Feuerwaffen im Sport- und statt mit Degen gefochten wurde mit Körpern gerungen. Wenn sich hingegen "modern" als Beiwort zum Fünfkampf auf die Verschiedenartigkeitder Sparten bei gleichzeitiger Zusammenfassung in einem Bewerb bezieht, dann drängten sich Vergleiche mit der Kunst geradezu auf. Denn dort erschienen Vergangenheit und Moderne gleichfalls als Geschwister einer größeren zeitgenössischen Familie. Beispielsweise, um in engster zeitlicher Nähe von Coubertin zu bleiben, in Igor Strawinskys Dreigestirn Feuervogel (1910), Petruschka (1911) und Le sacre du printemps (1913) später wurde aus der Faszination der ferneren Vergangenheit bekanntlich eine Neuauflage des Neoklassizismus. Während also Teile der künstlerischen Moderne der Jahrhundertwende ihre ästhetisch-ideellen Wurzeln in der antiken bzw. in einer archaischen Welt suchten, ist der gesellschaftliche Entwicklungsbegriff Moderne, der so manchen sozial-, geistes- und wirtschaftsgeschichtlichen Theorien der letzten Jahrzehnte zugrunde liegt, ein Produkt wie auch ein Projekt der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Es handelt sich bei den "Modernisierungstheorien" aller Spielarten um ein Entwicklungsmodell, das sich mehr oder weniger gleichzeitig mit dem Emanzipationsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft in Europa entfaltete. Und da es eben ein Entwicklungsmodell ist, harrt(e) es nach wie vor irgendeiner Art von "Vollendung": Das Projekt der gesellschaftlichen Moderne ist, soweit es den Ideen der Aufklärung entsprang, teleologisch. Auch dann, wenn es im Gewand einer "Entwicklung ohne Ende" s•

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auftaucht, wie etwa in Karl Poppers Entwurf einer "offenen Gesellschaft". Und auch, obwohl es selbst viel zur Schärfung des Kritikinstrumentariums an "geschlossenen" teleologischen Konzepten beitrug. Denn die Zielvorgabe für den gesellschaftlichen Fortschritt ist einprogrammiert: es ist die Rationalität als im Individuum verankerte, aber allgemein gültige (=verbindliche) Summe von Denkregeln, die die ökonomischen, politischen, juristischen und letzten Endes auch kulturellen Kommunikationsformen der "Gattung Mensch" bestimmen sollen. Selbstverständlich haben in diesem Modell auch Emotionalität, freie Phantasie, Aggressionspotentiale oder andere "Irrationalismen" Platz; entscheidend ist nur, daß sie langfristig von der Vernunft kontrolliert werden können. Da kann es dann schon vorkommen, daß "Unfälle" passieren, daß auf dem endlosen Weg zuweilen die Kontrollinstanz "Ratio" versagt. Der Nationalsozialismus ist wohl das schrecklichste Beispiel für einen derartigen "Unfall", und doch ist er für viele Modernisierungstheoretiker zugleich ein Bestandteil des verschlungenen Weges, den die Moderne geht- gewisse Aspekte technologischer oder wirtschaftlicher Art werden durchaus als Teil, ja Beschleunigung des Modernisierungsprozesses interpretiert. Letztlich aber, und das ist entscheidend, wäre die Flexibilität und Integrationsfähigkeit von menschlicher Vernunft groß genug, um sich mit Hilfe von "trial and error" auf der generellen Fahrbahn "Fortschritt" weiter nach vorn zu bewegen. Mit dem Instrumentarium der Kritik am jeweiligen status quo im Reisegepäck, aber stets immanent im Projekt: das Fahrzeug bleibt auf der Straße, auch wenn aus dem benzinfressenden Auto ein Solarmobil wird. Tatsächlich ist diese Straße breit genug, um Alternativentwürfen Platz zu bieten. Ich erinnere nur an Ernest Callenbachs "Ökotopia" (Callenbach 1975), an jene Gesellschaft, die sich aus dem Modernisierungsprozeß der USA ausklinkte, um einen eigenen, ökologisch und sozial verträglicheren zu versuchen: in Wirklichkeit bewegte sich auch dieses Modell innerhalb der Tradition der Aufklärung und ihrer Logik. Die Vernunft der Einwohner Ökotopias läßt zwar größeren emotionalen Spielraum zu und orientiert sich stärker an Werten wie Solidarität, Verantwortungsbewußtsein gegenüber Mensch wie Natur usw.; ihre Rationalität ist aber vielleicht näher an der "klassischen" Aufklärung als manche ihrer früheren und späteren historischen Ausformungen. Dazu muß gesagt werden: selbstverständlich gibt es Verschiebungen an Präferenzen und sogar Grundwerten innerhalb des Systems der Modernisierung- beispielsweise zwischen industriellem Wachstum und Ökologie. Schon knappe zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Callenbachs Buch aber wird deutlich: die Ökologiebewegung verliert zunehmend den Nimbus einer emotionalen Sekte, der man rational auf die Sprünge helfen muß; ihre Kritik an der industriellen Modernisierung wurde einerseits selbst rationaler im Sinne oben erwähnter Logik, anderseits wird sie vom breitenmainstreamder Moderne integriert. Der Markt als derzeitige ultima

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ratioder Geschichte ist scheinbar anpassungsfähig genug, um offensichtliche Fehlentwicklungen korrigieren zu können. Von da aus ist paradoxerweise der Schritt von "Modernisierungstheorien" zu den "postmodernen" Theorien vom "Ende der Geschichte", von der "postindustriellen Gesellschaft", vom endgültigen Sieg der Ratio von Angebot und Nachfrage sehr klein, obwohl dazwischen immerhin ein tiefer Spalt liegt, der den Blick in die Zukunft von dem auf die Gegenwart trennt. Man kann derzeit in den Wissenschaften, in der Politik, in der Kultur, im Sport und sogar im Alltag eine verblüffende Sprachmutation beobachten: die Terminologie des Marktes dringt aus der Ökonomie rasch in alle gesellschaftlichen Refugien vor, bis hin in intime, private Bereiche zwischenmenschlicher Beziehungen. Beginnt also ab nun ein ewiger Kreislauf, der das "Projekt Moderne" selbst nur mehr zum letzten Teil der Geschichte erklärt? (Solche Vorstellungen beziehen sich natürlich nur auf die Metropolen, bestenfalls noch auf einige Subzentren der modernen Welt.) Gibt es von nun an keinen "Fortschritt" (als gesellschaftspolitische Kategorie der Moderne) mehr, sondern bewegen wir uns im freien Spiel von kurzfristigen Beliebigkeiten ohne teleologische Entwürfe, ohne vorgegebene Ziele, wie sie von der Aufklärung eingefordert wurden? Oder höchstens mit Zielen, die eigentlich praemodern bzw. Sammelsurien von Versatzstücken aus der Geschichte ohne übergeordnete Theorien sind? Befinden wir uns in der (End-)Zeit des Pragmatismus, des Verwaltens des status quo ohne Utopien? An dieser Stelle tauchen sofort weitere Fragen auf: Wer waren I sind denn die Träger der gesellschaftlichen Modernisierung, welche "Eliten" definieren die Ziele des Fortschritts, sind verantwortlich für den (r)evolutionären Wandel? Haben die traditionellen Träger und Eliten (vorwiegend aus dem Bürgertum des späten 19. und 20. Jahrhunderts) infolge sozialer Veränderungen ausgedient? Treten an ihre Stelle nun statt der politischen "Avantgarden" nach rückwärts gewandte "Retrogarden" wie Nationalisten, Populisten, neokonservative Yuppies und reaktionäre Kleinhäusler? Und was ist mit den Intellektuellen? Haben sie resigniert? Oder finden sie einfach keinen globalen Weg nach vorne, weil es ihn nicht mehr gibt? "Die einzige Möglichkeit nämlich, Bewegung in die festgefahrene Aufklärung zu bringen, besteht darin, das Spielfeld von Mythos und Moderne zu verlassen, zugleich nach rückwärts und nach vorwärts" (Kamper 1987, 43) -wahrlich ein physiologisches wie intellektuelles Kunststück! Oder bedeutet "zugleich nach vorwärts und nach rückwärts", womöglich noch zu gleichen Teilen, die perfekte Aufhebung der Geschichte in der Gegenwart? In der kulturtheoretischen bzw. kulturhistorischen Diskussion um den Begriff Moderne gibt es bedeutend weniger, vor allem weniger folgenreiche Fangeisen als in der sozialen und politischen Entwicklung. Zeitlich beschreibt die künstlerische Moderne eine jüngere, kürzere Periode. Je nach Position bewegt sich ihre Geburtszeit zwischen ca. 1870 und 1910. Zweifellos

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hängt diese Bestimmung auch von der Kunstsparte ab, um die es geht. Viel eindeutiger als in anderen Bereichen der Modernisierung wurde zudem ihr definitives Ende verkündet: nach einer Lebensdauer von etwa einem modernen Menschenalter (70-80 Jahre). Die künstlerische Moderne in der Architektur, der bildenden Kunst, der Malerei und der Musik gilt bereits als kulturhistorische Epoche, in deren Nachfolge derBegriff "vorwärts" eigentlich keinen Sinn mehr ergibt - niemandem würde es allerdings einfallen, in Anbetracht des herrschenden Eklektizismus (was durchaus auch im Sinne von "kunstvoll verschmelzen" verstanden werden kann) deshalb vom Ende der Kunstgeschichte zu reden.

Methodisch bestehen zwischen der gesellschaftlichen und der künstlerischen Moderne starke Affinitäten. Beide stehen für Tradition und gleichzeitig Kritik an ihr; den Bruch einheitlicher, monopolartiger Wertsysteme zugunsten mehrerer "Angebote"; den Anspruch an technologische Perfektion (z. B., was die Handhabung und Entwicklung des "Materials" in der Neuen Musik anlangte). Die Abfärbung der inhaltlichen Linie der Aufklärung auf die künstlerische Moderne (Ratio, Humanismus ... ) ist ebenfalls erkennbar, wenn auch um vieles gebrochener als bei den gesellschaftlichen Modernisierungskonzepten. Aber das liegt wohl in der Natur der Künste selbst begründet. Der Begriff Moderne läßt sich als historische Periode denken, der Begriff Avantgarde hingegen nicht. Er beschreibt weniger eine Periode als vielmehr ein Methode. Im gesellschaftspolitischen Kontext war er zunächst militärischen Ursprungs, bevor er als politischer Begriff systematisch eigentlich nur in Lenins Organisationskonzept (und ab da natürlich in diversen Folgediskussionen bis in die 70er Jahre) entwickelt wurde- bekanntgeworden auch als "demokratischer Zentralismus". (Da stößt man übrigens wieder auf eine erstaunliche zeitliche Parallele: genau in jenen Jahren am Beginn des 20. Jahrhunderts, in denen Lenin die politische Avantgarde-Theorie entwickelte, brachen auch in der Kunst einzelne "elitäre" Zirkel und radikale Individuen aus dem Strom der ihnen zu gemächlichen Modernisierung aus, um diese zu beschleunigen oder gar fundamental zu attackieren. Um eine gerade Linie zwischen beiden Ereignissen zu ziehen, benötigte man allerdings einen methodisch-empirischen Zauberstab.) Mit der Aufklärung hatte Lenins Theorie der politischen Avantgarde nur sehr bedingt zu tun, ja nicht einmal mit Marx' Analyse der bürgerlichen (beginnenden modernen) Gesellschaft. Verkürzt dargestellt basierte sein Avantgarde-Begriff auf einer hochentwickelten Theorie zur Strategie des politischen Kampfes, um ein vorgegebenes Ziel - die Machtübernahme und dann der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft, deren Basiskomponenten im übrigen weitgehend als wirtschaftliche

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=industrielle Modernisierungsstrategien verstanden wurden- zu erreichen, einem rückständigen Massenbewußtsein und der Aufgabe, die Lücke zwischen beiden zu schließen, zumindest punktuell und via einer politischen Eliteorganisation. Löst man allerdings die verwendete Methode von ihren konkreten historischen Entstehungsbedingungen und entkleidet sie ihrer speziellen, an Ort, Zeit und Ideologie gebundenen Terminologie, um in ihr vielleicht doch einen allgemeinen Begriff von politischer Avantgarde zu finden, dann stößt man rasch wieder auf die gesellschaftliche Moderne: Ratio, Entwicklungskonzept (strategisch), Praeferenz der Theorie gegenüber der Spontaneität als Handlungsanleitung, dazu die Bedeutung des "subjektiven Faktors" als Motor von Veränderungen ... das alles sind bekannte Kategorien der Modernisierung. Wie könnte es auch anders sein: für Lenin und die übrige bolschewistische Führung bestand ja die Hauptaufgabe ihrer ökonomisch-politischen Strategie darin, Rußland zu modernisieren - mit anderen Mitteln, als dies die bürgerliche Gesellschaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts getan hatte (also ohne Privateigentum an Produktionsmitteln, planmäßig, mit dem politischen Mittel der "Diktatur des Proletariats", weil im rückständigen Rußland das Bürgertum als sozialer und politischer Träger der Modemisierung kaum vorhanden war usw.), aber mit einem ähnlichen Modernisierungskonzept (Industrialisierung, Wachstum, Bildungsprogramm etc.). Bleibt es also das Schicksal politischer Avantgarden, unabhängig von ihrer jeweiligen Ideologie im großen Käfig der Moderne eingesperrt zu sein? Dort zwar ihren Auslauf zu haben, sogar Sprünge vollführen zu können, um aber letztlich von den biegsamen Gitterstäben immer wieder in den mainstream zurückgeworfen zu werden? Oder braucht die "postindustrielle" Gesellschaft für die Verwaltung des postmodernen Kreislaufs ohnehin keine Avantgarden mehr, sondern hochspezialisierte Technokraten politischer Machtausübung, weil die Zeit der globalen gesellschaftspolitischen Entwürfe aus der Zeit der beginnenden Modernisierung (Humanismus, Sozialismus, Aufklärung . .. ) ohnehin vorbei ist? Dies ist übrigens eine Frage, die auf dieselbe Weise auch an die Postmoderne in den Künsten gestellt werden kann. Ist die Zeit der verbindlichen Regeln, des Suchens nach allgemeingültigen Konzepten, der großen handwerklichen und geistigen Perspektiven endgültig vorbei? Vorweg begrifflich nur so viel: künstlerische Avantgarden definieren sich selbst in der Regel als Antipoden zur gesellschaftlichen Modernisierung (eine Definition, die von den Lexika groBteils übernommen wurde). Zur künstlerischen Moderne besteht ein ambivalentes Verhältnis. Auch dort gibt es Kritik an der Modernisierung- für die Bestimmung (kulturhistorisch) und das Selbstverständnis der Avantgarden ist allerdings der Bruch mit Traditionen wichtiger als ihre - selbst kritisch veränderte - Kontinuität. Während die Moderne im Rahmen der

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"inneren Logik" der Tradition blieb (Schönberg, Strawinsky, Bart6k ... ), sprengt(e) die Avantgarde deren Regeln. Selbstverständlich nicht voraussetzungslos-das wäre undenkbar. Aber wo sich die Avantgarde mit der Vergangenheit in Verbindung bringen ließ, dort geschah das selektiv, sprunghaft, ja willkürlich angepaßt an die Bedürfnisse der je gegenwärtigen Revolte gegen die Tradition (Dada, Teile des frühen Futurismus, Surrealisten ... ). Insofern können Avantgarden nie selbst Träger von kontinuierlichen Traditionen werden, während dies bei der Moderne sehr wohl der Fall war. Ein weiterer Unterschied besteht im Verhältnis zu den kulturellen und künstlerischen Institutionen: die Avantgarde fordert ihre Negation und den Bruch mit allen Einrichtungen, die Moderne akzeptiert deren Kontinuität und sukzessive Verbesserung. Am Beispiel der Neuen Musik traf Hermann Danuser folgende begriffliche Zuordnungen, denen ich im Kern folgen möchte (ohne jetzt darüber zu diskutieren, ob der Begriff "Neue Musik" nicht eigentlich als Teil der Moderne gesehen werden müßte - zumindest, wenn man seine Verwendung in den letzten Jahrzehnten zugrundelegt):

Moderne: "Indem sie die künstlerischen Gestaltungsmittel revolutioniert, stiftet sie eine zusammenhängende Geschichte" (Danuser 1984, 286). Der Begriff "revolutioniert" ist zwar unglücklich gewählt, weil er leicht vergessen lassen könnte, daß die "innere Logik" der Regeln der Vernunft nicht nur in die Zukunft, sondern auch in die Vergangenheit weist. In diesem Sinne könnte man beispielsweise den Serialismus geradezu als extreme Ausformung aufklärerischer Rationalität bezeichnen. Jedenfalls aber scheint klar, daß etliche "Klassiker der Moderne"- der Begriff sagt es schon! -wie Schönberg, Strawinsky, Kandinsky oder Le Corbusier so etwas wie einen kontinuierlichen Teil der Kunstgeschichte stifteten. Avantgarde: Sie vollzieht die Traditionskritik als "isolierten, selbstgenügsamen Akt der Negation, in dem die Kunstüberlieferung ignoriert und die Möglichkeit neuer ästhetischer Erfahrung -losgelöst von jeglichem Geschichtsbewußtsein- erprobt wird" (ebenda). Ein Vorgang, der durchaus auch soziale und psychologische Aspekte aufwies (extreme Individualisierung, Gruppenbildungen usw.). II. Historisch-thematische Aspekte

Den "Aufbruch in die Moderne"- so der Titel der zweibändigen Aufsatzsammlung zur Jahrhundertwende-als "klassische Phase" unserer Gegenwartskulturlegen die Herausgeber A. Nitschke, G. A. Ritter, D. Peukert und R. vom Bruch in die Zeit von 1880-1930 (Nitschke u . a. 1990, 9). Das ist gewiß ein zu langer Zeitraum, wenn man den Ausdruck "Aufbruch" ernst

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nimmt (siehe oben). Nahezu alle künstlerischen Strömungen der 20er und 30er Jahre hatten ihren Ausgangspunkt schon vor dem Ersten Weltkriegdies trifft in besonderem Maße auf die Avantgarden zu, gilt aber auch für den Großteil der Moderne. Thematisch zentrierten sich die künstlerischkulturellen Strömungen um die Jahrhundertwende vorwiegend um "außerkünstlerische" Inspirationsspender wie Urbanität (in einigen Fällen, die mit der Erstarkung politischer Nationalismen zusammenhängen, auch um "Folklorismen"), Technologie, Wissenschaften, Massengesellschaft, Fragen des modernen Lebensstils (siehe Becher 1990) usw. Also um Themen, die mit dem aktuellen Stand der strukturellen Entwicklung der europäischen (später auch amerikanischen) Industriegesellschaft zu tun hatten. Diese wiederum begann- als ökonomischer und dann politischer Aufbruch im 18. Jahrhundert- mit der sukzessiven Auflösung der ständischen Gesellschaften, also mit dem, was den eigentlichen Beginn der "Modernisierung" ausmachte. Es liegt nun auf der Hand, daß dieses 18. Jahrhundert als sozialer Ursprung nicht nur der gesellschaftlichen, sondern auch der künstlerischen Moderne definiert werden sollte. Die, grob gesagt, 100 Jahre Phasenverschiebung zwischen dem gesellschaftlichen und dem kulturellen "Aufbruch in die Moderne" kann man auch an anderen Parametern ablesen. Beispielsweise am Zerbrechen von lange währenden sozialen und ästhetischen Einheiten: wie das Bürgertum wirtschaftlich und mit der Aufklärung den jahrhundertelangen Block sozialer Stände und reglementierender Religion auflöste, so sprengten die künstlerische Moderne und Avantgarde mit einiger Verspätung das Jahrhunderte alte ästhetische Korsett, in dem das Gegenständliche in der Malerei oder der Grundton in der Musik "eingezwängt" waren. In beiden Fällen gingen ab da hegemoniale Instanzen in Brüche und wurden durch deren mehrere, die in der Folge bedeutend kurzfristiger lebten, ersetzt. Obwohl die gemeinsame Einbettung der gesellschaftlichen und künstlerischen "Aufbrüche in die Moderne" im Prozeß der Modernisierung selbst zu vergleichbaren Parametern führt, kann man also keinesfalls von einer zeitlichen Synchronität auf dieser allgemeinen Ebene sprechen. Trotzdem: die Ereignisse um dieJahrhundertwende als zeitlicher Kristallisationspunkt von künstlerischen Turbulenzen können natürlich nicht nur kunstimmanent erklärt werden. Der Prozeß der Modernisierung verlief ja nicht nur regional sehr ungleichzeitig, sondern auch innerhalb von Regionen in Schüben. Ein solch kräftiger, breiter Schub vollzog sich in den letzten Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Er war verbunden mit Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, technologischen Erneuerungen, wissenschaftlichen Entdeckungen, Urbanisierung etc. Die Bevölkerung Deutschlands etwa wuchs von 1871 bis 1914 von 41 Millionen auf 65 Millionen. Städte wie Berlin, Paris, London und Wien wurden zu europäischen Zentren hinsichtlich ihrer Größe, sozialen Differenziertheit und kulturellen Dominanz. Der tech-

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nologische Wandel drang bis in das Alltagsleben der Bevölkerung vor; Auto und Flugzeug, Film und Funk eröffneten für das Leben und die Kunst neue Dimensionen von Zeit und Raum. Dieser ökonomische, technologische und wissenschaftliche Modernisierungsschub zog als Faszinosum oder als Objekt der Ablehnung, direkt oder indirekt, sozial oder ideell die Kunst der Zeit in ihren Bann. Die Moderne reagierte darauf auf ihre Weise: mit der Kritik an überkommenen Formen und Institutionen, mit der "Ausweitung des Materials", mit der strikteren Einforderung von wissenschaftlichen Kriterien in die Kunst, mit sozialem Engagement oder mit Eskapismus. Die Avantgarde mit der Forderung nach Zerstörung der alten Institutionen, mit völlig neuen Material-Mitteln (Maschinen, Motoren usw.), mit totaler Verherrlichung (italienischer Futurismus) oder totaler Ablehnung (Dada) des Krieges. Wie aber reagierten die wichtigsten politischen Führungen Europas (die Träger der politischen Macht) auf den Modernisierungsschub vor der und um die J ahrhundertwende? (Es geht in diesem Zusammenhang, das sei nochmals in Erinnerung gerufen, nicht um Imperialismus-Analysen, um das Aufspüren von "Ungleichzeitigkeiten" oder um ein Nachvollziehen von politischen Entscheidungsmechanismen in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, sondern ausschließlich um Aspekte von strukturellen Beziehungen zwischen Avantgarden, Moderne und dem Modernisierungsprozeß zu bestimmten historischen Schnittpunkten.) Nun, sie reagierten teilweise gar nicht, teilweise stemmten sie sich vehement gegen politische Auswirkungen der wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung, indem sie beispielsweise einen politischen Demokratisierungsschub verhinderten. Jedenfalls reagierten sie nicht so, wie es einer Avantgarde im früher definierten Sinn entsprochen hätte. Sie verstanden die politische Dimension des Modernisierungsschubs nicht, konnten ihn nicht nachvollziehen und legten ihre selbstgegebene Lösungskompetenz schließlich in die Hände der Militärs (womit das Wort "Avantgarde" wieder dort landete, wo es begriffsgeschichtlich herkam). Dieses Versagen der politischen Machtträger führte bekanntlich zu grundsätzlichen Änderungen in Europa, u. a. auch zu einem "politischen Modernisierungsschub" am Ende des Krieges: aus Monarchien wurden Republiken, in Rußland stürzte die soziale Revolution mit dem Zarismus gleich auch demokratisch-bürgerliche Formen politischer Machtausübung mit. Damit war eine wichtige Voraussetzung für geänderte Beziehungen der künstlerischen Moderne zum gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß geschaffen, die rasch zu einer Annäherung von künstlerischer und gesellschaftlicher Moderne führte. In Sonderfällen sogar zu unmittelbaren Synchronitäten, wie etwa im "Roten Wien" der 20er Jahre. Avantgarden gab es in der sogenannten "Zwischenkriegszeit" nur sehr versprengt, vorwiegend in Form "Dadaistischer Chaotologie" (Sloterdijk 1983, 711ff). Die kulturelle Ent-

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wicklungist sicher vor dem Hintergrund der politischen Faschisierung Europas zu sehen, die sehr bald zu defensiven Haltungen gegenüber den traditionellen Institutionen führte- ihre Verteidigung gegenüber den Faschismen schien wichtiger als die Kritik an ihnen. Diese allgemeine politische Rahmenbedingung hat wahrscheinlich mitgeholfen, avantgardistischen Bewegungen den Boden zu entziehen. Einen Sonderfall stellte diesbezüglich die noch junge Sowjetunion dar; es war ein Sonderfall, der über Europa hinaus zum Attraktionspol für künstlerische Avantgarden, aber auch für die Moderne wurde. Dort vollzog sich in dieser Periode ein historisch singuläres Ereignis, nämlich die beinahe-Verschmelzung von politischer und kultureller Avantgarde- zwar nur für kurze Zeit, aber unter regelrechten Laboratoriums-Bedingungen. Künstler und Laien, Individualisten und Massen, die Aufhebung traditionellen SpartenDenkens, Ordnung und Anarchie, Kunst und Agitation - für zwei bis drei Jahre verwischten sich die Grenzen zwischen Moderne und Avantgarde in der Kultur, in gewissem Sinne sogar jene zwischen politischer Moderne I Avantgarde und künstlerischer Moderne I Avantgarde. Es war allerdings ein Sonderfall am untersten Anfang des Modernisierungsprozesses in Europa und deshalb ohne festes Fundament. Ein kurzer Balanceakt zwischen rückständigem Feudalismus und ideologischen, auch künstlerischen Utopien, der mit einem jähen Absturz endete (gründliche Rücknahme des politischen Demokratisierungsprozesses, Erstickung des künstlerischen Flächenbrandes). Die Folgen für das obengenannte vielschichtige Verhältnis waren einigermaßen paradox: die Liquidierung der politisch-gesellschaftlichen Avantgarde der Revolution leitete den raschen Modernisierungsprozeß der Sowjetunion in den 30er Jahren ein, die Liquidierung der künstlerischen Avantgarden machte Platz für prae-, im besten Falle halbmoderne Formen (die dann aber sofort als "bürgerlich-dekadent" disqualifiziert wurden) in der Kunstproduktion. In den west- und mitteleuropäischen Zentren der Modernisierung gab es keine derartigen Synchronitäten bzw. Affinitäten zwischen politischen und künstlerischen Avantgarden; auch nicht zwischen den sozialen und politischen Trägern der Modernisierung und den "versprengten" künstlerischen Avantgarden. In Paris, Berlin, ja selbst in Italien unter Mussolinis faschistischer Diktatur entwickelten manche politische Führungen (nicht selten auf regionaler oder lokaler Ebene) eher Verständnis für die künstlerische Moderne - vor allem dann, wenn sie dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozeß durch Reformbereitschaft positiv gegenüberstanden. Zuweilen führte dieses Verständnis bis zur offensiven Förderung moderner Kunst. Über diese Beziehung zwischen Modernisierung und Moderne in den europäischen Zentren ließe sich thematisch-strukturell einiges sagen. Beispielsweise über das Begriffspaar Fortschritt und Zeit, welches wohl zu den wich-

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tigsten Definitionsmerkmalen der Modernisierung wie der Moderne gehört. Künstlerisch drang es mannigfach auf die eine oder andere Weise in das Schaffen ein- von Arthur Honeggers Pacific 231 bis zu Anton von Weberns "Pausen" zwischen den Tönen, einer Stille, die eigentlich gar keine ist. Honeggers Opus gehört in die Kategorie jener Kunst, die der Faszination von Geschwindigkeit = moderner Technologie Tribut zollte. Sie kann auch als Synonym für den arbeitsteilig bestimmten Wandel der Industriegesellschaft bis hin zum Fließband - ebenfalls ein Faktor von Zeit - gesehen werden. Weberns "Stillstand" der Zeit (besser gesagt: als Teil von Zeit) am anderen Ende der Geschwindigkeits-Skala schloß wohl ein Geheimbündnis mit der Sehnsucht nach Ruhe; mindestens ebenso aber widerspiegelte er einen Prozeß, ja ein paradigmatisches Konzept von konzentriertester Rationalisierung. Die Parallelen zur gesellschaftlichen Modernisierung liegen auf der Hand, ohne daß hier irgend etwas "überinterpretiert" werden soll- nach wie vor geht es nur um das Aufspüren bzw. Schließen von Assoziationsketten, die einen gemeinsamen Hintergrund vermuten lassen, der sich in erster Linie atmosphärisch zeigte und nicht in direkten Kausalketten. Hierher gehörten auch jene Facetten der Rationalisierung, die den Wiener Positivismus (Carnap, Schlick usw.) mit der Wiener Schule (Schönberg, Berg, Webern) gar nicht so heimlich verbinden. Wie überhaupt das "Rote Wien" wohl das bekannteste, auch schlüssigste Beispiel für die Nähe von politischer und künstlerischer Moderne lieferte. Die sozialdemokratische Stadtverwaltung "modernisierte" den sozialen Bereich (Wohnungsbau, Freizeiteinrichtungen usw.) und die Bildungs- und Kulturpolitik (Schulreform Otto Glöckels, Volkshochschulen, Kunststelle etc.) in einer Weise, die den Intentionen der künstlerischen Moderne weitgehend entsprach. Anton von Webern dirigierte Arbeiter-Sinfoniekonzerte, Naturwissenschafter des "Wiener Kreises" arbeiteten für die Stadtverwaltung, berühmte Architekten für den sozialen Wohnbau. Musikalische Werke der künsterlischen Moderne wie Bartoks 1. Klavierkonzert, Bruchstücke aus Bergs Wozzeck oder Janaceks Sinfonietta wurden im Rahmen von ArbeiterSinfoniekonzerten uraufgeführt - im Wiener Konzerthaus. Auch das war kennzeichnend für die Moderne: die Institutionen der (vorwiegend bürgerlichen) Kulturtradition blieben unangetastet. Man wollte sie "nur" für die Allgemeinheit (insbesondere für die Arbeiter) öffnen. "Deine Idee: wir werden sie erfüllen. Das dankbare Proletariat", stand auf einem Plakat zum 100. Todestag Beethovens 1827. Politische Führung und künstlerische Moderne vereinten sich im Bewußtsein, das legitime Erbe der Aufklärung anzutreten, die wahren Repräsentanten der Moderne zu sein. Dieser Rahmen verband scheinbar feindliche Geschwister miteinander: ob Agitationskunst oder Schönberg, ob "angewandte Musik" oder moderner "Folklorismus", ob Eisler, Weill, Bart6k oder Webern, ob Bauhaus oder HirschfeldMacks "Reflektorische Farbenlichtspiele" - ihr Wirken erfolgte im Selbst-

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verständnisder Moderne, die ab den 30er Jahren an den Rändern zu bröckeln begann, im Kem aber zunächst gegen den Nationalsozialismus, später gegen die spanischen Falangisten und andere faschistische Bewegungen in Europa resistent blieb. Kaum ahnend, daß es gerade der Nationalsozialismus war, der in einigen anderen gesellschaftlichen Bereichen die Modemisierung beschleunigen sollte, während er sie in der Kultur brutal zurückstieß; hoffnungslos, weil sie ohne gesellschaftliche Perspektive blieb (mit Ausnahme jener, die im Stalinismus einen gangbaren Weg sahen). Während also Teile der gesellschaftlichen Modemisierung weiter vorangetrieben wurden, erzwang der kulturelle Kahlschlag insbesondere des Nationalsozialismus eine Unterbrechung in der Entwicklung der künstlerischen Moderne. Deshalb war der Nachholbedarf nach 1945 groß; der Faden wurde dort wieder aufgenommen, wo er gewaltsam abgerissen worden war. In der Musik hieß das in erster Linie bei der Wiener Schule - von dort entrollte man den Faden weiter nach Darmstadt und zum Serialismus. Es war, nach den großen Enttäuschungen mit der Politik, auch so etwas wie ein Rückzug auf die "reine Vemunft" der Aufklärung. Für einige Komponisten schwangen aber noch andere Saiten mit, wie Hans Werner Henze rückblickend feststellte: "Weltbilder und Gefühlssphären, die uns die Geschichtsfälschung der Faschisten vorenthalten hatten", durchaus vergleichbar mit Franz Kafkas emotionalen Rissen und Tiefen in der Literatur (Henze 1979, 15). (Die Entwicklungen in Amerika um diese Zeit können hier nicht berücksichtigt werden. Es muß aber zumindest erwähnt werden, daß sich dort die Beziehungen zwischen Moderne, Avantgarde und gesellschaftlicher Modemisierung anders als ein Europa verhielten.) Es wird kaum verwundem, daß als nächster Querschnitt in der jüngeren Geschichte des Beziehungsgeflechts Moderne I Avantgarde I Modemisierung das Jahr 1968 folgt - als Synonym für das vor allem jugendliche Aufbegehren gegen verkrustete gesellschaftliche Strukturen, das Mitte der 60er Jahre begann (in den USA etwas früher) und bis weit in die 70er Jahre dauerte. Auch damals stand ein- in diesem Fall verhinderter- Modemisierungsschub im Hintergrund der Ereignisse. Allerdings weniger im Bereich von Wirtschaft und Technologie (in den meisten europäischen Zentren herrschte in den 60er Jahren noch die ökonomische Prosperität der langen "Wiederaufbauphase" nach dem Zweiten Weltkrieg), als vielmehr auf den Ebenen von Politik, Bildung, Kommunikation und Kultur. Dort hatte sich ein "Rückstau" gebildet, der von eben jener Prosperität einige Zeit überdeckt werden konnte- für die Kriegsgeneration, die nun an den "Wiederaufbau" geschritten war, galten soziale Sicherheit, Konsum, Stabilität und Ruhe verständlicherweise als gesellschaftspolitische Ziele per se. Die heftigen Proteste der Jugendlichen und Studenten in Frankreich, Italien, Belgien, in der BRD usw. entzündeten sich erstens genau daran und zweitens allgemeiner an der Unfähigkeit der politisch-gesellschaftlichen Machtträger, die neuen,

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kulturellen Herausforderungen des Modernisierungsprozesses (oder, nach den diversen "post"-Theorien, sein nahendes Ende) zu erkennen, geschweige denn Lösungs- oder Änderungsansätze anzubieten. Obwohl die Voraussetzungen in den Ländern des Ostblocks natürlich anders waren (dort befand sich der wirtschaftliche Modernisierungsprozeß im Bereich der Produktion erst am Übergang von der extensiven zur intensiven Industrialisierung; im Konsumsektor und auf der Ebene der politischen und kulturellen Institutionen herrschten gleichfalls andere Ausgangsbedingungen), stellte sich auch in ihnen die Frage nach dem Wann und Wie der politischen und kulturellen Modernisierung (Demokratisierung) als unmittelbares Problem, an dem sich die Protestbewegungen orientierten. In der CSSR, in Ungarn, Polen und keimhaftsogar in der Sowjetunion. Der Modernisierungsprozeß und das globale Kommunikationsnetz, das er aufgebaut hatte, waren mittlerweile so weit entwickelt, daß sich strukturelle Reibungsflächen tatsächlich global äußern konnten. Deshalb gab es um 1968 eine Verbindungslinie zwischen Paris und Prag, ja selbst zwischen Mexico-City, Tokio, Chicago und Berlin. Nichts war verfehlter als jene dümmlichen Interpretationen, die die westlichen Protestbewegungen als verlängerten Arm, als fünfte Kolonne der herrschenden politischen Kaste im damaligen Ostblock bezeichneten. Einen derartigen "Arm" gab es schon gar nicht "objektiv", wenn dieser Begriff hier überhaupt einen Sinn haben soll. Denn "objektiv" (besser: auffindbar in den Strukturen der Modernisierung in den 60er und 70er Jahren) verband einen amerikanischen oder französischen mit einem tschechoslowakischen Studenten mehr Gemeinsames als ein Frankfurter APO-Mitglied oder einen Aktivisten der Österreichischen "Aktion" mit dem Politbüro der KPdSU (was sich später an politischen Gruppen entwikkelte, steht auf einem anderen Blatt, das aber ebenfalls alles andere als einfärbig war). Die weltweite "spontane" Protestbewegung gegen die sozialen, politischen und kulturellen traditionellen Institutionen und deren Träger war jedenfalls primär eine Kulturbewegung (auch in Frankreich und Italien, den einzigen westeuropäischen Ländern, wo die "68-Welle" kurzzeitig breitere Teile der Bevölkerung, insbesondere die Arbeiter, erfaßte). Der Blick auf diesen Umstand sollte nicht durch die Terminologie der Protestbewegungen verstellt werden. Zweifellos könnte man die Protestbewegungen um 1968 im Sinne der früher aufgezählten Kriterien kulturelle Avantgarden mit gesellschaftspolitischen Ansprüchen nennen. Sie hatten längerfristige gesellschaftspolitische Perspektiven, großen Theorieeinsatz zur Formulierung auch politischer Tagesziele, traten für die Abschaffung traditioneller Institutionen ein und machten alternative Vorschläge (z. B. Wohngemeinschaften statt Kleinfamilien, Emanzipation der Frauen statt Männerherrschaft, offene "teach ins" und spontaner Aktionismus statt ritualisierte traditionelle Formen kollektiver und individueller Willensäußerung usw.). Es handelte sich außerdem um

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eine Avantgarde ohne Chance auf gesellschaftliche Führungsfunktionen, ohne Chance, ihren alternativen Entwürfen längerfristige gesellschaftliche Wirksamkeit zu verleihen und damit auch ohne Chance, eine eigene Tradition zu stiften - auch dies hatte sie also mit früheren Avantgarden gemein. Dennoch spielte sie gewiß die Funktion eines Ferments für den gesellschaftlichen Modernisierungsschub, der ohne Protestbewegungen zumindest später und langsamer vor sich gegangen wäre und auf den sie indirekt auch inhaltlichen Einfluß nahm (Reformperiode der 70er Jahre). In den 60er Jahren entstanden nach längerer Unterbrechung in Europa auch wieder künstlerische Avantgarden. Sie entfalteten sich in einer Art Wechselwirkung mit der kulturellen Avantgarde, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen auf dem Feld der sogenannten Hochkultur. Boulez forderte dazu auf, die Opernhäuser zu vernichten, Luigi Nano ging mit Abbado und Pollini in Fabriken, um die Kunst zu den Massen zu bringen- sie beschritten also den umgekehrten Weg, den die künstlerische Moderne der 20er Jahre versucht hatte, nämlich die "Massen" in die Theater und Konzertsäle zu bringen. In der BRD sprengte ein "linksradikales Blasorchester" begrifflich wie künstlerisch die Grenzen traditioneller Hochkultur - nicht nur der bürgerlichen, sondern auch die der Moderne. Der Aktionismus in der Kunst ging dem Aktionismus der Protestbewegung zeitlich sogar voraus, die Performance Art folgte nach. Wichtiger aber für den gesellschaftlichen Wandel waren die künstlerischen Avantgarden im Bereich der populären Kultur, wo die oben genannte Wechselwirkung viel breiter angelegt war. Interessant für unseren Zusammenhang ist, daß die beiden Avantgarden wenig bis gar nichts miteinander zu tun hatten. Denn während die Avantgarde der Hochkultur mit einem Bein fest in der Moderne verankert blieb, woher sie ja auch kam (die institutionellen Ausritte von Boulez und Nano änderten ihre Haltung als Komponisten in keinster Weise), und wohin sie groBteils wieder zurückkehrte, griff die Avantgarde der populären Kultur nicht nur die Institutionen, sondern auch die Hochkultur grundsätzlich an. Die Konzerte der legendären Pop-Avantgarde (Beatles, Rolling Stones, Doors etc.) und die ebenso legendären Massenveranstaltungen (Woodstock, Isle of Man, Fehmarn usw.) entsprachen, funktional betrachtet, viel eher den künstlerischen Avantgarden der Zeit vor bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg als die Avantgarde der Hochkultur. Sie waren antiinstitutionell (allein schon durch die Form der open airs, aber in erster Linie natürlich wegen der Ablehnung traditioneller Institutionen), gegen die gesellschaftliche Modernisierung gerichtet, insbesondere gegen deren Auswirkungen auf die Formen zwischenmenschlicher Kommunikation (die Kritik an der "Kälte der Moderne " war übrigens eine durchaus alte und immer wieder verwendete Formel. Mit einigem Wagemut könnte man schon bei Schuberts "Winterreise" beginnen; der Bauhaus-Kubus wurde "Gefriermaschine" genannt, Sloterdijk spricht vom "vereisten Ich" usw. - vgl. dazu

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Lethen 1987, 282ff), und schließlich lehnten sie die traditionelle Einteilung von Hoch- und populärer Kultur, von Eliten- und Massenkultur oder wie immer die Unterscheidungen definiert wurden, ab. Die Nähe zum frühen Futurismus oder zu Erik Satie ist augenscheinlich, auch wenn sich etwa in der Kaufhaus-Musik Saties und ganz besonders in den Geräuschinstrumenten der Futuristen ein Naheverhältnis zur Modernisierung spiegelte. Der alltägliche Sprachgebrauch hat sich seit den 60er Jahren übrigens auf eine klare Unterscheidung eingependelt: "moderne Musik" ist populäre Musik, auch wenn sie schon Jahrzehnte alt ist, "klassische Musik" ist "alte" Musik im Sin.n e von Hochkultur, selbst wenn sie erst gestern komponiert wurde. Jedenfalls definierte sich das Verhältnis der kulturellen Avantgarde mit gesellschaftspolitischem Anspruch zur künstlerischen Avantgarde der 60er und 70er Jahre fast ausschließlich über die populäre Kultur, während die Beziehung der "politischen Moderne" (Reformpolitiker wie Palme, Brandt, Kreisky u. a.) zur künstlerischen Avantgarde der Hochkultur enger war als zu der der Populärkultur. Und heute? Die Situation ist ambivalent, aber keineswegs so trostlos, wie Theoretiker der künstlerischen Moderne fürchten. Die kulturellen Avantgarden der 60er und 70er Jahre sind verschwunden oder integriert. Weit und breit sind keine Bewegungen auszumachen, die ähnlich globale, zukunftsorientierte Perspektiven verfolgten - weder auf der Linie der Moderne, wo die Ideologie des freien Marktes derzeit im Kreis läuft, noch als Alternative zu ihr. Feststellbar ist hingegen eine Rückorientierung auf das 19. Jahrhundert, politisch wie kulturell. Begriffe wie Nationalismus, Populismus, Neokonservativismus oder Fundamentalismus haben Hochkonjunktur und machen das historische Reservoir deutlich, aus dem das geistige Rüstzeug geholt wird. Die antimodernen Strömungen in der Kunst definieren sich ebenfalls nicht im avantgardistischen Sinn, sondern entweder als Postmoderne, als Neo-Strömung (Romantik, Impressionismus, Strukturalismus . . .) oder als "künstlerischer Pluralismus" in allen Spielarten. Jürgen Habermas stellte diesbezüglich 1981 einige in der Folge vieldiskutierte Fragen: worin besteht der Zusammenhang von politischem Konservativismus, kulturellem Eklektizismus, Modernität und Antimoderne? Und vor allem: wo ist der Punkt, an dem die Postmoderne zur Gegenaufklärung wird (Habermas 1981, 3-14)? Gute zehn Jahre später muß man diese Fragen teilweise schärfer, teilweise differenzierter stellen. Die grundlegenden ökonomischen und politischen Veränderungen der letzten Jahre eröffneten dem Modernisierungsprozeß außerdem zusätzliche Dimensionen- auch der Kritik daran. (Die Argumentation, er wäre am Ende angelangt, wird nun wohl noch schwieriger aufzubauen sein als dies ohnehin der Fall war). Zweifellos sind antiaufklärerische Tendenzen in Kunst und Politik der Gegenwart unübersehbar. Etwa der Populismus, der politisch gepaart ist mit Nationalismen, Ausländerfeindlich-

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keit und Antiintellektualismus, künstlerisch mit ästhetischem Eklektizismus (es gibt dafür bereits den Begriff "ästhetischer Populismus") und mit inhaltlich-formalen Beliebigkeiten, wie man sie etwa an postmoderner Architektur beobachten kann (selbstverständlich auch in anderen Kunstsparten). Die Medaille des künstlerischen Populismus hat aber noch eine andere Seite. Weil sich die Moderne immer mehr vom Publikum isolierte und quasi ein Insider-Dasein führte, suchte die Postmoderne nach einem neuen Verhältnis zwischen Kunst und "Masse". Das führte, ähnlich wie zur Zeit der europäischen Avantgarde der 60er Jahre, u. a. zur Einebnung des Walls zwischen Hoch- und populärer Kultur, wenn auch aus anderen Motiven. Ein markantes Beispiel dafür ist die (post)moderne, künstlerische Produktwerbung. In den USA, wo die Entwicklung der Postmoderne in den 60er Jahren ganz andere, sogar avantgardistische Züge trug, war diese Suche nach einer neuen Beziehung zur Massenkultur keineswegs von "populistischen" Kriterien geprägt. Nach Huyssen war diese Postmoderne sogar eine Avantgarde "etwa auf der Achse Dada-Duchamp-Warhol-Cage-Burroughs", die ihr Potential allerdings am Ende des Jahrzehnts ausgeschöpft hatte. Was folgte, war- ähnlich wie in Europa in den 80er Jahren- einerseits ein Hang zu eklektizistischer Oberflächlichkeit, "anderseits jedoch eine alternative Postmoderne, u. a. im Umkreis der Frauenbewegung und der Kultur von Minderheiten, wo Widerstand, Kritik und Negation des status quo auf nicht-modernistische, nicht-avantgardistische Weise definiert und praktiziert wurde (Huyssen 1986, 17). Und das inmitten des neokonservativen politischen Trends in den USA. Die Habermas'schen Fragen lassen also keine eindimensionalen Antworten zu- weder geographisch, noch zeithistorisch. In Europa ist der Umgang mit der eigenen Vergangenheit auch in der Kunst ohne Zweifel verkrampfter, die nachmoderne Scheu vor grundsätzlichen Positionen oder klaren Inhalten größer. Hier schlug die trockene Seite der modernen Ratio allzu rasch und gründlich in postmoderne Mystizismen, in Kulturpessimismus oder in "ästhetische Populismen" um- von da ist der Weg zur atmosphärischen Intimität mit den politischen antimodernen Strömungen nicht weit. Umso wichtiger ist, daß die kulturtheoretischen Diskussionen diese Ebenen nicht ausklammern, sondern im Gegenteil scharf thematisieren (vor allem innerhalb der Postmoderne selbst). Das wiederum geht nur im Zusammenhang mit der Fragestellung, ob das Projekt der Aufklärung noch genügend Instrumentarium für die Entwicklung von Zukunftsperspektiven zur Verfügung stellt oder nicht. Le Rider nennt vier meines Erachtens ergiebige inhaltliche Stränge für diese Debatte: "In dieser Perspektive betreibt die Postmoderne die Kritik der aufklärerischen Vernunft und ihrer Vorstellungen vom ,vernünftigen' Subjekt. Gleichzeitig erkennt sie sich in jener psychologischen Kritik wieder, die von Nietzsche bis Freud ein Gegenüber der Vernunft entdeckte, das für die Gebrechlichkeit dieses selbstbestimmten Subjekts verantwortlich 9 Beiheft 1 zu Sociologia Internationalis

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sei. Drittens nimmt sie den Prozeß gegen eine zweckgebundene und identitätszentrierte Vernunft wieder auf, der bei Adorno und Horkheimer jene Gewalt aufdeckte, die dem Gegensatz ,Subjekt I Objekt' zugrunde liegt. Und zuletzt bezieht sie sich auf die Sprachphilosophie, die bei Wittgenstein die ,Dekonstruktion' des Subjekts als des Urhebers und Richters seiner eigenen sprachlichen Absichten vornimmt." (Le Rider 1990, 37} Da bleibt also noch genügend Platz für eine Rekonstruktion der Vernunft auf einer anderen Ebene, als es die" Tyrannei der Moderne" (die es allerdings nur sehr kurz gab!) zuließ. Und es bleibt genügend Platz für eine offene, zukunftsorientierte Debatte um das Verhältnis Avantgarde I Moderne I Postmoderne vor dem Hintergrund eines Modernisierungsprozesses, der aller Voraussicht nach ebenfalls qualitative Neubewertungen erfahren wird müssen.

Literatur Becher, Ursula A. J. (1990): Geschichte des modernen Lebensstils, München, H. C. Beck.- Callenbach, Ernest (1975): Ökotopia, New York, Winter.- Danuser, Hermann (1984): Die Musik des 20. Jahrhunderts, Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 7, Regensburg, Laaber. - Habermas, Jürgen (1981): Modernity versus Postmodernity, in: New German Critique 22 (Winter 1981). Zit. nach Andreas Huyssen 1 Klaus R. Scherpe (Hrsg. 1986), Postmoderne, Hamburg, rowohlt. - Henze, Hans Werner (1979): Exkurs über den Populismus, in: H . W. Henze (Hrsg.), Neue Aspekte der musikalischen Ästhetik I, Frankfurt, suhrkamp. - Huyssen, Andreas (1986), Postmoderne- eine amerikanische Internationale? In: A. Huyssen I K. R. Scherpe (Hrsg.), s. o. - Kamper, Dietmar (1987): Aufklärung - was sonst? Eine dreifache Polemik gegen ihre Verteidiger, in: D. Kamper I W. van Reijen, Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt, suhrkamp. - Le Rider, Jacques (1990), Das Ende der Illusion, deutschsprachige Ausgabe, Wien, Österreichischer Bundesverlag. - L ethen, Helmut (1987): Lob der Kälte. Ein Motiv der historischen Avantgarden, in: D. Kamper I W. van Reijen, s. o. - Nitschke, August I Gerhard A. Ritter I Detlev J. K. Peukert 1 Rüdiger vom Bruch (Hrsg.,) (1990): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930, 2 Bde., Hamburg, rowohlt. - Sloterdijk, Peter (1983): Kritik der zynischen Vernunft, 2 Bde., Frankfurt, suhrkamp.

ZWEITER TEIL

Theoriegeschichte, exemplarisch

MUSIK ALS THEMA BEI GEORG SIMMEL UND MAX WEBER Von Horst Jürgen Helle, München

I. Vorbemerkung Da weder Georg Simmel noch Max Weber als Musikwissenschaftler gelten wollten, muß es für beide ganz selbstverständlich gewesen sein, über Musik zu schreiben wegen eines Interesses, das über die Tonkunst selbst hinausging. Sie wurde ihnen zu einem Demonstrationsfeld, auf dem eine Hypothese getestet, eine Methode erprobt werden sollte. Simmel arbeitete an einer Philosophie der Formen - Ernst Cassirer nach ihm an einer Philosophie der Symbolischen Formen - als einem dritten Bereich zwischen Subjekt und Objekt: Das Kunstwerk ist immer eine Objektivierung des Subjekts und bekommt dadurch seinen Platz jenseits der Realität , die am Objekt für sich oder am Subjekt für sich haftet. Sobald es nun die Reinheit dieser Jenseitsstellung aufgibt, sei es um bloß ein Objekt darzustellen, sei es um bloß das Subjekt anzusprechen, so gleitet es in eben diesem Maß aus seiner spezifischen Kategorie in die der Realität. (Simmel 1919: 29)

Dieses Zurückgleiten in hörbare Klänge der Wirklichkeit, die nur noch ein Jubeln oder Schluchzen aber keine Musik mehr sind, oder - je nach der Denkrichtung - es noch nicht sind, diese Faszination von dem Prozeß, in dem aus dem Leben einem autonomen Formenreich etwas hinzugefügt oder fortgenommen wird, veranlaßt Simmel, über Musik zu arbeiten. Max Weber wird-trotzüberzeugender Korrekturen durch Martin Albrow (Albrow 1991) und andere- überwiegend als der Theoretiker der Rationalisierung gelesen. Für ihn ist Musik ein Beispiel, an dem er demonstrieren möchte, daß bestimmte Schritte der Rationalisierung nur im Abendland vollzogen wurden. Aber außerdem will er zeigen, daß sich die eigenständige Form dieser Kunst dort wie überall sonst der restlosen Erfassung durch vernünftige Systematisierung entzieht. In der Musik finden sich mathematisch beschreibbare Regelmäßigkeiten, doch die Kunst selbst bleibt mindestens mit einem nicht-rationalen Rest unfaßbar. Simmel ist dazu geneigt, den Prozeß der Schaffung von Kunst in Analogie zur Konstruktion wissenschaftlicher Theorien zu sehen. Das illustriert er an

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der Arbeit des Historikers, die der unternimmt, um die "historische Wahrheit" jenseits von Subjekt und Objekt hervorzubringen: Die historische Wahrheit ist keine bloße Reproduktion, sondern eine geistige Aktivität, die aus dem Stoff- der als innerliche Nachbildung gegeben istetwas macht, was er an sich noch nicht ist, und zwar nicht nur durch kompendiöses Zusammenfassen seiner Einzelheiten, sondern indem sie von sich aus Fragen an ihn stellt, das Singuläre zu einem Sinne zusammenfaßt, der oft gar nicht im Bewußtsein ihres ,Helden' lag, indem sie Bedeutungen und Werte ihres Stoffes aufgräbt, die diese Vergangenheit zu einem ihre Darstellung für uns lohnenden Bilde gestaltet. (Simmel 1923: 55)

Diese Beschreibung einer wissenschaftlichen Tätigkeit hat deutliche Anklänge an künstlerisches Schaffen. Während Simmel die Musik unt~rsucht, um Parallelen zwischen Kunst und Wissenschaft zu finden, demonstriert Weber an der Musik, an welche Grenzen die wissenschaftliche Erfassung von Kunst stößt. FürSimmelist auch die Wissenschaft eine Kunst; für Weber kann die Kunst nicht zur Wissenschaft werden. II. Georg Simmels Studien über Musik Als Beispiel für eine abwegige Vorstellung von dem "natürlichen Charakter" der Musik zitiert Simmel den britischen Musikhistoriker Charles Burney, der 1789 schrieb: Music is an innocent luxury, unnecessary indeed to our existence, but a great improvement and gratification of the sense of hearing. (zitiert bei Simmel 1882: 281).

Simmel weist "das flach rationalistische Wesen der psychologischen Untersuchungen des vorigen Jahrhunderts" (also des achtzehnten) (ebd.) zurück und beschreibt statt dessen die Musik als Medium für die Übertragung von Gefühlen. Sie leistet so die Ablösung der Emotionen von der Erfahrungsebene rein individueller Subjektivität und deren Verankerung im Bereich der Wechselwirkung, also im Medium selbst, Das wird auf dem Wege über Gestaltung oder Formung erreicht, und Simmel schreibt über die romantische Musik seiner Zeit: Die jetzige Musik erregt, verglichen mit jener einfachsten, eine solche Fülle von Gefühlen verschiedenster Art, daß eine gewisse Ausgleichung unter ihnen durch Hemmungsverhältnisse und damit Objektivität resultiert. (Ebd.)

Simmel stellt den Fortschritt der Musik dar als allmähliches ,Abwerfen' des natürlichen Charakters (ebd.), das die Annäherung an das "Ideal als Kunst" (ebd.) möglich macht. Den Prozeß der Kunstwerdung deutet er an mit dem Begriff des Erreichens von "Objektivität" (ebd.: 282), doch dieser Vorgang der Distanzierung vom spontan empfindenden Subjekt darf nicht in der Entl)tehung eines abgetrennten Objekts enden:

Musik als Thema bei Georg Simmel und Max Weber

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Nicht als ob die Gefühle, oder auch nur die heißen und leidenschaftlichen aus der Musik verschwinden, sie nicht mehr anregen und nicht mehr von ihr angeregt werden sollten. Nur soll die Musik und die Art wie sie vorgetragen wird, nicht mehr direkt aus ihnen resultieren, wie sie es ursprünglich getan, sondern soll nur ein Bild von ihnen sein, zurückgeworfen von dem Spiegel der Schönheit. (Ebd.)

Simmels Interesse konzentriert sich auf den Prozeß der Formung als Entstehung objektiver Kultur aus subjektiven vitalen Emotionen. (Helle 1988: 47) Das Modell, an dem er diese Dynamik durchdenkt, ist das der lebendigen Interaktion zwischen einem Vorsänger und einer vom Gesang emotional angerührten Gruppe von Zuhörern. Auf den Vortrag des einzelnen Sängers reagieren Angehörige der Gruppe durch spontanes Mitsingen: Das ist noch reine Subjektivität, der Gesang des Ersten als solcher ist ganz gleichgültig, wirkend ist hier nur der dadurch hervorgebrachte Affekt, der ebensogut von irgend einer anderen Ursache könnte hervorgebracht sein. Erst allmählich, wenn die Objektivität ein wenig mehr Raum gewonnen ... , wird man, von einein Lied erregt, in denselben Tönen mitgesungen haben. (Ebd.: 286).

Simmel gelingt es, zwei Prozesse widerspruchslos ineinander zu verschlingen: Den evolutiven Prozeß der langsamen Zunahme von Komplexität innerhalb menschlicher Kultur und den Formungsprozeß der Objektivierung vitaler Erfahrungen der Subjekte. Diese Formen entstehen aus gefühltem Leben und erzeugen es auch wieder aus sich heraus: In einem Kreislauf, den Simmel mit dem Erleben beginnen läßt, entsteht aus Erfahrung Kunst, und die führt wieder zu neuen Erfahrungen. An der Musik illustriert er das so: So wie so würde jenes erste Lied zu einer ihm verwandten Stimmung bei den Hörern gefunden haben, und diese wieder zu einem verwandten, wenn auch natürlich nicht ganz gleichen Liede. (Ebd.)

Stimmungen als vital-emotionale Befindlichkeiten werden zu Formen gestaltet und die wiederum erzeugen und bestärken Stimmungen: In diesem Sinne hat die alte Erklärung, daß die Musik nachahmen sollte, wie jede andere K'Unst, ihre Begründung. Sie ahmt die Töne nach, die auf Grund eines Affekts sich der Brust entringen. (Ebd.: 282)

Die Trauerklage im christlichen Totenritual der ostkirchlichen Liturgie ist ein Beispiel für eine Form der Kirchenmusik, die ihren Ursprung aus dem Weinen des Menschen noch durchklingen läßt. 111. Max Webers rationale und soziologische Grundlagen

Der Rationalismus unterwirft die Wissenschaft der Logik des Denkens, das Leben des Menschen verläuft jedoch nach seiner eigenen Logik. Diesen Zwiespalt überträgt Max Weber auf das Verhältnis von Musik als Wissenschaft und Musik als Kunst. Er beginnt mit dem Hinweis auf die Gesetzmä-

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ßigkeiten, denen "alle harmonisch rationalisierte Musik" (Weber 1956: 877) folgt: Die Schwingungszahlen zweier Töne mit dem Abstand einer Oktave verhalten sich zueinander wie 1 : 2. Innerhalb der Oktav gibt es als Tonschritte die Quint (2 : 3) und die Quart (3 : 4). Wenn man nun aber von einem Anfangston aus in "Zirkeln" auf- oder absteigt, zuerst in Oktaven, dann in Quinten, Quarten .. . , so können Potenzen dieser Brüche niemals auf einen und denselben Ton zusammentreffen, soweit man die Pozedur auch fortsetzen möge. (Ebd.) Die Musik unterliegt also Regelmäßigkeiten, die sich in der präzisen Welt der Zahl zwar andeuten, aber nicht exakt abbilden lassen! Dem widerspricht jeder aus den Naturwissenschaften geläufige Umgang mit Mathematik. Hat man in der Astronomie oder Physik die Zahlenrelationen zweier Größen entdeckt, so kann man darauf vertrauen, daß sich die Konsequenzen daraus mit unbedingter Genauigkeit ziehen lassen. In der Musik ist die mathematische Formel nur Idealtyp, sie läßt sich in der gelebten Wirklichkeit der Kunst nicht exakt auffinden. Das ist kein spezifisches Problem der abendländischen Musiktheorie; in der chinesischen Kultur trifft Weber die gleichen Verhältnisse an: Die chinesische Einteilung der Oktave in 12 Lü, welche als gleich gedacht, aber nicht wirklich so behandelt werden, bedeutet nur die unexakte theoretische Interpretation der praktisch verwendeten diatonischen, nach dem Quintenzirkel gebildeten Intervalle. (Ebd.: 888) Die Musiktheorie istangesichtsder lebendigen Vielfalt der Tonkunst darauf angewiesen, schrittweise zu rational formulierten Aussagen über Harmoniebildung zu kommen. Zum Problem der "alterierten" Septimenakkorde schreibt Max Weber: Aus dem Material dieser Akkordkategorien lassen sich dann die vielumstrittenen "alterierten Tonleitern" konstruieren, denen sie leitereigen und von denen ausgesehen sie also "harmonische" Dissonanzen sind, deren Auflösung sich mit den Regeln der . . . Akkordharmonik konstruieren und zur Kadenzbildung verwenden lassen. Sie sind historisch charakteristischerweise in den Molltonarten zuerst aufgetreten und von der Theorie erst allmählich rationalisiert worden. (Ebd. 879, Hervorhebung von mir). Die Erfolgschancen der Rationalisierungsbemühungen sieht Weber als begrenzt an. Er erläutert, daß man "reine Terzen nur unter Mitwirkung der Primzahl 5" konstruieren kann und daß sich infolgedessen der Quintenzirkel nicht auf reine Terzen zurückführen läßt. Dies nennt er ein "Versagen der Rationalisierung", das "auf keinerlei Weise aus der Welt zu schaffen" ist. (Ebd.: 880) Aber die Rationalisierungsbemühungen, mit deren Möglichkeiten Weber hier eher ungeduldig umgeht als Grenzen der Harmonielehre, sind nicht etwa nur als Aktivitäten von Wissenschaftlern nachweisbar, die sich gleich-

Musik als Thema bei Georg Simmel und Max Weber

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samvon außen der Kunst nähern, sie zeigen sich auch innerhalb des Prozesses des Kunstschaffens selbst. Weber deutet die alte und weit verbreitete Pentatonik als "eine Art von Auslese rationaler harmonischer Intervalle aus der Fülle der melodischen Distanzen". (Ebd.: 885) Diese Art zu argumentieren ist für Weber charakteristisch: Die Entwicklung eines Kulturbereichs, hier der Musik, wird - mindestens zum Teil - als Ergebnis einer immanenten Rationalisierungstendenz gesehen. Weber zeigt die Ambivalenzen auf, die in der Kulturgeschichte der Musik mit fortschreitender Rationalisierung auftraten. Eine nicht "harmonisch rationalisierte Musik" (ebd.: 915) hat weit größere Ausdrucksmöglichkeiten im melodischen Bereich, kann Chromatik bis zum Glissando ausbilden und überhaupt "an harmonisch nicht einzuordnenden Intervallen ... Geschmack finden" (ebd.). Doch diesem Vorteil steht der Nachteil gegenüber, daß eben der mehrstimmige Gesang oder jede andere Form harmonischen Musizierens nicht entwickelt werden kann. Die Überschwemmung ganz Vorderasiens mit dem arabischen Musiksystem bedingte endgültig die Abschneidung jeder Entwicklung zur Harmonik oder doch der reinen Diatonik. Nicht von ihr berührt wurde, soweit bekannt, ausschließlich der jüdische Synagogengesang ... (Ebd.)

Wie in seinen großangelegten Studien zur" Wirtschaftsethik der Weltreligionen" betreibt Weber auch in dieser kurzen Arbeit über die Musik Kulturvergleich. Wie dort die Religion die Form ist, an der individuelle Merkmale spezieller Kulturen herausgearbeitet werden, so hier die Musik. Wo es der im Binnenbereich der Musik selbst entfalteten Rationalisierung gelingt, irrationale Neigungen in der Melodik bis zu einer kritischen Schwelle zu bändigen, kann Harmonik entstehen und entfaltet werden. Auf die arabische Musik trifft dies, wie Weber darlegt, nicht zu. Mit dem Anspruch, Harmonik zu ermöglichen, entfällt die Verpflichtung, tonrein zu singen oder zu spielen, damit wachsen die Ausdruckschancen irrationaler Melodik. Ein eher technischer Rationalisierungsschritt, der musikimmanent vollzogen wird oder unterbleibt, ist die Erfindung und Anwendung der Notenschrift: Ein irgendwie kompliziertes modemes musikalisches Kunstwerk ... ist ohne die Mittel unsrer Notenschrift weder zu produzieren nocht zu überliefem noch zu reproduzieren . . . (Ebd.: 911)

IV. Schluß In seiner Studie über die Musik untersucht Max Weber das Thema Rationalisierung auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen: Auf der Ebene der Musikwissenschaft als Harmonielehre und auf der anderen der musikimmanenten

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Entwicklungstendenzen. Daß beide in der historischen Wirklichkeit nicht ohne Einfluß aufeinander sind, ist unmittelbar einleuchtend, doch ebenso selbstverständlich ist ihre Behandlung als getrennte Versuche einer Verwissenschaftlichung. Die Selbstrationalisierung der Musik bringt eine Einengung affektiver Ausdrucksvielfalt mit sich, aber auch die Chance des Übergangs zur Harmonie und zur Notenschrift. Die rationale Harmonielehre stößt an deutliche Grenzen, produziert in manchen Bereichen ihr eigenes Versagen, wenn sie sich der Kunst mit dem impliziten Anspruch nähert, sie zu verwissenschaftlichen. Simmel hat ein anderes Wissenschaftsverständnis als Weber. Für ihn ist Wissenschaft eine Art, die Wirklichkeit zu sehen. Mindestens in diesem Punkt ist sie der Kunst vergleichbar. Daher stellt Simmel die Musik dar als eine Kunst, von deren Arbeitsweise die Kulturwissenschaften lernen können. Weber versteht Wissenschaft als die Pflicht, ihre Gegenstände zu rationalisieren, und zeigt, wo diese Pflicht sich an den Eigenständigkeiten der Musik bricht.

Literatur Albrow, Martin (1991): Irrationality and Personality: Weber's Theory of Needs and Emotions, 25-32 in: H. J . Helle (ed.), Verstehen and Pragmatism, Frankfurt a . M., Bern, New York, Paris: Peter Lang. -Helle, Horst Jürgen (1988): Soziologie und Erkenntnistheorie bei Georg Simmel, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. - Simmel, Georg (1882): Psychologische und ethnologische Studien über Musik, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, Bd. 13, 261-305. - Simmel, Georg (1919): Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig: Kurt Wolff Verlag. - Weber, Max (1956): Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, 877-928, in: Ders., Wirtschaft und Gesellschaft, 2. Halbbd., Tübingen: J . C. B. Mohr (Paul Siebeck).

EINE BEGEGNUNG: ALFRED SCHÜTZ BESINNT SICH AUF MOZART Von Michael Benedikt, Wien Zum Gedenken an meinen Schwiegervater, den Konzertmeister Imre Seilern und Aspang

I. Einleitung Wir vergessen trotz Jean Starobinskis hinreißender Apologie der französischen, dann der italienischen Oper 1 , trotz Alfred Schützens Aufmerksamkeit der Blickrichtung auf Rousseaus Verhältnis von Rezitativ und Orchester, auch der frühen Versuche, sich des Operntextes Rousseaus (Le devin de village) für Bastien et Bastienne zu bedienen 2 , nur eines allzuleicht: Die Jahre des unfaßbar großen Schaffens Mozarts, ohne hier musikgeschichtlich vorgehen und Mazart die Kenntnis des Genius Kants zusprechen zu wollen 3 , fällt in die entscheidenden Schaffensjahre Kants: Mazart besitzt oder kennt gemäß seiner Bibliothek von den "philosophes" allerdings nur Moses Mendelssohns "Phädon", den "Dialog über die Unsterblichkeit der Seele"; sein Leibwerk von früh auf war der pythagoräisch aufgebaute Zahlenalgorithmus von Giovenale Sacchi: "Del Numero e delle Misure delle corde musiche lore corrispondenze." Seine Bildung zur Hoch- und Gemeinaufklärung4 scheint, anders als die seines Vaters- auch nach dem Eintritt 1 Jean Starobinski: Das Rettende in der Gefahr. Kunstgriffe der Aufklärung dt. 1990 Frankfurt am Main; S. 186 ff., 237 ff. 2 Vgl. Alfred Schütz: Mozart und die Philosophen. In: Alfred Schütz. Gesammelte Aufsätze II, Hrsg. A. Brodersen. Den Haag 1972, S . 154 f., sowie Alfred Schütz: Sinn einer Kunstform. S . 282. In: Theorie der Lebensformen. Hrsg. Ilja Srubar. Frankfurt am Main 1981; sowie zu: "Monothetic and polythetic Constitution" zunächst im Gegenzug, dann jedoch in Konkordanz zu Rousseaus Absichten vgl. Alfred Schutz (von 1944): Fragments of the Phenomenology of Music. (ed. F . Kersten) Music and Man. London 1976, S. 29 f., sowie: Ders.: Making Music Together. von 1951 In: Collected Papers. II. The Hague 3 1974 p. 159 ff. 3 Wir können hier weder auf die geschichtlichen und musikalogischen Hundertschaften von Arbeiten aus aller Welt von Constanzes zweitem Mann G. N. v. Nissen bis zu Brigitte Hamanns wunderschönes Bilderbuch eingehen, dies würde den Bogen unserer Betrachtung bei weitem überspannen. 4 Vgl. Hierzu Friedrich Heer: Grundlagen der europäischen Demokratie der Neuzeit, Wien 1956. S. 38- 45; S. 52-60.

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in die Loge "Zur Wohltätigkeit" im Dezember 1784 (später, nach dem "Patent", "Zur Neugekrönten Hoffnung") abgesehen von etlichen Unterweisungen seitens Ignaz v. Borns- nicht bedeutend; somit ist auch sein unangemessenes Urteil angesichts Voltaires Tod 5 nicht zu sehr auf die Goldwaage zu legen. Immerhin aber laufen die drei großen Jahrzehnte seines Schaffens parallel zu einem - trotz mancher Bezugnahme Karl Barths, Alfred Einsteins, Erich Schenks, Michael Fischers und Alfons Rosenbergs, Horst Goerges und Karl Hammers - noch zu wenig beachteten Ereignis: Dies lautet kurz und bündig so: Der Zeitgenosse Mozarts, Immanuel Kant, hat in seiner veröffentlichten Schrift über das Schöne und Erhabene 6 wie in seiner Sammlung von Reflexionen hierzu 7 - gleichwie in etlichen Anmerkungen zur Geschmacksbestimmung und dessenUrteil in der Elementarlehre zu Lust und Unlust wie aus den Vorlesungen und Reflexionen zur Anthropologie in seiner vorkritischen Zeit 8 - die Besonderheit und Souveränität des Verhältnisses zwischen dem Geistgefühl des Erhabenen und dem Geschmack auch des Kunstschönen noch nicht lösen können. Die Unbeholfenheit einmal gegenüber dem Konzept der Kompensation zugunsten allgemeiner Harmonie - Kant nennt dies in guter Tradition seit dem Pseudolonginus das "Prächtige"- und anderseits gegenüber dem Schönen als Symbolisierung des bonum honestum, also des herkömmlich "Edlen", diese Umständlichkeit ist weitestgehend psychologisch, also als Modifizierung gemäß einer sehr restringierten Naturerkenntnis orientiert. Doch auch noch die Voraussetzung der Selbstbeschränkung der Vernunft sogar gegenüber "Ungrund, Urgrund, Abgrund", Basis aller Eigenständigkeit der sinnlichen Gegenwart der Abwesenheit jeglicher mundaner Verbindlichkeit, also das Schreckliche selbst, fällt gemäß der ersten Ablösung von herkömmlicher Apperzeptions- und Moralitäts-Psychologie etwa in jene Zeit der Bekehrung durch Rousseau, da auch Mazart mit dessen Verhältnis von Musikkonzeption, Zusammenwirkung von Orchester und Einzelstimme mit Blick auf den sensus communis eines geläuterten sittlichen Gemeinwesens Bekanntschaft macht. Und Rousseaus Ambivalenz gegenüber einer bloß durch alle Zivilisation wiederherzustellenden Natur (damit womöglich immer noch dem Revolutionskreislauf verfallend) und einer auferstehenden Schöpfung, diesen Zirkel zu durchbrechen, ist eben notorisch, und nicht gelöst. 9 5 Vgl. Brief Mozarts an seinen Vater vom 29. Juni 1778; ebs. u. a . W. Hildesheimer: Mozart. Suhrkamp TB 598, Frankfurt am Main 1980 S. 83 u. ö. 6 Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Akad. Ausg.(=AA) II S. 203 ff. 7 Ders.: Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. AA XX S. 3 ff. s Vgl. Ders.: AA XV, 1, 2. 9 Vgl. das Verhältnis des ewigen Kreislaufes von Natur-Zivilisation-Kultur-barbarische Natur und deren gegenläufigen Durchbruch in: Kultur-Zivilisation-Ethisches

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Aus Kants Versuchen und Einsichten um das Jahr seiner Erweckung durch jenen Vertreter der Gemeinaufklärung knapp vor den 70er Jahren stammt auch das berühmte Bekenntnis "Rousseau hat mich zurecht gebracht" 10: Doch sogar noch gegen diese Erweckung reift in beinah übermenschlicher Anstrengung genau in der Zeit der Lösung Mozarts aus italienischer, dann aber französischer Mode, dann von Gluck und Fux' "Gradus ad Pamassum" bis zum Herbst 1790, also etwa ein Jahr vor Mozarts Tod, ein anderer Durchblick. Erst durch das Zurückdrängen der Willensautarkie als fiktives Maß des Gefühlsausdrucks hier und der Distanzierung der vielfachen Formen der Erkenntnis- und Apperzeptionskompensationen 11 seit Beginn der Aufklärung da, wird das Geschmacksurteil, sein Ursprung wie seine Ausübung, auf philosophischer Ebene endlich wieder zur Souveränität des neu erwachten "Gemeinsinns" befreit.

II. Historische Reminiszenz, das Geschmacksurteil betreffend Es geht hier wirklich weder um die jüngsten kulinarisch-musikalischen Feste im WienerRathaus noch um Rossinis Metamorphose vom Compositeur Gemeinwesen gemäß Kants Auflösung in der bisher unveröffentlichten Wiener Dissertation von Georg Krainer : "Beitrag zur Analyse der Kritischen Philosophie: Kultur Zivilisation-Ethisches Gemeinwesen." Wien 1980, vor allem S. 48 ff., 78 ff. 1o Vgl. I. Kant: AA XX, S. 44, "Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkenntnis u. die begierige Unruhe darin weiterzukommen oder auch die Zufriedenheitbey jedem Erwerb. Es war eine Zeit, da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel, der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht: Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß diese Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschen herzustellen." Vgl. a . a . 0., S. 491, auch die Erläuterung und die Bemerkungen zur Datierung von Gerhar d Lehmann. Wie jedoch Rousseau sowohl in seinen Traktaten über die Sprache wie über die Musik das Gemeinwesen, selbst das verloren gegangene politische, nocheinmal in die Dimension des Verhältnisses von Schönem und Erhabenem eben durch die Kunst hineinhebt, dies hat eigentlich erst in unseren Tagen J. Starobinski, a . a. 0 ., 237 ff., gezeigt und so erst die Nachbarschaft zwischen Kant und Mozart hergestellt. 11 Bekanntlich hat Leibniz schon die "Drei Kränkungen des Intellekts" durch Freuds "Schwierigkeit in der Analyse" durch Kompensation der Entmittelung jedes identifizierbare Individuum im Universum sei Mittelpunkt; durch die selektive Evolution - jedes Lebendige, als Resultat von Molekularkomplex bis zur Reife des allseitig orientierten Weltwesens stehe in einem Kontinuum der übergänglichen Erfassung des Grundes in seiner Existenz, und in fulgurativer Abgrenzung zumal; und schließlich der Genese des Selbstbewußtseins aus dem Un- und Vorbewußten, erlaßbar gemäß der von uns einsichtigen Herkunft und Relevanz bewußter Intentionalität aus den p etites per ceptions vorweggenommen. Die verdrängte praktische Vernunft und deren vernachlässigte Vermittlung mit jenen strukturellen Momenten der Apperzeptionslastigkeit stehen hier weder zur Debatte wie die erst später zu betrachtende anthropologische Dimension.

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zum Koch noch auch zu Biographischem, die Leibspeisen der Familie Mazart oder Kants vor und nach Lampes Abgang betreffend, es geht vielmehr um das Geistgefühl des Erhabenen als Modifikation der unterscheidenden Urteilskraft von Lust und Unlust: selbst wenn diese das Schmecken in Leibnizens Stufenleiter von fruitio bis gaudium, laetitia, felicitas und beatitudo betreffen sollte. Nun fehlt es aber dem Historiker nicht an Anreizen, von Platons Philebos, vor allem aber dem Symposion angefangen, über des Dionys Pseudolongins Betrachtung zum Erhabenen der Spannung Augustins gegenüber dem 6. Buch von De Musica und dem Statut des canticum quod novit zwischen De immortalitate animae und den berühmten Zusammenfassungen aus den Büchern X. und XL der Confessionen herzujagen. Hierzu, namentlich mit Bezug zu Augustin, nur zweierlei: Augustins De Musica fällt in die Zeit zwischen 387, also dem Jahr der Bekehrung durch Ambrosius, und der Verfassung auch von De immortalitate animae (als letzter Teil der Soliloquia), und seiner Rückkehr nach Afrika, wo er 389 das wichtige sechste Buch konzipiert. De Musica liegt also zwischen dem Rückblick auf De immortalitate animae und dem Vorblick in die Verbindlichkeit der Erweiterung des Verhältnisses von farbiger Melodie (der Welt) und mathematischer Rhythmik (der Seele), wie in den Confessionen durchkomponiert. Die Untersuchung in De immortalitate geht analytisch vor, sie internalisiert in mehrstufigen Reduktionsgängen unsere äußere, sinnliche, gesellschaftliche, geschichtliche, zerstreute Lebenswelt in die Innerlichkeit der Spannung von Rede und Gefühlsausdruck, also auch Kunst: Das Medium ist verinnerlichte, also zunächst nicht Weltzeit. Im Sprachgebilde wie im canticum ist Anfang und Ende jedes Ereignisses "ebenso durch Intervalle gebrochen und zusammengehalten, wie im Kunstwerk die Darstellung sich sogar in der Komposition dieser Intervalle verselbständigen kann." 12 Das musikalische Kunstwerk hat nun für Augustinus diese Ambivalenz auszutragen: Für die Zeitanalyse der Seele, deren Rhythmus eben das Zusammenstimmen von Sprache und Musik bedeutet, ist- über die bloß analytisch relevante Rhythmik der Silbenmaße bzw. der mathematischen Ton-Internalisierung des Melodischen hinaus - eine besondere Synthetik eingebracht, dem damaligen Verständnis von Musik als Hymnik oder als bloße Pracht der mundanen Öffentlichkeit oder aber dem "Gemeinen" entsprechend: Für Augustin bringt dagegen synthetisch jeder musikalische Duktus zwei einander ausschließende Momente harmonisch in einem "liebenden Streit" zueinander: das Zerstreutsein der Melodie, welche die Welt ist, und die im Intervall 12 Aurelius Augustinus: De immortalitate animae, in Bd. 2 d. Werke, hg. v. H. Fuchs, Zürich 1954, 3,7 -4,4; S. 208-213. Hierzu M. Benedikt: Figuren und Gestalten des konkreten Übergangs von der "Gemeinschaft des Wir" zu der "Von sich reinen Gesellschaft". In: Dialogdenken- Gesellschaftsethik, Wien 1991, S. 272 f.

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faßbare mathematische Rhythmik der Sammlung, welche die Rückkehr der Seele zu sich in der Maß-Ordnung bedeutet. Dies ist die eine Seite. Die andere Seite hat Augustin jedoch verschärft in den etwa ein Jahrzehnt später erschienenen Confessiones, also um 398, niedergelegt: Hier geht es um eine Erweiterung der oben genannten Aporie, deren Grundduktus sich bis Rousseau durchhalten wird: In dem Maße als die sich aufzehrende Zeitspannung nämlich "fortschreitend geschieht, längt sich die Erinnerung und kürzt sich die Erwartung, bis endlich alles, was Erwartung gewesen, sich erschöpft, wenn mein ganzes Tun vollendet und in Erinnerung übergegangen ist. Und so wie mit dem Liedganzen geht es mit jedem seiner Teilchen, mit jeder seiner Silben; geht es auch mit der szenischen Handlung, von der jedes Lied etwa ein Teilchen ist; geht es mit dem ganzen Menschenleben, dessen Teile alle die Handlungen des Menschen sind; geht es mit der ganzen Geschichte des Menschengeschlechts, von der die Einzelleben doch nur Teilchen sind." 13 Im sechsten Buch von De Musica ist jedoch noch ein zusätzliches Moment angegeben, welches unsere ablehnende Haltung von Augustins Internalisierung14, da schließlich das gelungene cantieuro der Weltzeit (wie auch später in" De civitate dei" und in "De trinitate") nur mehr die Vereinnahmung alles Äußerlichen durch die Innerlichkeit, alles organisierte Zusammenstimmung von Innerlichkeit durch die sich als alleinige Wirklichkeit manifestierende Gottheit zeigt. Allerdings steht bei all dieser heilsegoistischen Bedenklichkeit doch eine unübersehbare Großtat in Augustins De Musica, besonders im 6. Buche, fest, welche nicht bloß in der Herauslösung der Musik aus den artes liberales besteht: Augustin hat über die Komposition der Zusammenstimmung von Verinnerlichung des Rhythmus und der im Intervall gebrochenen Melodie zerstreuter Weltlichkeit hinaus noch eine entscheidende Differenz übriglassen: Die Komposition, also rhythmische Zahlenordnung des Gefühlsausdrucks in Zusammenfassung und Auseinanderspannen von Zeit, bedarf nämlich einerseits einer am Hören und Produzieren zusammenstimmenden Ent13 Aurelius Augustinus: Confessiones. Eingel., übers. u . erl. v. J. Bernhart, München 1966, 28, 38 ff., S. 662 ff. Die analytische Einsicht der Tilgung künftiger Zeit wird auch von Schütz mit Bezug auf die Besonderheit der synthetischen Zeit im musikalischen Kunstwerk gemäß Confessiones XI, 38 festgestellt: "Der Hörer hört also den Verlauf des Musikstückes nicht in der Richtung von der ersten bis zur letzten Note, sondern auch simultan in der umgekehrten Richtung vom letzten bis zum ersten Ton." (A. Schütz: Gemeinsam musizieren. In: Gesammelte Aufsätze II. Den Haag 1972, s. 142) 14 Diese Intemalisierungen gehen bei Augustirr und in der Folge bis in gegenwärtige kirchliche und säkularisierte Traditionen geschlossener Gesellschaften in die Unheilsgeschichte christlich-abendländischen Heilsegoismus ein. Vgl. Hierzu M. Benedikt: Heideggers Halbwelt. Wien 1991. Sowie: Sprachloses Leid und Gottvergessenheit In: Von der Erkenntnis des Leides. Hrsg. A. Bäumer. Wien 1988, S . 36 ff.

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Scheidungsinstanz von Lust und Unlust, welche durch keine andere Instanz (auch nicht durch die berühmte Descartes'sche, Leibniz'sche, Brentano'sche Analogie mit dem "moralement possible" unserer Kontingenz, etwa des unbewußten Zählens) zu ersetzen ist. Anderseits bedarf es aber zur Verbindlichkeit, auch Erweiterung und Verengung des Gemeinsinnes im jeweiligen Charakter von Lust und Unlust, wie Augustin darlegt, der entscheidenden Urteilsfunktion, also der Urteilskraft. Daß Augustin dann zuletzt diese Urteilskraft doch wieder einer rationalneuplatonischen apperzeptiven Vernunfttheorie, ihrem Paralogismus des Schließens in sich selbst, aussetzt, dies vor allem wird zum Gegenstand der Kritik der Urteilskraft. Denn selbst die neueren Untersuchungen von Descartes 15 bis Leibniz und Diderot, von Comte bis Mach als Vorspiele und Abgesänge eines einzigen Aufschwunges der Apperzeption, dogmatisch oder skeptisch, sparen nicht mit Konzeptionen von Musik als bloß unbewußter Ordnung und unbewußtem Zählen, dem Willen vorgelagertem Übergang von der Welt der Vorstellung in die Sache selbst, der fiktiv-ökonomischen Nachahmung von Wirklichem etc. Für uns steht abschließend fest, daß gerade zur Zeit der höchsten Befreiung des Musikalischen aus seiner höfischen, ekklesiastischen ebenso wie trivialen Form sich wieder und zugleich im Verlassen des eben gewonnenen Zivilisatorischen die unfaßbare Eigenständigkeit des Verhältnisses von Hervorbringen und Rezipieren 16 des Musikalischen einstellt: Eben diese ist nun auch Gegenstand mehrerer musikalogischer Untersuchungen, auch einiger philosophischer Traktate, Schopenhauers, Kierkegaards, Wagners, Diltheys, Cohens, Adornos oder Elias' geworden. 15 Descartes' Compendium musicae zeigt sowohl seine Augustinus-Säkularisierung wie sie auch seine "Passions de l'äme" vorwegnimmt. Ansätze zur Revision der Wohltremperierung sind mit Bezug auf Konsonanz und Dissonanz ebenso präsent wie die Auswählung der beiden Tonarten gegenüber den in den Kirchentonarten zugelassenen weiteren. Der Übergang von Nachahmung zur Neuerschaffung wird angedeutet. Vgl. Hierzu: Compendium Musicae. Oeuvres de Descartes. Adam et Tannery Paris 1966, Vol X ., S . 89 ff. Vgl. a. Debut de I'abrege de la musique. In: Descartes. Oeuvres philosophiques., Tome I, Ed. F. Alquie. Paris 1963, S . 30 f. Vgl. a. Aurelius Augustinus: Musik (De musica libri sex) Übers. C. J. Perl, Paderborn 1962. S. 232 . Erst Kants Kritik der Urteilskraft läßt die Formel: Form - Schema der Idee, welche vom Philebos bis zum Pseudolongin und Augustinus reicht, aus dem aristotelischen G efängnis der Begründung des Erkenntnisurteils (Vgl. Met. 1029a 3 f.) wieder für die Bestimmung der Selbstbegrenzung der Vernunft des Erhabenen im Ideal gelten. 16 Dieser Rapport wird -einmal von Schützens schon angesprochener großer Mozartarbeit abgesehen (Mozart und die Philosophen, a. a. 0 .) -in dem nur als Skizze vorliegenden Buch von Norbert Elias: Mozart, Zur Soziologie eines Genies, Frankfurt am Main 1991, zu beleuchten versucht. Vgl. die Abschnitte: Handwerkerkunst und Künstlerkunst, S. 58 ff., sowie: Der Künstler im Menschen; stärker noch im "Plan" S. 177 f.

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Keiner dieser Autoren hat jedoch in so wenigen Hinweisen so viel zu einer Herausforderung beigetragen wie Alfred Schütz. Deren Aporie ist vorzutragen. Deren Lösung ist zwar ungenügend, weswegen wir sie mit einem Dictum gegen den Kulturbetrieb dieses Jahrhunderts, durch Hofmannsthal 17 vorgestellt, seitens einer Diotima ergänzen müssen, was eben Aufgabe dieser Arbeit ist: Die Aporie, daß jede Epoche ihren neuen Mozart hat gegenüber der einzigartigen Unvordenklichkeit, welche sich gerade im Dreieck der extremsten Relativität niederläßt: derjenigen zwischen Publikum, den Interpreten und dem entschwindenden Autor.

111. Erläuterung

Mazart lebt und stirbt aber im Zeitalter des Überganges aus einer allgegenwärtigen Kulturepoche von Wertegläubigkeit ("valor quantitas perfectionis", definiert noch Leibniz) in einen neuen Lebensraum einer sich sukzessiv entwickelnden, dann wieder in politischen Sprüngen sich überschlagenden neuen Zivilisationsform.1a Ist dieser Übergang selbst schon inmitten einer der beängstigendsten Epochen der Dominanz eines im Eigendünkel, also Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht versunkenen Zeitalters, inmitten einer Epoche, da Mozart noch nicht geboren und Kant kaum erst den Gymnasialstudien entwachsen war (also genau zwischen 1492 und 1992), so ist die große Schande des Unterbaues europäischer "Kultur", die Ausbeutung, Versklavung und Zerstörung des je unterworfenen Landes auch schon damals vollauf im Gange. Mozarts Kunst bildet also, abgesehen einmal von der italienischen Phase (und der Niederlage der Piccinisten) der französisch-englischen Phase eines Lully und Rameau, schließlich der Gluck'schen, Fux'schen und schließlich Haydn'schen Meisterschaft - spät bis zur Entdeckung Johann Sebastian Bachs -, schließlich aber gegenüber der Heinrich Schütz'schen Ablösung durch den neuen Hang zum Singspiel, eine einzigartige zweifache Transformation 19: Seine Kunst - wir werden Alfred Schützens Einsicht auch noch 17 Ohne Zweifel bezieht sich Ingeborg Bachmanns sardonische Studie: "Wunderliche Musik". In: Ingeborg Bachmann Werke 4, Hrsg. C. Koschel, I. v. Weidenbaum, Zürich 2 1982, S. 45, besonders aber "Musikstädte", a . a. 0. S. 55 ff., auf Hugo von Hofmannsthals Kulturgehabe, etwa in: Bildende Künste und Musik ("Die MazartZentenarfeier in Salzburg 1891 "), in: Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze I, Frankfurt am Main 1979, S. 515 ff. Vgl. a. unten Abschnitt VII. 18 Vgl. Michael W. Fischer: Die Aufklärung und ihr Gegenteil. Berlin 1982, bes. "Aufklärung als politisches Programm" S . 106 ff. Vgl. a . zu Mozarts Interpretation der Zauberflöte als Prägung der "Chymischen Hochzeit" J. V. Andreaes, a . a . 0. S. 51. Vgl. Hierzu A. Rosenberg: Die Zauberflöte. München 2 1972. 19 Vgl. hierzu Karl Barth: W. A. Mozart. Zollikon 1956. 10 Beiheft 1 zu Sociologia Internationalls

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gegenüber Starobinskis Plaidoyer für Rousseaus Gemeinsinn 20 auszuleuchten haben- scheint also die alten Werte als Ausdruck überkommener Kulturpflege mit den neuen Zivilisationsrelevanzen, dem Genie der neuen Gefälligkeit einerneuen Gesellschaftsordnung, also der Besitzenden aller, zu versöhnen21. Aber das scheint nur so. Mozart steht im Zeitalter der Aufklärung, ja an ihrem Höhepunkt. 22 Nicht nur vermag er die zuvor apostrophierte "Hochaufklärung" von scheinbarer Toleranz und Anerkenntnis mit der Bildungsform des gemeinen Volkes, also der Gemeinaufklärung vermitteln zu können: damit der unendlichen Spaltung und Differenz unserer Herkunft aus kompensiertem Tierischen und sich bis zur Menschheit durchsetzenden Status der Halbgötter, Heroen, Übermenschen 23 in die Dynamik des unerhört Neuen, des Personalen aus eigener Souveränität, zur dynamischen Gattungswirklichkeit freier Assoziation zu entwickeln 24 : Man lese nur die selbstbewußten Briefe an Hochadel und Geldadel und Impresarios-trotz aller Bettelei um Notdürftiges und Billardschulden - . Es geht eben nicht bloß um den neuen Status des Weltbürgers, welcher in seinen fünf großen Opern sarkastisch, lyrisch, dramatisch, zynisch, verwegen durchkomponiert; es geht nicht um die neue Weltordnung zwischen Gemeinsinn der Musik im Geschmack des Geistgefühls des Erhabenen mit Bezug auf die dadurch indirekt darstellbare volonte generale; noch geht es um den Übergang höfischen Musizierens in die Musikalität der Kammermusik und 2o Ich denke, daß es sich Alfred Schütz mit Bezug auf Rousseaus Gemeinsinn der "Nachahmung der Natur" durch Rousseau zu einfach macht: Starobinski, den wir schon anfangs zum Zeugen aufgerufen (vgl. a. a. 0. 238 ff.), zeigt deutlich, daß sich Nachahmung auf die erst wiederzugewinnende Schöpfung, duch den Zivilisationsprozeß hindurch, bezieht. Daß dieser Rapport das Rätsel von Rousseaus Abscheu vor der Polyphonie gemäß ihrer Synchronizität (man denke an das Erwachen der Natur zeitlich am Morgen) nicht löst, vielmehr Kanon, Fugen und "komplizierte Ensemblemusik" (Alfred Schütz: Mozart und die Philosophen, Ges. Aufs. II. a. a. 0. S. 155) nicht als Weg zur Bacon'schen Wiederherstellung der Schöpfung sieht, bleibt zunächst einmal enigmatisch. 21 Vgl. M. Benedikt: Kant und die Französische Revolution. In: Die schwierige Geburt der Freiheit. Hrsg. E. Wangennann, B. Wagner. Wien 1991, S. 72 ff. 22 Immerhin werden im Jahre der Kantschen:" Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?", also "der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ... " (AA VIII S. 35), im Jahre 1784 also, die großen Konzerte für Klavier mit Orchester K.-V. 449, 450, 451, 453, 456,459, "subskribiert" und uraufgeführt. 23 Vgl. zur barocken Kontinuitätstheorie (also von hochkomplexen Molekularstrukturen bis zum Menschen) Leibniz' Schreiben an Varignon. In Leibniz Hauptschriften. zur Grundlegung der Philosophie, Bd. Il. (Buchenau, Cassirer) Meiner 108, Harnburg 3 1966, S. 74 ff.; sowie zur "ethnographischen" Geschiehtsahlösung im Gefälle auf den Menschen herab in Giambattista Vico: Scienza nuova. Dt. E . Auerbach, München 1924, S. 64 f. , 399 ff. Vgl. Hierzu K. Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Stuttgart 8 1990, S. 109 ff. 24 Vgl. M. Benedikt: Wiedervertauschte Fronten: Transzendentale Anthropologie und Ontologie der Behaglichkeit. In: Heideggers Halbwelt. Wien 1991, S . 249 ff.

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der Orchsterwerke, welche durch Individualisierung der Instrumente und ihrer gemeinschaftlichen Zusammenstimmung konkretisiert ist. Es geht vielmehr darum, den Schlüssel für die Würde zu wenden und den empirischen Charakter zu öffnen im Übergang vom Zivilisationsstatus, da die Werke beginnen, ihre Herrschaft auf uns, ihre zu tierischen Automaten reduzierten Autoren, jetzt aber als künstliche Halb-Götter, Über-Menschen, Heroen, im Sinne überfahrener Zauberlehrlinge, auszudehnen, da sich unsere Tierheit zugleich als gesellschaftlicher Vorfall in Barbarei zerstört. Dabei steht aber jene Würde in höchster Gefahr, welche für den Geschmackssinn, namentlich dessen Ursprung im Gemüthe des Gemeinwesens, zerworfen wird: daß das Musikalische und Dichterische eben nicht mehr als Kultur-Wert darzulegen ist. Hier geht es also nicht mehr um die augustinische Aporie von Verinnerlichung und Veräußerlichung, höchstens noch um die Heautonomie, also die vielfach eingebundene Souveränität seiner Urteilskraft. Hier g~ht es aber auch weder um die Welt, wie sie ist, noch auch um Welt, wie sie sein soll, vielmehr um das Rätsel der Begrenzung der überhaupt relevanten Welt, wie wir sie dem Unvordenklichen zutragen und antragen. Bekanntlich berührt aber diese Grenze das, was man bei Mozart das Unvergängliche genannt. Um dieses also wird es, im Gegensatz zur sogenannten immer wieder neuen Mazart-Deutung gehen: Unvordenkliches gegenüber permanenter Relativität im Vermittlungsprozeß zwischen Publikum, Interpreten und dem Autor 25, der sich in das uns vollauf Fremde zurückgezogen, welches er selber- umso befremdlicher- als das ihm täglich Vertrautere betrachtet. Und dies gelegentlich der Komposition des Don Giovanni, sogar der Hochzeit des Figaro und des Cosi fan tutte, der letzten Quartette, der drei großen Symphonien, als Ankündigung des Todes, ja, leider, des eigenen Todes. 26 Unsere, also vielmehr zunächst Schützens Aporie, ist also genauer gefaßt: Die Relativität der Zivilisationsrelevanzen im Kulturverlust von hörendem Publikum, sich zurückziehendem Autor und der Willkür der Interpreten 27 25 Vgl. Alfred Schütz' Analyse der "polythetischen" Struktur eines Musikstückes, welches die "monothetische "Betrachtung des soziologisch, auch philosophisch interessierten Hörers, soweit eben Phänomenologe, sprengt. In: Gemeinsam musizieren. In: Ges. Aufs. A. a. 0 . S. 145. 26 Vgl. hierzu den letzten Brief an seinen Vater vom 4. April 1787: "Da der Tod: genau zu nemmen der wahre Endzweck unsereslebensist ... " Über Mozarts Entsetzen über den Tod anderer (z. B. seiner Kinder) erfahren wir nur wenig; eine große Ausnahme bildet ohne Zweifel das Hinscheiden seines Freundes, des Grafen Hatzfeld, Domherrn zu Eichstätt. Ein anderes ist allerdings die Präsenz des "Unfaßbaren", komponiert in dem Streichquartett KV 515 und dem Quintett KV 516 und anderen Arbeiten aus der Spätzeit, vom Don Giovanni bis zum Requiem. 27 Vgl. schon die frühe Studie: "Sinn einer Kunstform" von 1924-1925, welche noch ganz in Abhängigkeit von der Bergson'schen duree steht. Vgl. Alfred Schütz: Theorie der Lebensformen. Hrsg. I. Srubar, STW 350, Frankfurt am Main 1981, S. 251. Hier hat Schütz die historische Diskontinuität und Modulation der Mozart'schen Musik

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- gegenüber der Erhabenheit desjenigen Unvordenklichen, welches einzig und allein den Geschmack des Geistgefühls mit dem Erhabenen zu vermitteln vermag, was meist fälschlich und lächerlich mit dem Ewigkeitswert28 einer Komposition bezeichnet wird. IV. Ein Ansatz zur Auflösung der Aporie 1. Schützens Arbeit zur Aufschlüsselung des "Gemeinsam Musizierens" durch seinen Lieblingskomponisten Mazart zu Zeiten der heures bleues bei Nacht war er Banker oder Organisator, bei Tag Phänomenologe - fällt weder unter Musiksoziologie noch kann sie den sogenannten "phänomenologischen Ansatz", auf die gesellschaftsbildende Konzeption des Musikalischen transformieren. Näherhin geht es um folgendes Problem: Seit dem Hauptwerk, "Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt" von 1932, jedoch wohl auch schon in den frühen Wiener Schriften der Bergson-Periode ab 1924 (die ökonomisch-finanzanalytischen Arbeiten sind uns noch nicht zugänglich), kämpft Schütz um eine Logik vorwissenschaftlicher Lebensform, der -auch gemäß Husserl- die Werte, Relevanzen und Strukturen auch von Kultur, Zivilisation, sogar ethisch-religiösem Gemeinwesen, also der Würde des empirischen Charakters, zuzumuten wären: Allerdings ist der entscheidende Sprung weder Schütz in früher oder späterer Anstrengung, noch Husserl je überhaupt der Wurf gelungen, aus dieser vorwissenschaftliehen gemeinschaftsbildenden Basis der Antlitz-gegenüber-Antlitz-Bestimmtheit im Zeichen der Würde souveräner Mitmenschlichkeit, 29 auch die Kategorialgerüste der Natur-, Gesellschafts- und Geisteswissenschaften abzuleiten. 30 an das Konstante "lebensweltlichen" Rapports nicht von Kierkegaards Erotik oder Cohens Liebesbindung, sondern im wechselseitigen Erfassen des "Du", eigentlicher Gegenstand des Interpreten, angegeben. Bekanntlich bleibt aber diese Art der Sozialität- dies ist Schütz in den fünfziger Jahren aufgegangen- noch in der Zweideutigkeit wechselseitiger Vereinnahmung hier und wechselseitigem Von-Sich-Absehens da verhaftet und auch noch ungeprüft an der Spannung von Umwelt und Mitwelt (bzw. Nachwelt); genau dieser Unterschied droht aber im Wirbel des Zivilationsstatuts der Aufklärung zugrunde zu gehen. 28 Die Idee des Ewigkeitswertes eines Kunstausdruckes entsteht, zumindest für Mitteleuropa, als Säkularisierungsprodukt Goetheschen Humanismus'. Die noch von Simmel beeinflußte Goetherezeption von Alfred Schütz läßt zumindest dessen "Novelle" -ohne Bezugnahme auf diejenige in den "Wahlverwandtschaften", wie beim Zeitgenossen Benjamin - noch gemäß der Gestaltung "ideal typisierender Abstraktion" wieder vollauf in die Reihe der "Ursprungserlebnisse" eingehen, ohne Goethes eigene Absicht des Sich-unsterblich-Machens" zu dechiffrieren (vgl. Alfred Schütz: Sinnstruktur der Novelle: Goethe. In: A. a. 0. S. 251 ff. S. 274). 29 Jeder der Mitwirkenden in der Musikausübung "teilt unmittelbar den in lebendiger Gegenwart den Bewußtseinsstrom des anderen. Dies ist möglich, weil das gemeinsame Musizieren sich in einer wahren Gesichtsfeldbeziehung ereignet - insofern die Teilnehmer nicht nur einen Zeitausschnitt sondern auch einen Raumsektor sich teilen." Alfred Schütz: Gemeinsam musizieren. A. a. 0. S . 148.

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2. Nun befassen sich aus dem überreichen Werk Schützens immerhin vier Arbeiten mit Musik, der zentrale Autor bleibt Mozart: Zwar stehen die frühen Arbeiten von 1924: "SinneinerKunstform" nochganzimBannderBergson'schen, im Grunde augustinischen Innerlichkeit, doch die Überleitung aus der mundanen, trivialen Subjektivität in die für Wissenschaftsfundierung abgehobenen Strukturformen des Husserl zwischen den "Logischen Untersuchungen" um die Jahrhundertwende und den "Göttinger Vorlesungen" von 1907, aus dem ersten Band der "Ideen" wohl bekannt, steht bevor. Diese im Grunde augustinisch-säkularisierte Subjektivität wird allerdings auch dann nicht radikal genug aufs Spiel gesetzt, wenn in der Arbeit von 1944: Fragments on the Phenomenology of Music, erst 1976 bei Gordon and Breach Science Publishers in London (Music and Man, vol 2) publiziert, die phänomenologische Einteilung: theoretische und augewandte Soziologie durch die Sache selbst, die Konkretisierung der idealen Welt 31 in polythetischer Konstitution des Musikalischen insbesondere, in Frage gestellt wird. Der Vergleich mit der philosophischen Methode von retorsivem und kompositorischem Verfahren, also kritisches und doktrinäres Prozedere , ist für den Interpreten der Vermittlung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften, also den phänomenologisch orientierten Geisteswissenschaftler, als den sich Schütz betrachtet, schließlich fallenzulassen: Jeder Schritt der Interpretation musikalischer Komposition wird immer beide gegenläufigen Linien, Strukturerfassung und Strukturkonkretisierung, als das geschmacksbildende Bewegung des Geistgefühls des Erhabenen zusammennehmen müssen, um nicht in die Aporie zu fallen, der Husserl als Verfechter der "Strengen Wissenschaft" zum Schluß das Weisel gibt. 32 Hierbei bleibt aber gerade die von Schütz noch weithin festgehaltene Fixierung an die monothetische, subjektivistische Konzeption auf der Strecke. Zwar behauptet Husserl, diese schon in den erst postum erschienenen "Ideen" II, sowie im Übergang zu den Wiener und Prager Vorträgen preisgegeben zu haben: Zugunsten allerdings einer gemeinschaftsbildenden Logos- und Vernunftgeschichte, welche sich zuletzt doch wieder nur als Manifestation eines in Einsamkeit fundierten 30 Selbst die hier angesprochene "Un-mittelbarkeit" wechselweiser Mitteilung von Erlebnisströmen, ihrer Strukturierung nach, bedürfte der Resonanz- und RapportBestimmung von Tausch-, Arbeitsteilungs- und eben Mittel-Kategorien. Schütz hat diese zwar als Relevanzbedingungen des Ausdruckssinnes, vor allem in: "Symbol, Reality and Society" (Collected Papers I, The Hague 1971, S. 207 ff.) dar gestellt: Die Verhältnisbestimmung der "world of working" (a. a. 0. S. 226) und der "world of exchange", Basis vor allem der Untersuchungen Alfred Sohn-Rethels, bleiben im dunklen. 31 Alfred Schütz: Fragments on the Phenomenology of Music, a . a . 0., Sections 9, 10. 32 Vgl. M. Benedikt. Wurzeln und Mißverständnisse der transzendentalen Phänomenologie von Lambert und Kant bis heute. In: Die Krise der Phänomenologie und die Pragmatik des Wissenschaftsfortschritts. Hrsg. M. Benedikt, R. Burger, Wien 1986, S. 20 ff.

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Logo- und Eurozentrismus erweist. 33 Genau dieser wird aber in der noch zu wenig dargestellten Auseinandersetzung zwischen den beiden Wiener Emigranten Alfred Schütz und Eric Voegelin thematisiert. 3. Schütz' Nähe zu Voegelin zeigt aber auch gegenüber Mozart ein differenziertes Paradox der Soziologie selber an: Der die Intersubjektivität, ja deren gesellschaftlich-gemeinschaftliche Voraussetzung konstituerende phänomenologische Wissenschaftler (gemäß der zuerst thematisierten Spannung zwischen Erscheinung für mich- zweifacher Phänomenalität für uns- und Erscheinung überhaupt) ist weder Betrachter als Publikum, noch Autor noch auch Interpret. Bekanntlich hat Schütz versucht, diese Situation, zugleich die Spannung zwischen "Knowledge of acquaintance" der Umwelt und "knowledge about" des distant-Mit- und Nachweltlichen, in zweierlei Weise zu klären: Einmal mit Bezug auf die Komplementarität von "The Strange and the Stranger" (später nur mehr als "The Stranger" publiziert); dann aber strenger im früh konzipierten, jedoch erst kurz vor seinem Tod fertiggestellten Tiresias-Aufsatz, des tränenblinden Sängers. 34 Ist Mozart, dieser ausgelassene, obszöne, lebenslustige, dann wieder tief melancholische Mann unserer Lebenswelt ein derart tränenblinder Sänger, der, wie Canetti sagt, das soziale Rätsel des Nichtzusammenstimmens von Populationen und Generationen und Geschlechtern und Einzelwesen zu lösen vermöchte?

V. Das Paradox der Phänomenologie der Musik 1. Aus den mehrfach philosophischen Fragestellungen springt immer wieder Schützens eigentümliche Auseinandersetzung mit Husserl ins Auge. Die Beiziehung phänomenologischer Methodik 35 zur Lösung des Schlüssel-Paradoxons, der Betrachtung oder aber Zerstörung von Gemeinschaftsbildung des musikalisch distanten Autors, welche zugespitzt- beinah auf die Selbstzerstörung des Autors hin -laufen müßte, steht auf dem Spiel. Die Antithetik heißt: a) es gibt keine Phänomenologie der Musik (selbst im Vergleich zwischen Fremdkulturen und polythetisch-europäischen Musikformen stellt die phänomenologische Methode ihr mundanes Ferment, die Dynamik zwischen zeitlich orientierter Selbstbezogenheit und vor allem räumlich orientierter Fremdbezogenheit in Frage). 33 Vgl. M. Benedikt: Der Briefwechsel zwischen Alfred Schütz und Eric Voegelin. In: Gelehrtenrepublik-Lebenswelt. Wien 1992. 34 a. a. 0. 35 Zu den verschiedenen Reduktionsstufen, ebenso zur Spannung zwischen "Mir erscheint etwas"- "Uns erscheint etwas"- "Es erscheint überhaupt etwas" vgl. M. Benedikt: Husserls Wendung von der Strengen Wissenschaft zur Lebenswelt: Der Traum ist ausgeträumt. In: M. Benedikt: Heideggers Halbwelt. Wien 1991 S. 65 ff.

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b) es gibt eine Phänomenologie der Musik (weil diese nicht bloß auf die Wechselwendigkeit des Gegenlaufes von zeitlich-temporal fixierter Produktion-Rezeption und fremdbezogener Darstellung der in Neuschöpfung verwandelten Naturwelt verweist; sondern weil gerade der gegenüber fremden Kulturen in Verlust geratene Primat gleichsam der rechten, rationalfixierten Hemisphäre unseres Gehirns, der integralen Correspondence unseres Rapports, eben nicht durch Naturgewinn, vielmehr durch Schöpfungs-Rapport, und nur durch die Zivilisationsgefährdungen hindurch, restituiert ist.) 2. Nun wird Mozart, wie wir sahen, zuletzt als Prototyp eines radikalen zweifachen Umschwunges gesehen, von Leibniz zur zivilisatorisch betonten Aufklärung (ihrem szientifisch besetzten Verhältnis von Toleranz und Anerkenntnis), von dieser aber zum Anspruch einer völlig neuen Perspektive, der Würde des in Spannung von Tierheit-Halbgottheit hier und überkosmischer Personalität da konkretisierter Faktizität des wirklichen, in der Dynamik der Evolution des geschichtlichen Gattungswesens stehenden Menschen 36 da. 3. Diese Dynamik hat gemäß üblicher Auslegung zu ihrem ersten Gegenstand den Übergang von Personalität zur Liebe; ihren zweiten Gegenstand den der politischen Befreiung zum Weltbürger im Erlösen wechselweiser Anerkenntnis von Generationen, Populationen, Racen, Gesellschaftsschichten. Weder der erste noch der zweite Ansatz genügt aber Schützens Einsicht: daß es Mozart nämlich um eine ganz bestimmte Grundlegung von Sozialität gegangen war; um eine Kommunikationsform polyphonischen "Wechselseitig-sich-aufeinander-Einstimmens", 37 welche eben weder die Liebe noch auch die Erweiterung des Beschränkten zum Weltbürger als Gegenstand hat. Die Liebe ist also, trotz Cohen und Kierkegaard, nicht in dem Maß "musikalisch", wie dies die europäische Polythetik und Polyphonie von uns verlangt. Gerade aus dieser Gewalt der Organisationsmacht würden nämlich nach Schütz die "Ereignisreihen in der inneren Zeit" sowohl der Stimmen und Instrumente untereinander, ebenso wie des Komponisten selber, zuletzt des Publikums in einer spezifischen, "ereignishaften" "Gleichzeitigkeit" 38 ein36 Abgesehen vom Santayana-Aufsatz geht Schütz allerdings nicht so weit, die wirkliche dynamische Spannung zwischen den beiden Reihen, der evolutiven bzw. der mythologischen hier und der souveränen Selbstbestimmung da als sich ständig entwickelnde Orientierungsmarken der Bestimmung und Konkretisierung des empirischen Charakters und Gemeinsinnes auszulegen. Seine Ansprüche sind noch - dies zum Ärgernis seines Briefpartners und Freundes Voegelin, trivialer, wenn es um die "Klärung der Beziehung des Sich-aufeinander-Einstimmens und des Kommunikationsprozesses als solchen führen könnte." A. Schütz: Gemeinsam musizieren, a. a. 0. S. 149; und Schütz fährt fort: "Es scheint, daß alle mögliche Kommunikation ein wechselseitiges Sich-aufeinander-Einstimmen zwischen Kommunikator und Adressaten der Kommunikation voraussetzt." A. a. 0. 37 Vgl. A. Schütz, a. a. 0. II, S . 145. 38 a . a. 0. S. 145.

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gebracht, deren synthetische Kraft oder auch geläuterte Magie jetzt dem Interpreten obliegt. Die angeblich "magische Kraft" der Polyphonie der "Musik des Westens" 39 habe also gerade die ursprünglich vorherrschende Einheit von Gesellschaft und Gemeinschaft, Rationalität und Gemütsbetroffenheit, deren Bruch nach Julian Jaynes die Katastrophe des Abendlandes, etwa zur Epoche der Achsenzeit 40 heraufgeführt hätte, wieder restauriert. Polyphonie, so könnte man sagen, sei also eine Kompensation und indirekte Wiederherstellung des "Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind" 41 , dessen Notwendigkeit und "Sündenfall" 42 weder musikalisch noch phänomenologisch so leicht darzulegen ist. Vielmehr könnten wir gemäß Alfred Schütz' Auslegung der Meinung sein, daß sich Mozart zweifach den Übergang in die Souveränität der Würde verbaut hat: a) Zunächst in seinem Unverständnis des Politischen, also einer funktional sich durchsetzenden Öffentlichkeit, die auf die Dauer Mozarts Spontaneität nicht ertragen konnte. Obwohl Mozart also immer "Situationen und nicht den individuellen Charakter mit Hilfe seiner musikalischen Formen" aufbaut, 43 haben diese Situationen, selbst wenn sie die Postulate des drama giocoso zu erfüllen haben, das Tragische und das Komische miteinander zu verbinden, eine Diskontinuität hinsichtlich seiner zeitgenössischen gesellschaftlichen Verhältnisse zu ertragen; und daß er dies nicht vermocht hat: Diese Diskontinuität besteht aber in Erweiterung des seit Galen hin- und hergewendeten Individualcharakters (besonders des melancholischen) in die Stufungs- und Spannungsdynamik bis zum Charakter einer Population, ja selbst des Weltbürgerlichen: Mozarts Gedanke - und darin hat Schütz' Resumme über Mozart als Philosoph recht- ist ihnen eben schon über allen Wertdünkel und alle Zivilisationsrelevanzen um die Länge der Würde des neuen ethischen Gemeinwesens voraus und zerbricht womöglich auch daran. b) In diesem Sinn kann man zwar mit Recht sagen, daß "Mozarts dramatische Kunst eher eine Darstellung der Grundstruktur des Lebens ist als eine Nachahmung der Natur" 44 ; doch ist letztere viel harmloser als daß wir uns mit Schützens Abwehr gegenüber Cohens Modifizierungen der "Ästhetik des reinen Gefühls" jetzt zufrieden geben könnten: So war für Cohen die Struka. a. 0. Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 8 1983. 41 Boston 1976, vgl. bes. die Nähe von Teil II. zu Vicos Idee der ursprünglichen Zusammengehörigkeit von Gesang und Sprachfonn im Zeitalter des Überganges zu den "Heroen". 42 Vgl. eben Julian Jaynes, The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind. Boston 1976, Buch II, S. 149 ff. 43 Vgl. Alfred Schütz: Mozart und die Philosophen. A. a . 0. Ges. Aufs. II. S. 168 44 a. a. 0 . S . 169. 39

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tureinheit des musikalischen Dramas in der Symbolik der Liebe 45 (also in Kierkegaards ersten beiden Stufen des Ästhetischen) gegeben. 46 Daß dies für die nächste Stufe, den Don Giovanni schon hapert, ist vielfach bemerkt worden. Durch eine viel folgenschwerere Faktizität geschieht aber der Riß, dem selbst Heidegger in seinen Versuchen, das Erhabene zu supplieren, nicht nachgeht 47 : Mazart hätte keine Liebenden, sondern immer Geliebte komponiert; auch sei er selbst ein Geliebter und kein Liebender gewesen.

VI. Schützens vorläufige Lösung der Gesellschaftsbildung durch Musik 1. Fassen wir zusammen: Über alle Divergenz von In-Group und OutGroup, aller Überschneidung von Kulturstatus, Nivellierung der Relevanzen im Zivilisationsvergleich, im befremdlichen Durchblick auf die Würde hindurch 48 steuert Schütz - besonders gegenüber Mozarts "gemeinsam musizieren"- eine Dimension der Gemeinschaftlichkeit, des Rapports an, den er musikalisch, und zwar gemäß seiner (phänomenologischen) Interpretation doch zu naiv gestaltet: Dieser Bereich ist nämlich nur teils in der Spannung zwischen dem, was Natur, auch Geschichte aus uns gemacht und was wir aus dieser uns in souveräner Personalität gegenseitig antun, zum empirischen Charakter einzubringen und zu konkretisieren: Hierbei ist es geschehen, daß im zivilisatorischen Übergang die Sphären der auf uns gekommenen Gottheiten , also Halbgötter und dergleichen, sich in die unsichtbaren Hände von Tauschformen, Institutionen, Techniken verwandelt, die Sphäre unserer tierischen Herkunft jedoch in neue Barbarei.

Diese ungeheure Verkehrung angesichts des Überganges ins Botenturn menschlicher Würde, im Zeichen neuzuerringender (autonomer, also gemeinschaftsbildender, somit nicht autarker, selbstgenügsamer und maskenhafter) Personalität, ist von Schütz protosoziologisch nicht ausdrücklich herausgestellt, sondern zunächst bloß als Überwindung neuzeitlich-phänomenologischer Subjektivität kompensiert. Der Fremde, der Heimkehrer; die Blindheit des Tiresias im Zusammenspiel von Empfangen, Komponieren, Interpretieren, legen den Anschein und den ästhetischen Anstand nahe, es habe sich im Poetischen, im Musikalischen zum Besten gewendet, was im Zuge der Auflösung kultureller Werte in Relevanzen der sich gegenseitig relativierenden Zivilisationen einander gefährdet: Das gegeneinander Ausfransen von a. a. 0. S. 156. a. a. 0 . Liebe also war auch nach Schütz ästhetisch zuerst im Pagen Cherubino, dann aber im erwachenden Papageno fundiert, aber doch nicht alles. Vgl. A. Rosenberg: W. A. Mozart. Zürich 1976. 47 Vgl. M. Heidegger: Der Satz vom Grund. Pfullingen 1957, S . 117 f. 48 Vgl. a. Santayana über Gesellschaft und Regierung. In: Ges. Aufs. II. A. a. 0 . s. 174. 45

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Kulturmustern wäre für unsere Betrachtung durch gepflegten musikalischen polyphonen Einsatz nahezu kulturell wieder zu retten. 2. Schützens Ausweichen vor der endültigen Lösung ist jedoch eklatant: Zwar hat der Phänomenologe erst die sich im Interpretament selbst verweigernde, weil auf sich bezogene, aber immerhin- wie als ein "unbewegter Beweger" - gemeinschaftsbildende Musikalität gegenüber der sich hingebenden, die Humanität erweiternden gesellschaftlichen Macht des neuen "Gegeneinander" ausgeübter Musik 49 auseinanderzulegen; das Geschmacksurteil des musikalischen Oeuvres selber vermag dies aber nicht: Das Geschmacksurteil des Künstlers blieb blind gegenüber der Differenzierung einer von sich erfüllten Gesellschaft, ihrem Publikum, ihren Interpreten, ja ihren Autoren hier und der von sich reinen Gesellschaft des Genius im Autoren da. Anderseits sollizitiert die große Meisterschaft der Musik, namentlich im Einantworten durch Interpreten, die neu zu Autoren werden - wie dies Beethoven später in seinen Diabelli-Variationen ausdrücklich vorzeigt 5°von sich aus das Konkretisieren des Ideals einer "von sich reinen Gesellschaft" in die Wirklichkeit des "Einander-Gegenüber" (Goethe) von "Antlitz zu Antlitz" (Schütz). Also nochmals: a) Jede Zeit hat ihren Mozart und hat hierdurch die jeweilige Mode, die jeweilige Langeweile, die jeweilige Verödung zu durchbrechen. Und bis zum Überdruß: b) Ein zweifacher Sinn: Ausdruck und Verstehen bezieht sich auf eine Dynamik, welche das Verhältnis von Gottheit (auch Halbgöttern, Heroen) und Tierheit (auch deren Evolution) in uns mit der Dignität des einzigartig Personalen verbindet; die Verbindung dieser symbolischen Struktur jedoch, auch wenn ihre Manifestation die konkrete Erweiterung des empirischen Charakters im kaum erreichbaren Zueinander der sich gegenseitig aussperrenden Extreme bildet, sei ewig. 3. Schützens Annäherung an diese letztere schwache Lösung, nämlich seine Idee eines klassischen Repertoires, welches vom Optimum ins Compossible eingeht (und nicht wie bei Leibniz aus dem Possibile ins Compossibile und dies im Zeichen des Optimum), dies ist verführerisch, hilft uns jedoch nicht weiter. Das Ideal der Vernunft, welches selbst ein Habermas für die kritische Zeit als nicht in der Empirie verwirklichbar hält, 51 wird in dieser Alfred Schütz: Mozart und die Philosophen. A. a. 0. S. 172. Vgl. William Kinderman: Beethoven's Diabelli Variations. Oxford 1987. 51 Vgl. Jürgen Habermas: Theorie und Praxis. Luchterhand 1968, S. 56; Vgl. dagegen I. Kant: Kritik der Reinen Vernunft B 596. Vgl. a. M. Benedikt: Der Philosophische Empirismus I., Wien 1977: "Während Habermas 1963 in ,Theorie und Praxis' Kants Begriff des Ideals (als angeblich bloß regulativen Begriff) gegenüber Schellings Überhöhung dieses Ideals in einen existierenden Begriff verteidigt, weist er schon 1962 im ,Strukturwandel der Öffentlichkeit' die offizielle Version der Karrtsehen Humani49

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Version durch Schütz ebenso fremd bleiben wie die Adorno'sche Wendung der Kompensation. Diesen Schein, das Ideal nicht in der Erweiterung des Vernunftgebrauches in der Erfahrung konkretisieren zu können, haben wir nun aufzulösen. VII. Ein Ansatz zur Lösung

1. Die Ansicht der Diotima: Ingeborg Bachmanns Einblick Womit wir jedoch nicht zusammenstimmen können, ist die seit Erich Valentin gang und gäbe gewordene Ansicht, daß Mozarts späte Musik zuletzt - durch maurerische Einweihungen, die schmerzlichen Erfahrungen seines Lebenslaufes und durch zwei Weltepochen hindurch- schließlich stoischresignativen Charakter angenommen habe 5 2 : "Jedenfalls waren der Frühling und der Sommer 1787 für Mozart eine Zeit der Abschiede und der Verdüsterung . . . Offensichtlich sind die Erschütterungen durch die vielfachen Tode in die Musik (des Don Giovanni) eingegangen ... Die völlige Überwindung des Todes gelang Mazart jedoch erst mit der ,Zauberflöte', ... die ... etwa zwei Monate vor seinem Tode uraufgeführt wurde." 53 Rosenbergs metanaturalistische "Lösung" des Rätsels der Musik Mozarts, seiner Zahlen-, Rosenkreuzer-, harmonikal-algorithmischen, seiner melodisch-erotischen, seiner politisch-weltbürgerlichen Antagonistik zwischen Hingabe und Verweigerung, zwischen Von-sich-Absehen und Vereinnahmung, zwischen Besetzen und Freilassen ist dagegen ebenso musikalisch ausdrucksvoll wie aus Prinzipien der Urteilskraft inakzeptabel: "Mögen auch die äußeren Umstände von Mozarts Sterben armselig gewesen sein, so kam doch dieses Scheiden auf der Höhe früh erlangter Reife einem Verglühen in optimaler Fülle gleich. Dieser Tod war kein Ende, sondern Neugeburt. Ein Stern stieg in den Himmel, ,selig in sich selbst' und allen Menschen sichtbar." 54 Aus falschen Voraussetzungen richtige Konklusionen zu ziehen, ist jedenfalls für den geschulten Aussagen-Logiker keine tolle Sache. Rosenbergs astrologische Prämissen sind jedoch Mozarts "Todeshorosk9p ", dessen Beschreibung, dessen auratisches Phantasma jenen zu überlassen ist, welche eben noch nicht die Transformation unserer Herkunft, der dynamisch-genealogischen Tierheit an uns und der ethnographischen Reihung von Halbgötsierung des Gattungswesens in die ,weltbürgerliche Ordnung' zurück." Nun geht es aber darum, Habermas' falsche Lesart, daß sich das Ideal noch weiter von der Empirie entfernt befinde (als die Idee), durch die richtige, Kantische, daß dies bloß so scheine, zu dechiffrieren. 52 Vgl. hierzu Alfons Rosenberg: W. A. Mozart - Der verborgene Abgrund. Zürich 1976, s. 11, 77 . 53 a. a. 0 . S. 79 f . 54 a . a . 0 . S . 98.

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tern bis zu Heroen an uns in die Barbarei hier, in die neuen divinisierten Formen der Verselbständigung unserer Produkte, bis zur Verselbständigung der Informationssprache als neue Struktur-Gottheit mitbedacht haben. Aus dieser Sphäre her ist Mozarts Anspruch, der Würde des Menschen zu begegnen, zu verstehen. Und aus dieser Sphäre her ist auch die durch Mozart transformierte spätmittelalterliche Kompensation des Dämonischen, also der Macht des Weltgeistes, von Grünewald bis Leibniz, von Goethe und Regel, deren eigentümliche Verführung zum kulturbezogenen Rückfall, zu verstehen. Dieser Macht der Würde, mitten im Rückfall aus der Spannung hin zu autonomer Personalität in die Belanglosigkeit des ins Zivilisatorische eingebauten Kulturbetriebes unserer antiquarischen Betrachtung, ist nun auch Schützens These von der Begegnung zwischen der an ihrem Gegenstand sich relativierenden Phänomenologie und dem Erhabenen hingegebenen Musik zu sehen. Hierfür wäre uns Diotimas Betrachtung, also die "Todesarten" Ingeborg Bachmanns, gerade recht, geht hier aber zu weit. Ingeborg Bachmanns Einsicht in ihrer Studie "Musikstädte" 55 bezieht sich zunächst phänomenologisch, wie wir sahen, auf Hugo von Hofmannsthals bis heute unerträgliche Stiftung des Kulturbetriebs, der, neben dem Sportbetrieb, die Identität einer Nation ausmacht, da wir ja, nach Bachmanns Plan, keinen weiteren entscheidenden Beitrag zur aktiven Neutralitätspolitik eines Landes im Zentrum Europas verfolgt hätten. Deshalb schließt auch ihre sardonische Kritik an den Hofmannsthalschen Kulturbetrieb lapidar: "Die Musikstädte haben eine Saison wie Kurorte - die Musikwochen. In dieser Zeit wird für die vielen Tausenden, die dran gesunden wollen und die nicht in einer Musikstadt leben können, Musik ausgeschenkt. Wer ständig in einer Musikstadt wohnt, freut sich auf das Ende der Saison, weil dann alle unmusikalischen Menschen wieder fortfahren und die Zeit der Fingerübungen kommt. " 56 Die folgende Passage: "Ein Blatt für Mozart" führt jedoch über zu Ingeborg Bachmanns entscheidender Frage: "Was aber ist Musik?" und zu der weiterführenden Abhandlung: "Musik und Dichtung", welche aber wiederum für unsere Fragestellung der Besinnung Schützens auf Mozart zu viel wird. Das "Blatt für Mozart" dazwischen aber ist uns nicht vorzuenthalten, weil es den Anfang einer Antwort auf unsere Aporie von vorhin gibt: »Zieh deine schönsten Kleider an; dein Sonntagskleid oder dein Totenhemd: Der Rasen ist frisch gemäht- nicht nur im Mirabell. Wenn du den Sonntag feierst oder dich zum Sterben hinlegst, laß die Streicher kommen, das Blech, das Holz und die Pauken. Du brauchst ihnen die Blätter nicht umzuwenden. Der Wind, den die Tiefebene eingelassen hat, wendet sie um. 55 56

Vgl. oben Anm. 17. Vgl. I. Bachmann, a . a. 0. S. 56 f.

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Du spürst, welcher Wind. Das große Spiel, das schon einmal gewonnen worden ist, beginnt wieder, wo die Hügel sich um den großen braunen Fluß mit seiner unverständlichen Sprache von Schöpfungstagen her lagern. Du ahnst, um welchen. Du magst nur die Geschichten nicht mehr hören, in denen die Rede davon geht, daß schon einmal ein Engel auf die Erde gefallen ist. Denn die Harfen sind ihm nie lieb gewesen. (Aber, fragst du dich noch einmal, verriet er nicht mit seiner Abkunft seine Herkunft?) Welchen Sinn hätten dann diese Geschichten noch? "In seinem Taufschein wurde als letzter Name ,Theophilus' eingetragen." "Als Knabe wurde er ohnmächtig, als er Trompeten hörte." "Er schrieb, daß es keine rosigen Träume gebe. " "Erinnere mich daran, sagte er, sich an die Schwester wendend, daß ich für das Horn etwas besonders Gutes schreibe. " "Es war an einem naßkalten Dezembertag. Er konnte der Kaiserin nicht mehr um den Hals fliegen und sie küssen. Er sagte: Bleib heute nacht bei mir und sieh mich sterben. Ich schmecke den Tod auf meiner Zunge." "Er konnte die Musik nicht mehr vollenden und starb über dem Lacrimosa. " Es sind aber die gefallenen Engel und die Menschen voll von dem gleichen Begehren, und die Musik ist von dieser Welt. Die reinste, bitterliebste und süßeste Musik ist nur die vollkommenste Variation über das von der Welt begrenzte, uns überlassene Thema. Du hörst, über welches.