Recht im Pluralismus: Festschrift für Walter Schmitt Glaeser zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428509829, 9783428109821

Wie sich die vielfältige Freiheit des Individuums und die notwendige Ordnung des Zusammenlebens im staatlichen Verband a

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Recht im Pluralismus: Festschrift für Walter Schmitt Glaeser zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428509829, 9783428109821

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Recht im Pluralismus Festschrift für Walter Schmitt Glaeser zum 70. Geburtstag

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 932

Recht im Pluralismus Festschrift für Walter Schmitt Glaeser zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Hans-Detlef Horn in Verbindung mit Peter Häberle, Herbert Schambeck, Klaus Stern

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10982-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ

Honoris causa Leidenschaftlicher Lehrer, bekennender Wissenschaftler und routinierter Praktiker - so muß die bezeichnende Beschreibung der wesentlichen Eigenschaften des Jubilars lauten. Walter Schmitt Glaeser kommt aus der Praxis. Die dort verbrachte Zeit war nicht lange, aber prägend. Sie förderte seinen eindringlich-unkomplizierten Schreibstil, das Gespür für das Aktuelle und den Sinn für das Machbare sowie seine zugreifende Art, wenn es um konkrete Problemlösungen, um Organisation und Gestaltung im Alltag der Universität, um Kommissionsarbeit (auf Bundes- und Landesebene), um Politik- und Wirtschaftsberatung oder um die großen Wirkungsbereiche ging, die nahezu über dreißig Jahre nicht nur sein berufliches Leben entscheidend mitbestimmten: Aufbau der Universität Bayreuth (1971 bis weit in die Anfänge der 80er Jahre hinein - der Bayreuther „Wirtschaftsjurist" stammt aus seiner Feder!), Mitglied des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (1987 bis 1990), Mitglied des Bayerischen Senats (1987 bis 2000), davon drei Jahre dessen Präsident, Mitglied des Rundfunkrates und stellvertretender Vorsitzender des Verwaltungsrates des Bayerischen Rundfunks (1992 bis 1996). Das alles waren wichtige und gewichtige Aufgaben, und sie wurden von ihm intensiv wahrgenommen, mit viel Kraft und Disziplin, ausgeprägtem Verantwortungsbewußtsein, mit „Stil" und fundiertem Können, freilich notwendigerweise unter Verzicht auf manches Forschungsprojekt und zahlreich angebotene Vortragsund Vorlesungsreisen ins nähere und fernere Ausland. Zum Teil wurde dieser Verzicht aufgewogen durch die Möglichkeit, wissenschaftliches Denken in die Praxis, in „konkretes Denken" umzusetzen. Die richterliche und die parlamentarische Tätigkeit waren dafür besonders geeignet. Mit größter Kunstfertigkeit verstand es Walter Schmitt Glaeser, Wissenschaft in den juridischen Alltag zu bringen und die politische Praxis theoretisch zu fundieren - ebenso wie umgekehrt die wissenschaftliche Analyse durch praktische Anschauung zu beleben, was insbesondere auch den Vorlesungen und Seminaren zugute kam, die er selbst in Zeiten größter außeruniversitärer Belastung beständig fortführte. Seine Berichterstattungen im Bayerischen Senat waren mehr als nur Brückenschläge zwischen Wissenschaft und Praxis, sie waren eine organische Verschmelzung, in der sich beide wechselseitig befruchteten. Auch die Prozeßvertretungen vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof, die er für den Senat wahrnahm, nachdem er wegen seiner Senatsmitgliedschaft nicht mehr dem Verfassungsgerichtshof angehören konnte, lieferten dafür eindrückliche Beispiele. Allgemeine Aufmerksamkeit und nachhaltigen Einfluß erlangten zum Beispiel sein

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Einsatz für die Begründung einer Sicherheitswacht, bei der Bayern eine Vorreiterrolle einnahm, seine Mitwirkungen an der Neuorganisation des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs sowie an den Verfassungsstreitigkeiten um die Neuordnung des Landtagswahlrechts, die Reichweite des parlamentarischen Untersuchungsausschußrechts und die Einführung des kommunalen Bürgerentscheids. Ein besonderes Anliegen des Jubilars war die Weiterentwicklung der Juristenausbildung; der sog. „Freischuß", der zunächst in Bayern und bald darauf im gesamten Bundesgebiet mit großem Erfolg eingeführt wurde, geht auf seine Initiative im Senat zurück. Daneben sind es immer wieder ganz prinzipielle Fragen, die auf seine Anregung hin der parlamentarischen Beratung zugeführt wurden: die Bekämpfung politischer Gewalt; mögliche rechtliche Wege zur Wiedervereinigung Deutschlands; Verfassungen der zukünftigen Länder der (ehemaligen) DDR (föderative Ordnung, Zwei-Kammer-System); Stärkung der Bundesländer in den Europäischen Gemeinschaften; Verringerung der Zahl öffentlich-rechtlicher Beauftragter der Exekutive; Schutz des ungeborenen Lebens in Deutschland. Als Präsident des Senats initiierte er Plenardebatten über wichtige aktuelle Grundsatzfragen, so zum Beispiel über neue Entwicklungen im Bereich der Medien, über den Umweltschutz, über innere Sicherheit. Natürlich nützten Walter Schmitt Glaeser bei seiner Arbeit im Parlament, im und vor Gericht sein umfassendes Wissen vom Recht, noch mehr aber sein im besten Sinne kritischer Umgang mit dem Recht. Herbert Schambeck hat dies in der Feierstunde anläßlich der Emeritierung des Jubilars im März 2001* so formuliert: „In all diesen Verantwortungsbereichen hat Walter Schmitt Glaeser Wissen mit Gewissen insofern verbunden, als er sich über sein Wissen ein Gewissen gemacht hat und sich damit von vielen unterschied, nämlich von jenen Menschen, die zwar etwas wissen, sich darüber aber kein Gewissen machen, sowie von jenen, die vorgeben, über etwas sich ein Gewissen zu machen, was sie aber nicht wissen." Und durchaus in der gleichen Sinnrichtung meinte Klaus Dieter Wolff, der langjährige Präsident der Universität Bayreuth und ein Kenner der politischen Szene, in derselben Feierstunde: Schmitt Glaeser habe versucht, „eine neue Qualität in die Politik hinein zu tragen. Dieser Versuch wird wiederholt werden müssen und auch wiederholt werden, denn ohne daß Dämme, Markierungen und Wegweiser aufgerichtet werden, können weder die Politik und die Politiker noch die Bürger ihren Weg durch das Labyrinth der Ungewißheiten finden. Beliebigkeit kann nicht das Fundament menschlicher Entwicklung sein. Wir brauchen Wächter der Ordnung, die zugleich Hüter der Freiheit sind. Walter Schmitt Glaeser war und ist ein solcher Wächter und Hüter." Was sein Wirken in der staatsrechtlichen Praxis kennzeichnet, prägt auch sein Anliegen in der Wissenschaft. So breit angelegt und weitverzweigt das bisherige Werk des Schülers von Günter Dürig ist: In all seinen Facetten wird es durchweg von der * Beiträge zu der Feierstunde anläßlich der Emeritierung von Universitätsprofessor Dr. Dr. h.c. Walter Schmitt Glaeser am 23. März 2001, UBT-Schriften, Heft 2, hrsg. vom Präsidenten der Universität Bayreuth.

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Grundfrage geleitet, wie sich die vielfältige Freiheit des Individuums und die notwendige Ordnung des Zusammenlebens im staatlichen Verband auf der Basis eines wertgebundenen Verantwortungsdenkens in ein (ge)rechtes Verhältnis bringen läßt. Der Titel dieser Festschrift will dieses zentrale Anliegen im Schaffen von Walter Schmitt Glaeser programmatisch aufnehmen und repräsentieren: „Recht im Pluralismus". Von den vielen Themen, die Walter Schmitt Glaeser in dieser Weise zum Teil wegweisend-pionierhaft angegangen und durchdrungen hat, seien besonders erwähnt: Im Grundrechtsteil sind es vor allem die Menschenwürde und die Problematik des verfassungsstaatlichen Menschenbildes, die Privatsphäre (einschließlich Datenschutz), die Gleichberechtigung, die elterliche Sorge (als Rechts- und Pflichtenposition) und die Lehr- und Forschungsfreiheit. Arrondiert werden diese Bereiche durch die wiederholt behandelten Fragen zur (grundrechtlichen) Volksund (demokratischen) Staatswillensbildung. Grundsätzliche Analysen im Verfassungsorganisationsteil sind dem staatlichen Gewaltmonopol, dem Demokratieprinzip einschließlich der Problemfelder der „Demokratisierung" und des Plebiszits, dem Parlamentsrecht, dem Verfahren der Verfassungsänderung und der speziellen Ausbildung der Rechtspolitik unter dem Grundgesetz gewidmet. Einen weiteren Schwerpunkt stellt die eingehende Erörterung von Grundrechtsmißbrauch und Grundrechtsverwirkung dar (Habilitationsschrift). Der relativ frühen Beschäftigung mit den neuen Medien in der Schrift „Kabelkommunikation und Verfassung" folgt eine lange dezidiert-kritische Auseinandersetzung mit der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Allgemeine Verwaltungsrecht wird dominiert von verfahrensrechtlichen Fragen, wobei das Salzburger Staatsrechtslehrerreferat des Jubilars über „Partizipation an Verwaltungsentscheidungen" sowie sein Lehrbuch zum Verwaltungsprozeßrecht im Mittelpunkt stehen. Im Besonderen Verwaltungsrecht liegt der Akzent neben dem Medien-, Hochschul-, Polizei- und Kommunalrecht vor allem auf dem Planungsrecht, das in seiner ganzen Vielfältigkeit bis hin zu prinzipiellen Konfliktproblemen und seinen speziellen Bezügen zu den Grundrechten behandelt wird. Bei aller Distanz, die das wissenschaftliche Arbeiten fordert, wird gleichwohl immer wieder auch der ganz persönliche Einsatz erkennbar, mit dem sich Walter Schmitt Glaeser einem Thema widmet. Um noch einmal Herbert Schambeck zu zitieren: „Er ist kein populistischer Verbalist, der mit Worthülsen Problemstellungen aus dem Weg geht; er stellt sich ihnen." Von Walter Schmitt Glaeser gibt es keine wissenschaftliche Aussage, die er nicht auch selbst praktisch lebt oder leben könnte. Das gilt selbstverständlich ebenso für seine akademische Lehre. Wer den Jubilar als Student erleben durfte, konnte schon sehr bald erkennen, daß er einen Lehrer aus Leidenschaft vor sich hat, dem es nicht allein um Wissensvermittlung und Ausbildung, sondern im besten Sinne des Wortes auch um Bildung und Erziehung geht, um die Vermittlung einer ethisch-moralischen Haltung als Hintergrund juristischen Tuns, und daß dieser Lehrer diese Haltung selbst besaß und intensiv lebte. Sein Berufsethos umfaßte auch die Sorge um und für „seine" Studenten; bei persönlichen Schwierigkeiten half er mit Rat und Tat. Freilich: Walter Schmitt

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Glaeser forderte auch Einsatz und Leistung, in der er nicht zuletzt auch ein Stück Anständigkeit gegenüber der Gemeinschaft versteht, weil allein durch Leistung die Entfaltung individueller Besonderheiten und mit ihr ein Beitrag zum Gedeihen der menschlichen Gemeinschaft möglich wird. Der leidenschaftliche Pädagoge Walter Schmitt Glaeser hat stets alles getan, um den Studenten Leistung zu ermöglichen. Daß er damit Erfolg hatte, zeigt nicht zuletzt das 1970 in erster Auflage auf den Weg gebrachte Lehrbuch zum Verwaltungsprozeßrecht; es hat wie kein anderes Generationen von jungen Juristen ein Rechtsgebiet nahegebracht, das gemeinhin als spröde und unattraktiv empfunden wurde. Damit sind die wohl wichtigsten Eigenschaften des Jubilars angesprochen. Doch lassen sie sich noch zusätzlich pointieren durch eine Aussage von ihm selbst: „Erkenntnis verlangt Bekenntnis". Seine Bekenntnisse sind ohne Aufdringlichkeit, eher schlicht, aber immer eindeutig, auch gegen den jeweiligen Zeitgeist, gleichviel ob es Nachteile bringt, und es brachte Nachteile, nicht selten ganz erhebliche. Daß er trotzdem Respekt erfuhr und gehört wurde, dürfte auf die verbindliche Art zurückzuführen sein, mit der er seine Meinungen und Konzepte unterbreitet, auch auf seine Toleranz und Kompromißbereitschaft, in der die Hinwendung zum anderen Menschen unabhängig von dessen abweichender Haltung Ausdruck findet, auf die Redlichkeit und Aufrichtigkeit seines Auftretens, die gleichermaßen Unbeugsamkeit wie Verantwortungsbereitschaft signalisiert, und nicht zuletzt natürlich auf seine Kompetenz und die Überzeugungskraft seiner Argumente. Und so durfte er mit Freude, durchaus auch mit Genugtuung konstatieren, daß es eine stattliche Zahl von Menschen gibt, die Bekenntnisse, zumal wenn sie aus hart erarbeiteten Erkenntnissen erwachsen, zu schätzen und zu achten wissen. Das gilt jedenfalls für den Bereich der Wissenschaften, aber in vielfältiger Weise auch darüber hinaus. Die vielen Ehrungen, die der Jubilar erfahren hat, geben davon ein beredtes Zeugnis: die Ehrendoktorwürde der Universität Würzburg (1995), die Wahl zum stellvertretenden, später zum Vorsitzenden der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (1982/83 und 1994/95), die mehrfachen Rufe an höchst angesehene Fakultäten, die Verleihung des Bayerischen Verdienstordens, des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst I. Klasse, des Bundesverdienstkreuzes I. Klasse. Auch die Herausgeber und die Autoren dieser Festschrift zum 70. Geburtstag von Walter Schmitt Glaeser am 2. Oktober 2003 wollen ihre Wertschätzung, ihre Anerkennung und ihren Dank bekunden. Es ist ein kleiner, ausgesuchter Kreis von Kollegen und Freunden sowie einigen wenigen Persönlichkeiten aus der Universitätsverwaltung, der Gerichtsbarkeit und der Politik, mit denen sich der Jubilar über die Jahre hinweg nachhaltig verbunden fühlt. Fast ist die Schrift eine „Liber Amicorum", zu welchen gewiß auch Norbert Simon gezählt werden darf, dem die Übernahme dieser Festschrift in den Verlag Duncker & Humblot herzlich zu danken ist. Marburg/Bayreuth/Wien/Köln, im März 2003 Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis

I. Grundrechte, Demokratie Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. Professor Dr. Paul Kirchhof, Heidelberg

Universität

Staatliche Verantwortlichkeit und privatwirtschaftliche Freiheit

3

Professor Dr. Dr. h. c. Harro Otto, Universität Bayreuth Gewissensentscheidung und Rechtsgeltung

21

Professor Dr. Dr. h. c. Peter Lerche, Universität München Verfassungsmäßige Ordnung (Art. 2 Abs. 1 GG) und Gemeinschaftsrecht. Ausgewählte Fragen

41

Professor Dr. Dr. Detlef Merten, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Der Grundrechts verzieht

53

Präsident des Österreichischen Bundesrates i. R. Professor Dr. Dr. h. c. mult. Herbert Schambeck, Universität Linz Gedanken über die wehrhafte Demokratie - ein Beitrag zum Verständnis der Parteienstaatlichkeit in Österreich und Deutschland

75

Rechtsanwalt Professor Dr. Fritz Ossenbühl, Universität Bonn Gedanken zur demokratischen Legitimation der Verwaltung

103

Bayerischer Staatsminister des Innern Dr. Günther Beckstein, München Volksgesetzgebung auf Bundesebene und bundesstaatliche Ordnung

119

Präsident des Bayerischen Landtags Johann Böhm, München Kommunikation und Partizipation - zwei Säulen unserer Demokratie

135

Inhaltsverzeichnis

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II. Organisation, Kompetenzen Professor Dr. Hartmut Maurer, Universität Konstanz Mitgliedschaft und Stimmrecht im Bundesrat

157

Professor Dr. Dr. h. c. Josef Isensee, Universität Bonn Mitwirkung des Bundesrates bei der Rahmengesetzgebung. Am Beispiel von Änderungsgesetzen zum Hochschulrahmengesetz

179

Präsident der Max-Planck-Gesellschaft a. D. Professor Dr. Dr. h. c. mult. Hans F. Zacher, Universität München Der soziale Bundesstaat

199

Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. Professor Dr. Hans H. Klein, Universität Göttingen Rechtsfragen des Parlamentsvorbehalts für Einsätze der Bundeswehr

245

Professor Dr. Matthias Jestaedt, Universität Erlangen Und er bewegt sie doch! Der Wille des Verfassungsgesetzgebers in der verfassungsgerichtlichen Auslegung des Grundgesetzes 267 Professor Dr. Karl Möckl, Universität Bamberg Reservatrechte und föderale Ordnung - Bayerns Rolle im Deutschen Kaiserreich von 1870/71 295

III. Rechtsschutz, Verfahren Professor Dr. Hans Heinrich Rupp, Universität Mainz Zur organisations- und verfahrensnormierenden Kraft der Grundrechte

307

Professor Dr. Dr. h. c. Eberhard Schmidt-Aßmann, Universität Heidelberg Neue Entwicklungen zu Art. 6 EMRK und ihr Einfluß auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG

317

Richter des Bundesverfassungsgerichts Professor Dr. Udo Steiner, Universität Regensburg Sozialer Konflikt und sozialer Ausgleich - Zur Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit

335

Professor Dr. Dr. h. c. Klaus Vogel, Universität München Richtervorlage (Art. 100 Abs. 1 GG) nach zurückverweisendem Urteil

353

Inhaltsverzeichnis

XI

Präsident des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs a. D. Professor Dr. Johann Wittmann, München Richterliche Unabhängigkeit - Freiheit und Verantwortung

363

Professor Dr. Gerhard Dannecker, Universität Bayreuth Absprachen im Besteuerungs- und im Steuerstrafverfahren

371

Professor Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth Verantwortung und Wahrheitsliebe im verfassungsjuristischen Zitierwesen

395

IV. Innere Sicherheit, Medien

Professor Dr. Helmuth Schulze-Fielitz,

Universität Würzburg

Nach dem 11. September: An den Leistungsgrenzen eines verfassungsstaatlichen Polizeirechts? 407 Professor Dr. Hans-Detlef Horn, Universität Marburg Sicherheit und Freiheit durch vorbeugende Verbrechensbekämpfung - Der Rechtsstaat auf der Suche nach dem rechten Maß 435 Professor Dr. Herbert Bethge, Universität Passau Pluralismus als medienrechtliches Ordnungsprinzip?

465

Präsident des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs Professor Dr. Dr. h.c. Karl Korinek, Universität Wien Zur Rechtfertigung der Sonderstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im dualen System. Dargestellt am Beispiel des österreichischen Rundfunkrechts 487

V. Wettbewerb, Steuern

Professor Dr. Helmut Köhler, Universität München Zur wettbewerbsrechtlichen Sanktionierung öffentlich-rechtlicher Normen

499

Professor Dr. Peter M. Huber, Universität München Die Verlängerung des Postmonopols im Lichte seiner verfassungs- und unionsrechtlichen Rahmenbedingungen 509

XII

Inhaltsverzeichnis

Professor Dr. Volker Emmerich / Dr. Jochen Hoffmann, Universität Bayreuth Börsenrecht und Kartellrecht

527

Professor Dr. Karl-Georg Loritz, Universität Bayreuth Gedanken zu steuerlichen Bewertungsfragen und zum Sinn der Erbschaft- und Schenkungsteuer 537

VI. Europäisches, Internationales Professor Dr. Dr. h. c. Thomas Oppermann, Universität Tübingen Größere und kleinere Mitgliedstaaten in der Europäischen Union

559

Professor Dr. Prodromos Dagtoglou, Universität London Der Status der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union"

569

Professor Dr. Dr. h. c. mult. Klaus Stern, Universität Köln Der Schutz der Grundrechte in den Verfassungen Ostmitteleuropas

573

Professor Dr. Franz-Ludwig Knemeyer, Universität Würzburg Der Aufbau kommunaler Selbstverwaltung von oben. Föderalismus und Dezentralisation in Rußland 597

Schriftenverzeichnis Walter Schmitt Glaeser

617

I. Grundrechte, Demokratie

Staatliche Verantwortlichkeit und privatwirtschaftliche Freiheit Von Paul Kirchhof

I. Das Zusammenwirken von freiheitsberechtigter Gesellschaft und freiheitsverpflichtetem Staat „Die Idee menschlicher Selbstverwirklichung in politicis ist eingebettet in ein Staatsverständnis, wonach nicht nur die grundrechtliche Freiheit des einzelnen den Staat, sondern auch der Staat den einzelnen etwas ,angeht', der Mensch also durch seine Freiheit und in Freiheit den Staat konstituiert, belebt und erhält.'4 - So beginnt Walter Schmitt Glaeser seine Grundsatzüberlegungen zur bürgerschaftlichen Mitwirkung. 1 Damit sei die strikte Trennung von Staat und Gesellschaft überwunden, auch die Alternative von öffentlich und privat widerlegt. 2 Der Befund, daß Staat und Gesellschaft voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind, zeige sich in der Meinungs- und Medienfreiheit, der Versammlungs-, Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit, exemplarisch vor allem in der Verknüpfung des Einzelnen mit der institutionalisierten Staatlichkeit durch die politischen Parteien,3 verfassungstheoretisch insbesondere in der Legitimierung von Herrschaft durch die Volkswahl.4 Selbst die Mitgestaltung des Menschenbildes sei Kern politischer Freiheit und Gegenstand des Volkswillensbildungsprozesses. Der freiheitliche Staat unterscheide sich von dem totalitären gerade dadurch, daß das Menschenbild nicht durch staatliche Organe „fixiert" sei, vielmehr jedermann im Rahmen des Volkswillensbildungsprozesses an der Formung des Menschenbildes mitwirken könne.5 Diese Verschränkung von staatlichem und privatem Handeln setzt klare Verantwortlichkeiten für Staat und Gesellschaft voraus, fordert eine Kultur verantwortlicher Wahrnehmung von Freiheit, verlangt einen verfassungsrechtlichen Rahmen auch für private Macht. Diese Bedingungen des Rechts entwickelt Walter Schmitt 1 Walter Schmitt Glaeser, Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR), Band II, 2. Aufl. 1998, § 31, Rn. 1. 2 (Fn. 1), Rn. 1 f. 3 (Fn. 1), Rn. 4 f., 12 f. 4 (Fn. 1), Rn. 25 f. s (Fn. 1), Rn. 34 f.

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Paul Kirchhof

Glaeser für die Macht der Medien, auch für die Beteiligung von Parteien an Presseverlagen6 und widmet sich dabei insbesondere der Entwicklung des öffentlichrechtlichen Rundfunks. 7 Er analysiert die private Gewalt - vom Terrorismus, über gewalttätige „Demonstrationen'4 bis zu den Gewalttätigkeiten gegen Ausländer und Asylbewerber 8 - und fragt nach „Ethik und Wirklichkeitsbezug des freiheitlichen Verfassungsstaates" 9: Der Mensch könne im Unverbindlichen und Beliebigen nicht leben, Relativismus schaffe Unbehagen, oft auch Verzweiflung. Toleranz fordere „moralische und intellektuelle Anstrengung", brauche auch ein politisches System, in dem die Werte von Gemeinsinn, Opferbereitschaft, Disziplin, Verläßlichkeit, Selbstbeherrschung als wertvoll, als lohnend erlebt werden. 10 In seinem Staatsrechtslehrerreferat 11 stellt Walter Schmitt Glaeser ein demokratisches, rechtstaatliches und sozialstaatliches Modell von ineinandergreifenden Partizipationen an Verwaltungsentscheidungen vor: Die bürgerschaftliche Partizipation wird zum Gegenbegriff der staatlichen Organsouveränität; nichtstaatliche Beteiligte haben an staatlichen Entscheidungsverfahren unmittelbar - nicht über gewählte Volksvertreter vermittelt - teil. Inzwischen hat sich eine gegenläufige Form des Zusammenwirkens von Staat und Gesellschaft entwickelt, die Staatsaufgaben privatisiert und den Staat zum bloßen Garanten hinreichender Versorgung macht. Modellfälle bieten die Privatisierung der Bundeseisenbahnen (Art. 87e Abs. 3 GG) sowie von Postwesen und Telekommunikation (Art. 87f GG). Beide Privatisierungsermächtigungen weisen dem Bund ausdrücklich einen Gewährleistungsauftrag zu (Art. 87e Abs. 4 GG, 87f Abs. 1 GG). Daneben neigt der Staat zunehmend dazu, die Dichte staatlichen Regeins zu lockern und nur bestimmte Ziele vorzugeben, die Instrumente der Zielerreichung aber privater Entscheidung zu überlassen. Diese Form der Kooperation 12 von öffentlicher und privater Hand wählt das Duale System Deutschland AG, das in einem privatwirtschaftlichen Ver6 Walter Schmitt Glaeser, Die Macht der Medien, JÖR n.F. 50 (2002), S. 169 f. 7 Walter Schmitt Glaeser, Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, BayVBl. 1982, S. 97 f.; ders., Das duale Rundfunksystem, DVB1. 1987, S. 14 f.; ders., Die Rundfunkfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AÖR 112 (1987), S. 215 f.; ders., Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG als „Ewigkeitsgarantie" des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, DÖV 1987, S. 837 f. 8 Walter Schmitt Glaeser, Private Gewalt im politischen Meinungskampf, 2. Aufl. 1992. 9 So der Titel eines 1999 erschienenen Buches. 10 Walter Schmitt Glaeser, Ethik und Wirklichkeitsbezug des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1999, S. 12 f. 11 Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, VVDStRL 31 (1973), S. 179 f. •2 BVerfGE 98, 83 (97 f.) - Landesabfallabgabe - ; 98, 106 (118 f.) - Verpackungsteuer - ; vgl. auch Christoph Brüning, Der Private bei der Erledigung kommunaler Aufgaben, 1997, S. 163 f., Dietrich Murswiek, Das sog. Kooperationsprinzip - ein Prinzip des Umweltschutzes?, ZUR 2001, S. 7; Michael Kloepfer, Umweltrecht, 2. Aufl. 1998, § 4, Rn. 46.; Hans-Werner Rengeling, Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht, S. 63 f.; Christoph Gusy, Kooperation als staatlicher Steuerungsmodus, ZUR 2001, S. 1 (3); Manfred Grüter, Umweltrecht und Kooperationsprinzip, 1990, S. 37 f.

Staatliche Verantwortlichkeit und privatwirtschaftliche Freiheit

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bund die durch Gesetz und Rechtsverordnung geregelte umweltrechtliche Entsorgungslast der Verpackungserzeuger und -Verbreiter flächendeckend in deren Auftrag wahrnimmt. 1 3

Dieses Zusammenwirken von öffentlicher und privater Hand stellt neue Anforderungen an das informale Handeln. Privates informales Handeln ist zunächst nicht durch staatliche Form - die ununterbrochene, auf das Volk zurückzuführende Legitimationskette für jede Ausübung von Staatsgewalt14 - gebunden, bedarf also in dieser Formlosigkeit besonderer Rechtfertigung. Aufgegeben ist insbesondere ein Leistungsmodell, in dem die private Leistung durch einen teilgebundenen, im Versorgungsauftrag verpflichteten Marktteilnehmer erreicht wird, der Staat hingegen - zumindest vorübergehend - als rechtlicher Leistungsgarant die Versorgung gewährleistet. In diesem Rahmen wird der private Leistungserbringer seine grundrechtlichen Freiheitsrechte in Anspruch nehmen, ohne daß dadurch der betroffene Handlungsbereich aber im Sinne von Markt und Wettbewerb liberalisiert werden müßte: Der Wissenschaftler übt seine Freiheit in staatlichen Universitäten aus, der Freiberufler nimmt Berufsfreiheit in öffentlich-rechtlichen Kammern wahr, der private Anleger beteiligt sich an einer Gesellschaft der öffentlichen Hand mit Daseinsvorsorgezweck, wird dabei jeweils als Grundrechtsberechtigter, nicht aber in einem vollständig liberalisierten Lebensbereich tätig.

II. Die Privatisierung als Wechsel der Rechtsstruktur Mit der Privatisierung bisheriger Verwaltungstätigkeit ändern sich Auftrag, Rechtsbindung und Handlungsformen des verantwortlichen Rechtsträgers grundlegend: An die Stelle der grundrechtsgebundenen öffentlichen Hand tritt die grundrechtsberechtigte private Hand. Handlungsmaßstab ist nicht mehr das öffentliche Recht, sondern das für den allgemeinen Wirtschaftsverkehr geltende Privatrecht. Das Organisationsstatut wechselt vom Verwaltungsvermögen zur Aktiengesellschaft oder GmbH, ist nicht mehr einem Verwaltungszweck gewidmetes Sondervermögen, sondern dem Aktionär verantwortlich, wird in seinem Bestand nicht mehr als Verwaltung garantiert, sondern muß sich - im Rahmen eines staatlichen Gewährleistungsauftrags - im Wettbewerb behaupten. Handlungsziel ist eine erwerbswirtschaftliche, auf Gewinn ausgerichtete Unternehmertätigkeit, nicht mehr eine primär vom Verwaltungsauftrag geprägte Verwaltungstätigkeit. Das Handlungsmittel ist der privatrechtliche Vertrag, der mit dem umworbenen Kunden, nicht mit dem Antragsteller geschlossen wird. Aus dem mit Gebühren finanzierten Verwaltungsvermögen wird der Steuerzahler, aus dem öffentlich-rechtlichen 13 Werner Hoppe/Clemens Weidemann, Verwaltungsrechtliche Grundlagen dualer Entsorgungssysteme, 1999, S. 11. 14 BVerfGE 83, 60 (72) - Ausländerwahlrecht Hamburg - ; vgl. auch BVerfGE 93, 37 (70 f.) - Mitbestimmung der Personalvertretung im öffentlichen Dienst - ; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: HStR II, 2003, § 24, Rn. 14.

2 FS Schmitt Glaeser

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Dienstherrn ein tarifvertragsgebundener Arbeitgeber, aus dem öffentlich-rechtlich gestützten Verwaltungsmonopol ein Konkurrent. Die private Gesellschaft löst sich auch räumlich aus den Grenzen ihres bisherigen Verwaltungsgebietes und sucht als international tätiges Unternehmen den Weltmarkt.

7. Von der grundrechtsgebundenen Verwaltung zur grundrechtsberechtigten Wirtschaftstätigkeit Diese Entwicklung einer umfassenden Privatisierung von Dienstleistungen ist im Europarecht und im Grundgesetz angelegt. Art. 87e Abs. 3 ff. GG verlangt die Privatisierung der Eisenbahnen. Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG fordert, daß Dienstleistungen im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation als privatwirtschaftliche Tätigkeiten erbracht werden. Im Rahmen dieser Privatisierung verbleibt dem Staat eine Folgeverantwortung aus ehemals hoheitlichen Aufgaben, 15 den Bund trifft nach Art. 87e Abs. 4 und 87f Abs. 1 GG eine Gewährleistungsverantwortung für eine „GrundVersorgung". Diese Privatisierungs- und Gewährleistungsaufträge wirken im Ergebnis zusammen, wenn ein funktionierender Wettbewerb entstanden ist und damit den Nachfragern hinreichende und angemessen entgoltene Dienstleistungen angeboten werden. Der Gewährleistungsauftrag des Bundes meint also nicht stetige wettbewerbsfördernde Interventionen in das Marktgeschehen, sondern den ständigen Abbau von Staatsinterventionen mit dem Ziel eines sich selbst tragenden Wettbewerbs. 16 Der Staat war anfangs der Leistungsanbieter, ist vorübergehend Regulierungsinstanz und zieht sich baldmöglichst auf die klassische Funktion einer Marktpolizei zurück. Das Modell eines eigenständigen, staatlich beaufsichtigten Wettbewerbs hat sich in Deutschland allgemein bewährt: Selbst die unverzichtbare Grundversorgung mit Elementarbedürfnissen wie Kleidung, Nahrung und Wohnung durch privatwirtschaftliche Unternehmen folgt den Prinzipien der Wettbewerbswirtschaft und erreicht in individuell freiheitlichem Erwerbsstreben größtmögliche Versorgungseffizienz.

2. Das Nutzungsrecht als Kern der Eigentums garantie Die gegenwärtigen Privatisierungsaufträge von Eisenbahn, Post und Telekommunikation weisen die Besonderheit auf, daß nicht der Tausch von Wirtschaftsgütern, sondern die Nutzung von Netzwerken den Markt bestimmen. Der Anbieter bietet dem Kunden die Nutzung seiner Netzwerke an, ohne damit - wie bei der Übereignung einer Ware - die Substanz seines Eigentums zu verlieren. Der Nach15 Friedrich Schoch, VVDStRL 57 (1998), S. 158 (165). 16 Kay Windthorst, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 87f, Rn. 32.

Staatliche Verantwortlichkeit und privatwirtschaftliche Freiheit

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frager erwirbt für die Preiszahlung nicht ein gegenständliches Wirtschaftsgut, sondern eine begrenzte Nutzungsberechtigung. Damit wird der Tatbestand des „Zugangs" zu einem Schlüsselbegriff dieses Marktes, der die Nutzungsbefugnis - ähnlich dem geistigen Eigentum insbesondere des Urheberrechts - in den Mittelpunkt des Eigentumsschutzes rückt. Diese Entwicklung des Eigentumsschutzes führt den Kapitalismus nicht an eine Wendemarke,17 sondern verschiebt die praktische Bedeutung des Eigentumsschutzes innerhalb der traditionellen Schutzfunktionen: Das Eigentum ist die ökonomische Grundlage individueller Freiheit 18 und gibt dem Eigentümer das Recht auf Besitz, Nutzung, Verwaltung und Verfügung. 19 Eigentum sind all die Vermögenswerten Positionen, die „dem Berechtigten von der Rechtsordnung in der Weise zugeordnet sind, daß er die damit verbundenen Befugnisse nach eigenverantwortlicher Entscheidung zu seinem privaten Nutzen ausüben darf'. 20 Die privatisierten Märkte vermitteln somit weniger die Verfügungsbefugnis über ein gegenständliches Wirtschaftsgut; wesentlich ist vielmehr der Zugang zur Nutzung eines Schienen- oder Telekommunikationsnetzes. Im Wettbewerb um die Zugänge stehen dabei nicht nur die privaten Nachfrager, sondern insbesondere die konkurrierenden Anbieter: Die Zugangsmacht21 vermittelt die Marktmacht, die allein den Wettbewerb um den Kunden ermöglicht. Das individuelle Recht des Zugangs braucht damit einen vom Eigentumsschutz geprägten rechtlichen Rahmen. Während bisher der Zugang eines Schiffes zu einem Seehafen, 22 der Zugang eines Konkurrenten zu einer Stelle im öffentlichen Dienst, 23 der Zugang des Studenten zur staatlich monopolisierten Ausbildungsstätte der Universität 24 oder der Zugang zu staatlich konzessionierten Berufstätigkeiten und Erwerbsmöglichkeiten 25 das individuelle Recht in rechtlich begrenzten oder verschlossenen Märkten definierte, muß nunmehr eine Zugangsordnung entwickelt werden, die für das alltägliche Marktsystem prägend ist. Dabei verlangt 17 So aber Jeremy Rifkin, Access - Das Verschwinden des Eigentums. Wenn alles im Leben zur bezahlten Ware wird, 2000. is BVerfGE 24, 367 (389, 400) - Hamburgisches Deichordnungsgesetz - ; 50, 290 (339) - Mitbestimmung - ; 89, 1 (6) - Mieterrecht - ; 91, 294 (307) - Mietpreisbindung - ; 98, 17 (35) - Sachenrechtsmoratorium - . 19 Insbesondere BVerfGE 70, 191 (201) - Fischereirechte - ; vgl. auch BVerfGE 91, 294 (308) - Mietpreisbindung - ; 95, 64 (78) - Mietpreisbindung - ; 101, 54 (75) - Schuldrechtsanpassungsgesetz - . 20 BVerfGE 83, 201 (209) - Vorkaufsrecht - ; ähnlich BVerfGE 91, 294 (307) - Mietpreisbindung - .

21 Vgl. Robert O. Keohane/Joseph S. Nye, Die Informationsrevolution. Staat und Macht im Zeitalter globaler Information, in: Internationale Politik, Nr. 10/2000, S. 9 ff. 22 Β Kart A, Beschluß vom 12. Dezember 1999, WuW 2000, S. 757 ff. 23 BVerwG DVB1. 1989, 1150 f. 24

BVerfGE 33, 303 - numerus clausus - . 25 BVerfGE 81, 40-Taxikonzessionen-. 2*

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die Verfassung in Art. 87e Abs. 3 Satz 1 und Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG, daß die Eisenbahnen „als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form" geführt und die Telekommunikationsleistungen „als privatwirtschaftliche Tätigkeiten" erbracht werden, daß also die wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage den Kundenzugang, den Wettbewerb unter den Anbietern und den Anbieterzugang bestimmen. Der Gewährleistungsauftrag des Staates bleibt eine Folgeverantwortung des Staates bei der Privatisierung ehemals hoheitlicher Aufgaben, ist aber im Wesentlichen erfüllt, wenn die Dienstleistungen der privaten Unternehmen die gleiche Qualität haben wie die bisherigen staatlichen Monopolleistungen, auf jeden Fall aber dann, wenn die Qualität deutlich verbessert worden ist.

III. Der Verfassungsauftrag zur Privatisierung „Privatwirtschaftliche" Tätigkeiten meinen kaufmännisches, Wettbewerbs- und gewinnorientiertes Handeln in privatrechtlicher Organisationsform mit privatrechtlichen Mitteln. 26 Die Privatisierung erwartet richtige Lösungen, ζ. B. bei der Preisbildung, nicht von einer Behörde, sondern von den Marktbeteiligten, die das Risiko ihres Marktverhaltens selbst tragen und verantworten, deshalb auch über dieses Verhalten selbst entscheiden sollen. Das „Privatwirtschaftliche" gibt Handlungsbefugnis und Handlungsverantwortung in die Hand des Betroffenen und verspricht sich von dessen Betroffenenentscheidungen zugleich den größtmöglichen Prosperitätsantrieb. Der im Gesetzgebungsverfahren vollzogene Begriffswechsel von „privater" zu „privatwirtschaftlicher" Tätigkeit betont den Gegensatz zur Staatswirtschaft und bestimmt nicht nur die Rechtsform, sondern auch die Handlungsweise.27 Privatwirtschaftlichkeit öffnet den privatisierten Sachbereich der grundsätzlichen Freiheit des Wirtschaftens in den Grenzen der allgemeinen Rechtsordnung, insbesondere des allgemeinen Wettbewerbsrechts. 28 Beschränkungen, die über diese Grenzen hinausgreifen, bedürfen jeweils gesonderter verfassungsrechtlicher Rechtfertigung, wie sie für die Post in Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG enthalten sind. 29 Der Verfassungsauftrag zur Privatisierung ist in sieben Funktionsbereichen zu verwirklichen: 7. Die Privatisierung

der Organisationsform

Der Auftrag zu einem „Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form" und zur „privatwirtschaftlichen Tätigkeit" gebietet eine umfassende Organisationspri26 Kay Windthorst (Fn. 16), Rn. 27. 27 Vgl. Peter Lerche, FS Karl H. Friauf, 1996, S. 251 (253); Rupert Scholz, BT-Protokoll des Rechtsausschusses, 12/117, S. 19. 28 Peter Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87f, Rn. 55. 29 Peter Lerche {Fn. 28).

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vatisierung. 30 Die privatwirtschaftliche Organisationsform - meist der Aktiengesellschaft - gliedert das bisherige Eisenbahn-, Post- oder Fernmeldewesen aus der Staatsverwaltung aus und unterstellt es dem Regime der Privatwirtschaft. Die jeweilige AG ist in ihrer aktienrechtlichen Organisationsform ein Wirtschaftsunternehmen, das nicht den verwaltungsorganisationsrechtlichen Formen der Rechtsund Fachaufsicht unterworfen, sondern dem Aufsichtsrat und den Aktionären verantwortlich ist. Die Tätigkeiten der Wirtschaftsunternehmen folgen den Gesetzmäßigkeiten einer Kapitalgesellschaft, nicht mehr denen einer Verwaltungsbehörde. Die privatwirtschaftliche Organisationsform hat - anders als die Verwaltungsorganisation - auch zur Folge, daß sich unterschiedliche Anbieter der Dienstleistungen entwickeln und in Konkurrenz zueinander treten, diese grundsätzlich in ihrem Bestand rechtlich nicht gewährleistet sind, sie nach den Gesetzmäßigkeiten des Marktes stärker oder schwächer werden, aber auch aus dem Markt und von Konkurrenten verdrängt werden können.

2. Privatisierung

der Handlungsformen

Die jeweils durch Privatisierung entstandene Gesellschaft hat ihre Dienstleistungen als privatwirtschaftliche Tätigkeit zu erbringen, also eine Wirtschaftstätigkeit nach kaufmännischen, Wettbewerbs- und gewinnorientierten Prinzipien mit privatrechtlichen Mitteln zu entfalten. 31 Die Leistungen werden im Rahmen der Wirtschaftsfreiheit angeboten und entsprechend angenommen. Die Produktion und ihre technischen wie kaufmännischen Vorkehrungen folgen den Regeln von Angebot und Nachfrage. Diese bieten zugleich den alleinigen Maßstab für die Verteilung der Dienstleistungen und der im Ergebnis erzielten Verteilungsgerechtigkeit. Die privatwirtschaftliche Handlungsform betrifft damit sowohl das Leistungsangebot als auch das Entgelt der Nachfrager. Das bisherige Gebührensystem, in dem der Verwaltungspreis einseitig hoheitlich festgelegt worden ist, weicht dem System des vereinbarten Preises. Der Anbieter erbringt seine Leistung nur dann, wenn ihm der Preis ausreichend erscheint; der Nachfrager hält seine Nachfrage nur aufrecht, wenn die Leistung nach seiner Einschätzung ein angemessenes Äquivalent für seine Preiszahlung darstellt.

3. Die Privatisierung

der Aufgabe

Mit der Privatisierung der bisherigen Post- und Β ahn Verwaltung in ein privatwirtschaftliches Unternehmen wandelt sich auch die Aufgabe grundlegend. Wäh30 Peter Badura, BK, Art. 87f (1997), Rn. 22; Kay Windthorst (Fn. 16), Rn. 23. 31 Vgl. Peter Lerche, FS Karl H. Friauf (Fn. 27), S. 251 (253); Kay Windthorst Rn. 27.

(Fn. 16),

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rend der Zweck der Verwaltung vor allem die leistungsstaatliche Daseinsvorsorge gewesen,32 die Verwaltungsaufgabe also im wesentlichen durch die Versorgung, die Befriedigung des allgemeinen Bedarfs erfüllt worden ist, hat die Aufgabenprivatisierung nunmehr zur Folge, daß die Nachfrager von Leistungen nach den Grundsätzen der Marktwirtschaft befriedigt werden, der Anbieter seinen Zweck also im Gewinnstreben definieren darf, der Nachfrager allein nach dem Preis-Leistungsverhältnis seinen Bedarf bestimmt und befriedigt. Ein privatwirtschaftliches Unternehmen, das alle Nachfrager gut versorgt, aber keinen Gewinn erzielt hat, wird nach den Gesetzmäßigkeiten der Privatwirtschaft untergehen. Eine stetige Versorgung nach den Regeln von Markt und Wettbewerb wird also nur gelingen, solange die Marktwettbewerber autonom und gewinnorientiert den Markt erschließen, den Bedarf befriedigen und neuen Bedarf wecken, ihre Preise auf die Nachfrager abstimmen und nach der Marktstruktur bemessen. Diese Aufgabenprivatisierung gewinnt mit dem Börsengang der durch Privatisierung entstandenen AG markante Deutlichkeit. Wenn an der Börse der beliebige Anleger auch zum Erwerb einer Aktie eingeladen wird, enthält dies das Versprechen, daß der Aktienerwerber bei der AG ähnliche Renditen und Wertsteigerungen erwarten darf wie beim Erwerb anderer Aktien. Dieses Ertrags- und Wertsteigerungsversprechen nach den Regeln des Kapitalmarktes gilt mit dem Börsengang, also bereits vor Abschluß des Privatisierungsprozesses. Die Aufgabenprivatisierung muß demgegenüber folgerichtig 33 durchgeführt werden: Die Leistungsrechtsbeziehungen zum Kunden wie zu den Vorlieferanten sind ebenso privatwirtschaftlich zu gestalten wie die Kapitalbeschaffung, die Aufsichtsrechte und die Verantwortlichkeiten.

4. Die Grundrechtsberechtigung

der Unternehmen

Mit der Privatisierung tritt auch ein staatsrechtlich fundamentaler Wechsel ein: Aus der grundrechtsverpflichteten Staatsverwaltung wird ein grundrechtsberechtigtes Wirtschaftsunternehmen. Die privaten Anbieter kommen in den Genuß der grundrechtlichen Gewährleistungen, insbesondere der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und der Eigentümerfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG). 34 Selbst wenn der Leistungserbringer ganz oder überwiegend im staatlichen Eigentum steht, ergeben sich daraus keine Grundrechts- oder Gemeinwohlbindungen.35 Die Privatisierungs32 Vgl. Peter Lerche (Fn. 28), Rn. 21, 56. 33 Zum verfassungsrechtlichen Folgerichtigkeitsgebot vgl. BVerfGE 84, 239 (271) - Zinsbesteuerung - ; 87, 153 (170) - Grundfreibetrag - ; 93, 121 (136) - Vermögensteuer - ; 98, 83 (97 f.) - Landesabfallabgabe - ; 98, 106 (118) - Verpackungssteuer - . 34 Vgl. Kay Windthorst (Fn. 16), Rn. 9, 24, 27; Peter Badura, BT-Protokoll des Rechtsausschusses, 12/117, S. 56; vgl. auch Peter Lerche (Fn. 28), Rn. 59 ff. 35 Kay Windthorst (Fn. 16).

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entscheidung baut auf das erprobte und bewährte System des Marktes, in dem die Versorgung aller Nachfrager angemessen und ausreichend gewährleistet ist. Diese Privatisierungsentscheidung unterwirft auch die Dienstleistungs- und Versorgungstätigkeit der durch Privatisierung entstandenen AG den Gesetzmäßigkeiten des privatwirtschaftlichen Wettbewerbs der konkurrierenden Grundrechtsträger. Die Privatisierung ist insbesondere als Entscheidung für eine effektive Versorgung der Kunden ernst zu nehmen. Wie der Bäcker die Menschen verläßlich mit einem existenznotwendigen Lebensmittel versorgt, der Schneider die Menschen hinreichend und angemessen kleidet, der Bauunternehmer ihnen angemessenen Wohnraum herstellt, so wird auch eine privatwirtschaftlich-wettbewerbliche Versorgung mit Eisenbahn-, Post- und Telekommunikationsdiensten den Nachfrager angemessen und ausreichend mit Dienstleistungen versorgen. Die Überantwortung dieses Marktes in die Hand der Grundrechtsberechtigten ist zugleich eine Entscheidung für die Effizienz marktwirtschaftlicher Versorgung. 36

5. Kontinuität der Privatisierungsfolgen Das Grundgesetz verlangt in den Privatisierungsaufträgen der Art. 87e und Art. 87f eine stetige Privatwirtschaftlichkeit. Alle verfassungsgebundenen Organe müssen auf eine baldige und stetige Herstellung des Privatisierungserfolges hinwirken, der sodann auf Dauer zu bewahren ist. Eine verdeckte RückVerstaatlichung durch eine erweiterte staatliche Einflußnahme ist damit von Verfassungs wegen ausgeschlossen.37 Die Privatwirtschaftlichkeit fordert die Privatheit und nicht die Staatlichkeit von Handlungsform, Organisationsform, Aufgabe und Grundrechtsberechtigung auf Dauer. Dies gilt auch für die Übergangsphase vom Staatsmonopol zur uneingeschränkten Privatwirtschaft, in der mit der wachsenden Effizienz privatwirtschaftlicher Versorgung der Gewährleistungsauftrag des Art. 87e Abs. 4 und Art. 87f Abs. 1 GG mehr und mehr zurücktritt. Die Kontinuität der Privatwirtschaftlichkeit schließt allerdings nicht aus, daß der Eigentümer eines Unternehmens ganz oder teilweise die öffentliche Hand ist, 38 soweit diese sich innerhalb des privaten Unternehmens den Gesetzmäßigkeiten von Berufs- und Eigentümerfreiheit unterwirft.

6. Originäres Steuersubjekt Die Privatisierung verändert auch die staatliche finanzwirtschaftliche Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg des Leistungsanbieters grundlegend. Während die staat36 Vgl. auch BT-Drucks. 14/5693, S. 3. 37 Kay Windhorst (Fn. 16), Rn. 28. 38 Peter Lerche (Fn. 28), Rn. 58; Kay Windthorst

(Fn. 16), Rn. 28.

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liehe Verwaltung in Aufwand und Ertrag grundsätzlich in die staatliche Haushaltswirtschaft einbezogen ist, gewinnt der Steuerstaat seine finanzielle Grundlage in der steuerlichen Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens. Die Staatsverwaltung ist die steuerfinanzierte, das private Unternehmen die steuerfinanzierende Einrichtung. Betriebe gewerblicher Art von juristischen Personen des öffentlichen Rechts werden grundsätzlich nur Steuersubjekt, wenn sie in Konkurrenz zu privaten Anbietern treten und das Steuerrecht deshalb seine Wettbewerbsneutralität wahren muß; 39 der privatisierte Betrieb hingegen unterliegt dem allgemeinen Steuerrecht. Aus der gebührenfinanzierten Postverwaltung ist ein besteuerter Gewerbebetrieb geworden. 7. Ablösung des öffentlichen

Dienstes

Die Privatisierung hat schließlich erhebliche Folgen für den Rechtsstatus der Arbeitnehmer. Während die Bahn- und Postverwaltung in der Regel von Angehörigen des öffentlichen Dienstes wahrgenommen und dementsprechend den Regeln des Art. 33 GG unterstellt worden ist, gilt für die privatisierte Aktiengesellschaft grundsätzlich das allgemeine Arbeitsrecht. Die zukünftigen Arbeitsverträge folgen den Regeln des Arbeitsmarktes, nicht denen des öffentlichen Dienstes. Aus dem Staatsbediensteten wird ein Arbeitnehmer.

IV. Der Gesetzesvorbehalt Die Verfassung bedarf der näheren Ausgestaltung und Verdeutlichung durch den Gesetzgeber als Erstinterpreten des Grundgesetzes. Die privatwirtschaftliche Tätigkeit findet ihre gesetzliche Ausprägung im Zivilrecht als Grundlage erwerbswirtschaftlicher freiheitlicher Tätigkeit, im Gesellschaftsrecht als Organisationsstatut privater Wirtschaftseinheiten, im Wettbewerbs- und Kartellrecht als Maßstab der Freiheitsausübung durch Konkurrenten. Demgegenüber setzt der Gewährleistungsauftrag des Art. 87e Abs. 4 und Art. 87f Abs. 1 GG gesonderte gesetzliche Regelungen voraus. 40 Dieses Gesetzeserfordernis entspricht, soweit es Grundrechtseinwirkungen trägt, dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt, im Übrigen der allgemeinen Wesentlichkeitslehre. 41 Privatwirtschaftlichkeit bedeutet, daß die Dienstleistung grundsätzlich in Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten erbracht wird. Die staatlichen Regeln zur Gewährleistung einer Grund Versorgung betreffen stets die Grundrechte des Regelungsadressaten, sind dementsprechend im Erfordernis eines formellen Geset39

Peter Friedrich/Peter Kupsch (Hrsg.), Die Besteuerung öffentlicher Unternehmen, 1981; Klaus Tipke/Joachim Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 11, Rn. 11. 40 Zur Klarstellung, daß dieses nicht notwendig ein einziges Bundesgesetz sein muß, vgl. die Äußerung der Bundesregierung, BT-Drucks. 12/7269, S. 10. 4 ' Peter Lerche (Fn. 28), Rn. 82 f.

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zesvorbehalts und in der materiellen Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wie jede andere Grundrechtsein Wirkung gebunden.

1. Von der Eingriffsermächtigung

zur Ausgestaltungsbefugnis

Der grundrechtliche Gesetzesvorbehalt ist traditionell eine Ermächtigung zum Grundrechtseingriff und zur Grundrechtseinschränkung, hat darüber hinaus aber auch freiheitsermöglichende und freiheitssichernde Funktion. Jedes Grundrecht ist ausgestaltungsbedürftig, braucht die Präzisierung und Konkretisierung. Grundrechte sind nicht nur Grenze, sondern auch Gegenstand der Gesetzgebung.42 Das Grundgesetz ist auf die Mithilfe des einfachen Gesetzgebers angewiesen, der insbesondere den Inhalt der Grundrechte ausgestaltet und fortbildet. Bei der Eigentumsgarantie hat der Gesetzgeber nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG „Inhalt und Schranken" des Eigentums zu bestimmen, bei der Gewährleistung der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) in ähnlicher Weise den Kerninhalt des Grundrechts prägend zu konstituieren 4 3 Diese Ausgestaltungsvorbehalte ermächtigen den Gesetzgeber zu einer inhaltlichen Verdeutlichung und Akzentuierung der vom Grundgesetz fragmentarisch vorgegebenen Leitbilder dieser Freiheitsrechte 44 (inhaltgebende Normierung und Vorbehalt der näheren Regelung). Die Ausgestaltung der Berufsfreiheit in Berufsbildern 45 und der Eigentümerfreiheit in Eigentumsbildern 46 sind zur Anwendbarkeit der Grundrechte notwendig; ohne sie wäre das jeweilige Grundrecht inhaltlich kaum vollziehbar. Diese notwendigen Gesetzesvorbehalte47 haben zur Folge, daß erst der einfache Gesetzgeber dem Grundrecht einen rechtsstaatlich hinreichend bestimmten Inhalt zu geben vermag. Dieser grundrechtskonstituierende und grundrechtskonkretisierende Gesetzesvorbehalt 48 bezeichnet die Wechselwirkung von Grundrecht und Gesetz: Der Vor42

Peter Lerche, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, in: HStR V, 1992, § 121, Rn. 37 f. und pass.; Peter Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1962, S. 126 ff. « Peter Lerche (Fn. 42), § 121, Rn. 39; vgl. auch BVerfGE 7, 377 (404) - ApothekenUrteil - . 44

Vgl. Peter Lerche (Fn. 43); Peter Häberle (Fn. 42), S. 130 f.; Otto Bachof, Freiheit des Berufs, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Die Grundrechte, S. 208. 4 5 BVerfGE97, 12 (25,33 f.)-Patentgebührenüberwacher-, 78,179 (199)-Heilpraktikergesetz - ; 54, 301 (313) - Steuerberatergesetz - ; 7,377 (397) - Apotheken-Urteil - . 4 6 BVerfGE 79, 174 (191) - Erbbaurecht - ; 83, 201 (209) - Vorkaufsrecht - ; 14, 263 (276) - Feldmühle-Urteil - ; 77, 130 (136) - Denkmalschutz - ; 79, 29 (49) - Urheberrecht - ; 36, 281 (290) - Akteneinsicht im Patentverfahren - ; 51, 193 (217) - Warenzeichen - ; 45, 142 (179) - Kaufpreisanspruch - ; 92, 262 (271) - Eigentumsgarantie - ; 89, 1 (7) - Mieterrecht - . 47

Zur Unterscheidung von notwendigen und fakultativen Vorbehalten vgl. Karl Korinek, Gedanken zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt bei Grundrechten, in: Max Imboden (Hrsg.), FS für Adolf J. Merkl, 1970, S. 171 (174 ff.). 4 « Peter Lerche (Fn. 42), § 121, Rn. 39 f.

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behalt bestätigt die Grundrechte, weil der gesetzliche Grundrechtseingriff die Kerngewährleistung des Grundrechts zu beachten hat; er macht die Grundrechte außerhalb dieses festen Kerns erneuerungs- und entwicklungsfähig, da er dem Gesetzgeber einen Ausgestaltungs- und Entfaltungsraum eröffnet. 49

2. Gewährleistungsvorbehalt

für privatrechtlich

geformte Tätigkeiten

Die Grundsatzfrage, inwieweit „Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers"50 empfangen werden, bedarf hier keiner näheren Erläuterung. Die privatwirtschaftliche, nach Prinzipien der marktoffenen, wettbewerblichen Erwerbswirtschaft sich vollziehende Wahrnehmung der Berufs- und Eigentümerfreiheit findet im Privatrecht bereits seine gesetzliche Ausprägung und Konkretisierung. Das Grundgesetz verweist im Postulat der privatwirtschaftlichen Tätigkeit auf diesen einfach-gesetzlich ausgestalteten Rahmen in seinem jeweiligen Inhalt; diese dynamische Verweisung unterwirft die Dienstleistungen dem jeweils geltenden Recht für privatwirtschaftliche Tätigkeit, formt und gestaltet sie also nach den allgemein für die Privatwirtschaft geltenden Gesetzen. Wie die Garantie des Eigentums das herkömmliche, aber privatrechtlich weiter zu entwickelnde Rechtsinstitut des Eigentums übernimmt, der Verfassungsbegriff der Steuer an das tradierte, aber entwicklungsoffene Steuerrecht anknüpft, die Gewährleistung der Gemeinde das traditionelle Bild der kommunalen Selbstverwaltung aufnimmt und fortbildet, so enthält der Privatisierungsauftrag der Art. 87e Abs. 3 und Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG die Verpflichtung, die Organisation der Dienstleistungen nach den Regeln des Gesellschaftsrechts zu organisieren, ihre Leistungen nach den Regeln des Privatrechts anzubieten, den Wettbewerb mit anderen Anbietern nach den Vorschriften des Wettbewerbs- und Kartellrechts ablaufen zu lassen. Die Gewährleistungsaufträge der Art. 87e Abs. 4 und Art. 87f Abs. 1 GG fordern vom Bundesgesetzgeber also nur insoweit nähere, Verfassungsausgestaltende Regelungen, als diese nicht bereits durch die gesetzlichen Bestimmungen des Zivilrechts, des Gesellschaftsrechts, des Wettbewerbsund Kartellrechts vorhanden sind. Dabei lehren die Erfahrungen anderer erwerbswirtschaftlich in Anspruch genommener Märkte, daß diese privatwirtschaftliche Tätigkeit langfristig der beste Garant für die im Gewährleistungsauftrag geforderte Grund Versorgung ist.

V. Die Freiheit zur „privatwirtschaftlichen Tätigkeit" Wenn der Auftrag, Leistungen als privatwirtschaftliche Tätigkeit zu erbringen, diese Leistungen den Regelungen der Erwerbswirtschaft unterwirft, wird der je49

Vgl. auch KarlA. Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 1968, S. 4. So der Titel des Beitrags von Roman Herzog, in: FS für Wolfgang Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1415 ff. 50

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weilige Leistungserbringer zum Grundrechtsträger, der bei dieser privatwirtschaftlichen Tätigkeit vor allem von seiner Berufs- und Eigentümerfreiheit Gebrauch macht. Unabhängig von der Grundsatzfrage, ob und inwieweit das Grundgesetz eine bestimmte Wirtschaftsverfassung vorgibt oder deren Grundstrukturen zumindest durch die Grundrechte skizziert, 51 enthält das spezielle Erfordernis der privatwirtschaftlichen Tätigkeiten in Art. 87e Abs. 3 und Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG die Gewähr, daß diese Tätigkeiten als Wahrnehmung der Freiheiten zur Privatwirtschaft, also der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und der Eigentümerfreiheit (Art. 14 GG), zu verstehen sind. Diese Freiheitsrechte führen, soweit sie auf demselben Markt ausgeübt werden, zu einer Konkurrenz der miteinander wettbewerbenden Anbieter, die sich jeweils auf die gleichen Freiheitsrechte berufen können. Insoweit ist der rechtliche Rahmen dieses Wettbewerbs in den Grundrechten angelegt. Solange das Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Bundespost für eine - inzwischen mit dem 1. Januar 1998 abgelaufene Übergangszeit noch nicht konsequent privatisiert war, sondern in einer mit öffentlich-rechtlichen Strukturelementen kombinierten Mischform verharren mußte, ist dieses Unternehmen „für den harten nationalen und internationalen Wettbewerb in einer ,globalen Informationsgesellschaft 4 ... nicht angemessen gerüstet' 4.52 Um so mehr muß diese rechtliche Zwischenlage nunmehr baldmöglichst durch eine weitere Annäherung an das allgemeine Wirtschaftsrecht beendet werden, die den privaten Anbietern die uneingeschränkte Wahrnehmung ihrer grundrechtlichen Freiheiten in der Ausprägung des jeweiligen allgemeinen Wettbewerbs- und Kartellrechts erlaubt.

7. Der grundrechtliche

Schutz der Wettbewerbsfreiheit

Berufs- und Eigentümerfreiheit sind Freiheit zum Wettbewerb. Beide Grundrechte sind darauf angelegt, das eigennützige Erwerbsstreben in Konkurrenz zu anderen Grundrechtsberechtigten zu vollziehen: Bei der Eigentumsgarantie ist die Privatnützigkeit Tatbestandsmerkmal;53 die Berufsfreiheit sichert das Recht, die ökonomische Grundlage der eigenen Lebensführung zu schaffen und zu ersi Vgl. dazu BVerfGE 32, 311 (317 f.) - Steinmetz - ; 46, 120 (137) - Direktruf-; Klaus Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, in: HStR I, 1995, § 27, Rn. 71; Hans H. Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR I, 1995, § 28, Rn. 42 f.; Reiner Schmidt, Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: HStR III, 1996, § 83, Rn. 25; Josef Isensee, Grundrechts Voraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: HStR V, 2000, § 115, Rn. 240 ff., 254; Rüdiger Breuer, Die staatliche Berufsregelung und Wirtschaftslenkung, in: HStR VI, 2001, § 148, Rn. 22 f.; Hans-Uwe Erichsen, Allgemeine Handlungsfreiheit, in: HStR VI, 2001, § 152, Rn. 62. 52

Wolfgang Hoffmann-Riem, Öffentliches Wirtschaftsrecht der Kommunikation und der Medien, in: Reiner Schmidt (Hrsg.), Öffentliches Wirtschaftsrecht, Besonderer Teil 1, 1995, § 6, Rn. 66. 53 Josef Isensee (Fn. 51), § 115, Rn. 245 m.N.

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halten.54 Im Rahmen dieser gleichgerichteten Wahrnehmungen individueller Freiheit im Werben um dieselben Nachfrager entfaltet sich ein Wettbewerb, der die Bedürfnisse von Anbieter und Nachfrager ökonomisch, also einvernehmlich erfüllt, bei der die grundrechtliche Freiheit des einen die grundrechtliche Last des anderen zur Folge hat, den abweichenden Freiheitsgebrauch ertragen zu müssen. Das individuelle Erfolgsstreben fördert das Interesse der Gesellschaft nachhaltiger als staatlich reguliertes Wirtschaften. 55 Der in der Berufs- und Eigentümerfreiheit angelegte wirtschaftliche Wettbewerb kann so zu einem durch Rationalität gesteuerten Informations-, Such-, Entdeckungs- und Lernverfahren werden, das aus den individuellen Freiheitsimpulsen seinen Antrieb empfängt und deshalb allen anderen Ordnungskonzepten überlegen ist. 56 Diese in den Grundrechten der Art. 12 und 14 GG verbürgten Unternehmensfreiheiten 57 begründen das Recht, die eigenen Bedürfnisse und das individuelle Marktverhalten selbst zu bestimmen und grundsätzlich unbeeinflußt von staatlichen Auflagen und Kontrollen zu beginnen, durchzuführen und einzustellen.58 Die Wettbewerbsfreiheit als Unterfall dieser Wirtschaftsfreiheit 59 umfaßt grundsätzlich den gesamten Ablauf individueller Marktteilhabe, beginnend bei der Einrichtung der Erwerbsgrundlage (Gründung, Ausstattung und Handeln der AG) über deren Nutzung (Produktion, Vorlieferanten, Werbung, Kundenabschlüsse) bis zur privaten autonomen Bestimmung des Markterfolges (Gewinn, Verlust, einschließlich deren Zurechnung und Verwendung). Die grundrechtliche Prägung dieses wirtschaftlichen Wettbewerbs hat zur Folge, daß die Grundrechtsberechtigungen die jeweiligen Anbieter in Erfolg und Mißerfolg, in Chancen und Risiken allein auf sich selbst stellen. Dadurch wird die Einschätzungs- und Entscheidungskraft der Marktbeteiligten gestärkt; die Wirkungsund Folgenabschätzung wird in individueller Verantwortlichkeit gebündelt; die Zu54 BVerfGE 7, 377 (397) - Apotheken-Urteil - ; 21, 261 (266) - Arbeitsvermittlungsmonopol - ; Rüdiger Breuer (Fn. 51), § 147, Rn. 34. 55 Vgl. bereits Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, Horst Claus Recktenwald (Hrsg.), 1978, S. 17; vgl. auch Franz Böhm, Die Bedeutung der Wirtschaftsordnung für die politische Verfassung, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 141 (147 ff.); Josef Isensee (Fn. 51), § 115, Rn. 240 f. 56 Hans H. Rupp (Fn. 51), § 28, Rn. 42 (im Anschluß an Friedrich A. von Hayek), vgl. auch Paul Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat - die Staatsform der Zugehörigen, in: HStR IX, 1997, § 221 Rn. 83 f. a.E. 57 Zum Verhältnis dieser besonderen Grundrechte zur allgemeinen Handlungsfreiheit vgl. Hans-Uwe Erichsen (Fn. 51), § 152, Rn. 61 f.; Rüdiger Breuer (Fn. 51), § 147, Rn. 31; Reiner Schmidt (Fn. 51), § 83, Rn. 25; Hans Jürgen Papier, Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, VVDStRL 35 (1977), S. 55 (57). 58 Hans Jürgen Papier (Fn. 57), S. 57; Rüdiger Breuer (Fn. 57); Hans-Uwe Erichsen (Fn. 51), § 152, Rn. 61. 59 Vgl. BVerfGE 32, 311 (317 f.) - Steinmetz - ; Hans-Uwe Erichsen (Fn. 51), § 152, Rn. 62; Rupert Scholz, Wirtschaftsaufsicht und subjektiver Konkurrentenschutz, 1971, S. 128 f.

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rechnung von Gewinn und Verlust allein zu den unmittelbar Beteiligten ist die rechtliche Grundlage individueller und gesamtwirtschaftlicher Anstrengungen und Erfolge. Diese rechtliche Individualisierung von Marktgeschehen und Markterfolg festigt die Gleichgerichtetheit und Gleichwertigkeit der Ausgangsrechte der jeweiligen Wettbewerber und soll sicherstellen, daß ein Grundrecht nicht Herrschaft über einen anderen vermittelt. Jeder Wettbewerber sucht unabhängig vom anderen den Zugang zum Markt, nutzt seine Investitionen ausschließlich selbst und hält insbesondere den Konkurrenten von einer Mitnutzung fern, sucht sein Leistungsangebot in Qualität und Werbung ständig als das bessere gegenüber dem Konkurrenzangebot abzuheben, unterscheidet sich insbesondere auch vom Mitbewerber in der Gestaltung seiner Preise und deren Bemessung je nach den Bedürfnissen des Marktes und auch des einzelnen Kunden. Die Grundrechte der Berufsfreiheit und der Eigentümerfreiheit begründen also gesonderte Individualverantwortlichkeiten jedes einzelnen Anbieters, die ihre Freiheitsgarantie gerade dadurch verwirklichen, daß die Marktinitiativen, Investitionen, Leistungsangebote und Preisbildungen der Wettbewerber nicht miteinander verflochten werden, sondern jeweils in dem individuellen Verantwortungsbereich des Freiheitsberechtigten verbleiben.

2. Der gesetzliche Wettbewerbsschutz Die Kontinuität einer gleichbleibenden rechtlichen Chancengleichheit sichert das Wettbewerbs- und Kartellrecht in Verdeutlichung und Ausgestaltung der grundrechtlichen Vorgaben. 60 Der Gesetzgeber begründet einen besonderen Wettbewerbsschutz mit dem Ziel, einen beschränkungsfreien, funktionsfähigen und lauteren Wettbewerb als tatsächliche Voraussetzung der wirtschaftlichen Freiheit sowie als Element der Freiheitsbalance und auch eines sozialstaatlichen Interessenausgleichs auf Dauer zu erhalten. 61 Dabei genügt nicht die rechtliche Gewähr der Chancengleichheit. Vielmehr muß der Gesetzgeber auch Vorsorge treffen, daß nicht die Gesetzmäßigkeiten eines freien Wettbewerbs den offenen Markt verengen, die Freiheitswahrnehmung damit Freiheitsvoraussetzungen tatsächlich zerstören kann. 62 Die Anwendung dieses die privatwirtschaftliche Tätigkeit ermöglichenden und auf Dauer sichernden Wettbewerbs- und Kartellrechts ist für den Eisenbahn-, Postund Telekommunikationsmarkt gegenwärtig noch nicht allgemein vorgesehen. Vielmehr geht es derzeit gerade darum, den Übergang vom ehemaligen Verwaltungsmonopol zur privatwirtschaftlichen Dienstleistung sobald als möglich abzuschließen, um die Privatisierungsaufträge der Art. 87e Abs. 3 und Art. 87f Abs. 2 60 Vgl. Reiner Schmidt (Fn. 51), § 83, Rn. 25; Klaus Vogel (Fn. 51), § 27, Rn. 71; Rüdiger Breuer (Fn. 51), § 148, Rn. 22 f.; Josef Isensee (Fn. 51), § 115, Rn. 254 f. 61 Vgl. BVerfGE 9, 213 (221) - Radiumkompressenwerbung - ; 32, 311 (317) - Steinmetz - ; Rüdiger Breuer (Fn. 51), § 148, Rn. 22; Reiner Schmidt (Fn. 51), § 83, Rn. 25. 62 Franz Böhm (Fn. 55), S. 142 f.; Josef Isensee (Fn. 51), § 115, Rn. 240 f.

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Satz 1 GG vollends zu erfüllen. Gegenwärtig können die privatisierten Unternehmen ihre privatwirtschaftliche Tätigkeit, also das erwerbswirtschaftliche Handeln nach Grundsätzen eines gewinnorientierten und wettbewerbsgebundenen Kaufmanns oft nur unter Vorbehalt staatlicher Aufsicht und Regulierung entfalten und sind insbesondere in der Nutzung ihrer eigenen Netze und in der Preisgestaltung noch keineswegs im Recht der privatwirtschaftlichen Tätigkeiten angekommen. Der Verfassungsauftrag zur Privatisierung ist deshalb bis heute noch unerfüllt. Andererseits ist die vom Staat zu gewährleistende Versorgung oft bereits erreicht und wird durch die weitere Privatisierung noch verbessert werden.

VI. Privatwirtschaftliche Tätigkeit im Rahmen eines staatlichen Gewährleistungsauftrags Im Ergebnis regelt das Grundgesetz in Art. 87e und Art. 87f eine neue Form ehemals staatlicher Leistungserbringung: das privatwirtschaftliche Leisten im Rahmen eines staatlichen Gewährleistungsauftrags. In ähnlicher Weise erfüllt das Duale System Deutschland AG im Rahmen einer umweltrechtlichen Zielvorgabe einen Auftrag zu flächendeckend angemessenen und ausreichenden Dienstleistungen, der dem Gewährleistungsinhalt des Art. 87e Abs. 4 und des Art. 87f Abs. 1 GG sehr ähnlich ist. Auch hier wählt das geltende Recht ein Kooperationsmodell, in dem die private Hand der Akteur, die öffentliche Hand der Erfolgsgarant ist. Je mehr sich das privatwirtschaftliche System des Leistens, der Bedarfserkundung und Bedarfsbefriedigung bewährt, desto mehr kann sich der staatliche Gewährleistungsträger zurückziehen. Die staatliche Garantenstellung unterscheidet sich dann kaum noch von der allgemeinen staatlichen Gewährleistungspflicht, die insbesondere bei Naturkatastrophen und grobem Marktversagen eingreifen würde. Sollte die private Lebensmittelversorgung, die privatwirtschaftliche Ausstattung der Menschen mit Kleidern, Wohnungen oder medizinischen Leistungen nicht mehr hinreichen, wäre der Staat als Garant sachgerechter Leistungen gefordert. Hier bieten die für extreme Krisen vorgesehenen Sicherstellungsgesetze hinreichendes Anschauungsmaterial. Das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, dem Walter Schmitt Glaeser seine besondere wissenschaftliche Aufmerksamkeit widmet, scheint damit auf einem Weg, die Verantwortlichkeiten von privater und öffentlicher Hand wieder deutlicher zu bestimmen. Während bisher das Handlungsinstrument des Verwaltungsvertrages 63, die Handlungsformen der Beleihung, der Verwaltungshilfe und der Indienstnahme Privater 64 eher eine Verschränkung von öffentlichem und privatem 63 Vgl. Hans-Christian Röhl, Verwaltung durch Vertrag, Heidelberger Habilitationsschrift,

2001.

64 Markus Heintzen, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2002), S. 220 ff.; Andreas Voßkuhle, Mitbericht, VVDStRL 62 (2002), S. 266 ff.

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Bereich beförderten, sodann Vereinbarungen zwischen Staat und Gesellschaft zur Energieversorgung 65 oder die Kernenergienutzung 66 Grundsätze von demokratischer Legitimation und rechtsstaatlicher Verantwortung gefährden, scheint die textgebundene Verfassungsentwicklung wieder deutlicher Handlungszuständigkeiten und Rechtsmaßstäbe zu unterscheiden. Der strukturelle Gegensatz von freiheitsberechtigter Gesellschaft und freiheitsverpflichtetem Staat bleibt der verfassungsrechtliche Ausgangsbefund auch der Gegenwart.

65 Vgl. NVwZ-Beilage Nr. IV/2000 zu Heft 10/2000; vgl. auch BVerfGE 104, 249 (268 f.) - Biblis A - , sowie die abweichende Meinung der Richter Di Fabio und Meilinghoff, BVerfGE 104, 273 (277 ff.). 66 Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Nutzung von Elektrizität v. 22. 4. 2002, BGBl. I 2002, S. 1351. Nach Art. 1 Nr. 6 b) und Nr. 30 des Gesetzes ist in § 7 AtG ein Absatz la einzufügen sowie an das Gesetz eine Anlage 3 anzufügen, die Reststrommengen für die einzelnen Atomkraftwerke festlegen.

Gewissensentscheidung und Rechtsgeltung Von Harro Otto I. Der Konflikt zwischen der Freiheit des Einzelnen und seiner sozialen Verantwortung Der Konflikt zwischen der Freiheit des Einzelnen und seiner sozialen Verantwortung hat Walter Schmitt Glaeser, den hoch verehrten Jubilar, gerade auch im Zusammenhang mit strafrechtlich relevanten Problemstellungen wiederholt beschäftigt. 1 Als strukturierendes Element der Konfliktlösung hat er das Toleranzprinzip konstituiert. 2 Toleranz als Element des verhältnismäßigen Wertzuordnungsund Ausgleichsverfahrens bestimmt nach seiner Auffassung das Grundverhältnis zwischen Menschen in Form einer aktiven geistigen Haltung, die auf Beachtung, Achtung, Duldsamkeit dem anderen gegenüber in seinem Anderssein gerichtet ist.3 In Anlehnung an Neumann4 erkennt er in der Toleranz als Freiheitsprinzip ein tragendes Prinzip der Grundrechte, das „gewissermaßen die Kehrseite dieser Freiheiten [bildet], indem sie die Rechte, die jemand für sich fordert, auch anderen zugesteht, und zwar insoweit, daß der Bestand des eigenen als auch des fremden Rechts gesichert ist." - Die ausgewogene Zuordnung von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht in den weiteren Ausführungen dieses Aufsatzes bestätigen die Tragfähigkeit des Toleranzprinzips als ein Konfliktlösungsprinzip. Das legitimiert den Versuch, das Prinzip auf einen anderen Konflikt im Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit des Einzelnen und seiner sozialen Verantwortung zu übertragen, der auf den ersten Blick unauflösbar erscheint, gleichwohl aber zahlreiche, unterschiedliche Lösungen gefunden hat, die damit jedoch nur gegenseitige Zweifel an der Tragfähigkeit der einzelnen Lösungen begründen: den Konflikt zwischen der 1

Vgl. ζ. B. zum Problemfeld Meinungsfreiheit - Nötigung: Politisch motivierte Gewalt und ihre „Fernziele", BayVBl. 1988, 454 ff.; Die Beurteilung politisch motivierter Privatgewalt durch das Bundesverfassungsgericht, Dürig-FS, 1990, S. 91 ff., 92 ff.; Private Gewalt im politischen Meinungskampf, 2. Aufl. 1992. - Zum Problemfeld Meinungsfreiheit - Ehrenschutz: Meinungsfreiheit und Ehrenschutz, JZ 1983, 95 ff.; Die Beurteilung politisch motivierter Privatgewalt durch das Bundesverfassungsgericht, Dürig-FS, S. 91 ff., 102 ff. 2 Schmitt Glaeser NJW 1996, 873, 876 f. - Zur „Toleranz als Rechtsprinzip" Grundmann, Artikel „Toleranz", in: Evangelisches Staatslexikon, 1965, Sp. 2302 ff.; dazu auch Bäumlin, VVDStRL 28 (1970), 20. 3 Schmitt Glaeser, NJW 1996, 873, 876. 4 Neumann, in: Neumann / Fischer (Hrsg.), Toleranz und Repression. Zur Lage religiöser Minderheiten in modernen Gesellschaften, 1987, S. 73.

3 FS Schmitt Glaeser

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Gewissensentscheidung und der Rechtsgeltung. - Die relevante Konfliktsituation hat Arthur Kaufmann knapp und treffend umrissen: „Entweder ist das subjektive Gewissen die letzte Instanz, dann kann es außerhalb und darüber keine materiale Wertordnung geben, die das Gewissen bindet (sie kann für das Gewissen allenfalls eine unverbindliche Richtschnur sein). Wie von solcher Sicht aus die Anarchie vermieden werden kann, ist nicht ersichtlich. Oder es gibt eine verbindliche materiale Wertordnung, dann ist das Gewissen nicht die entscheidende und nicht die letzte Instanz, eine gegen eine objektive Pflicht verstoßende Handlung kann allenfalls als entschuldbarer Gewissensirrtum gewertet und darum nicht zugerechnet werden/' 5

II. Die durch Art. 4 Abs. 1 GG gewährleistete Gewissensfreiheit 1. Der rechtliche Ausgangspunkt der Problematik Ausgangspunkt der Problematik ist Art. 4 Abs. 1 GG, der die Freiheit des Gewissens als unverletzlich konstatiert. Die pathetische6 Formulierung „unverletzlich" verweist geradezu zwingend auf die absolute und allgemeinverbindliche Bedeutung der individuellen Gewissensentscheidung und die im juristischen Bereich vorgeschlagenen Definitionen der Begriffe Gewissen, Gewissensfreiheit und Gewissensentscheidung bestärken diesen Befund: Die Orientierung des Einzelnen an einer höchstpersönlichen Wertentscheidung erscheint als grundgesetzlich verbürgtes Prinzip sozial relevanten Verhaltens.

2. Der Begriff des Gewissens Einigkeit herrscht darüber, daß der in Art. 4 Abs. 1 GG verwendete Gewissensbegriff ein Rechtsbegriff ist. „Gewissen" als Rechtsbegriff betrifft die Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens. Er muß daher für alle Bürger in einheitlicher Weise bestimmt werden. Das verbietet es, den Gewissensbegriff mit Rückgriff auf bestimmte weltanschauliche, theologische oder philosophische Gewissensvorstellungen oder Gewissensdeutungen zu bestimmen, denn damit wäre eine mögliche Variationsbreite des Gewissensphänomens von vornherein dem Blick entzogen.7 5 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1997, S. 202. - Arthur Kaufmann selbst löst den Konflikt, indem er das Gewissen nicht als rein subjektive autonome Instanz anerkennt, aber auch nicht als rein objektive, heteronome Instanz, und postuliert, daß die Forderungen des Rechts mit den Gesetzen der menschlichen Natur so übereinstimmen müssen, daß der sittliche Wille sie sich im Gewissen zu eigen machen kann. Die Problematik des Konflikts wird damit auf das Widerstandsrecht gegen „unsittliche" Gesetze begrenzt; vgl. Rechtsphilosophie, S. 205. 6 Vgl. Kästner, ZevKR 37 (1992), 131 ; Starek, in: v. Mangoldt/ Klein / Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1,4. Aufl. 1999, Art. 4 Rn. 1. 7 Im einzelnen dazu BVerfGE 12, 45, 55; Bäumlin, VVDStRL 28 (1970), 3 f.; Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), 66 f.; Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz,

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Das BVerfG hat daraus die Konsequenz gezogen, „Gewissen" in Art. 4 GG im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs zu verstehen.8 Danach ist Gewissen ein (wie immer begründbares, jedenfalls aber) real erfahrbares Phänomen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind.9 Das Gewissen ist eine ethische Kategorie, 10 eine dem Menschen innewohnende „innere" Instanz, die in Erscheinung tritt, wo die Persönlichkeit in der Möglichkeit, die eigene Identität zu wahren, kritisch berührt und betroffen ist und „die ihm sagt, wie er sich in dieser Situation richtig zu verhalten hat." 11 3. Der Begriff der Gewissensentscheidung Der Begriff der Gewissensentscheidung wird unmittelbar aus dem des Gewissens heraus entwickelt: Als Gewissensentscheidung ist „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von ,Gut' und ,Böse' orientierte Entscheidung anzusehen, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte." 12

4. Schutzgut der Gewissensfreiheit Schutzgut der Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG ist nach diesem Verständnis des Gewissens und der Gewissensentscheidung die moralische Identität Stand: Juli 2001, Art. 4 Rn. 127; Kästner, ZevKR 37 (1992), 135; Mager, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 5. Aufl. 2000, Art. 4 Rn. 22; Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, 1969, S. 21; Starck (Fn. 6), Art. 4 Rn. 60. 8 Krit. zu diesem Rückgriff Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), 67. 9 BVerfGE 12, 45, 54. 10 Dazu Bethge, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 137 Rn. 3; Herzog, in: Maunz/Dürig (Fn. 7), Art. 4 Rn. 125. h Vgl. BVerwGE 7, 242, 246; 9, 97; Bethge (Fn. 10), § 137 Rn. 11; Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), 67; Herdegen, in: Listi/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts, 1994, S. 486; Luhmann, AöR 90 (1965), 264 ff.; Mager (Fn. 7), Art. 4 Rn. 22; Herzog, in: Maunz/Dürig (Fn. 7), Art. 4 Rn. 125; Podlech, Grundrecht (Fn. 7), S. 31 f.; Starck (Fn. 6), Art. 4 Rn. 61; Zippelius, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand Dez. 2001, Art. 4 Rn. 34. 12 BVerfGE 12, 45, 55; 23, 191, 205; 48, 127, 173; vgl. auch BVerwGE 7, 242, 246; 9, 97; 23, 98; BAGE 47, 363, 376; 65, 59, 68; Arndt, NJW 1957, 362; Bethge (Fn. 10), § 137 Rn. 10; Herdegen (Fn. 11), S. 486 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. 2002, Art. 4 Rn. 45; Kästner, ZevKR 37 (1992), 136; Mager (Fn. 7), Art. 4 Rn. 22; Herzog, in: Maunz/Dürig (Fn. 7), Art. 4 Rn. 127; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 4 Rn. 57; Starck (Fn. 6), Art. 4 Rn. 61; Zippelius (Fn. 11), Art. 4 Rn. 36. *

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und Integrität des Einzelnen. Sie zielt auf den Schutz psychischer Integrität durch Achtung der Persönlichkeitsstrukturen, die nach dem Selbstverständnis des Einzelnen die Identität prägen. 13 - Gewissensfreiheit ist daher „die Freiheit des Einzelnen, dem persönlichen Bewußtsein vom sittlich Guten und Bösen gemäß zu handeln'4.14

5. Inhalt und Umfang der Gewissensfreiheit Die Gewissensfreiheit umfaßt zunächst einmal den Schutz der Gewissensbildung und der Gewissensentscheidung, d. h. den Bereich, der dem sog. Forum internum angehört, sodann aber auch die Freiheit der Gewissensverwirklichung, so daß die Gewissensfreiheit auch die Umsetzung von Gewissensentscheidungen nach außen durch Tun oder Unterlassen schützt.15 Die Gewissensfreiheit schützt danach die Freiheit, nach den als bindend und unbedingt verpflichtend erfahrenen Geboten des Gewissens handeln zu dürfen.

00 BVerfGE 22, 180. 101

Michael Löher, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V., in: Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge (Hrsg.), Fachlexikon der sozialen Arbeit, 5. Aufl. 2002, S. 211 f.; Klaus Dörrie, Freie Wohlfahrtspflege, ebenda, S. 349-353. 102 Münch, Sozialpolitik und Föderalismus (ο. N. 36), S. 92-142. Allgemeiner dazu Oeter, Integration und Subsidiarität (ο. N. 45), S. 169- 172, 259-272, 464-480. Eine frühe und hinsichtlich des reichen Befundes um so erstaunlichere Darstellung s. bei Zacher, Vom Lebenswert (ο. N. 6), S. 485-530 (S. 521-530).

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Anders konstruiert, aber nach Absicht und Wirkung noch deutlicher ist der bundesstaatliche Zentralisierungseffekt im Bereich der Rechtsprechung. Zwar ist die rechtsprechende Gewalt auf die Gerichte des Bundes und der Länder aufgeteilt (Art. 92 GG). Aber auch hier gilt die Bindung der Gerichte der Länder auch an das Recht des Bundes (Art. 20 Abs. 3, 97 GG). Doch darüber hinaus sind die Gerichte der Länder der Kontrolle und der Leitfunktion des Bundesverfassungsgerichts, der obersten Gerichte des Bundes und des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichte des Bundes unterworfen (Art. 93, 95, 99, 100 GG). Sie vertieft die unitarische Wirkung der Bundesgesetzgebung in die Rechtsanwendung und die Rechtsfortbildung hinein.

c) Die ökonomische Intervention und die bundesstaatliche Ordnung der finanziellen Ressourcen Eine sozialpolitische Wirkung besonderer Art ging von Anfang an davon aus, daß die Finanzordnung des Grundgesetzes sich auf zwei Aspekte beschränkte: hinsichtlich der Einnahmen auf die Steuern (Art. 105 ff. GG); hinsichtlich der Haushaltswirtschaft auf die Haushalte des Bundes und der Länder (Art. 109 GG). Die Kehrseite: Das Grundgesetz sagte nichts Explizites über andere Einnahmen als Steuern (Gebühren, Beiträge und Sonderabgaben; Bußen, Strafen usw.; privatwirtschaftliche Einnahmen) und - zunächst - nur Formales über Kredite (Art. 115 GG); es sagte nichts Explizites über die Haushalts Wirtschaft rechtsfähiger Verwaltungseinheiten unter- und innerhalb des Bundes und der Länder; und es sagte wiederum zunächst - nichts Explizites über die Ausgabenwirtschaft. Im Laufe der Zeit kam es zwar zu Reformen der Finanzverfassung. 103 Sie führten dazu, daß die Haushaltswirtschaft des Bundes und der Länder, insbesondere auch die Kreditaufnahme, intensiver geregelt wurde (Art. 109, 115 GG), daß grundsätzliche Aussagen auch über die Ausgaben des Bundes und der Länder gemacht (Art. 104a GG) und daß die Finanzwirtschaft der Gemeinden und Gemeindeverbände (Gebietskörperschaften) in der bundesstaatlichen Finanzordnung immer differenzierter geregelt wurden (Art. 28 Abs. 2 Satz 3, 104a Abs. 4 Satz 1, 106 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 - 9 GG). Gleichwohl blieb es bei einer tiefgreifenden Spaltung der Finanzordnung: Nur für die Steuern gibt es eine explizite bundesstaatliche Ordnung, während alle anderen Einnahmen in den gesonderten Sachzusammenhängen implizit mitgeregelt sind, in denen sie stehen; nur für die Haushalts Wirtschaft der Gebietskörperschaften (also des Bundes, der Länder, der Gemeinden und Gemeindeverbände) gibt es 103 Finanzverfassungsgesetz vom 23. Dezember 1955, BGBl. I, S. 817; Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Art. 106 GG vom 24. Dezember 1956, BGBl. I, S. 1077; 15. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 8. Juni 1967, BGBl. I, S. 581; 20. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 12. Mai 1969, BGBl. I, S. 357; Finanzreformgesetz vom 12. Mai 1969, BGBl. I, S. 359; 43. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 3. November 1995, BGBl. I, S. 1492; 44. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 20. Oktober 1997, BGBl. I, S. 2470.

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explizite haushaltswirtschaftliche Vorschriften, während Vorgaben für die Haushaltswirtschaft anderer Verwaltungseinheiten wiederum in den besonderen Sachzusammenhängen aufzusuchen sind, in denen sie stehen; und auch die verfassungsrechtliche Ordnung der Ausgaben (Art. 104a GG) befaßt sich nur mit der Ausgabenwirtschaft der Gebietskörperschaften. Für die Entwicklung des Sozialen hat diese Konstellation wesentliche Bedeutung. Die wichtigste ist die, daß die Gestaltungsfreiheit des Bundes und der Länder beträchtlich größer ist, wenn soziale Leistungsprogramme anders als durch Steuern finanziert werden und anders als von Bund oder Ländern administriert werden können. Anders gewendet: Die Gestaltungsfreiheit ist größer, wenn soziale Leistungsprogramme mit Hilfe von nichtsteuerlichen Einnahmen, insbesondere also Beiträgen oder Sonderabgaben, finanziert und wenn sie durch rechtsfähige Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts administriert werden können. 104 Dabei nehmen die Gemeinden eine besondere Stellung ein. Auf der einen Seite wurde ihre finanzverfassungsrechtliche Position immer stärker ausgebaut; auch kommt eine andere Finanzierung ihrer sozialen Lasten als durch Steuermittel weitgehend nicht in Betracht. Doch bleibt die Versuchung des Bundes und der Länder, ihnen Aufgaben pauschal zuzuweisen und die Abfederung den kommunalen Haushalten zu überlassen, bestehen. Wesentlich größer aber ist der Spielraum hinsichtlich des Wirkungskreises nicht-gebietskörperschaftlicher Körperschaften, Anstalten und Stiftungen. Das zentrale Beispiel ist wiederum die Sozialversicherung. Ihre spezifische Finanzierungsquelle sind Beiträge, und ihre spezifische Organisationsform ist die einer (nicht-gebietskörperschaftlichen) Körperschaft oder einer Anstalt (Art. 87 Abs. 2 GG). Doch fallen in diesen Gestaltungsspielraum nicht nur Sozialversicherungsträger im strengen Sinne, sondern auch andere rechtsfähige Körperschaften, Anstalten und Stiftungen. Der voluminöseste Beispielsfall ist die Bundesanstalt für Arbeit, 105 welche die Aufgaben eines Sozialversicherungsträgers (Arbeitslosenversicherung) mit einer Fülle weiterer Aufgaben verbindet. Ebenso vereinigt sie in sich verschiedene Finanzierungsweisen: die Finanzierung durch Beiträge und Umlagen mit der Finanzierung aus Bundesmitteln (die wesentlich aus Steuern stammen). Daß die Bundesanstalt ihre Aufgaben in einem dreistufigen Verwaltungsaufbau (Regionen, Länder, Bundesebene) wahrnimmt, zeigt, wie weitgehend das bundesstaatliche System auf dem Wege finanztechnischer und organisatorischer Aussonderung unterlaufen werden kann. Schließlich können auch Sonderabgaben106 - wie die Lastenausgleichsabgabe (Art. 106 Abs. 1 Nr. 5, 120a GG), die Schwerbehindertenabgabe zur Förderung 104

Paul Kirchhof, Staatliche Einnahmen, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 1990, S. 87-233; Klaus Vogel/Christian Waldhoff, Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, 1999. 105 Klaus-Peter Wagner, Arbeitslosenversicherung/ Arbeitsförderung, in: Bernd von Maydell/Franz Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl. 1996, S. 1119-1176 (1173-1176). 106 Kirchhof, Staatliche Einnahmen (ο. N. 104), S. 184-202.

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der Beschäftigung Schwerbehinderter oder die Fehlbelegungsabgabe im sozialen Wohnungsbau - sozialen Zwecken dienen. Sie sind jedoch, anders als Sozialversicherungsbeiträge, nicht an eine besondere Organisationsform gebunden. Das wichtigste Phänomen, das aus dieser Konstellation hervorgeht, ist jedoch die finanzielle Autonomie der Sozialversicherung. 107 Kraft seiner Zuständigkeit für die Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) kann der Bundesgesetzgeber über diese Parafisci verfügen, ohne den Bindungen unterworfen und den Konsequenzen ausgesetzt zu sein, die mit der Disposition über Steuermittel und mit Veränderungen im finanziellen Bund-Länder-Verhältnis verbunden sind (Art. 104a Abs. 1 - 3 , 106 GG). Die zentrale Stellung der Sozialversicherung in der Entwicklung des Sozialen hat nicht zuletzt auch diesen Grund. Die Finanzordnung des Grundgesetzes gibt aber auch Auskunft über eine andere Entwicklung des Sozialen. Der Ausbau der bundesstaatlichen Finanzverfassung 108 artikulierte nicht nur neue Wertvorstellungen, sondern vor allem auch neue Instrumente. Sie desintegrierten die finanzpolitische Autonomie der Länder und integrierten den Gesamtstaat als finanzpolitische Einheit. 109 Als gemeinsames Handeln des Bundes und der Länder stellt sich diese Integration vor allem bei den Gemeinschaftsaufgaben (Art. 91a, 91b GG) dar. Im übrigen wurde der Bund zum dominanten Mandatar der gesamtstaatlichen Integration, freilich immer im Zusammenwirken mit den Ländern, vor allem durch den Bundesrat. Die Haushaltswirtschaft des Bundes und der Länder wurde auf die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, auf eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und eine mehrjährige Finanzplanung verpflichtet (Art. 109 Abs. 2 und 3 GG). Zur „Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" wurden Eingriffe in die Kredit- und Ausgabenpolitik des Bundes und der Länder (Art. 109 Abs. 4 GG), aber auch zusätzliche Kredite des Bundes (Art. 115 Abs. 1 GG) legitimiert. Und schließlich wurde der Bund ermächtigt, „zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts oder zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschaftskraft im Bundesgebiet oder zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums" den Ländern „Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden (Gemeindeverbände)" zu „gewähren" (Art. 104a Abs. 4 Satz 1 GG). Eine wesentliche Ergänzung bildete das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967, 110 das ein differenziertes Instrumentarium zur Koordination der Finanzplanung, der Konjunktur- und der Kreditpolitik des Bundes und der Länder vorsah. Die praktische Bedeutung dieses Instru107

Ferdinand Kirchhof, Finanzierung der Sozialversicherung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 1990, S. 395-423; Thomas Gössl, Die Finanzverfassung der Sozialversicherung, 1992. 108 Insbes. das 15., 20. und 21. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes; s. Vogel/Waldhoff, Grundlagen (o. N. 104), S. 124- 183. 109 s. noch einmal Böckenförde, Sozialer Bundesstaat (o. N. 49). Ferner Konrad Kruis, Finanzautonomie und Demokratie im Bundesstaat, DÖV, 56. Jhg. (2003), S. 10-16. no BGBl. I, S. 582.

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mentariums ist inzwischen auf ein bescheidenes Maß zurückgegangen. Der grundsätzliche Anspruch jedoch, die Finanzwirtschaft des Bundes und der Länder übereinstimmend auf die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, die Stabilität des Preisniveaus, einen hohen Beschäftigungsstand, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht sowie ein stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum zu verpflichten, 111 ist heute noch von größter Tragweite. 112 Hinter dieser Vielfalt der Methoden, über die Ressourcen des Gesamtstaates nach übergreifenden Gesichtspunkten zu disponieren, stehen letztlich die Regelungen, welche die Mittel so verteilen sollen, daß Bund und Länder je für sich ihre Aufgaben erfüllen können: die Regulative, nach denen das Aufkommen der in gesamtstaatlicher Absicht erhobenen Steuern verteilt wird (Art. 106 GG in vielfach geänderter Fassung); die Regulative, nach denen die Haushaltsmittel zwischen dem Bund und den Ländern (vertikaler Finanzausgleich: ursprünglich Art. 106 Abs. 4 GG; gegenwärtig Art. 106 Abs. 8, 107 Abs. 2 Satz 3 GG) oder unter den Ländern (horizontaler Finanzausgleich: ursprünglich nicht vorgesehen; gegenwärtig Art. 107 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG) umverteilt werden. 113 Dieses verteilende und umverteilende Geben und Nehmen freilich ist einerseits ambivalent: Die Spielräume der Länder, denen gegeben wird, werden erweitert; die Spielräume der Länder, denen genommen wird, werden eingeengt. Andererseits dagegen ist es gleichgerichtet: Die Autonomie der Länder wird gemindert - genauer: die Autonomie eines jeden betroffenen Landes. Immer werden die Entscheidungen vom Bund unter Mitwirkung einer Mehrheit der Länder getroffen.

d) Die dienstleistende, kompetenzvermittelnde und umweltgestaltende Intervention und die bundesstaatliche Ordnung Die sich so ergebende Schwächung und Aushöhlung des „Sozialstaates Land" findet in den weiteren Gestalten der sozialen Intervention keinen Ausgleich. Die Dienste - das Erbringen von Diensten und das Organisieren von Diensten sind in die unterschiedlichen Zusammenhänge eingebunden. Sie sind eine Sache der Gesellschaft: der einzelnen und ihrer privaten Gemeinschaften, eine Sache egoistischer und altruistischer, nichtgewinnstrebiger und marktwirtschaftlicher, loser oder fest organisierter Kräfte, kleiner Gruppen und großer Organisationen. Und sie sind eine Sache des Staates und seiner Untergliederungen. Aber auch insofern, m § 1 Satz 2 StWG. 112 Mittlerweile ist die grundgesetzlich-bundesrechtliche Ordnung überlagert durch europäisches Recht: s. zum Ziel der Preis- und Währungsstabilität Art. 2, 4, 104, I I I Abs. 1, 116, 121 Abs. 1 EGV; zum außenwirtschaftlichen Gleichgewicht Art. 4 Abs. 3, 119, 120 Abs. 1 EGV; zum Wachstumsziel Art. 2 EGV; zum Ziel der Vollbeschäftigung Art. 2, 125-130, 137 Abs. 1 EGV. 113 Vogel/Waldhoff, Grundlagen (ο. N. 104), insbes. S. 34 f.; Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997, insbes. S. 21-23.

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als sie irgendwie dem Staat zugeordnet sind, sind sie das auf die unterschiedlichste Weise - vor allem aber: auf die unterschiedlichst distanzierte Weise. Man denke an die doppelt tiefgestaffelten Systeme der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung: tiefgestaffelt auf der Seite der Kassen, ihrer Organisationen, ihrer Aufsichtsbehörden, tiefgestaffelt auf der Seite der Leistungserbringer und ihrer Organisationen.114 Ein System, das mit dem Bund und den Ländern zu tun hat - politisch am ehesten dem „Sozialstaat Bund" zugerechnet, aber nur ausnahmsweise (vielleicht in besonderen Glücksfällen des Erfolgs, zumeist in besonderen Unglücksfällen des Versagens) dem „Sozialstaat Land". Oder man denke an die Dienste, welche das Recht der Sozialhilfe und das Recht der Kinder- und Jugendhilfe zusagt.115 Zwar liegt der Vollzug dieser Gesetze bei den Ländern (Art. 83 GG). Aber schon „das Staatliche" daran ist vom politischen System des Landes distanziert. Es liegt primär bei den - autonomen - Gemeinden und Gemeindeverbänden. Und gerade für die Dienstleistung haben diese wiederum den Vorrang der „freien Träger" zu respektieren, die selbst wieder in recht unterschiedlicher Beziehung zur Größe „Land" stehen können. Die Dienste hängen schließlich davon ab, was ihnen die rechtliche und die ökonomische Intervention vorgeben. Aber die rechtliche Intervention ist Sache des Bundes, und nur in deren Spielraum ist die ökonomische Intervention Sache der Länder. Das alles ergibt keinen eindeutigen Ort im bundesstaatlichen System. Nicht unähnlich steht es mit der kompetenzvermittelnden Intervention. Sie ist weithin identisch mit dem, was man Erziehung und Bildung nennt. Insofern ist sie Sache der Länder. Insofern zählt sie zu dem Wenigen, was heute Landesstaatlichkeit prägt. Aber nicht in gleichem Maße den „Sozialstaat Land". Denn einerseits ist der „soziale" Auftrag eingebunden in den sehr viel allgemeineren Auftrag eben von Erziehung und Bildung. Zwar entscheidet dessen Konzept und dessen Erfüllung gerade auch über „soziale" Chancen. Aber diese Bedeutung darf sich nicht beliebig verselbständigen, darf nicht beliebig zum Prinzip von Erziehung und Bildung werden. Andererseits ist da die spezifische Vermittlung von „sozialer" Kompetenz, die Menschen hilft, die Grundformel von Arbeit, Einkommen, Unterhalt und Bedarfsdeckung zu erfüllen. Und mehr noch: die Menschen hilft, Benachteiligungen zu überwinden, mit Defiziten zu leben und anderen zu helfen. Diese Hilfen aber sind weitgehend mit sozialen Diensten verbunden. Und soweit dies der Fall ist, gilt wieder, was zu den Diensten gesagt wurde. Vieles an Kompetenzvermittlung schließlich ist Privatleben und Gesellschaft: sind Familien, Freunde, Kollegen, Selbsthilfegruppen, Organisationen, sind die Medien.

1.4

Franz Knieps, Krankenversicherungsrecht, in: Bernd von Maydell/Franz Ruland, Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl. 1996, S. 702-819 Rz. 144-237; Gerhard Igl, Pflegeversicherung, ebenda, S. 1003-1041 Rz. 64-67. 1.5 Peter Trenk-Hinterberger, Sozialhilfe, in: von Maydell / Ruland, Sozialrechtshandbuch (o. N. 114), S. 1176-1219 Rz. 38-48; Johannes Münder, Jugendhilferecht, ebenda, S. 1221-1255 Rz. 65-84.

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Die umweltgestaltende Intervention schließlich steht noch mehr als alles Erwähnte in den unterschiedlichsten Zusammenhängen: des Bauwesens und des Verkehrs, der Städte- und der Landschaftsplanung, der gesunden Ernährung und der Sicherheit der Geräte. Das ist auf sehr verschiedene Weise Sache der Europäischen Gemeinschaft, des Bundes und der Länder, des Staates unmittelbar und der Selbstverwaltungsträger. Und am Ende ist es doch auch Sache der einzelnen und ihrer privaten Gemeinschaften sowie der gesellschaftlichen Kräfte. Vieles hängt entscheidend mit dem politischen und rechtlichen System der Länder zusammen. Und doch ist die rechtliche Steuerung zumeist Sache der Europäischen Gemeinschaft und des Bundes. Und doch sind die finanziellen Bedingungen weithin vom Bund abhängig. Schließlich ist die soziale Relevanz sehr ungleich offenkundig, sehr unterschiedlich intensiv. Eine Landespolitik, die sich der Lebensbedeutung der Umwelt - in dem hier gemeinten weiten Sinn - bewußt ist, mag damit viel für den „Staat Land" tun. Daß dies auch den „Sozialstaat Land" integriert, ist damit noch nicht selbstverständlich.

e) Die unitarische Tendenz des spezifisch Sozialen Die Sache des spezifisch Sozialen bestätigt also vielfältig die unitarische Tendenz des sozialen Bundesstaates. Zwar stehen die Länder vielfältig in der Verantwortung für die Verwirklichung des spezifisch Sozialen. Doch nicht in großen und geschlossenen Zusammenhängen, durch deren Gestaltung und Verwirklichung sie sich als Sozialstaaten ausweisen können. Die spezifisch soziale Politik eines Landes steht immer in einem Geflecht der Abhängigkeiten: von der Politik, vom Recht, von den Finanzen des Bundes, in Abhängigkeit aber auch vom gesellschaftlichen Geschehen, von den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen und Prozessen sowie von der öffentlichen Meinung in einem größeren Ganzen, das über das Land hinausreicht.

3. Das politische System des Bundesstaats und das Soziale a) Die unitarische Orientierung der sozialen Politik des Bundes und der Länder Unter diesen Bedingungen fällt es schwer, landesinterne Politik wesentlich sozialpolitisch zu formulieren, zu rechtfertigen, zum Erfolg zu führen. Sozialpolitik ist als Bundespolitik sehr viel wirkungsvoller. Nicht nur sozial wirkungsvoller, wirkungsvoller vor allem auch im Wettbewerb um die Macht und für die Anerkennung der politischen Leistung. Eine besonders nachhaltige Verbindung ging die unitarische Grundwelle des Sozialen deshalb mit den Möglichkeiten der Länder ein, über den Bundesrat auf die 1

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Politik, insbesondere auf die Gesetzgebung des Bundes einzuwirken. 116 Die Mitwirkungsrechte des Bundesrates sind, was das Verhältnis der Sozialpolitik des Bundes zu der Sozialpolitik der Länder anlangt, an sich ambivalent. Sie könnten ebenso dazu dienen, für die Zuständigkeit der Länder zu streiten, als dazu, zur Entfaltung der Bundeszuständigkeiten beizutragen und auf deren Wahrnehmung einzuwirken. Die Länder optierten weitgehend für letzteres. Die unitarischen Traditionen der deutschen Politik und das - vor allem in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik - meist geringe staatliche Selbstbewußtsein der Länder versöhnten sich dahin, im Bundesstaat nicht so sehr das gleichberechtigte Nebeneinander von autonomen Räumen der Staatlichkeit zu sehen, sondern eine komplizierte Integration. 1 1 7 Im Laufe der Zeit sollte es auch immer schwerer fallen zu unterscheiden, ob der Bundesrat seine Zuständigkeiten als Organ des Bundesstaates oder als ein Organ der Demokratie ausübt, ob er die Belange der Länder und den Sachverstand der Länderregierungen zur Geltung bringt (Art. 50, 51 GG) oder ob er wie das „Oberhaus" eines Zweikammerparlaments die Chancen einer - zur Regierungsmehrheit des „Unterhauses" - alternativen Parteienkonstellation realisiert. Das Grundgesetz eröffnet der bundespolitischen Opposition einen weiteren Weg, sich vermittels der Regierungsbildung in den Ländern und des Bundesrates zu artikulieren. Entsprechend einer schon auf die Reichsverfassung von 1871 118 und die Weimarer Verfassung 119 zurückgehenden Tradition bestimmt Art. 43 Abs. 2 GG: „Die Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung sowie ihre Beauftragten haben zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse Zutritt. Sie müssen jederzeit gehört werden."

Auch dieses bundespolitische Mitspracherecht ist nicht auf die Geltendmachung von Landes- oder Länderinteressen beschränkt. Und es wird mehr als selbstverständlich als ein Instrument der Bundespolitik gebraucht. Die Bedeutung dieser Konstellation wird wohl auch daran deutlich, daß Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Kohl und Gerhard Schröder Ministerpräsidenten eines Landes waren, ehe sie Bundeskanzler wurden, und Franz Josef Strauß, Johannes Rau, Hans-Jochen Vogel, Oskar Lafontaine, Rudolf Scharping und Edmund Stoiber Ministerpräsidenten eines Landes waren, ehe sie als Kanzlerkandidaten aufgestellt wurden.

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Das parlamentarische Regierungssystem und der Bundesrat - Entwicklungsstand und Reformbedarf, VVDStRL, Heft 58 (1999), S. 7-138. 117 s. noch einmal o. N. 45 und o. N. 109. 1,8 Art. 9 Satz 1: „Jedes Mitglied des Bundesrates hat das Recht, im Reichstage zu erscheinen und muß daselbst auf Verlangen jederzeit gehört werden, um die Ansichten seiner Regierung zu vertreten, auch dann, wenn dieselben von der Majorität des Bundesrates nicht adoptiert worden sind." 119 Art. 33 Abs. 2 Satz 2: „Die Länder sind berechtigt, in diese Sitzungen Bevollmächtigte zu entsenden, die den Standpunkt ihrer Regierung zu dem Gegenstand der Verhandlung darlegen."

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Auch die Wähler verstehen die Landtagswahlen, die Regierungsbildung in den Ländern und den Bundesrat als Oppositionsinstrument. 120 Seit 1972 ist offenkundig, daß nach einem Wechsel in der Mehrheit des Bundestages mit einigem Zeitverzug in den Ländern die Tendenz entsteht, Parteien zu bevorzugen, die in Opposition zur Politik der Bundesregierung stehen. Die Zeit vorher kannte dieses Phänomen nicht mit gleicher Deutlichkeit. Die Selbstverständlichkeit, daß der Bundesrat eine Länderkammer war, dominierte noch. Und die Koalitionen in den Ländern waren noch bunter zusammengesetzt. Erst in der Konfrontation der sozialliberalen Bundespolitik mit der CDU / CSU-Mehrheit in einer Reihe von Landtagen kam es zu der scharfen Konfrontation zwischen Bundestag und Bundesrat, welche das ganze Jahrzehnt bis zur „Wende" von 1982 kennzeichnen sollte. 1991, verstärkt 1996, kam es dann zur gegenteiligen Konstellation. Die CDU / CSU / FDP-getragene Regierungspolitik trat in Gegensatz zu einer SPD-dominierten Mehrheit des Bundesrates. Diese Blockade der Bundespolitik durch den Bundesrat hat jeweils zu beträchtlicher Unbeweglichkeit geführt. Die Staatlichkeit der Länder verschob sich von der individuellen Autonomie eines jeden Landes auf die gemeinsame Teilhabe der Länder an einer komplexen Gesamtstaatlichkeit. In den sechziger Jahren begann diese Tendenz, sich vermehrt in neuen Institutionen niederzuschlagen. Zunächst im Rahmen der ungeschriebenen Verfassungsergänzung. 1961 erging das „Fernsehurteil" des Bundesverfassungsgerichts. 121 Darin erklärte das Gericht, daß, wenn eine Bundeszuständigkeit fehle (Art. 30 GG), das politische Handeln der einzelnen Länder aber nicht sinnvoll sei, die Möglichkeit interföderativer Kooperation der Annahme einer natürlichen Bundeszuständigkeit vorzuziehen sei. 122 Die interföderative Kooperation, die vorher bereits viele Erscheinungsformen gefunden hatte, bekam dadurch wesentliche neue Impulse. 123 Das Bundesverfassungsgericht bekräftigte später erneut den verfassungsrechtlichen Vorzug der interföderativen Kooperation vor der Begründung ungeschriebener Bundeszuständigkeiten. In dem Numerus-clausus-Urteil von 1972 124 drängte es auf die staatsvertragliche Regelung der Zulassung zu den Hochschulen zwischen den Ländern. 125 Damit war ein auch soziales Problem in das Blickfeld der Rechtsprechung getreten: der Hochschulzugang als gleiche Bildungschance. Schließlich hat der Verfassungsgeber selbst, wie schon erwähnt, 1969 die Entwicklung des integrativen Föderalismus durch die Einführung der Gemeinschafts120

Thomas König, Regieren im deutschen Föderalismus, Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 13/99 (1999), S. 24-36, insbes. S. 32 f. · 2 · BVerfGE 12,205. 1 22 BVerfGE 12, 205 (251 f.). 123 Walter Rudolf, Kooperation im Bundesstaat, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 1990, S. 1091 - 1132. M BVerfGE 33, 303. «25 BVerfGE 33, 303 (357 f.). 16*

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aufgaben in das Grundgesetz (Art. 91a, 91b GG) bekräftigt. 126 Diese Gemeinschaftsaufgaben haben zum Ziel, sozial relevante Unterschiede zwischen den Regionen des Bundesgebietes zu mindern oder aufzuheben: Gefälle im Bereich der Bildung und Forschung (Art. 91b GG); Gefälle hinsichtlich der Dichte und Ausstattung mit Hochschulen (und Hochschulkliniken) (Art. 91a Abs. 1 Nr. 1 GG); Gefälle der Wirtschaftsstruktur (Art. 91a Abs. 1 Nr. 2 GG); Gefälle zwischen Agrarland und Nicht-Agrarland sowie zwischen Küsten- und Binnenland (Art. 91 Abs. 1 Nr. 3 GG). Der Sache nach sind die Gemeinschaftsaufgaben eine intensive Bekräftigung der unitarischen Tendenz des sozialen Bundesstaates. Die politischen Auswirkungen dieser Institution haben sich mittlerweile als problematisch erwiesen. Zwar hat die gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern - insbesondere der mit den Ländern abgesprochene Einsatz von Bundesfinanzen - beträchtliche Effekte hervorgebracht. Auf der anderen Seite aber hat die Vergemeinschaftung ganzer Politikbereiche die Anreize für die Landespolitik, die Probleme aus sich heraus eigenständig und kreativ zu lösen, gemindert. Das Regime der Gemeinschaftsaufgaben hat die Verantwortung der jeweils zuständigen Politik - der Bundespolitik und der Politik der einzelnen Länder - paralysiert. Die Landespolitik profiliert sich weitgehend in Vorwürfen an den Bund, zuweilen auch an die jeweils anderen Länder. Nicht weniger eröffnet das System der Politik des Bundes nur zu oft den Weg, die Verantwortung den Ländern (allen Ländern, einzelnen Ländern) zuzuweisen. Mit den Gemeinschaftsaufgaben hat die Entwicklung des integrativen Föderalismus einen Rubikon überschritten. Eine Umkehr der Tendenz zum integrativen Föderalismus deutet sich in einer jüngsten Verfassungsänderung an. 1 2 7 Die Grenzen, innerhalb derer der Bund von der sogenannten konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch machen kann (Art. 72 GG), wurden enger gezogen. Ferner wurde vorgesehen: „Durch Bundesgesetz kann bestimmt werden, daß eine bundesgesetzliche Regelung, für die eine Erforderlichkeit ... nicht mehr besteht, durch Landesrecht ersetzt werden kann" (Art. 72 Abs. 3 GG). Die Wirkungen des guten Vorsatzes sind bisher ausgeblieben.

b) Sozialer Bundesstaat einerseits, Demokratie und Rechtsstaat andererseits Der soziale Bundesstaat kann nie für sich allein verstanden werden. Nicht nur, weil ihn Art. 20, 28 Abs. 1 Satz 1 GG auch als Demokratie und als Rechtsstaat beschreiben, sondern auch, weil keines dieser Prinzipien, keine von den Normen, Strukturen und Verfahren, durch die Demokratie und Rechtsstaat ausgestaltet werden, für sich allein wirksam wird. 1 2 8 Sie greifen ineinander. Der Staat ist so, wie er 126

21. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Finanzreformgesetz) vom 12. Mai 1969, BGBl. I, S. 359. >27 42. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. Oktober 1994, BGBl. I, S. 3146. 128

s. noch einmal oben I.

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ist, weil er zugleich Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat ist. Und er ist so, wie er ist, auch gerade deshalb, weil ihn das Grundgesetz und die Landesverfassungen so und nicht anders ausgestaltet haben. Zugleich gilt, daß Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat sind, wie sie sind, weil „ihr" Staat ein Sozialstaat ist. Und ebenso gilt, daß der Sozialstaat ist, wie er ist, weil er Sozialstaat in einer Demokratie, in einem Rechtsstaat und in einem Bundesstaat ist, und weil diese Demokratie, dieser Rechtsstaat und dieser Bundesstaat so ausgestaltet sind, wie Grundgesetz und Landesverfassungen sie ausgestaltet haben. Diese beiden Sätze über das Verhältnis des Sozialstaats zu Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat freilich gelten nicht in gleicher Weise wie das, was über das Ineinander von Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat gesagt wurde. Das Verhältnis des Sozialstaats zu Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat ist nicht von gleicher „logischer Gleichzeitigkeit", nicht von gleicher Gemeinsamkeit der Kausalität wie das Verhältnis zwischen Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat. Der Sozialstaat ist das Produkt der Demokratie, des Rechtsstaats und des Bundesstaats - genauer: das Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse und der gesellschaftlichen und politischen Kräfte, die sich in den „Maschinerien" der Demokratie, des Rechtsstaats und des Bundesstaats in soziale Politik und soziales Recht umsetzen. Und weil soziale Politik und soziales Recht immer auch die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Situation verändern, in der die politischen Kräfte handeln, entfaltet das konkrete Sein des Sozialstaates auch Wirkungen für Demokratie, Rechtsstaat und Bundesstaat. Aber sie werden nicht deshalb zu einem Produkt und einem Objekt des Sozialstaates. Bundesstaat und Sozialstaat129 verhalten sich, wie gesagt, zueinander so, daß sich Politik und Recht des Sozialstaats auf den Bund konzentrieren. Die Länder sind von der Verwirklichung des Sozialstaates nicht ausgeschlossen. Sie sind für die Verwirklichung des Sozialstaates auch nicht unwichtig. Gleichwohl fehlen ihnen die Möglichkeiten, den Sozialstaat umfassend und durchdringend zu prägen. Das Wesentliche des Sozialstaates wird vom Bund gestaltet. Die Länder sind daran beteiligt, weil sie an der Politik des Gesamtstaates beteiligt sind: indem sie an der Politik und vor allem an der Gesetzgebung des Bundes beteiligt sind; aber auch, indem sie miteinander und mit dem Bund über gesamtstaatliche Politik und Rechtsetzung entscheiden. Das einzelne Land je für sich ist durch diese Vorgaben gebunden. Es kann die Bedingungen ihrer Verwirklichung beeinflussen. Die Vorgaben bedeutsam zu ergänzen, ist den Ländern in der Regel verschlossen. Das muß nicht heißen: Zentralismus. Aber die Dezentralität des Sozialstaats entwickelt sich vielfach an den Ländern vorbei. Dezentralität ist vielfach eine Regionalisierung, eine Lokalisierung oder eine (fachliche oder interessenorientierte) Spezialisierung innerhalb des Gesamtstaates: dominiert vom Bund, aber doch auch in Beziehung zu den Ländern. Die Demokratie bestimmt den Sozialstaat durch die Art und Weise, in der sie es den gesellschaftlichen und politischen Kräften ermöglicht, gesellschaftliche Ver129 s. Zacher, Grundlagen (ο. N. 23), S. 393-494.

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hältnisse in Politik und Recht umzusetzen.130 Gerade in diesem Sinne ist der Sozialstaat ein Produkt der Demokratie. Das gilt vor allem in der Dimension der Besser-Schlechter-Relationen, die zwischen dem „Unten" von Not und Armut und dem „Oben" von Wohlstand und Reichtum verläuft. 131 Der Sozialstaat ist der größten Dringlichkeit des „Unten" verpflichtet. Die Demokratie gibt die größte Macht dem „Mittelwähler". Sie ist auch Macht, das - so unbestimmte - Soziale zu definieren. Kraft dieser Definitionsmacht werden die Schlechter-Besser-Relationen, die das Umfeld des „Mittelwählers" ausmachen, zu den politisch dringlichsten. 132 Andererseits ist Demokratie „Mandat auf Zeit". Die Wahlperioden begrenzen den Zeithorizont der Politik. Das steht in einem dramatischen Spannungsverhältnis zur Zeitdimension des Sozialen. Soziale Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich und soziale Sicherheit sind Themen nicht nur der Vergangenheit, nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Zukunft. Das gilt vor allem für die soziale Vorsorge (von der Vermögensbildung bis zur Versicherung). Und es gilt für alle Gerechtigkeit zwischen den Generationen. 133 Die Demokratie aber tut sich schwer damit, die Belange, die in der Zukunft liegen, gegen die Belange abzuwägen, die in der Gegenwart aktuell sind. Die Schwierigkeiten einer Rentenreform sind das drängendste Beispiel dafür. Um einen letzten Problemkreis hervorzuheben: Demokratie ist eine Frage der Kommunikation zwischen Wählern und Gewählten - genauer: der Kommunikation zwischen den Wählern und denen, die gewählt werden oder wiedergewählt werden wollen. Im Hintergrund ist sie eine Frage des do ut des: des Austauschs zwischen Wahl und Wiederwahl auf der einen Seite und politischen Vorteilen auf der anderen. Dieser Austausch verlangt Erkennbarkeit, Berechenbarkeit und Verläßlichkeit - und zwar auf beiden Seiten. Der „gute Wähler" ist in diesem Sinne der gut organisierte Wähler, der einer nicht nur großen, sondern auch einer verläßlich reagierenden Gruppe angehört; ein Wähler, der seine Interessen artikuliert und seinen Vorteil zu wahren weiß. Der „gute Kandidat" und die „gute Partei" zeichnen sich demgegenüber vor allem durch ihre Leistungen aus: durch die Wahrnehmbarkeit, die Verfügbarkeit und den unmittelbaren Individualbezug der politischen Zuwendungen. Da geht förmliches Gesetz vor Faktizität, individueller Anspruch vor kollektiver Umverteilung. Da geht Geld vor Diensten, vor Kompetenzvermittlung, vor Umweltgestaltung. Der demokratische Sozialstaat ist deshalb ein gruppenbezogener, verrechtlichter und monetarisierter Sozialstaat der individuellen Leistungen 134 - anders gewendet: kein Sozialstaat einer Allgemeinheit von gleich oder unterschiedlich Betroffenen und ungleich weniger ein Sozialstaat der Dienste, der Kompetenzvermittlung und der Umweltgestaltung.

130 s. Zacher, Grundlagen (o. N. 23), S. 416-433. 131 s. Zacher, Das soziale Staatsziel (o. N. 22), S. 1083-1086. "32 s. Zacher, Das soziale Staatsziel (o. N. 22), S. 1097 f. '33 Edmond Malinvaud (ed.), Intergenerational Solidarity, The Pontifical Academy of Social Sciences Acta 8, 2002. 134 Zacher, Das soziale Staatsziel (o. N. 22), Rn. 83-107.

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Wie nun verbindet sich diese soziale Demokratie mit dem sozialen Bundesstaat? Der Bundesstaat fügt den Wirkungsbedingungen der Demokratie ein Gefälle hinzu: die Alternative zwischen den vielen „kleinen Demokratien4' in den Ländern und der „großen Demokratie" im Bund - die Alternative zwischen dem einen großen Konzept und seiner durchgreifenden Wirkung über den Gesamtstaat hin und der Vielzahl verschiedener Konzepte je für den Bund und die Länder, den Widerständen gegenüber den Unterschieden und Begrenzungen und den Reibungsverlusten ihrer Verwirklichung. In der unitarischen Prämisse des deutschen Sozialstaats treffen sich der soziale Bundesstaat und die soziale Demokratie. Der föderativen Option für die größere Wirkung entspricht dann aber auch die demokratische Tendenz zur Formalisierung, Verrechtlichung und Monetarisierung. Die Bundesgesetzgebung durch Geldleistungsgesetze erscheint von „beiden Seiten" her als der „Königsweg" des sozialen und demokratischen Bundesstaats. Doch sind Verluste zu beklagen: kein föderaler System Wettbewerb; zu schwache Beziehung zwischen dem Sozialen und den spezifischen Verhältnissen des Landes; Verzicht des Sozialstaats auf die Energien der Landesdemokratie, Verzicht der Landesdemokratie auf die Verantwortung für das Soziale. Ein Nachteil der sozialen Demokratie wird durch den unitarischen Bundesstaat sogar auf extreme und schädlichste Weise vertieft: die Begrenzung des Zeithorizonts. Auf den ersten Blick scheint der Zeithorizont der Demokratie des Bundes durch die vierjährige Wahlperiode des Bundestages (Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG) vorgegeben. Durch die offene Sequenz der Landtagswahlen in 16 Ländern wird dieser Zeithorizont jedoch aufgelöst: Das gilt um so mehr, als der Bundesrat im Laufe der Jahrzehnte immer weitere Befugnisse bekommen hat, auf die Gesetzgebung des Bundes maßgeblich Einfluß zu nehmen.135 Und es gilt um so mehr, als Parteien und Wähler sich auf die bundespolitischen Wirkungen der Landtags wählen eingerichtet haben. Der „Reformstau" des Sozialstaats, der spätestens seit den neunziger Jahren beklagt wird, gibt wesentlich diesem permanenten Wahlklima Ausdruck. Der soziale Rechtsstaat kann den Einseitigkeiten des sozialen und demokratischen Bundesstaates entgegenwirken. 136 Seine Institutionen können die Belange des Individuums aus der Vorordnung durch die Gruppen lösen und ihnen Rechnung tragen. Ihre Maßstäbe und Entscheidungen können, soweit Rechte die Zukunft gewährleisten und Rechtsnormen die Zukunft gestalten können, die Kürze des Zeithorizonts und seine Auflösung korrigieren. Gegenüber der Konzentration der sozialen Demokratie auf den Mittelwähler dagegen ist der Rechtsstaat ambivalent. Zwar kann etwa die Rechtsprechung die Besser-Schlechter-Dimension des Sozialstaates unbefangener zur Geltung bringen, als die Demokratie es tut, aber der „Mittelwähler" ist die Klientel doch auch für den Rechtsstaat. Er ist gewandt und erfahren genug, um die Möglichkeiten des Rechtsstaates zu nutzen, und zumeist nicht •35 Oeter, Integration und Subsidiarität (ο. N. 45), S. 159-162, 314-316, 322-326, 465-474. •36 Zacher, Das soziale Staatsziel (ο. N. 22), S. 1101 -1107; ders. y Grundlagen (ο. N. 23), S. 405-416.

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wohlhabend genug, als daß sein sozialer Anspruch zum Ärgernis geriete. Die Rechte und Pflichten sind weitgehend auf seine Situation hin zugeschnitten. Und die Richter sind seinen Interessen nicht a priori fern. In vielem aber weist der soziale Rechtsstaat a priori in die gleiche Richtung wie die soziale Demokratie und der soziale Bundesstaat. Der Rechtsstaat stützt Formalisierung und Verrechtlichung. Geldleistungen stehen seiner Regelungskompetenz näher als Dienstleistungen, als Kompetenzvermittlung und Umweltgestaltung. Und die Ordnung der Gerichtszuständigkeiten legt fast alles, was von grundsätzlicher Bedeutung ist, in die Hand der Bundesgerichte. 137 Zuständigkeiten und Autorität des Bundesverfassungsgerichts und der obersten Bundesgerichte zählen zu den wichtigsten Elementen des unitarischen Sozialstaates. c) Offen nach außen - geschlossen nach innen Die übergreifende Einheit der rechtlichen Ordnung des spezifisch Sozialen ist, wie schon bemerkt, 138 zunächst ein Resultat der Rechtsentwicklung. Sie vermeidet zudem Konflikte mit jener Ordnung der Freiheit und der Gleichheit, welche die Grundrechte gewährleisten. Besonders sinnfällig wird das durch die Verfassungsgarantien der Freizügigkeit (Art. 11 GG) und der gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten aller Deutschen in allen deutschen Ländern (Art. 33 Abs. 1 GG), die jedenfalls nicht jede beliebige Gestaltung gliedstaatlich unterschiedlichen sozialen Einschlusses139 tolerieren würden. 140 Gliedstaatliche Unterschiede des sozialen Einschlusses stünden aber auch im Gegensatz zur internationalen Offenheit der Bundesrepublik. 141 In dem Maße, in dem sich die modernen Staaten als Einheiten des sozialen Einschlusses - des Einschlusses durch aktive Teilhabe (am Erwerbsleben, am familiären Unterhalt usw.) und dann auch des Einschlusses durch soziale Hilfe und Sicherung - integrierten, 142 erhob sich die Frage nach den Möglichkeiten und Ordnungen der Wanderung. Die Frage stellte sich in drei verschiedenen Zusammenhängen: erstens als Frage nach dem persönlichen Ob des Zugangs oder des Weggangs (eine Frage, die vor allem auf den Unterschied zwischen den Eigenen, den Staatsangehörigen und den Fremden, den fremden Staatsangehörigen und den Staatenlosen abstellt); zwei137 Die wichtigste Ausnahme bilden die Landes Verfassungsgerichte. Die Tragweite ihrer Entscheidungen aber hängt von den Spielräumen der Landespolitik und des Landesrechts ab. 138 s. oben III. I. 139

Zacher, Die Bundesrepublik Deutschland (o. N. 46). Alexander Graser, Dezentrale Wohlfahrtsstaatlichkeit im föderalen Binnenmarkt?, 2001, insbes. S. 338-369. 141 Klaus Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964. 142 s. Zacher, Die Bundesrepublik Deutschland (o. N. 46); Hans F. Zacher, Deutschland den Deutschen? Die wechselvolle Geschichte des sozialen Einschlusses im Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts, Stimmen der Zeit, Bd. 221 (2003), S. 233-248. 140

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tens als Frage nach dem Wie des sozialen Einschlusses oder Ausschlusses (vor allem also nach den Bedingungen und dem Umfang aktiver oder passiver Teilhabe, nach dem Transfer von Gütern, nach dem Erwerb von Rechten usw.) und drittens endlich als Frage nach dem Verhältnis verschiedener berührter Rechtsordnungen zueinander (als Frage also nach dem Kollisions- oder Konfliktsrecht: dem internationalen Privatrecht, dem internationalen Sozialrecht usw.). Und sie kann von jeder nationalen Rechtsordnung für sich oder von mehreren Staaten (durch völkerrechtliche Verträge, durch supranationales Recht) beantwortet werden. Die Antworten haben zwischen den Werten und den Interessen abzuwägen, die durch Mobilität und Migration verwirklicht oder beeinträchtigt werden können. In der Geschichte des deutschen Sozialstaates143 blieb es lange bei einem Gegensatz zwischen dem Recht des Ob des Zuganges Fremder zur Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten in Deutschland und den Regelungen des Wie dieser Teilhabe (einschließlich des Verhältnisses der beteiligten Rechtsordnungen zueinander). Das Ob des Zuganges und der Teilhabe war Sache der Gliedstaaten. Die Regelung des Aufenthalts Fremder blieb Sache ihrer Polizei und damit ihr Ermessen. Somit entzog sich dieses Thema auch der völkerrechtlichen Regelung. Erst in der Bundesrepublik kam es zu einem durchgreifenden Wandel: der bundesgesetzlichen Verrechtlichung durch ein Ausländergesetz. 144 War das Ob des Zugangs aber bejaht, so wurde grundsätzlich auch das Wie dieser Teilhabe (auch das Verhältnis der beteiligten Rechtsordnungen zueinander) geregelt. So entwickelte sich mit dem inländischen Sozialrecht auch internationales Sozialrecht, insbesondere auch seine Regelung durch internationale Verträge. 145 Internationale Beziehungen waren jedoch von den Anfängen deutscher Bundesstaatlichkeit an Sache des Zentralstaates. 146 Und gliedstaatliche Unterschiede erschweren Abschluß und Anwendung internationaler Verträge in der Sache ebenso wie hinsichtlich der Zuständigkeit. Seit dem Zweiten Weltkrieg vertiefte sich der Sinnzusammenhang des internationalen Sozialrechts. Vor allem in Europa sollten staatenübergreifend Räume nicht nur gemeinsamer Politik und gemeinsamen Rechts, sondern auch Räume gemeinsamen gesellschaftlichen Geschehens geschaffen werden. 147 Die Europäische Gemeinschaft ist hierin am weitesten vorangeschritten. Ihre Grundfreiheiten - vor allem die Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer - begnügen sich nicht mehr mit einer förderlichen Regelung des Wie einer Wanderung. Sie bestehen auf einer positiven Antwort auf das Ob: auf der Freizügigkeit. Diese Freizügigkeit auch über glied143 s. zum folgenden Zacher, Die Bundesrepublik Deutschland (ο. N. 46); dens., Deutschland den Deutschen? (ο. N. 142). 144 Günter Renner, Ausländerrecht in Deutschland, 1998. 145 Guy Perrin, Die Ursprünge des internationalen Rechts der sozialen Sicherheit, 1983; Hans F. Zacher, Grundfragen des internationalen Sozialrechts, in: Hans F. Zacher, Abhandlungen zum Sozialrecht, 1993, S, 431-454; Eberhard Eichenhofer, Internationales Sozialrecht, 1994, S. 16-39. 146 Art. 11 der Verfassung des Norddeutschen Bundes; Art. 11 der Reichsverfassung von 1871; Art. 45 der Reichsverfassung von 1919. w Zacher, Grundlagen (ο. N. 23), S. 621-650.

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staatliche Unterschiede hin wegzuführen, ist zwar nicht ausgeschlossen,148 doch mehrt es die Widerstände und die Risiken. Die herrschende freizügigkeitsfördernde Handhabung des Koordinationsrechts, durch das sowohl im supranationalen Europa als auch darüber hinaus die nationalen Sozialrechtsordnungen miteinander verknüpft werden, 149 macht auch gliedstaatliche Sozialleistungen exportfähig und -pflichtig. 150 IV. Die Länder als Sozialstaaten 7. Die Möglichkeiten eigener Sozialstaatlichkeit Die Möglichkeiten der Länder, sich als Sozialstaaten darzustellen, erscheinen somit marginal und diffus. Und trotzdem verpflichtet Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG sie auf die „Grundsätze des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates". Nicht nur der Gesamtstaat soll, wie Art. 20 Abs. 1 GG sagt, „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat" sein. Ihren Anteil daran könnten die Länder wohl auch durch das Prinzip wechselseitiger Durchdringung von Zentralstaat und Gliedstaat leisten. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG meint jedoch ein jedes Land. Wenn dieser Anspruch erfüllt werden soll, so muß sich das Land auch durch Sonderung des Partikularen, des jeweils Eigenen, als Sozialstaat verwirklichen. Die wechselseitige Durchdringung von Bund und Land kann nicht genügen. Sie individualisiert den „sozialen Staat Land" nicht zureichend, nicht substantiell genug. Und das Land muß sichtbar machen, worin es sich als Sozialstaat versteht, womit es das Soziale verantwortet. Der „Sozialstaat Land" muß sich als Einheit intendieren. Als etwas, was gegenüber dem Sozialstaat Bund unterscheidbar und vergleichbar wird. Das kann am wirkungsvollsten dort geschehen, wo die Länder noch originäre Zuständigkeiten haben: durch Gesetzgebung, Finanzprogramme, Planung, organisatorische Gestaltung, gesetzesfreie Verwaltung, Erziehung und Überzeugung usw. Soziales zu bewirken. Daß diese Spielräume im Bereich des spezifisch Sozialen - im Bereich der gezielten, korrigierenden sozialen Intervention - eng begrenzt sind, braucht nicht wiederholt zu werden. Eine sehr viel allgemeinere und ursprüngliche soziale Verantwortung haben die Länder dagegen dort, wo Lebensvollzüge vor aller Abwehr sozialer Gefährdungen und vor aller Kompensation sozialer Defizite ermöglicht werden: wo es darum geht, daß die Grundformel von Arbeit und Einkommen, Unterhaltsverband und Bedarfsdeckung sich realisieren kann sich möglichst störungsfrei und reibungsarm, möglichst produktiv realisieren kann. Daseinsvorsorge und Infrastruktur sind wichtige Stichworte dafür. Erziehung und •48 Graser, Dezentrale Wohlfahrtsstaatlichkeit (o. N. 140), S. 359-364. 149 s. dazu Rolf Schuler, Das internationale Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1988, S. 61-64, 305-308. 150 Stephan Leibfried/Paul Pierson, Halbsouveräne Wohlfahrtsstaaten: Der Sozialstaat in der europäischen Mehrebenen-Politik, in: Stephan Leibfried /Paul Pierson (Hrsg.), Standort Europa, 1998, S. 58-99 (67-78).

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Bildung oder auch Gesundheitswesen und innere Sicherheit sind Schwerpunkte anderer Art. Alles in allem: Die bedeutsamste soziale Funktion haben die Länder dort, wo sie die allgemeinen zivilisatorischen und kulturellen Voraussetzungen für das Wohlergehen der Menschen schaffen, wo sie die Prosperität der gesellschaftlichen Verhältnisse und der individuellen Lebensvollzüge fördern können. 151 Die Selbstdarstellung des Landes als „Sozialstaat" gerät damit freilich in Schwierigkeiten: Gerade mit dem unspezifisch Sozialen soll sich das Land als „Sozialstaat" zur Geltung bringen. Und dieses unspezifisch Soziale ist offen und unbegrenzt. Wie könnte es mit dem gleichen Appeal zur politischen Integration beitragen wie die soziale Intervention? Zwar sind sozial förderliche gesellschaftliche Verhältnisse und sozial förderliche Gestaltungen des öffentlichen Lebens für das Gelingen des Sozialstaates nicht weniger wichtig wie die Abwehr sozialer Gefahren und der Ausgleich sozialer Defizite durch soziale Leistungen und Ordnungen des sozialen Schutzes;152 aber die Versuchung, die soziale Korrektur und Kompensation, die soziale Intervention, mehr wahrzunehmen als die allgemeinen Gegebenheiten und das um so mehr, je unproblematischer diese Gegebenheiten sind - , scheint unwiderstehlich zu sein. Und die Länder selbst haben sich ihr längst ausgeliefert. Sie haben es weithin aufgegeben, den Beitrag, den sie und gerade sie für die Prosperität der Lebensverhältnisse, für die Chancen der Menschen leisten können und leisten, als einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen des Sozialstaats zur Geltung zu bringen. Stattdessen haben sie sich mit aller Kraft in die Politik der sozialen Leistungen und des sozialen Schutzes und damit in die Politik des Bundes eingebracht. Damit wird ein tiefer und wichtiger Zusammenhang sichtbar, der zwischen der Entwicklung des Sozialstaates und der Entwicklung des Bundesstaates besteht. Die Identifikation des Bundes mit dem Sozialstaat hängt eng damit zusammen, daß das Soziale mit der spezifischen intervenierenden und korrigierenden Sozialpolitik gleichgesetzt wird. Ebenso hängt die Vernachlässigung der Länder als Träger sozialer Politik eng mit der Vernachlässigung der unspezifischen Voraussetzungen sozialer Politik, mit den Bedingungen allgemeiner Prosperität und mit dem Beitrag zusammen, den die Gesellschaft zum Gelingen des Sozialen zu leisten hat. Indem die Länder den Anteil hervorheben, den sie kraft ihrer allgemeinen zivilisatorischen und kulturellen Verantwortung am Sozialen nehmen, indem sie so auch auf die Rolle verweisen, welche die einzelnen, ihre privaten Gemeinschaften und die Gesellschaft am Gelingen des Sozialstaats nehmen, leisten sie somit einen Beitrag nicht nur zur Reform des Bundesstaates, sondern zur Reform des Sozialstaates. Oder realistischer gesagt: Würden die Länder den Anteil hervorheben, den sie kraft ihrer allgemeinen zivilisatorischen und kulturellen Verantwortung am Sozialen nehmen, würden sie so auch auf die Rolle verweisen, welche die einzelnen, ihre privaten Gemeinschaften und die Gesellschaft am Gelingen des Sozialstaats nehmen, würden sie somit nicht nur einen Beitrag zur Reform des Bundesstaates, sondern auch zur Reform des Sozialstaates leisten. 151

Zacher, Der soziale Bundesstaat (ο. N. 42). m Zacher, Grundlagen (ο. N. 23), insbes. S. 365-368.

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Doch darf darüber der Anteil nicht unterschätzt werden, den die Länder auch am spezifisch Sozialen haben. Der Übergang von der allgemeinen Verantwortung für Prosperität zur spezifischen Verantwortung für die Kontrolle sozialer Gefährdungen und zum Ausgleich sozialer Nachteile ist fließend. 153 Die Kommunen, ein wichtiger Wirkungsbereich der Länder, sind wesentliche Faktoren sowohl der allgemeinen zivilisatorischen und kulturellen Lebensbedingungen als auch der spezifischen Sozialpolitik. 154 Dazu kommen die - wenn auch begrenzten - Möglichkeiten spezifisch sozialer Landesgesetzgebung:155 sei es eigenständiges Schutz- oder Leistungsrecht, 156 sei es die Ergänzung materiellen Bundesrechts durch materielles Landesrecht, 157 sei es endlich die Fülle der organisations- und verfahrensrechtlichen Ergänzungen des Bundesrechts, das von den Behörden der Länder ausgeführt wird. 1 5 8 Dazu kommt schließlich die Vielfalt der Funktionen, welche die Regierungen und die Verwaltungsbehörden der Länder ausüben, indem sie Bundesgesetze ausführen, die Ausführung durch Selbstverwaltungsträger beaufsichtigen, ergänzen oder begleiten. 159 Auch wenn das alles zusammen ein Fleckenteppich ist, so ist es doch nicht nur vielerlei, sondern auch viel. Um so erstaunlicher ist, daß kein Landesgesetzgeber sein Landessozialrecht in einem Gesetz zusammengefaßt hat und so sich als Sozialstaat sichtbar gemacht hat. Ein solches Gesetz könnte nicht nur die Rechtsmaterie übersichtlicher gestalten. Es könnte auch zum Anlaß dienen, die Strukturen zu vereinfachen. Schließlich wäre es allein schon hilfreich, wenn der „Sozialstaat Land" über sich wenigstens informieren würde. Selbst das findet sich nur vereinzelt. 160 153 Gute Beispiele in: Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen, Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen, Teil III: Maßnahmen zur Verbesserung der Beschäftigungslage, 1997. 154 Rainer Pitschas, Kommunale Sozialpolitik, in: Bernd von Maydell / Franz Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl. 1996, S. 1257- 1305. •55 Schulin/Igl, Sozialrecht (o. N. 74), S. 36 f. 156 s. o. N. 83, 84, 85.

!57 So etwa hinsichtlich des Kinder- und Jugend wohlfahrtsrecht, da das SGB VIII in besonders reichem Umfange Vorbehalte zugunsten des Landesrechts enthält. '58 Art. 83, 84 GG. •59 Art. 83, 84 GG. Daß sich die Selbstverwaltungsstrukturen der Sozialversicherung und der Arbeitsverwaltung nur wenig in die bundesstaatliche Gliederung einfügen, kann hier nur erwähnt werden. Ein Teil der Probleme geht schon auf das Grundgesetz zurück (s. Art. 87 Abs. 2 GG a. F. und in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. Oktober 1994, BGBl. I, S. 3146). Zu den Organisationsproblemen s. schon Werner Weber, Organisationsprobleme des sozialen Bundesstaates, Deutsche Rentenversicherung, 1969, S. 121-132. Zur gegenwärtigen Diskussion s. etwa Herbert Rebscher (Hrsg.), Regionalisierung der gesetzlichen Krankenversicherung, 1999; Walter Krebs, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Organisationsreform der gesetzlichen Rentenversicherung, 1999; Peter Axer, Verfassungsrechtliche Fragen der Organisationsreform der Rentenversicherung, 2000. 160 Der Freistaat Bayern hat über viele Jahrzehnte hindurch ein Jahrbuch „Sozialpolitik in Bayern" herausgegeben, mittlerweile jedoch eingestellt. Nunmehr liefert das Internet gewisse Informationen.

Der soziale Bundesstaat

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2. Die Landesverfassungen als Ort landes- sozialstaatlicher Integration Die Länder freilich beschreiten zumeist einen ganz anderen Weg, sich als Sozialstaaten darzustellen: die Aufnahme einer mehr oder weniger ausführlichen Sozialstaatsprogrammatik in die Landesverfassungen. Diese Programmatik kann doppelt unterschieden werden. Einerseits nach dem Inhalt: in die allgemeine Formulierung des sozialen oder eines verwandten Staatsziels und in die Vielzahl einzelner „sozialer Rechte", Programmsätze, konkreterer Staatszielbestimmungen. Andererseits nach den Zeitperioden: in die Verfassungsgebung der unmittelbaren Nachkriegszeit (1946-1949), in die vereinzelte Verfassungsgebung in Westdeutschland bis zur Wiedervereinigung (1949-1989) und in die Verfassungsgebung im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung - vor allem für die neuen Länder, vereinzelt aber auch in den alten Ländern. Die frühen Landesverfassungen 161 führten den „Sozialstaat" in die Verfassungssprache ein. 1 6 2 Unter den Namen, die sonst gebraucht wurden, um den Sinn des Sozialen auszudrücken, fand sich die Menschenwürde als Grundrecht 163 im Zusammenhang der Bildungsziele 164 sowie im Zusammenhang mit der Wirtschaftsordnung 165 und den Arbeitsbedingungen. 166 Die „soziale Gerechtigkeit" erschien unter den Staatszielen,167 unter den Bildungszielen,168 im Zusammenhang mit der Wirtschaftsordnung 169 und als Auftrag der Rechtspflege. 170 „Solidarität", „Teilhabe" oder „Ausschluß" dagegen waren keine Worte jener Zeit. „Subsidiarität" blieb ein Hintergrundbegriff. Die „soziale Sicherheit" war dem Sprachgebrauch jener Jahre noch nicht vertraut. „Daseinsvorsorge" schließlich war in jedermanns Mund. Aber die Verfassungen gebrauchten das Wort nicht. Die Verfassungsprogrammatik zur sozialen Bindung der Wirtschaft, zu Arbeit, Einkommen, Vermögen, Abgaben, Familie und Bedarfsdeckung war vielfältig und reichhaltig. Die Landesverfassungen, die in den westdeutschen Ländern nach dem Grundgesetz ergangen waren, 171 boten kein einheitliches Bild. Einige übernahmen die •61 Zacher, Das soziale Staatsziel (ο. N. 22), S. 1048-1050; ders., Grundlagen (ο. N. 23), S. 448-459. •62 Art. 50 Abs. 1 LVerf.Baden; Art. 3 Satz 1 LVerf.Bay; Art. 74 Satz 1 LVerf.RP; Art. 43 Satz 1 LVerf.WB. •63 Art. 100 LVerf.Bay; Art. 5 Abs. 1 LVerf.Br; Art. 3 LVerf.He. •64 •65 •66 •67 •68 •69 •70

Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art.

131 Abs. 2 LVerf.Bay; Art. 26 Nr. 1 LVerf.Br. 151 Abs. 1 LVerf.Bay; Art. 27 LVerf.He; Art. 51 Abs. 1 Satz 2 LVerf.RP. 52 Abs. 1 Satz 1 LVerf.Br. 65 Abs. 1 LVerf.Br. - s. auch Art. 3 Satz 3 LVerf.WHz: „gerechter Ausgleich". 26 Nr. 1 LVerf.Br. 51 Abs. 1 Satz 2 LVerf.RP. 134 LVerf.Br.

•7· Zacher, Das soziale Staatsziel (ο. N. 22), S. 1051 f.

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Sozialstaatsdeklaration. 172 Berlin verpflichtete sich in der Präambel auf den „sozialen Fortschritt", Nordrhein-Westfalen dem Ziel, „die Not der Gegenwart in gemeinschaftlicher Arbeit zu überwinden, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen". Schleswig-Holstein verzichtete auf jegliche Variante. Die soziale Einzelprogrammatik schrumpfte. Hamburg und Niedersachsen verzichteten ganz darauf. Baden-Württemberg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein verfuhren selektiv. Nach der Vereinigung brauchten die neuen Bundesländer Landesverfassungen. 173 Die Verfassungsdynamik der Zeit, die ja auch zu zahlreichen Änderungen des Grundgesetzes führte, veranlaßte freilich auch in einer Reihe alter Bundesländer mehr oder weniger weitgehende Verfassungsrevisionen. 174 In den neuen Verfassungen fand das soziale Staatsziel überall Aufnahme. Detaillierte Verfassungsprogramme fanden wieder vermehrt Aufnahme. Dabei kamen einerseits Wertvorstellungen zur Geltung, die in den neuen Ländern besonders lebendig waren. Andererseits waren auch neue Themen des sozialen Staates erkannt worden. Das Ergebnis ist einerseits, daß die Länder sich ganz überwiegend als Sozialstaaten bezeichnen und damit wenigstens deklaratorisch dem Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG gerecht werden. Die üppige Einzelprogrammatik dagegen ist problematisch. Sie artikuliert vielfach eine Sozialstaatlichkeit, welche die aktuelle Zuständigkeit der Länder überschreitet. 175 Aber auch in den Ländern selbst dienen sie kaum jener Integration, die der „Sozialstaat Land" so nötig hätte.

V. Krise des Sozialstaats - Krise des Bundesstaats Am Ende zeigt sich eine überraschende Parallelität. Der Sozialstaat ist in die Krise geraten, weil er das ständige Ineinander von privatem, gesellschaftlich-öffentlichem und staatlichem Geschehen ebenso vernachlässigt hat wie das ständige Ineinander von auch-aber-nicht-nur-sozialem Geschehen und gezielt sozialer Gestaltung. Die Konzentration auf den Staat hat ihn ebenso überfordert wie die Konzentration auf die gezielt soziale Gestaltung. Der Bundesstaat ist in die Krise gekommen, weil er die Trennung der Räume des Zentralstaats und der Gliedstaaten 172 Art. 23 Abs. 1 LVerf.BW; Art. 3 Abs. 1 LVerf.HH; Art. 1 Abs. 1 LVerf.Nd; Art. 60 LVerf.Sl i. d. F. von 1956. - Hierzu zu zählen ist auch die Verfassung des Saarlandes in der Fassung vom 20. Dezember 1956 (Art. 60): „Sozialer Rechtsstaat". In der Einzelprogrammatik hat sich durch die Neufassung von 1956 nichts Wesentliches geändert. 17 3 Christian Starck, Die Verfassungen der neuen Länder, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IX, 1997, S. 353-403 (396-397); Zacher, Grundlagen (o. N. 23), S. 598-600. 174 Zacher, Grundlagen (o. N. 23), S. 598-600. 175 Zu diesem „ruhenden Verfassungsrecht" s. BVerfGE 36, 343 (360-369); 64, 301 (317); 90, 50 (85); 96, 330 (391). Michael Nierhaus, in: Christian Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 2, 4. Aufl. 2000, Art. 28 Abs. 1 Rz. 18 ff., 87 ff.

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vernachlässigt hat. Das gesamtstaatliche Ineinander hat eben diesen Gesamtstaat überfordert und die Staatlichkeit der Glieder ausgehöhlt. Zwischen beiden Entwicklungen besteht ein enger Zusammenhang; denn den Gliedstaaten kommt für das private und gesellschaftliche Geschehen eine wesentliche Bedeutung zu, ebenso wie für das auch-aber-nicht-nur-soziale Geschehen, während der Zentralstaat durch die Anforderungen an den Staat und seine gezielte soziale Gestaltung überanstrengt wurde. Daraus ergibt sich, daß auch die Reformen, die den Sozialstaat und den Bundesstaat retten sollen, in einem entsprechend engen Zusammenhang stehen. Die Reföderalisierung muß einhergehen mit der Besinnung auf die Bedeutung des privaten und gesellschaftlichen Geschehens für die Verwirklichung des Sozialen. Und die Genesung des Sozialstaates braucht die größere Wirklichkeitsnähe der Gliedstaaten.

Rechtsfragen des Parlamentsvorbehalts für Einsätze der Bundeswehr Von Hans H. Klein I. Grundlagen 1. Mit Urteil vom 12. Juli 19941 hat das BVerfG entschieden, daß ein nach dem Grundgesetz zulässiger Einsatz bewaffneter Streitkräfte der Bundeswehr der konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Bundestages bedarf. Das Grundgesetz sichere „dem Parlament einen rechtserheblichen Einfluß auf Aufbau und Verwendung der Streitkräfte". Das Erfordernis einer konstitutiven Beteiligung des Parlaments (gemeint ist der Bundestag) gelte auch für „den konkreten Einsatz" (Hervorhebung im Original) nach Maßgabe bestehender Bündnisverpflichtungen, und zwar ungeachtet dessen, daß der Gesetzgeber und damit auch der Bundestag an der Begründung dieser Verpflichtung mitgewirkt haben. Lediglich nach bereits erfolgter Feststellung des Verteidigungsfalls gem. Art. 115a GG erübrige sich eine gesonderte Zustimmung des Parlaments zum Streitkräfteeinsatz. Nicht zustimmungspflichtig, mithin der Entscheidung der Exekutive überlassen, bleibe eine „Verwendung von Personal der Bundeswehr für Hilfsdienste und Hilfeleistungen im Ausland, sofern die Soldaten dabei nicht in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind". Die vorherige Zustimmung des Bundestages zu einem (sei es auch nur potentiell) 2 bewaffneten Einsatz der Bundeswehr ist - mit Rücksicht auf die militärische Wehr- und die Bündnisfähigkeit Deutschlands - nicht erforderlich, wenn „Gefahr im Verzug" ist. Die Bundesregierung darf dann den vorläufigen Einsatz von Streitkräften beschließen, an entsprechenden Beschlüssen der Bündnisorgane mitwirken und diese vorläufig vollziehen. Sie muß aber in jedem Falle das Parlament umgehend3 mit dem so beschlossenen Einsatz befassen und die Streitkräfte zurückrufen, wenn der Bundestag es verlangt. • BVerfGE 90, 286 (381 ff.). Diese Folgerung ergibt sich vor allem im Blick auf den Einsatz im Rahmen von Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen wegen der fließend gewordenen Grenzen zwischen den traditionellen Blauhelmeinsätzen und solchen mit der Befugnis zu bewaffneten Sicherungsmaßnahmen; vgl. BVerfGE 90, 286 (387 f.). 3 Zur Auslegung des Begriffes „umgehend" im Zusammenhang mit der am 14. März 1997 durchgeführten Evakuierung deutscher und anderer Staatsangehöriger in Albanien vgl. Volker Epping, Die Evakuierung deutscher Staatsbürger im Ausland als neues Kapitel der Bundeswehrgeschichte ohne rechtliche Grundlage?, AöR 124 (1999), S. 423 ff. (451 f.). S.a. unten IV. 5. a). 2

17 FS Schmitt Glaeser

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Der Bundestag ist bei seinem (mit der sog. einfachen Mehrheit nach Art. 42 Abs. 2 GG zu fassenden) Beschluß „an die mit seiner Zustimmung zustande gekommenen rechtlichen Festlegungen über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte gebunden'4. Ein Initiativrecht kommt dem Bundestag nicht zu: Er kann die Bundesregierung also nicht zu einem Einsatz der Bundeswehr verpflichten. 4 Der der Regierung für außenpolitisches Handeln gewährte Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit werde durch den Parlaments vorbehält nicht berührt. Das gelte „insbesondere hinsichtlich der Entscheidung über die Modalitäten, den Umfang und die Dauer der Einsätze, die notwendige Koordination in und mit den Organen internationaler Organisationen".5 2. Nach Auffassung des BVerfG ist es „Sache des Gesetzgebers, die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten".6 Je nach dem Anlaß und den Rahmenbedingungen des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte seien unterschiedliche Formen der Mitwirkung denkbar. Insbesondere im Hinblick auf verschiedene Arten von Einsätzen, vor allem bei solchen, die keinen Aufschub dulden oder erkennbar von geringer Bedeutung sind, empfehle es sich, den Zeitpunkt und die Intensität der parlamentarischen Kontrolle näher zu begrenzen. Dabei könne es angezeigt sein, im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen die parlamentarische Beteiligung nach der Regelungsdichte abzustufen, wenn die Art des militärischen Einsatzes schon durch ein vertraglich geregeltes Programm militärischer Integration vorgezeichnet sei. Die gesetzliche Regelung müsse „das Prinzip förmlicher parlamentarischer Beteiligung hinreichend zur Geltung bringen", aber auch „den von der Verfassung für außenpolitisches Handeln gewollten Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit... beachten". Diese Formulierungen legen dem Gesetzgeber den Erlaß eines „Entsendegesetzes" mit einigem Nachdruck nahe. Eine verfassungsrechtliche Verpflichtung dazu hat das BVerfG dem Grundgesetz jedoch nicht entnommen. Der Parlamentsvorbehalt gelte „unmittelbar kraft Verfassung". Diese statuiere „Mindestanforderungen und Grenzen des Parlamentsvorbehalts". Jene betreffen auch das Verfahren: „so es die Lage irgend erlaubt", ist die Entscheidung des Bundestages „in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages vorzubereiten und im Plenum zu erörtern". 7 4

Eine rechtlich unverbindliche Aufforderung der Bundesregierung im Sinne eines „schlichten" Parlamentsbeschlusses ist aber verfassungsrechtlich unbedenklich. 5 Das BVerfG hat trotz der im Schrifttum geübten Kritik seine Entscheidung vom 12. Juli 1994 in späteren Erkenntnissen bestätigt, so daß von einer gefestigten Rechtsprechung ausgegangen werden kann: BVerfGE 100, 266 (269); 104, 151 (208); s. a. Beschluß des 2. Senats vom 25. März 2003 - 2 BvQ 18/03 - unter B. II. 2. b). Die Kritik richtet sich freilich zum Teil nicht gegen das Ergebnis, sondern gegen die Begründung des Urteils. S. die Nachweise bei Manfred Baldus, in: H.v.Mangoldt/F. Klein/C.Starck, GG. Das Bonner Grundgesetz, 3. Band, 4. Aufl. 2001, Art. 87a Rn. 45; Werner Heun in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Band, 2000, Art. 87a Rn. 17 mit Fn. 85. Kritische Würdigung des Urteils vom 12. Juli 1994 auch bei Martin Limpert, Auslandseinsätze der Bundeswehr, 2002, S. 54 ff. 6 BVerfGE 90, 286 (389 f.). 7 BVerfGE 90, 286 (388).

Rechtsfragen des Parlaments Vorbehalts für Einsätze der Bundeswehr

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3. Ein Entsendegesetz ist bisher nicht erlassen worden. Auch amtliche Entwürfe scheint es bisher nicht zu geben. Die zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen über das Arbeitsprogramm der Bundesregierung in der 15. Wahlperiode geschlossene Vereinbarung, der sog. Koalitionsvertrag, enthält in Abschnitt IX unter der Überschrift „Bundeswehr und internationale Einsätze" nur die lapidare Bemerkung: „Die parlamentarische Kontrolle von Spezialeinsätzen8 wird gewährleistet".9 Die Absicht, im Gesetzgebungsverfahren die Initiative für ein Entsendegesetz zu ergreifen, haben die Koalitionspartner ersichtlich nicht. In diese Richtung zielte ein Antrag, den die Bundestagsfraktion der FDP im Juni 2002, also kurz vor dem Ende der 14. Wahlperiode des Bundestages, eingebracht hatte.10 Ihm zufolge sollte der Bundestag beschließen, die Bundesregierung zur Einbringung eines Gesetzentwurfs zur Beteiligung des Deutschen Bundestages bei bewaffneten Einsätzen der Bundeswehr im Ausland aufzufordern. Die aus Sicht der Antragsteller zu regelnden Fragen sind in dem Antrag benannt. Er fordert ferner die Regelung des Verfahrens, welches der Bundestag bei der Erteilung seiner Zustimmung einzuhalten hat, in der Geschäftsordnung. Der Bundestag hat in seiner 246. Sitzung am 28. Juni 2002 über den Antrag der FDP-Fraktion verhandelt 11 und seine Überweisung an die Ausschüsse beschlossen. Die (kurze, zu später Stunde stattfindende) Debatte ließ außer bei dem Redner der Antragsteller, dem Abg. van Essen, keinen Enthusiasmus für ein Zustimmungsgesetz erkennen. Einen dringenden gesetzgeberischen Handlungsbedarf vermochte die Abg. Brandt-Elsweier (SPD) nicht festzustellen; Rechtsunsicherheit bestehe nicht. Der Abg. Nachtwei (Bündnis 90/Die Grünen) hingegen hielt dafür, eine Regelung gehöre „zu den wichtigen Aufgaben des nächsten Bundestages".12 Auch der Abg. von Klaeden (CDU/CSU) sah in seiner zu Protokoll gegebenen Rede Regelungsbedarf und verwies auf diesbezügliche Anregungen seines Fraktionskollegen Dr. Wolfgang Schäuble. Es gelte jedoch, die Justierung der Verantwortlichkeiten zwischen Regierung und Parlament noch genauer zu bestimmen, als dies im Antrag der FDP geschehen sei. Die Abg. Dr. Kenzier (PDS) befürchtete, ein Entsendegesetz werde die parlamentarische Mitwirkung im Vergleich zu der mittlerweile geübten Praxis einschränken. Der Antrag der FDP-Fraktion ist mit dem Ende der 14. Wahlperiode des Bundestages der Diskontinuität verfallen. Im Februar 2002 unterbreitete der Abg. Dr. Bartels (SPD), Mitglied des Verteidigungsausschusses, den Vorschlag, Art. 45a GG zu ändern, um die Grundlage dafür zu schaffen, daß dem Verteidigungsausschuß des Bundestages nach dem Vor8

Warum nur diese? Daß eine verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit ausdrücklich zum Gegenstand einer politischen Selbstverpflichtung der Regierungsparteien gemacht wird, läßt tief blicken. 10 BT-Drucks. 14/9402 vom 12. Juni 2002; s. a. Antrag der FDP-Fraktion vom 6. November 2002, BT-Drucks. 15/36. u BT-Prot., S. 24935 D ff. mit Anlage 4 (zu Protokoll gegebene Reden), S. 24951 D ff. 12 Ebenda, S. 24939 D. 9

1*

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bild des Art. 45 S. 2 GG „Kontroll- und Entscheidungsrechte über den Fortgang von Auslandseinsätzen4' übertragen werden können. Eine solche Delegation sollte jeweils (widerruflich) mit dem Zustimmungsbeschluß des Bundestages verbunden werden können. Hinter diesem Vorschlag steht die Sorge, die Notwendigkeit einer konstitutiven Zustimmung des Parlaments auch für jede Verlängerung oder Veränderung lang andauernder Einsätze könne „unpraktisch44 werden.

II. Parlamentspraxis 1. Der Deutsche Bundestag hat bisher schon deutlich mehr als 30 Beschlüsse über den bewaffneten Einsatz deutscher Streitkräfte gefaßt. 13 Nicht wenige dieser Beschlüsse betreffen allerdings den gleichen Gegenstand, und zwar in dem Sinne, daß der Bundestag seine Zustimmung zu einem bereits gebilligten Einsatz erneuerte und ergänzte. So betrafen zahlreiche Beschlüsse den Einsatz im Kosovo. 14 Verschiedene Szenarien des Balkankonflikts ließen weitere Einsätze bewaffneter deutscher Streitkräfte geboten erscheinen, denen der Bundestag mehrfach seine Zustimmung erteilte. 15 Ein Einsatz betraf Ost-Timor. 16 Nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon am 11. September 2001 beteiligt sich die Bundeswehr mit Zustimmung des Bundestages an der Operation Enduring Freedom in Afghanistan. 17 Ein Sonderfall ist der zuvor erwähnte Be13

Stand: Dezember 2002. Zusammenstellung bei Martin Limpert (Fn. 5), S. 62 ff. 14 Erster Beschluß: BT-Drucks. 13/11469 vom 12. Oktober 1998; weitere Beschlüsse: BTDrucks. 14/16 vom 4. November 1998; 14/47 vom 18. November 1998; 14/397 vom 22. Februar 1999; 14/912 vom 4. Mai 1999; 14/1111 vom 7. Juni 1999; 14/1133 vom 11. Juni 1999; 14/3454 vom 25. Mai 2000; 14/5972 vom 9. Mai 2001; 14/8991 vom 8. Mai 2002. 's Durchsetzung von Beschlüssen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zum AdriaEmbargo und Flugverbot über Bosnien-Herzegowina mit Hilfe von NATO und WEU: BTDrucks. 12/8303 vom 19. Juli 1994; Beteiligung deutscher Truppen an dem zur Unterstützung der VN-Friedenstruppen im ehemaligen Jugoslawien gebildeten schnellen Einsatzverband: BT-Drucks. 13/ 1802 vom 26. Juni 1995; Absicherung des Friedensvertrags von Dayton: BT-Drucks. 13/3122 vom 28. November 1995; 13/6500 vom 11. Dezember 1996; 13/10977 vom 17. Juni 1998; Unterstützung der VN-Übergangsadministration für Ostslawonien (UNTAES) durch die multinationale Friedenstruppe für Bosnien-Herzegowina (IFOR): BT-Drucks. 13/3708 vom 7. Februar 1996; Albanien (Evakuierung deutscher und anderer Staatsangehöriger): BT-Drucks. 13/7233 vom 18. März 1997; Mazedonien: BT-Drucks. 14/6830 vom 23. August 2001 (Einsammeln und Zerstören von Waffen: Essential Harvest); 14/6970 vom 27. September 2001; 14/7770 vom 10. Dezember 2001; 14/8500 vom 13. März 2002; 14/9179 vom 29. Mai 2002; 15/10 vom 22. Oktober 2002 (Schutz von Beobachtern). 16 BT-Drucks. 14/1719 vom 6. Oktober 1999. 17 Die Grundlage bildet der Beschluß des Deutschen Bundestages über den Antrag der Bundesregierung vom 7. November 2001: BT-Drucks. 14/7296, den der Bundeskanzler mit der Vertrauensfrage verband (BT-Drucks. 14/7440 vom 13. November 2001); Folgebeschlüsse: 14/7930 vom 21. Dezember 2001 ; 14/9246 vom 5. Juni 2002; 15/37 vom 6. November 2003.

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schluß, mit dem der Bundestag den Einsatz deutscher Streitkräfte zur Evakuierung deutscher und anderer Staatsangehöriger aus Albanien gebilligt hat. 18 Denn hier war, wie in der Begründung ausgeführt wird, „Gefahr im Verzug'4, und die Bundesregierung hatte den Einsatz beschlossen und durchgeführt, bevor der Bundestag Gelegenheit hatte, ihm zuzustimmen. 2. Die Zustimmungsbeschlüsse des Bundestages folgen, wennschon in nicht immer gleicher Formulierung, durchgehend einem einheitlichen Muster: Sie nehmen die Beschlüsse der Bundesregierung, 19 denen zugestimmt werden soll, in Bezug, wodurch diese Beschlüsse in vollem Umfang Gegenstand der Zustimmung des Bundestages selbst werden. Schon der erste, auf die einstweilige Anordnung des BVerfG vom 23. Juni 199320 zurückgehende Zustimmungsbeschluß des Bundestages zur Beteiligung der Bundeswehr an UNOSOM I I 2 1 ist in dieser Form gefaßt worden. Regelmäßig lautet der Beschluß des Bundestages dahin: „Der Deutsche Bundestag stimmt dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte entsprechend der von der Bundesregierung am ... beschlossenen deutschen Beteiligung an ... zu." Vielfach wird der von der Bundesregierung gefaßte Beschluß im Rahmen einer „Begründung" wiedergegeben, die Bestandteil des Beschlusses des Bundestages ist, gelegentlich auch die „Vorgeschichte" und damit die Beweggründe des Einsatzes darstellt, dem zugestimmt wird, und vor allem die Rechtsgrundlagen (Beschlüsse des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, der Organe von NATO und WEU) benennt, auf welche sich der Einsatz stützt. In den Beschlüssen der Bundesregierung - und damit auch in denen des Bundestages - ist oft eine Befristung des vorgesehenen Einsatzes enthalten, die sich - allerdings nicht notwendig22 - aus den ihrerseits befristeten Mandaten des Sicherheitsrats oder anderer internationaler Organisatio18 BT-Drucks. 13/7233. Als weiteren Fall von Gefahr im Verzug schildert Limpert (Fn. 5), S. 90, die Aufstockung des deutschen ISAF-Kontingents (ISAF: International Security Assistence Force) um 200 Soldaten durch Beschluß der Bundesregierung vom 5. Juni 2002, BTDrucks. 14/9246, der nachträglich vom Bundestag gebilligt wurde. Ob es der Zustimmung des Bundestags in diesem Fall bedurft hätte, erscheint nach hier vertretener Auffassung indessen zweifelhaft (s. u. zu III 1 c). 19 Eines Beschlusses der Bundesregierung bedarf es nach § 15 Abs. 1 GOBReg, wenn der beschlossenen Maßnahme allgemeine außenpolitische Bedeutung zukommt. Das BVerfG verlangt, wenn ein Einsatz bei Gefahr im Verzug ohne vorherige Zustimmung des Bundestages erfolgen soll, aus verfassungsrechtlichen Gründen ebenfalls einen Kabinettsbeschluß (BVerfGE 90, 286 [388]). Zum Verhältnis des § 15 GOBReg zur Befehls- und Kommandogewalt des Bundesministers der Verteidigung s. Epping (Fn. 3), S. 453 ff. 20 BVerfGE 89, 39.

21 BT-Drucks. 12/5248 vom 24. Juni 1993. 22 Der Beschluß des Bundestages zur Beteiligung deutscher Streitkräfte an der Operation Enduring Freedom in Afghanistan enthält einerseits die Feststellung, daß die Dauer dieser Operation sich nach den Erfordernissen des Kampfes gegen den Terrorismus richte, begrenzt aber die deutsche Beteiligung „zunächst auf 12 Monate" und deklariert, daß für den Fall einer (mittlerweile erforderlich gewordenen) zeitlichen Ausdehnung des Einsatzes „die Bundesregierung den Deutschen Bundestag vor Ablauf der Frist von 12 Monaten erneut konstitutiv befassen" werde, BT-Drucks. 14/7296, S. 3 unter Nr. 4.

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nen ergibt und vor Ablauf der Frist einen weiteren Beschluß zur Verlängerung des Einsatzes erfordert. Die Beschlüsse beschreiben den Zweck und die Voraussetzungen des beabsichtigten Einsatzes sowie detailgenau23 den Auftrag der Truppe. Sie bestimmen Art und Umfang der Streitkräfte (z. B. Pionier- und Sanitätstruppen; Lufttransportkräfte; Kampfflugzeuge; Schiffe; Zahl der zum Einsatz kommenden Soldaten, differenziert nach Art der Waffengattungen) 24 und das Einsatzgebiet. Sie regeln, ob Berufssoldaten, Soldaten auf Zeit und ggf. auch Grundwehrdienstleistende Verwendung finden dürfen, und welchen rechtlichen Status die zum Einsatz kommenden Soldaten haben sollen - dazu wird etwa auf Vereinbarungen der internationalen Organisation (NATO, WEU) mit dem Land Bezug genommen, in dem die Operation stattfinden soll. 25 3. Angesichts der vom Bundestag für seine Beschlüsse gewählten Form drängt sich die Frage auf, ob diese Beschlüsse in allen ihren Teilen gleiche rechtliche Verbindlichkeit besitzen. Diese Frage ist, solange es ein Entsendegesetz nicht gibt, ausschließlich verfassungsrechtlicher Qualität, es handelt sich also um die nähere Bestimmung der „Grenzen des Parlamentsvorbehalts". 26 Einigen der damit in Zusammenhang stehenden Probleme soll im Folgenden nachgegangen werden (III.), bevor abschließend gesetzgeberische Spielräume für ein mögliches Entsendegesetz ausgelotet werden (IV.). III. Grenzen des Parlamentsvorbehalts 1. Der konstitutive, d.i. der für die Bundesregierung rechtsverbindliche Parlamentsbeschluß bildet im parlamentarischen Regierungssystem die Ausnahme. Außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens berechtigen und verpflichten Beschlüsse des Bundestages, sieht man von dem hier in Rede stehenden Fall ab, die Bundesregierung zu einem Tun oder Unterlassen nur dann, wenn das Grundgesetz dies ausdrücklich anordnet: Es handelt sich im hier interessierenden Zusammenhang um die Feststellung des Spannungs- und Verteidigungsfalls (Art. 80a Abs. 1, 115a Abs. 1 GG; s.a. Art 115 1 Abs. 2 GG) sowie um die Einstellung des Einsatzes der Bundeswehr im Innern (Art. 87a Abs. 4 S. 2 GG). Ungeachtet des Umstandes, daß der Bundeskanzler vom Bundestag gewählt wird und von ihm - nach den Maßgaben des Art. 67 GG - auch wieder abgewählt werden kann, ungeachtet auch dessen, daß alle Mitglieder der Bundesregierung dem Bundestag verantwortlich sind, verfügt die Bundesregierung auf Grund der Ausgestaltung, die das Grundgesetz dem Prinzip der Gewaltenteilung hat angedeihen lassen, über von ihr in 23 Vgl. etwa die Beschreibung der Aufgaben im Rahmen der internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo, BT-Drucks. 14/1133, S. 2 unter Nr. 1. 24 Dabei wird u.U. eine Obergrenze festgelegt, unterhalb derer Abweichungen bei der Aufteilung im Einzelnen möglich sein sollen; z. B. BT-Drucks. 14/7296, S. 4 unter Nr. 5. 2 5 Vgl. BT-Drucks. 14/6830, S. 3 unter Nr. 7 (Mazedonien); 14/7296, S. 4 unter Nr. 6 (Afghanistan). 2 6 BVerfGE 90, 286 (389).

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eigener Verantwortung wahrzunehmende Zuständigkeiten.27 Zwar kann das Parlament die Art und Weise, in der die Bundesregierung von ihren Zuständigkeiten Gebrauch macht, politisch beeinflussen, 28 eine rechtliche Bindungswirkung entfalten seine Beschlüsse gegenüber der Bundesregierung jedoch nicht. Davon ausgehend hat das BVerfG hervorgehoben, daß auch beim Einsatz der Bundeswehr „der der Regierung von der Verfassung für außenpolitisches Handeln gewährte Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit" unberührt bleibt. 29 Zwei Folgerungen daraus wurden ausdrücklich benannt: Der Zustimmungsvorbehalt verleiht dem Bundestag keine Initiativbefugnis. Eine an die Bundesregierung gerichtete Aufforderung des Bundestages, sich mit deutschen Streitkräften an einem bewaffneten Einsatz zu beteiligen, wäre zwar zulässig; sie entbehrte indessen rechtlicher Verbindlichkeit. Der Bundestag hat also, insofern es um rechtsverbindliche Entscheidungen geht, nur die Befugnis, auf eine Initiative der Bundesregierung sei es mit Zustimmung, sei es mit Ablehnung zu reagieren. Das heißt auch, er kann die Vorlage der Bundesregierung nicht ohne deren Einverständnis ändern. 30 Allerdings bleibt es ihm unbenommen, die Regierung mit der Androhung der Verweigerung seiner Zustimmung politisch unter Druck zu setzen und auf diese Weise Änderungen ihres Beschlußantrags zu erzwingen. So kann es dahin kommen, daß in die Zustimmungsbeschlüsse des Bundestages Feststellungen Eingang finden, die den Bereich exekutiver Eigenverantwortung der Regierung berühren. Denn das BVerfG hat - zweitens - betont, daß der Bundesregierung „insbesondere" vorbehalten bleiben die „Entscheidung über die Modalitäten, den Umfang und die Dauer der Einsätze, die notwendige Koordination in und mit Organen internationaler Organisationen". 31 Dazu kann der Bundestag Wünsche äußern - und je nach Lage der Dinge wird die Bundesregierung gut daran tun, diesen Wünschen Beachtung zu schenken; rechtlich verbindlich sind sie für sie nicht. a) Die Frage, welche Teile eines konkreten Zustimmungsbeschlusses des Bundestages von dem Erfordernis des Parlaments Vorbehalts gedeckt, also rechtsverbindlich sind, ist nicht immer leicht zu entscheiden. Bei ihrer Beantwortung ist der 27 Vgl. BVerfGE 68, 1 (83 ff.). Zuletzt Hans-Detlef Horn, Gewaltenteilige Demokratie, demokratische Gewaltenteilung, AöR 127 (2002), S. 427 ff. 28 Beispielsweise durch sog. schlichte Parlamentsbeschlüsse; dazu etwa Hermann Butzer, Der Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses, AöR 119 (1994), S. 61 ff. Ausdrückliche Regelung: Art. 23 Abs. 3 GG i.V.m. § 5 des Ausführungsgesetzes zu Art. 23 Abs. 3 GG dieser Fall weist freilich im Vergleich zu den schlichten Parlamentsbeschlüssen die Besonderheit auf, daß die Bundesregierung rechtlich verpflichtet ist, die Stellungnahme des Bundestages zu „berücksichtigen" (Art. 23 Abs. 3 S. 2 GG), ja sie ihren Verhandlungen zu Grunde zu legen (§ 5 S. 3 des Gesetzes). Zu dieser Differenz im Wortlaut beider Vorschriften vgl. Rupert Scholz in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 23 Rn. 116. 29 BVerfGE 90, 286 (389). 30 Ebenso Christian Raap, Die Kontrolle der Streitkräfte durch das Parlament, JuS 1996, S. 980 ff. (983). 31 BVerfGE 90, 286 (389).

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vom BVerfG auch i m Streitkräfte-Urteil betonte Grundsatz zu beachten, daß nach dem dem Grundgesetz zugrunde liegenden Verständnis des Prinzips der Gewaltenteilung bei der Kompetenzverteilung die strukturelle Geeignetheit der in Betracht kommenden Organe eine maßgebliche Rolle spielt. 3 2 Soweit sich die Bundesregierung in ihrer Beschlußvorlage auf Mandate internationaler Organisationen bezieht, stimmt der Bundestag der Beteiligung deutscher Streitkräfte in deren Rahmen zu. Das gilt beispielsweise für Einsatzort und -ziel. Es ist freilich möglich, daß die Bundesregierung sich auf der Grundlage eines solchen Mandats an den dadurch ausgelösten militärischen Operationen nur partiell beteiligen will. Stimmt der Bundestag dem zu, so wird die Bundesregierung, wenn diese Eingrenzung Bestandteil ihrer Beschlußvorlage ist, darauf verpflichtet: Die Benennung von Einsatzort und -ziel ist ein notwendiger Bestandteil des Zustimmungsbeschlusses, denn anderenfalls wäre dieser nurmehr eine carte blanche für die Regierung, der Gedanke eines „Parlamentsheeres" praktisch aufgegeben. Die Bezeichnung von Ort und Ziel des Einsatzes muß deshalb auch hinreichend bestimmt sein, sie darf aber andererseits der Regierung auch nicht jeglichen Entscheidungsspielraum nehmen. Dabei wird sich das Maß der verfassungsrechtlich gebotenen Bestimmtheit nicht ohne Rücksicht auf die Art der Bedrohung angeben lassen, der durch den zu beschließenden Einsatz begegnet werden soll. 3 3 32 Vgl. BVerfGE 68, 1 (86); 90, 286 (389 f.); Horn (Fn. 27), S. 447 „Gewaltenteilung als funktionsadäquate Aufgabenzuordnung". 33 Betrachtet man daraufhin den Beschluß des Bundestages zur Operation Enduring Freedom (BT-Drucks. 14/7296), der den Einsatz bewaffneter Kräfte der Bundeswehr auf der Grundlage der Resolutionen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen Nr. 1368 (2001) vom 12. September 2001 und Nr. 1373 (2001) vom 28. September 2001 und des Beschlusses des NATO-Rats vom 18. September 2001 guthieß, so ist unschwer zu erkennen, wie schwierig es sein kann, dieser Forderung in der Praxis zu genügen. In Nr. 7 des Beschlusses ist das Einsatzgebiet beschrieben: „ . . . das Gebiet gemäß Art. 6 des Nordatlantikvertrags, die arabische Halbinsel, Mittel- und Zentralasien und Nord-Ost-Afrika sowie die angrenzenden Seegebiete." Die Bundesregierung hat, um eine hinreichende Bestimmtheit dieser Formulierung zu erreichen, sie in der Debatte des Bundestages präzisiert: „Zu Ziffer 7 weist die Bundesregierung darauf hin, daß das Einsatzgebiet weit gefaßt werden mußte, um Transport-, Schutz- und Sicherungsmaßnahmen im Gebiet gem. Art. 6 des Nordatlantikvertrags und den Seegebieten Nord-Ost-Afrikas sowie eine flexible Stationierung der bewaffneten deutschen Streitkräfte in der Nähe des Konfliktherdes zu ermöglichen. ... Es ist nicht beabsichtigt, in Ländern außerhalb Afghanistans, in denen es derzeit keine Regierung gibt, deutsche bewaffnete Streitkräfte ohne Befassung des Deutschen Bundestages einzusetzen". In Ansehung des Einsatzziels wird in Nr. 3 des Beschlusses des Bundestages ausgeführt: „Diese Operation hat zum Ziel, Führungs- und Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Terroristen zu bekämpfen, gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen sowie Dritte dauerhaft von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten abzuhalten. Deutsche bewaffnete Streitkräfte tragen dazu mit ihren Fähigkeiten bei. Der Beitrag schließt auch Leistungen zum Zweck humanitärer Hilfe ein." Auch hier sah sich die Bundesregierung im Blick auf verfassungsrechtliche Bedenken veranlaßt nachzubessern, indem sie erklärte, daß allein „das terroristische Netzwerk Bin Ladens, Al Quaida, und diejenigen, die es beherbergen oder unterstützen", gemeint seien; dazu Christian Fischer/Andreas FischerLescano, Enduring Freedom für Entsendebeschlüsse? Völker- und verfassungsrechtliche

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b) Problematischer ist es, wenn sich der Bundestag anheischig macht, auch den Zeitraum des Einsatzes zu bestimmen, wie es sich eingebürgert hat. Zwar kann die Zustimmung des Bundestages zu einem von einer internationalen Organisation mandatierten Einsatz nicht weiter reichen als das Mandat, auf welches sich die Zustimmung bezieht. Ist dieses also befristet, so ist es auch die Zustimmung des Bundestages zu einem Einsatz in diesem Rahmen. Wird das Mandat verlängert, bedarf es folgeweise einer erneuten Zustimmung des Parlaments.34 Anders liegt es jedoch dann, wenn internationalrechtliche Vorgaben hinsichtlich der Dauer des Einsatzes nicht bestehen.35 Zwar ist es der Bundesregierung in solcher Lage unbenommen, deutsche Streitkräfte nur für einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung zu stellen, da sie es ist, die über die Dauer des Einsatzes zu entscheiden hat. 36 Daraus folgt jedoch nicht, daß die Zustimmung des Bundestages zu dieser Entscheidung der Bundesregierung ihrerseits konstitutiven, d. h. rechtlich bindenden Charakter hat. 37 Die Bestimmung der maximalen38 Dauer des Einsatzes ist kein verfassungsrechtlich zulässiger Bestandteil der Beschlußfassung des Bundestages, soweit sie konstitutiven Charakter hat. Es läßt sich, wie die Erfahrung zeigt, in vielen Fällen nicht voraussehen, wie lange ein Einsatz vonnöten ist. Die Bundesregierung in dieser Frage rechtlich zu binden, würde ihre außenpolitische Entscheidungsprärogative über Gebühr einengen. Diese Einschränkung der Rechtsverbindlichkeit des Zustimmungsbeschlusses ist zumal dann unbedenklich, wenn der Bundestag über die Befugnis verfügt, seine Zustimmung zu einem bewaffneten Einsatz der Bundeswehr zu widerrufen (dazu sogleich unter 2.). c) So wenig es dem Bundestag zukommt, von sich aus verbindlich eine Höchstdauer des Einsatzes bewaffneter Streitkräfte festzulegen, so wenig ist er befugt, über Art und Umfang der zum Einsatz kommenden Streitkräfte zu entscheiden.

Probleme der deutschen Beteiligung an Maßnahmen gegen den Internationalen Terrorismus, RritV 2002, S. 113 ff. (122 ff.). 34 So war die deutsche Beteiligung an der Absicherung des Frieden s Vertrags von Dayton (Bosnien-Herzegowina) „entsprechend dem Vertragswerk von Dayton und der Beschlußlage des NATO-Rats" auf längstens zwölf Monate befristet (BT-Drucks. 13/3122 Nr. 5). Als sich diese Frist als zu kurz erwies, kam es zu Verlängerungsbeschlüssen (s. o. Fn. 15). 35 Die Dauer der Operation Enduring Freedom „richtet sich nach den Erfordernissen der vielfältigen internationalen Bemühungen als Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die USA": BT-Drucks. 14/7296 unter Nr. 4. 3 6 Vgl. BVerfGE 90, 286 (389). 37 Davon scheint die Bundesregierung allerdings auszugehen, wenn es in der BT-Drucks. 14/7296 unter Nr. 4 heißt: „Sollte ein über diesen Zeitraum (seil.: zwölf Monate) hinaus gehendes deutsches militärisches Engagement beabsichtigt werden, wird die Bundesregierung den Deutschen Bundestag mit der weiteren Beteiligung deutscher Kräfte vor Ablauf der Frist von zwölf Monaten erneut konstitutiv befassen." Ebenso anscheinend Michael Wild, Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen für Auslandseinsätze der Bundeswehr nach dem Kosovo-Krieg, DÖV 2000, S. 622 ff. (624). 38 Unbestritten ist die Kompetenz der Bundesregierung, einen Einsatz vor Ablauf der im Beschluß des Bundestages genannten Frist abzubrechen.

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Diese Entscheidung steht, woran das BVerfG 39 keinen Zweifel gelassen hat, der Regierung zu. Die überaus detailliert erfolgende Aufzählung der einzusetzenden Kräfte 40 in dem dem Bundestag zur Zustimmung vorgelegten Kabinettsbeschluß mag hier vorgenommen werden können,41 die Zustimmung des Bundestages hat insoweit jedoch nur deklaratorischen Charakter. Gewinnt die Bundesregierung im Zuge der Durchführung der Aktion den Eindruck, daß andere oder mehr als die ursprünglich vorgesehenen Kräfte gebraucht werden, fallen die erforderlichen Entscheidungen in ihre Zuständigkeit. Sie bedarf insoweit keiner Ermächtigung des Bundestages. Dafür spricht auch, daß im Zuge militärischer Operationen Situationen entstehen können, die sofortiges Handeln gebieten, etwa die Heranführung von Verstärkungen. Müßte die Bundesregierung dann zuerst die Zustimmung des Bundestages einholen, könnte irreversibler Schaden entstehen. Zwar ließe sich mit dem Gedanken der „Gefahr im Verzug" ein Ausweg aus diesem Dilemma konstruieren. Er ist aber ersichtlich auf die Entscheidung über den Einsatz als solchen gemünzt und nicht auf notwendige Dispositionen im Zuge seiner Durchführung. Diese Auffassung hat augenscheinlich auch den ersten Entsendebeschlüssen des Bundestages zugrunde gelegen.42 Auch in diesem Zusammenhang ist überdies auf die Befehls- und Kommandogewalt des Bundesministers der Verteidigung zu verweisen, die einer Einschnürung durch rechtsverbindliche Bundestagsbeschlüsse der hier in Rede stehenden Art im Wege steht. 2. Vergröbernd läßt sich mithin sagen, daß es dem Bundestag zukommt, über das Ob und Wo eines bewaffneten Einsatzes der Bundeswehr zu entscheiden, während es Sache der Bundesregierung ist, das Wie des Näheren zu bestimmen.43 Daneben stellt sich die Frage, ob der Bundestag befugt ist, einen Einsatz, dem er zugestimmt hat, aus eigener Initiative zu beenden.44 Diese Frage ist grundsätzlich zu bejahen, das Widerrufsrecht des Bundestages unterliegt jedoch Einschränkungen. 39 Wie Fn. 36. 40 Vgl. etwa BT-Drucks. 13/1802 unter Nrn. 1 und 2; 13/6500 unter Nrn. 1 bis 3; 13/7233; 14/16 unter Nrn. 1 bis 3; 14/7296 unter Nr. 5. 41

Obschon die Frage der Kompetenzverteilung zwischen dem Kabinett (der Bundesregierung als Kollegialorgan) und dem Bundesminister der Verteidigung als Inhaber der Befehlsund Kommandogewalt (Art. 65a GG) noch der Klärung harrt. 4 2 Vgl. etwa BT-Drucks. 12/8303. Schon mehr Einzelheiten enthält der Beschluß zu BTDrucks. 13/1802, der aber die Zahl der einzusetzenden Soldaten nicht angibt. Anders aber BT-Drucks. 13/3122 („Größenordnung von rund 4000 Soldaten"); ebenso oder ähnlich BTDrucks. 13/6500; 13/10977; 13/11469. In dem Beschluß zur Operation Enduring Freedom (BT-Drucks. 14/7296) wird eine Obergrenze von 3900 Soldaten angegeben nebst einer ungefähren („ca.") Aufschlüsselung auf die verschiedenen Truppenkategorien (ABC-Abwehr-, Sanitäts-, Spezialkräfte usw.), mit der Maßgabe, daß unterhalb jener Obergrenze „in Abhängigkeit von den Erfordernissen des Einsatzes Abweichungen von der jeweils genannten Größenordnung möglich" sein sollen. 43

Ebenso Marcus Schultz, Die Auslandsentsendung von Bundeswehr und Bundesgrenzschutz zum Zwecke der Friedenswahrung und Verteidigung, 1998, S. 440 f. 44 Diese Frage wurde am 8. November 2001 im Zusammenhang mit der Entscheidung über eine deutsche Beteiligung an der Operation Enduring Freedom im Bundestag kontrovers

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a) Die vom BVerfG „den Vorschriften des Grundgesetzes auf dem Hintergrund der deutschen Verfassungstradition seit 1918" entnommene „Entscheidung für eine umfassende parlamentarische Kontrolle der Streitkräfte", mithin das „der Wehrverfassung zugrunde liegende Prinzip . . . , nach dem der Einsatz bewaffneter Streitkräfte der konstitutiven, grundsätzlich vorherigen Zustimmung des Bundestages unterliegt", 45 sähe sich ihrer Bedeutung zu einem guten Teil beraubt, wenn der Bundestag darauf beschränkt wäre, nur das Startzeichen für einen militärischen Einsatz zu geben, sein weiterer Verlauf aber der Exekutive überlassen bliebe. Vom Beginn des Einsatzes an hätte die Bundeswehr dann ihren Charakter als Parlamentsheer verloren. Zwar verblieben dem Bundestag die parlamentarischen Kontrollrechte bis hin zum konstruktiven Mißtrauensvotum, aber auch ein neu gewählter Bundeskanzler könnte von ihm zur Beendigung des Einsatzes nicht rechtlich verpflichtet werden. Selbst eine Auflösung und Neuwahl des Bundestages vermöchte daran nichts zu ändern, da der Entsendebeschluß nicht der Diskontinuität unterfällt 46 Es träte also ein, was durch den Parlamentsvorbehalt verhindert werden soll: Über bewaffnete Einsätze der Bundeswehr, einmal vom Parlament zugelassen, bestimmte (wenngleich natürlich nur im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen) die Regierung allein. Gegen dieses Ergebnis spricht nicht, daß nach der Leitentscheidung des BVerfG die Regierung (u. a.) über die Dauer der Einsätze befindet. 47 Sie kann sie jederzeit beenden. Der Vorbehalt des Initiativrechts zugunsten der Bundesregierung 48 bezieht sich erkennbar nur auf den Beginn des Einsatzes; nur dies war Streitgegenstand. Die Entscheidung steht also der Annahme nicht entgegen, daß der Bundestag sehr wohl die Initiative für eine Beendigung des Einsatzes ergreifen kann. Für ein Rückholrecht des Bundestages sprechen auch Vorschriften des Grundgesetzes, aus denen das BVerfG den Parlamentsvorbehalt abgeleitet hat. Nach Art. 87a diskutiert; vgl. das Plenarprot. Nr. 14/198, S. 19287 Β ff. Während die Fraktion der CDU/ CSU die Auffassung vertrat, ein solches Rückholrecht bestehe nur im Falle einer wesentlichen Änderung der der Zustimmung des Bundestages zugrunde liegenden Umstände (clausula rebus sie stantibus), hielt es die Fraktion der SPD für (voraussetzungslos?) gegeben. Darstellung und Bewertung der Debatte Fischer/Fischer-Lescano (Fn. 33), S. 124 ff. In der 12. Wahlperiode des Bundestages stellte die Fraktion der SPD den Antrag, den Einsatz der Bundeswehr in Somalia zu beenden (BT-Drucks. 12/5140). Der Antrag wurde abgelehnt. S. zum Problem ferner Georg Nolte, Bundeswehreinsätze in kollektiven Sicherheitssystemen, ZaöRV 54 (1994), S. 652 ff. (680 ff.); Wild (Fn. 37), S. 629 f.; Juliane Kokott, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 3. Aufl. 2002, Art. 87a Rn. 30b; Stefan Oeter, Einsatzarten der Streitkräfte außer zur Verteidigung, NZWehrr 2000, S. 89 ff. (98); Schultz (Fn. 43), S. 442 f.; Limpert (Fn. 5), S. 58 f. 45 BVerfGE 90, 286 (387). 46 Vgl. BVerfGE 100, 266 (269), wo es heißt, daß der vom 13. Deutschen Bundestag am 16. Oktober 1998 gefaßte Entsendebeschluß zu Luftoperationen der NATO gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (BT-Drucks. 13/11469) die „gegenwärtigen", also die in der 14. Wahlperiode andauernden Luftangriffe deckt. 47 BVerfGE 90, 286 (389). 48 Ebenda.

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Abs. 4 S. 2 GG kann der Bundestag die Einstellung des Einsatzes von Streitkräften zum Schutz ziviler Objekte und zur Bekämpfung von Insurgenten im Inland verlangen. Nach Art. 115 1 Abs. 2 GG kann der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates jederzeit den Verteidigungsfall für beendet erklären. 49 Der der Regierung zustehende „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung" schließt nach alledem nicht die ausschließliche Befugnis ein, über das Ende eines einmal mit Zustimmung des Bundestages begonnenen bewaffneten Einsatzes deutscher Streitkräfte zu entscheiden. Es handelt sich bei diesen Überlegungen nicht um juristische Glasperlenspiele. Zwar wird aufgrund der im parlamentarischen Regierungssystem wirksamen Mechanismen die Regierung in der Regel einen militärischen Einsatz nicht fortsetzen, wenn die sie tragende Mehrheit im Bundestag dies nicht wünscht. Aber gerade in existentiellen Fragen mögen sich auch einmal frontübergreifende Mehrheiten bilden, deren Willen eine Regierung, der es nur um ihr politisches Überleben ginge, vernachlässigen könnte, wenn er nicht rechtsverbindlich wäre. Andererseits macht es einen Unterschied, ob die Regierung in vom Parlament festgelegten Abständen um neue konstitutive Beschlüsse des Bundestages einkommen muß oder dieser darauf verwiesen ist, selbst die Initiative zur Beendigung eines Einsatzes zu ergreifen. Sowohl die Handlungsfähigkeit der Regierung als auch die außenpolitische Verläßlichkeit der Bundesrepublik Deutschland werden dadurch gestärkt. b) Der Bundestag ist bei der Ausübung des Parlamentsvorbehalts nicht von jeder rechtlichen Bindung frei. So ist er „bei seiner Beschlußfassung an die mit seiner Zustimmung zustande gekommenen rechtlichen Festlegungen über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte gebunden".50 Das bedeutet beispielsweise bei einem bewaffneten Angriff auf einen Mitgliedstaat der Westeuropäischen Union in Europa, daß ihm die anderen Mitgliedstaaten im Einklang mit Art. 51 S VN ohne weiteres auch militärische Hilfe zu leisten haben (vgl. Art. V des Brüsseler Vertrages); ein Ermessensspielraum bleibt nicht, die auch in diesem Fall notwendige Zustimmung des Bundestages51 darf nicht verweigert werden. 52 Anders ist die nach Art. 5 des Nordatlantikvertrages bestehende Rechtslage: Hier hat jeder Mitgliedstaat zwar einen gewissen Entscheidungsspielraum hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen, er kann sich aber der Beistandsleistung auch nicht gänzlich entziehen, sondern muß diejenigen Maßnahmen ergreifen, die er nach seinem am Vertragszweck orientierten Ermessen für erforderlich hält. Pazifistische Vorbehalte etwa rechtfertigen also die Versagung der Zustimmung durch den Bundestag nicht. Bindungen 49

Ähnlich mit ergänzendem Hinweis auf Art. 35 Abs. 3 GG (betrifft nur den Bundesrat) und Art. 80a Abs. 4 GG (betrifft nicht den Streitkräfteeinsatz) Fischer/Fischer-Lescano (Fn. 33), S. 129. so BVerfGE 90, 286 (388). 51 BVerfGE 90, 286 (387). 52 Kommt sie nicht zustande, muß der Einsatz der Streitkräfte freilich unterbleiben. Die Bundesrepublik macht sich des Vertragsbruchs schuldig.

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dieser Art sind auch wirksam, wenn der Bundestag sich entschließt, einen Einsatz zu beenden. Denn - so der Grundsatz - : „Die verfassungsrechtlich gebotene Mitwirkung des Bundestages bei konkreten Entscheidungen über den Einsatz bewaffneter Streitkräfte darf die militärische Wehrfähigkeit und die Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigen". 53 Aber dabei bewendet es nicht. Auch jenseits völkervertragsrechtlicher Verpflichtungen kann der Bundestag von seinem Rückrufrecht rechtmäßig nur Gebrauch machen, wenn er dafür triftige Gründe hat. Das kann der Fall sein, wenn der Einsatz aufgrund von Entscheidungen der dafür zuständigen Bundesregierung einen Umfang annimmt, der den im Blick auf andere Staatsaufgaben vertretbaren Kostenrahmen sprengt oder die Bundeswehr bei der Wahrnehmung ihrer sonstigen Aufgaben in nicht hinnehmbarer Weise behindert. Allgemeiner formuliert: Ändern sich die Umstände, in deren Kenntnis und auf deren Grundlage der Bundestag einem Einsatz zugestimmt hat, fundamental (untechnisch: Wegfall der Geschäftsgrundlage), so kann der Bundestag seine Zustimmung zurücknehmen. Rechtsgrund dieser Bindung ist einerseits die Verfassungsorgantreue, die es dem Parlament gebietet, den Kompetenzbereich der Exekutive als des primären Trägers der auswärtigen Gewalt 54 zu respektieren, andererseits das Verbot des venire contra factum proprium, welches es dem Bundestag untersagt, in seinem Organverhältnis zur Bundesregierung diese durch widersprüchliches Verhalten gegenüber auswärtigen Staaten bloßzustellen.55 Verstößt ein Beschluß des Bundestages, den bewaffneten Einsatz deutscher Streitkräfte zu beenden, aus den genannten Gründen gegen Verfassungsrecht, so ist er darum nicht etwa rechtlich unwirksam. Die Bundesregierung kann aber die Verletzung ihrer Kompetenz im verfassungsgerichtlichen Organstreit geltend machen und ggf. im Verfahren der einstweiligen Anordnung die Außervollzugsetzung des Beschlusses erreichen. Geht sie diesen Weg nicht oder ist der Beschluß rechtlich nicht zu beanstanden, muß sie ihm Folge geben: Der Rückzug der Truppe aus dem Einsatzgebiet ist unverzüglich einzuleiten.

53 BVerfGE 90, 286 (388). 54 Das entspricht der Grundlinie der Rechtsprechung des BVerfG, vgl. BVerfGE 68, 1 (86 ff.); 90, 286 (357), mit Nachw. aus der älteren Rechtsprechung. Aus dem Schrifttum vgl. nur Peter Badura, Staatsrecht, 2. Aufl. 1996, D 116; Bernhard Kempen, in: H.v.Mangoldt/ F.Klein/C.Starck, GG. Bonner Grundgesetz, 4. Aufl., 2. Band, 2000, Art. 59 Rn. 31 ff. 55 Auf den Grundsatz der Organtreue greifen zurück Fischer/Fischer-Lescano (Fn. 33), S. 129 Fn. 63; Kokott (Fn. 44), Rn. 30b, die ebenfalls das Verbot des venire contra factum proprium heranzieht. Wild (Fn. 37), S. 630, scheint demgegenüber dafür eintreten zu wollen, daß der Bundestag seine Zustimmung jederzeit aus beliebigem Grund widerrufen kann. S.a. Limpert (Fn. 5), S. 58.

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IV. Entsendegesetz 1. Die Frage, ob es sinnvoll sei, der Empfehlung des BVerfG folgend ein Entsendegesetz zu erlassen, wird, wie gezeigt, unterschiedlich beantwortet. 56 Der gesetzgeberische Spielraum bewegt sich dabei zwischen den von Verfassungs wegen an den Parlamentsvorbehalt zu stellenden Mindestanforderungen einerseits und den ihm im Blick auf den „Eigenbereich exekutiver Handlungsbefugnis und Verantwortlichkeit" gezogenen Grenzen andererseits. 57 Das BVerfG beschränkt sich insoweit auf Andeutungen: Dem Gesetzgeber bleibe unbenommen, die Voraussetzungen zu regeln, unter denen bei „Gefahr im Verzug" ausnahmsweise die Bundesregierung ohne vorherige Zustimmung des Parlaments befugt ist, „vorläufig den Einsatz von Streitkräften zu beschließen und an entsprechenden Beschlüssen in den Bündnissen oder internationalen Organisationen ... mitzuwirken und diese vorläufig zu vollziehen". Ebenso könne das dabei zu beobachtende Verfahren Gegenstand gesetzlicher Regelung sein.58 Das Verfahren und die Intensität der Beteiligung des Bundestages seien von der Verfassung nicht im einzelnen vorgegeben. Der Gesetzgeber könne Form und Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher ausgestalten. Je nach dem Anlaß und den Rahmenbedingungen des Einsatzes seien unterschiedliche Formen der Mitwirkung denkbar. Vor allem bei Einsätzen, die keinen Aufschub dulden oder erkennbar von geringer Bedeutung sind, sei zu empfehlen, Zeitpunkt und Intensität der Kontrolle des Parlaments näher zu umgrenzen. Dabei könne es angezeigt sein, im Rahmen völkerrechtlicher Verpflichtungen die parlamentarische Beteiligung nach der Regelungsdichte abzustufen, in der die Art des möglichen Einsatzes bereits durch ein vertraglich geregeltes Programm militärischer Integration vorgezeichnet sei. 2. Der Normalfall, in dem der Bundestag einem von der Bundesregierung in Vorschlag gebrachten Einsatz vor dessen Durchführung zustimmen muß, bedarf einer gesetzlichen Regelung nicht, soweit es sich um das dabei zu beobachtende parlamentarische Verfahren handelt.59 Das bisherige Verfahren orientiert sich aufgrund parlamentarischer Vereinbarung „mehr oder weniger" am Gesetzgebungsverfahren, 60 was wohl bedeutet, daß der Antrag der Bundesregierung zunächst in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages beraten und sodann aufgrund einer Beschlußempfehlung des federführenden Ausschusses im Plenum debattiert und beschlossen (oder abgelehnt) wird. Das entspricht der vom BVerfG gegebenen Anregung, die Ausnahmen (also die Nichtbefassung der Ausschüsse) gestattet, wie

56 Vgl. etwa noch Baldus (Fn. 5), Art. 87a Rn. 45; Wild (Fn. 37), S. 630 f.; Limpert (Fn. 5), S. 90 ff. 57 BVerfGE 90, 286 (389 f.). 58 BVerfGE 90, 286 (388). 59 Der FDP-Antrag hält eine Anpassung der Geschäftsordnung des Bundestages für geboten: BT-Drucks. 14/9402, S. 3. 60 Ebenda, S. 1.

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der Zusatz „so es die Lage irgend erlaubt" erkennen läßt. 61 Ist „Gefahr im Verzug" und kommt die Regierung mithin erst nach dem Beginn des Einsatzes oder gar erst nach dessen Abschluß 62 um die Zustimmung des Bundestages ein, so bietet sich die gleiche parlamentarische Verfahrensweise an, die nach § 78 Abs. 2 GOBT auch sonst bei Anträgen (§ 75 Abs. 1 Buchst, d GOBT) Anwendung findet. Es stellt sich jedoch die Frage, ob in Fällen der Gefahr im Verzug, in denen nicht zuletzt aus Gründen der Geheimhaltung - eine vorherige Befassung des Bundestages nicht in Betracht kommt, eine gesetzliche Regelung getroffen werden sollte, die die Bundesregierung anhält, „so es die Lage irgend erlaubt", wenigstens den Verteidigungsausschuß vorab zu informieren, wenn nicht gar seine Zustimmung einzuholen. Eine solche Regelung würde die - nachträglich einzuholende Zustimmung des Bundestages nicht ersetzen (und könnte deshalb auch im Wege der einfachen Gesetzgebung vorgenommen werden), käme aber dem Gedanken des Parlamentsvorbehalts entgegen. Sie wäre auch in anderen Fällen sinnvoll, in denen die geplante militärische Aktion etwa durch das Bekanntwerden der zum Einsatz gelangenden Kräfte in ihrer Wirksamkeit durch die vorherige parlamentarische Beratung beeinträchtigt würde. Die Rechtsprechung des BVerfG läßt dafür Raum, sind danach doch „je nach dem Anlaß und den Rahmenbedingungen des Einsatzes ... unterschiedliche Formen der Mitwirkung denkbar". 63 Ist der Überraschungseffekt für das Gelingen des Einsatzes oder zum Schutz der Soldaten wesentlich, dürfte jedenfalls bei vorheriger Befassung des auch sonst vielfach sog. VS-Sachen beratenden Verteidigungsausschusses (vgl. § 69 Abs. 7 GOBT i.V.m. Anlage 3 zur GO) dem Parlamentsvorbehalt Rechnung getragen sein, wenn das Plenum des Bundestages unmittelbar nach dem Beginn des Einsatzes um seine Zustimmung ersucht wird. Einer Delegation der Zustimmungsbefugnis auf den Verteidigungsausschuß oder eines anderen neu zu schaffenden Gremiums, 64 der ohne Verfassungsänderung kaum zu bewerkstelligen wäre, 65 bedürfte es dann nicht. Überflüssig ist auch eine gesetzliche, ja selbst eine geschäftsordnungsmäßige Regelung des vom Bundestag bei Ausübung seines Rückholrechts einzuhaltenden Verfahrens. Die geltende Geschäftsordnung, flexibel genug, um bei besonders gelagerten Fällen eine angemessene Reaktion zu ermöglichen, bietet die geeignete Grundlage für die Behandlung eines Antrags aus der Mitte des Hauses, der auf den Abbruch eines militärischen Einsatzes zielt. 61 BVerfGE 90, 286 (388). 62 Der bislang einzige Fall dieser Art war der Einsatz deutscher Streitkräfte zur Evakuierung deutscher Staatsbürger und unter konsularischer Obhut befindlicher Staatsangehöriger anderer Nationen aus Albanien, der am 14. März 1997 von der Bundesregierung angeordnet und am selben Tag durchgeführt wurde, BT-Drucks. 13/7233. Der Bundestag hieß die Aktion erst nachträglich gut. 63 BVerfGE 90, 286 (389). 64 Vgl. die Erwägungen bei Fischer/Fischer-Lescano (Fn. 33), S. 456; s.a. den Antrag der FDP-Fraktion, BT-Drucks. 14/9402, S. 3. 65 Dazu Nolte (Fn. 44), S. 679 f.

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3. Das BVerfG hält unter bestimmten Voraussetzungen eine abgestufte Mitwirkung des Bundestages für möglich. Dabei ist an Einsätze von geringer Bedeutung gedacht sowie an solche, die ihrer Art nach „durch ein vertraglich geregeltes Programm militärischer Integration vorgezeichnet" sind. Es ist schwierig, Fälle dieser Art mit der gebotenen Bestimmtheit gesetzlich zu beschreiben. Geeignete Vorschläge gibt es bisher dazu, soweit ersichtlich, nicht. Zu denken wäre immerhin an aufgrund völkerrechtlicher Mandatierung zunächst befristete Einsätze, deren Verlängerung schon zum Zeitpunkt der (ersten) Zustimmung des Bundestages absehbar ist. Ein Entsendegesetz könnte vorsehen, daß es dazu einer wiederholten Beschlußfassung des Bundestages nicht bedarf, der Bundestag vielmehr von vornherein die Bundesregierung ermächtigt, sich an der fraglichen Operation auch im Falle einer Erneuerung des Mandats weiterhin zu beteiligen. Zumal im Blick auf das Rückholrecht des Parlaments, das grundsätzlich auch geltend gemacht werden kann, wenn ein „neuer" Einsatz (sei es auch in Fortsetzung eines bereits laufenden) beginnen soll, gibt es verfassungsrechtliche Bedenken insoweit nicht. Für solche „Vorratsbeschlüsse", in denen sich der Bundestag an die Entscheidungen internationaler Organisationen bindet, ist indessen ein wirklicher Bedarf nicht erkennbar, 66 jedenfalls dann nicht, wenn man (wie hier) Vorgaben des Bundestages bezüglich Dauer und Umfang des Einsatzes nicht als rechtsverbindlich ansieht. Daß die Zustimmung des Bundestages zu einem bewaffneten Einsatz der Bundeswehr zur Routine wird und deshalb besser in einem Unterorgan des Parlaments aufgehoben wäre, ist nicht zu gewärtigen. Auch die außenpolitische Verläßlichkeit der Bundesrepublik dürfte nicht gefährdet sein, bedenkt man, daß der Bundestag bei seiner Beschlußfassung rechtlichen Bindungen unterliegt: den völkervertraglich mit seiner Zustimmung eingegangenen Verpflichtungen einerseits, aber auch den mit seiner Zustimmung zu einem konkreten Einsatz im Rahmen und auf der Grundlage derselben eingegangenen Folgepflichten andererseits. Ist ein verfassungsrechtlich zulässiges Engagement deutscher Streitkräfte im Rahmen einer internationalen Organisation, der die Bundesrepublik angehört, einmal beschlossene Sache, kann sich Deutschland aus dieser Beteiligung nicht ohne gewichtige Gründe (und schon gar nicht von einem Tag zum andern) zurückziehen. Das folgt aus dem auch im Völkerrecht anerkannten Verbot des venire contra factum proprium, 67 das vermöge des Prinzips der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes 68 auch verfassungsrechtliche Relevanz erlangt: Es erheischt Beachtung bei der Bestimmung des konkreten Inhalts der Organtreuepflicht des Bundestages gegenüber der Regierung, falls diese an dem Einsatz festhalten möchte.

66 A.M. Dieter Blumenwitz, Der Einsatz deutscher Streitkräfte nach der Entscheidung des BVerfG vom 12. Juli 1994, BayVBl. 1994, S. 641 ff., 678 ff. (682). 67 Vgl. etwa Wolff Heintschel von Heinegg, in: K. Ipsen, Völkerrecht, 4. Aufl. 1999, § 18 Rn. 7. 68 s. nur Helmut Steinberger, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band VII, 1992, § 173 Rn. 63 m. w. N.

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Klärungsbedarf besteht in Ansehung von Maßnahmen, die die Bundesregierung zweckmäßigerweise zu treffen hat, um einen Einsatz wirksam und auch im Interesse der Soldaten optimal vorbereiten zu können.69 Soweit es sich dabei um Maßnahmen am Einsatzort selbst handelt und (!) es sich schon dabei um einen bewaffneten Einsatz handelt, greift der Parlamentsvorbehalt. Man mag erwägen, ob der Gesetzgeber die Bundesregierung zu solchen Maßnahmen generell durch Gesetz ermächtigen könnte und sollte, u.U. vorbehaltlich einer Zustimmung von Auswärtigem und Verteidigungsausschuß. Verfassungsrechtliche Bedenken dagegen bestehen nicht, wenn es sich tatsächlich um (auch personell) eng begrenzte Aktionen handelt, bei denen es sich eindeutig nicht schon um den eigentlich beabsichtigten Einsatz selbst, sondern nur um seine Vorbereitung handelt. Auch im Falle ihrer Integration in einen multinationalen Verband, wie auf europäischer und NATO-Ebene (NATO Response Force) vorgesehen oder schon verwirklicht, 70 gilt der Parlamentsvorbehalt, wenn deutsche Soldaten in einer bewaffneten Operation eingesetzt werden sollen. Die daraus möglicherweise erwachsenden Probleme liegen auf der Hand: Die Einsatzfähigkeit des Verbandes insgesamt kann dann davon abhängen, ob auch deutsche Soldaten mit von der Partie sein dürfen. Je klarer die Art der möglichen Einsätze „bereits durch ein vertraglich geregeltes Programm militärischer Integration vorgezeichnet ist 4 ', 71 desto eher ist es verfassungsrechtlich zulässig, im Rahmen eines Entsendegesetzes die Bundesregierung generell zu ermächtigen, einer Verwendung deutscher Soldaten im Rahmen des Einsatzes eines Verbandes dieser Art ihre Zustimmung zu geben. Dem Parlamentsvorbehalt ist hier durch ein Rückholrecht Genüge getan, wie es vergleichbar bei einem Einsatz von Gefahr im Verzug besteht. Die Rechtsprechung des BVerfG jedenfalls steht einer solchen Lösung, wie sie durch internationale Rücksichtnahme geboten erscheint, nicht im Wege. 4. Gesetzliche Definitionen des zustimmungspflichtigen „Einsatzes" deutscher Streitkräfte und der „Gefahr im Verzug", wie sie mitunter gefordert werden, 72 erscheinen nicht dringlich. Das BVerfG hat keinen Zweifel daran gelassen, daß jeder Einsatz bewaffneter Streitkräfte der Zustimmung des Parlaments bedarf, 73 ein-

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Der Abg. van Essen (FDP) berichtet in seinem Beitrag zur Debatte über den Antrag seiner Fraktion (BT-Drucks. 14/9402), man habe die Erfahrung gemacht, daß die Bundeswehr Transportraum nicht anmieten oder Vorkommandos nicht schicken konnte, was ihr bei der Besorgung von Unterkünften oder sonstigem Raumbedarf im Vergleich zu anderen Nationen nachteilig gewesen sei (Plenarprot. Nr. 14/246, S. 24936 B). 70 Zur Frage, inwieweit die bestehenden internationalen Vertragssysteme dafür eine ausreichende Grundlage bieten, s. BVerfGE 90, 286 (357 ff.); 104, 151 (199 ff.). 7 1 BVerfGE 90, 286 (389). Als Beispiel kann auf den dem Beschluß des BVerfG vom 25. März 2003 - 2 BvQ 18/03 - zugrunde liegenden Sachverhalt verwiesen werden: Einsatz von Soldaten der Bundeswehr in AWACS-Flugzeugen der NATO in der Türkei im Umfeld und während des Irak-Krieges. 72 Vgl. ζ. B. Blumenwitz. (Fn. 66), S. 682; M. Brenner/D. Hahn, Bundeswehr und Auslandseinsätze, JuS 2001, S. 729 ff. (735); Baldus (Fn. 5), Rn. 45. 18 FS Schmitt Glaeser

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schließlich aller Einsatzformen von Friedenstruppen im Auftrag der Vereinten Nationen. Nicht zustimmungspflichtig sind danach nur Hilfsdienste und Hilfeleistungen deutscher Soldaten im Ausland, sofern sie dabei nicht in bewaffnete Unternehmungen einbezogen sind. 74 Bezöge man darin auch Einsätze ein, bei denen - etwa Sanitätskräften oder Pionieren - der Gebrauch der Waffe in Ausübung des Notwehrrechts erlaubt ist (und anderes ist schwer vorstellbar), bliebe kein Raum für zustimmungsfreie Einsätze, den das BVerfG aber gerade offen halten wollte. Der Begriff der „Gefahr im Verzug" ist im vorliegenden Zusammenhang in Anknüpfung an den polizeirechtlichen Gefahrenbegriff dahin zu verstehen, daß es sich um eine gegenwärtige und erhebliche Gefahr handeln muß: Die Einwirkung des schädigenden Ereignisses hat bereits begonnen oder steht unmittelbar bevor. Die Gefahr muß weiter für ein bedeutsames Rechtsgut bestehen. Dabei kommen allerdings im Unterschied zum Polizeirecht 75 nicht alle strafrechtlich geschützten Rechtsgüter in Betracht, sondern nur besonders hochrangige Rechtsgüter wie Leib und Leben, aber etwa auch unersetzliche kulturelle Werte, wenn Deutschland ihnen gegenüber eine Schutzpflicht hat. Der Unterschied erklärt sich ohne weiteres daraus, daß es nicht um die Aufrechterhaltung der innerstaatlichen Ordnung geht, sondern um einen internationalen Konflikt, bei dem hehre völkerrechtliche Grundsätze wie die Friedenspflicht und die Achtung vor der Souveränität fremder Staaten auf dem Spiele stehen. Daß die genannten Voraussetzungen bei dem Einsatz in Albanien gegeben waren, 76 kann nicht bestritten werden. 77 Eine gesetzliche Regelung könnte zwar in dieser Richtung einige Klarstellungen bewirken, müßte angesichts der Unvorhersehbarkeit künftiger Ereignisse aber auch ein nicht geringes Maß an Unbestimmtheit aufweisen, um die der konkreten Lage angepaßte Reaktion zu ermöglichen. 5. Die vorläufige Durchführung eines Einsatzes bei Gefahr im Verzug wirft weitere Fragen auf. a) Die Bundesregierung muß das Parlament „umgehend" mit dem von ihr beschlossenen Einsatz befassen. 78 Der Tirana-Einsatz wurde am Freitag, dem 14. März 1997, durchgefühlt und abgeschlossen, der Bundestag am Dienstag,

73 BVerfGE 90, 286 (387 f.). Der dem Beschluß vom 25. März 2003 (Fn. 71) zugrunde liegende Fall ließ allerdings Klärungsbedarf erkennen, „wann ein ,Einsatz bewaffneter Streitkräfte' anzunehmen ist, insbesondere wann deutsche Soldaten ,in bewaffnete Unternehmungen einbezogen' sind (B. II. 3. a) der Gründe). 74 s. die Beispiele bei Brenner/Hahn (Fn. 72); S. 730. - Zu Grenzfällen zutr. Nolte (Fn. 44), S. 679; s.a. Schultz (Fn. 43), S. 97; Oeter (Fn. 44), S. 97. 7 5 Vgl. etwa § 2 Nr. lc NdsSOG. 7 6 Vgl. BT-Drucks. 13/7233. 77 Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob der Tirana-Einsatz der Bundeswehr in materieller Hinsicht verfassungs- und völkerrechtlich zulässig war; dazu Epping (Fn. 3), S. 423 ff. 78 BVerfGE 90, 286 (388).

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dem 18. März 1997, von der Bundesregierung befaßt. 79 Obgleich ein Wochenende dazwischen lag, dürfte diese Befassung nicht „umgehend" erfolgt sein. 80 Das gälte vor allem dann, wenn der Einsatz nicht schon am Tage seines Beginns hätte zum Abschluß gebracht werden können. „Umgehend" heißt sofort, verlangt jedenfalls Befassung des Bundestages spätestens zu einem Zeitpunkt, zu dem ein etwa notwendiger Überraschungseffekt der Aktion nicht mehr gefährdet werden kann. Das ist freilich so offenkundig, daß es gesetzlicher Regelung schwerlich noch bedarf. b) Daß, wie im Falle des Tirana-Einsatzes, der Einsatz zum Zeitpunkt der Abstimmung im Parlament schon abgeschlossen war, macht diese nicht überflüssig. 81 Der Bundestag könnte nicht etwa durch ein Gesetz darauf verzichten. Zwar kann es bei solcher Sachlage zu einem Rückruf nicht mehr kommen, aber eine Versagung der parlamentarischen Zustimmung kann der Bundesregierung, von anderen möglichen politischen Konsequenzen abgesehen, wichtige Fingerzeige für künftige Fälle geben. 6. Ob die Informationsrechte des Parlaments einerseits im Vorfeld eines zustimmungspflichtigen militärischen Einsatzes, andererseits während seiner Durchführung in einem Entsendegesetz näher zu regeln wären, 82 ist zu prüfen. Der Bundestag und seine Ausschüsse, hier also der Auswärtige und der Verteidigungsausschuß, können, gestützt auf Art. 43 Abs. 1 GG, von der Regierung jederzeit verlangen, daß sie ihnen Rede und Antwort steht, etwa über vorsorgliche Planungen von der Bereitstellung von Transportraum bis zur Quartiersuche am Einsatzort, von der Entsendung sog. fact finding teams bis zur Verlegung von Streitkräften in Bereitstellungsräume. Die allgemeine, die Wirksamkeit parlamentarischer Kontrolle allererst ermöglichende Auskunftspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament ist allerdings nicht näher definiert - sie im Einzelfall zu konkretisieren, bleibt dem politischen Kräftespiel überlassen. Aus diesem Grunde ist das Informationsrecht des Petitionsausschusses auf der Grundlage der in Art. 43c Abs. 2 GG enthaltenen Ermächtigung gesetzlich spezifiziert (vgl. § 1 des Gesetzes über die Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages), und darum haben auch die 79 Zur Chronologie Epping (Fn. 3), S. 451. - Zum Ganzen Claus Kreß, Die Rettungsoperation der Bundeswehr in Albanien am 14. März 1997 aus Völker- und verfassungsrechtlicher Sicht, ZaöVR 57 (1997), S. 329 ff. 80 Allerdings wurden die Fraktionsvorsitzenden sowie die Vorsitzenden des Auswärtigen und des Verteidigungsausschusses sowie die Obleute der Fraktionen in diesen Ausschüssen vorab informiert: Epping (Fn. 3), S. 450. Dabei handelte es sich aber nicht um die vom BVerfG verlangte förmliche „Befassung". 81 Das ist nicht ganz unstreitig, entspricht aber der beim Tirana-Einsatz beobachteten Parlamentspraxis; vgl. Kreß (Fn. 79), S. 356. S2 So etwa Blumenwitz (Fn. 66), S. 682. Der FDP-Antrag (BT-Drucks. 14/9402, S. 2) benennt eine Fülle von Gegenständen, hinsichtlich derer durch ein Entsendegesetz geklärt werden soll, „in welcher Form der Deutsche Bundestag sowohl bei militärischen Planungen und Vorbereitungen auf den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland als auch bei dem Einsatz selbst zu befassen ist".

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Beweiserhebungsbefugnisse der Untersuchungsausschüsse gegenüber der Bundesregierung, wiederum gestützt auf eine verfassungsgesetzliche Ermächtigungsnorm (Art. 44 Abs. 1 S. 1 GG) in § 8 UAG eine gesetzliche Regelung erfahren. Eine verfassungsgesetzliche Grundlage dürfte auch erforderlich sein, wenn der Bundesregierung - mit Rücksicht auf Geheimhaltungsbedürfnisse wohl nur gegenüber dem Verteidigungsausschuß und nicht etwa gegenüber dem Plenum - über ihre allgemeine Informationspflicht hinausgehende Auskunftspflichten durch Gesetz auferlegt werden sollen. 7. Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß ein Entsendegesetz nur auf der Grundlage einer Verfassungsänderung eine andere Mehrheit für einen Entsendebeschluß vorzusehen vermöchte als die „einfache" Mehrheit des Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG, also die Mehrheit der abgegebenen Stimmen.83 Ein Entsendegesetz könnte auch nicht generell bewaffnete Einsätze der Bundeswehr (soweit nicht völkerrechtliche Verpflichtungen entgegenstehen) untersagen.84 Daß das Parlament im Einzelfall über einen solchen Einsatz zu entscheiden hat, besagt nicht, daß es sich dieser Entscheidung durch ein vorweg genommenes abstraktes Nein zu entziehen imstande wäre. Dadurch würde in unzulässiger Weise in die außen- und wehrpolitische Kompetenz der Regierung eingegriffen, der es kraft dieser Zuständigkeit zukommt, das Parlament mit dem Vorschlag eines Einsatzes zu konfrontieren. Ein Schluß a minore ad maius wäre verfehlt, weil die Entscheidung im konkreten Fall von einer ganz anderen Qualität ist als die von ihm abgehobene generelle Ablehnung. 8. Zusammenfassend läßt sich also ein recht begrenzter Regelungsbedarf erkennen, der die nachfolgend genannten Punkte umfaßt: - Vorabinformation oder vorherige Einholung der Zustimmung des Verteidigungsausschusses bei Einsätzen in Fällen von Gefahr im Verzug oder in anderen im Vorfeld strikt geheim zu haltenden Einsätzen - unbeschadet einer späteren Beschlußfassung des Plenums; - Ermächtigung der Regierung zu einen Einsatz vorbereitenden Maßnahmen, die selbst schon einen zustimmungspflichtigen, aber seinem Umfang nach geringfügigen Einsatz darstellen, um des Gelingens des eigentlichen Einsatzes willen notwendig sind und keinen Aufschub dulden; - die nähere, aber unvermeidlicherweise eher unscharf zu konturierende Bestimmung der Situationen, in denen die Regierung vom Vorliegen einer Gefahr im Verzug ausgehen kann; - die Vorabermächtigung der Regierung, dem Einsatz deutscher Soldaten im Rahmen einer multinationalen, auf der Grundlage internationaler Organisationen, denen die Bundesrepublik Deutschland angehört, errichteten Eingreiftruppe zuzustimmen, unter Vorbehalt eines Rückholrechts des Parlaments; «3 Vgl. BVerfGE 90, 286 (388); wie hier Blumenwitz (Fn. 66), S. 681 f. 84 So aber Wild (Fn. 37), S. 630.

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- die Konkretisierung der Informationsrechte des Deutschen Bundestages im Vorfeld sowohl als auch im Verlauf eines seiner Zustimmung bedürftigen Einsatzes, die allerdings eine verfassungsgesetzliche Abstützung erfordert. Entschließt sich der Gesetzgeber, ein Entsendegesetz zu erlassen, sollte er sich mit den wirklich notwendigen Regelungen bescheiden. Auch vermeintliche Klarstellungen sind oft weniger zur Klärung geeignet als Anlaß zu neuen Meinungsverschiedenheiten. So sollte der Gesetzgeber insbesondere darauf verzichten, einen Katalog zulässiger Auslandseinsätze der Bundeswehr zu erstellen. Ein Gesetz vermöchte verfassungsrechtliche Streitfragen über dieses Thema, die es jenseits der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG noch geben mag, nicht zu entscheiden.

Und er bewegt sie doch! Der Wille des Verfassungsgesetzgebers in der verfassungsgerichtlichen Auslegung des Grundgesetzes Von Matthias Jestaedt I. Die (Ohn-)Macht des Herrn und die (Interpretations-)Macht des Hüters der Verfassung Besitzt der Verfassungsgesetzgeber die Macht, das Verfassungsgericht in die Schranken zu verweisen? Oder präziser: Kann der Verfassungsgesetzgeber die Verfassung dergestalt ändern, daß er eine Verfassungsbestimmung, deren durch das Verfassungsgericht festgestellter Inhalt ihm änderungsbedürftig erscheint, durch eine andere, ihm inhaltlich genehme Verfassungsbestimmung ersetzt? Man könnte meinen, es handele sich um eine bloß rhetorische, allenfalls theoretisch-spekulative Frage. Denn wozu sonst bräuchte es die spezifische, verfassungschaffende Funktion des Verfassungsgesetzgebers und das spezifische, sich von sonstigen Rechtserzeugungsverfahren unterscheidende Verfahren der Verfassungsänderung? 1. Das Verfahren

um das Altenpflegegesetz als Exempel

Aber ganz so rhetorisch und akademisch nimmt die Frage sich doch nicht aus, wie der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den - erstaunten - Leser in seinem Beschluß vom 22. Mai 20011 wissen läßt: Im März 2001 reicht die Bayerische Staatsregierung einen Normenkontrollantrag ein, um feststellen zu lassen, daß das am 17. November 2000 beschlossene Altenpflegegesetz 2 unter anderem wegen Verstoßes gegen die Erforderlichkeitsklausel gemäß Art. 72 Abs. 2 GG n.F. verfassungswidrig und infolgedessen nichtig sei. Gleichzeitig beantragt die Antragstellerin, den Vollzug des angegriffenen Gesetzes im Wege der einstweiligen Anordnung bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren auszusetzen. Um darzutun, daß der Normenkontrollantrag weder offensichtlich begründet noch offensichtlich ι BVerfG, Beschluß des Zweiten Senats vom 22. Mai 2001-2 BvQ 48 / 00 - (BVerfGE 104, 23 ff.). Der Beschluß wird im Folgenden zitiert nach der - fundstellengenauesten - Absatz-Numerierung nach http://www.bundesverfassungsgericht.de / cgi-bin / link.pl ?entscheidungen. 2 Gesetz über die Berufe in der Altenpflege (Altenpflegegesetz - AltPflG) sowie zur Änderung des Krankenpflegegesetzes vom 17. November 2000, BGBl. IS. 1513 ff.

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unbegründet und daher im Rahmen des Anordnungsverfahrens eine Abwägung der Vollzugs- mit den Aussetzungsinteressen vonnöten sei, weist der Senat im fraglichen Beschluß darauf hin, daß die Frage, „ob, in welcher Richtung und in welchem Umfang die in Art. 72 Abs. 2 GG normierten Voraussetzungen für das Gesetzgebungsrecht des Bundes justitiabel sind", „noch nicht entschieden" sei3 - und setzt erläuternd hinzu: Im Hauptsacheverfahren „wäre zu erörtern, ob und inwieweit trotz der Änderung des Art. 72 Abs. 2 GG, die nach dem Willen des Gesetzgebers die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der konkurrierenden Gesetzgebung verschärfen und die Justitiabilität des Art. 72 Abs. 2 GG verbessern sollte, an die bisherige Rechtsprechung zur verfassungsrechtlichen Überprüfbarkeit der Bedürfnisklausel des Art. 72 Abs. 2 GG a. F. angeknüpft werden kann."4 Mit der Ankündigung, im Hauptsacheverfahren werde der erkennende Senat darüber entscheiden, ob und gegebenenfalls inwieweit er der Anordnung des Verfassungsgesetzgebers, das - nach ständiger Judikatur des Bundesverfassungsgerichts - injustitiable Bedürfnistestat gemäß Art. 72 Abs. 2 GG a.F. durch ein justitiables Erforderlichkeitstestat zu ersetzen, Folge leisten werde, stellt das Bundesverfassungsgericht - ob bewußt oder unbewußt, sei dahingestellt - offen die Autorität des Verfassungsgesetzgebers in Frage. 5, 6 Ein Aufschrei der betroffenen politischen Instanzen, aber auch der journalistischen wie der rechtswissenschaftlichen Kommentatoren der Verfassungsjudikatur blieb, soweit ersichtlich, aus.7 Ohne erkennbaren Anstoß von außen, aber auch ohne sich ausdrücklich von seinen Ausführungen im Beschluß vom 22. Mai 2001 abzusetzen, vollzieht der 3 BVerfG, Beschluß vom 22. Mai 2001 (o.N. 1), Absatz-Nr. 25. 4 BVerfG, Beschluß vom 22. Mai 2001 (o.N. 1), Absatz-Nr. 26 (die im Original geführten Nachweise in Klammerzusätzen sind hier der besseren Lesbarkeit wegen weggelassen worden). 5 Dies ist um so überraschender, als es dieser Aussage gar nicht bedurft hätte, um darzutun, daß der konkrete Normenkontrollantrag weder offensichtlich begründet noch offensichtlich unbegründet sei. Der Hinweis darauf, daß „die Frage, ob, in welcher Richtung und in welchem Umfang die in Art. 72 Abs. 2 GG [s.c.: n.F.J normierten Voraussetzungen für das Gesetzgebungsrecht des Bundes justitiabel sind", „noch nicht entschieden" sei (BVerfG, Beschluß vom 22. Mai 2001 [o.N. 1], Absatz-Nr. 25), hätte vollauf genügt. 6 Dieser Eindruck verschärft sich noch, nimmt man auch den Folgesatz hinzu: „Soweit Schranken einer Überprüfung der gesetzgeberischen Entscheidung nicht mehr zu rechtfertigen wären, müßte ein Kontrollmaßstab entwickelt werden, der das Spannungsverhältnis zwischen gerichtlicher Konkretisierung der in Art. 72 Abs. 2 GG verwendeten Rechtsbegriffe einerseits und freier, einer gerichtlichen Überprüfung nicht zugänglichen Politikgestaltung andererseits in einen angemessenen Ausgleich bringt" (BVerfG, Beschluß vom 22. Mai 2001 [o.N. 1J, Absatz-Nr. 26 am Ende - Hervorhebungen nicht im Original). Denn damit erweckt der Senat den Eindruck, daß selbst in dem Falle, daß der Entscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers Raum gegeben werde, es nicht (schon) dieser, sondern (erst) das Bundesverfassungsgericht selbst sei, welches den Kontrollmaßstab zu entwickeln, welches die in Art. 72 Abs. 2 GG verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe - offenbar konstitutiv und autoritativ zu konkretisieren und welches schließlich verfassungsgerichtliche Kontroll dichte und gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum in ein angemessenes Verhältnis zu setzen habe. 7 Dies dürfte zum weit überwiegenden Teil wohl darauf zurückzuführen sein, daß die genannte Begründungspassage der Aufmerksamkeit der Beobachter entgangen ist.

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Zweite Senat im Hauptsacheverfahren, soweit es die Behandlung der Änderung von Art. 72 Abs. 2 GG betrifft, wenn nicht eine Kehrtwendung, so doch eine spürbare Richtungsänderung: Ohne in eine - in der einstweiligen Anordnung angekündigte, den Namen verdienende - „Erörterung" des „Ob" und des „Inwieweit" einzutreten, konstatiert das Gericht in seinem Urteil vom 24. Oktober 2002 lapidar, daß die Entstehungsgeschichte des Art. 72 Abs. 2 GG a.F. und die zu dieser früheren Gesetzesfassung ergangene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „keine Auslegungshilfe für Art. 72 Abs. 2 GG n.F." böten.8 Die Begründung dafür ist so naheliegend und zwingend, daß der Senat sie in einem Satz konzentrieren kann: „In der Grundgesetzänderung [sc. von Art. 72 Abs. 2 a.F. zu Art. 72 Abs. 2 n.F.] kann eine klare Anweisung des verfassungsändernden Gesetzgebers an das Bundesverfassungsgericht gesehen werden, seine bisherige, als korrekturbedürftig bewertete Rechtsprechung zu ändern."9 Jene Stimmen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum, welche die vom Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 22. Mai 2001 aufgeworfene Frage in dem Sinne beantwortet haben, daß weiterhin an die Rechtsprechung zur reduzierten Kontrolldichte angeknüpft werden könne, sehen sich nunmehr vom Bundesverfassungsgericht düpiert, um nicht zu sagen abgekanzelt: „Die in Teilen der Literatur vertretene Auffassung, daß der Bundesgesetzgeber nach wie vor einen solchen [sc.: nahezu kontrollfreien Beurteilungs-] Spielraum habe [ . . . ] , steht in klarem Widerspruch zum gesetzgeberischen Willen." 10 Integrität und Autorität des Verfassungsgesetzgebers scheinen damit wiederhergestellt. Fürs erste.

8 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002-2 BvF 1 / Ol - , Absatz-Nr. 290. - So begrüßenswert diese Richtungsänderung auch ist, so fällt die Aussage doch überschießend aus: Gerade weil Art. 72 Abs. 2 GG a.F. und insbesondere die dazu ergangene ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa BVerfGE 2, 213 [224 f.]; 4, 115 [127 f.J; 10, 234 [245 f.]; 13, 230 [233 f.]; 33, 224 [229]; 34, 9 [39]; 65, 1 [63]; 67, 299 [327]; 78, 249 [270]) den Anlaß für den Verfassungsgesetzgeber bildeten, das bisherige Kompetenzausübungskorrektiv des - praktisch nicht justitiablen - Bedürfnisses durch jenes der - volljustitiablen Erforderlichkeit zu ersetzen, kann die nunmehr überholte Judikatur ex negativo als gleichsam kontrastierende Auslegungshilfe der neuen, die alte Rechtslage korrigierenden Verfassungsbestimmung herangezogen werden. 9 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 292. «o BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 311; genannt werden: Christoph Neumeyer, Geschichte eines Irrläufers - Anmerkungen zur Reform des Art. 72 Abs. 2 GG, in: Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 543 (563); ders., Der Weg zur neuen Erforderlichkeitsklausel für die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 Abs. 2 GG), 1999, S. 155 ff.; Hubertus Rybak/Hans Hofmann, Verteilung der Gesetzgebungsrechte zwischen Bund und Ländern nach der Reform des Grundgesetzes, NVwZ 1995, S. 230 (231); Christoph Degenhart, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 72 Rn. 11 (in 3. Autl. 2003 hält Degenhart an seiner Auffassung [ebenda] unvermindert fest, weist jedoch in einem eingeschobenen Absatz [Art. 72 Rn. 10a] auf den Beschluß vom 22. Mai 2001 hin; das Urteil vom 24. Oktober 2002 war zur Zeit der Drucklegung der 3. Aufl. offensichtlich noch nicht ergangen). - Auffällig ist nicht nur die Unnachsichtigkeit, mit der der Senat die von ihm selbst zuvor zumindest als denkbar erwogene Auffassung verwirft, ohne den eigenen Erkenntnisfortschritt zu thematisieren; auffällig ist zudem, daß zwar das betreffende rechts-

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Matthias Jestaedt 2. Die rechtspraktische Abhängigkeit des Herrn vom Hüter der Verfassung

A m verfassungsgerichtlichen Verfahren um das Altenpflegegesetz läßt sich in paradigmatischer Weise ablesen, wie sich das normhierarchische Verhältnis der Abhängigkeit des Hüters vom Herrn der Verfassung rechtspraktisch zugunsten des Hüters und zulasten des Herrn umkehrt. Keine (Verfassungs-)Norm legt sich selbst aus oder wendet sich selbst an, kein (Verfassungs-)Normsetzer ist - soweit er nicht seiner Regelung eine Regelungsbegründung beigibt 1 1 - imstande, Auslegung und Anwendung seiner Norm verbindlich vorzugeben. 12 Ob und inwieweit das, was der Verfassung(sgesetz)geber in seinen aktualisierten Regelungswillen aufgenommen hat, rechtspraktisch - d. h. in den dem Vorrang der Verfassung unterstehenden Rechtsverhältnissen - als Verfassungsinhalt erkannt, respektiert und umgesetzt wird, hängt davon ab, ob und inwieweit der Verfassungsanwendende Interpret und das heißt letztlich: ob und inwieweit der autoritative Letztinterpret, das Bundesverfassungsgericht - den Regelungswillen des Verfassung(sgesetz)gebers mittels Auslegung i m Prozeß der Verfassungsanwendung steuernd wirksam werden läßt. Pointiert: Ob und wie die verfassung(sgesetz)geberische Intention sich rechtspraktisch realisiert, entscheidet sich an Art und Weise verfassungsgerichtlicher Interpretation. 13 wissenschaftliche Schrifttum, nicht aber die Bundesregierung, die sich in ihrer Einlassung ebenfalls für die Ansicht stark gemacht hatte, die Neufassung biete mangels hinreichender Maßstäbe keine Grundlage für eine umfassende gerichtliche Nachprüfung (wiedergegeben in: BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 [o.N. 8], Absatz-Nr. 137, s. auch Absatz-Nr. 143), sich verfassungsgerichtlicher Kritik ausgesetzt sieht. 11

Wie etwa typischerweise die richterliche Entscheidung oder auch die Verwaltungsentscheidung in Gestalt eines Verwaltungsaktes, bei denen die Begründungen integraler Bestandteil des Normsetzungsaktes sind. 12 Zum - für das Grundgesetz irrelevanten - Sonderproblem positivierter Auslegungsregeln: Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 347 ff. (Lit.). 13 Dazu näher Matthias Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus. Die Ohnmacht des Verfassungsgesetzgebers im verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat, in: Hommage an Josef Isensee, 2002, S. 183 (221 ff.); hierin ist eine - bewußt oder unbewußt eingesetzte - Strategie zur Invisibilisierung des Verfassung(sgesetz)gebers zu erblicken (dazu näher Jestaedt, ebenda, S. 186, 188 ff. [Nachw.]). - Bereits im Jahre 1915 macht Adolf Julius Merkl auf die dem hier angesprochenen Phänomen strukturell ähnliche - Abhängigkeit des „Herrn" vom „Diener des Gesetzes" aufmerksam; freilich erklärt sich diese Abhängigkeit - anders als die im Text in Bezug genommene - nicht aus den Eigentümlichkeiten der Rechtserkenntnis, sondern aus der Eigenart der mit jedem Rechtsanwendungs-, also Rechtsetzungsakt fortschreitenden Rechtskonkretisierung. Merkl gibt zu Bedenken, daß im Kern „die Rechtsnorm immer die Richtung nimmt, die ihr der Rechtsanwender gibt; daß also letzten Endes nicht der Gesetzgeber, sondern der Rechtsanwender Recht behält [ . . . ] . Das braucht das Gesetz nicht ausdrücklich auszusprechen, das ist in seinem Wesen gelegen; diese eigentümliche höchste Rechtskraft, die zum Begriffe des Rechts gehört und also irgendwo im Rechtssysteme ihren Platz haben muß, kommt dem Rechtsanwender als dem Diener des Gesetzes zu, weil sie seinem Herrn, dem Gesetze, notwendig mangelt. In der Natur des Gesetzes, als einer abstrakten, generellen Norm, die, soll sie nicht praktisch ein Nichts sein, der Ergänzung durch die kon-

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Daraus erhellt, daß das Verhältnis von Verfassung(sgesetz)geber und Verfassungsgericht sich nicht nur - und i m rechtspraktischen Normalfall 1 4 sich sogar noch nicht einmal primär - nach Maßgabe des Verfassungsgesetzgeber und Verfassungsgericht zueinander in Beziehung setzenden positivverfassungsrechtlichen Kompetenzregimes (für das Grundgesetz insonderheit Art. 79 und Art. 93, 100) bestimmt. In ganz wesentlichem Umfange entscheidet sich die Frage von Macht oder Ohnmacht des - positi ν verfassungsrechtlich unumschränkten 15 - Herrn der Verfassung an der positivverfassungsrechtlich eben nicht vorentschiedenen Antwort auf die Frage, welcher Theorie und Praxis der Verfassungsauslegung der Hüter der Verfassung folgt. Machtfragen als Interpretationsfragen - und Interpretationsfragen als Machtfragen. 1 6 Oder kürzer: „Souverän ist, wer über die Verfassungsinterpretation gebietet." 1 7 Das normative, in Kategorien der Verfassungsdogmatik beschreib- und beherrschbare Verhältnis des Verfassungsgerichts zum Verfassung(sgesetz)geber wandelt sich unterderhand zu einem (verfassungs)methodologischen Phänomen der Interpretationstheorie (und -praxis). Terminologisch bringt sich dieser Wechsel der Perspektive oder auch der Modalität in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts darin - in durchaus richtungweisender Vorabfestlegung 18 - zum Ausdruck, kretisierende und individualisierende Tat des Rechtsanwenders bedarf und auch neben dieser Funktion der Rechtsanwendung eine Halbheit und nur mit ihr zusammen ein Ganzes ist - in dieser arbeitsteiligen Natur des Gesetzes ist seine Schwäche, ja geradezu seine Ohnmacht gegenüber dem Rechtsanwender [ . . . ] begründet. Das Geschöpf wächst über den Schöpfer, ohne daß er es hindern kann" (Die Verordnungsgewalt im Kriege [1915], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I I / 1, 1999, S. 3 [12]). 14 Der rechtspraktische und derzeit rein theoretische Grenzfall wäre etwa die verfassungsgesetzliche Abschaffung des Verfassungsgerichts. Deren positivverfassungsrechtliche Zulässigkeit unterstellt, hätte hier das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung ausgedient. 15 Sieht man einmal von den Form- und Verfahrenserfordernissen des Art. 79 Abs. 1 und 2 GG sowie namentlich vom Sonderfall der sog. Ewigkeitsgarantie gemäß Art. 79 Abs. 3 GG ab. 16 Zur Methoden wähl als Machtfaktor eingehend Dieter Grimm, Methode als Machtfaktor (1982), in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 347 ff. 17 Zitat: Günter Püttner, Der schwierige Weg zur Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift zum 125jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 573. Dazu näher Otto Depenheuer, Auf dem Weg in die Unfehlbarkeit, in: Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 485 ff. - In streng normativem Sinne zwar unzutreffend, aber doch unter machtsoziologischen Auspizien erhellend und plakativ spricht Peter Lerche insoweit von einem „Stück verfassungsgewollter Kompetenz-Kompetenz" der Verfassungsjudikatur (Stil und Methode der verfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Erster Bd., 2001, S. 333 [336]; zu dieser façon de parier wegen ihrer juridisch-normativen Konnotation kritisch: Jestaedt, Grundrechtsentfaltung [o.N. 12], S. 184 f. sowie 264 f. m. weit. Nachw.). 18

Zum reduktionistischen Charakter der methodologischen Gleichsetzung von „Wille des Verfassung(sgesetz)gebers" und „Entstehungsgeschichte" unten III.4. - Auch für die Rechtswissenschaft (und die „Rechtswirklichkeit") gilt: Je weniger eine Erscheinung bei ihrem Namen genannt und unter diesem behandelt wird, desto weniger wird sie - in des Wortes doppelter Bedeutung - begriffen. Oder anders: Die terminologische Invisibilisierung ist Ur-

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daß der Wille des Verfassung(sgesetz)gebers ausschließlich sub signo der als „Entstehungsgeschichte" apostrophierten historischen 19 oder auch genetischen Auslegungsmethode in den Auslegungsvorgang eingespeist wird. Der Wille des Verfassung(sgesetz)gebers kann als Ziel, als Gegenstand oder als Mittel der vom Verfassungsgericht vorzunehmenden Auslegung fungieren und mutiert damit zu einem dem Interpreten verfügbaren Faktor der Verfassungsanwendung. Mehr noch: Je weniger vom „Verfassunggeber" 20 respektive vom „verfassungsändernden Gesetzgeber" 2 1 und dessen Willen die Rede ist und je mehr, umgekehrt, der Einfluß des Schöpfers der Verfassung auf die „Entstehungsgeschichte", 22 die „historischen Grundlagen", 2 3 die „Gesetzgebungsgeschichte", 24 den „Verlauf der Gesetzgebung", 2 5 die „parlamentarischen Beratungen", 2 6 die „Beratungen zum Grundgesetz" 2 7 oder schlicht die „Materialien" 2 8 reduziert wird, desto stärker „verschwindet" er - zunächst terminologisch - hinter der genetischen Interpretation, desto stärker und umfassender wird schließlich seine Autorität - als das Verfassungsgericht einsetzender, mit Kompetenzen ausstattender und begrenzender Machtfaktor - ausgeblendet, j a invisibilisiert.

sache wie Ausdruck zunächst der dogmatischen Bagatellisierung, sodann der dogmatischen Eskamotierung. 19 Zutreffende Kritik an der Vermengung von - der Regelungstradition zugewandter historischer Auslegung (i.e.S.) und - der Regelungsintention des historischen Normsetzers zugewandter - genetischer Auslegung in der übergreifenden Kategorie der historischen Auslegung (i.w.S.) bei Friedrich Müller/Ralph Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 8. Aufl. 2002, Rn. 26 m. Nachw. Zwei Beispiele für eine derartige Vermengung aus der jüngeren Judikatur: BVerfGE 99, 1 (13), wo die Ausführungen zur deutschen Verfassungstradition (ebenda, S. 13 f.) und jene zu den Beratungen zum Grundgesetz und zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz (ebenda, S. 14 f.) kurzerhand unter dem gemeinsamen Label „rechtsgeschichtlich" behandelt werden; BVerfGE 102, 176 (185 f.); vgl. auch BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 311. 20 Pars pro toto BVerfGE 92, 91 (111). 21 Vgl. nur BVerfGE 96, 288 (302). - Jüngstens ist auch von den „Mütter und Vätern des Grundgesetzes" die Rede, BVerfGE 103, 142 (158). 22 Dabei dürfte es sich wohl um den am häufigsten verwendeten Terminus zur Bezeichnung des Gegenstandes der genetischen oder eben entstehungsgeschichtlichen Auslegung handeln; vgl. statt aller jüngst den Beschluß des Plenums des BVerfG vom 30. April 2003 - 1 PBvU 1 / 02 - , Absatz-Nr. 26 und 34. 23 Beispiel: BVerfGE 99, 1 (12). 24 Z. B. BVerfGE 86, 288 (314); 102, 99 (115); vgl. des weiteren BVerfGE 105, 137 (158): „Geschichte der Gesetzgebung". Entsprechend Sondervotum der Richter Papier, Graßhof, Haas, BVerfGE 98, 265, 329 (335). 25 Etwa BVerfGE 98, 265 (327, dort wird freilich auch der Zusammenhang mit dem „Willen des Bundesgesetzgebers" respektive der „Absicht des Gesetzgebers" hergestellt). 26 Beispielsweise BVerfGE 98, 265 (327); vgl. auch vorstehende N. 27 Namentlich BVerfGE 99, 1 (14).

28 Exemplarisch BVerfGE 72, 330 (394); 99, 1 (14); 103, 142 (158); von „Verfassungsmaterialien" spricht etwa BVerfGE 62, 1 (45), von „Gesetzesmaterialien" (obwohl es sich, genau genommen, um „Verfassungsgesetzesmaterialien" handelt) BVerfGE 96, 288 (301).

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Im Folgenden sollen die Rolle (des Willens) des Verfassung(sgesetz)gebers im Rahmen der Interpretation des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht näher beleuchtet (nachstehend II.) und, im Anschluß daran, eine Inbezugsetzung der Aussagen und Vorgehensweisen im Altenpflegeurteil vom 24. Oktober 2002 zur verfassungsgerichtlichen Interpretationstheorie und -praxis vorgenommen werden (unten III.).

II. Subjektiv-historische Momente in Theorie und Praxis verfassungsgerichtlicher Verfassungsauslegung 1. Drei Ebenen methodologischer Beobachtung Art und Weise der Verfassungsauslegung durch das Bundesverfassungsgericht lassen sich nicht ohne weiteres auf einen einzigen methodologischen Nenner bringen. Die interpretatorische Vorgehensweise des Gerichts mag man in der komplexen und recht schwerfälligen (Verlegenheits-)Formel einzufangen versuchen, das Bundesverfassungsgericht habe sich okkasionalistisch-eklektizistischem Methodenpragmatismus verschrieben. 29 Doch ist damit zunächst nicht mehr ausgesagt, als daß - erblickt man die Vielzahl verfassungsgerichtlicher Erkenntnisse als zusammengehöriges Ganzes, als spannungsvolle Einheit - (1) das Verfassungsgericht keine der Auslegungstheorien samt dazugehöriger Auslegungsmethoden „durchhält", (2) auslegungstheoretische Reflexion (folglich) nicht über auslegungspraktisches Vorgehen gestellt werden darf, (3) die jeweils anzuwendende Auslegungsmethode von Fall zu Fall bestimmt und (4) diese erforderlichenfalls aus dem fallweise für erforderlich gehaltenen „Verschnitt" mehrerer Auslegungstheorien oder -methoden generiert wird. Doch müssen Aussagen über Art und Weise verfassungsgerichtlicher Grundgesetzauslegung dabei nicht stehen bleiben. Daß die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Tendenz in sich trägt, sich einheitlicher und eindeutiger methodologischer Qualifikation zu entziehen,30 hängt im wesentlichem an ihrem 29

Näheres bei Jestaedt, Grundrechtsentfaltung (o.N. 12), S. 47 Fn. 19 m. zahlr. Nachw. sowie S. 264 f. In der Sache ähnlich Müller/Christensen, Methodik (o.N. 19), Rn. 67 f., bes. Rn. 67: Die Judikatur biete das Bild „eines vorherrschenden Pragmatismus, der sich oft unkritisch zu überlieferten - in ihrer behaupteten Ausschließlichkeit gesetzespositivistischen Auslegungsmethoden bekennt, diese Regeln aber in jedem Fall ihres praktischen Versagens ohne Begründung für die Abweichung durchbricht" (wortgleich bereits das Resümee Friedrich Müllers in der 1. Aufl. seiner „Juristische[nl Methodik" aus dem Jahre 1971). 30 Einmal abgesehen davon, daß bei einem Kollegialgremium wie den Senaten des Bundesverfassungsgerichts eigengeartete Schwierigkeiten bestehen, sich auf eine gemeinsame Methode zu verständigen, darf nicht aus dem Blick verloren werden, daß Methodenfragen in aller Regel beim Bundesverfassungsgericht (wie bei jedem Gericht) nicht auf der Ebene primärer Aufmerksamkeit angesiedelt sind; dort befinden sich regelmäßig Fragen der Begründungs- und Entscheidungsinhalte, Fragen dogmatischer Konstruktion und Systematik. Für

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stark methodenpragmatischen Impetus, der affirmativ als eine „gewisse Beweglichkeit" umschrieben werden kann, die nicht mit Willkür verwechselt werden dürfe und als funktionsadäquat zu betrachten sei, 3 1 der freilich auch - deutlich kritischer - dahingehend zusammengefaßt werden kann: „Die Gerichte tun nicht, was sie sagen, und sagen nicht, was sie t u n . " 3 2 Weiteren Aufschluß über das verfassungsgerichtliche Verständnis und die verfassungsgerichtliche Handhabung der Auslegung des Grundgesetzes verspricht eine Analyse der Verfassungsjudikatur, die nach auslegungstheoretischem Räsonnement, i.e. der ausdrücklichen Reflexion von Ziel und Methode(n) der Interpretation, einerseits und auslegungspraktischem Effekt, i.e. dem i m Auslegungsprozeß einschlußweise zugrunde gelegten Interpretationskonzept, andererseits differenziert. 33 Genaueres Zusehen läßt es hilfreich erscheinen, des weiteren zwischen auslegungstheoretischer Grundsatzpositionierung und auslegungstheoretischen Einzel(fall)aussagen, genauer: zwischen Aussagen zum Interpretationsziel einerseits und solchen zu den Interpretationsmethoden andererseits, zu unterscheiden, insgesamt also drei Ebenen methodologischer Beobachtung der verfassungsgerichtlichen Verfassungsauslegung abzuschichten. 34

Fragen der Methodik bleibt dann allenfalls die Ebene sekundärer - und dogmatik-akzessorischer - Aufmerksamkeit. 31 In diesem Sinne namentlich Lerche, Stil (o.N. 17), S. 334. 32 So das - nicht nur die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts treffende - Verdikt bei Ralph Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989, S. 64. 33 So wenig es zu den Primäraufgaben des Bundesverfassungsgerichts zählt, verfassungsmethodologische Konzeptionen zu entwickeln, so sehr gilt es, zweierlei im Auge zu behalten: Zum einen ist die Wahl einer Rechtsgewinnungs-(d. h. einer Rechtserkenntnis- wie Rechtsetzungs-)Theorie für den Rechtsanwender unausweichlich. Er kann sich nicht dafür entscheiden, von einer Methodenwahl abzusehen, er kann sich lediglich dafür entscheiden, ob er die Methodenwahl bewußt trifft und offenlegt oder ob er sie unbewußt trifft und / oder verbirgt (dazu Jestaedt, Grundrechtsentfaltung [o.N. 12], S. 4 f.). Zum anderen gilt für das Bundesverfassungsgericht wie für jeden anderen Rechtsanwender im Grundsatz auch, daß, wenn es sich zu Fragen der (Rechtserkenntnis- oder Rechtsetzungs-)Methode äußert, ihm nicht zugute gehalten werden kann, daß es dies ja gar nicht tun müsse. Wer immer und warum auch immer sich zu methodologischen Fragen äußert, unterliegt den regulären wissenschaftlichen Standards der Kohärenz, Konsequenz und Konsistenz sowie der Positionierung im aktuellen methodologischen Diskurs. Ungeachtet dessen gilt, was Peter Lerche dem Verfassungsgericht ins Stammbuch schreibt: „Beliebigkeit in Dingen des Stils und der Methode müssen die Autorität des Bundesverfassungsgerichts mindern" (Stil [o.N. 17], S. 335). 34

Ähnlich die Vorgehensweise und Unterscheidung bei Michael Sachs, Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes als Mittel der Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, DVB1. 1984, S. 73 (74 ff., 78 ff.); Alexander Βlankenagel, Tradition und Verfassung, 1987, S. 122 ff., bes. 123-129; Müller/Christensen, Methodik (o.N. 19), Rn. 24 ff., 27 ff., 31 ff., 67 ff. Vgl. auch Hans-Peter Schneider, Der Wille des Verfassunggebers. Zur Bedeutung genetischer und historischer Argumente für die Verfassungsinterpretation, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 903 (908 ff.); Lerche, Stil (o.N. 17), S. 356 f.

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2. Die Ebene der Auslegungstheorie I: Das Auslegungsziel Ausweislich der Entscheidungsbegründungen setzen beide Senate des Bundesverfassungsgerichts das Mittel methodologischer Selbstreflexion spärlich ein. Unbeschadet dessen hat das Gericht bereits im Frühjahr des Jahres 1952 grundsätzlich für die sogenannte objektive Theorie, die nach „dem Willen des Gesetzes"35 fragt, optiert und damit gegen die sogenannte subjektive Theorie Stellung bezogen, deren Ziel die Ermittlung des Willens des - historischen - Gesetzgebers ist: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung".36 In einer weiteren Leitentscheidung erläutert derselbe Zweite Senat rund acht Jahre später das Verhältnis von „objektivem" Auslegungsziel und anzuwendenden Auslegungsmethoden: „Diesem [sc. »objektiven'] Auslegungsziel dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung). Um den objektiven Willen des Gesetzgebers zu erfassen, sind alle diese Auslegungsmethoden erlaubt. Sie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. Das gilt auch für die Heranziehung der Gesetzesmaterialien, soweit sie auf den objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen."37 Expressis verbis für die „objektive" Auslegungstheorie optiert hat das Bundesverfassungsgericht freilich nur im Blick auf die Auslegung von (einfachen) Gesetzen. Unausgesprochen macht es sich diese Grundsatzposition aber auch im Blick auf die Auslegung der Verfassung zu eigen.38 Abgesehen davon, daß das Verfassungsgericht eine Reihe von auslegungstheoretischen Aussagen trifft, die nur auf 35 Dazu richtungweisend Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, (3. Aufl. 1932), Studienausgabe, 1999, S. 107 (in BVerfGE 11, 126 [130] ist die 4. Aufl. 1950, S. 210 f., zitiert). 3 6 BVerfGE 1, 299 (312) - seitdem std. Rspr., vgl. namentlich BVerfGE 8, 274 (307); 10, 234 (244); 11, 126 (129-132); 20, 283 (298); 47, 109 (127); 48, 246 (256); 53, 135 (147); 53, 207 (212); 71, 81 (106); 79, 106 (121); 105, 135 (157); vgl. auch Urteil vom 16. Januar 2003-2 BvR 716/01 - , Absatz-Nr. 74. 37 BVerfGE 11, 126(130). 38

In diesem Sinne auch Dirk Looschelders / Wolf gang Roth, Juristische Methodik im Prozeß der Rechtsanwendung, 1996, S. 204-207 m. zahlr. weit. Nachw.; anders aber tendenziell, strukturelle und inhaltliche Besonderheiten der Verfassung hervorhebend namentlich Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 127 ff., bes. 130 f.; Schneider, Wille (o.N. 34), S. 904 ff.; Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl. 1999, Rn. 49 ff., bes. 55 ff. sowie 60 ff.

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der Grundlage der Entscheidung für die sogenannte objektive Theorie sinnvoll erscheinen, 39 ist sinnfälligstes Zeichen dafür, daß das Gericht Gesetzes- und Verfassungsauslegung - zumindest in puncto Auslegungsziel - gleichbehandelt, daß der Zweite Senat in seinem Beschluß vom 29. Januar 1974 den articulus stantis et cadentis der „objektiven" Theorie umstands- und vorbehaltlos auf die Auslegung des Verfassungsgesetzes anwendet: „Das Gesetz kann eben klüger sein als die Väter des Gesetzes." 40 Soweit es das Auslegungsziel - das Woraufhin der Interpretation - betrifft, entscheidet sich das Bundesverfassungsgericht bereits im ersten Band seiner Sammlung gegen den - tatsächlichen („subjektiven") - Willen des Verfassung(sgesetz)gebers. Eine Entscheidung, an der es bis heute unbeirrt und ausnahmslos festhält. 4 1 Der tatsächliche Wille des Verfassung(sgesetz)gebers spielt für die Auslegung der Verfassung - also für die Ermittlung des objektivierten Willens des Verfassung(sgesetz)gebers 42 - infolgedessen allenfalls eine mittelbare Rolle insofern, als er auf letzteren schließen l ä ß t 4 3 39

Dazu nachfolgend 3. - In der - soweit ersichtlich - einzigen Entscheidung, in der das Gericht (wiederum der Zweite Senat) die Frage aufwirft, ob die Grundsätze „objektiver" Interpretation „auch uneingeschränkt für die Auslegung von Verfassungsnormen gelten können", läßt es die Antwort dahinstehen. Als specificum der Verfassung macht es „das Problem der Offenheit des Normtextes" aus (BVerfGE 62, 1 [45] - zu dieser Entscheidung näher unten bei N. 54). 40 BVerfGE 36, 342 (362) - in stillschweigender Übernahme der Formulierung bei Radbruch, Rechtsphilosophie (o.N. 35), S. 107 (Hervorhebung im Original): „Der Ausleger kann das Gesetz besser verstehen, als es seine Schöpfer verstanden haben, das Gesetz kann klüger sein als seine Verfasser - es muß sogar klüger sein als seine Verfasser." 41 Insofern, d. h. soweit es die Parteinahme für das „objektive" Auslegungsziel anlangt, ist die Vorhaltung durchaus Überdenkenswert, daß die „theoretische Selbstbeschreibung" des Bundesverfassungsgerichts in methodicis „weit hinter dem zurückbleibt, was es tatsächlich tut" (so Müller/Christensen, Methodik [o.N. 19], Rn. 67a, ähnlich dies., ebenda, Rn. 25: „Programmatisch, wenn auch nicht in folgerichtiger Praxis, hat sich das Bundesverfassungsgericht für die ,objektive Theorie' entschieden"; in der Sache auch Blankenagel, Tradition [o.N. 34], S. 125; treffender dürfte es sein, wenn Christensen, Gesetzesbindung [o.N. 32], S. 49, formuliert: „Das Bundesverfassungsgericht hält [ . . . ] im Grundsatz an seiner Orientierung an der objektiven Auslegungslehre fest."). Von den Inkonsequenzen in puncto Auslegungsmethoden ist die Grundsatzoption zugunsten des „objektiven" Auslegungsziels nicht ohne weiteres betroffen (vgl. aber die wertvollen Hinweise bei Christensen, ebenda, S. 45 f.). Dazu nachfolgend 3. sowie III.2. und III.3. 42 Mit Recht kritisch zum Sprachgebrauch vom „objektivierten Willen des Gesetzgebers": Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 178. Vgl. auch unten N. 73. 43 Zumindest irreführend ist es, wenn diese Art von Berücksichtigung „subjektiver" Elemente im Blick auf das „objektive" Auslegungsziel als „Vereinigungstheorie" apostrophiert wird (so aber Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 318 Fn. 15; ders. /Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 139 Fn. 15, jeweils unter Bezugnahme auf Koch/Rüßmann, Begründungslehre [o.N. 42], S. 178). - Bei konsequenter Trennung von Auslegungsziel und Auslegungsmethode ist es daher durchaus nicht zwingend, dem Bundesverfassungsgericht ein „synkretistisches Methodenverständnis" zu attestieren (so aber Schneider, Wille [o.N. 34], S. 908).

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3. Die Ebene der Auslegungstheorie II: Die Auslegungsmethoden Bedeutung kommt den verfassung(sgesetz)geberischen Regelungsintentionen in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts mithin nicht als Auslegungsziel, sondern nur mehr im Rahmen der Auslegungsmethoden zu. Soweit es letztere betrifft, kann die methodologische Selbstreflexion freilich nicht jene Kontinuität und Sinnidentität, Konsequenz und Konsistenz für sich reklamieren, wie sie den Aussagen zum Ziel der Verfassungsauslegung eignen.44 Die Skala auslegungstheoretischer Platzanweisungen, die der Regelungswille des Verfassung(sgesetz)gebers im Prozeß der Verfassungsauslegung erfährt, reicht von Bedeutungslosigkeit über Nachrangigkeit, Unschädlichkeit und Besonderheit bis hin zu Maßgeblichkeit: 45 So komme der Entstehungsgeschichte für die Auslegung einzelner Bestimmungen des Grundgesetzes in der Regel keine ausschlaggebende Bedeutung zu. 46 Nach einer weicheren Formulierung kommt „der Entstehungsgeschichte, den Vorstellungen und Motivationen des Verfassunggebers [ . . . ] für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes nicht unbedingt eine ausschlaggebende Bedeutung zu". 4 7 In einem späteren Judikat verschärft das Gericht dagegen die Aussage dahin, „daß der Entstehungsgeschichte für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes ausschlaggebende Bedeutung nicht zukommen kann" 4 8 In anderem Zusammenhang betont das Bundesverfassungsgericht, daß gegensätzlichen Deutungen der Entstehungsgeschichte angesichts eines „aus der sachlich-systematischen Auslegung gewonnenen eindeutigen Ergebnisses" kein Gewicht zukomme.49 Einen Stehsatz der Gesetzesauslegung50 verwendet das Bun44

Dazu und zum Folgenden vgl. namentlich Christensen, Gesetzesbindung (o.N. 32), S. 45-47. 45 Da und insoweit Rechtsprechungsentwicklungen - sei es in Richtung auf eine stärkere Berücksichtigung, sei in Richtung auf eine Abschwächung der Bedeutung subjektiv-historischer Momente - sich kaum oder doch nur mit großen Vorbehalten ausmachen lassen, wird im Folgenden davon Abstand genommen, die Judikatur chronologisch und nach Senaten getrennt darzustellen. Damit soll freilich nicht in Abrede gestellt werden, daß sich derartige Tendenzen in einzelnen Punkten und für bestimmte Zeiten durchaus nachweisen lassen. Vgl. zu einer entsprechenden Darstellung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bis etwa 1983: Sachs, Entstehungsgeschichte (o.N. 34), S. 75 ff. (zur Gesetzesauslegung) sowie 78 ff. (zur Verfassungsauslegung, wo freilich, ebenda, S. 79 sowie 81, die Gegensätze in der Rechtsprechung der beiden Senate überzeichnet sein dürften). 46 Vgl. BVerfGE 6, 389 (431); entsprechend BVerfGE 41, 291 (309); 62, 1 (45). 47 So BVerfGE 45, 187 (227). 4

« BVerfGE 51, 97 (110) unter Bezugnahme auf BVerfGE 6, 389 (431); 41, 291 (309). Ähnlich apodiktisch formuliert es das Sondervotum des Richters Geiger, wonach gegenüber einer aus Wortlaut, Stellung und Zusammenhang im Grundgesetz gewonnenen Auslegung es „nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht auf den ,Willen des Gesetzgebers'" ankomme (BVerfGE 32, 199, 242 [244J). 49 BVerfGE 86, 148(221). FS Schmitt Glaeser

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desVerfassungsgericht auch i m Rahmen der Verfassungsauslegung, daß nämlich die Entstehungsgeschichte „nur zur Bestätigung eines anderweitig gefundenen Auslegungsergebnisses bedeutsam werden" könne. 5 1 Anders - wenngleich durchaus i m Sinne bloßer Subsidiarität subjektiv-historischer Auslegungsmomente 52 argumentiert das Bundesverfassungsgericht in einer sehr frühen Entscheidung, wenn es den „Grundsätzen der allgemeinen Rechtslehre" entnimmt, daß eine Heranziehung der Entstehungsgeschichte „jedenfalls bei neuen Gesetzen unbedenklich sei", „für deren Auslegung sich feste Grundsätze noch nicht haben bilden können". 5 3 Jahrzehnte später verallgemeinert es diesen Ansatz dahin, daß die Entstehungsgeschichte einer Norm bei deren Auslegung insbesondere dann „nicht völlig unberücksichtigt" bleiben dürfe, „wenn sich für ihre Auslegung feste Grundsätze noch nicht haben bilden können". 5 4 Noch weitergehend soll - neben der Staatspraxis und der historischen Entwicklung der betreffenden Kompetenzmaterie - die Entstehungsgeschichte für die Auslegung von Zuständigkeitsvorschriften „besonderes Gewicht" gewinnen. 5 5 Den weitestgehenden, „Grundrechtsbestimmungen 50 Richtungweisend BVerfGE 1, 299 (312); 11, 126 (130) - seitdem std. Rspr. Vgl. etwa BVerfGE 48, 246 (260): Gesetzesmaterialien können „für die Auslegung ohnehin nur unterstützend verwertet werden". 51 BVerfGE 36, 342 (367); s. auch BVerfGE 41, 291 (309). 52 Wie hier namentlich Sachs, Entstehungsgeschichte (o.N. 34), S. 81. 53 BVerfGE 1, 117(127). 54 BVerfGE 62, 1 (45). - Voraufgegangen war dieser Entscheidung der Beschluß des Plenums des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juni 1980 (BVerfGE 54, 277 ff.), in dem dieses für die Gesetzesauslegung konstatiert hatte: „Zumal bei zeitlich neuen und sachlich neuartigen Regelungen kommt den anhand des Gesetzgebungsverfahrens deutlich werdenden Regelungsabsichten des Gesetzgebers erhebliches Gewicht bei der Auslegung zu, sofern Wortlaut und Sinnzusammenhang der Norm Zweifel offenlassen. [ . . . ] Dies gilt allerdings nur für die in dieser Regelung erkennbar ausgeprägten und in ihr angelegten Grundentscheidungen, Wertsetzungen und Regelungszwecke; konkrete Vorstellungen, die von Ausschüssen oder einzelnen Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften über die nähere Bedeutung oder Reichweite einer einzelnen Bestimmung, eines Normbestandteils oder eines Begriffs und ihrer Handhabung wie Wirkung geäußert werden, stellen für die Gerichte jedenfalls nicht eine bindende Anleitung dar, so erhellend sie im Einzelfall für die Sinnermittlung auch sein mögen (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., S. 316 f.). Sie sind als solche nicht schon Inhalt des Gesetzes" (BVerfGE 54, 277 [297 f.]). Dieser Beschluß ist in seiner Stufung bemerkenswert: Er betrachtet, erstens, die Entstehungsgeschichte konsequent als bloß subsidiäres Auslegungsmedium. Bei Insuffizienz der übrigen Methoden jedoch ist die Bedeutung der Entstehungsgeschichte, zweitens, „erheblich" und nicht nur rein bestätigend. Freilich bezieht sich das „erhebliche Gewicht", drittens, nur auf Grundsatz- und nicht auf Detailaussagen, nur auf Grundentscheidungen und nicht auf einzelne Normbestandteile (wenig überzeugend freilich wirkt die - ebenenverschobene und daher schiefe - Kontrastierung von in einer „Regelung erkennbar ausgeprägten und in ihr angelegten Grundentscheidungen, Wertsetzungen und Regelungszwecken" einerseits und „konkreten Vorstellungen, die von Ausschüssen oder einzelnen Mitgliedern der gesetzgebenden Körperschaften über die nähere Bedeutung oder Reichweite einer einzelnen Bestimmung, eines Normbestandteils oder eines Begriffs und ihrer Handhabung wie Wirkung geäußert werden," andererseits). 55 Vgl. BVerfGE 33, 125 (152); s. auch BVerfGE 61, 149 (175); 68, 319 (328); Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 156. Näher dazu Jochen Rozek, in: Hermann von

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und andere Garantienormen" erfassenden Einfluß räumen der Entstehungsgeschichte drei Judikate des Zweiten Senats aus den Jahren 1986 bis 1988 ein, wenn sie die hervorgehobene Bedeutung subjektiv-historischer Auslegung unter Hinweis auf die „lapidare Sprachgestalt" zu begründen suchen;56 soweit ersichtlich, hat diese Rechtsprechung (bislang) jedoch keine Fortsetzung gefunden. 57 Mangoldt/Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 2, 4. Aufl. 2000, Art. 70 Abs. 1 Rn. 49 m. Nachw. 56 Es handelt sich um BVerfGE 74, 51 (57) betreffend Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG a.F.; BVerfGE 74, 102 (116) betreffend Art. 12 Abs. 2 und 3 GG; BVerfGE 79, 127 (143 f.) betreffend Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG: „Um Sinngehalt und Tragweite der Grundrechtsbestimmungen und anderen Garantienormen, denen oft eine lapidare Sprachgestalt eigen ist, richtig zu erfassen, ist jedoch der Blick auf das rechtliche und historische Umfeld der Entstehung der Verfassungsnormen sowie auf ihre Zielrichtung erforderlich, wie sie schließlich im Normzusammenhang ihren Ausdruck gefunden hat (vgl. BVerfGE 74, 51 [57]; 74, 102 [116])." Nicht unähnlich auch die Herangehensweise des Ersten Senats in seinem in etwa zeitgleichen Urteil zur Privatschulförderung (BVerfGE 75, 40 ff.): Die Ausführungen zur - im strikten Sinne - historischen Auslegung leitet der Senat damit ein, daß „Umfang und Bedeutung dieses Grundrechts [sc. jenes gemäß Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG] [ . . . ] sich zutreffend nur beurteilen [ließen], wenn auch sein geschichtlicher Hintergrund beleuchtet wird" (BVerfGE 75, 40 [56]); die sich unmittelbar daran anschließende genetische Interpretation hebt an mit der Wendung: „In ähnlicher Weise bietet die Entstehungsgeschichte des Art. 7 Abs. 4 GG keinen Anhaltspunkt für die Annahme [ . . . ] " (BVerfGE 75, 40 [58]). Freilich stellt der Senat die Erörterung historischer und genetischer Aspekte seiner Antwort auf die fallrelevante Auslegungsfrage voran (vgl. BVerfGE 75, 40 [61 ff.]). - Diese Judikatur dürfte sich der Ansicht verpflichtet fühlen, daß der Charakter und die Eigenart der Verfassung die Methoden ihrer Auslegung maßgeblich bestimmten; zu diesem Konnex zuletzt Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken. Zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik, Der Staat 42 (2003), S. 165 (186-188) m. weit. Nachw. 57 Aus dem Kreise interpretationstheoretischer Aussagen zur Gesetzesauslegung können hier - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - ergänzt werden: (1) Die „Vorarbeiten eines Gesetzes" „dürfen nicht dazu verleiten, die Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen" (BVerfGE 11, 126 [130] unter Bezugnahme auf RGZ 27, 411; BayVerfGH VGHE NF Bd. 3 II, 1950, S. 15 [24]). - (2) Als einschränkende Voraussetzung dafür, daß der tatsächliche „Wille des Gesetzgebers" überhaupt im Rahmen der Ermittlung des „objektivierten Willens des Gesetzgebers" Berücksichtigung finden könne, statuiert das Bundesverfassungsgericht - der herrschenden, „objektiven" Methodenlehre folgend - , daß jener „in dem Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden hat" (BVerfGE 11, 126 [130]; entsprechend BVerfGE 11, 126 [131]: „Die Motive und Vorstellungen der Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften sind daher nicht entscheidend, soweit sie nicht im Gesetz ihren Ausdruck gefunden haben." - In beiden Fällen, in denen die Rede ist vom „Gesetz", dürfte das Verfassungsgericht indes einer Verwechslung von Norm und Normtext aufgesessen sein.). - (3) Die (zumindest partielle) Irrelevanz des subjektiven Willens des Gesetzgebers ist folgerichtiger Bestandteil des dem „objektiven" Auslegungsziel verschriebenen Konzepts verfassungskonformer Auslegung: „Ist eine einschränkende, verfassungskonforme Auslegung möglich, kommt es ,nicht darauf an, ob dem subjektiven Willen des Gesetzgebers die weitergehende', dem Grundgesetz nicht entsprechende Auslegung ,eher entsprochen hätte' (vgl. BVerfGE 9, 194 [200])" (BVerfGE 93, 37 [81] - std. Rspr.). - (4) Umgekehrt soll es dem Richter verwehrt sein, „dem Gesetz einen Sinn zu unterlegen, den der Gesetzgeber offensichtlich nicht hat verwirklichen wollen, den er nicht ausgedrückt hat und den das Gesetz auch nicht im Verlaufe einer Rechtsentwicklung aufgrund gewandelter 19*

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Dieser tour d'horizon bleibt im gegebenen Rahmen zwar grobrastrig; aber er dürfte doch hinreichend detailliert sein, um zu belegen, daß das Bundesverfassungsgericht in seinen auslegungstheoretischen Positionsbestimmungen weit davon entfernt ist, der Entstehungsgeschichte einen festen und gesicherten, einen identischen und kalkulierbaren Platz im Auslegungsgeschehen zuzuweisen. Diese kennt vielmehr vielfältige, in ihrer Vielfalt sich nicht in einen konsistenten Verwendungsrahmen fügende, in ihrer konkreten Auswahl bisweilen sogar ans Beliebige heranreichende Einsatzmodalitäten. Selbst den Vorwurf, das Gericht changiere insoweit zwischen miteinander unverträglichen Positionen,58 wird man nicht ohne weiteres von der Hand weisen können.

4. Die Ebene der Auslegungspraxis Die verfassungsgerichtliche Auslegungspraxis steht, was Vielfalt und Kreativität, aber auch was Dunkelheit und Widersprüchlichkeit des Einsatzes subjektivhistorischer Auslegungsmomente betrifft, nicht hinter den auslegungs(methoden)theoretischen Positionsbestimmungen in der Judikatur zurück. 59 Im Gegenteil. Auffällig sind zunächst Häufigkeit und Variantenreichtum 60 des Rekurses auf die Entstehungsgeschichte, die deutlich kontrastieren mit der vergleichsweise bescheidenen Rolle, die der subjektiv-historischen Methode im Rahmen der „objektiven" Anschauungen erhalten hat" (BVerfGE 86, 59 [64]); der ergänzende Rekurs auf das Ausgedrückte und die „Rechtsentwicklung" nehmen der Bezugnahme auf die gesetzgeberische Regelungsintention freilich ihre Schärfe und relativieren sie in erheblichem Ausmaße. - (5) Ohne derart Relativierendes hinzuzusetzen, hält das Gericht die Wahl unterschiedlicher Auslegungsmöglichkeiten „unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung" für eingeschränkt, „wenn ein eindeutiger Wille des Gesetzgebers vorliegt" (BVerfGE 9, 89 [102]). Von Bedeutung ist diese Erkenntnis nicht nur, weil mit dem Willen des Gesetzgebers, wie der Begründungskontext erhellt, der subjektive Wille des historischen Gesetzgebers gemeint ist, sondern auch deswegen, weil, indem das Gericht den „Gesichtspunkt der Gewaltenteilung" anführt, ein - im übrigen allzu sehr vernachlässigter - Zusammenhang zwischen subjektiv-historischer Auslegung(smethode) und der Autorität des Gesetzgebers hergestellt wird (dazu nachfolgend 5.). 58

So Christensen, Gesetzesbindung (o.N. 32), S. 47. Schon aus Platzgründen muß vorliegend davon Abstand genommen werden, die verfassungsgerichtliche Praxis subjektiv-historischer Auslegung im einzelnen nachzuzeichnen; dies ist um so weniger ein Nachteil, als insoweit informative und wohlabgewogene Studien vorliegen (daß die Beiträge infolge ihres Alters zum Großteil nicht mehr auf dem jüngsten Stand der Judikatur sind, überholt die Aktualität und Richtigkeit der dort getroffenen Feststellungen und Einschätzungen überwiegend nicht). Verwiesen sei auf Sachs, Entstehungsgeschichte (o.N. 34), S. 80 f. (sowie 76 - 7 8 für die Gesetzesauslegung); Blankenagel, Tradition (o.N. 34), S. 122 ff., bes. 124- 129; Christensen, Gesetzesbindung (o.N. 32), S. 49 ff.; Müller/Christensen, Methodik (o.N. 19), Rn. 27-66, s. auch Rn. 67-67e, jeweils m. zahlr. Nachw. aus der Judikatur; vgl. zusammenfassend auch Schneider, Wille (o.N. 34), S. 908 f.; Lerche, Stil (o.N. 17), S. 334 f., 345 und bes. 356 ff. m Versuch einer Typologie positiver wie negativer Verwendungsweisen bei Blankenagel, Tradition (o.N. 34), S. 125 f. 59

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Theorie aus methodologischer Sicht zugestanden wird. 61 Selbst in den durchaus nicht seltenen Fällen, in denen die Entstehungsgeschichte auslegungspraktisch vollauf im Einklang mit der auslegungstheoretisch zugewiesenen Rolle des „Reservearguments" 62 - nur zur Bestätigung des mit Hilfe der übrigen Methoden gewonnenen Ergebnisses herangezogen wird, kann der Beitrag entstehungsgeschichtlicher Erkenntnisse zur substantiellen Stützung des Auslegungsergebnisses mitunter über den eines bloß nachrangigen Faktors deutlich hinausgehen.63 Im - wenn davon überhaupt die Rede sein darf - methodologischen „Gesamtsaldo" nehmen subjektiv-historische Aspekte damit in der Auslegungspraxis einen quantitativ wie qualitativ bedeutenderen - oder, vorsichtiger, doch zumindest einen in manchem anderen - Stellenwert ein, als dies nach den auslegungstheoretischen Erwägungen in der Verfassungsrechtsprechung zu erwarten wäre. 64 Auch eine - der Nachrangthese Rechnung tragende - einheitliche und feste Abfolge des Methodeneinsatzes (Nachschaltung entstehungsgeschichtlicher Auslegung) läßt sich aus der Rechtsprechungspraxis nicht belegen. Dies darf nicht Wunder nehmen, finden entstehungsgeschichtliche Momente doch auch im Rahmen von Zurichtung und Anwendung grammatischer, systematischer sowie teleologischer Argumente Verwendung. 65 Höchst unterschiedlich nehmen sich auch Art und Dichte des Zugriffs auf die Entstehungsgeschichte aus, „die vom pauschalen Hinweis bis zur akribischen Detailbehandlung" variieren 66 und im übrigen nicht notwendigerweise mit der argumentationseffektiven Stützkraft des entstehungsgeschichtlichen Rekurses für das Auslegungsergebnis korrelieren. 67 Für die Auslegungspraxis ist schließlich in Rechnung zu stellen, daß das Gericht - abweichend von seinen auslegungstheoretischen Aussagen, die sich, soweit ersichtlich, 68 ausschließlich auf die „herkömm61

Vgl. nur Sachs, Entstehungsgeschichte (o.N. 34), S. 76 (für die Gesetzesauslegung) und 80 f. (für die Verfassungsauslegung). 62 Begriff: Sachs, Entstehungsgeschichte (o.N. 34), S. 77. 63 Dazu Christensen, Gesetzesbindung (o.N. 32), S. 49 ff.; Müller/Christensen, Methodik (o.N. 19), Rn. 27. 64 Blankenagel, Tradition (o.N. 34), S. 129, sieht folgerichtig in der auslegungstheoretischen Reflexion des Verfassungsgerichts „nichts weiter als die Spitze eines Eisbergs", dessen Gros dem theoretischen Blick entzogen sei. 65 Dazu Sachs, Entstehungsgeschichte (o.N. 34), S. 77 f. In dem Maße freilich, in dem diese drei Auslegungsmethoden in subjektiv-historischer Konnotation und Imprägnierung gelesen und gehandhabt werden, nähert sich eine derart verstandene „objektive" Theorie dem „subjektiven" Auslegungsziel an. Beispiel für eine subjektiv-historische Ermittlung dessen, was als „Ziel der Normierung der Rechtsschutzgarantie in Art. 19 Abs. 4 GG" zu betrachten sei: BVerfG, Beschluß vom 30. April 2003 (ο. N. 22), Absatz-Nr. 24 ff., Zitat: 24. 66 Zitat: Sachs, Entstehungsgeschichte (o.N. 34), S. 76 (für die verfassungsgerichtliche Gesetzesauslegung). 67 Zutreffend Blankenagel, Tradition (o.N. 34), S. 125, s. auch S. 127 f. 68 Zumindest fehlt es an einem prononcierten Bekenntnis zu einem von den überkommenen Auslegungsmethoden (grammatische, systematische, teleologische, genetische und historische) oder gar vom objektiven Auslegungsziel abweichenden, diese teilweise oder

gänzlich verdrängenden Interpretations Verständnis.

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lichen Auslegungsmethoden",69 deren Eigenart und deren Verhältnis untereinander beziehen70 - sich bisweilen auch solcher Auslegungstechniken bedient, die sich mit dem tradierten Methodenkanon nicht oder doch nur unzureichend rechtfertigen 71 und die sich im überlieferten Rechtsgewinnungsschema auch schwerlich verarbeiten lassen.72

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Vgl. BVerfGE 105, 135 (157, dort auch die Wendung vom „herkömmlichen Kanon der Methoden der Gesetzesauslegung"); Urteil vom 16. Januar 2003-2 BvR 716/01 - , Absatz-Nr. 74; synonym werden auch folgende Wendungen eingesetzt: „anerkannte Auslegungsgrundsätze" (so etwa in BVerfGE 49, 148 [157]; 69, 1 [55]; 86, 28 [45]; 93, 37 [81]), „hergebrachte Methoden der Gesetzesauslegung" (ζ. B. BVerfGE 19, 290 [301]), „allgemeine Auslegungsgrundsätze" (etwa BVerfGE 8, 274 [307]; 19, 354 [362]). Zu den „üblichen Auslegungsmethoden" wird über den Vierer-Kanon hinaus ausnahmsweise und begründungsfrei auch „eine gefestigte Rechtsprechung" gezählt (so namentlich in: BVerfGE 45, 363 [372]; 86, 288 [311]). 70 Vgl. dazu besonders Christian Starck, Die Verfassungsauslegung, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 164 Rn. 16 ff., bes. 18-23; ähnlich Hesse, Grundzüge (o.N. 38), Rn. 54. 71 Dabei ist weniger an die vielzitierten „Prinzipien der Verfassungsinterpretation" gedacht (ebenso programmatisch wie richtungweisend Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 [1963], S. 53 ff.; vgl. des weiteren Stern, Staatsrecht [o.N. 38], S. 131 ff.; Hesse, Grundzüge [o.N. 38], Rn. 70 ff.; Müller/Christensen, Methodik [o.N. 19], Rn. 377), auch nicht an sonstige materiale Interpretationsgrundsätze wie die „strikte" Auslegung von Kompetenznormen (dazu BVerfGE 12, 205 [228 f.]; 15, 1 [17]; 26, 246 [254]; 26, 281 [297 f.]; 42, 20 [28]; 55, 274 [319 f.]; 61, 149 [174]; 75, 108 [150]; 100, 249 [261]; Urteil vom 24. Oktober 2002-2 BvF 1 / Ol - , Absatz-Nr. 289; gegen diese Rechtsprechung freilich BVerfGE 15, 126 [139]; aus Sicht der Staatsrechtslehre: Lerche, Stil [o.N. 17], S. 353 f.) oder die „verfassungskonforme Auslegung"; denn weder bei ersteren noch bei letzteren handelt es sich, bei methodologischem Lichte besehen, um - auslegungsapriorische Sätze der Verfassungsmethodik, sondern um mittels vorgängiger Auslegung erhobene und auslegungsmäeutisch im Rahmen systematischer Erwägungen auf weitere Interpretationsvorgänge zurückwirkende - auslegungsaposteriorische - Sätze der Verfassungsdogmatik (wie hier etwa auch Loose he Ide rs / Roth, Methodik [o.N. 38], S. 205 f.: „ [ . . . ] bei den Prinzipien der Verfassungsinterpretation handelt es sich insofern um ausformulierte Kohärenz- und Interessenkriterien, nicht aber um eigenständige Auslegungsmethoden" [Hervorhebung im Original]; in diese Richtung auch Müller/Christensen, Methodik [o.N. 19], vor Rn. 377 [anders freilich für das „Grundrechtssystem", die „Wertordnung", das Gebot verfassungskonformer Auslegung und den Maßstab funktioneller Richtigkeit: Rn. 337]). - Gedacht ist vielmehr namentlich an Erscheinungen wie die sogenannte Normbereichsanalyse; dazu Müller/Christensen, Methodik [o.N. 19], Rn. 67e m. Nachw. 72

Pointiert (und darin wohl auch etwas über das Ziel hinausschießend) Müller/ Christensen, Methodik (o.N. 19), Rn. 27: „Die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts ist mit den Regeln, zu denen es sich programmatisch bekennt, kaum faßbar"; ähnlich Christensen, Gesetzesbindung (o.N. 32), S. 52: „Die Praxis der Gerichte kann von ihren in Anspruch genommenen theoretischen Grundlagen her nicht erklärt werden [ . . . ] . " Die Gründe für die Abweichung der Auslegungspraxis von den selbstgesteckten Vorgaben der Auslegungstheorie sehen Müller/Christensen, Methodik [o.N. 19], Rn. 27, 29, 67a und 67b, weniger in mangelhafter Theorie-Umsetzung begründet denn im rechtspraktischen Versagen der herkömmlichen Auslegungstheorien in Gestalt des - als „gesetzespositivistisch" apostrophierten - Methodenkanons (ähnlich Hesse, Grundzüge [o.N. 38], Rn. 55 ff., bes. 58).

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5. Methode von Fall zu Fall Mehr noch als auf der Ebene der Reflexion über Auslegung bedient sich das Verfassungsgericht auf der Ebene des Inswerksetzens von Auslegung der „Methode" der „flexible response": Das Gericht wählt, auf der Folie der „objektiven" Theorie, die als solche keinen Auslegungsausgriff a limine ausschließt, 73 bewußt oder unbewußt jene Methode(nmischung), die - seiner Intention oder seiner Intuition nach - der jeweilige Fall erheischt. Welcher Raum subjektiv-historischen Auslegungsaspekten dabei in concreto eingeräumt wird, ist demnach sowohl von einer variablen und nicht abschließend definierbaren Vielzahl von i m jeweiligen Normprogramm wie auch i m jeweiligen Normbereich wurzelnden Parametern als auch von nicht ohne weiteres in ihrem Ergebnis vorhersehbaren Präferenzentscheidung e n 7 4 des entscheidungsberufenen Senats i m Blick auf die Gewichtung der herangezogenen Parameter abhängig. Methode von Fall zu Fall. Willkür ist das sicherlich nicht. 7 5 Sub specie von Methodensicherheit und Methodenklarheit, Methodenkonsistenz und Methodenkonsequenz befriedigend ist das freilich auch nicht. 7 6

73 Dies um so weniger, als sich - auch - in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts wohlweislich keine Festlegung dazu findet, was sich denn hinter der wohl doch eher metaphorischen Ausdrucksweise vom „objektivierten Willen des (Verfassungs-)Gesetzgebers", gar hinter der reichlich anthropomorphen Sprechweise vom „Willen des Gesetzes" (insonderheit in BVerfGE 11, 126 [130]) verbirgt (kritisch dazu etwa auch Koch/Rüßmann, Begründungslehre [o.N. 42], S. 178). Ein feststehender positiver Sinn der Wendung läßt sich weder aus der Rechtsprechung noch aus dem Schrifttum erheben; so dürfte das Genaueste, was sich über den „objektivierten Willen des Gesetzgebers" als des Auslegungsziels der „objektiven" Theorie sagen läßt, die - negative - Aussage sein, daß er nicht mit dem tatsächlichen Willen des historischen Gesetzgebers zusammenfallen muß. Fallen „objektivierter" und tatsächlicher Wille des Gesetzgebers einmal in concreto zusammen, so ist diese Koinzidenz aus Sicht der „objektiven" Theorie zufällig und nicht zwingend. 74

Und damit - spätestens und heute selbstverständlich - abhängig von einer Mehrzahl von zumeist subliminal wirkenden Faktoren, die, wie etwa die professionelle oder landsmannschaftliche, politische oder weltanschaulich-religiöse, soziale oder geschlechtliche Prägung der Richterinnen und Richter, keinen unmittelbaren Bezug zur methodologischen Eigenrationalität haben. 75 Wie hier besonders Lerche, Stil (o.N. 17), S. 334 f., 356 f. Auch hier gilt: Daß der jeweilige Auslegungszugriff des Verfassungsgerichts beliebig bestimmt ist, bedeutet nicht pari passu, daß er auch beliebig bestimmbar wäre. 7 6 Das Dilemma einer „flexible response" in methodicis bringt Gerd Roellecke gültig auf den Begriff: „Die Offenheit der methodischen Aussagen des Gerichtes ist ambivalent. Einerseits erleichtert sie dem Gericht die Anpassung des Rechtes an veränderte Zustände - obwohl man nicht vergessen darf, daß sich die Zustände dem Recht anpassen sollten - und erspart ihm Scholastik. Andererseits erweitert sie die Argumentationsmöglichkeiten so, daß sich die Frage nach der Legitimation und nach der Funktion des Gerichtes in einer gewaltenteiligen Demokratie aufdrängt" (Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, in: Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Zweiter Bd., 1976, S. 22 [26]).

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III. Das Altenpflegeurteil auf der Folie verfassungsgerichtlicher Auslegungstheorie und -praxis 1. Die - konditionierte - Option für die subjektiv-historische Auslegung „Die Entstehungsgeschichte des Art. 72 Abs. 2 GG n.F. belegt, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber mit der Neufassung des Art. 72 Abs. 2 GG sowie der Einrichtung des speziellen verfassungsgerichtlichen Verfahrens gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG das Ziel verfolgt hat, die Position der Länder zu stärken und zugleich eine effektive verfassungsgerichtliche Überprüfung sicherzustellen. In der Grundgesetzänderung kann eine klare Anweisung des verfassungsändernden Gesetzgebers an das Bundesverfassungsgericht gesehen werden, seine bisherige, als korrekturbedürftig bewertete Rechtsprechung zu ändern." 77 Und weiter: „Der Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers ging dahin, die Erforderlichkeitsklausel des Art. 72 Abs. 2 GG justitiabel zu machen; dem Bundesgesetzgeber sollte kein Beurteilungsspielraum belassen werden." 78 Mit kraftvollen Strichen zieht der Zweite Senat im Altenpflegeurteil die entstehungsgeschichtliche Interpretation aus. Fokussiert man die Aufmerksamkeit auf die - im Vorfeld sicherlich spannendste - Auslegungsfrage, welche Bedeutung das Gericht der eigenen Judikatur zur Vorgängerbestimmung gemäß Art. 72 Abs. 2 GG a.F. im Angesicht der auf Anstoß der Gemeinsamen Verfassungskommission im Jahre 1994 novellierten Bestimmung des Art. 72 Abs. 2 GG noch beimessen werde, so wird man geneigt sein, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als einen Meilenstein subjektiv-historischer Verfassungsauslegung zu qualifizieren. Sowohl im Auslegungsergebnis wie im Auslegungsgang79 erweist sich die entstehungsgeschichtliche Sicht als die ausschlaggebende, der Wille des Verfassungsgesetzgebers als der inhaltsbestimmende. Doch damit wird das Urteil vom 24. Oktober 2002 nur in einem - wenn auch nicht unwesentlichen - Aspekt erfaßt. Die Option für die subjektiv-historische Auslegung ist keine umfassende und keine unkonditionierte. Entgegen dem ersten, durch die vorstehend referierten Aussagen erzeugten Anschein bricht die Entscheidung nicht aus dem methodologischen Rahmen der bisherigen Verfassungsjudikatur aus und kann schon deswegen nicht als Wende von der „objektiven" zur „subjektiven" Theorie bezeichnet werden. Weder wird das Bekenntnis zur „objektiven" Theorie widerrufen oder auch nur in Zweifel gezogen (unten 4.), noch erweist sich 77 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 292. 78 So BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 311. 79 Auf die aus der Entstehungsgeschichte erfolgende Nachzeichnung des Willens des verfassungsändernden Gesetzgebers verwendet der Zweite Senat 20 Absätze (BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 [o.N. 8], Absatz-Nr. 292-311), indes teleologische und grammatische Auslegungsbemühungen zusammen genommen gerade einmal fünf Absätze beanspruchen (BVerfG, ebenda, Absatz-Nr. 312-316).

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das Erkenntnis unter auslegungspraktischen Auspizien als Ausreißer (dazu 3.)· Und selbst innerhalb der Begründungsabfolge der Entscheidung spielt die Entstehungsgeschichte nicht die einzige und alleinentscheidende Rolle (nachfolgend 2.). Die besondere Akzentuierung subjektiv-historischer Momente findet vielmehr eine Erklärung - und damit Relativierung - in den Besonderheiten der konkreten Konstellation (unten 5.).

2. Relativierung

I: Punktuell begrenzte Option

Der von der Bayerischen Staatsregierung gegen das Altenpflegegesetz geführte Angriff zog die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes mit einer gestaffelten Begründung in Zweifel: Es fehle dem Bund bereits die Gesetzgebungskompetenz; insbesondere sei die konkurrierende Bundeszuständigkeit gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG nicht einschlägig.80 Selbst bei unterstellter Bundeskompetenz sei das Altenpflegegesetz aber - da nicht „erforderlich" im Sinne des neuen Art. 72 Abs. 2 GG - verfassungswidrig. 81 Der Zweite Senat gliedert seine entscheidungstragenden rechtlichen 82 Ausführungen dementsprechend in zwei Teile: in die Erörterung der Frage, ob dem Bund für den Erlaß des Altenpflegegesetzes die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG zustand,83 sowie in die Erörterung der Frage, ob der Bundesgesetzgeber eine bundesgesetzliche Regelung als „erforderlich" gemäß Art. 72 Abs. 2 GG ansehen durfte. 84 Nur im zweiten Teil gewinnt der „Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers" herausragende Bedeutung, aber selbst dort nicht in sämtlichen Auslegungspassagen. Die erstgenannte Frage beantwortet das Bundesverfassungsgericht, indem es, erstens, zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals „anderer Heilberuf' gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG neben der - „nicht unmittelbar" weiterhelfenden - Entstehungsgeschichte85 knapp auf Wortlaut 86 und systematischen Zusammenhang87 abstellt, Vgl. die Darstellung in BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 87 ff., hier Absatz-Nr. 88 sowie 91-111 (-114). «ι Dazu BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 89 und 115 - 119. 82 Den eigentlichen Entscheidungsgründen vorangestellt ist unter anderem eine zwar sehr informative, in ihrer ausladenden Ausführlichkeit (50 Absätze!) jedoch kaum durch ihre verfassungsrechtliche Erheblichkeit gerechtfertigte Schilderung der „aktuellen und künftigen Situation in der Altenpflege": BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 26-75 (soweit ersichtlich, rekurrieren allein die Ausführungen in Absatz-Nr. 366-369 auf diese Daten). 83 Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 153-278 (-285). 84 Dazu BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 288-390. 85 Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 158-168, die zitierte Wendung in Absatz-Nr. 158. Die Abwertung der Entstehungsgeschichte kontrastiert freilich mit der Aussage: „Der Heilberufsbegriff ist danach [ . . . ] weit auszulegen. Sinn und Zweck des Heilpraktikergesetzes war und ist es, möglichst jede nicht-ärztliche Tätigkeit auf dem Gebiet der Heilkunde zu erfassen [ . . . J. Diesen Zweck verfolgten auch die Vertreter in den

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bevor es entscheidend und ausführlich auf „Sinn und Zweck des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG" abhebt und eine Zuordnung auf der Grundlage einer - teleologisch geleiteten - „Gesamtbetrachtung" vornimmt. 88 Unter methodologischen Auspizien abweichend geht der Senat, zweitens, bei Auslegung und Subsumtion unter das Merkmal der „Zulassung" im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG vor: 89 Im Rahmen der - recht knapp und wenig aussagekräftig geratenen - interpretatorischen Aufbereitung dessen, was Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG unter „Zulassung [zu ärztlichen und anderen Heilberufen]" versteht, rekurriert der Senat ausschließlich auf die Entstehungsgeschichte, die freilich nur belege, „daß der Verfassunggeber nicht von einem klar definierten Begriff der Zulassung ausgegangen ist". 9 0 Erst im Rahmen der Subsumtion einzelner Regelungsgegenstände (Bezeichnungsschutz sowie Ausbildungsregelungen) unter das Merkmal der „Zulassung" bedient er sich - freilich ohne diese als solche zu auszuflaggen - systematischer und teleologischer Erwägungen.91 Daß bei der verfassungsgerichtlichen Auslegung des Kompetenztatbestandes gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG der Entstehungsgeschichte - und mit ihr: dem Verfassung(sgesetz)geber - exzeptionelle Aufmerksamkeit zuteil würde, läßt sich danach schwerlich behaupten. Der - Art. 72 Abs. 2 GG n.F. betreffende - zweite Teil der Entscheidungsgründe untergliedert sich in insgesamt vier Abschnitte: (1) die Bestimmung der Grundausrichtung der Erforderlichkeitsklausel (Stärkung der Position der Länder; Sicherstellung einer effektiven verfassungsgerichtlichen Überprüfung), 92 (2) die „Konkretisierung" der Tatbestandsvarianten der Erforderlichkeitsklausel („Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse", „Wahrung der Rechtseinheit", „Wahrung der Wirtschaftseinheit"), 93 (3) die Herausstellung umfassender verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte 94 sowie (4) die Überprüfung des Altenpflegegesetzes an den Ausschüssen bei der Grundgesetzfassung zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG (vgl. Protokoll der 7. Sitzung des Hauptausschusses vom 23. November 1948, Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/1949, S. 83 [90 f.])" (Absatz-Nr. 168). 86 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 169. 87 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 170-175. 88 Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 176-244. Die Ausführungen rekurrieren unter anderem auch auf systematische Erwägungen (Absatz-Nr. 217) sowie auf die „bisherige Staatspraxis" (Absatz-Nr. 218-229). 89 Dazu BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 245-277. 90 Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 247-248, Zitat: 247. 91 Beispielsweise BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 274: Abgrenzung zu den Kompetenztiteln aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 und 11 GG. Die Entstehungsgeschichte und der Zweck werden schließlich bemüht, um die These zu begründen, daß die eingeschränkte Bundeskompetenz für das Gesundheitswesen gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG „nicht durch eine erweiternde Auslegung anderer Kompetenztitel unterlaufen werden" dürfe (BVerfG, ebenda, Absatz-Nr. 278). 92 Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 287-316 (C.II. 1.-4.). 93 Näher BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 317-334 (C.H.5.). 94 Siehe BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 335-347 (C.H.6.).

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zuvor erarbeiteten Maßstäben (Subsumtion).95 Von den im engeren Sinne normauslegenden Abschnitten (1) bis (3) enthält nur deren erster eine ausführliche, geradezu detailversessene und auslegungsentscheidende Darstellung der Entstehungsgeschichte;96 selbst in diesem Abschnitt untermauert der Senat indes das anhand „genetischer" Auslegungsoperationen ermittelte Interpretationsergebnis durch - wenn auch knappe - teleologische wie grammatische Auslegungsmomente. 97 Zur Interpretation der drei in Art. 72 Abs. 2 GG als Voraussetzung zulässiger Bundesgesetzgebung genannten Ziele greift das Bundesverfassungsgericht nur für die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" sowie für die „Wahrung der Wirtschaftseinheit" neben vorherrschenden systematischen und weniger bedeutsamen grammatischen und teleologischen Erwägungen auf die Entstehungsgeschichte zurück. 98 Zur Bestimmung von Reichweite und Dichte verfassungsgerichtlicher Kontrolle en detail schließlich sucht man entstehungsgeschichtliche Reminiszenzen vergeblich; der Senat gibt sich noch nicht einmal die Mühe, seine Ausführungen einzelnen Auslegungsmethoden zuzuordnen. 99

3. Relativierung II: Auslegungspraktische, nicht auslegungstheoretische Option Trotz der - zumindest punktuell (oben 2.) - exponierten und prononcierten Behandlung subjektiv-historischer Auslegungsaspekte liest sich die Entscheidung unter dem Gesichtspunkt methodologischer Selbstreflexion des Senates seltsam zahm und knapp. Eine - auslegungstheoretische - Rechtfertigung des durchaus auffälligen interpretatorischen Vorgehens erachtet das Gericht offensichtlich nicht für 95 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 348-390 (C.H.7.). 96 Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 292-310, auch 311. 97 Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 312-313 (der in Absatz-Nr. 313 angesprochene Aspekt dürfte eher der systematischen denn der teleologischen Auslegung zuzurechnen sein) sowie 314-315. 98 Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 318-320 sowie 331-334. 99 Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 335-347. - Daß eine ausführliche Darstellung und eine nachhaltige Verwertung des Willens des Verfassungsgesetzgebers nur im Blick auf die Grundausrichtung, auf die Generallinie der Erforderlichkeitsklausel gemäß Art. 72 Abs. 2 GG stattfinden, läßt sich unter Rekurs auf den Beschluß des Plenums vom 11. Juni 1980 (BVerfGE 54, 277 [297 f.]) erklären: Dort ist ausgeführt (Wortlaut o.N. 54), daß den Regelungsabsichten des Gesetzgebers unter bestimmten Bedingungen „erhebliches Gewicht bei der Auslegung" zukomme - dies gelte „allerdings nur für die in dieser Regelung erkennbar ausgeprägten und in ihr angelegten Grundentscheidungen, Wertsetzungen und Regelungszwecke", nicht aber für „konkrete Vorstellungen [ . . . ] über die nähere Bedeutung oder Reichweite einer einzelnen Bestimmung, eines Normbestandteils oder eines Begriffs und ihrer Handhabung wie Wirkung". Da jedoch auch das Plenum eine Begründung seiner Ansicht schuldig bleibt, darf die - judikaturimmanente - Erklärung nicht kurzerhand als methodologisch akzeptable Rechtfertigung betrachtet werden.

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nötig. Mit gerade einmal drei auslegungstheoretischen Hinweisen begnügt sich die beileibe nicht wortkarge und interpretationsarme Entscheidung: Erstens dem - zu Art. 74 Abs. 1 Nr. 19, nicht hingegen zu Art. 72 Abs. 2 GG gegebenen - Hinweis, daß Entstehungsgeschichte und Staatspraxis bei der Auslegung von Kompetenzvorschriften besonderes Gewicht zukämen, 100 zweitens dem Hinweis auf das Bedürfnis „strikter Interpretation" sowohl hinsichtlich der Kompetenzmaterien der Art. 73 ff. GG als auch hinsichtlich der Erforderlichkeitsklausel gemäß Art. 72 Abs. 2 GG 1 0 1 und schließlich drittens dem Hinweis, daß „grundlegend veränderte Bedingungen, die eine Abweichung von dem eindeutigen Ergebnis der historischen Interpretation nahe legen könnten", schon deshalb nicht zu erkennen seien, „weil die Norm des Art. 72 Abs. 2 GG erst seit kurzer Zeit in Kraft ist". 1 0 2 Keiner der Hinweise ist, gemessen an der bisherigen Judikatur, revolutionär. Selbst der letzte Hinweis stellt eine nahezu wörtliche Wiederholung aus einem Urteil desselben Senats vom 20. März 2002 dar. 103 Im übrigen wirkt die Entscheidung sogar, soweit es die methodologische Darstellung betrifft, fast lieblos, unbekümmert, ja sogar wenig reflektiert, jedenfalls desinteressiert - stellt man unter anderem in Rechnung, (1) daß nicht einheitlich nach dem Kanon anerkannter Auslegungsmethoden vorgegangen wird, (2) daß selbst da, wo die vier Auslegungsmethoden ausdrücklich in Bezug genommen werden, deren Reihenfolge changiert, (3) daß eine Erörterung oder gar Problematisierung des Verhältnisses, zumindest der Reihenfolge der einzelnen Methoden zueinander unterbleibt. Man dürfte wohl nicht fehlgehen, wenn man dem Altenpflegeurteil - trotz eines (punktuell) spektakulären auslegungspraktischen Herausstreichens der Entstehungsgeschichte - insgesamt weitestgehende auslegungstheoretische Abstinenz, ja Unscheinbarkeit attestiert. Sehr viel deutlicher können methodenpraktische Auffälligkeit und methodentheoretische Unauffälligkeit nicht kontrastieren.

•oo Dazu BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 156. >oi Vgl. BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 289. Wie bereits ausgeführt (o.N. 71), handelt es sich dabei freilich - entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts - nicht um einen Satz der Verfassungsmethodik, sondern um einen solchen der Verfassungsdogmatik. Unbeschadet dessen gründet das Gericht darauf ersichtlich nicht den in concreto - herausragenden Stellenwert des genetischen Interpretation. '02 Zitat: BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 311. 103

Vgl. BVerfGE 105, 135 (158); dort freilich war diese methodologische Aussage auf die Gesetzesauslegung gemünzt, genauer: auf die Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung, die zum Zeitpunkt der Entscheidung rund zehn Jahre in Kraft stand. - Näher zu dieser Passage unten 5.

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4. Relativierung III: Der „ Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers" als bloßes Auslegungsmittel Sosehr der „Wille des verfassungsändernden Gesetzgebers" herausgestrichen wird, so wenig avanciert er doch zum Auslegungsziel - und damit unmittelbar zum Inhalt der auszulegenden Verfassungsnorm - , so sehr bleibt er doch auch im Altenpflegeurteil, was er schon immer im Rahmen der vom Verfassungsgericht favorisierten „objektiven" Theorie war: bloßes Auslegungsmittel. Dies wird an nichts deutlicher als daran, daß der Wille des Verfassung(sgesetz)gebers interpretationsmethodisch auf die „Entstehungsgeschichte" reduziert wird, daß Manifestationen dieses Regelungswillens allein in den die Gesetzesgeschichte dokumentierenden Materialien gesucht werden. 104 Damit jedoch werden die beiden bedeutsamsten, da unmittelbar normativ verbindlichen Manifestationen des Regelungswillens des historischen Gesetzgebers, nämlich der Wortlaut der Norm - also der Normtet - und der Regelungszusammenhang der Norm - also der Nomkontext - so behandelt, als gehörten sie nicht als integrale Bestandteile zu einer interpretativen Eruierung des Willens des Verfassung(sgesetz)gebers.

5. Relativierung IV: Eindeutig erklärter Normsetzerwillen bei einer „jungen " Verfassungsnorm Schließlich muß, soll die verfassungsgerichtliche Parteinahme für den tatsächlichen Willen des historischen Verfassungsgesetzgebers von 1994 auf der Folie der übrigen Verfassungsrechtsprechung zutreffend bewertet werden, in Rechnung gestellt werden, daß die konkrete Fallkonstellation durch das Zusammentreffen zweier gleichsam „interpretationstechnischer" Besonderheiten gekennzeichnet ist, die einer Verallgemeinerung enge Grenzen zieht: Zum einen liefert die Entstehungsgeschichte zu Art. 72 Abs. 2 GG n.F. nach - beifallswürdiger Auffassung des Zweiten Senats ein „eindeutiges [Auslegungs-]Ergebnis" 1()5 und «04 Vgl. nur BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 290, 292 ff., 311; entsprechend aus jüngerer Zeit BVerfG, Urteil vom 16. Januar 2003 (o.N. 36), Absatz-Nr. 82 ff., bes. 84: „Im Übrigen fehlen Gesetzesmaterialien, die den Willen des historischen Gesetzgebers deutlicher machen könnten." - Diese Vorgehensweise entspricht nahezu allgemeiner Übung und hängt eng mit der recht selten erkannten und deutlich seltener noch praktizierten Disjunktion von Auslegungsziel und Auslegungsmethode zusammen; vgl. besonders prononciert Schneider, Wille (o.N. 34), S. 903 ff., der - ausweislich des Haupttitels - über den „Willen des Verfassunggebers" zu schreiben beabsichtigt, dann aber doch - wie auch der Untertitel ankündigt - im wesentlichen nur die „Bedeutung genetischer und historischer Argumente für die Verfassungsinterpretation" erörtert (ebenda, S. 912 ff., 918 - im Anschluß an Christensen, Gesetzesbindung [o.N. 32], S. 54 ff., bes. 57, 60 und 61). 105 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 311.- Besonders eindrucksvoll die gerade „wegen der befürchteten Auseinandersetzungen um den Umfang der Justitiabilität" (BVerfG, ebenda, Absatz-Nr. 298) vom Vorsitzenden der Gemeinsamen Verfassungskommission, Henning Voscherau, zu Protokoll gegebene, mit „allgemeiner Zustimmung"

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„eine klare Anweisung des verfassungsändernden Gesetzgebers an das Bundesverfassungsgericht". 1 0 6 ' 1 0 7 Zum anderen steht die zu interpretierende Verfassungsvorschrift „erst seit kurzer Zeit" - zum konkreten Entscheidungszeitpunkt rund acht Jahre - in K r a f t , 1 0 8 was das Gericht zu dem Schluß führt, daß das zur Zeit der Entscheidung aktuelle Regelungsumfeld, in und auf dem die Vorschrift wirken soll, sich nicht „grundlegend verändert" hat gegenüber jenem Regelungsumfeld, auf dem und in dessen Anblick der Verfassungsgesetzgeber seinerzeit die Bestimmung in die Welt gerufen hat, mit der weiteren Folge, daß eine Abweichung von den Regelungsintentionen des Verfassungsgesetzgebers nicht gerechtfertigt sei. Ohne daß dies vom Senat explizit gemacht oder auch nur angedeutet würde, steht diese Erwägung - keine Abweichung vom Willen des Verfassung(sgesetz)gebers, wenn dieser eindeutig und die betreffende Norm noch jung ist - in methodologischer Nachbarschaft zu jener Rechtsprechung, die eine Heranziehung der Entstehungsgeschichte jedenfalls bei neuen Gesetzen, „für deren Auslegung sich feste Grundsätze noch nicht haben bilden können", für „unbedenklich" h ä l t , 1 0 9 und zu jener weitergehenden Rechtsprechung, der zufolge die Entstehungsgeschichte einer Norm bei deren Auslegung insbesondere dann „nicht völlig unberücksichaufgenommene Erklärung: „Da zwei Mitglieder der Gemeinsamen Verfassungskommission darauf hingewiesen haben, was immer wir hier täten, könne das Bundesverfassungsgericht per Federstrich wieder aufheben, liegt mir doch daran, festzustellen, daß die Gemeinsame Verfassungskommission Änderungen des Grundgesetzes deswegen zur Annahme empfiehlt, weil sie die Absicht hat, die in den Fünfzigerjahren begründete Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch den Verfassungsgeber zu ändern. Dies sollte für ein solches eventuelles Verfahren als unser gemeinsamer Wille im Protokoll festgehalten werden" (Protokoll der 11. Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 15. Oktober 1992, S. 19, auch in: Zur Sache 2/96, Bd. 1, S. 543 [561]; vom Zweiten Senat zitiert in BVerfG, ebenda, Absatz-Nr. 299). 106 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 292. Dadurch, daß der Regelungswille sich primär „gegen" die bisherige Judikatur des Bundesverfassungsgerichts richtet, erhält dieser bzw. dessen eventuelle Nichtberücksichtigung durch den Verfassungsexegeten - hier: das Bundesverfassungsgericht - eine dramatische, gleichsam verfassungsexistentielle Dimension: Der Hüter der Verfassung begehrt offen gegen deren Herrn auf, indem er ihm die Gefolgschaft versagt. 107 Vgl. außerdem BVerfGE 9, 89 (102), wonach das Gericht die Wahl unterschiedlicher Auslegungsmöglichkeiten „unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung" für eingeschränkt hält, „wenn ein eindeutiger Wille des Gesetzgebers vorliegt". 108 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 311; ebenso zuvor für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung bereits BVerfGE 105, 135 (158). 109 BVerfGE 1,117 (127). - Begreift man den Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte im Falle altersbedingter Insuffizienz der anderen Auslegungsmethoden als obligatorisch, so wird dieser Ansatz selbstwidersprüchlich: Denn wie kann es zu von den entstehungsgeschichtlichen Erkenntnissen abweichenden „festen Grundsätzen" der Normauslegung kommen, wenn in der „Jugendzeit" einer Norm die Entstehungsgeschichte voraussetzungsgemäß die einzige Grundlage der Auslegung bildet? Doch nur dann, wenn - in Verletzung des Grundsatzes, daß faute de mieux zunächst die Entstehungsgeschichte heranzuziehen sei - zu irgendeinem Zeitpunkt andere Auslegungsaspekte für entscheidend gehalten werden.

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tigt" bleiben dürfe, „wenn sich für ihre Auslegung feste Grundsätze noch nicht haben bilden können". 110

IV. Exkurs: Interpretatorische Halbwertzeit gesetzgeberischer Autorität Die Erwägung von Gründen, die eine interpretatorische Abweichung vom Willen des Normsetzers rechtfertigen sollen, muß indes in einem weiteren Rahmen gesehen und diskutiert werden. Das kann hier zwar nicht geleistet werden. Einige wenige Andeutungen mögen aber gleichwohl hilfreich sein, um das Terrain wenigstens zu markieren. Das Thema „Altern" von Gesetzen, das „Altern", gar Obsoletwerden (verfassungs)gesetzgeberischen Willens wird vom Bundesverfassungsgericht in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichen Kontexten angesprochen. Neben den beiden vorstehend genannten Varianten - einerseits eindeutige Willensbekundung bei junger Norm, 111 andererseits junge Norm, für die sich noch keine gefestigte Auslegungspraxis gebildet hat 1 1 2 - taucht das Alter einer Norm als auslegungsbeeinflussendes Kriterium noch in zwei 1 1 3 - durchaus gegenläufigen - Kontexten auf: Zum einen geht der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen seiner Rechtsprechung zur Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung 114 davon aus, daß „mit zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen Gesetzesbefehl und richterlicher Einzelfallentscheidung notwendig die Freiheit des Richters zur schöpferischen Fortbildung des Rechts [wächst]. Die Auslegung einer Gesetzesnorm kann nicht immer auf Dauer bei dem ihr zu ihrer Entstehungszeit beigelegten Sinn stehenbleiben".115 Zum anderen wird die Judikatur des Zweiten Senats, wonach die 110 BVerfGE 62, 1 (45); im konkreten Fall ging es mit Art. 68 GG um eine Verfassungsbestimmung, die angesichts der über 33 Jahre, die sie im Zeitpunkt des Urteils des Zweiten Senats vom 16. Februar 1983 in Geltung stand, nicht gerade als eine junge bezeichnet werden konnte. Vgl. dazu auch oben II.3. sowie nachfolgend IV. m Dazu BVerfGE 105, 135 (158); Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 311. 112 Vgl. BVerfGE 1, 117 (127); weitergehend BVerfGE 62, 1 (45). Vgl. überdies BVerfGE 27, 71 (84): „Die wegen der Neuartigkeit des Grundrechts [ . . . ] besonders bedeutsame Entstehungsgeschichte [ . . . ]".

ι· 3 Als dritter, hier nicht weiter verfolgter Kontext wäre der außerhalb des Verfassungsänderungsverfahrens gemäß Art. 79 GG sich vollziehende „Wandel" von Verfassungsnormen zu nennen. ι· 4 Die sich freilich nur auf einfaches Gesetzesrecht bezieht. us BVerfGE 34, 269 (288); vgl. auch BVerfGE 82, 6 (12); 98, 49 (59 f.). Die Ungenauigkeiten, die dem rechtsgewinnungstheoretischen Konzept eignen, welches der Erste Senat hier stillschweigend zugrunde legt, bringen sich auch in terminologischen Verwerfungen zum Ausdruck: Wenn der Richter das Recht schöpferisch fortbildet, dann dürfte es sich doch, streng genommen, nach dem Fortbildungsakt nicht mehr um die identische Norm, sondern um eine weitere, eine zweite Norm handeln. Wenn es sich aber nicht mehr um die identische Norm handelt, wie kann man dann noch von Auslegung sprechen? Wird daran nicht deutlich,

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„lapidare Sprachgestalt4' von Grundrechtsbestimmungen und anderen verfassungsgesetzlichen Garantienormen nur im „Blick auf das rechtliche wie historische Umfeld der Entstehung der Verfassungsnormen" zutreffend erfaßt werden könne, 116 dahin gedeutet, daß sich die Hinwendung zum Entstehungsgeschichtlichen und Historischen daraus erkläre, „daß mit zeitlichem Abstand zunehmend auch die Sicherheit schwindet, das ursprünglich Gemeinte gleichsam ,intuitiv' richtig zu erfassen". 117 Die Vorstellung eines dem „Altern" des (Verfassungs-)Gesetzes korrespondierenden Schwindens (verfassungs)gesetzgeberischer Autorität - gleichsam der Ablauf der interpretatorischen Halbwertzeit normsetzerischer Autorität - wirft freilich eine Reihe intrikater Rechtfertigungsfragen auf. Um nur eine zu skizzieren: Der Verweis darauf, daß die Anwendbarkeit einer alten Norm in einem neuen Kontext eben „Problemanalogie", „Konfliktkonvergenz" sowie „Sinnkongruenz" 118 voraussetze, ist so zutreffend wie zur intendierten Beweisführung untauglich. Denn die genannten Anwendbarkeitsvoraussetzungen dienen weit mehr zur Rechtfertigung der Gegenansicht: Es bedarf nicht der Begründung, warum die Entstehungsgeschichte auch noch nach Jahren der Auslegung und Anwendung einer Vorschrift interpretationsrelevant sein soll; 1 1 9 das Fehlen einer oder mehrerer Voraussetzungen führt nicht dazu, daß zur Auslegung nicht mehr auf den Willen des Normsetzers zurückgegriffen werden dürfe, sondern dazu, daß der Rechtsanwender der nach Maßgabe des gesetzgeberischen Willens ausgelegten - Norm keine normative Vorgabe für den von ihm zu entscheidenden Fall entnehmen, er also zur Lösung seines Falles nicht auf die betreffende Norm zurückgreifen kann. Bei dieser Konstellation stellt sich die Frage, ob dem Rechtsanwender positivrechtlich die Rechtsetzungskompetenz zukommt, die „Regelungslücke" durch Setzung einer neuen, abstrakt-generellen oder aber konkret-individuellen Norm zu schließen. Das jedoch ist keine Frage der Auslegung mehr.

daß die Frage des „Alterns" von Gesetzen weit weniger eine Frage der Auslegung denn der Kompetenz ist, die „veralteten" Gesetze zu ändern oder zu ersetzen? 116 BVerfGE 74, 51 (57); 74, 102 (116); 79, 127 (143 f.). Dazu näher oben bei und in N. 56. 117 So Schneider, Wille (o.N. 34), S. 909. us Dazu Schneider, Wille (o.N. 34), S. 918, 919, 920. 119

Da und insoweit es dem Normsetzer offensteht, die aus politischen, sozialen oder ökonomischen Gründen als unzulänglich empfundene Norm zu ändern oder aber anderen Normsetzern entsprechende Normänderungskompetenz zu delegieren, besteht kein Anlaß, die Autorität des betreffenden Normsetzers - über den methodologischen Umweg - in Frage zu stellen.

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V. Post scriptum: Auslegungstheoretische List auslegungspraktischer Vernunft Wenn auch das Altenpflegeurteil, wie gesehen, durchaus in der Kontinuität bisheriger, der „objektiven" Theorie verschriebener Verfassungsjudikatur steht, können doch durch die auslegungspraktische Demonstration, daß und wie ein „eindeutiges Ergebnis" 120 entstehungsgeschichtlicher Interpretation und „eine klare Anweisung des verfassungsändernden Gesetzgebers an das Bundesverfassungsgericht" 121 sich erheben lassen,122 sich mittelfristig auch tektonische Verschiebungen in Sachen Auslegungstheorie ereignen. In dem Maße nämlich, in dem der Verfassungsgesetzgeber - ermutigt und herausgefordert durch das Altenpflegeurteil seinen Regelungswillen selbstbewußt und deutlich, transparent und materialienwirksam artikuliert, wird sich auch in Karlsruhe immer drängender die Frage erheben, mit welcher Berechtigung der Hüter der Verfassung eigentlich den - allein verfassungschaffenden - Willen des Herrn der Verfassung beiseite schieben darf.

120 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 311. 121 BVerfG, Urteil vom 24. Oktober 2002 (o.N. 8), Absatz-Nr. 292. 122 Nebenbei hat das Verfassungsgericht damit - einmal mehr - den Beweis erbracht, daß es möglich ist, anhand des Normtextes, des Normkontextes sowie der Materialien Regelungsinhalte zu ermitteln, die dem Gesetzgeber - als juristischem Konstrukt, welches keinen realpsychischen Willen besitzt - als „seine" Willensäußerung zugerechnet werden können. 20 FS Schmitt Glaeser

Reservatrechte und föderale Ordnung Bayerns Rolle im Deutschen Kaiserreich von 1870/71 Von Karl Möckl

„Finis Bavariae!" Diese Befürchtung des bayerischen Ministers Ludwig von der Pfordten 1871 hat sich nicht bewahrheitet. Gleichwohl war die Reichsgründung von 1870/71 für Bayern ein tiefer Einschnitt in seiner Geschichte. Die Souveränitätspolitik Maximilian von Montgelas' hatte dem Land Perspektiven im europäischen Rahmen eröffnet, was sich in seiner Erhebung zum Königreich 1806 niedergeschlagen hatte. Diese Bedeutung vermochte Bayern nicht zu behaupten. Seine Eingliederung in den Deutschen Bund 1815 ließ den politischen Handlungsspielraum auf die mittelstaatliche Ebene mit Preußen und Österreich als Angelpunkte schrumpfen. König Maximilian II. suchte mit seiner Trias-Politik sowohl die Führung der klein- und mitteldeutschen Staaten, des dritten Deutschland, zu erlangen als auch ein Gleichgewicht zwischen Berlin und Wien herzustellen. Dieser Anspruch scheiterte an der Konkurrenzlage der deutschen Mittelstaaten, aber auch an der ökonomischen Dynamik in Deutschland. Beispielsweise entwickelte sich der Deutsche Zollverein von 1834 zu einem Zoll-Bund und wurde unter dem Einfluß Preußens vor allem in den 1860er Jahren zu einem Instrument der Politik. 1 Die innere Staatsbildung folgte der Richtung eines deutschen Einheitsstaates.2 Die deutsche Einigung war insofern ein realistisches Ziel, da zu keiner Zeit der Wille zur Ausgestaltung der Eigenstaatlichkeit einer nationalstaatlichen Lösung der deutschen Frage wirklich entgegenstand.

Weichenstellung Um dieses Ziel zu erreichen waren wichtige Vorentscheidungen notwendig. Die Krise des Deutschen Bundes 1864/66 genügte für sich allein nicht. Schon Leopold von Ranke hatte Maximilian II. nahe zu bringen versucht, daß es seine Aufgabe sei, der bayerischen Politik eine neue Orientierung zu geben, die seit der Reformation andauernde verhängnisvolle „Spaltung in der Nation'4 aufzuheben. 3 Die Bin1 Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, 1997, S. 395 ff. 2

Grundsätzlich vgl. Otto Hintze, Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1962, S. 470-496. 20*

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dung an Wien und Rom solle durch die zukunftsfähige an Berlin ersetzt werden. Die Betonung von Kultur, Wissenschaft und Religion kennzeichnete bereits die Politik Ludwigs I. Die von ihm konsequent katholische Ausrichtung sollte nunmehr durch die Öffnung gegenüber der norddeutsch-protestantisch-preußischen Kulturwelt korrigiert werden. Maximilian II. lehnte die politischen Konsequenzen ab, stellte aber mit der Berufung der sogenannten „Nordlichter" die Weichen um. Ohne Zweifel stärkte der König die auf wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Integration Deutschlands drängenden Kräfte in Bayern. Sie vermochten 1870/71 die preußische Lösung der deutschen Frage auch politisch durchzusetzen. Bismarcks Politik war maßgeblich, ebenso die europäische Mächtekonstellation.4 Aus bayerischer Perspektive sollte sich als entscheidend herausstellen, daß das politische Überleben des Landes im nationalen Rahmen gesichert wurde. Am Ausbau Bayerns als Kulturstaat hielt auch Ludwig II. fest, selbst wenn es ihm dabei nicht nur um Bayern, sondern mehr noch um sein Selbstverständnis als Monarch ging. Die Förderung der Wissenschaften, vor allem in ihrer praktischen Anwendung, schuf Verbindungen zu den Modernisierungsregionen Deutschlands. Gerade weil sich diese Prozesse evolutionär vollzogen, konnten sie die Bedingungen für die Bildung einer bayerischen Identität in einem föderal-deutschen Staatsgebilde hervorbringen. Der Abschied Bayerns von der Souveränitätspolitik 1871 ist aus heutiger Sicht ein Akt der politischen Vernunft. Die föderalistische Ordnung des Deutschen Reiches zeichnete sich 1871 ab. Schon während der Beitrittsverhandlungen der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund, der zum Deutschen Reich erweitert werden sollte, war Bismarck gewillt, der geschichtlichen Befindlichkeit der Beteiligten Rechnung zu tragen, indem das Reich zwar Einheit verkörpern, aber auch Bündnischarakter haben sollte. Der preußische Vorschlag „Grundzüge zu einer neuen Bundesverfassung" vom 10. Juni 1866 zur Reform des Deutschen Bundes sah auf militärischem Gebiet um den Preis einer kleindeutschen Lösung eine Zweiteilung Deutschlands zwischen Preußen und Bayern vor. Nach der Niederlage Österreichs im Deutschen Krieg wurde im Vorfrieden von Nikolsburg vom 26. Juli 1866 und im Frieden von Prag vom 23. August 1866 in Artikel II bzw. IV der Gedanke eines Norddeutschen Bundes und eines Süddeutschen Vereins, zeitweise einer „Süddeutschen Union", vorgeschlagen. Dieser Verein sollte, darauf deutet die Ergänzung des Artikels IV des Prager Friedens hin, „eine international unabhängige Existenz" haben. Die „nationale Verbindung" zwischen beiden Staatenvereinigungen war ihrer Verständigung vorbehalten. Die süddeutschen Staaten, vor allem Württemberg und Baden, woll3 Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem König Maximilian II. von Bayern gehalten, 1970; Heinrich Lutz, Rankes bayerische Politik. Nationale und weltgeschichtliche Perspektiven, Historische Zeitschrift, Bd. 244 (1987), S. 265-284. 4 Lothar Gall, Bismarcks Süddeutschlandpolitik 1866-1870, in: Eberhard Kolb (Hrsg., unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner), Europa vor dem Krieg von 1870 (= Schrift des Historischen Kollegs, Kolloquien 10), 1987, S. 23-32.

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ten keineswegs eine Suprematie Bayerns hinnehmen. Bismarck ging es in erster Linie um die Abwehr eines befürchteten Einflusses Frankreichs. Die zunächst geheimen, zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten abgeschlossenen Schutzund Trutzbündnisse vom 22. August 1866 überbrückten zwar die unterschiedlichen Interessen, dienten aber letztlich der preußischen Sache. Artikel 79 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 konnte daher festlegen, daß der „Eintritt der süddeutschen Staaten oder eines derselben in den Bund" auf den „Vorschlag des Bundespräsidiums im Wege der Bundesgesetzgebung" zu erfolgen habe. Als 1870 in der preußisch-französischen Krise der Ernstfall eintrat, verhandelte Bismarck mit den süddeutschen Staaten getrennt. Bayern konnte im Rahmen des zu gründenden Reiches nur noch eine quantitativ, aber keine qualitativ herausgehobene Stellung durchsetzen.5 Die Rechte, die im Beitritts vertrag Bayerns zur Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 23. November 1870 zwischen den beiden Staaten vereinbart und in die Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 18716 aufgenommen wurden, sind keine Souveränitätsrechte im eigentlichen Sinne, wohl aber sind sie geeignet, eine Sonderrolle Bayerns zu begründen und das geschichtlich bedingte Identitätsgefühl auch in der neuen politischen Ordnung des Reiches zu bewahren. Indem gerade für die Neubayern Frankens der Erfahrungshorizont München gesprengt wurde und mit Deutschland die nationale Welt wirklich wurde, ergaben sich aus dem Spannungsverhältnis neue Möglichkeiten staatsbürgerlicher Identifikation.

Reservatrechte Reservatrechte sind nach der Reichsverfassung Sonderrechte von Einzelstaaten, die ohne Zustimmung des berechtigten Bundesstaates nicht verändert oder aufgehoben werden können.7 Die Folge war, daß die berechtigten Staaten, Bayern, Württemberg und Baden, in Fragen ihrer Reservatrechte an der politischen Wil5

Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 1964, S. 201 f., 212 ff., 214, 217 ff., 227; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. III, 1963, S. 570 ff., 597 ff., 680 ff.; WolfD. Gruner, Bayern, Preußen und die süddeutschen Staaten 1866-1870, Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Bd. 37 (1974), S. 799-827; Eberhard Weis, Vom Kriegsausbruch zur Reichsgründung. Zur Politik des bayerischen Außenministers Graf Bray-Steinburg im Jahre 1870, ebda., Bd. 33 (1970), S. 787-810. Es ist zutreffend, daß in diesem Zusammenhang Bismarck gleichsam als Vorleistung finanzielle Forderungen Ludwigs II. zu erfüllen hatte. Aber Dieter Albrecht ist zuzustimmen, wenn er feststellt, daß man sich den Beitritt Bayerns „wenigstens bezahlen" lassen wollte, wenn er schon „quasi unausweichlich schien"; die hier behandelte verfassungspolitische Problematik ist davon unabhängig zu würdigen; s. Dieter Albrecht, König Ludwig II. von Bayern und Bismarck, Historische Zeitschrift, Bd. 270 (2000), S. 39-64, 58. 6 Huber (Hrsg.), Dokumente (Fn. 5), S. 264 ff., 288 ff. 7 Joseph Balduin Kittel, Die Bayerischen Reservatrechte, Diss. Würzburg 1892; Max Grünewald, Darstellung der bayerischen Reservatrechte, Diss. Borna-Leipzig 1908.

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lensbildung des Reiches nicht beteiligt waren.8 Reservatrechtsbewehrt im engeren Sinne waren nur die nicht gemeinschaftlichen Gegenstände mit den anderen Staaten, für Bayern also Post-, Eisenbahn- und Telegrafenwesen sowie Heimat-, Niederlassungs- und Verehelichungsverhältnisse. Bierbesteuerung, Immobiliarversicherungs- und Militärwesen galten als gemeinschaftliche Gegenstände der Staaten, waren daher stärker der allgemeinen Reichswillensbildung unterworfen. Das Reservatrecht der Branntweinbesteuerung ist 1887 durch Reichsgesetz eingeführt worden, war also weder verfassungs- noch vertragsmäßig begründet. Ähnliches gilt für den bayerischen Senat am Reichsmilitärgericht, 9 für das bayerische Notenbankprivileg, die Sonderregelungen für Bayern hinsichtlich der Zuständigkeiten der Normaleichungskommission des Reiches, des Rechtes Bayerns auf Vertretung Preußens im Bundesratsvorsitz, der Führung des Vorsitzes im Bundesratsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten und der besonderen Rechte im Bereich des Gesandtschaftswesens. 1 0 In der öffentlichen Diskussion mögen die Vorrechte Bayerns im Militärwesen mehr Aufmerksamkeit geweckt haben, aber die stärkste praktische Ausprägung der Sonderrolle bestand durch die Reservatrechte auf den Gebieten des Post-, Telegrafen- und Eisenbahnwesens. Der Staat Bayern hatte das Thum- und Taxis'sche Postwesen 1806/08 übernommen. Es waren nicht finanzielle Anreize, sondern geschichtliche Gründe und der Wille der betroffenen Beamtenschaft, die wesentlich dazu beitrugen, daß die bayerische Regierung mit dem Vertrag vom 23. November 1870 an der reservatrechtlichen Regelung festhielt. Bayern hatte sich zwar nach den reichsgesetzlichen Vorgaben zu richten, war aber autonom, was die Verwaltung anging. Dies betraf auch die Finanz Verwaltung und die selbständige Regelung der Verhältnisse mit den unmittelbar dem Reich nicht angehörenden Nachbarstaaten. Für Post und Telegrafie gab es in Bayern und Württemberg keine Reichsanstalten, sondern Staatsanstalten des jeweiligen Staates. Unter die Autonomie fielen die Tarifbestimmungen, eigene Postwertzeichen, Organisation der einschlägigen Behörden sowie die Ernennung und die Regelung der Rechtsverhältnisse der Beamten. Die Bedeutung dieser Reservatsrechte für Bayern und Württemberg zeigt sich auch in der Tatsache, daß ihre Beziehungen untereinander und zum Reich, also die Verhältnisse der drei Postverwaltungen, durch den Postvertrag vom 23. November 1867 mit den Änderungen vom 9. November 1872 und den Telegrafenvereinsvertrag vom 25. Oktober 1868 mit den Änderungen vom 1. Januar 1872 geregelt wurden. Die Gründung des Postmuseums 1902 in Nürnberg unterstreicht diese Entwicklung. Ähnlich weitgehend sind die bayerischen Rechte auf dem Gebiet des Eisenbahnwesens. Das Reservat bezieht sich auf die Bereiche der Gesetzgebung, Verwaltung und Aufsicht. 11

8 Art. 7 Abs. 4 der Reichsverfassung. Max von Seydel, Commentar zur Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich, 2. Aufl. 1897, S. 147. 9 Karl Möckl, Die Prinzregentenzeit, 1972, S. 413-425. 10 Huber (Hrsg.), Dokumente (Fn. 5), S. 265 f., 291 -293.

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Der Charakter der Sonderrolle Bayerns im Kaiserreich zeigt sich vor allem in den Möglichkeiten, die Reservatrechte zu ändern oder aufzuheben. Bei den Verhandlungen 1870/71 bestand kein Zweifel, daß das Reich die Kompetenz-Kompetenz in Verfassungsfragen habe. Das belegen die Äußerungen des bayerischen Ministers Johann von Lutz und des württembergischen Ministers Hermann von Mittnacht vor den jeweiligen Landtagen. Darüber hinaus bestand in der Gesetzgebung eine Tendenz der Zuständigkeitserweiterung des Reiches, bei gleichzeitiger Festlegung der Rechte der Einzelstaaten. Wichtig war aber auch, in welcher Weise die Zustimmung des berechtigten Bundesstaates erfolgen sollte. Zunächst hatte der Bundesrat, das heißt die bevollmächtigten Mitglieder des Bundes, sein Votum abzugeben. Bayern führte sechs Stimmen, die von höchstens sechs Bevollmächtigten geführt wurden und nur einheitlich abgegeben werden konnten. Unbestritten war die Rechtsauffassung, daß bei Nichteinheitlichkeit der Bevollmächtigten „ihre Stimmen als nicht instruiert zu erachten" sind. 12 Auch stellte sich die Frage, ob der jeweilige Landtag, in Bayern beide Kammern, Reichsrat und Kammer der Abgeordneten, an der Instruierung zu beteiligen seien. Der bayerische Minister Johann von Lutz vertrat sowohl bei den Versailler Verhandlungen als auch im Reichstag und im bayerischen Landtag vehement die Auffassung, daß unter „Zustimmung des berechtigten Bundesstaates" keineswegs ein Mitwirkungsrecht „aller gesetzgebenden Faktoren", also vor allem der Landtage zu verstehen sei. Die Reichsgesetzgebung, auch die Verfassungsänderungsgesetzgebung, habe ausschließlich durch Bundesrat und Reichstag zu erfolgen. Reichsrecht brach Landesrecht. Gegenteilige Anträge lehnte der bayerische Landtag ab und die württembergische Kammer der Abgeordneten beschloß sogar, daß ihr Mitwirkungsrecht nicht gegeben sei. Auch eine nachträgliche Zustimmung des berechtigten Bundesstaates wurde im Falle einer Aufhebung oder Abänderung der Reservatrechte für möglich angesehen. An der streng staatsrechtlichen Interpretation hielt von Lutz fest. Seine Nachfolger, von Crailsheim und von Podewils, unterschieden aber vom staatsrechtlichen Gebot die Frage der politischen Klugheit und holten bei der Änderung des Reservatrechtes zur Branntweinbesteuerung 1887 und 1899 die Zustimmung des bayerischen Landtages ein. 13 Die Bedeutung der Diskussion um die Reservatrechte und die sich daraus entwickelnde politische Praxis war, daß die Reichsintegration in die Form eines Föderalismus gegossen wurde, wie er in Grundzügen auf Dauer von Bestand sein sollte. Bayern wuchs dabei eine Führungsrolle zu, die sich das Land in Zeiten des Deutschen Bundes immer gewünscht hatte. Maximilian II. hatte sich einem Mentalitätswandel geöffnet und eine Modernisierungspolitik eingeleitet, die im Kern nur im Rahmen eines kleindeutschen Nationalstaates umsetzbar war. Die Maßnahmen zur Förderung einer modernen Erwerbsgesellschaft erfaßten nicht nur die Regierungs11 Max von Seydel, Bayerisches Staatsrecht, Bd. 5, 1890/91, S. 519 ff., 534 ff.; ders., Commentar (Fn. 8), S. 268 ff., 283 ff. 12 Zit. Seydel, Commentar (Fn. 8), S. 133, 417 f., 420 ff. 13 Seydel, Commentar (Fn. 8), S. 426 Zit.; Grünewald (Fn. 7), S. 9, 11, 37 ff.

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ebene, sondern führten zu einem Umdenken in Ministerialbürokratie und Verwaltung. 14 Die Entscheidung für eine von Preußen gelenkte Zollpolitik machte die Entwicklung unumkehrbar. Auf diesem Hintergrund wurde die preußische Drohung der Kündigung des Deutschen Zollvereins zu einem immer wichtigeren politischen Druckmittel in der Reichsgründungszeit. Als Bayern noch in den Novemberverhandlungen 1870 an der Idee eines „weiteren Bundes" festhielt, zog Bismarck sein Angebot der „Unkündbarkeit des Zollvereins" zurück, worauf die bayerischen Vertreter den Eintritt Bayerns in den Norddeutschen Bund ohne diese Bedingung annahmen.15 Die Achse bayerischer Politik Paris-München-Wien hatte sich endgültig gedreht. Die Vektoren der wirtschaftlichen Modernisierung und der politischen Entwicklung wiesen für Bayern in dieselbe Richtung. Träger dieser Entwicklung waren nicht nur die kleindeutsch eingestellten politischen Kräfte, vielmehr ebenso ein, vor allem in den Städten wirkendes, auf industrielle Entwicklung drängendes neubayerisches Wirtschaftsbürgertum 16 und ein auf Reformen beharrendes hohes Beamtentum, das in wachsendem Maß aus dem protestantischen Franken kam und die Zukunft Bayerns am besten in einer engen Verbindung mit Berlin aufgehoben sah. Für sie war dieses nationalstaatliche Modell normativ alternativlos. Zu den exponierten Persönlichkeiten zählte der aus Münnerstadt stammende Johann von Lutz. Er wirkte in Nürnberg, wurde schließlich nach München berufen und war später Vorsitzender im Ministerrat. 17 Bayern opferte seine Souveränität und erlangte im neuen deutschen Reich eine mit Reservatrechten bewehrte Sonderstellung, die ihm soviel Eigenständigkeit ließ, daß es profilbildend für den deutschen Föderalismus wirken konnte. Der Erfolg liegt auf der Hand. Das Land hat nicht nur die Katastrophen von 1945 und den Zerfall des deutschen Nationalstaates überlebt, sondern besitzt nach der Wiedervereinigung 1989/90 gerade wegen seiner Rolle als Hort des Föderalismus beste europäische Perspektiven.

Das Reich und Preußen 1870/71 mußten Bayern und die anderen deutschen Staaten das Übergewicht Berlins hinnehmen. Aber auch Preußen sah sich mit der Reichsgründung vor große 14 Vgl. die kluge und grundlegende Studie von Irene Burkhardt, Das Verhältnis von Wirtschaft und Verwaltung in Bayern während der Anfänge der Industrialisierung (1834- 1868) (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 64), 2001. 15 Otto Becker/Alexander Scharff (Hrsg.), Bismarcks Ringen um Deutschlands Gestaltung, 1958, S. 728 ff. 16 Hubert Kiesewetter, Regionale Industrialisierung im Zeitalter der Reichsgründung, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 38-60; Werner K. Blessing, Unternehmer in Oberfranken. Zu einer industriellen Lebenswelt des frühen 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Fränkische Landesforschung, Bd. 60 (= Festschrift Rudolf Endres zum 65. Geburtstag), 2000, S. 566-589. 17 Karl Möckl, Johann (Freiherr von) Lutz (1826-1890), in: Fränkische Lebensbilder, Bd. 14, 1991, S. 211-242.

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Herausforderungen gestellt. Bismarck hat das Problem angesprochen: „Wir hatten und wir haben ja auch als Preußen ein besonderes Nationalgefühl, ursprünglich eine Abzweigung vom großen deutschen. Im Grunde hat es nicht mehr Berechtigung als der spezifische Patriotismus deutscher Staaten. Es verstand sich für mich von selbst, daß ich dieses preußische Bewußtsein, indem ich aufgewachsen war, sehr lebhaft empfand; sobald ich aber überzeugt war, daß das preußische Nationalgefühl der Amboß sei zum Zusammenschmieden der anderen, habe ich aufgehört, einseitig preußische Ziele zu verfolgen." 18 Bismarck hat sein Ziel nicht erreicht. Es gelang ihm nicht, die Tugenden des altpreußischen Verwaltungsstaates, Pflichtgefühl, Rechtsbewußtsein, Leistungswille, Gerechtigkeit, Toleranz und Modernisierungsbereitschaft zur Grundlage des politischen Systems des deutschen Nationalstaates zu machen. Der Ausbau des Verfassungsstaates im parlamentarischen Sinne blieb ungenügend. Adelsprivilegien bestanden fort und vor allem in Ostelbien wurden Formen der Gutsherrschaft konserviert. Diesen Tendenzen wurde durch die Verbindung mit den konservativen Gruppen im Beamtenapparat und Offizierskorps auf der Grundlage des in Preußen geltenden Dreiklassenwahlrechts Dauer verliehen. Der befürchtete Zerfall des altpreußischen Staatsgedankens protestantischer Prägung auf dem Hintergrund einer Romantisierung des friderizianischen Preußen führte zu einer Auseinanderentwicklung von Reichsidee und preußischem Staatsverständnis, vor allem in der wilhelminischen Zeit. Den Zwiespalt nicht durch Verfassungsreform, wie sie seit der Wende zum 20. Jahrhundert immer wieder angemahnt wurde, überwunden zu haben, darin liegt das Versagen der Politik jener Zeit. 19 Es besteht gar kein Zweifel, daß in der Balance zwischen Reich und Bundesstaaten vor allem Preußen zum Bollwerk gegen die Demokratisierung des Reiches wurde. 20 Aber auch die Einzelstaaten verloren an Gewicht und es entwickelte sich in der Verfassungswirklichkeit ein unitarisch-kooperativer Bundesstaat. Die Landesgesetzgebung reduzierte sich vielfach auf bloße Mitwirkungsrechte. Der nachmalige Reichskanzler und Vorsitzende des bayerischen Ministerrates Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst brachte den Mangel nach seinem Rücktritt in der bayerischen Kammer der Reichsräte am 30. Dezember 1870 deutlich zum Ausdruck: „Ich gestehe übrigens offen, daß mir der Wert mancher der in dem Vertrage enthaltenen Reservatrechte für Bayern selbst mehr als zweifelhaft erscheint. Ich hätte gewünscht, daß weniger Gewicht auf die Sicherung des Partikularismus, auf Erhaltung einzelner Institutionen und Gesetzgebungsbruchteile für die spezielle bayeri18

Ansprache Otto von Bismarcks am 14. April 1891, in: Werke in Auswahl, 8. Bd., Tl.B. (= Ausgew. Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, Bd. Xb), 1892, S. 73. 19 Heinrich Bornkamm, Die Staatsidee im Kulturkampf, 1950; Siegfried A. Kaehler, Studien zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1961; Ulrich Scheuner, Der Staatsgedanke Preußens (= Studien zum Deutschtum im Osten, 2), 1983; Gerhard A. Ritter (Hrsg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung. Zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland, 1974. 20 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866- 1918, Bd. 2, 1992, S. 93.

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sehe Regierungstätigkeit, als darauf gelegt worden wäre, daß in der deutschen Gemeinsamkeit nach föderativem Prinzip überall die Teilnahme Bayerns an der Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten gewahrt geblieben wäre." 21 In der Tat trafen in der Folgezeit die für die Reichspolitik wichtigsten Entscheidungen nicht die Landtage der Einzelstaaten, sondern die Regierungsvertreter im Bundesrat auf dem Wege einer intergouvernementalen Kooperation. Die bayerische Abgeordnetenkammer wurde selbst in wichtigen Angelegenheiten zur „Ratifikationsinstanz", oft auch um den Preis der Spaltung einer oppositionellen Mehrheit des Landtages. Anzuführen sind in diesem Zusammenhang unter anderem so wichtige Fragen wie 1870 der Kriegseintritt Bayerns ohne formelle Erklärung, die Entmündigung Ludwigs II. 1886, die Verabschiedung der Militärstrafgerichtsordnung von 1898 oder die Julikrise von 1914.22 Die Gestaltungsmöglichkeit des Parlaments reduzierte sich darauf, Regierungsentscheidungen mit Ja oder Nein, de facto aber mit Ja beantworten zu müssen. Wirksame Opposition war nur im Bundesrat möglich. Aber hier bestand das verfassungsmäßige Übergewicht Preußens, verstärkt durch die Schwäche der bayerischen Regierungen, die bis 1912 gegen eine oppositionelle Mehrheit in der Abgeordnetenkammer zu regieren hatten. Der Einfluß der preußischen Gesandten in München konnte Dimensionen einer „Reichsstatthalterschaft" annehmen. Dies traf vor allem auf die Gesandten Graf Georg von Werthern-Beichlingen und Fürst Philipp Eulenburg-Hertefeld zu. So äußert Letzterer in einem Brief von 25. Januar 1891 an Staatssekretär Marschall von Bieberstein: „Folgendes möchte ich nun mit dringender Bitte um Berücksichtigung bemerken: Der Herr Reichskanzler steht auf dem Standpunkt, daß er die Reservatsrechte dauernd nicht für haltbar ansieht. Der Kaiser sagte mir, daß sie bald einmal aufhören müßten."23 Die Lage macht deutlich, warum jene Rechte Bayerns, die eine Mitwirkung an der Verwaltung des Reiches beinhalteten, an Gewicht gewannen. Die Steigerung der Symbolik der Reservatrechte gerade in wilhelminischer Zeit verschleiert auch eine Tendenz zur „Entparlamentarisierung". Das bedeutet aber nicht, daß die Abgeordnetenkammer nicht entschieden und die Funktion eines Diskussionsforums nicht ausgeübt hätte, vielmehr nahm sie ihre Kontrollfunktion immer weniger wahr und konnte den sich seit den 1890er Jahren nachhaltig verstärkenden Willen der Bevölkerung zur Partizipation 24 verfassungspolitisch nur höchst 21

Hohenlohe-Schillingsfürst,

Fürst Chlodwig zu, Denkwürdigkeiten, Bd. 2, 4. Aufl. 1907,

S. 39. 22

Michael Doeberl, Bayern und die Bismarck'sche Reichsgründung, 1925, S. 39 ff.; Gruner (Fn. 5); Möckl (Fn. 9), Kap. I I / 2 und IV/3. 2 3 Zit. nach Möckl (Fn. 9), S. 358. 24 Grundlegend zu diesem Thema im Verfassungsstaat des Grundgesetzes Walter Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 31 (1973), S. 179 ff.; ders., Die Position der Bürger als Beteiligte im Entscheidungsverfahren gestaltender Verwaltung, in: Lerche/Schmitt Glaeser/ Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, S. 35-96.

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ungenügend umsetzen. Die (Erste) Kammer der Reichsräte wirkte eher hemmend. Die Verantwortlichkeiten waren für den Bürger kaum zuzuordnen, da die außerparlamentarische Kooperation zwischen gesellschaftlichen Interessengruppen, Parteien bzw. Landtagsopposition und Ministern zunahm. Der Briefwechsel des Abgeordneten „Josef Filser" von Ludwig Thoma gibt mit dem Mittel unübertroffener politischer Satire Einblicke in diese politische Lebenswelt.25 In Einzelfällen konnte die informelle Zusammenarbeit, vor allem wenn sie über Parteigrenzen hinweg erfolgte, zu beachtlichen Erfolgen führen. So geschehen im Falle der Reform des Landtagswahlrechts 1906, die vom Bayerischen Zentrum und der Sozialdemokratischen Partei gemeinsam bewerkstelligt wurde. Der Effizienzgewinn derartiger Entscheidungsprozesse lag für Bayern auf der Hand, konnte aber durch die immanenten Blockademöglichkeiten trotz aller Bemühungen nicht in verfassungspolitische Reformen umgesetzt werden. Aus dieser Sicht wird deutlich, warum sich 1918 die Meinung durchsetzte, daß die politische Krise allein mit dem Mittel der Revolution gemeistert werden könne.

Föderale Ordnung Indem mit der Reichsgründung die preußische Verfassungsentwicklung eingefroren wurde, kamen die modernen Impulse der Verbindung des preußischen Verwaltungsstaates mit dem süddeutschen konstitutionellen Staatsverständnis nicht ausreichend zum Tragen. Die Disparität konnte die föderale Identitätsbildung Bayerns nicht verhindern, ließ aber ihre Möglichkeiten auch nicht zur Entfaltung kommen. Die Regierungen der Einzelstaaten und der Parlamentarismus, wie er im Reichstag zum Ausdruck kam, standen sich zu fern. Die föderalen Regierungen ergaben sich über das Medium des Bundesrates dem preußischen Staatsverständnis. Dessen Kern war, das Parlament zwar als Mediator zur Gesellschaft zu nutzen, aber ihm gleichzeitig gestaltenden Einfluß auf die Institutionen des Staates, Beamtentum, Offizierskorps und Diplomatie zu verwehren. Otto von Bismarck konnte Bayern und den anderen deutschen Gliedstaaten weitreichende Reservatrechte gewähren, da die föderale Struktur der Reichsverfassung nicht nur die Dominanz des preußischen Verwaltungsstaates garantierte, sondern auch der Parlamentarisierung des Reiches und der Bundesstaaten entgegenwirkte. Auf diesem Hintergrund konnte sich in wilhelminischer Zeit in der Verfassungspraxis ein beherrschendes nationales Kaisertum durchsetzen, das durch die Illusion einer souveränen Stellung der Einzelstaaten noch verstärkt wurde. 26 25 Ludwig Thoma, Briefwechsel eines bayerischen Landtagsabgeordneten, 1909, Forts. 1912. 2 6 Karl Möckl, Der „unvollendete" Föderalismus des zweiten deutschen Kaiserreiches, in: John C. G. Röhl (Hrsg., unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner), Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 17), 1991, S. 71-76.

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In Bayern erzeugte die konkrete Bedeutung der Reservatrechte und die Überhöhung föderalen Selbstgefühls im deutschen nationalen Rahmen ein Identitätsgefühl, das nicht mehr partikularistisch war, sondern zwei Seiten ein und derselben Medaille darstellte. Die Diskussionen um die Reservatrechte als Teil der Reichsreformbestrebungen in der Weimarer Republik auf den Gebieten des Postwesens, der Heeresverfassung sowie der Branntwein- und Bierbesteuerung zeigen geradezu eine Mythisierung der Bismarck'sehen Reichs Verfassung als Ausdruck des Ideals föderaler Ordnung überhaupt.

III. Rechtsschutz, Verfahren

Zur organisations- und verfahrensnormierenden Kraft der Grundrechte Von Hans Heinrich Rupp

I. Die Einsicht, daß Organisation und Verfahren des Rechts- und Verfassungsstaates dem Freiheitsschutz der Bürger entsprechen müssen, also in ihnen die Freiheitsrechte wirksam werden, ist heute in der deutschen Verfassungslehre unbestritten und geradezu zum Schlagwort geworden: Gewaltentrennung, Bindung aller Gewalten an die Verfassung, Gesetzesvorrang und Gesetzesvorbehalt, Fairneß und Transparenz der Entscheidungen, Individualrechtsschutz durch unabhängige Gerichte sind dafür ebenso Beispiele wie die Selbstverständlichkeit, daß materielle Rechte ohne geeignete Durchsetzungsverfahren wenig wert sind. Beispielhaft für diese Einsicht ist vor allem der vielzitierte Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 20. 12. 1979 - Atomkraftwerk Mühlheim-Kärlich. 1 Das Gericht sah sich seinerzeit vor die Frage gestellt, ob im atomrechtlichen Genehmigungsverfahren die Anwohner aus Gründen des vorbeugenden Grundrechtsschutzes einen verfahrensrechtlichen Anspruch auf Einhaltung der Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen der Genehmigung besäßen. Das Gericht hat diese Frage eindeutig bejaht und ist der Auffassung entgegengetreten, das atomrechtliche Genehmigungsverfahren lasse nicht erkennen, daß es Anhörungs- und Mitwirkungsrechte von Anwohnern gewähre. Die vorgeschriebene Bekanntmachung und Beteiligung Dritter diene der Ordnung des Verfahrens und solle die Genehmigungsbehörde in den Stand versetzen, alle für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Für die Beteiligung solcher Personen, die durch die Errichtung der Anlage eine Beeinträchtigung ihres Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG befürchteten, sei deshalb nach dem Gesetz kein Raum.2 Demgegenüber stellt das Bundesverfassungsgericht fest, „daß der Grundrechtsschutz weitgehend auch durch die Gestaltung des Verfahrens zu bewirken ist und daß die Grundrechte demgemäß nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht beeinflussen, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist 44 . 3 Demgemäß sei auch das verfahrensrechtliche Beteiligungsrecht der genannten Personen gerichtlich durchsetzbar. Konrad ι BVerfGE 53, 30. 2 BVerfGE 53, 30 (63). 3 BVerfGE 53, 30 (65).

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Hesse, der als Richter an der Entscheidung mitwirkte, hatte bereits 1978 die neue Linie des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtsverwirklichung durch Organisation und Verfahren dargestellt und positiv gewürdigt. 4 Sie ist inzwischen zum Gemeingut geworden, so daß darauf nicht näher einzugehen ist.

II. Eine ganz andere und wesentlich kompliziertere Facette der organisationsnormierenden Kraft der Grundrechte betrifft die Frage, ob und in welcher Weise Individualgrundrechte auch im Inneren von Verbandsgebilden - seien sie öffentlichrechtlicher oder privatrechtlicher Natur - auf deren Organisation und Entscheidungsverfahren einwirken. Diese Frage ist - was vielfach nicht gesehen wird 5 weder identisch mit dem soeben dargestellten Problem der Einwirkung von Grundrechten Außenstehender auf Organisation und Verfahren einer Organisation, noch hat sie unmittelbar etwas zu tun mit dem vielerörterten Problem der Grundrechtsfähigkeit von Verbandsgebilden des privaten oder öffentlichen Rechts als solchen (Art. 19 Abs. 3 GG). Denn auch im letzteren Fall geht es um das Außenverhältnis des Verbandes, nicht um die grundrechtliche Struktur in seinem Inneren. Zu diesem Problem haben sich das Bundesverfassungsgericht und im allgemeinen auch die Literatur nur spärlich und ausweichend geäußert.6 Zum ersten Mal begegnete das Bundesverfassungsgericht diesem Problembereich im Jahr 1973.7 Es ging um die Organisation und das Verfahren innerhalb der Universitäten und die Frage, ob und inwieweit hier das Freiheitsgrundrecht der Forschung, Wissenschaft und Lehre des Art. 5 Abs. 3 GG eine Rolle spiele. Hier folgt das Gericht im Ergebnis, nicht in der Methode, der im Verfassungsbeschwerdeverfahren vorgetragenen Argumentation, die geltend gemacht hatte, im anhängigen Prozeß gehe es nicht um das Jedermann-Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG, sondern allein um die Frage, ob und auf welche Weise die Norm des Art. 5 Abs. 3 GG auch auf die innere Organisation und Verfahrensstrukturen einer Universität gestaltenden Einfluß besitze. Diese Frage wurde mit der Begründung bejaht, um der Freiheit von Forschung und Lehre willen partizipierten an diesem Grundrecht nicht nur die Lehrenden, sondern auch diejenigen, denen die Freiheit von Wissenschaft und Lehre zugute komme.8 Denn eine kanalisierte Lehre bedinge ein kanalisiertes Aufnehmen und eine freiheitswid4 EuGZ 1978, S. 427. 5 So etwa Erhard Denninger, Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung, in: HStR V, § 113 Rn. 3. 6 Vgl. zuletzt etwa Thomas Groß, Wissenschaftsadäquates Wissenschaftsrecht, WissR 35 (2002), S. 307 7 BVerfGE 35, 79. 8 H. H. Rupp, Plädoyer vor dem Bundesverfassungsgericht am 5. 12. 1972: Hochschulorganisation und die Freiheit der Wissenschaft und Lehre, in: Um Recht und Freiheit, FS für Frh. von der Heidte, Bd. II, 1977, S. 1167 ff.; ders., Demokratie und Wissenschaftsverwaltung, Bd. 50 der Schriftenreihe der Hochschule Speyer, 1972, S. 611.

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rige Verengung des Informations- und Argumentationsspektrums, ein Zusammenhang also, wie er auch im Verhältnis von Presse-, Informations- und Meinungsbildungsfreiheit bestünde. Die Wissenschafts- und Lehrfreiheit nehme der Hochschullehrer zwar nicht als „Jedermannsrecht" wahr; doch müßten in der Universität die Freiheit von Forschung und Lehre als verfassungsrangige Prinzipien gelten; deshalb wachse die Rolle des Vermittlers von forschungsgetragener Lehre den Professoren zu; sie seien in dieser Hinsicht also gewissermaßen „gekorene" Grundrechtssubjekte. Die allen Grundrechten gemeinsame horizontale Entfaltung der Grundrechte des einen durch die Grundrechte der anderen sowie die ebenfalls in Deutschland vernachlässigte Interdependenz von Verbandsorganisation und Freiheitsgrundrechten zu beachten, sei Aufgabe des die Organisation und Entscheidungsverfahren innerhalb der Universität festlegenden Gesetzgebers. Das Bundesverfassungsgericht argumentierte anders, kommt aber zu ähnlichen Ergebnissen. Es sieht in der „Wertentscheidung" für die Wissenschafts- und Lehrfreiheit den Schlüssel zur Problemlösung, verneint allerdings zunächst, daß die Garantie der Wissenschaftsfreiheit das überlieferte Strukturmodell der deutschen Universität festlege: sie schreibe vielmehr überhaupt keine bestimmte Organisationsform des Wissenschaftsbetriebs an den Hochschulen vor. Doch müßten gleichwohl die Organisationsnormen den Hochschulangehörigen, „insbesondere den Hochschullehrern, einen möglichst breiten Raum für die freie wissenschaftliche Betätigung sichern". Daraus hat das Gericht eine ganze Reihe von Konsequenzen für die Organisation, die Zusammensetzung der Kollegialorgane und die innerhochschulischen Entscheidungsprozeduren gezogen und das seinerzeit im Streit stehende Modell der Gruppenuniversität des niedersächsischen Vorschaltgesetzes wegen Verletzung des Art. 5 Abs. 3 GG zum großen Teil für verfassungswidrig erklärt. Wie schwach die Einsicht in die organisationsbestimmende Kraft der Grundrechte damals noch war, erhellt auch aus den dissentierenden Voten des Richters Helmut Simon und der Richterin Wiltraut Rupp-v. Brünneck zu diesem Urteil. 9 Ihre Grundthese ist, daß „formale Organisationsnormen ... ambivalent in dem Sinne" seien, „keineswegs notwendig zu Einwirkungen in den Kernbereich des Unabstimmbaren zu führen" 10 und daß infolgedessen die vom niedersächsischen Vorschaltgesetz gewählte Form der Gruppenuniversität grundrechtlich nicht zu beanstanden sei. Bemerkenswert ist freilich die Kritik an dem Argument der „Wertentscheidung" der Wissenschaftsfreiheit, auf das die Senatsmehrheit ihre Entscheidung gestützt habe. Doch damit wird in der Tat ein Element im Argumentationshaushalt des Bundesverfassungsgerichts beanstandet, auf das die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung - trotz aller berechtigter Kritik - immer wieder zurückgreift, vor allem dann, wenn das Gericht kein anderes Argument zur Hand hat.

9 BVerfGE 35, 148 ff. >o BVerfGE 35, 151. 21 FS Schmitt Glaeser

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Als zweites Problembeispiel der Verfahrens- und organisationsbestimmenden Kraft von Grundrechten sei das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Unternehmen herausgegriffen, wie sie das Mitbestimmungsgesetz vom 4. 5. 1976 festgelegt hatte. Dieses Gesetz war außerordentlich umstritten, wurde von einer Flut rechtsgutachterlicher und literarischer Stellungnahmen des Für und Wider begleitet und führte schließlich zu einem Prozeß vor dem Ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts und zu dem Urteil vom 1. März 1979.11 Die Ausbeute von Erkenntnissen über das Verhältnis von Organisation und Grundrechten und über das hier zu behandelnde Thema der organisations- und verfahrensnormierenden Kraft der Grundrechte war allerdings dürftig, obwohl dieses Thema hier, wo es um die Mitbestimmung von Arbeitnehmern an unternehmerischen Entscheidungen der Unternehmenseigner ging, geradezu auf der Hand lag. Das Gericht beginnt seine rechtlichen Ausführungen mit der Feststellung, Maßstäbe der verfassungsrechtlichen Prüfung seien die „Einzelgrundrechte, welche die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen und Grenzen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Einführung der erweiterten Mitbestimmung markieren". 12 Es nimmt insoweit Stellung zu den Argumenten der Antragsteller, 13 wonach die Grundrechte nicht nur subjektive Rechte, sondern Grundsatznormen seien, die auch das Privatrecht und die Wirtschaftsordnung beherrschten und in dem sozial interdependenten Zusammenspiel von allgemeiner Handlungsfreiheit, Berufs-, Eigentums-, Koalitions-, Vereinigungsfreiheit und Freizügigkeit ein hochkomplexes feinnerviges marktwirtschaftliches System der Information, hochgradiger Innovationskraft und Motorik im Sinne von Hayeks zu sehen sei, das der Schutzpflicht des Staates unterliege. Dazu meint das Gericht: Verfassungsgerichtlicher Prüfungsmaßstab sei nicht ein institutioneller Zusammenhang der Wirtschaftsverfassung, der „durch verselbständigte, den individuellen Gehalt der Grundrechte überhöhende Objektivierungen begründet" werde oder ein „mehr als seine grundgesetzlichen Elemente gewährleistender Ordnungs- und Schutzzusammenhang der Grundrechte". Das Grundgesetz sei vielmehr „wirtschaftspolitisch neutral"; der Gesetzgeber dürfe „jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte beachtet".14 Der Einwand gegen diese These der „wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes",15 die lange auch die deutsche Rechtslehre beherrschte, 16 π BVerfGE 50, 290. 12 BVerfGE 50, 290 (336). ι 3 Vgl. Hans Heinrich Rupp, Grundgesetz und Wirtschaftsverfassung, 1974, S. 11 ff.; Badura/Rittner/Rüthers, Mitbestimmungsgesetz 1976 und Grundgesetz, 1977, S. 248. 14 BVerfGE 50, 290 (337 f.). 15 Vgl. Η. Η Rupp, Grundgesetz und Wirtschaftsverfassung, 1974; ders., in: HdWW Bd. 9 (1982), Artikel Wirtschaftsordnung. I. Wirtschaftsverfassung, S. 141, 145; ders., Die Soziale Marktwirtschaft in ihrer Verfassungsbedeutung, in: HStR IX, § 203 Rn. 16 ff. 16 Literaturnachweise bei Rupp, in: HStR IX (Fn. 15), S. 139, N. 34.

Zur verfahrensnormierenden Kraft der Grundrechte

soll hier nicht wiederholt werden, zumal inzwischen der Landesverfassungen insbesondere der neuen Bundesländer der osteuropäischen Reformstaaten aus dem grundrechtlich verfaßter Freiheit die Konsequenz gezogen und die „Soziale drücklich anerkannt und damit alle Zweifel beseitigt haben.

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Einigungsvertrag, die und die Verfassungen konstituierten System Marktwirtschaft" aus-

Was im vorliegenden Zusammenhang mehr interessiert, ist der Eindruck, daß sich das Bundesverfassungsgericht mit seinem ausschließlich individualrechtlichen Verständnis der Grundrechte den methodischen Zugang zu der Frage versperrt, ob, wie und warum die Grundrechte in der Binnenorganisation eines privatrechtlichen Verbandsgebildes, also im Verhältnis der Verbandsmitglieder untereinander und zu anderen im Verband beschäftigten Personen Bedeutung besitzen. Der Senat geht so vor, als handele es sich dabei um die gängige Frage nach Inhalt und Schranken materialer Individualgrundrechte, untersucht und bejaht in diesem Zusammenhang die Eigentumsqualität der gesellschaftsrechtlich vermittelten Inhaberrechte der Anteilseigner des Unternehmens; dabei schränkt das Gericht dies dahingehend ein, daß - anders als beim Sacheigentum - beim Anteilseigentum am Unternehmen „die Konnexität" zwischen Sachherrschaft und Person des Eigentümers „weitgehend gelöst" sei. 17 Wegen dieser Schwäche des Anteilseigentums erweise sich die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Unternehmen als verfassungsrechtlich zulässige Sozialbindung.18 Indessen führe das Mitbestimmungsgesetz „doch zu einer teilweise weitgehenden Einschränkung der mitgliedschaftlichen Position der Anteilseigner"; 19 denn die mitgliedschaftlichen Befugnisse der Anteilseigner sähen sich durch das Mitbestimmungsrecht verringert, wenn auch nicht halbiert. Indessen behielten die Anteilseigner „in ihrer Gesamtheit" den maßgeblichen Einfluß im Unternehmen. Da der im Verhältnis zum Sacheigentum geringere personale Bezug des Anteilseigentums „für eine Vielzahl der Anteilseigner ... typischerweise mehr Kapitalanlage als Grundlage unternehmerischer Betätigung" bedeute, stehe die Unternehmensmitbestimmung der Arbeitnehmer als zulässige Sozialbindung im Einklang mit der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG. 20 Ähnlich ist das Bundesverfassungsgericht den Recht der Anteilseigner, sich in einer und mitgliedschaftliche Verantwortung für übernehmen,21 und mit Art. 12 Abs. 1 GG

mit dem aus Art. 9 Abs. 1 GG folgenUnternehmenseinheit zu organisieren das Schicksal des Unternehmens zu verfahren. 22

Das eigentliche Problem, nämlich die Beantwortung der Frage, ob und wie sich innerhalb einer Organisation materielle Grundrechte der Organisationsmitglieder im Verhältnis zueinander und zu Nichtmitgliedern in den Kommunikations17 18 19 20

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

50, 290 (342). 50, 290 (343). 50, 290 (347). 50, 290 (349 f.).

21 BVerfGE 50, 290 (353 ff.). 22 BVerfGE 50, 290 (361). 21

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und Entscheidungsabläufen zu Stimmrechten umformten, also individuelle Abwehrrechte des materiellen Rechts in mitgliedschaftliche Verfahrensbeteiligungen transformieren, und wie deren Dogmatik zu beurteilen ist, kommt in der verfassungsgerichtlichen Entscheidung allenfalls in einigen Andeutungen zum Ausdruck. Mehr an Ertrag scheinen die als drittes Problembeispiel herausgegriffenen Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum „Binnenpluralismus" der Rundfunkanstalten23 und zum innerorganisatorischen Status der freien Mitarbeiter 24 zu bieten. Bekanntlich ging das Gericht seinerzeit davon aus, daß sowohl aus Gründen der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Wellenbereiche als auch mit Rücksicht auf den „außergewöhnlich großen finanziellen Aufwand" die Zahl der Träger von Rundfunkanstalten klein bleiben müsse,25 also eine Oligopolsituation bestehe, und deshalb „besondere Vorkehrungen zur Verwirklichung und Aufrechterhaltung der in Art. 5 GG gewährleisteten Freiheit des Rundfunks" erforderlich seien. Diesem Zweck diene neben der Begrenzung des Staatseinflusses auf höchstens eine beschränkte Rechtsaufsicht der Umstand, daß die kollegialen Organe der Rundfunkanstalten „in angemessenem Verhältnis aus Repräsentanten aller bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen zusammengesetzt [seien]; sie haben die Macht, die für die Programmgestaltung maßgeblichen oder mitentscheidenden Kräfte darauf zu kontrollieren und dahin zu korrigieren, daß den im Gesetz genannten Grundsätzen für eine angemessen anteilige Heranziehung aller am Rundfunk Interessierten Genüge getan wird." 2 6 „Die Veranstalter von Rundfunkdarbietungen müssen also so organisiert werden, daß alle in Betracht kommenden Kräfte in ihren Organen Einfluß haben und im Gesamtprogramm zu Wort kommen können, und daß für den Inhalt des Gesamtprogramms Leitgrundsätze verbindlich sind, die ein Mindestmaß von inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten". 27 An diesem „Binnenpluralismus" als Kompensation des nicht vorhandenen Außenpluralismus hat das Bundesverfassungsgericht bekanntlich auch nach dem Entstehen privater Rundfunkanbieter und unter den Voraussetzungen eines „dualen Systems" festgehalten: 28 „Je weiter der private Rundfunk von einer Lage funktionierender Außenpluralität entfernt ist", müßten „die Vorkehrungen zur Erhaltung der Meinungsvielfalt um so effektiver" sein. 29

23 Seit BVerfGE 12, 205, bis BVerfGE 73, 118. 24 BVerfGE 59, 231; BVerfGE 64, 256. 25 26 27 28 29

BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE

12,205 (261). 12,205 (261 f.). 12, 205 (262 f.). 73, 118 (174 f.); BVerfGE 74, 297 (330). 73, 118 (174).

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Die Grundannahmen dieser Rechtsprechung finden sich wieder in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Status der redaktionell tätigen freien Rundfunkmitarbeiter, 30 denen das Bundesarbeitsgericht eine Festanstellung zuerkannt hatte: Dem Rundfunk obliege es - so meint das Bundesverfassungsgericht - , in möglichster Breite und Vollständigkeit zu informieren, er habe allen Tendenzen Raum zu geben.31 Wenn dagegen den Rundfunkanstalten in dem Maße, in dem sie Mitarbeiter in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis zu beschäftigen gezwungen seien, die Möglichkeit eines Wechsels weitgehend genommen werde, entfalte dies Sperrwirkung, verschlechtere damit die Chancen derjenigen, welche sich die Mitarbeit im Rundfunk zur Aufgabe machten, und berge die Gefahr, daß im Rundfunk nicht mehr die ganze Vielfalt der in den Sendungen zu vermittelnden Inhalte in voller Breite wiedergegeben und gestaltet werden könne.32 Zieht man aus den bundesverfassungsgerichtlichen Judikaten zum „Binnenpluralismus" der Rundfunkanbieter und zum Status der redaktionell tätigen freien Mitarbeiter Bilanz, so zeigt sich, daß sie - entgegen dem ersten Anschein - zu dem hier in Betracht stehenden Thema keine Aussagen machen: Es ging bei ihnen nicht um die Umsetzung personaler Grundrechte in die Funktions-, Kommunikationsund Entscheidungsarchitektur eines Sozialgebildes - wie dies bei den „gekorenen" Grundrechten der Professoren an den wissenschaftlichen Hochschulen der Fall war - das Gericht erwähnt deshalb zu Recht mit keinem Wort, ob etwa dem Intendanten, den Chefredakteuren oder den einzelnen Rundfunkjournalisten im Verhältnis zueinander die Presse- und Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG und damit eine organschaftliche Entscheidungs- oder Kontrollkompetenz zuwachse. Aber auch die vom Bundesverfassungsgericht postulierte Einbeziehung der relevanten politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen in die Rundfunkorganisation kann nicht gemeint sein als Form der Grundrechtsverwirklichung dieser Gruppen in den Anstalten.33 Es ging vielmehr allein um ein Mittel, die nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auf dem Rundfunksektor bestehende Oligopolstruktur und den nicht vorhandenen „Außenpluralismus" um der Informationsfreiheit der Rezipienten willen durch eine „binnenplurale" Rundfunkorganisation zu kompensieren. Ob dieses Ziel auf diese Weise erreichbar ist, mag dahinstehen. Die genannten Rundfunkentscheidungen gehören jedenfalls zur Kategorie der organisatorisch-verfahrensmäßigen Grundrechtsverwirklichung Außenstehender, enthalten aber keine Aussage zu dem Problem, wie sich Grundrechte umformen, wenn sie, von Grundrechtsträgern in eine von ihnen nach Art. 9 Abs. 1 GG gegründete und einem bestimmten Zweck

30 BVerfGE 59, 231 ; BVerfGE 64, 256. 31 BVerfGE 59, 118 (257 f.). 32 BVerfGE 59, 231 (266). 33 So wohl aber Jörg Lücke, Die Rundfunkfreiheit als Gruppengrundrecht, DVB1. 1977, 977; dagegen H. H. Rupp, Bedeutungsgehalte und Auswirkungen der Kommunikationsfreiheit im Grundgesetz, in: Schwartländer/Riedel (Hrsg.), Neue Medien und Meinungsfreiheit, 1990.

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gewidmete Vereinigung eingebracht, in dieser Binnenorganisation Teilhaberrechte konstituieren, Organisation und Verfahren bestimmen. Mit diesem Thema befaßt sich die folgende Problemskizze.

III. 1. Finden sich Menschen zu einer Organisation mit bestimmten Zweck, etwa zum Betrieb eines Wirtschaftsunternehmens zusammen, so verwandelt sich dieser Außenzweck im Organisationsinneren, also im Verhältnis der Organisationsmitglieder untereinander zu einem anderen Thema. Denn die grundrechtliche Analyse verbandlicher Binnenstrukturen folgt anderen Kategorien. Die Gewerbefreiheit beispielsweise, welche die Aktivität des organisierten Wirtschaftsunternehmens über Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 3 GG genießt, schützt thematisch nicht auch die Gewerbefreiheit eines Organisationsmitglieds gegenüber einem anderen. Zwar ist es durchaus möglich, daß sich ein solches Mitglied bei staatlichen Eingriffen in die grundrechtliche Gewerbefreiheit nach außen verteidigt, doch im Organisationsinneren hat dieses Außengrundrecht offenbar im Gefolge des Art. 9 Abs. 1 GG keine Wandlung erfahren. Durch gemeinsamen Zweck verbundene menschliche Gemeinschaften entfalten eigene Verbandspersönlichkeit, eigene Verbandsindividualität und sind nicht nur die arithmetische Summe von nebeneinander verlaufenden Individualinteressen. Als „reale Verbandspersönlichkeiten 4' (Otto von Gierke) haben sie rechtlich ausgeformte Binnenstrukturen, die zwar letztlich dem Verbandszweck zu dienen bestimmt sind, von diesem aber keine Lösung für das Verhältnis der Verbandsangehörigen untereinander erfahren. Diese Binnenstrukturen sind vielmehr, wie an früherer Stelle dargelegt, 34 entweder arbeitsteiliger Natur, d. h. die einzelnen Verbandsmitglieder übernehmen thematisch und organisatorisch unterschiedliche individuelle Rollen zur Förderung des Verbandszwecks oder ziehen sich auf andere Mitgliedschaftsrechte zurück, etwa der Mitbestimmung über die Verbandspolitik und die Teilhabe an ihren Erfolgen, aber auch Mißerfolgen. Diese Rechte der Verbandsmitglieder im Organisationsinneren formen sich über Art. 9 Abs. 1 GG zu Anteilsrechten um; ihre Inhaber werden also „Anteilseigner" und dieses Recht wird nunmehr durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützt. 2. Aber auch dieses „Anteilseigentum" ist eine Besonderheit: Es folgt weder der üblichen Dogmatik des Eigentumsschutzes nach Art. 14 GG noch läßt es sich mit der auf die allgemeinen horizontalen Beziehungen der Rechtsgenossen untereinander bezogene Institutsgarantie des bürgerlichen Rechts bewältigen. Im Verhältnis nach außen, gegenüber einer Enteignung oder sonstigen Staatseingriffen ist es als solches in einer spezifischen Weise geschützt. Nach innen, im Verhältnis zu den anderen „Anteilseignern" läßt sich weder mit den Eigentumsbestimmungen des BGB noch mit anderen Regelungen über eigentumsähnliche Ausschließungs- und 34 Vom Wandel der Grundrechte, AöR 101 (1976), S. 161, 187 ff.

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Nutzungsrechte eine Lösung finden. Die genannten Rechte sind „gesellschaftsrechtlich vermittelt"; das bedeutet: Nunmehr bestimmt das spezifisch durch Art. 9 Abs. 1 GG konstituierte Eigentum das Regime der Mitgliederbeziehungen untereinander. Die Dogmatik des Anteilseigentums folgt der Dogmatik des Gesellschaftsrechts und prägt sie entsprechend der Gesellschaftsanteile zugleich eigentumsrechtlich aus. Anders ausgedrückt: In der Binnenorganisation transformiert sich die hergebrachte materiale Grundrechtsinhaberschaft weitgehend zu einem mehr prozeduralen Recht auf Mitwirkung und Mitbestimmung über das Schicksal der Vereinigung; hierdurch unterscheidet sich die mitgliedschaftlich über Art. 9 Abs. 1 GG vermittelte und ihrerseits grundrechtlich geschützte binnenorganisatorische Verfügungsmacht der Mitglieder von allen anderen Organisationsangehörigen, die keine Mitglieder sind. 35 3. Im Mitbestimmungsurteil 36 ist das Bundesverfassungsgericht dieses Problems nicht Herr geworden und hat im Ergebnis so getan, als handele es sich beim gesellschaftlich vermittelten Anteilseigentum - wie beim Sacheigentum - um die dort bekannte Dogmatik der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums und mißt der Mitbestimmung von Nichtgesellschaftern eine eigentumsgrundrechtlich zulässige Sozialbindung zu. Aus der hier zugrundegelegten Sicht ist dies eine erstaunliche Argumentation. Denn abgesehen davon, daß Sozialgebundenheit im Sinne des Art. 14 Abs. 2 Satz 2 GG Gemeinwohlgebundenheit bedeutet und nicht mit Gruppeninteressen identisch ist, und abgesehen davon, daß der Vereinigungsschutz des Art. 9 Abs. 1 GG zwar durch die speziellen Schranken des Art. 9 Abs. 2 GG begrenzt ist, aber eine Sozialbindung, wie sie das Bundesverfassungsgericht annimmt, nicht kennt, wird sie dem spezifischen Problem des Kommunikationsund Entscheidungsprozesses innerhalb einer von Art. 9 Abs. 1 GG garantierten Miteigentümergemeinschaft nicht gerecht. Denn die Einbeziehung von Nichtmitgliedern in das Kommunikations- und Entscheidungsverfahren der Gesellschafter verändert dieses Verfahren, auch wenn die Nichtmitglieder in der Minderheit bleiben, nicht nur quantitativ, sondern qualitativ, weil, wie bei allen Abstimmungen heterogener Gruppen, ein Gruppendruck entsteht, der ein individuell eigenständiges Votum oft verhindert und damit die Substanz des Anteilseigentums gefährdet. Ob diese spezifische Konsequenz noch mit einer Sozialbindung des Anteilseigentums gerechtfertigt werden kann, erscheint mehr als zweifelhaft, zumal wenn man diese Argumentation auf andere Miteigentümerrechte beispielsweise an Immobilien überträgt, Mietern oder Pächtern der Immobilien miteigentümerähnliche Positionen einräumt und dies zur Sozialbindung des gesellschaftsrechtlich vermittelten Eigentums erklärt. Dieses Mißverständnis findet übrigens eine Parallele in dem späteren, vieldiskutierten Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zum Eigentumsschutz des Mieters im Verhältnis zum Eigenbedarf-Verlangen des Eigentümers vom 26. 5. 35 (Fn. 34), S. 194 f. 36 BVerfGE 50, 290.

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1993,37 wo das Gericht die These vertritt, dem Schutz der Eigentumsgarantie im Bereich des Zivilrechts unterfalle als vermögenswertes Recht auch das Besitzrecht des Mieters. 38 Hier scheint das Gericht den vertikalen Eigentumsschutz der subjektiven Vermögenswerten Rechte gegenüber staatlichen Enteignungen („Rechtsstellungsgarantie'4) mit dem horizontalen zivilrechtlichen Institut des Eigentums zu verwechseln, welches das geltende Zivilrecht dem Mietrecht gerade nicht angedeihen läßt. Das hat schon Martin Wolff gesehen: „Zweifelhaft aber mag es sein, ob die Garantie des Eigentums als Rechtsinstitut auf jeden Typus eines privaten Vermögensrechts zu erstrecken ist oder sich auf das Eigentum im technischen Sinn beschränkt. Das letzte ist richtiger." 39

37 BVerfGE 89, 1; dazu z. B. Depenheuer, NJW 1993, S. 2561; Rüthers, NJW 1993, S. 2587; Sendler, NJW 1994, S. 709; Roellecke, JZ 1995, S. 74; Schmidt-Preuß, NJW 1995, S. 27. 38 (Fn. 37), S. 6, 8. 39 Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe für Wilhelm Kahl, 1993, S. 3, 6.

Neue Entwicklungen zu Art. 6 EMRK und ihr Einfluß auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG Von Eberhard Schmidt-Aßmann I. Art. 19 Abs. 4 GG - Prüfstein für Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat Wie kaum eine andere Verfassungsbestimmung hat Art. 19 Abs. 4 GG die Rechtsentwicklung unter dem Grundgesetz geprägt. Das „formelle Hauptgrundrecht" war von früh an ein Kristallisationspunkt bei Aufbau und Ausbau eines rechtsstaatlichen, betont grundrechtlich-individualrechtsschützenden Verwaltungsrechts. Heute muß darauf gesehen werden, wie die stärker werdenden Impulse des europäischen Grundrechtsschutzes bei seiner Interpretation und praktischen Handhabung angemessen zu berücksichtigen sind. Das kann freilich nur behutsam geschehen; denn das Zusammenspiel der Rechtsschutzgarantien in Mehr-Ebenen-Systemen, wie sie Europäische Union und Europarat darstellen, läßt sich nicht mit harten Formeln bewältigen, sondern setzt auf gemeinsame Erfahrungen, auf gegenseitige Abstimmung, auf Selbstkoordination und auf vorsichtige Vereinheitlichung bei Anerkennung jeweils spezifischer Aufgaben. 7. Erreichtes:

Sicherheit im Recht

Zunächst einmal aber ist eine positive Bilanz der Entwicklung unter dem Grundgesetz zu ziehen: Die Verwaltungsgerichte haben ihre Aufgabe, wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten, von Anfang an ernst genommen. Die Exekutive hat sich auf die gerichtliche Kontrolle eingestellt. Unbeschadet immer wieder einmal aufkommender Beschwerden über richterliche Bevormundung und Behinderung weiß sie den Beitrag der Justiz zur Schaffung von Rechtsklarheit und Akzeptanz zu schätzen. VerwaltungsVerantwortung ist ohne Kontrolle im Rechtsstaat nicht denkbar; Bürgerverantwortung setzt Sicherheit im Recht voraus. „Es ist von entscheidender Bedeutung für das ,Einverstandensein' des Bürgers mit dem Staat, für die Chance zur Identifikation, ohne die eine Demokratie nicht dauerhaft bestehen kann, daß der Bürger im Falle des Konflikts mit der Staatsgewalt,seinen' Richter findet und von ihm in fairer Weise zur Sache gehört wird." 1 • BVerfGE 40, 237 (252).

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Als der Bundesgesetzgeber 1960 mit der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) für die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit eine einheitliche Modifikation ihres Prozeßrechts schuf, geschah das ganz bewußt in klarer Ausrichtung auf Art. 19 Abs. 4 GG. Wer sich früh dem Verwaltungsrechtsschutz zugewandt hat und Autor eines eingeführten Lehrbuchs des Verwaltungsprozeßrechts ist, weiß um diese Zusammenhänge.2 Die 6. VwGO-Novelle von 1996 mag diesen Bezug zeitweise verdunkelt haben. Er bleibt die Grundlage der dagegen einsetzenden Kritik. 3 Einiges von dem, was der Beschleunigungseifer ersonnen hatte, ist durch eine weitere Novelle 2002 korrigiert worden. 4 Die Sprengkraft, die der Rechtsschutzgarantie nach wie vor innewohnt, zeigte sich in jüngerer Zeit ζ. B. am verfassungsgerichtlichen Verdikt der Regelung der behördlichen Aktenvorlage im Prozeß (§ 99 Abs. 1 S. 2 VwGO), die zwar zum Urgestein des Prozeßrechts gehörte und sich doch als unzulänglich erwies.5 Nicht anders erging es dem überkommenen Dogma der prozessualen Überholung und Erledigung strafprozessualer Grundrechtseingriffe. 6 Gewiß, Art. 19 Abs. 4 GG und das von ihm wesentlich mitbestimmte grundgesetzliche Konzept einer spezifisch gerichtsgeprägten Gewaltenteilung haben das politische und das wissenschaftliche Interesse an komplementären Kontrollformen nicht selten behindert.7 Aber für den Gerichtsschutz, für seine Wirksamkeit - gern mit der Zauberformel der „Rechtsschutzeffektivität" belegt - ist in Rechtspraxis und Rechtsdogmatik Beachtliches geleistet worden. Das hohe Maß an systematischer Durchbildung, das das deutsche öffentliche Recht im Rechtsvergleich auszeichnet, wäre ohne den von Art. 19 Abs. 4 GG ausgehenden Zwang zu klaren Distinktionen und Zuordnungen nicht erreicht worden. Die überragende Bedeutung, die Günter Dürig gerade dieser Verfassungsbestimmung vor mehr als vier Jahrzehnten zugeschrieben und zu deren Festigung er wesentlich beigetragen hat,8 steht heute außer Streit. 2 Walter Schmitt Glaeser/Hans-Detlef Horn, Verwaltungsprozeßrecht, 15. Aufl. 2000; dort insbesondere Rn. 36 ff. Begründet 1970 von W. Schmitt Glaeser zusammen mit Oskar Tschira als „Grundriß des Verwaltungsprozeßrechts mit Systematik der Fallbearbeitung". 3 Vgl. nur Paul Stelkens, Verwaltungsgerichtsbarkeit im Umbruch - eine Reform ohne Ende?, NVwZ 1995, S. 325 ff.; Friedhelm Hufen, Heilung und Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern, JuS 1999, S. 313 ff. 4 Gesetz zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozeß vom 20. Dezember 2001 (BGBl. I S. 3987). 5 BVerfGE 101, 106 ff. 6 BVerfGE 96, 27 ff. unter Aufgabe von E 49, 329 ff. 7 Dazu Walter Schmitt Glaeser, Partizipation an Verwaltungsentscheidungen, VVDStRL 31 (1973), S. 179 (240 ff.); Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 185 ff. Systematisch zum Zusammenspiel öffentlich-rechtlicher Verwaltungskontrollen Helmuth Schulze-Fielitz, in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungskontrolle, 2001, S. 291 ff. 8 Insbesondere in seiner Kommentierung dieser Vorschrift im „Maunz/Dürig"; auszugsweise wiedergegeben in: Walter Schmitt Glaeser/Peter Häberle (Hrsg.), Günter Dürig, Gesammelte Schriften 1952- 1983, 1984, S. 197 ff.

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2. Neue Herausforderungen Neue Herausforderungen eines zeitgerechten Rechtsschutzes stellen sich.9 Der Rechtsschutz gegen den Staat wird von der gewandelten Situation moderner Staatlichkeit, der Rechtsschutz gegen die Verwaltung von den Anforderungen bestimmt, denen sich die Exekutive in diesem Wandel gegenübersieht:10 Die Verantwortungssphären von Staat und Gesellschaft, Verwaltung und Wirtschaft, nationalstaatlicher und europäischer Herrschaftsordnung haben sich gegeneinander verschoben: - Privatisierung und Marktmechanismen lassen Konflikte in das Privatrecht auswandern, ζ. B. in das neue Vergaberecht und das Kartellrecht. Statt dessen drängen Effizienzüberlegungen an und wollen in Rechtstatbestände inkorporiert sein, während sie früher als „fiskalische" Überlegungen aus dem gerichtlichen Rechtsstoff leicht herauszuhalten waren. 11 Die Verwaltung selbst setzt für ihren Binnenbereich auf ein neues Steuerungsmodell, auf eine dezentrale Verantwortung und auf Budgetierungen, die die Bedeutung der klassischen hierarchischen Verwaltungsführung, Rechtsbindung, Zuständigkeitsregeln und Weisungen zurücktreten lassen. - Nach wie vor erhebliche Probleme für Verwaltung und Verwaltungsrechtsschutz stellen die schnellen Entwicklungen der Technik dar. Die hier liegenden Chancen wollen rechtlich fundiert, die damit verbundenen Risiken durch Recht reduziert sein. 12 Den Gerichten fallen dabei wichtige Aufgaben zu. Sie müssen heute komplizierte Risikoabschätzungen nachvollziehen und überhaupt ihr Verhältnis zu Expertifizierung und technischer Normung richtig bestimmen. - Das alles sind Herausforderungen einer Zeit, in der die eigenen Kräfte der Justiz stark angespannt und die Rufe nach rechtzeitigem Rechtsschutz unaufhörbar sind. Die Gerichte dürfen die Respektierung des ihnen in einer gerichtsgepräg9

Rainer Pitschas (Hrsg.), Reform der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1999; Eberhard Schmidt-Aßmann, Aufgaben- und Funktionswandel der Verwaltungsgerichtsbarkeit vor dem Hintergrund der Verwaltungsrechtsentwicklung, VB1BW 2000, S. 45 ff.; Friedrich Schoch, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit vor den Herausforderungen der jüngeren Rechtsentwicklung, VB1BW 2000, S. 41 ff.; Michael Dolderer, Verwaltungsprozeß im Wandel, in: Festschrift für Brohm, 2002, S. 245 ff.; Wilfried Erbguth, Wolfram Höfling, Rudolf Streinz und Astrid Epiney, Primär- und Sekundärrechtsschutz im Öffentlichen Recht, VVDStRL 61 (2002), S. 221 f., S. 260 ff., S. 300 ff. und S. 362 ff. 10

Dazu Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993; Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Jenseits von Privatisierung und „schlankem" Staat, 1999 sowie die Beiträge in „Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht", DV 1999, Beiheft 2. 11 Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998; Christoph Gröpl, Ökonomisierung von Verwaltung und Verwaltungsrecht, VerwArch 2002, S. 459 ff. 12 Dazu Udo Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994; Rainer Pitschas, in: Karl-Peter Sommermann/ Jan Ziekow (Hrsg.), Perspektiven der Verwaltungsforschung, 2002, S. 223 ff.

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ten Gewaltenteilung zukommenden Ranges bei Haushaltsgesetzgebern und Justizverwaltungen einfordern. Aber sie werden auch nicht umhinkönnen, mehr als bisher eigene Rationalisierungsmöglichkeiten zu nutzen.13 Eine Garantie, daß alle gerichtsorganisatorischen und verfahrensrechtlichen Standards, die einmal zum Ausbau eines möglichst weitreichenden Rechtsschutzes geschaffen wurden, so zu erhalten sind, - ein „prozedurales Rückschrittsverbot 4' - existiert nicht. 14 Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet bekanntermaßen keinen Instanzenzug und verwehrt es folglich dem Gesetzgeber nicht, bestehende Rechtsmittelzüge zu verkürzen. Im System der Gewaltenteilung sind die Gerichte Glieder eines Kontroll Verbundes.15

3. Insbesondere die „Europäisierung" der Verwaltung und des Verwaltungsrechtsschutzes Das gilt in besonderem Maße, wenn die vielschichtigen Vorgänge der Europäisierung in die Betrachtung einbezogen werden.

a) Die Ausbildung neuer Verwaltungsstrukturen Unter Europäisierung ist zum einen die Ausbildung neuer Verwaltungsstrukturen zu verstehen. Eine herausgehobene Stellung haben dabei die Verwaltungsbeziehungen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Das dualistische Vollzugskonzept des EG-Rechts, das neben dem dezentralen Vollzug durch die Mitgliedstaaten auch unmittelbare Zugriffsbefugnisse der EG-Organe, ζ. B. im Wettbewerbsrecht und vermehrt auch im Zulassungsrecht kennt, hat ein Geflecht inter- und intra-administrativer Informations- und Kooperationsbeziehungen entstehen lassen, das nur schwer zu durchschauen ist. 16 Hinzugetreten sind die Verwaltungsvorgänge in der dritten Säule der Europäischen Union, der polizeilichen und der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen, 17 vor allem die Aufgaben und Befugnisse von Europol 13 Vgl. die Beiträge in: Helmuth Schulze- Fielitz/Carsten Schütz (Hrsg.), Justiz und Justizverwaltung zwischen Ökonomisierungsdruck und Unabhängigkeit, 2002; Thomas Groß, Ökonomisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und des Verwaltungsprozeßrechts, DV 34 (2001), S. 371 ff.; Thomas Würtenberger, Die rechtsprechende Gewalt - ökonomisch betrachtet, in: Festschrift für Brohm, 2002, S. 631 ff. 14 Als Frage aufgeworfen, aber nicht entschieden von Schmitt Glaeser/Horn (o.N. 2), Rn. 23 Fn. 33. 15 Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen die Beiträge in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Verwaltungskontrolle, 2001. 16 Dazu systematisch Julia Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Umweltrecht, 2003. 17 Systematisch dazu Jan Hecker, Europäisches Verwaltungskooperationsrecht am Beispiel der grenzüberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit, EuR 2001, S. 826 ff.

Neue Entwicklungen zu Art. 6 EMRK

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nach Art. 30 EUV. 18 Weniger verfestigt, gleichwohl aber als Ausdruck neuer europäischer Verwaltungsstrukturen beachtlich sind schließlich die Formen grenznachbarlicher Zusammenarbeit, in denen Kommunal-, Polizei- und Planungsbehörden heute über Staatsgrenzen hinweg gemeinsam agieren. Der Verwaltungsrechtsschutz muß sich auf die durch Supra-, Trans- und Internationalität gekennzeichnete Verwaltungssituation in Europa einstellen. Er muß ebenenspezifisch und er muß verflechtungsadäquat sein. Schon das ist eine große Aufgabe, die in ihren systematischen Bezügen noch kaum angegangen ist.

b) Die gegenseitige Durchdringung der Rechtsschichten Die Europäisierung ist zum zweiten eine solche der Rechtsschichten. Normenbestände des nationalen Rechts werden durch die Vorgaben des europäischen Rechts überlagert und umgeformt, können sich aber auch umgekehrt als Ausdruck gemeinsamer Rechtsüberzeugungen bei der Ausbildung europäischer Rechtsregeln zur Geltung bringen. Auch hier erreicht die gegenseitige Durchdringung der Rechtsschichten im Bereich der Europäischen Gemeinschaft ihre höchste Dichte. Die unmittelbare Wirkung und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten, dieses Recht wirksam zu vollziehen, bilden die wichtigsten Einwirkungspfade, die vielfach auf Probleme des Verwaltungsrechtsschutzes zuführen. Die Gemeinschaft hat zwar keine Kompetenz zu einer umfassenden Regelung des Verwaltungsrechtsschutzes der Mitgliedstaaten. Sie kann jedoch Rechtsschutzfragen, die immer auch Rechtsdurchsetzungsfragen sind, bereichsbezogen mitregeln und hat das ζ. B. im Rahmen des neuen Vergaberechts getan. Im übrigen stellt die vom Europäischen Gerichtshof entwickelte doppelte „Harmonisierungsformer', stellen die Äquivalenz- und die Effektivitätsregel sicher, daß die nationalen Rechtsschutzsysteme mehr und mehr an europäischen Maßstäben ausgerichtet werden. Die notwendige Verzahnung des mitgliedstaatlichen und des gemeinschaftseigenen Rechtsschutzsystems leistet das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV. Die „Europäisierung des deutschen Verwaltungsprozeßrechts" ist folglich ein seit Jahren viel behandeltes Thema.19 Dabei geht es nicht 18

Vgl. Lothar Harings, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizei- und Zollverwaltungen und Rechtsschutz in Deutschland, 1998; Jochen Ahr. Frowein/Nicko Krisch, Der Rechtsschutz gegen Europol, JZ 1998, S. 589 ff.; Martinez Soria, Die polizeiliche Zusammenarbeit in Europa und der Rechtsschutz des Bürgers, VerwArch 1998, S. 400 ff. 19 Dazu Martin Burgi, Verwaltungsprozeß und Europarecht, 1996; Dirk Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, 1999; Friedrich Schoch, Die Europäisierung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, 2000; rechtsvergleichend ferner Claus Dieter Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996; Hans-Heinrich Trute, Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht, DV 1999, Beiheft 2, S. 9 (21 ff.): Supra-, Inter- und Transnationalität als Herausforderung; Thomas v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996; Stefan Kadelbach, Allgemeines Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 1999; Eberhard Schmidt-Aßmann/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1998; aus der Sicht der Gerichtspraxis die

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nur um punktuelle Korrekturen, sondern u.U. auch um tiefergreifende Veränderungen, die, wie sich am vorläufigen Rechtsschutz gezeigt hat, 20 vor der vertrauten Dogmatik des Art. 19 Abs. 4 GG nicht halt machen. Die vom EG-Recht angestoßene Umgestaltung des Verwaltungsrechtsschutzes läuft nicht zwangsläufig stets auf einen weiteren Ausbau klägerischer Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten hinaus. Sie kann auch umgekehrt aus Interessen eines wirksamen Vollzuges zu Einschnitten führen. Eine Europäisierung des nationalen Rechts geht ferner von der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aus. Die für den Rechtsschutz beachtlichen Vorschriften, insbesondere die Art. 6 und 13 EMRK, haben das Ziel, in den Konventionsstaaten einheitliche Mindeststandards zu gewährleisten und durch eine konventionseigene Rechtsschutzinstanz, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), zu sichern. Aus gemeinsamen Rechtsüberzeugungen hervorgegangen, aber eigenständig ausgebildet, ergänzen die Garantien der Konvention das nationale Recht. Vergleicht man die vom EG-Recht und von der EMRK ausgehenden Europäisierungstendenzen des nationalen Rechtsschutzes, so läßt sich als Faustregel formulieren: Dem EG-Recht geht es um effiziente Verzahnung, dem EMRK-Recht um substantielle Standards. Beide aber müssen die von ihnen ausgehende Europäisierung im Lichte eines Subsidiaritätsprinzips auch als Aktivierung der mitgliedstaatlichen Rechtsschutzgarantien ansehen. Ihrerseits sind die beiden europäischen Zugänge dadurch verschränkt, daß die Europäische Union gem. Art. 6 Abs. 2 EUV verpflichtet ist, die Grundrechte der EMRK zu achten. Gerade die Garantien der Art. 6 und 13 EMRK werden vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg herangezogen, um den Rechtsschutz gegen das Handeln der Gemeinschaftsorgane und gegen die mitgliedstaatlichen Verwaltungen zu intensivieren. 21 Umgekehrt sieht der Gerichtshof in Straßburg darauf, daß die Garantien der EMRK nicht nur das innerstaatliche Recht der Konventionsstaaten durchdringen, sondern hält die Mitgliedstaaten dazu an, die EMRK auch dann zu beachten, wenn sie in zwischenstaatlichen Einrichtungen tätig sind. 22 Die Europäische Grundrechtscharta hat diese Rechtsprechung aufgenommen und beide Garantien in Art. 47 - in einer regelungstechnisch freilich wenig abgestimmten Weise - zusammengezogen. Art. 6 und 13 EMRK bilden danach heute praktisch den Kern einer übergreifenden Europäischen Rechtsschutzgarantie - genauer eines Garantie systems. 23 Ihrer jüngeren Entwicklung und einigen dadurch angestoBeiträge in: Jan Bergmann/Markus Kenntner (Hrsg.), Deutsches Verwaltungsrecht unter europäischem Einfluß, 2002. 20 Vgl. EuGHE 1990, 2899, Tz. 34; dazu Schoch (o.N. 19), S. 31. 21 Vgl. Hans-Werner Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, § 26 unter V; Jörg Gundel, in: Dirk Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2002, § 18 Rn. 1 ff. 22

So Christian Walter, in: Ehlers, Europäische Grundrechte (o.N. 21), § 1 Rn. 48. Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Europäische Rechtsschutzgarantien, in: Festschrift für Rudolf Bernhardt, 1995, S. 1283 (1290 ff.). 23

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ßenen Veränderungen in der Dogmatik des Art. 19 Abs. 4 GG soll im folgenden nachgegangen werden.

II. Einige neuere Erkenntnisse zu Art. 6 und 13 EMRK Lange Zeit schienen die Rechtsschutzgarantien der EMRK für die Prozeßrechtspraxis der deutschen Verwaltungsgerichte nicht sonderlich bedeutsam zu sein, weil die „im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG" detailliert ausgeformten Gebote eines effektiven Rechtsschutzes keine Wünsche offen ließen. Daran hat sich jedoch einiges geändert. 24 Heute ist der Beachtungsanspruch der Konventionsgarantien gestärkt (1.) und ihr Anwendungsbereich erweitert worden (2.). Ihre erhöhte Bedeutung zeigt sich insbesondere beim Gebot rechtzeitigen Rechtsschutzes (3.), das nach jüngster Rechtsprechung von den Konventionsstaaten die Vorhaltung einer Beschleunigungsbeschwerde verlangt (4.). Art. 6 und 13 EMRK wirken auf diese Weise in den Art. 19 Abs. 4 GG hinein und entfalten hier „quasi-verfassungsrechtliche" Bedeutung.25 Damit ist eine Wirkungsweise umschrieben, die sich mit der traditionellen Lehre von einer festen Stufenfolge der Rechtsquellen nicht exakt erfassen läßt und erkennbar ein Spezifikum des Rechts nicht hierarchisch geordneter Mehr-Ebenen-Systeme ist: Die Rangordnungslehre dient (nur) als Grundorientierung für die gegenseitige Zuordnung der Rechtssätze unterschiedlicher Provenienz. Im konkreten Anwendungsfall aber bestimmt eine Reihe „weicher" Koordinierungsformeln die Praxis. 26 Sie sind die Scharniere des Garantiesystems. Zu ihnen zählen die Selbstkoordination der beteiligten Gerichtsbarkeiten, die Subsidiarität und die Anerkennung eines Ermessensspielraums der Konventionsstaaten bei der Auswahl und Ausgestaltung von Rechtsschutzmodellen.27

24 Christoph Grabenwarter, Verfahrensgarantien in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1997; ders., Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 290 ff.; Rudolf Streinz, Primär- und Sekundärrechtsschutz im Öffentlichen Recht, VVDStRL 61 (2002), S. 300 (306 ff.). 25 Zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof als „Quasi-Verfassungsgericht" Luzius Wildhaber, Eine verfassungsrechtliche Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, EuGRZ 2002, S. 569 ff. 26 Systematisch Christoph Grabenwarter, Verfahrensgarantien (o.N. 24), S. 11 ff.; ders., VVDStRL 60 (o.N. 24), S. 290 (317 ff.); Wolf gang Hoffmann- Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, S. 473 (478): „weiche Kohärenzsteuerung". 27 Zu einer solchen „Doktrin des Ermessensspielraums" Wildhaber (o.N. 25), S. 570.

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7. Die Relativierung der Rangfrage durch die Frage der Auslegungskompetenz Die Ausgangsposition ist eindeutig:28 Die Konvention gilt in Deutschland gemäß dem Vertragsgesetz vom 7. August 1952 (BGBL II S. 685) im Range eines einfachen Bundesgesetzes. Ihre praktische Bedeutung ist damit freilich nur unvollkommen umschrieben. Vom einfachen Bundesgesetz könnte die lex posterior desselben Normgebers - um den Preis einer Verletzung völkervertraglicher Pflichten - abweichen. Das Bundesverfassungsgericht hat denkbaren Konfliktfällen jedoch vorgebeugt, indem es für alle Gesetze eine Auslegung im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik verlangt. Selbst bei Gesetzen, die zeitlich später erlassen worden sind als ein völkerrechtlicher Vertrag, ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dieses nicht klar zum Ausdruck gebracht hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen hat abweichen wollen. 29 Der Vorrang der lex posterior soll nur dann greifen, wenn der Gesetzgeber seinen Willen zur Derogation mit aller Deutlichkeit herausgestellt hat. 30

a) Die herrschende Lehre zum Rang der EMRK Verfassungsrang wird der Konvention als solcher in der deutschen Rechtsordnung von der herrschenden Ansicht nicht zuerkannt. Sie soll daher für das Bundesverfassungsgericht kein Prüfungsmaßstab sein.31 Verfassungsbeschwerden können auf Konventionsverletzungen direkt nicht gestützt werden. Anerkannt ist allerdings eine mittelbare Wirkung auf dem Weg über die sog. Willkürrechtsprechung. 32 Ob darüber hinaus Konventionsverletzungen zugleich Verletzungen des Art. 2 Abs. 1 GG darstellen und auf diese Weise ausgreifender der Verfassungsbeschwerde zugänglich zu machen sind, ist streitig. 33 Aus verfassungsrichterlicher Feder ist dazu eher Ablehnendes zu lesen.34 Die Hauptbedeutung der Konvention auf Verfas28 Dazu Robert Uerpmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die deutsche Rechtsprechung, 1993, S. 69 ff.; Grabenwarter, VVDStRL 60 (o.N. 24), S. 305 f. 29 BVerfGE 74, 358 (370); vgl. auch BVerwGE 99, 331 (333). 30 BVerwGE 110,203 (214).

31 Dazu mit weiteren Nachweisen BVerfGE 19, 342 (347); 74, 358 (370); Hoffmann-Riem (o.N. 26), S. 474. 32 Vgl. BVerfGE 64, 135 (157); 74, 102 (128); Jochen Ahr. Frowein, in: Josef Isensee/ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 7, 1992, § 180 Rn. 28. 33 Bejahend Frowein (o.N. 32), Rn. 24 f.; Uerpmann (o.N. 28), S. 106; Grabenwarter, VVDStRL 60 (o.N. 24), S. 290 (306); Frank Hoffmeister, Der Staat 2001, S. 351 (364 ff.); dagegen Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 1996, Art. 2 I Rn. 41 mit weiteren Nachweisen. 34 Hoffmann-Riem (o.N. 26), S. 473 (475); Udo Di Fabio, in: Theodor Maunz /Günther Dürig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Art. 2 I Rn. 43; vgl. auch Paul Kirchhof, Verfassungsrechtlicher Schutz der Menschenrechte - Konkurrenz oder Ergänzung?, EuGRZ 1994, S. 16

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sungsebene soll darin liegen, die Interpretation einzelner Verfassungsbestimmungen anzureichern. 35 Ein wichtiger Rezeptor ist dabei das Rechtsstaatsprinzip. Substantiell wird auf diese Weise der beachtlich große Bereich, in dem sich die Garantieelemente der deutschen Grundrechte und der Konventionsrechte decken,36 noch weiter erstreckt. Das gilt in besonderem Maße für die Rechtsschutzgarantien, die Sicherungen eines fairen Strafverfahrens und für den Rechtsschutz in angemessener Zeit. 37 Verstärkt wird diese Angleichung durch die Vermittlungsaufgabe des zitierten Art. 6 Abs. 2 EUV, der das Konventionsrecht zwar gefiltert, aber nunmehr mit dem Vorrang des EG-Rechts ausgestattet für die Mitgliedstaaten dort verbindlich macht, wo sie EG-Recht vollziehen.

b) Neuere Entwicklung in der Frage der Auslegungskompetenz Wichtiger als die Rangfrage erscheint heute die Frage der Auslegungskompetenz. Die klassische Formel der deutschen Gerichte lautete bisher, die Rechtsprechung des EGMR diene „als Auslegungshilfe" für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.38 Insgesamt wurde bei der Ausfüllung dieser Formel deutlich auf „Selbststand" der deutschen Rechtsprechungsorgane gesetzt. Die Literatur kritisiert, daß die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Rechtsprechung des EGMR selten auch nur nachweisen.39 In der Sache selbst legten die Gerichte die einschlägigen Vorschriften der EMRK bisher ganz vorrangig selbst aus und verwiesen die Rechtsprechung des EGMR auf eine schwer faßbare Hilfsfunktion. Hier könnte sich - jedenfalls für den Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit - ein Wandel abzeichnen. Das wird an einigen jüngeren Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts deutlich: Ganz von der traditionellen Auffassung ist noch die Entscheidung des 9. Senats vom 15. April 1997 bestimmt.40 Es ging um die Reichweite des Folterverbots des Art. 3 EMRK im Rahmen des Abschiebungsschutzes nach § 53 Abs. 4 AuslG. Der Senat betonte die Aufgabe „der von ihm eigenverantwortlich vorzunehmenden (29); bejahend demgegenüber Jutta Limbach, Die Kooperation der Gerichte in der zukünftigen europäischen Grundrechtsarchitektur, EuGRZ 2000, S. 417 (418). 35 BVerfGE 74, 358 (370); Kirchhof (o.N. 34), S. 31, Menschenrechtsnormen als „Quelle der Inspiration". 36 Vgl. Frowein (o.N. 32) Rn. 24 f.; Klaus Stern, Staatsrecht, Bd. 3 / 1, 1988, § 62 III 8. 37 Ausführlich dazu Grabenwarter, Verfahrensgarantien (o.N. 24), bes. S. 355 ff. 38 BVerfGE 74, 358 (370); BVerfG -K- EuGRZ 2002, S. 466 (467). 39 Jochen Ahr. Frowein, Kritische Bemerkungen zur Lage des deutschen Staatsrechts aus rechtsvergleichender Sicht, DÖV 1998, S. 806 (809); ders., Der europäische Grundrechtsschutz und die deutsche Rechtsprechung, NVwZ 2002, S. 29 (30); Hoffmeister (o.N. 33), S. 376 ff. Vgl. aber auch den Hinweis bei Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte (o.N. 21), §2 Rn. 4 mit Fn. 28. 40 BVerwGE 104, 265 ff. 22 FS Schmitt Glaeser

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Auslegung des Art. 3 EMRK" (269) und zog dazu die Auslegungsregeln des Art. 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention (BGBl. 1985 II S. 926) heran. Zwar wollte er den Erkenntnissen des EGMR „besonderes Gewicht" beimessen. In der Sache selbst lehnte er jedoch die vom EGMR mehrfach vertretene Auffassung, das Folterverbot umfasse auch solche unmenschlichen Behandlungen, die Ausländern in einem Drittstaat von nichtstaatlichen Instanzen drohen, eindeutig ab. „Auch der von der Revision angeführte Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung gebietet lediglich eine Orientierung an dem aus der internationalen Rechtsordnung gewonnenen Auslegungsergebnis, gibt aber keine Handhabe dafür, Völkervertragsrecht über den Vertragsinhalt hinaus ausgedehnt zu interpretieren." 41 Das ist klassisches allgemeines Völkerrecht, auf das hier ohne Rücksicht auf die besondere Rechtsqualität der EMRK und ihres Rechtsschutzsystems zurückgegriffen wird. Einen deutlich anderen Akzent setzt der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts. In der Entscheidung vom 16. Dezember 1999 geht es um die Frage, inwieweit die Normenkontrolle von Bebauungsplänen nach § 47 VwGO den Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK unterfällt. Das hängt davon ab, wie der Konventionsbegriff der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen" auszulegen ist. Dazu liegt eine ausgreifende Rechtsprechung des EGMR vor, die keinen Zweifel daran läßt, daß das Recht am Grundeigentum unter dieses Tatbestandsmerkmal zu subsumieren ist. Das begründet nach Auffassung des 4. Senats des Bundesverwaltungsgerichts die Pflicht deutscher Gerichte, Art. 6 EMRK „mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des EGMR gefunden hat, vorrangig zu beachten".42 Die Pflicht folge, wie zutreffend herausgestellt wird, nicht aus der Rechtskraftwirkung, die dem Urteil des EGMR nach Art. 46 EMRK zukommt, sondern aus einer besonderen „ normativen Leitfunktion die eine auf Grund gefestigter Rechtsprechung des EGMR verallgemeinerungsfähige und allgemeine Gültigkeit beanspruchende Auslegung einer Konventionsbestimmung entfalte. Zur Begründung dieser Leitfunktion sagt das Gericht: „Diese Beachtenspflicht rechtfertigt sich aus dem besonderen Charakter der Konvention als Menschenrechtsvertrag, dessen zwischenstaatliche Zielsetzung in erster Linie darin zu sehen ist, den Rechtsunterworfenen im innerstaatlichen Rechtsraum aller Vertragsstaaten bestimmte Grundrechte gegenüber der jeweils eigenen Staatsgewalt zu gewährleisten." Die kollektive Garantie der in der Konvention verbürgten Rechte bliebe weitgehend ineffektiv, so heißt es weiter, wenn sich die Wirkungen einer in gefestigter Praxis herausgebildeten Normauslegung in der Entscheidung von Einzelfällen erschöpfte. Weil die Pflicht zur vorrangigen Beachtung einer gefestigten Auslegungspraxis des EGMR im Rechtsschutzsystem der EMRK angelegt ist, soll sie nach Auffassung des 4. Senats von der Billigung der Konvention durch das deut41 BVerwGE 104, 265 (275); kritisch dazu Frowein (o.N. 39), S. 809 f.; Juliane Kokott, in: Festschrift für das Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 411 ff. 42 BVerwGE 110, 203 (210); zu einer „konventionskonformen", auf die Rechtsprechung des EGMR abhebenden Auslegung vorher schon der Beschluß desselben Senats vom 12. März 1999, NVwZ 1999, 763 f.

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sehe Vertragsgesetz mitumfaßt sein und an der Verpflichtungskraft des innerstaatlichen Rechts teilhaben. „Dieses Verhaltensgebot begründet zwar keine förmliche (strikte) Bindung an die vom Gerichtshof vertretene Auslegung. Ein Gericht, das von ihr abweichen will, trägt jedoch die Argumentationslast dafür, daß sein abweichender Standpunkt die entscheidend besseren Gründe für sich hat." In einer Entscheidung vom 30. Juli 2001 hat der 4. Senat diese Rechtsauffassung bestätigt.43 Inwieweit sich auch der 9. Senat dem in einer jüngeren Entscheidung angenähert hat, 44 ist nicht ganz sicher auszumachen, weil zu der entscheidenden Frage keine gefestigte Rechtsprechung des EGMR existiert. 45 Insgesamt aber weisen die Entscheidungen des 4. Senats des Bundesverwaltungsgerichts in die richtige Richtung. Die europäischen Rechtsschutzgarantien bilden einen Funktionszusammenhang, der über die isolierte Betrachtung seiner völkervertragsrechtlichen Grundlagen hinausführt. Der EGMR hat diese wichtige Verdichtung der konventionsgeprägten Rechtsbeziehungen im Urteil vom 23. März 1995 klar formuliert. 46 Damit verändern sich auch die Rollen der beteiligten Rechtsprechungsorgane. Die nationalen Gerichte und die europäischen Gerichte in Straßburg und Luxemburg sind nicht getrennte Instanzen, sondern stehen in einem Kontrollverbund, der seine Rechtsschutzaufgaben wirksam wahrnehmen muß. Der Gedanke der „Rechtsschutzeffektivität", der zur Ausformung der verfassungsrechtlichen Dogmatik des Art. 19 Abs. 4 GG vielfach genutzt worden ist und sich gelegentlich auch bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge findet, 47 muß für den Rechtsschutz in Europa verbundsspezifisch angewandt werden. Daß im Verbund angesichts einer auf 31 angewachsenen Zahl von Konventionsstaaten und demnächst 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine Vereinheitlichung der Auslegungskompetenzen geboten ist, liegt auf der Hand. Die sich nach der Entscheidung des 4. Senats des Bundesverwaltungsgerichts abzeichnende Linie kann als Doktrin der Selbstkoordination unter Abweichungsvorbehalt bezeichnet werden.

2. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten im Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK Bekanntermaßen bestimmen Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK ihren Schutzbereich im Hinblick auf Verwaltungsstreitigkeiten unterschiedlich. Während die deutsche Garantie mit dem Tatbestandsmerkmal der Rechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt zentral gerade auf den Rechtsschutz in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zielt, betrifft die europäische Rechtsschutzgarantie Strei43 BVerwG NVwZ 2002, S. 87 ff. 44 So wohl Frowein (o.N. 39), S. 30. 45 BVerwGE 111, 223 (228 f.). 46 EGMR ZaöRV Bd. 56 (1996), S. 439 ff. „Loizidou", mit Besprechung von Hans-Konrad Ress, dort S. 427 ff. 47 Dazu Grabenwarter, 22*

Verfahrensgarantien (o.N. 24), S. 28 ff.

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tigkeiten über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" sowie strafrechtliche Anklagen. Seit langem ist freilich anerkannt, daß diese Begriffe nicht nach Maßgabe der rechtssystematischen Zuordnung des jeweiligen Konventionsstaates, sondern „autonom" auszulegen sind. 48 Auch insoweit wird teleologisch effektivitätsorientiert argumentiert: Jede andere Lösung würde zu Ergebnissen führen, die mit Ziel und Zweck der Konvention unvereinbar wären. Anders als das deutsche Recht, das die Qualifikation zwischen öffentlich-rechtlichen und privatrechtlichen Streitigkeiten von den Rechtsgrundlagen her bestimmt, fragt der EGMR nach den Rechtsfolgen. Ist das betroffene Recht dem Bereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen, so handelt es sich um einen zivilrechtlichen Anspruch ohne Rücksicht darauf, ob es um seine privatrechtliche Ausformung oder um seine behördliche Regelung geht. Im einzelnen wirkt die Rechtsprechung nicht immer konsistent. Sie hat im Ergebnis jedoch dazu geführt, daß nach und nach immer mehr Streitigkeiten in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK einbezogen worden sind, die nach deutscher Systematik als öffentlich-rechtliche Streitigkeiten vor die Verwaltungsgerichte gehören. Das gilt für Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Grundeigentum, Gewerbegenehmigungen und Sozialversicherungsansprüchen. 49 Zwei jüngere Entscheidungen, die der EGMR in der Besetzung der Großen Kammer getroffen hat, beschäftigen sich (erneut) mit der Zuordnung und lassen am Beispiel der Rechtsverhältnisse des öffentlichen Dienstes eine handfeste Tendenz zu extensiver Interpretation erkennen: Angesichts der in zahlreichen Konventionsstaaten anzutreffenden Unterscheidung zwischen den Rechtsverhältnissen der Beamten und der Angestellten des öffentlichen Dienstes hatte der Gerichtshof zunächst Streitigkeiten über die Einstellung, die Laufbahn und die Beendigung des Dienstes nicht in den Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK fallen lassen, davon aber wiederum Ausnahmen vor allem für solche Streitigkeiten gemacht, die wirtschaftlicher Natur seien. Diese ältere Rechtsprechung wird jetzt aufgegeben.

a) Das Urteil des EGMR vom 8. Dezember 1999 Im Urteil vom 8. Dezember 1999 räumt der Gerichtshof ein, daß die bisherigen Abgrenzungen zu Unsicherheiten geführt haben, und stellt nunmehr andere Kriterien in den Vordergrund. 50 Danach sollen Streitigkeiten Angehöriger des öffentlichen Dienstes grundsätzlich von Art. 6 Abs. 1 EMRK erfaßt sein. Ausgenommen werden nur noch solche Bediensteten, „deren Dienstpflichten für den besonderen 48 So schon EGMR NJW 1979, 477 Tz. 88 f. „König"; bestätigt EGMR NJW 2002, 3453 Tz. 24 „Ferrazzini". 49 Vgl. die Nachweise bei Eberhard Schmidt-Aßmann, in: Friedrich Schoch/Eberhard Schmidt-Aßmann/Rainer Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung-Kommentar, Einl. Rn. 135; Grabenwarter, Verfahrensgarantien (o.N. 24), S. 41 ff. so EGMR (Große Kammer) NVwZ 2000, 661 ff. Tz. 60 ff. „Pellegrin"; ebenso Urteil vom 22. November 2002, NJW 2002, 3087 (3089) „Volkmer".

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Tätigkeitsbereich der öffentlichen Verwaltung charakteristisch sind, insoweit, als sie als Träger der Staatsgewalt handeln, der damit betraut ist, die allgemeinen Interessen des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften zu wahren". Als Beispiele solcher Tätigkeiten werden Aufgaben der Streitkräfte und der Polizei genannt; auch die Tätigkeit in einem Ministerium kann zu diesem Bereich gezählt werden. Im Einzelfall soll es auf eine konkrete Bestimmung ankommen, die auf die Natur der Dienstpflichten abstellt und danach fragt, inwieweit eine Beteiligung an der Ausübung der Staatsgewalt, ein Staatsvorbehalt, eingeschlossen ist. Besonders interessant ist die neue Rechtsprechung aus zwei Gründen: - Selbstkoordinierung: Bei der näheren Bestimmung des Staats Vorbehalts im öffentlichen Dienst will sich der EGMR am EG-Recht orientieren. Er denkt an Kriterien, wie sie zu Art. 39 Abs. 4 EGV entwickelt worden sind, und will als Leitlinie eben die Tätigkeitsmerkmale, die die Europäische Kommission in einer Mitteilung von 1988 verwendet hat, und die Rechtsprechung des EuGH nutzen.51 Diese Bezugnahme liegt an sich keineswegs besonders nahe. Sie ist auch nicht unproblematisch; denn der Begriff des „Tätigkeitsbereichs in der öffentlichen Verwaltung" wird im EG-Recht einerseits und in der EMRK andererseits in ganz unterschiedlichen Verwendungskontexten genutzt. Gerade wegen dieser Unterschiede erscheint die Rechtsprechung als ein interessantes Beispiel für eine „Selbstkoordinierung" der europäischen Gerichtsbarkeiten, die darum bemüht ist, in Auslegungsfragen angesichts der Vielzahl der beteiligten Rechtsprechungsinstanzen zu einer möglichst einheitlichen Linie zu gelangen. - Ausweitung: Zum zweiten geht der EGMR davon aus, daß heute „entsprechend den Absichten und den Zielen der Konvention" eine restriktive Auslegung der nicht von der EMRK erfaßten Bereiche stattzufinden habe. Diese werden als „Ausnahmen" charakterisiert. 52 Jedenfalls für die Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst, wahrscheinlich aber darüber hinaus, ist damit eine weite Geltungserstreckung der Rechtsschutzgarantie indiziert. Streitigkeiten über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" werden so zum Normalfall des Schutzbereichs, während nicht erfaßte Streitigkeiten die Ausnahme darstellen und besonders begründet werden müssen. Die ältere Auslegung, nicht die Ausklammerung, sondern die Einbeziehung öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten in den Art. 6 Abs. 1 EMRK eigens zu rechtfertigen, ist damit schlicht umgekehrt worden.

b) Das Urteil des EGMR vom 12. Juli 2001 Noch deutlicher wird diese neue Tendenz in der Entscheidung vom 12. Juli 2001 angesprochen, in der es um die Zuordnung von Streitigkeiten in Steuersachen 51 EGMR NVwZ 2000, 661 Tz. 66. 52 So EGMR NVwZ 2000, 661 Tz. 64.

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geht. 53 Solche Verfahren waren bisher nicht unter die Streitigkeiten über „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen" gerechnet worden, weil sie „normale Bürgerpflichten in einer demokratischen Gesellschaft" betreffen, für die nach den Vorstellungen bei der Verabschiedung der Konvention der Rechtsweg nicht eröffnet werden sollte. Der Gerichtshof thematisiert ausdrücklich den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse während der zurückliegenden 50 Jahre und zeigt dabei auf, daß ein immer weiteres Eindringen staatlicher Aktivitäten in private Lebensbereiche es rechtfertigt, die Schlüsselbegriffe des Art. 6 Abs. 1 EMRK weit auszulegen. Prägnant wird in diesem Zusammenhang von einem „Grundsatz, wonach die autonomen Begriffe der Konvention im Licht der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse in den demokratischen Gesellschaften auszulegen sind", gesprochen. Die Mehrheit der Richter hält sich bei der Anwendung dieses Grundsatzes zwar nicht für befugt, daß Adjektiv „zivilrechtlich" als Begrenzung der Schlüsselbegriffe gänzlich aufzugeben und beläßt es folglich für das Steuerrecht bei der überkommenen Zuordnung. 54 Die der Entscheidung beigefügten Sondervoten zeigen aber weitere Erstreckungstendenzen: Richter Ress befürwortet die Einbeziehung von Steuervollstreckungsverfahren in den anderen Schlüsselbegriff der „strafrechtlichen Anklage". 55 Richter Lorenzen, dem sich fünf weitere Richter angeschlossen haben, will sogar noch weiter gehen.56 Er hält das Kriterium der „normalen Bürgerpflichten" als Grundlage einer Unterscheidung zwischen zivilrechtlichen und nicht-zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen überhaupt nicht mehr für geeignet. Seine Argumentation ist historisch-teleologisch: Es sei nur schwer hinzunehmen, daß die mehr als 50 Jahre zurückliegenden Vorarbeiten, die zudem teilweise auf Voraussetzungen beruhten, die nicht eingetreten oder nicht mehr relevant seien, eine ständige Hürde für eine vernünftige Entwicklung der Rechtsprechung im Geltungsbereich von Art. 6 EMRK bleiben sollen - insbesondere in Bereichen, für die offensichtlich die Notwendigkeit bestehe, den Rechtsschutz des einzelnen zu erweitern. Der Gegensatz zu den erfaßten Zivilrechtsstreitigkeiten sind nicht öffentlich-rechtliche, sondern „nicht-zivilrechtliche" Streitigkeiten. Mehrheits- und Minderheitsmeinung dokumentieren, daß die restriktive Interpretation des Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 1 EMRK der Vergangenheit angehört und die Zukunft eher einer weiten Fassung gilt. Der deutsche Verwaltungsprozeß dürfte danach in weitem Umfang in den Schutzbereich der Rechtsschutzgarantie der Konvention fallen. Nach wie vor nicht erfaßt werden allerdings Streitigkeiten über das passive Wahlrecht und spezifische Beamtendienstverhältnisse sowie Streitigkeiten hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsrechts von Ausländern.

53 54 55 56

EGMR (Große Kammer) NJW 2002, 3453 ff. „Ferrazzini". o.N. 53, Tz. 29 f. o.N. 53, 3455. o.N. 53, 3455.

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3. Veränderungen

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im Verhältnis von Art. 13 zu Art. 6 EMRK

Unter den Garantiegehalten des Art. 6 Abs. 1 EMRK kommt der Gewährung des Rechtsschutzes in angemessener Zeit für Deutschland die größte Bedeutung zu. Zwar enthält auch Art. 19 Abs. 4 GG ein entsprechendes Gebot.57 In der Dogmatik stößt dieses Gebot jedoch auf nur mittelmäßiges Interesse, während die Fragen des subjektiven Rechts, der Kontrolldichte und des einstweiligen Rechtsschutzes deutlich im Vordergrund stehen. Probleme der Verfahrensdauer betreffen eher praktische Fragen und erscheinen theoretisch weniger anspruchsvoll - gelegentlich sogar gegensätzlich zu manchen ausgreifenden Konstruktionsbemühungen der Dogmatik. Dieses ist die Schattenseite der oben herausgestellten Präzision des Rechtsdenkens zu Art. 19 Abs. 4 GG. 58 In der europäischen Rechtsprechung spielt der Gesichtspunkt der Verfahrensdauer dagegen eine herausgehobene Rolle, mit der sich viele Entscheidungen beschäftigen. Freilich geht es dabei meistens um die dogmatisch eher schlichte Analyse einzelner gerichtlicher Verfahrensabläufe in den Konventionsstaaten. Daß dabei auch das Verfassungsbesch werde verfahren der Verfahrensdauer zugerechnet wird, mag aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts nicht überzeugen, ist aber der Preis für die Einbindung der nationalstaatlichen Verfahren in ein europäisch zusammengestelltes Bewertungsraster. 59 Nicht einheitlich beantwortet worden ist bisher, wie auf gerichtliche Verfahrensverzögerungen reagiert werden sollte. 60 Unsicher war insbesondere, inwieweit eine eigene Beschleunigungsbeschwerde anzuerkennen sei. Die Gründe gegen die Einführung eines solchen Rechtsbehelfs, der selbst wiederum Zeit beansprucht, liegen auf der Hand. 61 In der Literatur sind allerdings gerade in jüngerer Zeit Vorstellungen darüber entwickelt worden, wie ein im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG interpretiertes Rechtsmittelrecht eine Beschleunigungsbeschwerde aufnehmen kann. 62 Diese Stimmen haben durch ein Urteil des EGMR vom 26. Oktober 2000 Unterstützung bekommen.63 Ganz im Sinne der auch in anderen Urteilen aus neuerer Zeit festzustellenden Tendenz, die Gewährleistungen der Konvention im Wandel der tatsächlichen Verhältnisse zu betrachten und daraus 57 Vgl. BVerfGE 55, 349 (369); BVerfG -K- NJW 2001, 214 ff. und 216. 58 Treffendes dazu (auch im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit) bei Konrad Redeker, Justizgewährungspflicht des Staates versus richterliche Unabhängigkeit, NJW 2000, S. 2796 ff. 59 Ähnlich Hoffmann-Riem (o.N. 26), S. 476. 60

Dazu Vorschläge bei Paul Kirchhof, Verfassungsrechtliche Maßstäbe für die Verfahrensdauer und für die Rechtsmittel, in: Festschrift für Doehring, 1989, S. 439 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, in: Schoch/ Schmidt-Aßmann / Pietzner (o.N. 49), Einl. Rn. 159. 61 OVG Münster NVwZ-RR 1998, 340 mit weiteren Nachweisen; anders VGH München NVwZ 2000, 693 f. (betr. Nichtentscheidung eines Prozeßkostenhilfeantrags). 62 Dazu Jan Ziekow, Die Beschleunigungsbeschwerde im Verwaltungsprozeß, DÖV 1998, S. 941 ff. 63 EGMR (Große Kammer), Urteil vom 26. Oktober 2000, NJW 2001, 2694 ff. „Kudla".

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Eberhard Schmidt-Aßmann

u.U. auch einen Bedeutungswandel abzuleiten, ändert der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung zu Art. 13 EMRK: Nach dieser Vorschrift hat jede Person, die in ihren Konventionsrechten verletzt worden ist, das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben. Diese Vorschrift, die mit ihrer Bezugnahme auf die öffentliche Gewalt textlich dem Art. 19 Abs. 4 GG näher steht als Art. 6 Abs. 1 EMRK, fristete bisher überall dort, wo Art. 6 EMRK einschlägig war, ein Schattendasein. Die Kommission hatte es (auch) abgelehnt, ihr eine eigenständige Funktion dort zuzumessen, wo die Verletzung des Art. 6 EMRK gerade in einer richterlichen Verfahrensverzögerung lag. 64 Von dieser Rechtsprechung weicht das Urteil vom 26. Oktober 2000 ab: „Nach Ansicht des Gerichtshofs ist die Zeit gekommen, seine Rechtsprechung zu überprüfen angesichts der Vielzahl von Beschwerden, die bei ihm anhängig sind und deren einzige oder wesentliche Rüge die einer Verletzung der Verpflichtung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK ist, eine Verhandlung innerhalb angemessener Frist sicherzustellen." 65 Hier soll jetzt neben der Feststellung einer Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK auch Art. 13 EMRK aktiviert werden. Jedenfalls finde sich im Text des Art. 13 EMRK kein Anhaltspunkt für eine einschränkende Auslegung. Bei der Ausgestaltung eines entsprechenden Rechtsbehelfs hätten die Konventionsstaaten zwar einen gewissen Beurteilungsspielraum; es gebe zwar - wie der Rechtsvergleich zeige - kein vorherrschendes Modell eines solchen Rechtsbehelfs wegen überlanger Verfahrensdauer; doch sei in der Praxis der Konventionsstaaten erkennbar, daß ein Behelf wirksam geschaffen und angewandt werden könnte.66 Wo das bisher nicht der Fall ist, wird über Änderungen des nationalen Prozeßrechts nachzudenken sein - auch im Interesse eines nur subsidiären Eingreifens des EGMR selbst (Art. 35 EMRK). 67 Inwieweit die bisherigen Ansätze der deutschen Rechtsprechung, das bestehende Rechtsmittelrecht einer Beschleunigungsrüge zu öffnen, ausreichen, um den neuen Anforderungen des Art. 13 EMRK zu genügen, ist offen. 68 Verfassungsrechtlich wird dabei die Frage bedeutsam, inwieweit auch Art. 19 Abs. 4 GG heute eine „Beschleunigungsbeschwerde" verlangt. Wie die beteiligten Gerichtsbarkeiten, so stehen auch die europäischen Rechtsschutzgarantien in einem Verbund gegenseiti64 EKMR Serie A Bd. 257, S. 37 Tz. 21 „Pizzetti"; Jochen Ahr. Frowein/Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention Kommentar, 2. Aufl. 1996, Art. 13 Rn. 9 f.; weitere Nachweise auch zur Gegenauffassung bei Michael Schweitzer, Internationaler Kommentar zur EMRK, 4. Lfg. (Mai 2000), Art. 13 Rn. 48 ff. 65 EGMR (o.N. 63) Tz. 148. Kritisch zu diesem Argument Richter Casadevall in seinem abweichenden Votum NJW 2001, 2701 unter III („... hat für mich mehr mit Opportunität als mit Recht zu tun"). 66 Vgl. EGMR NJW 2001, 2691 f. „Gonzalez Marin", und 2692 ff. „Tomé Mota". 67 Zu diesem Zusammenhang vgl. Wildhaber (o.N. 25), S. 569. 68 Dazu Jens Meyer-Ladewig, Rechtsbehelfe gegen Verzögerungen im gerichtlichen Verfahren - zum Urteil des EGMR Kudla/Polen, NJW 2001, S. 2679 f.

Neue Entwicklungen zu Art. 6 EMRK

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ger Einflußnahmen. Selbst wenn gerichtsverursachte Verfahrensverzögerungen in Deutschland bei weitem nicht das Ausmaß haben, das der EGMR in anderen Konventionsstaaten festgestellt hat und das ihn zur Änderung seiner Rechtsprechung im Hinblick auf Art. 13 EMRK veranlaßt hat, so ist das Problem doch auch hier dringend. Die Garantie wirksamen Rechtsschutzes muß heute auch eine Möglichkeit umfassen, ζ. B. gegen die Nichtentscheidung von Anträgen auf Prozeßkostenhilfe sowie gegen Vertagungen und zu weit hinausgezögerte Terminbestimmungen vorzugehen. Nachdem das Verwaltungshandeln auf Rechtsschutzmöglichkeiten „im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG" nach allen Seiten hin analysiert worden ist, deuten neuere Entwicklungen an, daß auch das richterliche Handeln selbst stärker in die Schutzüberlegungen einbezogen werden muß. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Perspektivenerweiterung in seiner jüngeren Rechtsprechung zur prozessualen Überholung strafprozessualer Grundrechtseingriffe bereits angedeutet.69 Jetzt wird es darum gehen, die grundgesetzlichen Rechtsschutzgarantien im Hinblick auf die richterliche Gewalt so zu erweitern, daß gerichtsspezifische Rechtsgefährdungen erfaßt werden. Zu solchen Gefährdungen gehören neben den Verletzungen des Art. 103 Abs. 1 GG heute vor allem Verfahrens Verzögerungen. Systematisch kommen dafür zwei Standorte in Betracht: entweder Art. 19 Abs. 4 GG oder der allgemeine, im Rechtsstaatsprinzip verankerte Justizgewährungsanspruch. Erstere Bestimmung verfügt über eine detailliert ausgearbeitete verfassungsrechtliche Dogmatik unter anderem zu Fragen der Kontrollintensität, die freilich bisher ganz im Blick auf Verwaltungskontrollen entwickelt worden ist. Der allgemeine Justizgewährungsanspruch ist insofern weniger vorgeformt; er ist damit aber auch flexibler. Das spricht dafür, die erforderlichen Erweiterungen, die in ihren Einzelausformungen noch des Experimentierens bedürfen, in seinem Schutzbereich vorzunehmen. 70 Wichtig ist auf jeden Fall, daß auch die grundgesetzlichen Rechtsschutzgarantien auf die neuen Herausforderungen reagieren. Menschenrechtskonvention und Grundgesetz befinden sich, wenn sie auf diese Gefährdungen mit einer neuen Auslegung ihrer Rechtsschutzgarantien reagieren, auf demselben Wege, und die beteiligten Verfassungsgerichte sind es in ihrem Bemühen, auf eine vorherige Erschöpfung des Rechtswegs und ihre nur subsidiäre Inanspruchnahme zu dringen, ebenso.

69 BVerfGE 96, 27 ff. 70 So für Verstöße gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör auch der Plenarbeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. April 2003 - IPBvU 1 / 0 2 - unter C I 3 b.

Sozialer Konflikt und sozialer Ausgleich Zur Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit Von Udo Steiner I. Soziale Belange und staatlicher Gemeinwohlauftrag Die Durchsetzung privatnütziger Interessen durch den Einzelnen und in organisierter Form gehört im Ordnungsmodell eines freiheitlichen Gemeinwesens zu den legitimen Aktivitäten. Bereitschaft zu gemeinnützigem Handeln und Gemeinsinn ist keine verfassungsrechtliche Grundpflicht. Beides wird benötigt und teilweise auch belohnt;1 definiert ist der Bürgerstatus aber durch solche Eigenschaften nicht. Der Staat wird demgegenüber als eine politische Organisation verstanden, die die Belange des Gemeinwohls zur Geltung zu bringen hat und bringt. 2 Zu diesen Belangen gehören in besonderer Weise soziale Belange. Man kann das Gemeinwohl - in der Sprache der Gemeinwohlforschung - als das Interesse aller an einer sozialen Ordnung definieren, die man nicht nur vom Standpunkt der speziellen Lage, in der man sich gerade befindet, sondern vom Standpunkt aller möglichen Lagen aus akzeptieren kann.3 Das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG vermittelt dem Staat die Legitimation, soziale Belange Einzelner zum Gegenstand seines Gemeinwohlauftrags zu machen und sich dabei auch solcher rechtlicher Instrumente zu bedienen, die zu Lasten der Eigeninteressen anderer gehen, vor allem bei der Organisation und Finanzierung sozialstaatlicher Hilfe in der Form einer Pflichtversicherung mit Beiträgen. Das Grundgesetz stellt damit klar, daß von Verfassungs wegen soziale Erwägungen ein gewichtiger Grund für den Gesetzgeber sind, von den Eingriffsoptionen Gebrauch zu machen, die die Schranken der Grundrechte eröffnen. 4 Das Sozialstaatsprinzip erweist sich dabei als Konkretisierung der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG), die auch eine ökono1 Siehe zu den steuerrechtlichen Gemeinnützigkeitstatbeständen neuerdings Jachmann, in: Igl (Hrsg.), Rechtliche Rahmenbedingungen bürgerschaftlichen Engagements, 2002, S. 67 ff. 2 Vgl. BVerfGE 98, 218 (246). Vgl. auch Uerpmann, Das öffentliche Interesse, 1999, S. 20 ff., der auf Art. 3 Abs. 1 Satz 2 der Bayer. Verfassung hinweist. Hier ist vom (Frei-)Staat Bayern gesagt: „Er dient dem Gemeinwohl". 3 Koller, Das Konzept des Gemeinwohls. Versuch einer Begriffsexplikation, in: Brugger/ Kirste/ Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, 2002, S. 41

(60).

4 Ähnlich Merli, Armut und Verfassung. Die Rechtslage in Deutschland, in: Hofmann u. a. (Hrsg.), Armut und Verfassung. Sozialstaatlichkeit im europäischen Vergleich, 1998, S. 117

(121).

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Udo Steiner

mische Grundlage hat, die Sicherung des Existenzminimums, ein Leben also ohne existentielle Not. Leistungsrechtliche Komponenten einzelner Grundrechte, die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG), das Verbot der Benachteiligung wegen Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) und die Kompetenz des gesamtstaatlichen Gesetzgebers, soziale Belange für alle Bürger des Landes einheitlich und wirksam zur Geltung zu bringen (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 6, 7, 9, 10, 10a, 12, 13 GG), kommen hinzu. Soziale Grundrechte kennt das Grundgesetz nicht. Das Sozialstaatsprinzip schickt den Staat mit dem Gesetz im Gepäck auf den Weg zu sozialer Gerechtigkeit.5 Es ist der Gesetzgeber, der Rechtsansprüche gewährt, fast tausend an der Zahl im deutschen Sozialrecht, und es sind Bund und Länder, die über tausend Sozial- und Verwaltungsrichter „vorhalten", um diesem Sozialrecht Geltung im Konfliktfall zu verschaffen. Das Sozialstaatsprinzip überläßt es dem Gesetzgeber nicht zu entscheiden, wie er sich prinzipiell zur Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit verhält. Es enthält einen Handlungsauftrag, der ihm die Richtung seines politischen Gestaltungsauftrags weist.6

II. Die Arbeitsfelder des Sozialstaats und ihre verfassungsrechtliche Absicherung 1. Die soziale Grundsicherung Es liegt in der Eigenart des deutschen Rechtsdenkens mit dem dieses prägenden Bedürfnis nach verfassungsrechtlicher Absicherung der staatlichen Aufgaben, daß die meisten sozialstaatlichen Aktivitäten von Gewicht auf Grund der Verfassungsrechtsprechung auf eine besondere grundgesetzliche Legitimation verweisen können und nicht nur Aufgaben sind, die der Gesetzgeber selbst definiert (vgl. § 1 Abs. 1 SGB I). Der Staat, der das Existenzminimum des Einzelnen als Mindestvoraussetzung für ein menschenwürdiges Dasein sichert, sieht sich hier in einer Verantwortung, die aus dem Grundgesetz „zwingend" abzuleiten ist.7 Gleiches gilt für die besondere Situation der Pflegebedürftigen, die vor dem Hintergrund einer kontinuierlich steigenden Alterserwartung das Gemeinwesen vor neue Aufgaben stellt. Die Fürsorge für Menschen, die vor allem im Alter zu den gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Grund von Krankheit und Behinderung nicht in der Lage sind, gehört im Geltungsbereich des Grundgesetzes zu den sozialen Aufgaben der staatlichen Gemeinschaft (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG). Dem Staat ist - so formuliert es das BVerfG 8 - die Wahrung der Würde des 5 Zum Begriffsgebrauch siehe Jungbauer, Die Verwendung des Begriffs „Gerechtigkeit" in der Rechtsprechung des BVerfG, 2002, S. 261 ff. 6 Umfassend Zacher, Grundlagen der Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1, 2001, S. 333 ff. 7 Vgl. BVerfGE 40, 121 (133) unter Verweisung auf BVerfGE 5, 85 (198); 35, 202 (236). Vgl. ferner BVerfGE 43, 13 (19); 44, 353 (375); 82, 60 (80). 8 Vgl. BVerfGE 103, 197(221).

Sozialer Konflikt und sozialer Ausgleich

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Menschen in einer solchen Situation der Hilfsbedürftigkeit besonders anvertraut (Art. 1 Abs. 1 GG). Das BVerfG scheint sich dabei in einer Situation der ambivalenten Bewertung des Sozialhilfesystems zu befinden. Einerseits kann die Verweisung des einzelnen zur Behebung einer individuellen Notlage auf die Sozialhilfe dessen sozialen Status eigentlich nicht abwerten; immerhin empfängt dieses System - wie schon hervorgehoben - seine prinzipielle Legitimation aus hochrangigem Verfassungsrecht. 9 Andererseits soll die Sozialversicherung der Abhängigkeit des Einzelnen von Sozialhilfeleistungen vorbeugen, die auch die Angehörigen in unterhaltsrechtlich begründete Mithaft für erbrachte staatliche Leistungen bringt. 10 Das BVerfG nennt an erster Stelle das mit der Pflegepflichtversicherung verfolgte Ziel des Gesetzgebers, mit deren Leistungen vorrangig die häusliche Pflege und die Pflegebereitschaft der Angehörigen und Nachbarn zu unterstützen, damit die Pflegebedürftigen möglichst lange in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können. Der Gesichtspunkt der fiskalischen Entlastung tritt demgegenüber in die zweite Reihe, auch wenn er die politische Initiative zur Einführung der gesetzlichen Pflichtversicherung stark mitbestimmt hat.11

2. Gleichheit der Lebenschancen Das BVerfG hat es bisher offen gelassen und offen lassen können, ob aus Art. 2 Abs. 1 und aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip dem Grunde nach ein Anspruch des Einzelnen auf Ausbildungsförderung abzuleiten ist. 12 Dies ist möglich, weil die Grundentscheidung für ein System staatlicher Ausbildungsförderung außer politischem Streit steht: Wer an einer Ausbildung teilnimmt, die seiner Neigung, Eignung und Leistung entspricht, hat ein Recht auf individuelle Förderung seiner Ausbildung, wenn ihm die hierfür erforderlichen Mittel nicht anderweitig zur Verfügung stehen (§ 3 Abs. 1 SGB I). Die Verfassungsrechtsprechung steht der Feststellung Schmitt Glaesers nahe, die Möglichkeit der Freiheit allein könne kaum Chancen ihrer Verwirklichung einräumen, wenn es an den tatsächlichen Voraussetzungen der Freiheitsausübung fehlt. 13 Der moderne Staat hat es sich zu seiner Aufgabe gemacht, nicht nur die rechtliche Freiheit zu schützen, sondern soweit wie möglich auch die Bedingungen wirklicher Freiheit 9 Siehe BVerfGE 103, 392 (403); vgl. auch Schneider, in: Sozialer Fortschritt 2002, S. 109. 10 Vgl. BVerfGE 103, 197 (221 ff.). Das Gericht rückt diesen Gesichtspunkt im Zusammenhang mit der Legitimierung der Pflegeversicherung eher in den Hintergrund. Die Pflegeversicherung soll primär positiv begründet sein, nicht fiskalisch. Diese Rangfolge wird durch die Erfahrung gestützt, daß in vielen Fällen die Leistungen der Pflegeversicherung bei stationärer Pflege zur Deckung der Kosten nicht ausreichen und die Sozialhilfeträger nach wie vor in der Pflicht sind. » Vgl. BVerfGE 103, 197 (221 f.). 12 Siehe BVerfGE 96, 330 (339). 13

Schmitt Glaeser, Art. Freiheit, in: Gutjahr-Löser/K. Hornung (Hrsg.), Politisch-pädagogisches Handwörterbuch, 2. Aufl. 1985, S. 175 (179).

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zu schaffen. 14 Die Mehrheit der Bürger ist darauf angewiesen, daß er darin eine hochrangige Verpflichtung sieht. Herstellung der Gleichheit der Lebenschancen ist jedenfalls dann im Prinzip ein verfassungslegitimes Anliegen, wenn man Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG als Anknüpfungspunkte einer in dieser Richtung offensiven Grundrechtspolitik begreift. Gleichheit der Ausbildungschancen eröffnet der Staat im übrigen über die individuelle Förderung hinaus in effektiver Weise durch die Gründung wohnsitznaher Hochschulen. Diesen Beitrag zur Entfaltung von Lebenschancen junger Menschen weiß derjenige Hochschullehrer besonders einzuschätzen, der - wie der Jubilar und auch der Autor dieses Beitrags - an Universitäten aktiv ist, die als Neugründungen die Begabungsreserven einer Region, in unserem Falle der Oberpfalz und Oberfrankens, eindrucksvoll ausschöpfen. Adäquate Lebens- und Erwerbschancen für die nachwachsenden Generationen sozial (und umweltpolitisch) zu gestalten und zu gewährleisten, gehört zu den zentralen Legitimationsfaktoren der Politik in einer Demokratie. 15 An die Leistung des Einzelnen können berufliche Vorteile in Staat und Gesellschaft grundsätzlich mit Erwartung allgemeiner Akzeptanz nur geknüpft werden, wenn die Chance auf Leistung möglichst vielen auch tatsächlich offen steht. Eine bedeutende Variante dieses großen Themas ist die Gleichheit der Chancen, zu seinem Recht im Rechtsstaat zu kommen. Der Zugang zu den Rechtsschutzmöglichkeiten, die das deutsche Prozeßrecht bietet, wird maßgeblich von der Möglichkeit bestimmt, Prozeßkostenhilfe durch den Staat zu erhalten (§ 114 ZPO). Das BVerfG hat hier Doppeltes geleistet. Es hat aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip das Gebot weitgehender Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes abgeleitet.16 Es kontrolliert zudem auch laufend, ob die Praxis der Prozeßkostenhilfe diesen Anforderungen genügt. Verfassungsbeschwerden, die mit der Verletzung der Rechtsschutzgleichheit begründet sind, haben beim BVerfG überdurchschnittliche Erfolgsquoten. 17

3. Pflichtversicherung

von Lebensrisiken

Auch dort, wo der Gesetzgeber seine Vorstellungen über soziale Sicherheit durch Errichtung und Organisation von Pflichtversicherungssystemen zur Vorsorge gegen bestimmte Lebensrisiken verwirklicht, stellt ihm das BVerfG zumindest mittelbar das Grundgesetz zur Erfüllung dieser Aufgabe zur Seite. Es formuliert in •4 Schmitt Glaeser, Freiheit (Fn. 13), S. 179. ι* Dazu Roy, Sozialintegrative Demokratie, 2001, S. 24 ff. 16 Vgl. BVerfGE 81, 347 (Leitsatz und S. 356 f.). 17 Siehe etwa BVerfG, 1. Senat, 1. Kammer, Beschl. vom 2. März 2000, NJW 2000, S. 2098; Beschl. vom 18. Dezember 2001, 1 BvR 391 /Ol (beide Sozialgerichtsbarkeit).

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Bezug auf die Pflege Versicherung, aber mit Geltung für alle Sozialversicherungssysteme, soweit der durch die Pflegebedürftigkeit hervorgerufene Hilfsbedarf finanzielle Aufwendungen notwendig mache, sei es ein legitimes Konzept des zur sozialpolitischen Gestaltung berufenen Gesetzgebers, die dafür notwendigen Mittel auf der Grundlage der Pflichtversicherung sicherzustellen,18 die im Grundsatz alle Bürger als Volksversicherung erfaßt. 19 Dies ist eine bemerkenswerte Einschätzung. Darin liegt nicht eigentlich eine prominente Ausnahme von dem Grundsatz, daß der Staat keiner verfassungsrechtlichen Ermächtigung für die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben bedarf. 20 Es geht um die indirekte grundgesetzliche Legitimation einer sozialen Staatsaktivität.

4. Ausgleich von Sonderlasten und Sonderopfern Sozialstaatlicher Auftrag und Gleichheitsprinzip legitimieren im Verbund auch die gesetzlichen Maßnahmen, die (Sonder-)Opfer des Bürgers entschädigen und (Sonder-)Lasten ausgleichen. Der Gedanke eines Ausgleichs von Sonderopfern durch Leistungen des Staates nach dem Opferentschädigungsgesetz oder nach dem Kriegsopferentschädigungsrecht beruht auf der Zurechnung bestimmter Schäden zu staatlichem Tun oder Unterlassen. Die Literatur sieht auch die deutsche Gesetzgebung der Nachkriegszeit zum Kriegslastenausgleich als verfassungsrechtlich gestützt an. 21 Es ging um den Ausgleich schicksalhafter, Menschen in großer Zahl treffender Schäden.22 Eine integrierende Rolle wird dabei dem BVerfG bei der richterlichen Kontrolle der Lastenausgleichsgesetzgebung als Grundlage der wirtschaftlichen und sozialen Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Bundesrepublik und in der westdeutschen Gesellschaft zuerkannt. 23 Auch die Gesetzgebung des vereinigten Deutschland, die eine Überleitung der Alterssicherungssysteme der Deutschen Demokratischen Republik in das gesamtdeutsche System auf den Weg gebracht hat, erfährt ihre Grundlegitimation aus dem Sozialstaatsprinzip und aus einer Art Nachwirkung des erfüllten Wiedervereinigungsgebots des Grundgesetzes.24

ι» Siehe BVerfGE 103, 197 (221) unter Verweisung auf BVerfGE 44, 70 (89); 48, 227 (234) und 52, 264 (274). 19 Vgl. BVerfGE 103, 197 (221). 20 So klarstellend BVerfGE 98, 218 (246). 21 Siehe Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, 1980, S. 70 Fn. 43 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG, ζ. Β. E 11, 50 (56) und 19, 354 (364). 22 Vgl. BVerfGE 102, 254 (298). 23 Siehe aus der Rechtsprechung etwa BVerfGE 4, 60; 6, 290; 9, 305; 11, 50; 11, 64; 12, 151 und 32, 249. Hervorgehoben als vorbildliches Gemeinschaftswerk bei Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 21), S. 70 i.V.m. Fn. 43 mit Nachweisen. Siehe auch Zacher, ZIAS 2002, S. 193 (215 f.).

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5. Staatliche Gemeinschaft durch soziale Integration Durch seine Rechtsprechung stützt das Gericht in einer sehr grundsätzlichen Weise den Gesetzgeber, wenn dieser durch soziale Leistungen sicherstellt, daß der Einzelne in der Gesellschaft verbleibt und nicht von ihr aus wirtschaftlichen Gründen ausgeschlossen und von ihr nicht „aussortiert" wird. 25 Es stärkt die besondere integrative Leistung des Sozialstaates. Dieser gleicht Güterdefizite des Einzelnen aus, die einen besonderen, häufig auch verfassungsrechtlich und nicht nur politisch dem Grunde nach anerkannten Bedarf an Hilfe der staatlichen Gemeinschaft auslösen. Die „sozialstaatliche Dazugehörigkeit" aller im Inland lebenden Menschen26 hat - unbeschadet ihres dargestellten grund- und menschenrechtlichen Ansatzes - staatsintegrative Wirkung. Sie ist die Grundlage der Loyalität des Einzelnen zu seinem Gemeinwesen, die sich nicht zuletzt in der Bereitschaft niederschlägt, die Rechtsordnung des Staates zu achten und die staatsbürgerlichen Rechte, vor allem durch die Teilnahme an den demokratischen Wahlen, wahrzunehmen.27

III. Der Beitrag der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Interessenausgleich im Sozialstaat 1. Gesetzgeberische Sozialverantwortung und verfassungsgerichtliche Kontrolle a) Das Sozialstaatsprinzip wird als eine umfassende staatliche Leistungs-, Gestaltungs- und Ordnungsermächtigung für den Gesetzgeber verstanden.28 Es bringt nicht das BVerfG in die Rolle des sozialstaatlichen Mega-Mediators. In den über 50 Jahren seiner Rechtsprechung mit knapp 300 Urteilen und Beschlüssen der beiden Senate zum Sozialrecht hatte das Gericht - soweit ersichtlich - noch nicht in 24 Siehe dazu Steiner, DVP 2000, S. 223 (227); vgl. BVerfGE 100, 1. Die Leistung der Rechtsprechung des BVerfG besteht hier hoffentlich in einem Beitrag zum Zusammenwachsen der Deutschen nach über 40 Jahren staatlicher Trennung. Siehe auch Mey, 10 Jahre nach dem Fall der Mauer - Deutsche Einheit auch im Sozialrecht?, Die Rentenüberleitung, in: SDSRV 46 (2000), S. 7, und Rehfeld/Grütz, 10 Jahre Deutsche Einheit, Deutsche Rentenversicherung, 2000, S. 546. 25 So Zacher, ZIAS 2002, S. 193 (197). Siehe auch Kuriki, Die Verfassungsgerichtsbarkeit als Erhalter des Grundkonsenses des Volkes, in: Gerechtigkeit in der sozialen Ordnung, hrsg. von Weiler/Mizunani, 1999, S. 121. 26 So Ρ Kirchhof, Armut und Freiheit, in: Verfassung, Theorie und Praxis des Sozialstaats, Festschrift für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 1998, S. 323 (325). 27 Hier gilt Ähnliches wie bei der Haftung des Staates für Unrecht. Indem der Staat durch Schadensersatz oder Entschädigung um Ausgleich bemüht ist, versucht er zu verhindern, daß seine Bürger zu ihm wegen der Unrechtserfahrung auf eine illoyale Distanz gehen. 28 Pitschas, Soziale Sicherungssysteme im „europäisierten" Sozialstaat, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, hrsg. v. Badura/Dreier, 2001, S. 827.

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sozialrechtlichen Elementarkonflikten zu entscheiden, sieht man vom Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 116 Abs. 3 Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes ab. 29 Das Verfahren mit dem wohl größten sozialen Konfliktstoff betraf die Mitbestimmung in der Unternehmens Verfassung. 30 Das BVerfG hat es bisher zu Recht vermieden, durch eine leistungsrechtliche Interpretation der Grundrechte und insbesondere des Art. 12 Abs. 1 GG den Eindruck zu erwecken, als könne es mit seiner Rechtsprechung den Menschen Zugang zur Arbeit verschaffen. Dieser Versuchung war es auch nicht erlegen, als es im Zuge der Wiedervereinigung mit dem hohen Verlust an Arbeitsplätzen in den neuen Ländern und insbesondere in deren öffentlichem Dienst durch die Anwendung einer Reihe von Sonderkündigungstatbeständen befaßt war. Mit der Freiheit der Wahl des Arbeitsplatzes sei - so entschied das Gericht - weder ein Anspruch auf Bereitstellung eines Arbeitsplatzes eigener Wahl noch eine Bestandsgarantie für einen einmal gewählten Arbeitsplatz verbunden. Ebensowenig verleihe das Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG unmittelbaren Schutz gegen den Verlust eines Arbeitsplatzes auf Grund privater Dispositionen. Das BVerfG hat den Staat freilich nicht ganz aus der Verantwortung für Arbeitsplatzfragen genommen. Soweit es um private Arbeitsplätze gehe, obliege dem Staat eine aus Art. 12 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht, der die geltenden Kündigungsvorschriften freilich hinreichend Rechnung trügen. Greife der Staat - wie im öffentlichen Dienst - direkt in bestehende Arbeitsverhältnisse ein, so müßten sich diese Eingriffe stets am Grundrecht der freien Wahl des Arbeitsplatzes messen lassen.31 b) Betreibt der Gesetzgeber freilich in dem ihm möglichen Rahmen aktive Arbeitspolitik und trifft er dabei Regelungen, die er für geeignet hält, den Menschen zur Arbeit zu verhelfen, so bildet das BVerfG das Höchstgewicht einer solchen Politik auch im Grundgesetz ab. Es formuliert, daß das mit der angegriffenen Regelung der Lohnabstandsklauseln verfolgte Ziel, Massenarbeitslosigkeit zur Förderung von zusätzlichen bereitgestellten Arbeitsplätzen zu bekämpfen, Verfassungsrang habe. Der Gesetzgeber könne sich dabei auf das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG berufen. Außerdem helfe er dem einzelnen Arbeitslosen, sich durch Arbeit in seiner Persönlichkeit zu entfalten und darüber Achtung und Selbstachtung zu erfahren. Insofern werde sein Ziel auch von Art. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG getragen. 32 Auf diese Weise macht das Gericht für den Gesetzgeber den verfassungsrechtlich risikobehafteten Weg frei, Einschränkungen der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie vorzunehmen. c) Der Ausgleich widerstreitender Interessen bei der Gestaltung des Sozialrechts ist Sache des Gesetzgebers. Das BVerfG hat kein eigenes Ausgleichsermessen. Es kann insbesondere nicht prüfen, ob widerstreitende Interessen sozial gerecht abge29 Vgl. BVerfGE 92, 365. 30 Siehe BVerfGE 50, 290. 31 Vgl. BVerfGE 84, 133 (146 f.); dazu Steiner, DVP 2000, S. 223 f. 32 Vgl. BVerfGE 100, 271 (284). 23 FS Schmitt Glaeser

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wogen wurden. Fairneß verlangt das Grundgesetz nur in bezug auf gerichtliche Verfahren; 33 materiell faire Konfliktlösungen herzustellen, ist kein Verfassungsgebot. In den Fällen, in denen das BVerfG in einer gesetzlichen Regelung keinen Verfassungsverstoß erkennen kann, die Beteiligten aber - oft gut nachvollziehbar - auf eine gerichtliche Korrektur des gesetzlichen Interessenausgleichs vertraut hatten, stellt es gerne klar, es sei nicht seine Aufgabe zu prüfen, ob der Gesetzgeber die zweckmäßigste und gerechteste Lösung getroffen habe.34 Atypischen Interessenlagen Einzelner muß der Gesetzgeber nicht Rechnung tragen, formuliert das BVerfG ziemlich hart. 35 Es enttäuscht auch immer wieder Betroffene, wenn es ihnen zumutet, verfassungswidrige Regelungen für die Vergangenheit hinzunehmen, weil - aus der Sicht des Gerichts - übergeordnete finanzielle Interessen der Sozialversicherungsträger der rückwirkenden Herstellung einer verfassungskonformen Rechtslage entgegenstehen.36 Hier hat das BVerfG Spielräume eines Interessenausgleichs, deren Nutzung den Bürger, geht sie zu seinen Lasten, nur schwer überzeugt. 37

2. Defensive und offensive Elemente in der Gleichheitsrechtsprechung des BVerfG a) Eine Durchsicht der Rechtsprechung des BVerfG zeigt, daß auf der vor allem von Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 3, Art. 6 Abs. 1, Art. 12 und Art. 14 GG ausgeleuchteten sozialrechtlichen Bühne vor der gewaltigen Wertkulisse, die das Gericht in mehr als fünf Jahrzehnten aufgebaut hat, der eindeutige Maßstabsstar der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG ist. Bei vorsichtiger Einschätzung steht er in 65 % aller Sozialrechtsentscheidungen des BVerfG im Vordergrund. Darin liegt auch eine Aussage über die Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des sozialbezogenen Interessenausgleichs. Denn prüft das Gericht gesetzliche Vorschriften an diesem Maßstab, so befindet es sich grundsätzlich in einer defensiven Rolle. Es stellt prinzipiell nur fest, daß eine Regelung, so wie sie getroffen wurde, verfassungsgemäß nicht sein kann, entscheidet aber nicht, wie eine verfassungsgemäße Regelung auszusehen hat. Das Gericht scheidet - anders gesprochen - nur bestimmte politische Alternativen aus. Die Feststellung der Nichtigkeit der Norm erfolgt in der jüngeren Gerichtspraxis eher ausnahmsweise. Ganz im Vordergrund steht die Feststellung der Unvereinbarkeit der Norm mit Art. 3 Abs. 1 GG, und ein 33

Siehe dazu die Nachweise aus der Rechtsprechung bei Jarass/Pieroth, Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2002, Art. 20 Rn. 31 a, 93. 34 Etwa: BVerfGE 64, 158 (168 f.); 66, 84 (95). Siehe zu dieser variierenden Formel Benda, in: Benda/ Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 2001, S. 11 ff. (Rn. 28). 3 5 Vgl. BVerfGE 44, 70 (96). 3 6 Zu dieser Frage siehe grundsätzlich Ebsen, NZS 1997, S. 441 (448 f.). 37 Siehe dazu Steiner, Zum Entscheidungsausspruch und seinen Folgen bei der verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle, in: Freiheit und Eigentum, Festschrift für Leisner, hrsg. v. Isensee/Lecheler, 1999, S. 569 (571 f.).

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solcher Tenor ist regelmäßig mit der Klarstellung verbunden, der Gesetzgeber habe mehrere Möglichkeiten, eine verfassungsgemäße Neuregelung zu treffen. Der Verfassungsgerichtsprozeß in Deutschland eignet sich also nicht, auch nicht mit Hilfe anderer Grundrechte oder anderer Verfassungsmaßstäbe, soziale Prozesse judikativ zu gestalten und schon gar nicht, „ein in sich stimmiges Sozialversicherungsrecht 4' durch Richterrecht - wie die Literatur 38 gelegentlich anträumt - zu entwerfen. Seine Aufgabe ist es im Bereich der Durchsetzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes, „Gerechtigkeitslücken4' zu schließen, wie beispielsweise evident bei der Gleichstellung der Kriegsopfer des 2. Weltkriegs in den alten und neuen Bundesländern fast zehn Jahre nach der Vereinigung Deutschlands.39 Es gilt primär, Asymmetrien zu beseitigen, die oft erst nach feinster Analyse des einfachen Sozialrechts sichtbar werden, und gewisse Sozialrechtslinien in Richtung gebotener Gleichheit zu begradigen. Ein sehr typisches Beispiel dafür ist die vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochene Verpflichtung des Gesetzgebers, Personen ohne Krankenversicherungsschutz, die gleichermaßen schutzbedürftig sind wie krankenversicherte Personen, den Zugang zur gesetzlichen Pflegeversicherung zu eröffnen, wenn diese als Vollversicherung angelegt ist. 40 Hier werden die Linien des Gesetzes nur weitergezogen. Verfassungsrechtlicher Gleichheitsschutz ist häufig nicht mehr, als den Gesetzgeber auf Konsequenz festzulegen, freilich auch nicht weniger. Immerhin gehört die Gleichheit vor dem Gesetz zu den Grundwerten unserer Gesellschaft, auf die sich alle einigen können. Wenn das Gericht Gleichheit, die das Grundgesetz in Art. 3 Abs. 1 GG verspricht, herstellt, stärkt es diesen zentralen Gerechtigkeitswert und trägt zur Integration der Gesellschaft bei, soweit deren Zusammenhalt auf gemeinsamen rechtsethischen Grundüberzeugungen beruht. 41 Das BVerfG hat die nicht gering zu schätzende Aufgabe, durch seine Rechtsprechung zum Gleichheitsgrundsatz zu verhindern, daß der einzelne willkürlich aus der sozialstaatlichen Solidargemeinschaft ausgeschlossen wird, mögen auch manche Verfassungsbeschwerdeführer kuriose Sozialwünsche an das Gericht herantragen. 42 b) Dabei nimmt das BVerfG nicht für sich in Anspruch, jedem Gleichheitsproblem gewachsen zu sein. Dies macht die jüngere Rechtsprechung zu den vielfältigen Bemühungen des Gesetzgebers deutlich, den Leistungsaufwand der gesetzlichen Krankenkassen durch Ausschöpfung von Einsparpotentialen bei den Leistungserbringern zu verringern. Das Gericht mußte den Betroffenen klar machen, daß gesetzliche Maßnahmen eines auf Ausgewogenheit angelegten Stabilisierungs38 F. Kirchhof, NZS 1999, S. 161 (162). 39 Vgl. BVerfGE 102,41. 40 Vgl. BVerfGE 103, 225. 41 Zum „Homogenität erzeugenden Wertebestand" als Element der sachlichen Integration siehe Mols, Art. Integration, in: Staatslexikon, Bd. 3, 7. Aufl. 1987, Sp. 111 (116). 42 Siehe dazu Steiner, Was Karlsruhe wirklich entscheidet, in: Colloquia für Schwab, hrsg. v. Klippel u. a., 2000, S. 95 (97 ff.). 23=

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kurses des Gesetzgebers nicht schon dann unverhältnismäßig (im weiteren Sinne) und deshalb verfassungswidrig seien, weil bei anderen und an anderen Stellen noch zu sparen ist. 43 Dem Gemeinwohlbelang der finanziellen Sicherung der gesetzlichen Krankenversicherung kann - so war in jüngster Zeit zu entscheiden - nicht entgegengehalten werden, daß bestimmte von Heilberufen erbrachte Leistungen nur einen geringen Anteil an den Gesamtausgaben ausmachen. Bei einem Spargesetz, das viele Gruppen in Anspruch nimmt, ist jeder Teilbetrag von Bedeutung. Die einzelnen Gruppen können ihren Anteil nicht jeweils unter Berufung auf das Gesamtvolumen eines Spargesetzes als minderbedeutsam für das gesamtwirtschaftliche Interesse darstellen, weil sie damit zu Lasten anderer das gesetzgeberische Konzept unterliefen. 44 c) Allerdings finden sich in der Rechtsprechung Verfassungsstreitverfahren, bei deren Entscheidung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG das Gericht die Aufgabe einer Art „kontrollierter Offensive" übernommen hat. Es sind dies Fälle, in denen das Gesetz über eine längere Distanz unverändert geblieben ist, die zugrundeliegenden und relevanten tatsächlichen Verhältnisse sich aber wesentlich geändert haben. Sucht man nach Beispielen in der jüngeren Rechtsprechung, so findet sich eine Entscheidung, in der sich das BVerfG mit der - höchst sozialsensiblen - Bestimmung über den Zugang der Rentner zur (beitragsgünstigen) gesetzlichen Krankenversicherung beschäftigt hat. Es kam zu der Auffassung, die Erschwerung dieses Zugangs durch das Gesundheitsstrukturgesetz 1992 sei mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz unvereinbar. Bei dieser Gleichheitskontrolle, die zunächst eine gerichtliche Routineaufgabe darstellt, hat das Gericht allerdings auch festgestellt, der Verfassungsverstoß könne nicht nur durch eine Neuregelung des Zugangs zur Krankenversicherung der Rentner behoben werden, sondern auch durch Änderungen im Beitragsrecht. Geschehen könne dies durch eine Annäherung der Beitragsregelung für die pflichtversicherten Rentner einerseits und für die freiwillig versicherten Rentner andererseits. Dieser Hinweis erschien wichtig, weil Zweifel bestehen, ob es vor dem Hintergrund bestimmter sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen in der Bundesrepublik, vor allem auf Grund von Schenkung und Vererbung von Vermögen, noch gerechtfertigt ist, den pflichtversicherten Rentner - vereinfacht gesagt - als grundsätzlich vermögenslos und den in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versicherten Rentner dagegen als so leistungsfähig anzusehen, daß auch seine Vermögenseinkünfte in die Beitragsbemessung einbezogen werden müssen.45 Der Gesetzgeber hat diesen Anstoß für ein wirklichkeitsnäheres Beitragsrecht nicht aufgenommen. Ihn aufzunehmen, hätte - so der Gesetzgeber dies will - der Einstieg sein können in eine grundsätzliche Verbreiterung der Bemessungsgrundlagen in der gesetzlichen Krankenversicherung. 46 43 44 45 46

Vgl. BVerfGE 103, 173 (189). Beschl. des Ersten Senats vom 14. 1.2003, 1 ΒvQ 51/02 - Zahntechniker (juris). BVerfGE 102, 68 (93 ff.). Siehe näher dazu Steiner, MedR 2003, S. 1 (5).

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d) Zu den Fällen eines judikativen Anstoßes ist auch das Urteil zum Beitragsrecht in der sozialen Pflegeversicherung vom 3. April 2001 zu rechnen. 47 Entschieden wurde, es sei mit Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, daß Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie Mitglieder ohne Kinder belastet werden. Auch hier hat das Gericht aus seiner Sicht einen Schritt getan, der eigentlich Sache des Gesetzgebers gewesen wäre. Er war durch eine Veränderung in der Wirklichkeit veranlaßt. Das Gericht stellte fest, es sei schon 1994 erkennbar gewesen, daß die Zahl der Kindererziehenden in den letzten Jahrzehnten dramatisch abgenommen habe. Der Gesetzgeber habe zu diesem Zeitpunkt nicht mehr davon ausgehen können, daß die beitragspflichtig Versicherten in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit neben den Beitragsleistungen durch das Aufziehen von Kindern zur nachhaltigen Stabilisierung und Finanzierung der Leistungen der sozialen Pflegeversicherung beitragen würden. Nur so lange eine deutliche Mehrheit der Versicherten Erziehungsleistungen erbringe, könne der Gesetzgeber die Benachteiligung der beitragspflichtigen Versicherten mit Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern der sozialen Pflegeversicherung, die jeweils der Generation der Beitragszahler angehörten, vernachlässigen.48 Diese Entscheidung hat Aufsehen, eine gewisse Aufregung und mannigfache Reaktionen und Kritik der Verbände und der Fachwelt ausgelöst, vor allem, weil zum Schluß der Entscheidung notiert ist: Der Gesetzgeber habe Zeit für eine Neuregelung des Beitragsrechts in der sozialen Pflegeversicherung bis zum 31. Dezember 2004, weil er auch zu prüfen habe, ob das vorliegende Urteil Bedeutung habe für andere Zweige der Sozialversicherung. 49

3. Veränderungsinteresse

gegen Interesse am Status quo

a) Stärker noch als bisher wird das BVerfG mit der Frage beschäftigt sein, ob der Gesetzgeber, wenn er sozialen, wirtschaftlichen und fiskalischen Änderungen durch Verringerung oder Beseitigung von sozialen Leistungen Rechnung trägt, den Anforderungen des Grundgesetzes gerecht geworden ist. Hier steht das Erhaltungs- und Besitzinteresse vieler gegen das Veränderungsinteresse, das auch von bereichsspezi47 BVerfGE 103, 242. Vgl. auch schon BVerfGE 87, 1 (37 f.) und 97, 332 (344 f.). 48 BVerfGE 103, 242 (266, 267). 49 Zur Resonanz auf diese Entscheidung siehe u. a. Bogs, in: Festschrift für v. Maydell, hrsg. von Boecken u. a., 2002, S. 91; Ebsen, Verfassungsanforderungen an den Familienleistungsausgleich in den Alterssicherungssystemen, in: Wissenschaftliches Kolloquium „Alterssicherung und Familie", hrsg. v. Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 2002, S. 697; Estelmann, Sgb 2002, S. 245; Lenze, EuGRZ 2001, S. 280; Reuther, in: Hommage an J. Isensee, hrsg. v. O. Depenheuer u. a., 2002, S. 435 (461 ff.); Ribhegge, Kritische Justiz 2002, S. 358, und Ruland, NJW 2001, S. 1673.

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fischen Umverteilungszielen des Gesetzgebers mitbestimmt sein kann. 50 Die damit verbundene verfassungsrechtliche Problematik ist vor allem durch die Rentengesetzgebung der 90er Jahre aufgeworfen worden. 51 Die teilweise noch ausstehende gerichtliche Prüfung der Leistungsrücknahmegesetze in diesem Versicherungszweig in den Jahren 1992, 1994 und 1999 wird sogar als die „Glaubwürdigkeitsprüfung der BVerfG-Judikatur" bezeichnet.52 Es könnte sein, daß die hier anstehenden Verfahren, insbesondere durch Vorlagen des BSG 53 ausgelöst, eine Art Härtetest für die Effizienz der verfassungsrechtlichen Vorgaben bei der Entscheidung über den Ausgleich von Bestands- und Veränderungsinteressen bilden. b) Zur Wirkungskraft des Art. 14 GG in diesem Zusammenhang ist schon an anderer Stelle eine (selbst-)kritische Analyse vorgenommen worden. 54 Kritische Fragen nach der „Grundrechtsfestigkeit" seiner Rechtsprechung muß sich das Gericht freilich auch im Zusammenhang mit der Gewährung von verfassungsrechtlichem Vertrauensschutz bei nachträglicher Veränderung der Sozialrechtslage gefallen lassen. Man ist sich als Richter oft nicht ganz sicher, ob man das Versprechen des Gerichts, mit Hilfe des Grundgesetzes den rechtsstaatlichen Vertrauensschutz der Betroffenen zu gewährleisten, stets in der gebotenen Weise erfüllt. Die „Vertrauensfrage" wird vom Bürger im Sozialrecht immer wieder gestellt, aber häufig auch verneint. Diese Selbstzweifel gelten unabhängig davon, ob der Vertrauensschutz in Art. 14 GG „integriert" ist oder auf allgemeinen grundgesetzlichen Füßen steht. Das mag erstaunen, beansprucht doch das Gericht grundsätzlich die Befugnis, die dem Gesetzgeber abverlangte und von diesem vorgenommene Abwägung der widerstreitenden Interessen bei der Anordnung einer unechten Rückwirkung grundsätzlich auf Abwägungsfehler nachzuprüfen. Allerdings gilt es - nimmt man die bisherige Rechtsprechungsbilanz zur Grundlage für die Beurteilung der Kontrolldichte - zu berücksichtigen, daß sich der Gesetzgeber längst auf die Rechtsprechung des BVerfG eingestellt hat. Echte Rückwirkung erlaubt er sich fast nicht mehr, allenfalls in der sublimen Gestalt einer rückwirkenden authentischen Auslegung, wie beispielsweise im Falle der Anrechnung von Altersrenten auf die Verletztenrente (§ 93 SGB VI). 5 5 Unechte Rückwirkung kann der Gesetz-

50 So hat der Gesetzgeber des 18. BAföGÄndG v. 17. 7. 1996 (BGBl. I S. 1006) beispielsweise die Ersetzung des öffentlichrechtlich ausgestalteten, unverzinslichen staatlichen Darlehens durch ein verzinsliches privates Bankdarlehen nach Ablauf der Förderungshöchstdauer damit begründet, auf diese Weise würden Mittel frei zur Verbesserung der Ausbildungsförderung innerhalb der Förderungshöchstdauer (vgl. BT-Drucks. 13/5116, S. 13). Siehe dazu Beschl. der 1. Kammer des Ersten Senats v. 17. 6. 2002, NVwZ-RR 2002, S. 838. 5· Zu den einzelnen Schritten dieser Gesetzgebung siehe Ruland, NJW 2001, S. 3505. 52 Pitschas, Sicherungssysteme (Fn. 28), S. 862. 53 Siehe BSG, Beschl. v. 16. 12. 1999, B4RA49/98R, SozSich 2000, S. 289. 54 Siehe Steiner, Speyerer Sozialrechtsgespräche, wiss. bearb. von Merten, Heft 85 der Sozialpolitischen Schriften, 2002, S. 525 (534 ff.). Siehe aus jüngerer Zeit Schwarz, Vertrauensschutz als Verfassungsprinzip, 2002, S. 180 ff. 55 Siehe BVerfGE 105, 48.

Sozialer Konflikt und sozialer Ausgleich

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geber dagegen regelmäßig ohne besonderes Risiko wagen, sofern seine Argumentation den Qualitätsstandards entspricht. Die entsprechende Abwägungsformel des BVerfG ist so offen formuliert, daß ein bei der Begründung gut beratener Gesetzgeber seine Regelungen so treffen kann, wie dies auch seinen sozialpolitischen Vorstellungen entspricht. Härten hat das Gericht immer wieder akzeptiert, beispielsweise beim Wechsel des Förderungsmodells des Bundesausbildungsförderungsgesetzes sogar während eines laufenden Studiums.56 Nur Grausamkeiten darf sich der Gesetzgeber offenbar verfassungsrechtlich nicht erlauben. Deshalb wurde beanstandet, daß er eine aus Vertrauensschutzgründen erlassene Übergangsregelung im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung nachträglich während deren Laufzeit zu Lasten der Betroffenen verkürzt hat. 57 Das Gericht war der Auffassung, der Gesetzgeber schaffe dort einen besonderen Vertrauenstatbestand, wo er altes Recht sozusagen „bei vollem Bewußtsein" und in Kenntnis der berührten öffentlichen Interessen für eine bestimmte Zeit und für einen begrenzten Personenkreis aufrechterhalten habe, mithin Sondervertrauen begründet, und dies - um es zu wiederholen - , nachdem er sorgfältig geprüft hat, ob die Fortgeltung der Regelung mit dem öffentlichen Interesse vereinbar ist. Beseitigt er eine solche Übergangsregelung ein Jahr vor deren Ablauf mit Wirkung für die Zukunft, so ist ihm eine „tiefgreifende" Enttäuschung des Vertrauens vorzuwerfen, und dies kann er mit den üblichen fiskalischen Erwägungen allein nicht rechtfertigen. Gleichwohl bleibt die Frage: Wieviel Vertrauensschutz kann Karlsruhe wirklich noch in einer Gesellschaft mit einem so evidenten und exzessiven Bedarf an geändertem und an neuem Recht leisten? Nimmt es bestenfalls hier Reparaturen vor bei laufendem Motor? Es fällt dem Gericht selbstverständlich nicht leicht, dem Gesetzgeber, wenn er sich mit sorgfältiger Begründung für die Fortentwicklung oder Veränderung oder Beseitigung sozialrechtlicher Positionen in die Zukunft hinein entscheidet, mit verfassungsrechtlichen Mitteln in den Arm zu fallen.

4. Interessenausgleich in den Solidarsystemen der Sozialversicherung a) Das Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland ist gegenwärtig aus bekannten Gründen unter starkem politischen Druck, den auch die wirtschaftswissenschaftliche Publizistik wesentlich mitbestimmt.58 Dabei gilt das Interesse vorran56 Vgl. BVerfGE 96, 330; 1. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 17. 6. 2002, NVwZ-RR 2002, S. 838. 57

Vgl. BVerfGE 102, 68 (96). Es ging um das Recht des Zugangs zur gesetzlichen Krankenversicherung der Rentner. 58 Siehe statt vieler Miegel, Die deformierte Gesellschaft. Wie die Deutschen ihre Wirklichkeit verdrängen, 2002, S. 195 ff. („Sozialstaat vor dem Offenbarungseid"), mit Besprechung von Hebeler, ZFSH/SGB 2002, S. 533 ff. Aus der Fachliteratur siehe ζ. B. Döring, Sozialstaat in unübersichtlichem Gelände, in: Sozialstaat in der Globalisierung, hrsg. von Döring, 1999, S. 11 ff.; Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 3. Aufl. 2002, S. 517 ff.

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gig der Zukunft der Sozialversicherungssysteme, die eine institutionelle Antwort des Staates auf die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit geben. Ihre strukturellen Probleme ergeben sich aus Interessenkonflikten, die in der öffentlichen Diskussion auf Personengruppen fokussiert werden, in der gesetzlichen Rentenversicherung beispielsweise auf Erwerbstätige und Rentenbezieher, in der Pflegeversicherung auf Versicherte mit und ohne Kinder, in der Krankenversicherung auf jüngere und ältere Beitragszahler. Einen Modernisierungsauftrag gibt das Grundgesetz dem Bundesverfassungsgericht auch hier nicht. Der Gesetzgeber steht gegenwärtig vor der außerordentlich schwierigen Aufgabe, Antworten auf Interessenkonflikte zu finden, die seit langem bekannt sind, gegenwärtig aber in besonderer Schärfe artikuliert werden. Im Mittelpunkt steht die Grundsatzfrage, ob die Vorsorge für Lebensrisiken wie bisher vorrangig in öffentlichrechtlich organisierten Umlage- und Ausgleichssystemen oder verstärkt auf privatrechtlicher Grundlage organisiert werden soll, insbesondere, wie Eigenverantwortung und staatliche Vorsorge voneinander und gegeneinander abzugrenzen sind. b) Das BVerfG hat dazu keine Vorstellungen, wird allerdings in seiner künftigen Rechtsprechung immer wieder neu zu prüfen haben, ob deren verfassungsrechtliche Eckdaten fortgeschrieben werden können oder unter neuen Gegebenheiten zu modifizieren sind. Das Gericht hat verhältnismäßig früh dem Gesetzgeber bestätigt, daß er - über die Fortführung der vorkonstitutionellen Sozialversicherungssysteme hinaus - grundsätzlich freie Hand hat, 59 die Vorsorge der Bürger für bestimmte Lebensrisiken einschließlich der Altersvorsorge in öffentlichrechtlichen Versichertengemeinschaften mit Pflichtcharakter zu organisieren. 60 Solidarität kann der Gesetzgeber mit rechtlichen Mitteln erzwingen und mit ihm geeignet erscheinenden Mitteln organisieren. Er muß den Einzelnen nicht fragen, ob und wieviel er an Solidarität aufzubringen bereit ist. 61 Das Gericht hat auch in jüngerer Zeit für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung dem Gesetzgeber großzügig die Befugnis eingeräumt, mit Hilfe einer Justierung der Jahresarbeitsentgeltgrenze diejenigen in die Pflichtversicherung einzubeziehen, deren Mitgliedschaft aus wirtschaftlichen Gründen wichtig ist, um die Leistungen einer Versicherung zu finanzieren, 62 die ohne Rücksicht auf die individuelle Höhe der Beiträge erbracht werden und in großem Umfang auch ohne eigene Beitragsleistungen (§ 10 SGB V). 6 3 („Zerfall des Sozialstaats"), und Zacher, Zur Lage des deutschen Sozialstaates, in: Festschrift für Brohm, hrsg. v. Eberle u. a., 2002, S. 645 ff. 59 Zur grundrechtlichen Maßstabsfrage siehe Steiner, MedR 2003, S. 1 (5). 60 Siehe BVerfGE 10, 354 (368 ff.) - Ärzteversorgung; 29, 221 (235 ff.) - Aufhebung der Jahresarbeitsverdienstgrenze in der Rentenversicherung der Angestellten. 61 Zum Verständnis von „Solidarität" siehe Ruland, NJW 2002, S. 3518. 62 Siehe BVerfGE 102, 68 (89). 63 Zur sog. Familienversicherung siehe jüngst Urt. des BVerfG vom 12. 2. 2003, NJW 2003, S. 1381. In der gesetzlichen Krankenversicherung sind danach etwa 21 Mill. Menschen (Ehepartner, Kinder) beitragsfrei versichert. Die für sie erbrachten Leistungen machen über 15 Mrd. Euro aus.

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c) Die verfassungsrechtliche Bestätigung der Pflegepflichtversicherung scheint zu belegen, daß der Gesetzgeber bei der Begründung und der Formung öffentlichrechtlicher Pflichtversicherungen ein weites, verfassungsrechtlich unbegrenztes sozialpolitisches Ermessen hat und kaum Vorgaben verfassungsrechtlicher Art für die hier notwendigen vielfältigen Prozesse des Interessenausgleichs beachten muß. 64 Freilich hat das BVerfG in diesem Zusammenhang - was nur wenig bemerkt wurde - die Vorschriften des Pflege-Versicherungsgesetzes (SGB XI) über die Verpflichtung privat Krankenversicherter zum Abschluß und zur Aufrechterhaltung privater Pflegevorsorge durch die Gesetzgebungskompetenz des Bundes über das „privatrechtliche Versicherungswesen" (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) gedeckt gesehen und nicht etwa die Zuständigkeit des Bundes aus der Kompetenz zur Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) hergeleitet. 65 Das war nicht selbstverständlich, hat doch der Gesetzgeber die inhaltliche Ausgestaltung der privatrechtlichen und der öffentlichrechtlichen Versicherungsverhältnisse einander weitgehend angeglichen. Die gegenwärtigen Bemühungen um Konzepte für die Zukunftssicherung der Solidarsysteme sollten in erster Linie an ordnungs- und sozialpolitischen Vorstellungen ausgerichtet werden und die Frage zurückstellen, ob die bisherige Rechtsprechung des Gerichts diese Vorstellungen stützt oder ihre Verwirklichung ohne Verfassungsänderung hindert. Das sog. Familien-Urteil zur Pflegeversicherung 66 hat nicht etwa Konzeptarbeit an Stelle des Gesetzgebers erledigt, sondern nur die verfassungsrechtliche Konsequenz aus einer veränderten tatsächlichen Entwicklung gezogen.

5. Ansehen und Glaubwürdigkeit

des Sozialstaats

Die politische Stabilität eines nationalen Sozialsystems kann von seiner verfassungsrechtlichen Grundlage allein nicht leben. Um sie zu sichern, bedarf es der Akzeptanz und der Zustimmung durch die Bürger und deren überzeugter Bereitschaft zur Solidarität. Verbreitet sich die Vorstellung, daß soziale Leistungen in einer größeren Zahl von Fällen nicht an die gelangen, für die sie vorgesehen sind, sondern in Anspruch genommen werden ohne gesetzliche Legitimation, 67 wird das Sozialsystem im ganzen abgewertet und destabilisiert. Das BVerfG kann Gesetzgeber und Vollzugspraxis stützen, wenn sie Sozialmißbrauch und einer exzessiven Anspruchsmentalität entgegentreten. Ein „unbegrenztes subjektives Anspruchsdenken auf Kosten der Allgemeinheit" - so hat es das Gericht ausdrücklich formuliert - ist „mit dem Sozialstaatsgedanken" nicht zu vereinbaren. 68 Auf dieser Linie liegt 64 Vgl. BVerfGE 103, 197. 65 Vgl. BVerfGE 103, 197 (216 ff.). 66 Siehe BVerfGE 103, 242, und oben unter III. 2. d. 67 Ein diskutiertes Problem dieser Tage: die rechtswidrige Nutzung von Patientenkarten der gesetzlichen Krankenversicherung durch Dritte. 68 BVerfGE 33, 303 (334).

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es, wenn Verfassungsbeschwerden mit der Begründung nicht angenommen werden, die sozialrechtliche Beschwer des Beschwerdeführers sei nicht existentiell.69 Das Gericht stellt klar, daß es dem Sozialstaatsprinzip am besten entspricht, soziale Ausgleichsleistungen nur dorthin zu lenken, wo im Einzelfall ein Bedarf festgestellt wird. 70 Eine Differenzierung der Sozialleistungen nach der sozialen Schutzbedürftigkeit ist gleichheitsrechtlich unbedenklich.71 Begründet der Gesetzgeber die Verringerung oder den Entzug von Leistungen mit dem Zweck, Doppelleistungen zu vermeiden, bescheinigt das BVerfG den entsprechenden Vorschriften sozialstaatliche Legitimität. 72 Es läßt grundsätzlich Regelungen verfassungsrechtlich gelten, die verhindern sollen, daß sich die Beteiligten durch vertragliche Gestaltungen unberechtigte Rechtsvorteile verschaffen. 73 Wo der Gesetzgeber den Einzelnen unter Androhung des Wegfalls staatlicher Hilfe anhält, seine Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit zu nutzen, oder die staatliche Hilfsbereitschaft davon abhängig macht, daß sich der Einzelne durch gemeinnützige Arbeiten engagiert (§ 25 BSHG), hat das Gericht in einer eher unbekannten Rechtsprechung diese Grundlinie gegenüber verfassungsrechtlichen Angriffen abgeschirmt. 74 Es darf sich dabei in Übereinstimmung mit der Feststellung Schmitt Glaesers sehen, es gebe nur allzu viele, die sich nur allzu gerne die Mühen des Lebens abnehmen ließen.75 Der soziale Rechtsstaat bedarf des „sozialkompetenten Menschen, der sein Recht auf Selbstgestaltung des eigenen Lebens auch dann reklamiert, wenn es eigene Anstrengungen und eigenes Geld kostet". 76

IV. Sozialer Interessenausgleich und verfassungsrichterliche Verantwortung Das BVerfG ist nicht die sozialpolitische Leitstelle der Bundesrepublik Deutschland. Diese Rolle kommt dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Soziale Gerech69 Ein Beispiel ist die Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde, die sich gegen die Verpflichtung zur Zahlung eines Krankenhausnotopfers im Jahre 1997 in Höhe von 20,- DM richtete. Siehe BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschl. vom 13. 3. 2001, NJW 2001, S. 1783. 70 Vgl. BVerfGE 94, 241 (263) mit weiteren Nachweisen.

71 Siehe jüngst wieder Urt. des BVerfG v. 12. 2. 2003, NJW 2003, S. 1381. 72 Vgl. BVerfGE 31, 185 (192); 79, 87 (98); vgl. auch BVerfGE 104, 126 (148). 73 Zu einem Beispiel siehe BVerfG, 1. Kammer des Ersten Senats, Beschl. v. 7. 9. 2000, SozR 3-4100 § 134 Nr. 3 SGB III (Kurztext); grundsätzlich dazu Eichenhofer, Trittbrettfahren im System sozialer Sicherung, in: Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, hrsg. v. Engel/Morlock, 1998, S. 219 ff. 74 Siehe z. B. § 25 BSHG und dazu BVerfG, Beschl. v. 11. 2. 2003, 1 BvR 2374/02. 75 Schmitt Glaeser, Freiheit (Fn. 13), S. 179. Siehe zu diesem Feld der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auch Steiner, Was Karlsruhe wirklich entscheidet (Fn. 42), S. 197 ff. 76 Schmitt Glaeser, Ethik und Wirklichkeitsbezug des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1999, S. 39.

Sozialer Konflikt und sozialer Ausgleich

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tigkeit anzustreben, gehört nicht zu den Aufgaben des Gerichts, mag auch mancher Beschwerdeführer in Karlsruhe die höchste soziale Billigkeitsinstanz sehen und die Richter in der Rolle eines sozialrechtlichen Robin Hood wähnen. Das Gericht kontrolliert nur die gesetzliche Ausführung des Sozialstaatsauftrags durch Bund und Länder am Maßstab des Grundgesetzes und insbesondere der Grundrechte. 77 Die Rechte des Einzelnen, wie sie das Grundgesetz auch ohne Verankerung sozialer Grundrechte durchaus mit sozialer Relevanz gewährt, stehen im Vordergrund. Aus der Sicht des Bürgers ist freilich die Nachprüfung des Ausgleichs unterschiedlicher Sozialinteressen im Gesetz zumindest mit der Erwartung verbunden, daß das Gericht prüft, ob ein für alle Beteiligten zumutbarer Ausgleich gefunden wurde. Dieser Beitrag der Verfassungsrechtsprechung zur sozialen Integration und zur sozialen Befriedung des Gemeinwesens78 mag in der Zukunft an Bedeutung gewinnen, wenn zum Streit der Gruppen möglicherweise der Streit der Generationen im System der Sozialversicherung 79 und eine anhaltende Tendenz zur Entsolidarisierung der Gesellschaft hinzukommt.80 Dabei wird das Gericht hoffentlich immer Recht auf der Grundlage eines Höchstmaßes an Kenntnis der sozialen Realität sprechen.

77 Ein Beispiel: Das BVerfG verlangt nicht, daß die jüngere Versichertengeneration in der Krankenversicherung von Grundgesetzes wegen zu entlasten ist. Es formuliert: Wenn der Gesetzgeber eine solche Entlastung vornimmt, ist dieses Bestreben verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Vgl. BVerfGE 69, 272 (313). 78 Siehe zu diesem Aspekt Guggenberger, Die Rechtsprechung des BVerfG und die institutionelle Balance des demokratischen Verfassungsstaats, in: Guggenberger/Würtenberger, Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik, 1998, S. 202 (226); Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 21), S. 66 ff.; vgl. auch Steiner, Richteramt und soziale Gerechtigkeit, in: Birkenseer u. a. (Hrsg.), Menschen heute in Bewegung, 2002, S. 25. 79 Häberle meint, es gehe bei der Rechtsprechung um den gesellschaftlichen und sozialen Konsens und darum, Konflikte zwischen Gruppen und Generationen möglichst abzuschwächen oder zu vermeiden, siehe ders., Verfassungsgerichtsbarkeit (Fn. 21), S. 55. Vgl. zu dieser Thematik auch statt vieler Hebeler, Generationengerechtigkeit als verfassungsrechtliches Gebot in der sozialen Rentenversicherung, 2001. 80 Voßkuhle freilich mahnt, das BVerfG solle angesichts der unverkennbaren Fragmentierungs- und Individualisierungstendenzen und nachlassenden Bindekräfte innerhalb der Gesellschaft sich nicht zu sehr vom selbst aufgebauten Mythos seiner Integrationsaufgabe vereinnahmen lassen (in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner Grundgesetz, Kommentar, Bd. 3, 4. Aufl. 2001, Art. 93 Rn. 34.)

Richtervorlage (Art. 100 Abs. 1 GG) nach zurückverweisendem Urteil Von Klaus Vogel In den mehr als fünfzig Jahren seiner Rechtsprechung, niedergelegt in zur Zeit 105 Bänden, hat das Bundesverfassungsgericht in vielerlei Richtungen die Auslegung des Grundgesetzes entfaltet, fortentwickelt, differenziert und sich selbst gelegentlich auch korrigiert. Einige Aussagen aus den ersten Jahren seiner Tätigkeit sind aber, aus welchen Gründen auch immer, von dieser Fortentwicklung nicht berührt worden und werden wie erratische Blöcke bis in die Gegenwart hinein fortgeschleppt. Zu ihnen gehört etwa der Satz, daß die Eigentumsgarantie durch Geldleistungspflichten nicht berührt werde, ein Satz, der inzwischen durch die Dogmatik der Persönlichkeitsfreiheit überholt worden ist1 und von dem sich der Zweite Senat denn inzwischen auch längst verabschiedet hat,2 während der Erste Senat sich nur schwer von ihm zu lösen scheint.3 Auch der vorliegende Beitrag soll sich mit einem solchen Rechtsprechungsrelikt aus der frühesten Zeit des Bundesverfassungsgerichts befassen. Da der verehrte Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, einen wesentlichen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeitskraft dem öffentlichrechtlichen Prozeßrecht gewidmet hat - sein Lehrbuch des Verwaltungsprozeßrechts in fünfzehn Auflagen legt Zeugnis davon ab - , ist auch diese Abhandlung jenem Gebiet entnommen.

I. Die (frühen) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Durch Beschluß vom 15. Juli 19534 entschied das Bundesverfassungsgericht über eine Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG eines Landgerichts. Es handelte sich um einen Zivilrechtsstreit, in dem das Oberlandesgericht ein Teilurteil des Landgerichts aufgehoben und zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückverwiesen hatte. Während das Landgericht sein Teilurteil auf das BGB 1

Vogel, Klaus, Eigentumsgarantie, Handlungsfreiheit und Steuerrecht, in: Staat, Kirche, Verwaltung, Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 297 ff. 2 BVerfGE 87, 153 (169); 93, 121 (135). 3 BVerfGE 95, 267 (300 f.); so auch noch Lepsius, Oliver, Geld als Schutzgut der Eigentumsgarantie, JZ 2002 S. 313 ff.; eine Annäherung des Ersten Senats an den Zweiten Senat aber möglicherweise in BVerfGE 102, 1 (17). 4 BVerfGE 2, 406.

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gestützt hatte, sollte es nach den Entscheidungsgründen des Oberlandesgerichts ein Gesetz anwenden, das nach Meinung des Landgerichts gegen Art. 14 GG verstieß. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Vorlage für unzulässig. Das Landgericht sei an die zurückverweisende Entscheidung des Oberlandesgerichts auch insoweit gebunden, als diese - wenngleich nicht ausdrücklich, sondern nur implizit - die Verfassungsmäßigkeit jenes Gesetzes bejaht habe. Es sei daher nicht mehr zur Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG berechtigt. Diese Rechtsauffassung leitete das Bundesverfassungsgericht aus der historischen Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechts - genauer: aus einer bestimmten Interpretation dieser Entwicklung - ab. Die früher zumindest in der Wissenschaft noch umstrittene richterliche Prüfungszuständigkeit gegenüber Gesetzen sei nunmehr durch Art. 100 GG im Grundgesetz positiv konstituiert, aber so, daß die Gerichte die Verfassungsmäßigkeit eines anzuwendenden Gesetzes in eigener Zuständigkeit nur bejahen dürften. Wenn sie die Verfassungsmäßigkeit verneinen wollten, hätten sie dagegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder eines Landesverfassungsgerichts einzuholen. Die Überprüfung des Gesetzgebers gehe also, wenn der mit der Sache befaßte Richter von der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes überzeugt sei, von ihm auf das Verfassungsgericht über. Hieraus folgerte nun das Bundesverfassungsgericht, die Bedeutung des Art. 100 GG bestehe darin, daß dem Richter die Möglichkeit genommen sei, selber Gesetze als verfassungswidrig nicht anzuwenden. Dagegen sprächen „weder Wortlaut noch Sinn des Art. 100 Abs. 1 GG dafür, daß die richterliche Unabhängigkeit materiell gegenüber dem bisherigen Rechtszustand habe erweitert werden sollen. Soweit also nach Art. 100 Abs. 1 GG die richterliche Entscheidungsfreiheit bestehen geblieben ist, soweit behalten auch die prozessualen Bindungen ihre Kraft. Wird innerhalb des ordentlichen Instanzenzuges die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes abschließend bejaht, so ist für eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht kein Raum mehr. Bejaht ein übergeordnetes Gericht in einem zurückverweisenden Urteil die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, so ist damit für die mit dem Rechtsstreit bis dahin befaßten Instanzen die Frage der Verfassungsmäßigkeit ebenso endgültig entschieden, wie wenn dieser Ausspruch in einem den Rechtsstreit abschließenden Urteil des höheren Gerichts enthalten wäre." 5 Daß das Oberlandesgericht die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes nicht ausdrücklich bejaht habe, hielt das Bundesverfassungsgericht deswegen nicht für relevant, weil auch das Oberlandesgericht verpflichtet gewesen sei, vor dessen Anwendung seine Gültigkeit zu prüfen. Eine derartige Prüfung müsse unterstellt werden; denn das Urteil des Oberlandesgerichts sei überhaupt nur dann verständlich und in sich schlüssig, wenn es dessen Verfassungsmäßigkeit bejaht habe. Wenn das Landgericht sie bezweifele, so beseitige es „praktisch die gesamte Bindungswirkung des oberlandesgerichtlichen Urteils". Rechtsprechung und Lehre ließen diese Bindung sogar dann eintreten, wenn das zurückverweisende Urteil unrichtig sei. Dabei 5 BVerfGE 2, 411.

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könne es nicht entscheidend sein, welche seiner Erwägungen fehlerhaft sei: „Es liegt kein Grund vor, die eine Frage der Verfassungsmäßigkeit des anzuwendenden Gesetzes anders zu behandeln."6 In einem Beschluß vom 19. Februar 19577 hat das Bundesverfassungsgericht die soeben wiedergegebene Entscheidung noch einmal bestätigt. Dabei ging es aber um eine ganz andere Frage. Ein Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte den Großen Senat zur Entscheidung darüber angerufen, ob eine Vorschrift mit dem Grundgesetz vereinbar sei; der Große Senat hatte die Frage seinerseits dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Dieses erklärte die Vorlage des Großen Senats für unzulässig. Vorzulegen habe vielmehr der zuständige Fachsenat, wenn - und nur wenn - er die Vorschrift für verfassungswidrig halte. Die Begründung ist sehr ausführlich; hypothetisch erörtert sie auch die Rechtslage, die sich ergeben würde, wenn der Große Senat aus anderem Anlaß angerufen worden sei und dabei ein anzuwendendes Gesetz für verfassungsmäßig erachte. Das Bundesverfassungsgericht betont insoweit ausdrücklich, daß in einem solchen Fall die Fachsenate nicht gehindert seien, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu prüfen und es nach Art. 100 Abs. 1 GG vorzulegen. „Denn die Bindungswirkung im Sinne des § 136 GVG ist insoweit hinsichtlich der Frage der Verfassungsmäßigkeit durch Art. 100 Abs. 1 beseitigt."8 So erweckt die Entscheidung den Eindruck, daß das Bundesverfassungsgericht sich veranlaßt gesehen habe, seine ausschließliche Zuständigkeit gegen die der Großen Senate der Obersten Bundesgerichte9 zu verteidigen. Nur in diesem Zusammenhang, also zur Abgrenzung gegenüber seiner jetzigen Entscheidung, bemerkt das Gericht am Ende seiner Entscheidungsgründe, die Bindungswirkung der §§ 539 und 565 Abs. 2 ZPO sei „andersartig". Das Revisionsoder Berufungsgericht, welches die Sache an die zweite oder erste Instanz zurückverweise, sei hier das zuständige „Gericht", welches gegebenenfalls nach Art. 100 GG zu verfahren habe. Das Gericht, an welches das Verfahren zurückverwiesen werde, habe insoweit nicht mehr zu entscheiden; es sei „nicht mehr Gericht im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG". Warum sich hinsichtlich der Großen Senate nicht in gleicher Weise argumentieren lasse, bleibt offen. Jedenfalls handelt es sich in der Entscheidung bei der Aussage über die Bindung der nachgeordneten Gerichte nur um ein obiter dictum. Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht allerdings in zwei späteren Beschlüssen Richtervorlagen unter Berufung auf die Entscheidung vom 15. Juli 1953 als unzulässig zurückgewiesen, in zwei weiteren billigend zitiert. Die Entscheidungen enthalten aber keine eigenständigen Argumente und verweisen nur auf die früheren Beschlüsse.10 6

BVerfGE 2, 413 (Hervorhebung nach dem Original). 7 BVerfGE 6, 222. 8 BVerfGE 6, 242. 9 Damals: „Obere Bundesgerichte".

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II. Die Meinungen in der Literatur Eine Durchsicht der Literatur zu der hier behandelten Frage zeitigt nur ein dürftiges Ergebnis. Ausführlicher ist das Problem lediglich in Klaus Tiedtkes Monographie „Die innerprozessuale Bindungswirkung von Urteilen der obersten Bundesgerichte" von 1976 behandelt worden. Tiedtke geht von der in der Prozeßrechtswissenschaft umstrittenen Frage aus, ob im Falle einer Zurückverweisung durch das Revisions- an das Berufungsgericht dieses nach § 563 Abs. 2 (damals § 565 Abs. 2) ZPO nur an die für die Aufhebung unmittelbar maßgebenden Gründe des Revisionsgerichts oder auch an die ihnen logisch vorausgehenden, insofern mittelbar maßgebenden Rechtsauffassungen gebunden sei. Mit ausführlicher Begründung spricht er sich unter Berufung auf eine ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs dafür aus, daß nur die unmittelbar maßgebenden Gründe der Aufhebung für das Berufungsgericht bindend seien.11 Hypothetisch erwägt er die Konsequenzen, die sich aus der von ihm abgelehnten Ansicht ergeben würden, und folgt dem Bundesverfassungsgericht darin, daß dann die Bindung sich auch auf die Meinung des Revisionsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des maßgebenden Gesetzes erstrecken würde. Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts, es liege kein Grund vor, die eine Frage der Verfassungsmäßigkeit des anzuwendenden Gesetzes anders zu behandeln, bezeichnet er ausdrücklich als - von diesem Standpunkt aus - „zutreffend". 12 Doch seien solche Erwägungen nach der von ihm vertretenen Meinung „gegenstandslos"; der Fall, daß das Berufungsgericht an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gebunden sei, könne nicht eintreten. Halte das Berufungsgericht im ersten Rechtsgang ein Gesetz für verfassungswidrig, so müsse es nach Art. 100 Abs. 1 GG vorgehen. Halte das Revisionsgericht, in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht, das Gesetz für verfassungsmäßig, hebe es aber das Urteil aus einem anderen Grunde auf, dann sei das Berufungsgericht nicht an „(seine frühere 13 und) die Ansicht des Revisionsgerichts" über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes gebunden. Nur den Rechtsfehler, wegen dessen das Urteil aufgehoben worden sei, dürfe das Berufungsgericht nicht wiederholen. Demgegenüber sei das Bundesverfassungsgericht offenbar von 10 BVerfGE 29, 34 (38); 42, 91 (94 f.); Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1970, S. 448; Die Information über Steuer und Wirtschaft 1994, S. 607 f.; billigende Bezugnahme in BVerfGE 12, 67; 65, 132 (140). 11

Tiedtke, Klaus, Die innerprozessuale Bindungswirkung von Urteilen der obersten Bundesgerichte, 1976, S. 131. 12 Tiedtke (Fn. 11), S. 132; das Wort „eine" wird, wie in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, hervorgehoben. 13 Der Autor übersieht hier, daß das Berufungsgericht schon im ersten Rechtsgang das Gesetz für verfassungswidrig gehalten, den Rechtsstreit aber nach einem anderen Gesetz entschieden haben könnte und nun durch das Revisionsgericht zu seiner Anwendung verpflichtet wird (wie im Fall BVerfGE 2, 406), oder daß es das Gesetz nach seiner Meinung verfassungskonform ausgelegt, das Revisionsgericht diese Auslegung aber nicht gebilligt hat.

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der Ansicht ausgegangen, daß das Berufungsgericht auch an die mittelbaren Aufhebungsgründe gebunden sei, und es sei sich nicht dessen bewußt gewesen, „daß die Auslegung der verfahrensrechtlichen Bindungsvorschriften umstritten und zweifelhaft" sei. 14 Das Bundesverfassungsgericht habe die weite Auslegung dieser Bestimmungen für selbstverständlich gehalten. Tatsächlich habe aber auch vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes der Richter im zweiten Rechtsgang ein Gesetz für verfassungswidrig halten können, welches das Revisionsgericht als verfassungsmäßig angesehen habe. Damit beruhe die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf einer irrigen Auslegung der verfahrensrechtlichen Bindungsvorschriften. 15 Der Auffassung Tiedtkes folgt Grunsky in dem von Stein und Jonas begründeten traditionsreichen Kommentar zur Zivilprozeßordnung. 16 Im übrigen aber übernehmen die Kommentare zu den Prozeßordnungen - mit einer sogleich noch anzuführenden Ausnahme - unkritisch die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts. Das gilt sogar für einen Kommentator, der gleichfalls die Bindung des Berufungsgerichts auf den unmittelbaren Aufhebungsgrund beschränken will. 1 7 Mit seiner Auffassung, das Berufungsgericht sei an die Meinung des Revisionsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des anzuwendenden Gesetzes gebunden, setzt er sich also zu seiner eigenen Dogmatik in Widerspruch. Andere Autoren erstrecken dagegen die Bindung generell auch auf die mittelbaren Aufhebungsgründe („Vorfragen"), bleiben also jedenfalls widerspruchsfrei. 18 Die Mehrzahl der Kommentatoren unterscheidet gar nicht ausdrücklich zwischen „mittelbar" und „unmittelbar", bejaht aber ebenfalls eine Bindung an die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit durch das zurückverweisende Gericht. 19 Man muß allerdings berücksichtigen, daß fast alle genannten Autoren Revisionsrichter sind, von deren beruflicher Perspektive aus die Bindung der ihnen nachgeordneten Gerichte an ihre Auffassung zu Verfassungsfragen - natürlich unbewußt - als einzig angemessen erscheinen mag. Aber auch Stefan Korioth stimmt ohne nähere Diskussion in seinem von Schiaich begründeten Kurzlehrbuch der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zu. 20 14 Tiedtke (Fn. 11), S. 133. 15 Tiedtke (Fn. 11), S. 134. 16 Grunsky, Wolfgang, in: Stein/Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 21. Aufl., Bd. 5, Teilband 1, 1994, § 565, Rn. 14. 17 Wenzel, Joachim, in: Münchener Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 2. Aufl. 2000, Bd. 2, § 565, Rn. 9. 18 Hanack, Ernst-Walter, in: Löwe / Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 4, 24. Aufl. 1988, § 358, Rn. 4; Kuckein, Jürgen-Detlef, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozeßordnung, 4. Aufl. 1999, zu § 358, Rn. 3, 9. 19 Gummer, Peter, in: Zöller, Zivilprozeßordnung, 23. Aufl. 2002, § 563, Rn. 4; Kleinknecht, Theodor/Meyer-Goßner, Lutz, Strafprozeßordnung, § 358, Rn. 4; Kopp, Ferdinand Ο ./Schenke, Wolf-Rüdiger, Verwaltungsgerichtsordnung, 12. Aufl. 2000, § 144, Rz. 12; Offerhaus, Klaus, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung (Loseblattwerk), § 126 FGO, Rz. 77; Ruban, Reinhild, in: Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl. 1997, § 126, Rz. 17; Meyer-Ladewig, Jens, Sozialgerichtsgesetz, § 170, Rz. 10a. 24 FS Schmitt Glaeser

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Nur ein Kommentator (kein Revisionsrichter) spricht sich gegen eine Bindung an die verfassungsrechtliche Meinung des zurückverweisenden Gerichts aus, ohne sich dabei auf die Unterscheidung zwischen mittelbaren und unmittelbaren Aufhebungsgründen zu stützen. In dem von Tipke und Kruse begründeten Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung führt Roman Seer aus, der Zweck der Bindung eines Finanzgerichts an den Aufhebungsgrund des Bundesfinanzhofs nach § 126 Abs. 5 FGO verlange keineswegs, daß eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG an das Bundesverfassungsgericht ausgeschlossen werde. § 126 Abs. 5 solle nur „ein Hin- und Herschieben des Rechtsstreits zwischen zwei Instanzen vermeiden, nicht jedoch eine von Art. 100 I GG geforderte Normenkontrollvorläge". Halte das Finanzgericht eine für seine Entscheidung erhebliche Gesetzesnorm für verfassungswidrig, so sei es nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Vorlage verpflichtet. Daran vermöge § 126 Abs. 5 „als Vorschrift des einfachen Rechts nichts zu ändern". 21

III. Diskussion der Gründe des Bundesverfassungsgerichts Die Gründe des Beschlusses von 1953 lassen deutlich erkennen, daß das Bundesverfassungsgericht sich noch in einer sehr frühen Phase seiner Rechtsprechung, gewissermaßen im Prozeß seiner Selbstfindung, befand. Das zeigt sich nicht nur im oberflächlichen Schwanken vom Urteils- in den Gutachtenstil („Es fragt sich ..."). Weit bedeutsamer ist, und die Entscheidungsgründe zeigen dies unmißverständlich, daß das Bundesverfassungsgericht zu jenem Zeitpunkt den fundamentalen Unterschied zwischen der Weimarer Verfassung und dem Grundgesetz, wie er vor allem durch Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 und Art. 79 Abs. 3 GG und dazu durch die Einführung einer umfassenden Verfassungsgerichtsbarkeit bewirkt worden war, in seiner Bedeutung noch gar nicht voll erfaßt und verarbeitet hatte. Nichts zeigt dies klarer als die Wendung gegen Ende der Entscheidung, es gebe keinen Grund, „die eine Frage der Verfassungsmäßigkeit" - Hervorhebung nach dem Original - anders als andere Rechtsfragen zu behandeln.22 In der Tat wurde unter der Weimarer Verfassung auch von demokratisch denkenden, die neue Republik bejahenden Autoren das Verfassungsgesetz nur als ein Gesetz unter anderen angesehen, das allein formal durch seine erschwerte Abänderbarkeit gekennzeichnet sei. Der von Georg Jellinek im konstitutionellen Staat geschriebene Satz „Das wesentliche rechtliche Merkmal von Verfassungsgesetzen liegt ausschließlich in ihrer erhöhten formellen Gesetzeskraft" 23 und Paul Labands 20 Schiaich, Klaus/Korioth, Stefan, Das Bundesverfassungsgericht, 5. Aufl. 2001, S. 104, Fn. 262. 21 Seer, Roman, in: Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung (Loseblatt), § 126, Tz. 81. 22 BVerfGE (Fn. 6). 23 Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck 1959, S. 534.

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Postulat, den in der Verfassung enthaltenen Rechtssätzen komme keine höhere Autorität als anderen Gesetzen zu, 24 bestimmten unverändert auch das staatsrechtliche Denken der Weimarer Zeit. 25 „Das verfassungsändernde Reichsgesetz ist nur eine Abart des einfachen" hieß es noch 1932 bei Walter Jellinek. 26 Ein Rangverhältnis, schrieb Gerhard Anschütz, bestehe „zwischen den Gesetzen eines Gemeinwesens und denen des ihm staatsrechtlich übergeordneten Gemeinwesens, ... nicht aber zwischen den einfachen Reichsgesetzen und der Reichsverfassung". 27 Zwar bestand kein Zweifel, daß im Kollisionsfall das Verfassungsrecht dem Gesetzesrecht vorgehe (es „breche"); aber diese Art von „Rangstufenreihe" ergab sich nur aus der unterschiedlichen „Schwierigkeit der Rechtserzeugung".28 Demgegenüber ist das Grundgesetz nach einhelliger Überzeugung heutiger Staatsrechtslehre „vorrangiger Rechtssatz";29 es ist „die höchste Norm der staatlichen Rechtsordnung", 30 der „politische Einheit und rechtliche Ordnung unvermeidlich aufgegeben" sind. 31 Diese „entspringt außerhalb des Systems staatlich verfaßter Legalität im Legitimitätsgrund der Staatlichkeit, der, nach demokratischem Verständnis, im Willen des Volkes liegt". 32 Die Frage, ob ein anzuwendendes Gesetz mit dem Grundgesetz übereinstimmt, ist deswegen eine Frage, für deren Beantwortung andere Grundsätze als für die Auslegung einfacher Gesetze gelten. Sie kann mit dieser nicht unbesehen gleichgestellt werden. 33 Die Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht dies nicht erkannt hat - vielleicht in jener frühen Phase noch nicht erkennen konnte - , bestimmte auch seine Auslegung des Art. 100 Abs. 1 GG. Zunächst: Die richterliche Kompetenz zur Prüfung und Verwerfung verfassungswidriger Gesetze war unter der Weimarer Verfassung keineswegs schon annähernd selbstverständlich. Sie wurde zwar von den Ge24 Laband, Paul, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., Bd. 2, S. 38 ff. 25 Dazu kritisch, aber vereinzelt: Schmitt, Carl, Verfassungslehre, 1928, S. 11 ff. 26 Jellinek, Walter, Das verfassungsändernde Reichsgesetz, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1932, S. 182 ff. (182). 27 Anschütz, Gerhard, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 102 Nr. 3 Buchst, c; Hervorhebung im Original durch gesperrten Satz. 28 Hensel, Albert, Die Rangordnung der Rechtsquellen, insbesondere das Verhältnis von Reichs- und Landesgesetzgebung, in: Anschütz/Thoma (Fn. 26), Bd. 2, S. 313 ff. (315); Thoma, Richard, Der Vorbehalt der Legislative und das Prinzip der Gesetzmäßigkeit von Verwaltung und Rechtsprechung, in: Anschütz/Thoma (Fn. 26), S. 221 ff. 29 Badura, Peter, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, S. 57 ff. (59 f.). 30 Isensee, Josef, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 29), Bd. 1, 1987, S. 591 ff. (644). 31 Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 5; so auch BVerfGE 62, 1 (45). 32 Isensee (Fn. 30), S. 644. 33 Hesse (Fn. 31), S. 20 ff.; Starck, Christian, Die Verfassungsauslegung, in: Isensee/ Kirchhof (Fn. 29), Bd. 7, 1992, S. 189 ff. 24*

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richten in Anspruch genommen,34 in der Wissenschaft aber weit heftiger bekämpft, als dies die Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts von 1953 voraussetzen. Unter ihren Gegnern befanden sich einige der angesehensten Staatsrechtslehrer; 35 die Zahl der Vertreter beider Meinungen war etwa gleich groß. Die Bedeutung des Art. 100 Abs. 1 GG bestand also keineswegs allein darin, daß die Kompetenz zur Verwerfung von Gesetzen von den Fachgerichten auf das Bundesverfassungsgericht übertragen wurde, sondern sie bestand vorab einmal in der Anerkennung und verfassungsrechtlichen Verankerung der richterlichen Prüfungspflicht. Damit entfällt aber die Voraussetzung für die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, das Grundgesetz habe zwar den Gerichten die Kompetenz zur Verwerfung von Gesetzen genommen, im übrigen aber die „richterliche Entscheidungsfreiheit" unberührt gelassen; deswegen seien auch die „prozessualen Bindungen" dieser „Entscheidungsfreiheit" bestehengeblieben. Zunächst einmal geht es nicht um eine „Entscheidungsfreiheit"; die Gerichte sind vielmehr verfassungsrechtlich verpflichtet, die Verfassungsmäßigkeit der von ihnen anzuwendenden Gesetze zu prüfen. Darüber hinaus kann aus der nicht eindeutigen Rechtslage unter der Weimarer Verfassung keineswegs etwas darüber abgeleitet werden, wie sich diese verfassungsrechtliche Pflicht zu den auf einfachen Gesetzen beruhenden „prozessualen Bindungen" der Gerichte verhält. Auch die beiläufigen Ausführungen des Beschlusses von 1957 begründen die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nicht. Daß das zurückverweisende Revisions- oder Berufungsgericht das zur verfassungsrechtlichen Prüfung nach Art. 100 Abs. 1 GG zuständige „Gericht" sei (und nicht, gegebenenfalls nicht auch, das nachgeordnete Gericht, an das zurückverwiesen worden sei), ist lediglich die dogmatische Einkleidung einer Rechtsauffassung - einer These - , nicht deren Begründung. Ob diese These zutrifft, kann nur im Wege der Verfassungsauslegung ermittelt werden.

IV. Verfassungsrecht geht vor Prozeßrecht Der Tatbestand des Art. 100 Abs. 1 GG setzt voraus, daß eine Entscheidung zu treffen ist. Es muß ein gerichtliches Verfahren eingeleitet worden und noch nicht abgeschlossen sein. Die Voraussetzungen, nach denen sich dies bestimmt, ergeben sich aus den Prozeßgesetzen. Insofern wird die richterliche Prüfungskompetenz durch eine Verweisung auf einfaches Recht, das Prozeßrecht, begründet und begrenzt. Auf die Gültigkeit eines Gesetzes kommt es für die Entscheidung an, wenn sie nach Maßgabe dieses Gesetzes (gegebenenfalls zusätzlich anderer Gesetze) zu 34 Seit RGZ 117, 27 ff.; RGSt. 55, 246 ff. 35 Anschütz (Fn. 27), Art. 102 Nr. 3 ff.; Thoma, Richard, AöR 1922, 267 ff.; ders., DJZ 1925 Sp. 573 ff.

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treffen ist. Das ist eine Frage des den Streitfall betreffenden, vornehmlich materiellen Rechts, also ebenfalls des einfachen Rechts. Nach der hier erörterten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat ein Gericht die Gültigkeit eines Gesetzes jedoch nicht mehr zu prüfen, wenn ein höherrangiges Gericht in einer zurückverweisenden Entscheidung die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes bestätigt oder doch stillschweigend vorausgesetzt hat. Daß das nachgeordnete Gericht an diese Feststellung gebunden sei, leiten das Bundesverfassungsgericht und die Literatur aus Vorschriften des Prozeßrechts ab, also wiederum solchen des einfachen Rechts. Mit dem Wortlaut des Grundgesetzes läßt sich ihre Rechtsauffassung nur über die Worte „auf dessen Gültigkeit es ... ankommt" in Einklang bringen. Es gäbe dann zwei sehr unterschiedliche, nebeneinander erforderliche Voraussetzungen dafür, daß es für eine Entscheidung auf die Gültigkeit eines Gesetzes „ankommt": Die Entscheidung muß - erstens - vom Inhalt jenes Gesetzes abhängig sein, und das Prozeßrecht darf - zweitens - dem entscheidenden Gericht nicht eine selbständige Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes versagen. Der Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 GG legt diese zweite Auslegungsvariante nicht gerade sehr nahe. Der Ton des Satzanfangs liegt auf den Substantiven „Gericht", „Gesetz" und „Gültigkeit". Er spricht dafür, daß jedes Gericht gemeint ist und jedes Gesetz, das es auf einen Fall anzuwenden hat. Dies wird durch eine verfassungssystematische und teleologische Auslegung der Vorschrift bestätigt. Die richterliche Prüfungszuständigkeit ist eine Folgerung aus Art. 20 Abs. 3 GG; 3 6 sie soll den Vorrang der Verfassung vor den Gesetzen sichern. 37 Ihre prozessuale Einschränkung käme über das Wort „ankommt" gewissermaßen „durch die Hintertür". Hätte dieses Wort in der Tat die hier erwogene Bedeutung, so hieße dies, da sich eine Beschränkung speziell auf zurückverweisende Entscheidungen aus dem Wort „ankommt" nicht ablesen läßt, daß der einfache Gesetzgeber allgemein bestimmen könnte, wann es für eine Entscheidung auf die Gültigkeit eines Gesetzes „ankommen" soll. Mit anderen Worten: Der einfache Gesetzgeber könnte den Umfang der richterlichen Prüfungszuständigkeit begrenzen. Daß dies nicht sein kann, liegt auf der Hand. Die Prüfungszuständigkeit der Gerichte kann nur eine Verfassungsnorm begrenzen. Dies könnte allenfalls der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade für Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG entwickelte Grundsatz der „Subsidiarität der Verfassungsgerichtsbarkeit" 38 sein. Die Entscheidungen, in denen das Gericht diesen Grundsatz herangezogen oder seine Anwendung erwogen hat, betrafen jedoch ausnahmslos Beweiserhebungen; eine Vorlage ist nach ihnen 36

Stern, Klaus, in: Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar), Zweitbearbeitung 1967 (Loseblatt), Art. 20 GG, Rn. 9. 37 Ossenbühl, Fritz, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: Badura, Peter/Dreier, Horst (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 33 (46); Sommermann, Karl-Peter, in: Starck, Christian (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 2, 4. Aufl. 2000 (vormals: von Mangoldt /Klein), Art. 20 GG, Rn. 247. 38 BVerfGE 11, 330 (335); 47, 146 (154); 63, 1 (22); 79, 256 (265).

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unzulässig, „wenn die Durchführung einer Beweisaufnahme zu dem Ergebnis führen kann, daß über die Verfassungswidrigkeit der Bestimmung nicht mehr entschieden zu werden braucht". 39 Das Bundesverfassungsgericht begründet das damit, daß ,,[d]as Verfahren der Normenkontrolle ... schon wegen der Anhörungspflichten (§§ 77, 82 BVerfGG), aber auch wegen der allgemeinen Bedeutung der Entscheidung in aller Regel geraume Zeit" erfordere; „die damit verbundene Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts und anderer oberster Verfassungsorgane läßt sich nur rechtfertigen, wenn sie zur Entscheidung eines konkreten gerichtlichen Verfahrens unerläßlich ist". 4 0 Eine Bindung des nachgeordneten Gerichts an die Verfassungsauslegung des zurückverweisenden Gerichts können diese Überlegungen jedoch nicht begründen. In den Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht sich auf den Grundsatz der „Subsidiarität der Verfassungsgerichtsbarkeit" bezogen hat, konnte doch stets, wenn die Beweisaufnahme am Ende zeigte, daß es auf das für verfassungswidrig gehaltene Gesetz tatsächlich ankam, das entscheidende Gericht die Verfassungsfrage dem Bundesverfassungsgericht noch vorlegen. In den hier erörterten Fällen würde dagegen dem entscheidenden Gericht die Möglichkeit der Vorlage endgültig genommen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit wäre nicht „subsidiär", sondern sie wäre ausgeschlossen. Zwar könnte die betroffene Partei nach Beendigung des Verfahrens gegen die das Verfahren abschließende Entscheidung Verfassungsbeschwerde einlegen. Das ist aber, da die Rechtsauffassung des Berufungs- oder Revisionsgerichts feststeht, ein unnötiger Umweg, der die „Interessen der Verfahrensbeteiligten" 41 grundlos beeinträchtigt. Zudem müßte die beschwerdeführende Partei in einem Grundrecht verletzt sein und sie läuft Gefahr, daß die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerde (§ 93a Abs. 2 BVerfGG) von der Kammer verneint werden. Dagegen kann eine Richtervorlage nach § 81a BVerfGG von der Kammer nur wegen Unzulässigkeit abgewiesen werden. Das Bundesverfassungsgericht sollte deshalb seine Rechtsprechung zur Bindung an die verfassungsrechtliche Meinung des zurückverweisenden Gerichts bei gegebener Gelegenheit überprüfen. Sie ist inzwischen immerhin ein halbes Jahrhundert alt und in all dieser Zeit nie überzeugend begründet worden.

39 BVerfGE 79, 265. 40 BVerfGE 11, 335; s. auch BVerfGE 63, 22. 41

Daß bei der Auslegung des VerfassungsVerfahrensrechts die „Interessen der Verfahrensbeteiligten" zu beachten sind, erwähnt BVerfGE 63, 22; s. Benda, Ernst/Klein, Eckart, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 2001, S. 330.

Richterliche Unabhängigkeit Freiheit und Verantwortung Von Johann Wittmann Praeclarissima virtutum lustitia Inschrift im Antiquarium der Münchner Residenz

„Schon im bloßen Begriff von einem Richter ist wesentlich enthalten, daß ein Gesetz oder eine Verordnung, welche den Richtern jene Selbständigkeit und Unabhängigkeit ausdrücklich zusicherte, nichts beilegen würde, was es nicht schon in sich selbst besäße." Aus diesem Satz Anselm Feuerbachs ließe sich ohne weiteres folgern, daß es eigentlich Eulen nach Athen zu tragen heißt, über die richterliche Unabhängigkeit in der Gegenwart noch nachzudenken. Das mag vielleicht für die Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit zutreffen, 1 kann aber für die Richter der Verwaltungsgerichtsbarkeit - selbst heute noch - in Europa nicht als selbstverständlich gelten. Im benachbarten Österreich ζ. B. ist die volle richterliche Unabhängigkeit nur den Richtern am Verwaltungsgerichtshof in Wien verfassungsrechtlich verbürgt, während etwa die Richter der sogenannten Unabhängigen Verwaltungssenate immer noch um die schrittweise Anerkennung dieser Garantie zu kämpfen haben. Ähnlich verhält es sich bei unseren westlichen Nachbarn: Noch die französische Verfassung vom 4. 10. 1958 (mit ihrem bemerkenswerten Art. 64: „Le Président de la Republique est garant de Γ indépendance de l'autorité judiciare") geht vom Bild des Beamtenrichters 2 aus und rechnet zu den „magistrats" nur die Richter der Zivil- und Strafgerichtsbarkeit sowie die Staatsanwälte. Was ihre Unabhängigkeit anlangt, verweist sie ebenso wie die „Constitution française" vom 27. 10. 1946 noch auf die „declaration des droits" von 1789. Die Unabhängigkeit der Verwaltungsrichter erkennt der Conseil d'Etat erst in seiner Entscheidung vom 22. 7. 1980 an.

1

Michael Kotulla, Die verfassungsrechtliche Ausprägung der Garantie der richterlichen Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert, DRiZ 1992, S. 285 ff.; Friedrich Merzbacher, Der bayerische Richter in Vergangenheit und Gegenwart, BayVBl. 1977, S. 161 ff. 2 Vgl. auch Kai-Uwe Riese, Vom richtenden Verwaltungsbeamten zum verwaltenden Richter?, NVwZ-Beilage 11/2001, S. 41.

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In archaischer Kürze bestimmt Art. 92 des Grundgesetzes: „Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut." Vielleicht hätte man diese Vorschrift - für sich betrachtet - noch als lediglich deklaratorische Festschreibung der richterlichen Unabhängigkeit im Sinne des eingangs zitierten Satzes auffassen können. Im Zusammenklang mit der - jedenfalls im Jahre 1949 noch einmaligen - Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und der verfassungsrechtlichen Garantie des „gesetzlichen Richters" in Art. 101 GG war damit aber das Fundament jener Justizstaatlichkeit gelegt, die im Rückblick ohne Übertreibung als gesellschaftsverändernd bezeichnet werden kann. Die richterliche Unabhängigkeit wird nicht etwa für ein gewisses Amt garantiert oder ad personam verliehen, sie ist genuin mit der Ausübung richterlicher Tätigkeit verbunden. Diese „Umkehrung" des Denkansatzes machte das Bundesverfassungsgericht schon sehr früh im Zusammenhang mit der Organisation der sogenannten Soforthilfeausschüsse deutlich: Wie ein Gericht nicht aufhöre, Gericht zu sein, wenn es nicht ordnungsgemäß besetzt ist, so werde eine Verwaltungsstelle nicht dadurch zum Gericht, daß man sie mit einem unbeteiligten Beamten besetzt und faktisch seine Unabhängigkeit nicht antastet.3 Nach Art. 97 Abs. 1 GG ist der Richter sachlich unabhängig. Er ist, soweit er Recht spricht, von jeglicher Weisung frei. Diese Freiheit wird durch die Garantie der persönlichen Unabhängigkeit in Art. 97 Abs. 2 GG institutionell abgesichert.4 Das Deutsche Richtergesetz konkretisiert die Freiheitsgarantie im Einzelnen. Vor allem § 26 Abs. 1 DRiG, mit der Betonung, daß der Richter der Dienstaufsicht nur unterliegt, soweit nicht seine Unabhängigkeit beeinträchtigt wird, und die - selbstverständlich von Richtern 5 wahrgenommene - Rechtsprechung der Dienstgerichte hierzu, haben in der Bundesrepublik Deutschland den Status der Richterschaft derart geprägt, daß bereits von einem „Mythos Unabhängigkeit" gesprochen wurde. 6 Flankierend dazu wird in organisatorischer Hinsicht von Verbänden verschiedentlich eine Selbstverwaltung der Richterschaft, etwa nach italienischem Vorbild, 7 zum Teil sogar als verfassungsrechtlich zwingend gefordert. 8 3 BVerfGE 4, 331 / 351; ähnlich das BVerwGE 23, 350/352: „Seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes kann es allein darauf ankommen, ob Aufgaben und institutionelle Gestaltung eines Organs den von den rechtsstaatlichen Anschauungen dieses Gesetzes aus an ein Gericht zu stellenden Anforderungen entsprechen." 4 BVerfGE 87, 68/85. 5 Thomas Franz, Prüfungen des Bundesrechnungshofes bei den Gerichten des Bundes, Die Verwaltung 2000, Beiheft 3, S. 78/83. 6 Rolf Lamprecht, Vom Mythos der Unabhängigkeit. Über das Dasein und Sosein der deutschen Richter, 1995; dazu Horst Sendler, Unabhängigkeit als Mythos, NJW 1995, S. 2464. 7 Vgl. Art. 104 der Verfassung der Republik Italien vom 27. 12. 1947, geändert am 30. 10. 1993; dazu kritisch: Francessco Mariuzzo, Die Selbstverwaltung der ordentlichen Richter in Italien - der Oberste Rat der Richterschaft, DRiZ 2001, S. 161. 8 Im Einzelnen dazu Johann Wittmann, Richterliche Unabhängigkeit und Selbstverwaltung, in: Dokumentation zum 13. Deutschen Verwaltungsrichtertag 2001; Hans-Jürgen Papier, Zur Selbstverwaltung der Dritten Gewalt, BDVR Rundschreiben 2002, S. 134.

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Es sollen im Rahmen des vorliegenden Themas die Ausprägungen der so verfaßten Freiheit der Richterschaft nicht im Einzelnen dargestellt werden. Die Fülle würde auch den Rahmen eines Festschriftbeitrages sprengen. Hervorzuheben ist vielmehr, daß diese Freiheit anderen Ursprungs ist, als die dem Bürger in den Grundrechten garantierten Freiheiten. Art. 97 GG gewährt dem Richter nicht einen grundrechtlich gesicherten Anspruch im Sinne der Art. 1 - 1 9 GG, § 90 BVerfGG, 9 sondern eine institutionelle Absicherung zum Schutz der am Prozeß beteiligten Bürger. Sendler, der frühere Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, betont, „daß der Schutz des Richters gegen Einflüsse Justiz und Rechtsordnung dienen soll, den Richter hingegen nur als dafür notwendiges ,Hilfsorgan' erfaßt, diesem also kein Privileg einräumt oder gar einen Heiligenschein verleiht. Für den Richter bedeutet seine Unabhängigkeit in erster Linie nicht ein Recht, sondern eine Verpflichtung, deren Erfüllung gelegentlich höchst unbequem sein kann und nicht zuletzt deswegen bisweilen arg vernachlässigt wird." Wer über diese Verpflichtung spricht, geht das Risiko ein, als Verräter der richterlichen Unabhängigkeit mißverstanden zu werden. Das mag daran liegen, daß mit dem Wort Verpflichtung sofort die Spekulationen über die Sanktionen zu ihrer Durchsetzung verbunden werden. Abgesehen davon, daß die Sanktionsmechanismen im Bezug auf Richter gerade zum Schutz der Unabhängigkeit materiell (vgl. § 839 Abs. 2 Satz 1 BGB) und formell (vgl. § 29 DRiG) eher schwach ausgebildet sind, hindert das Fehlen einer Sanktion nicht die rechtliche Verbindlichkeit. 10 Es steht nicht so sehr die Sanktion als der Appell an Verantwortung im Vordergrund der Überlegungen. Schubert11 stellt die verschiedenen „Attribute des Begriffs der Verantwortung" klar heraus: Er unterscheidet die Verantwortung „als Rechenschaft für etwas Getanes" von der Verantwortung „als Pflicht für etwas Zu-Tuendes". Selbst in diesem letztgenannten Sinn von „Verantwortung" zu sprechen, fällt offensichtlich schwer. Beratungsthema der Jahrestagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 1975 war die „Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit." In der Diskussion führte der Vorsitzende aus: „Wenn man einem gebildeten Laien sagen würde, daß im Verwaltungsrecht der Begriff der Verwaltungsverantwortung so gut wie unbekannt ist [ . . . ], dann würde das bei einem Unbefangenen sicherlich einige Verwunderung auslösen".12 Was für die „Verwaltungsverantwortung" gilt, trifft in noch höherem Maße auf die Verantwortung des Richters zu. 13 Die Scheu 9 BGH, DRiZ 1978, S. 185. 10 Dazu Arthur Kaufmann, Strafloser Schwangerschaftsabbruch: rechtswidrig, rechtmäßig oder was?, JZ 1992, S. 981/983. 11 Jörg Schubert, Das ,Prinzip Verantwortung' als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, 1998, S. 64. 12 VVDStRL 34 (1976), S. 282. 13

Konrad Kruis, Richterverantwortung und Abstimmungsquoren in der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, 1997, S. 63 ff.

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in Teilen der Richterschaft, sich an diese Themen heranzuwagen, rührt möglicherweise daher, daß Freiheit - kurzschlüssig - als das logisch ontologisch, ethisch oder politisch Primäre, Verantwortung als das Sekundäre, Bedingte verstanden wird. Vielmehr ist jedoch die Komplexität der Begriffe in ihrer Verknüpfung zu ergründen. „Erst wenn wir sie verstehen, bewahren wir uns davor, Freiheit gegen Verantwortung oder Verantwortung gegen Freiheit auszuspielen/'14 Wer in diesem Sinne versucht, den Bereich der richterlichen Verantwortung zu strukturieren, muß als Basis anerkennen, daß die dem Richter mit der Unabhängigkeit gewährleistete Freiheit nicht primär der individuellen Freiheitsgewährleistung - mit dem damit verbundenen Quentchen Beliebigkeit - entspringt. Vielmehr ist sie, wie bereits ausgeführt, im Sinne der Rechtsgewährleistung, in dem von der Gewaltenteilung bestimmten Staatsgefüge verfassungsrechtlich vorprogrammiert. Sie ist organisatorisch-funktionelle Selbständigkeit.15 Die daraus folgende Verantwortlichkeit drückt das Grundgesetz mit der Formulierung aus, die rechtsprechende Gewalt sei den Richtern „anvertraut". Die Verfassung baut also auf die Gewissenhaftigkeit, Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Richters. „Die Gesetzesbindung allein sichert noch nicht das sach- und gegenwartsgerechte Urteil; hinzukommen muß eine eigenständige, auch von der Persönlichkeit des Richters bestimmte Leistung. Um diese Leistung in Offenheit gegenüber den Verfahrensbeteiligten erbringen zu können, sind die Richter nach Art. 97 Abs. 1 GG unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen'". 16 Die Gesetzesunterworfenheit installiert aber die Rechtsprechung nicht als bloßes „Anwendungs- und Vollstreckungsorgan der Gesetzgebung", das allein aus der Verwirklichung des Gesetzes seine Aufgabe und Legitimation empfängt. 17 Vielmehr wird der Rechtssprechung durch die unmittelbare Bindung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) einerseits und die Bindung an „Gesetz und Recht" (Art. 20 Abs. 3 GG) andererseits die Verantwortung dafür auferlegt, die gelegentlich unvermeidbare Spannung zwischen formaler Gesetzlichkeit und materieller Gerechtigkeit durch Konkretisierung im Einzelfall aufzulösen. Unter diesem Blickwinkel kann die „Rechtsfindung in Art. 20 Abs. 3 GG nicht mehr jene zentrifugale Kraft entfalten, die den Richter über das Gesetz stellt. Der Richter bleibt an die Dezision des Gesetzgebers gebunden. Er hat in der konkreten Entscheidungssituation den abstrakten gesetzlichen Gedanken zu einem konkreten Entscheidungsmaßstab weiterzudenken und dabei die unter anderen geschichtlichen Gegebenheiten gesetzten Normen zur gegenwartsgerechten Regel fortzuentwik-

14

Peter Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, 1984, S. 83. Edzard Schmidt-Jortzig, Aufgabe, Stellung und Funktion des Richters im demokratischen Rechtsstaat, NJW 1991, S. 2377/2381. 16 Paul Kirchhof, Der Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt, in: Festschrift der juristischen Fakultät zur 600-Jahr Feier der Universität Heidelberg, 1986, S. 11. 17 Kirchhof Auftrag des Grundgesetzes an die rechtsprechende Gewalt (Fn. 16), S. 12. 15

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kein. 18 Ob es ihm gelingt oder auch nur gelingen kann, seine konkrete Entscheidung immer im Sinne einer widerspruchsfreien Rechtordnung 19 zu treffen, muß dahingestellt bleiben, weil es diese vielleicht nicht - oder nicht mehr - gibt. Jede richterliche Rechtsfindung enthält ein Stück punktueller Rechtsfortbildung und wird damit kreative Mitgestaltung der Rechtsordnung.20 Weil diese Gestaltungsmacht nicht Ausfluß individueller Freiheit, sondern verfassungsrechtlich konditioniert und instrumentalisiert ist, kann die private - politische - Meinung des Richters nicht Maßstab sein. In einer pluralistischen Gesellschaft ist der Richter sicherlich nicht mehr „la bouche qui prononce les paroles de la loi", er ist nicht mehr Subsumtionsautomat,21 obwohl ihn gerade der Einsatz moderner Datenverarbeitung manchmal wieder in gefährliche Nähe dazu bringt. Der Grad zwischen beiden Extremen ist schmal. Der Richter wird „an die Stelle des Gesetzgebers gerückt, ohne daß ihm dessen Hilfsmittel zur Verfügung stünden oder sein Urteil einem ähnlichen Gestaltungsprozeß unterläge wie das Gesetz."22 Hillgruber 23 stellt zu Recht fest, daß die Grenzen, die von Verfassungs wegen einer gesetzesübersteigenden richterlichen Rechtsfortbildung gezogen sind, wesentlich enger gezogen sind, als dies allgemein angenommen wird. Rechtsprechung kann und darf nicht Politik ersetzen.24 Während etwa die Verwaltung neben der selbstverständlichen rechtlichen Gebundenheit (Art. 20 Abs. 3 GG) auch legitimerweise metajuristische Zwecke verfolgt, ist die richterliche Tätigkeit monostrukturell juristisch. 25 Verantwortliche Richtertätigkeit besteht auch darin, sich dieser Grenzen bewußt zu sein. Die Antwort auf Wassermanns Frage „Macht ohne Verantwortung?" 26 lautet „Macht in Verantwortung". 18

Vgl. dazu Winfried Brohm, Staatliche Verwaltung als eigenständige Gewalt, DVB1. 1986, S. 321. 19 Hierzu Helge Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, S. 864; Walter Frenz, Das Prinzip widerspruchsfreier Normgebung und seine Folgen, DÖV 1999, S. 41. 20 Arthur Meier -Hay oz, Strategische und taktische Aspekte der Fortbildung des Rechts, JZ 1981, S. 417/419. 21 Meier-Hayoz, Strategische und taktische Aspekte der Fortbildung des Rechts (Fn. 20), S. 418. 22 Fritz Bauer, Sozialer Ausgleich und Richterspruch, JZ 1957, S. 193/196. 23 Christian Hillgruber, Richterliche Rechtsfortbildung als Verfassungsproblem, JZ 1996, S. 118/124; ähnlich bereits Paul Kirchhof, Richterliche Rechtsfindung, gebunden an ,Gesetz und Recht', NJW 1986, S. 2275; Horst Sendler, Überlegungen zu Richterrecht und richterlicher Rechtsfortbildung, DVB1. 1988, S. 828; Ralph Christensen, Richterrecht - rechtsstaatlich oder pragmatisch, NJW 1989, S. 3194. 24 Gerd Roellecke, Kann Rechtsprechung Politik ersetzen?, DRiZ 1996, S. 174; ders., Politische Anfechtung des Richters, DRiZ 1994, S. 81/85; ferner Ingo v. Münch, Justiz Reparaturbetrieb der Politik, NJW 1996, S. 2073. 25 Rupert Scholz, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 34 (1976), S. 152 und 300. 26 Rudolf Wassermann, Macht ohne Verantwortung? Zur Richterethik in der pluralitären Gesellschaft, DRiZ 1986, S. 201.

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Richterliche Zurückhaltung („self-restraint") 27 ist Folge dieser Verantwortung. Das Bewußtmachen solcher Verantwortung hilft auch, „gegen eine uferlose richterliche Folgenberücksichtigung Pflöcke festzumachen.' 4 Sendler 28 weist zutreffend darauf hin, daß das Maß der insoweit dem Richter übertragenen Verantwortung durch die „Dichte des Normtextes" buchstäblich „mehr oder weniger" determiniert ist. Sei der Normtext locker gefügt, so eröffne das dem Richter - soweit er überhaupt Normadressat sei 29 - entsprechend größere Folgenverantwortung. Sei er hingegen ,dicht', so sei sie entsprechend schmäler; in den Makrokosmos der Legislative dürfe der Richter aber keinesfalls vordringen. An die Verantwortung und Integrität des Richters appelliert Steiner 30 auch im Zusammenhang mit dem „Folgenmanagement" bei der Normenkontrolle durch Verfassungsgerichte. Es mag auf den ersten Blick banal erscheinen, ist aber in der rechtlichen Aussage gravierend: Das Wort Verantwortung verweist auf den in ihm enthaltenen Begriff „Antwort". Zu den ehernen Pflichten des Richters gehört es, dem Rechtssuchenden Antwort zu geben. Juristisch wird diese Pflicht mit den Begriffen „Rechtsverweigerungsverbot", „Rechtsgewährleistungspflicht" oder „Justizgewährungspflicht" 31 umschrieben. Zutreffend hebt Papier 32 hervor, daß die Dienstaufsicht über Richter eben der Durchsetzung dieses Gebotes vorrangig dient. Die Pflicht umfaßt wenigstens ein Dreifaches: das Gebot zu zeitgerechter, je nach Lage des Falles sogar sofortiger Antwort, das Gebot zu begründeter Antwort und schließlich das Gebot zu essentieller Antwort. In jedem dieser drei Punkte weist die gegenwärtige Rechtskultur Defizite auf. Daß die lange Dauer der gerichtlichen Verfahren nicht nur unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten zum Teil unvertretbar ist, braucht nicht weiter betont zu werden. 33 So sehr daraus die staatliche Verpflichtung resultieren mag, die entsprechenden (personellen wie technischen und organisatorischen) Rahmenbedingungen zu schaffen, um schnellen Rechtsschutz sicherzustellen, so sehr ist damit auch die unmittelbare persönliche Verantwortung des Richters angesprochen. Formelhafte Mitteilungen an Prozeßbeteiligte, die Verfahren würden nach der Reihenfolge des Eingangs erledigt, des Klägers Verfahren stehe danach an „n-ter" Stelle, mit einer 27 Johann Wittmann, Self-restraint als Ausdruck der Gewaltenteilung, in: Fünfzig Jahre freiheitlich demokratischer Rechtsstaat, 1999, S. 109. 28 Horst Sendler, Zur richterlichen Folgenberücksichtigung und -Verantwortung, in: Festschrift für Helmut Simon, 1987, S. 113 ff. 29 Vgl. für den Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit Johann Wittmann, Zu den Grenzen der gerichtlichen Kontrolle im Verwaltungsprozeß, BayVBl. 1987, S. 744/746. 30 Udo Steiner, Der Richter als Ersatzgesetzgeber, NJW 2001, S. 2919. 31 Konrad Redeker, Justizgewährungspflicht des Staates versus richterliche Unabhängigkeit, NJW 2000, S. 2796. 32 Hans-Jürgen Papier, Richterliche Unabhängigkeit und Dienstaufsicht, NJW 1990, S. 8/9. 33 Vgl. Detlef Merten, Zur Dauer verwaltungsgerichtlicher Verfahren, in: Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 129, S. 31 ff.

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Terminierung oder Entscheidung könne nicht vor „n Monaten" gerechnet werden, schaden dem Ansehen des Richters. Ebenso schädlich ist es andererseits, wenn der Gesetzgeber versucht, eine Beschleunigung dadurch herbeizuführen, daß dem Richter zugestanden wird, seine Entscheidung ohne - schriftliche - Begründung zu treffen. Wenn solche Regelungen nicht als für den Richter unzumutbare Aufforderungen zur nur oberflächlichen rechtlichen Prüfung oder gar zum Verzicht auf jegliche Prüfung verstanden sein sollen, dürfte der Beschleunigungseffekt gering, der Schaden für die Rechtskultur dagegen umso höher sein. Unter der mahnenden Überschrift „Recht sprechen, nicht Recht verschweigen" wies Kirchhof schon vor Jahren in der FAZ 3 4 darauf hin, daß dies den Charakter der Gerichte als recht„sprechende" Gewalt gefährdet und ein Fundament ihrer Überzeugungskraft schwächt. „Eine Entscheidung ohne Gründe will nicht überzeugen, sondern fordert Gehorsam." Das „unbeschriebene Blatt" bringt zwar den richterlichen Willen zum Ausdruck, leitet aber nicht eine rechtliche Erkenntnis aus der Rationalität einer Gesetzesordnung ab. Antwort erwarten die Parteien - vor allem in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (dort Bürger ebenso wie Behörde) - zu den gestellten Sachfragen und keine Flucht des Richters in formale Logeleien.35 Natürlich gilt der Satz Iherings 36, daß die Form die geschworene Feindin der Willkür und die Zwillingsschwester der Freiheit ist, gerade im gerichtlichen Verfahren. Aber zumindest37 dort, wo nach den Regeln der Relationstechnik die Klärung der Sachfrage sich als gleichwertige Entscheidungsalternative stellt, sollte sich der Richter auch insofern seiner Verantwortung" bewußt sein. Beispielhaft sei auf das kommunale Abgabenrecht (wenn Abgabenbescheide wegen eines Zustellungsfehlers statt wegen fehlerhafter Maßstabsbildung oder Berechnung aufgehoben werden), auf manch ältere Entscheidung zum Bauplanungsrecht38 oder die jüngste Rechtsprechung zur Berufungszulassung verwiesen. Um MißVerständnissen vorzubeugen: Eine solche gleichrangige Entscheidungsalternative stellte sich - entgegen der in der Öffentlichkeit aus enttäuschter politischer Erwartung heraus vielfach geäußerten Kritik - dem Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Zustimmung des Bundesrats zum Zuwanderungsgesetz39 nicht, denn mit dem Normenkontrollantrag hatten die Antragsteller gerade gerügt, das Zuwanderungsgesetz sei formal mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.

34 Vom 18.9. 1997, Nr. 217/S. 11. 35 Vgl. Martin Morlok, Unnötige Förmelei oder gebotene Formstrenge, DVB1. 1999, S. 277. 36 Rudolf v. Ihe ring, Geist des römischen Rechts, 1858, S. 497. 37 Vgl dazu Horst Sendler, Beschleunigung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, DVB1. 1982, S. 923/929. 38 Konrad Redeker, Legislative, Exekutive und Verwaltungsgerichtsbarkeit, NVwZ 1996, S. 126/128. 39 Urteil vom 18. 12. 2002, BayVBl. 2003, S. 172 ff.

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Sicherlich nur im Äußersten rechtserheblich (§ 39 DRiG) ist das Verhalten des Richters in der Öffentlichkeit. Und doch sollte gerade hier das allzu ungehemmte Ausleben der Freiheit mehr zugunsten eines verantwortungsvollen Gebrauchs derselben zurücktreten. Der Umstand etwa, daß Richter nicht an Arbeitszeiten gebunden sind, wird auch in der modernen Gesellschaft, die sich im übrigen längst an gleitende Arbeitszeit und ähnlich Modelle gewöhnt hat, immer noch als Ausdruck von Privilegierung mißverstanden. Ob es im Hinblick auf Art. 97 GG zwingend ist, Richter von Arbeitszeitregelungen freizustellen, soll offen bleiben. 40 Der beeindruckende Wortreichtum, mit dem etwa der BGH 4 1 dies zu begründen versucht, kann nicht unbedingt als affirmativ bewertet werden. Jedenfalls leben darauf gründende (Vor-)Urteile in der rechtspolitischen Diskussion immer und sehr schnell auf. Es geht, mehr oder weniger juristisch erfaßbar, darum, ob der Mensch, der Richter, wie es Romano Guardini 42 formuliert, „Herr seines eigenen Werkes bleibt, oder dessen Funktionär wird." Die Handlungsdirektiven in diesem innersten Bereich der Persönlichkeit müssen in jeder Entscheidung einzeln erschlossen werden. Im Festvortrag 43 anläßlich seiner Ehrenpromotion durch die Juristische Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat der Jubilar das auf den Punkt gebracht: „Das Risiko liegt in den hohen Anforderungen, die ein freiheitlicher Staat an seine Bürger stellt. Er verlangt vom Einzelnen als republikanische Persönlichkeit nicht nur die Selbstverantwortung des Freiheitsgebrauchs, sondern auch die Selbstfindung des Lebenssinnes, aus dessen Basis wiederum der ethische Grundkonsens gefunden werden muß, ohne den der moderne Staat nicht lebensfähig ist." Das Grundgesetz hat das Richteramt in besonderem Maße hervorgehoben. Deshalb gilt gerade für die Inhaber dieses Amtes, was Hermann Hesse im Glasperlenspiel sagt: „Jeder Aufstieg in die Stufe der Ämter ist nicht ein Schritt in die Freiheit, sondern in die Bindung. Je größer die Amtsgewalt, desto strenger der Dienst. Je stärker die Persönlichkeit, desto verpönter die Willkür."

40 Zweifelnd auch bereits Willi Geiger, Zum verfassungsrechtlichen Status der Richter, in: Festschrift für Hans Schäfer, 1979, S. 85. 41 BGHZ 113,40. 42 Romano Guardini, Freiheit und Verantwortung. Die Weiße Rose - Zum Widerstand im „Dritten Reich", 1997. 43

Walter Schmitt Glaeser, Alte Werte neue Zweifel, in: Festschrift anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde 1995, Würzburg 1995, S. 25/28.

Absprachen im Besteuerungs- und im Steuerstrafverfahren Von Gerhard Dannecker

Die Rechtswissenschaft setzt sich seit den achtziger Jahren verstärkt mit dem Phänomen der Absprachen im Bereich des öffentlichen Rechts auseinander. Die herkömmlichen Handlungsformen reichten offensichtlich nicht mehr aus, um den Anforderungen der Praxis gerecht zu werden. Dennoch bleibt ein ungutes Gefühl bezüglich dieser „Grauzone des Rechts",1 mit der sich auch der verehrte Jubilar mehrfach in seinem wissenschaftlichen Werk auseinandergesetzt hat.2 Das gleiche Unbehagen besteht im Strafrecht, das einen Teilbereich des öffentlichen Rechts darstellt, in dem aber die Formenbindung besonders stark ausgeprägt ist. Aber auch aus dem Strafrecht sind Absprachen heute nicht mehr hinweg zu denken,3 obwohl diese in der Strafprozeßordnung nicht vorgesehen sind. Besondere Schwierigkeiten treten auf, wenn das Strafrecht auf verwaltungsrechtliche Regelungen verweist und diese in Bezug nimmt, da dann die Situation entstehen kann, daß im außerstrafrechtlichen Bereich Absprachen getroffen werden, die für das Strafverfahren jedoch nicht verbindlich sind. Solche Fälle treten vor allem im Umwelt- und im Steuerstrafrecht auf. Während nach h.M. Absprachen zwischen Bürger und Verwaltung im öffentlichen Recht keine rechtliche, wohl aber eine faktische Bindungswirkung entfalten, 4 wird im Steuerrecht die tatsächliche Verständigung durch den Bundesfinanzhof und die ganz h.M. in der Literatur inzwischen als eigenes Rechtsinstitut mit Bindungswirkung für die Betei1 H. Dreier, Staatswissenschaften und Staatspraxis 4 (1993), 647, 657 m.w.N; vgl. auch Isensee, Die typisierende Verwaltung, 1976, S. 191. 2 Schmitt Glaeser, VVDStRL 31 (1973), 179 ff.; ders., in: Lerche/Schmitt Glaeser/ Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, S. 35 ff. 3 Vgl. dazu nur Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, 1986; Dencker/ Hamm, Der Vergleich im Strafprozeß, 1988; Rönnau, Die Absprache im Strafprozeß, 1990; Gerlach, Absprachen im Strafverfahren, 1992; Braun, Die Absprache im deutschen Strafverfahren, 1998; Sinner, Der Vertragsgedanke im Strafprozeßrecht, 1999; vgl. weiterhin die Nachweise bei Cramer, Absprachen im Strafprozeß, in: Festschrift für Rebmann, 1989, S. 145, und bei Kleinknecht/ Meyer-Goßner, Strafprozeßordnung, 45. Aufl. 2001, Einl. Rn. 119 i, zu den Absprachen im Wirtschafts- und Steuerstrafverfahren vgl. nur Niemeyer, in: Müller-Gugenberger/ Bieneck (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht, 3. Aufl. 2000, § 10 Rn. 33 ff. m. w. N. 4 Vgl. nur die Nachweise bei Kautz, Absprachen im Verwaltungsrecht, 2002, S. 288 ff.

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ligten anerkannt.5 Im Hinblick darauf, daß nicht selten wegen des der tatsächlichen Verständigung zugrunde liegenden Sachverhalts zugleich ein Steuerstrafverfahren eingeleitet wird oder jedenfalls eingeleitet werden kann, besteht in solchen Fällen das Bedürfnis, sowohl die steuerrechtlichen als auch die strafrechtlichen Probleme mittels einer Verständigung zu lösen.6 Jedoch werden Voraussetzungen, Umfang und Wirkung von Verständigungen im Besteuerungsverfahren einerseits und im Strafverfahren andererseits unterschiedlich beurteilt, da in beiden Verfahren jeweils eigene Grundsätze gelten.7 Die Problematik der Absprachen betrifft ein Phänomen, das von so grundlegender Bedeutung ist, daß sich nicht nur die Frage nach der Zulässigkeit und den Grenzen von Absprachen im Besteuerungs- und Strafverfahren, sondern weitergehend die Frage nach gesetzgeberischen Reformen stellt. Im Hinblick darauf, daß der verehrte Jubilar häufig rechtspolitisch brisante Entwicklungen als Wissenschaftler begleitet und sich regelmäßig mit aktuellen Fragen des Verfassungs- und Verwaltungsrechts auseinandergesetzt hat,8 soll ihm der folgende Beitrag gewidmet werden, der sich mit der Zulässigkeit und den Grenzen informeller Absprachen im Steuer- und Steuerstrafrecht befaßt und die Notwendigkeit einer Reform auf diesem Gebiet zum Gegenstand hat.

I. Tatsächliche Verständigungen im Besteuerungsverfahren und ihre Auswirkungen auf das Steuerstrafverfahren 1. Bedenken gegen die Zulässigkeit der tatsächlichen Verständigung Gegen die Zulässigkeit der tatsächlichen Verständigung, die zu einem Aushandeln des Steueranspruchs führt, werden grundlegende Bedenken im Hinblick auf die verfassungsrechtlichen Vorgaben erhoben: Vom Gesetz abweichende Steuervereinbarungen sollen gegen das Gesetzmäßigkeitsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) verstoßen und 5 Vgl. dazu nur Schick, Vergleiche und Vereinbarungen zwischen Staat und Bürger im Steuerrecht, 1967; Sontheimer, Der verwaltungsrechtliche Vertrag im Steuerrecht, 1987; Eich, Die tatsächliche Verständigung im S teuer verfahren und Steuerstrafverfahren, 1992; Seer, Verständigungen im Steuerrecht, 1996; ders., BB 1999, 78 ff.; ders., in: Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Stand: Februar 2002, § 85 AO Tz. 47 ff.; Flockermann, in: Festschrift für W. Ritter, 1997, 103; Wiese, DStZ 1997, 745 ff.; Rößler, DStZ 1998, 168 ff.; Tiedke/Wälzholz, DStZ 1998, 819 ff.; H. Wolf, DStZ 1998, 267; Offerhaus, DStR 2001, 2093 ff. 6 Vgl. dazu Kaetzler, wistra 1999, 253 ff.; Vernekohl, PStR 1998, 51 ff. 7

Vgl. nur Joecks, in: Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht, 5. Aufl. 2001, § 404 Rn. 90 ff. Vgl. nur Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, 1968; ders., Das elterliche Erziehungsrecht in staatlicher Reglementierung, 1980; ders., Private Gewalt im politischen Meinungskampf, 2. Aufl. 1992. 8

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deshalb grundsätzlich unzulässig sein.9 Der Verwaltung sei keine Willensfreiheit eingeräumt, kraft derer sie von den „Fesseln der Gesetzmäßigkeit" befreit wäre. 10 Dieser traditionellen Vorstellung von der Vereinbarungsfeindlichkeit des Abgabenrechts lag die Vorstellung zugrunde, daß in der Rechtswirklichkeit ein Sachverhalt realisiert wird, der eindeutig die Merkmale eines Steuertatbestandes erfüllt und sich aus den gesetzlichen Regeln unzweifelhaft die festzusetzende Steuer ermitteln läßt. Die hierbei vorausgesetzten Prämissen: die Möglichkeit einer lückenlosen und einfachen Sachverhaltsermittlung und die Eindeutigkeit der Rechtsfolgenbestimmung ohne Auslegungsprobleme, entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. 11 In der Praxis treten häufig Fälle auf, in denen der Sachverhalt nicht vollständig oder nur unter erschwerten Bedingungen ermittelt werden kann, insbesondere wenn die Bürger ihren steuerlichen Mitwirkungspflichten nicht nachkommen. Wenn in solchen Fällen Absprachen zwischen der Finanzbehörde und dem Steuerpflichtigen getroffen werden, kann auf langwierige Ermittlungsversuche, die zudem nur geringe Aussicht auf Erfolg haben, verzichtet werden. Kommt es zu einer tatsächlichen Verständigung, so dient diese der Effektivität des Besteuerungsverfahrens und damit der Steuergerechtigkeit. Weiterhin können in Fällen, in denen die Besteuerung an Sachverhalte anknüpft, die erst in der Zukunft abgeschlossen sein werden, Probleme bei der Feststellung des Steueranspruchs auftreten. Dies gilt insbesondere, wenn Werte nur annäherungsweise ermittelt werden können.12 Der Finanzverwaltung bleibt dann nur die Möglichkeit der Schätzung. Wenn eine solche jedoch ohne Mitwirkung des Steuerpflichtigen vorgenommen wird, akzeptiert dieser das Ergebnis in der Regel nicht, und es kommt zum Streit. Daher ist die behördliche Praxis dadurch gekennzeichnet, daß sich die Beteiligten in Zweifelsfällen auf ein Ergebnis einigen, also eine tatsächliche Verständigung vornehmen. Der tatsächlichen Verständigung kommt in solchen Fällen die Aufgabe zu, zur Wahrung des Rechtsfriedens beizutragen, indem Auseinandersetzungen über den der Besteuerung zugrunde zu legenden Sachverhalt bereits im Vorfeld beigelegt werden. Streit kann auch über Verfahrensfragen entstehen, und zwar in jedem Stadium des Besteuerungsverfahrens. 13 Zu nennen sind Verständigungen über Buchführungsfragen, über eine Billigungsmaßnahme im Sinne des § 163 AO, über ein Absehen von einer Steuerfestsetzung nach § 156 Abs. 2 AO oder verfahrensübergreifende Verständigungen über mehrere Steuerarten bzw. -Zeiträume und in Mehrpersonenverhältnissen. 9 Näher dazu Seer, in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 47; ders., BB 1999, 78, jeweils m. w. N. 10 Spannowsky, Grenzen des Verwaltungshandelns durch Verträge und Absprachen, 1994, S. 276. 11 Ruppe, in: Leitner (Hrsg.), Aktuelles zum Finanzstrafrecht, 2003, S. 21. 12 Vgl. dazu die bei Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 6, genannten Beispiele. 13 Seer, Verständigungen im Steuerrecht (Fn. 5), S. 8 ff.

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Schließlich kann auch die exakte Bestimmung der Rechtsfolgen mit Schwierigkeiten verbunden sein, und zwar insbesondere dann, wenn Bewertungen und zukunftsorientierte Prognosen erforderlich sind. Zu nennen sind die Wertbestimmung von Wirtschaftsgütern, Nutzungen und Leistungen sowie die Aufteilung und Abgrenzung von Bezügen und Aufwendungen zwischen steuerlich unterschiedlich zu behandelnden Sphären. In allen hier angesprochenen Fällen sind zwar sowohl das Gesetzlichkeitsprinzip als auch der Gleichheitssatz tangiert. Wenn aber der Gesetzgeber im Steuerrecht Regelungen einführt, die eine Schätzung vorsehen oder Konkretisierungsspielräume für die Verwaltung eröffnen, ist ein kooperatives Vorgehen, das zudem der Effektivität der Verwaltung und der Schaffung von Rechtsfrieden durch Streitvermeidung dient, nicht per se ausgeschlossen. Daher bestehen keine grundlegenden Bedenken gegen eine Vereinbarung über die Grundlagen der Besteuerung, d. h. über die tatsächlichen Gegebenheiten, sofern es nicht um ein Aushandeln der Anwendung einer bestimmten Steuernorm geht. Demgemäß hat bereits das Reichsgericht tatsächliche Verständigungen als zulässig angesehen, einen Vergleich über das anzuwendende Steuerrecht hingegen als nicht erlaubt qualifiziert. 14

2. Grundsätzliche Anerkennung des Rechtsinstituts der tatsächlichen Verständigung im Besteuerungsverfahren Für die Anerkennung des Rechtsinstituts der tatsächlichen Verständigung ist die Entscheidung des Bundesfinanzhofs vom 11. Dezember 1984 von zentraler Bedeutung, 15 in der die Möglichkeit einverständlicher Regelungen im Steuerrecht ausdrücklich anerkannt wurde, soweit sie den Bereich der S ach Verhaltsermittlung betreffen. Zugleich legte das Gericht explizit die Voraussetzungen solcher tatsächlicher Verständigungen fest: Sie dürfen sich nur auf Fälle erschwerter Sachverhaltsermittlung beziehen und nicht zu unzutreffenden Ergebnissen führen. Weiterhin wurde klarstellend festgehalten, daß sich derartige Einigungen über die Annahme eines bestimmten Sachverhalts und über eine bestimmte Sachbehandlung zwar auch auf den Steueranspruch auswirken. „Es handelt sich jedoch nicht um einen Vergleich über das anzuwendende Recht. Das Recht wird vielmehr erst auf einen einverständlich angenommenen Sachverhalt angewandt."16 Die höchstrichterliche Rechtsprechung unterscheidet zwischen Rechtsfragen und Tatsachen. So lehnte es der Bundesfinanzhof in den Beschlüssen vom 30. Juli 199717 und vom 15. März 2000 18 ausdrücklich ab, Verständigungen zwischen Fi14 RFHE 18,92,95. 15 Β FH, BStBl. II 1985, 354 ff. 16 Β FH, BStBl. II 1985, 354, 358; vgl. auch Β FH, BStBl. II 1996, 625; BFH/NV 1997, 525; BFH/NV 1998, 188. 17 BFH/NV 1998, 188; ebenso BFH/NV 1999, 1598.

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nanzbehörde und Steuerpflichtigem auch in Bezug auf reine Rechtsfragen anzuerkennen, da dies mit dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung nicht vereinbar sei. 19 Lediglich im Bereich der Tatsachen wird eine tatsächliche Verständigung anerkannt. Jedoch toleriert die Rechtsprechung eine Verständigung über Rechtsfragen, wenn diese in so engem Zusammenhang mit Tatsachen stehen, daß sie sachgerechterweise nicht auseinander dividiert werden können.20 Hingegen werden Verständigungen über den Steueranspruch oder über die Höhe der Steuer wegen der Gesetzesbindung der Verwaltung, der Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung und wegen der Besteuerungsgleichheit nach wie vor nicht anerkannt.

3. Erstreckung des Anwendungsbereichs der tatsächlichen Absprachen auf „gemischte Fragen " und spezielle Rechtsfragen Die strikte Trennung zwischen Tatsachen- und Rechtsfragen läßt sich in der Praxis nur schwer durchführen; denn jede Verständigung über steuerlich relevante Tatsachen beeinflußt zugleich die Höhe des Steueranspruchs. Deshalb wird die Zweiteilung in eine zulässige Verständigung über den Sachverhalt und eine verbotene Einigung über das Recht in der Literatur als zu vordergründig und in der Praxis letztlich nicht durchführbar kritisiert. 21 Wenn der Sachverhalt vereinbart werden könne, bedeute dies jedenfalls de facto auch eine Einigung über die steuerrechtliche Frage. So führt Offerhaus 22 diesbezüglich aus, daß jede Rechtsfindung zunächst die Tatsachenermittlung, sodann die Tatsachenwürdigung und schließlich die Rechtsanwendung auf den gewürdigten Sachverhalt erfordere. Tatsachenermittlung und Tatsachenwürdigung gehörten in den Bereich der Tatsachenfeststellung und seien deshalb zweifelsfrei einer tatsächlichen Verständigung zugänglich. Die Rechtsfragen ergäben sich dann zwingend aufgrund des tatsächlich festgestellten Sachverhalts. Jede tatsächliche Verständigung löse zwangsläufig - ja geradezu gewollt - steuerrechtliche Folgen aus und bewirke damit eine partielle Einigung über den Steueranspruch. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Tatsachen- und Rechtsfragen findet ihre Rechtfertigung in der Kooperationsmaxime. Die gemeinsame Verantwortung von Finanzbehörde und Steuerpflichtigem bezieht sich nur auf die Tatsachenermittlung und nicht auch auf die rechtliche Würdigung eines bereits festgestellten Sachverhalts. Deshalb darf die Finanzbehörde die von ihr allein zu verantwortende Endentscheidung durch eine einvernehmliche tatsächliche Verständigung, in der sie sich im vorhinein festlegt, nur dann vornehmen, wenn hierfür ausnahmsweise eine Legitimation vorliegt. is BFH/NV 2000, 1073. 19 Im Ergebnis zustimmend Tiedke/ Wälzholz, DStZ 1998, 819, 820. 20 Vgl. nur BFH/NV 1998, 498, 499. 21 Vgl. nur Seer, in: Tipke/ Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 57, 60 m. w. N. 22 Offerhaus, DStR 2001, 2093, 2094. 2*

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Besonders deutlich wird der Beziehungszusammenhang zwischen Rechts- und Tatsachenfragen, wenn das Recht eine bestimmte Wertung erfordert, die ihrerseits auf tatsächliche Faktoren abstellt. Ein solcher Zusammenhang liegt vor, wenn bestimmt werden muß, ob eine bestimmte Gestaltung „einem Fremdvergleich standhält", ob sie „üblich" oder „angemessen" ist. Sowohl bei der Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe als auch bei der Bewertung oder Schätzung einigen sich die Akteure über ein Geflecht von Tatsachen und Rechtsfolgen. Deshalb ist eine Verständigung über Rechtsfragen zumindest insoweit zulässig, als diese in einem engen und in sachgerechter Weise nicht aufhebbaren Zusammenhang mit den zugrundeliegenden Tatsachen steht. In der Literatur findet die generelle Anerkennung der tatsächlichen Verständigung über „gemischte Fragen" breite Zustimmung.23 Inzwischen hat aber auch der Bundesfinanzhof die tatsächliche Verständigung über solche „gemischte Fragen" vereinzelt zugelassen.24 Über die soeben dargestellten Konstellationen gemischter Fragestellungen mit verwobenen tatsächlichen und rechtlichen Elementen hinausgehend sind Verständigungen über „reine Rechtsfragen" auch bezüglich weiterer Fallgruppen anzuerkennen.25 Zu nennen ist zunächst die einvernehmliche Klärung von Ungewißheiten über die rechtliche Behandlung von Sachverhalten mit Dauerwirkung oder Wiederkehr, die in die Zukunft fortwirken oder sich ständig wiederholen. 26 Für die Anerkennung dieser Fallgruppe spricht, daß auf der einen Seite der Steuerpflichtige zur Gewährleistung seiner Freiheitsgrundrechte eine in die Zukunft abgesicherte Dispositionsgrundlage benötigt. Auf der anderen Seite besitzt die Finanzbehörde ein aus Gründen der Verwaltungsökonomie und Rechtssicherheit legitimes Interesse an einer möglichst weitreichenden Reduzierung des Streitpotentials über die rechtliche Behandlung des Dauersachverhalts für die Zukunft. Eine weitere Fallgruppe bezieht sich auf die rechtliche Würdigung eines bereits abgeschlossenen Sachverhalts, die in einem Rechtsbehelfsverfahren umstritten ist. Erfolgt dort eine Einigung zwischen den Beteiligten auf eine bestimmte rechtliche Lösung, so wird die Finanzbehörde den angefochtenen Steuerverwaltungsakt nur ändern, wenn der Steuerpflichtige seinerseits den Rechtsstreit für erledigt erklärt oder den Rechtsbehelf zurücknimmt. Wiederum vermag die allein die Finanzbehörde bindende Zusage den Rechtsfrieden noch nicht hinreichend zu gewährleisten. Es bedarf dazu vielmehr einer bindenden Einigung, die beide Seiten zur Einhaltung der eingegangenen Zusagen verpflichtet. 27

23 Seen BB 1999, 78, 81; ders., in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 60 f.; Offerhaus, DStR 2001, 2093, 2094; Wolf, DStZ 1998, 267, 268; Buciek, DStZ 1999, 389, 396 f.; a.A. Tiedke/Wälzholz, DStZ 1998, 819, 820. 24 BFH/NV 1998, 498; BFH, BStBl. II 1991, 45. 25 Seer, Verständigungen im Steuerrecht (Fn. 5), S. 216; ders., in: Tipke/Kruse (Fn. 5) §85 AO Tz. 61. 26 FG Saarland, EFG 1998, 686; FG Baden Württemberg, EFG 1992, 706; 2000, 1161, 1163 f.; FG Münster, EFG 1995, 552; vgl. auch BFH/NV 1998, 498, 499.

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4. Bindungswirkung

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der tatsächlichen Verständigung

In Rechtsprechung und Literatur besteht zwar Einigkeit darüber, daß die tatsächliche Verständigung Bindungswirkung entfaltet. Jedoch ist die dogmatische Herleitung der Bindungswirkung umstritten. Während die Rechtsprechung die Bindungswirkung auf den Grundsatz von Treu und Glauben stützt, sieht die h.M. in der Literatur in der tatsächlichen Verständigung einen öffentlich-rechtlichen Vertrag. Diese Streitfrage ist nicht nur von rechtstheoretischer Natur, sondern hat nachhaltigen Einfluß auf Zustandekommen, Bestand und Inhalt der tatsächlichen Verständigung.28 Denn die tatsächliche Verständigung unterliegt, wenn es sich um einen Vertrag handelt, gemäß § 62 VwVfG den Regeln des BGB und kann deshalb bei Mitwirkung nicht bevollmächtigter Vertreter schwebend unwirksam sein, aber durch den Berechtigten genehmigt werden, oder wegen Irrtums und arglistiger Täuschung angefochten werden. Derartige Möglichkeiten bestehen im Falle der Herleitung aus Treu und Glauben nicht in dieser Form. 29 Der Bundesfinanzhof hat in seinem Urteil vom 11. Dezember 1984 darauf abgestellt, daß das Finanzamt im Vertrauen auf die Verständigung als Disposition einen Steuerbescheid erlassen habe, den der Steuerpflichtige nach dem Grundsatz des „venire contra factum proprium" nicht mehr abweichend von der Einigung in Frage stellen dürfe. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben müsse jeder auf die berechtigten Belange des anderen Teils Rücksicht nehmen und dürfe sich zu seinem eigenen Verhalten, auf das der andere Teil vertraue und deshalb Dispositionen getroffen habe, nicht in Widerspruch setzen. Eine die Bindung auslösende Disposition erkennt der Bundesfinanzhof bereits darin, daß die Beteiligten ihre unterschiedlichen Ausgangspositionen aufgeben und einvernehmlich insoweit auf weitere Sachverhaltsermittlungen verzichten. 30 Damit folgt für die Rechtsprechung unmittelbar aus der Verständigung deren Verbindlichkeit. 31 Dennoch hält auch die neuere höchstrichterliche Rechtsprechung an der Verneinung eines öffentlichrechtlichen Vertrages fest und leitet die Rechtsverbindlichkeit der tatsächlichen Verständigung aus dem Grundsatz von Treu und Glauben her. 32 Die Literatur lehnt den Ansatz des Bundesfinanzhofs zur Rechtsnatur der tatsächlichen Verständigung ganz überwiegend ab und stuft sie als öffentlich-rechtlichen Vertrag ein. 33 Begründet wird dies damit, daß die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit der Besteuerung (§ 85 AO) einen öffentlich-recht27 Seer, Verständigungen in Steuerrecht (Fn. 5) S. 216; ders. y in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 61; von Eichhorn, HFR 2001, 591. 2 8 So Wiese, DStZ 1997, 745; Rößler, DStZ 1998, 168. 29

Näher dazu unten VI.2. 30 BFH, BStBl. II 1996,626.

31 So auch BFH, BStBl. 1985, 354, 358. 32 BFH, BStBl. II 1996, 625, 626; BFH/NV 2000, 537, 538. 33 Vgl. nur Birk, in: Hübschmann / Hepp / Spitaler, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung - Kommentar, 10. Aufl. 1995, Stand: August 1997, § 4 AO Rn. 323; Eich, Die tatsäch-

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liehen Vertrag nicht verbieten, denn die Rechtsform sage noch nichts über den Inhalt des Verwaltungshandelns aus.34 Das Gesetzmäßigkeitsprinzip beinhalte lediglich inhaltliche Vorgaben, fordere aber keine bestimmte Rechtsform für das Verwaltungshandeln. Daher folge aus diesem Prinzip nicht die Unzulässigkeit der Vertragsform. 35 Für die Anerkennung eines öffentlich-rechtlichen Vertrages spricht entscheidend, daß aus der tatsächlichen Verständigung unmittelbar deren Verbindlichkeit resultiert. Hiervon geht auch die Rechtsprechung aus. Gerade dies bedeutet aber, daß es sich bei der tatsächlichen Verständigung um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag handelt.36

5. Voraussetzungen der tatsächlichen Verständigung Die tatsächliche Verständigung unterliegt, wie dargelegt, den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung. Sie darf also nicht dazu führen, daß die gesetzmäßige Besteuerung verhindert wird. Hieraus ergeben sich für die Zulässigkeit der tatsächlichen Verständigung folgende Voraussetzungen: a) Erfordernis der Ungewißheit und eines Konkretisierungsspielraums Eine tatsächliche Verständigung setzt zunächst voraus, daß aus der ex-ante-Sicht eines verständigen, objektiven Beobachters Ungewißheit besteht. Weiterhin muß ein Konkretisierungsspielraum im Steuerrecht eröffnet sein. Konkretisierungsspielräume ergeben sich vor allem in Fällen erschwerter Sachverhaltsermittlung. Solche Fälle liegen nicht nur bei Verletzung der Mitwirkungspflichten des Steuerpflichtigen vor, sondern auch dann, wenn die Besteuerung an Sachverhalte anknüpft, die erst in der Zukunft abgeschlossen werden, wenn Werte nur annäherungsweise ermittelt werden können oder Beweisschwierigkeiten genaue Feststellungen nicht erlauben.37 Daher kann das Rechtsinstitut der tatsächlichen Verständigung in Fällen der Schätzung, der Wertermittlung und der zukunftsorientierten Prognose zur Anwendung kommen.38 Hierbei ist in jedem Einzelfall zu bestimmen, in welchem Umfang der Konkretisierungsspielraum eröffnet ist. liehe Verständigung (Fn. 5), S. 19 ff.; Offerhaus, DStR 2001, 2093, 2097 f.; Rößler, DB 1985, 1861; Seen in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 59; Streck/Schwedhelm, DStR 1986, 713 ff.; K. Vogel, in: Festschrift für Döllerer, 1988, S. 677, 680 ff.; Sontheimer, Der verwaltungsrechtliche Vertrag (Fn. 5), S. 53 ff.; Wiese, BB 1994, 333; ders., DStZ 1997, 745, 746 f.; Wolf, DStZ 1998, 267, 269; ders., DB 1991, 2458; Wassermeyer, FR 1987, 513, 521 f. 34

Zur Notwendigkeit, zwischen der Rechtsform und dem Inhalt des Verwaltungshandelns zu unterscheiden, vgl. nur Sontheimer, Der verwaltungsrechtliche Vertrag (Fn. 5), S. 75 f.; Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 33 f. 35 Seer t in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 48. 36 Seen in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 52. 37 BFH, BStBl. II 1985, 354, 358. 38 Seen in: Tipke /Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 49.

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So muß bei Problemen der Sachverhaltsaufklärung berücksichtigt werden, daß die Finanzbehörde den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln muß (§ 88 AO). Dies bedeutet, daß sie grundsätzlich alle notwendigen Maßnahmen ergreifen muß, um die entscheidungserheblichen Tatsachen aufzuklären. Jedoch steht es gemäß § 88 Abs. 1 Satz 2 AO in ihrem pflichtgemäßen Ermessen, Art und Umfang der Ermittlungen zu bestimmen. Auch der Arbeits- und Zeitaufwand der Sachverhaltsaufklärung muß sich in einem vertretbaren Rahmen halten. Daher darf die Finanzbehörde auf das Verhältnis zwischen voraussichtlichem Arbeitsaufwand und steuerlichem Erfolg abstellen und zudem berücksichtigen, in welchem Maße sie durch ein zu erwartendes finanzgerichtliches Verfahren belastet wird, sofern sie bei vorhandenen Zweifeln den Vorstellungen des Steuerpflichtigen nicht entspricht und zu seinem Nachteil entscheidet. Denn die Verfahrensökonomie ist ein auch vom Bundesfinanzhof anerkannter Grundsatz im Besteuerungsverfahren. 39 Damit ist die tatsächliche Verständigung auf Fälle begrenzt, in denen die Grenzen der Sachverhaltsaufklärung erreicht sind, d. h. weitere Aufklärungsmaßnahmen einen weit überdurchschnittlichen Arbeits- und Zeitaufwand erfordern würden und/oder ohnehin nur ungewisse Aussichten auf neue Erkenntnisse hätten. Diese Ermittlungsspielräume dürfen im Einvernehmen mit dem Steuerpflichtigen ausgefüllt werden. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß mit den Konkretisierungsspielräumen im Bereich der Sachverhaltsaufklärung Abstufungen im Beweismaß einhergehen. Mit der Herabstufung des Beweismaßes entfällt aber das Erfordernis der Überzeugung von der einzig richtigen Entscheidung, und an seine Stelle tritt ein Wahrscheinlichkeitsmaßstab, so daß ggf. auch mehrere Sachverhaltsalternativen, weil gleich wahrscheinlich, „richtig sein können4'. Je niedriger das Wahrscheinlichkeitsmaß ist, desto größer werden die tolerierbaren Sachverhaltsungewißheiten und damit zugleich der Spielraum, innerhalb dessen sich die Finanzbehörde mit dem Steuerpflichtigen ohne Verstoß gegen das Gesetz über den Sachverhalt einigen kann. 40 Diese Beweismaßreduzierungen, die Verständigungseröffnende Konkretisierungsspielräume beinhalten, bilden zugleich die Grenzen einer tatsächlichen Verständigung: Wenn die Finanzbehörden den Auftrag erfüllen, die Steuergesetze zu vollziehen (Art. 20 Abs. 3 GG), ist zu berücksichtigen, daß die Verwaltung aus eigener Wahrnehmung nur wenig zur Sachverhaltsaufklärung beitragen kann und weitgehend von der Mitwirkung des Steuerpflichtigen abhängig ist. Das Besteuerungsverfahren ist daher auf eine Kooperation zwischen Finanzbehörde und Steuerpflichtigem angelegt, was sich in den §§ 88, 90 ff. AO widerspiegelt. Das Zusammenwirken von Untersuchungsgrundsatz und Mitwirkungspflichten verdeutlicht, daß im Hinblick auf die unter dieser Kooperationsmaxime stehende Sachaufklärung zwischen der Finanzbehörde und dem Steuerpflichtigen eine Ver39 Β FH, BStBl. II 1991,45,46. 40 Raupach, DStG 1998, 175, 192 ff.; Stolterfoth, 1995, 213, 216 ff.; Eckhoff, StuW 1996, 107, 109 ff.

DSÜG 1998, 223, 253 ff.; Seer, StuW

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antwortungsgemeinschaft besteht.41 Hieraus kann eine sphärenorientierte Beweisrisikoverteilung hergeleitet werden, 42 nach der für das Beweismaß und die Beweislast im Steuerrecht mit Blick auf die Möglichkeit tatsächlicher Verständigungen folgender Aufschlüsselungsmaßstab gilt: Wenn das Aufklärungsdefizit in die Verantwortungssphäre des Steuerpflichtigen fällt, besteht nur für steuerbegründende und -erhöhende Umstände ein Verständigungsspielraum. Stehen in diesen Fällen aufgrund mangelhafter Mitwirkung des Steuerpflichtigen hingegen steuerentlastende oder -mindernde Tatsachen in Frage, so ist die volle Überzeugung der Finanzbehörde zu verlangen. Denn die fehlende Mitwirkung darf nicht belohnt werden. Das Finanzamt hat vielmehr eine Beweislastentscheidung zu Lasten des Steuerpflichtigen zu treffen. Wenn das Aufklärungsdefizit hingegen nicht auf einer Mitwirkungspflichtverletzung des Steuerpflichtigen beruht, verbleibt es für die steuerbegründenden und -erhöhenden Tatsachen beim vollen Überzeugungsgrad als Beweismaß. Es besteht das Verbot der Verdachtsbesteuerung. In diesen Fällen wird lediglich ein Verständigungsspielraum für steuerentlastende und -mindernde Umstände eröffnet. Sofern man - entgegen der Auffassung der Rechtsprechung - auch Verständigungen über reine Rechtsfragen für zulässig hält, ist eine Verständigung auch dann möglich, wenn eine steuererhebliche Rechtsfrage ungewiß ist. Dabei muß sich die Ungewißheit auch hier aus objektiver ex-ante-Perspektive ergeben. Sie darf also nicht nur darauf beruhen, daß die Finanzbehörde keine zumutbaren Ermittlungen bzw. Rechtsbetrachtungen oder sonstigen Maßnahmen zur Ausräumung ihrer Zweifel angestellt hat. Insbesondere besteht eine einen Verständigungsspielraum eröffnende rechtliche Ungewißheit nicht, wenn die Rechtslage bereits anhand eines Präjudizes der höchstrichterlichen Rechtsprechung eindeutig geklärt werden kann.

b) Unwirksamkeit der Vereinbarung offensichtlich unzutreffender Ergebnisse Ihre Grenzen findet die tatsächliche Verständigung darin, daß sie nicht zu offensichtlich unzutreffenden Ergebnissen führen darf. Dies widerspräche ihrem Sinn: den Gegebenheiten, die faktisch nicht mehr aufklärbar sind, möglichst nahe zu kommen. Die Beteiligten setzen im Bereich der Sachbehandlung ihre gemeinsame Überzeugung an die Stelle der hoheitlichen Feststellung. Dabei verlangen die Grundsätze der Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung, daß das Besteuerungsergebnis nicht etwa nur deshalb anders ausfällt, weil der Sachverhalt nicht einseitig, sondern konsensual festgestellt worden ist. So ist es unzulässig, bei Basisgesellschaften eine Aufteilung der Gewinne zwischen der inländischen und der 41 Seen in: Tipke/Lang, Steuerrecht, § 22 AO Tz. 4, 172, 212 ff.; ders., in: Tipke/Kruse (Fn. 5), §85 AO Tz. 51. 42 Ausführlich dazu Seen Verständigungen im Steuerrecht (Fn. 5), S. 191 ff.

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ausländischen Gesellschaft vorzunehmen, wenn nicht geklärt ist, ob es sich tatsächlich um eine aktive Gesellschaft handelt. Ebenso dürfen im Falle von Aufwendungen, die sowohl einem bestehenden Arbeitsverhältnis als auch einer Ausbildung des Steuerpflichtigen zugeordnet werden können, nicht anteilig als abzugsfähige Werbungskosten berücksichtigt werden.

c) Mitwirkung des zuständigen Finanzamts durch einen zur Entscheidung über die Steuerfestsetzung befugten Amtsträger Der Bundesfinanzhof hat mehrfach dargelegt, daß es für die Wirksamkeit einer Sachverhaltsvereinbarung erforderlich sei, daß auf Seiten der zuständigen Finanzbehörde an der Vereinbarung ein Amtsträger beteiligt werde, der für die Entscheidung über die Steuerfestsetzung befugt sei. 43 Dies ergebe sich daraus, daß die tatsächliche Verständigung die anschließende Berücksichtigung des einvernehmlich festgestellten Sachverhalts im Rahmen der Steuerfestsetzung oder -feststellung vorbereite und damit Teil des jeweiligen Verfahrens sei. Daher seien die Zuständigkeitsregelungen der Abgabenordnung einzuhalten. Dies bedeutet, daß die Behörde, die für den Erlaß des die tatsächliche Verständigung bestätigenden oder verwerfenden Verwaltungsakts zuständig ist, auch Beteiligte der Verständigung sein muß. Zu den zuständigen Amtsträgern zählen die Vorsteher eines Finanzamtes, deren ständige Vertreter und in Rechtsbehelfsverfahren der Leiter der Rechtsbehelfsstelle. Hierbei kommt es jedoch nicht auf eine höchstpersönliche Teilnahme dieser Personen an; eine Delegation reicht hierfür aus.44 Organschaftliche Vertretungsmacht nach außen besitzen in der Regel auch die Sachgebietsleiter. Ob auch die nachträgliche Genehmigung des zuständigen Amtsträgers genügt, ist noch nicht abschließend geklärt.

d) Erfordernis der Schriftlichkeit Zur Wirksamkeit bedarf die Verständigung, entgegen der Ansicht des Bundesfinanzhofs, 45 der Schriftform. Neben der Rechtssicherheit, die insbesondere aufgrund der Beweisfunktion der Schriftform am ehesten sichergestellt werden kann, spricht hierfür vor allem der Grundsatz der Formenakzessorietät. Ansonsten könnte das für die Entscheidung geltende Formerfordernis durch formlose Vorwegbindung umgangen werden. 46 Eine an die Schriftform gebundene Vorwegbindung durch tatsächliche Verständigung fügt sich zudem besser in das System der Abgabenord43 BFH, BStBl. II 1991, 45, 46; BFH, BStBl. II 1991, 673 ff.; BFH, BStBl. II 1996, 625, 626; vgl. auch BFH/NV 1991, 846; 1994, 290; 1998, 580. 44 Buciek, DStZ 1999, 389, 397; Offerhaus, DStR 2001, 2093, 2095; Seen in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 64. 45 BFH, BStBl. 1996, 626; BFH/NV 2000, 537, 538. 46 Beermann/Rüsken, § 78 Tz. 61.1; Buciek, DStZ 1999, 389, 397 f.; Offerhaus, DStR 2001, 2093, 2096; Seen in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 62.

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nung ein, die für Vorwegbindungen im Vorfeld von Steuerfestsetzungen durchweg die Einhaltung der Schriftform erfordert (vgl. nur § 205 AO; § 181 Abs. 1 i.V.m. § 157 Abs. 1 Satz 1 AO). Um die für die Endentscheidung nach § 157 Abs. 1 Satz 1 AO geltende Schriftform nicht zu umgehen, muß auch für die tatsächliche Verständigung der Grundsatz der Formenakzessorietät gelten. Außerdem wird durch das Formerfordernis Schutz vor Übereilung gewährt. 47 Schließlich ermöglicht die Schriftform eine bessere Kontrolle des Verwaltungshandelns durch die Gerichte. Verzichtet man auf die Schriftlichkeit, so besteht im Wesentlichen nur die verwaltungseigene Selbstkontrolle der Fach- und Rechtsaufsicht. 48 Die genannten Schutzfunktionen erfordern allerdings nicht, daß die Verständigung gemäß §§ 57, 62 VwVfG in Verbindung mit § 126 BGB in einer Urkunde dokumentiert sein muß. Vielmehr reicht auch ein von der Finanzverwaltung gefertigtes Protokoll oder ein zwischen Verwaltung und Steuerpflichtigem geführter Briefwechsel aus,49 sofern die Erklärung von Finanzbehörde und Steuerpflichtigem aufeinander Bezug nehmen und so der Wille zum Vertragsschluß aus den Umständen erschlossen werden kann. Hingegen genügen Feststellungen in einem Prüfungsbericht nicht, 50 da sich hieraus die sich entsprechenden Willenserklärungen nicht hinreichend deutlich entnehmen lassen.

6. Rechtswirkungen der tatsächlichen Verständigung a) Verpflichtung der Finanzbehörde und Einwendungsausschluß für den Steuerpflichtigen Die tatsächliche Verständigung bindet die Finanzverwaltung und den Steuerpflichtigen. Die Finanzbehörde muß die Steuerbescheide nach Maßgabe der tatsächlichen Verständigung erlassen. Wenn ein Steuerverwaltungsakt gegen die Verständigung verstößt, ist er rechtswidrig. Selbst das Finanzgericht muß im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle eine tatsächliche Verständigung seiner Entscheidung zugrunde legen.51 Für den Steuerpflichtigen führt die Tatbestandswirkung zu einem materiellen Einwendungsausschluß, soweit die Verständigung reicht. 52 Er kann gegen die tatsächliche Verständigung keine Einwendungen mehr vorbringen, soweit die Entscheidung den Inhalt der tatsächlichen Verständigung wiedergibt. Jedoch bleibt eine einvernehmliche Aufhebung oder Änderung der tatsächlichen Verständigung möglich. 47 48 49 50

FG Hamburg, EFG 1996, 522 f. Seen in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 62. Seer, Verständigungen im Steuerrecht (Fn. 5), S. 350. BFH/NV 2001, 1619.

51 v. Wedelstädt, AO-StB 2001, 190, 192; zustimmend Seen in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 65; a.A. Offerhaus, DStR 2001, 2093, 2097. 52 Seer, Verständigungen im Steuerrecht (Fn. 5), S. 398 ff.

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b) Grenzen der Wirksamkeit der tatsächlichen Verständigung Die Wirksamkeit der Verständigung findet ihre Grenzen darin, daß sie unter Druck oder Drohung zustande gekommen ist, daß Mängel der Vertretung oder ein Scheingeschäft vorliegen, daß Anfechtungsgründe wegen Irrtums gegeben sind oder die Geschäftsgrundlage weggefallen ist oder daß die tatsächliche Verständigung zu einem offensichtlich unzutreffenden Ergebnis führt. Außerdem kann ein Verstoß gegen das Gesetzmäßigkeitsprinzip zur Unwirksamkeit führen, wenn die Verwaltung im Rahmen einer tatsächlichen Verständigung ihre Handlungen dysfunktional von einem sachfremden Verhalten des Steuerpflichtigen abhängig gemacht hat, weil sie Zugeständnisse im Steuerstrafverfahren gefordert hat. Hierin liegt ein so schwerwiegender Verstoß gegen das Rechtsstaats- bzw. Gesetzmäßigkeitsprinzip in seiner besonderen Ausprägung des Koppelungsverbots, daß die tatsächliche Verständigung nichtig ist. 53 Weiterhin entfaltet die tatsächliche Verständigung keine Wirkung, wenn der Steuerpflichtige entscheidungserhebliche Tatsachen verschwiegen hat und die Finanzbehörde bei Kenntnis dieser Tatsachen die tatsächliche Verständigung nicht abgeschlossen hätte.54 In einem solchen Fall kann nach Auffassung der Rechtsprechung sogar eine strafbare Steuerhinterziehung vorliegen. 55 Jedenfalls kann die Verständigung wegen arglistiger Täuschung oder unter entsprechender Anwendung des § 130 Abs. 2 Nr. 2 und 3 AO angefochten bzw. beseitigt werden. Sieht man in der tatsächlichen Verständigung mit der h.M. in der Literatur einen öffentlich-rechtlichen Vertrag, so führt das Vorliegen eines Irrtums des Steuerpflichtigen nicht zur Nichtigkeit, sondern ermöglicht nur die Anfechtung. Dies dient der Wahrung des Selbstbestimmungsrechts des Steuerpflichtigen. Allerdings ist die Anfechtung wegen eines Irrtums, der sich auf Umstände bezieht, welche die Parteien gerade als ungewiß behandelt haben, ausgeschlossen. Verständigungen über dauerwirkende oder wiederkehrende Sachverhalte stehen unter der clausula rebus sie stantibus, wie sie in § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG ihre Kodifizierung gefunden hat. Hierbei handelt es sich um eine Ausprägung von Treu und Glauben. Als Rechtsfolge nachträglicher Änderung der Sach- oder Rechtslage ist die tatsächliche Verständigung ex nunc der neuen Situation anzupassen oder, sofern dies nicht möglich ist, aufzuheben. 56 Dabei sind die Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung, die Prinzipien der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens sowie auf Seiten des Steuerpflichtigen der Vertrauensschutz in die Abwägung einzustellen.

53 54 55 56

FG Münster, EFG 1996, 464; Seen in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 65. Seen in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 66. BGH, wistra 1999, 103, 104; vgl. auch Spatscheck/Maritas, PStR 1999, 198 ff. Vgl. auch Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl. 2000, § 60 Rn. 7.

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Nachträglich eintretende Tatsachen können den bereits einvernehmlich beurteilten Sachverhalt nicht mehr verändern. Ebenso können nachträglich bekannt werdende Tatsachen die Β indungsWirkung der Verständigung nicht beseitigen, weil die „Vertragsparteien" ja gerade einen gewissen Grad an Unbestimmtheit in Kauf genommen und bewußt auf eine weitere Sachaufklärung verzichtet haben.

c) Fehlende Anfechtbarkeit bestandskräftiger Steuerbescheide Auch wenn die tatsächliche Verständigung unwirksam ist, können die auf ihr beruhenden Steuerbescheide nach Eintritt der Bestandskraft nicht mehr angefochten werden. Wird die Unwirksamkeit erst später erkannt, so stellt dies nämlich weder eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache im Sinne des § 173 Abs. 1 AO noch ein Ereignis mit Rückwirkung im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar. 57

7. Auswirkungen einer tatsächlichen Verständigung auf das Steuer Strafverfahren Die Bereitschaft zum Nachgeben ist doppelt groß, wenn sich ein Steuerpflichtiger durch eine Verständigung Vorteile sowohl auf der steuerlichen Seite als auch für das drohende Strafverfahren erhofft, möglicherweise sogar mit Straffreiheit rechnet, jedenfalls aber eine mildere Sanktion oder eine Verfahrenserledigung ohne öffentliche Hauptverhandlung erreichen möchte. Im Steuerstrafverfahren ist eine tatsächliche Verständigung jedoch noch sehr viel problematischer als im Besteuerungsverfahren. Dennoch dürfte außer Frage stehen, daß auch eine tatsächliche Verständigung über die Besteuerungsgrundlagen, die mittelbar eine Verständigung über die Höhe der Mehrsteuer darstellt, sich auch im Strafverfahren auswirken kann. 58

a) Grundsätzliche Trennung von Besteuerungsverfahren und Strafverfahren Ausgangspunkt der Überlegungen zur Verständigung im Besteuerungsverfahren und ihrer Bedeutung für ein nachfolgendes S teuer Strafverfahren muß die Feststellung sein, daß Besteuerungsverfahren und Steuerstrafverfahren unabhängig nebeneinander stehen und keine Präjudizwirkung haben. Die Strafverfolgungsorgane sind frei von jeder Bindung an andere Behörden und Gerichte. Der Strafrichter hat die volle Kompetenz, steuerrechtliche Vorfragen selbst zu entscheiden: Er kann also eine höhere oder niedrigere Steuerschuld als die Finanzbehörde zugrunde 57 So Stahl, KÖSDI 1998, 11628 [10]; St. Schmidt, DStR 1998, 1735. 58 Zur Praxis in Steuerfahndungs verfahren vgl. Streck, StuW 1993, 366.

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legen und darauf sein Urteil stützen.59 Dies liegt schon darin begründet, daß im Strafverfahren andere Beweisgrundsätze gelten als im Besteuerungsverfahren. 60 Damit hat eine tatsächliche Verständigung im Besteuerungsverfahren keine zwingenden Auswirkungen auf das Strafverfahren. 61 Es besteht auch keine Pflicht, eines der beiden Verfahren auszusetzen, bis in dem anderen Verfahren rechtskräftig entschieden worden ist. Zwar sieht § 396 AO die Möglichkeit der Aussetzung des Verfahrens vor, um sich widersprechende Entscheidungen staatlicher Organe zu vermeiden. Eine tatsächliche Verständigung ist jedoch nicht als eine solche hoheitliche Entscheidung anzusehen. b) Straflosigkeit der Nichteinhaltung einer tatsächlichen Verständigung Fraglich ist, ob die Nichteinhaltung einer tatsächlichen Verständigung durch den Steuerpflichtigen grundsätzlich unter den Straftatbestand der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) subsumiert werden kann. Wenn man jedoch die tatsächliche Verständigung mit der zutreffenden Ansicht in der Literatur als einen öffentlich-rechtlichen Vertrag qualifiziert, kann die Nichteinhaltung der tatsächlichen Verständigung nicht zur Strafbarkeit nach § 370 AO führen, denn für einen Vertragsbruch droht diese Vorschrift keine Strafe an. Zudem beinhaltet die tatsächliche Verständigung nur ein Übereinkommen über das Vorliegen von steuerlich relevanten Tatsachen, die wiederum nur Voraussetzungen für das Entstehen einer bestimmten Steuerschuld sind. Im Strafverfahren müssen jedoch die entscheidungserheblichen Tatsachen festgestellt werden und zur Überzeugung des Strafgerichts feststehen. Außerdem gilt der Grundsatz „in dubio pro reo". Der Steuerpflichtige begeht somit keine Steuerhinterziehung, wenn er die tatsächliche Verständigung nicht einhält. Wenn hingegen ein offensichtlich unzutreffendes Ergebnis vereinbart wurde, weil der Steuerpflichtige im Rahmen der Verhandlungen unrichtige Angaben gemacht hat, kann hierin eine strafbare Steuerhinterziehung liegen. 62

c) Aussagen im Rahmen der tatsächlichen Verständigung als Geständnis des Steuerpflichtigen? Eine tatsächliche Verständigung darf nicht als Geständnis gewertet werden. Denn im Gegensatz zum Geständnis räumt der Steuerpflichtige nicht aus der Ein59 Vgl. Hübner, in: Hübschmann / Hepp/ Spitaler, § 396 AO Rn. 11; Burkhard, Der Strafbefehl im Steuerstrafrecht, 1997, S. 173 f. 60 Vgl. Kohlmann, Steuerstrafrecht. Kommentar, 6. Aufl. 1995, Stand: Oktober 2002, § 396 AO Rn. 36. 61 Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 54 ff. 62 So BGH, wistra 1999, 103, 106; zustimmend Joecks, in: Franzen / Gast/ Joecks, Steuerstrafrecht, § 404 Rn. 9, § 370 Rn. 154.

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sieht in begangenes Unrecht heraus die Wahrheit ein, sondern gibt sich aus taktischen Überlegungen mit einer steuerrechtlichen Lösung zufrieden, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen muß. 63 Liegt in einer tatsächlichen Verständigung jedoch kein Geständnis, so können und dürfen dem Steuerpflichtigen im Strafverfahren aus ihr auch keinerlei nachteilige Folgen entstehen. Denn eine der Voraussetzungen der tatsächlichen Verständigung ist die Unaufklärbarkeit des Sachverhaltes, die auch noch nach der Verständigung fortbesteht, soweit der Steuerpflichtige nicht neue Tatsachen offenbart hat. Ist der Sachverhalt aber nicht aufklärbar, darf nach dem Grundsatz „in dubio pro reo'4 keine Bestrafung erfolgen. Die im Rahmen der tatsächlichen Verständigung von dem Steuerpflichtigen gemachte Aussage kann somit nicht als Geständnis gewertet werden. Es bestehen selbst Bedenken, in der tatsächlichen Verständigung ein Indiz für eine Steuerhinterziehung zu sehen. Dem steht aber nicht entgegen, daß eine tatsächliche Verständigung auch in der Form eines Geständnisses erfolgen kann, indem der Beschuldigte zugibt, daß er in einer gewissen Höhe Steuern verkürzt hat. 64 Ein solches Eingeständnis kann aber nicht bereits in dem Umstand gesehen werden, daß der Steuerpflichtige kein Rechtsmittel gegen eine erfolgte Schätzung ergreift; 65 ansonsten würde man das Recht des Art. 19 Abs. 4 GG auf effektiven Rechtsschutz in eine Pflicht umwandeln. Das Strafgericht darf das „Geständnis" des Angeklagten gleichwohl nicht vorbehaltlos berücksichtigen, weil es sich nicht um ein „typisches" Geständnis handelt, sondern die vereinbarte Sachverhaltsverwirklichung auf einem gegenseitigen Nachgeben beruht. Nach dem Amtsaufklärungsgrundsatz sind daher noch weitere Ermittlungen geboten.66

d) Schadenswiedergutmachung im Rahmen der tatsächlichen Verständigung Eine tatsächliche Verständigung kann zu einer im Rahmen der Strafzumessung oder der Einstellung des Strafverfahrens nach §§ 153 ff. StPO zu berücksichtigenden Schadens Wiedergutmachung führen. Denn der Steuerschaden wird dadurch gemindert, daß die Finanzbehörden in die Lage versetzt werden, die Steuerschuld festzusetzen. Soweit eine tatsächliche Verständigung zu einer Festsetzung führt, die ohne die Mitwirkung des Steuerpflichtigen nicht möglich gewesen wäre, beruht die Schadenswiedergutmachung auf dem Verhalten des Steuerpflichtigen und muß 63 Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 66 ff.; Streck, StuW 1993, 369; ders., Die Steuerfahndung, 3. Aufl. 1996, Rn. 763; Burkhard, Der Strafbefehl im Steuerstrafrecht (Fn. 59), S. 178. 64 Dazu Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 88 f. So ist das „Bielefelder-Formular" der Steuerfahndung Bielefeld gestaltet; vgl. Streck, StuW 1993, 370. 65 So aber Streck, Steuerfahndung (Fn. 63), Rn. 784. 66 Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 107 ff. u. 120.

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deshalb nach § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB schuldmindernd berücksichtigt werden. 67 Somit ergibt sich die für den Beschuldigten vorteilhafte Situation, daß eine tatsächliche Verständigung mangels Geständnis Wirkung zwar nicht die Verurteilung ermöglicht, aber aufgrund der mit ihr verbundenen Schadensbeseitigung zu einer geringeren Schuld führt.

e) Faktische Auswirkungen der tatsächlichen Verständigung auf das Steuerstrafverfahren Wenngleich der tatsächlichen Verständigung weder die Funktion eines Geständnisses noch eines Indizes zukommt, besteht doch die Gefahr, daß sich Absprachen de facto zu Lasten des Täters auswirken können: Weil in einer tatsächlichen Verständigung regelmäßig ein gegenseitiges Nachgeben liegt, besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Steuerpflichtige Steuern verkürzt hat und davon auch Kenntnis hatte. Diese Wahrscheinlichkeit kann im Einzelfall sogar ausreichen, um den zur Einleitung eines Strafverfahrens wegen Steuerhinterziehung erforderlichen Anfangsverdacht i. S. d. § 152 Abs. 2 StPO zu begründen. 68 Wenn die Wahrscheinlichkeit hoch genug erscheint, kann dies sogar Grundlage für den zur Anklageerhebung oder zum Erlaß eines Strafbefehls hinreichenden Tatverdacht sein.69 Und im äußersten Fall könnte sich das Gericht bei seiner Überzeugungsbildung im Hauptverfahren von einer erfolgten tatsächlichen Verständigung beeinflussen lassen.70 Je substantiierter und detaillierter die tatsächliche Verständigung ausfällt, desto größer ist die Möglichkeit, daß sie im Steuerstrafverfahren verwendet werden kann. 71 Daher kann der tatsächlichen Verständigung eine de facto vorhandene Indizwirkung nicht abgesprochen werden.

II. Absprachen im Steuerstrafverfahren 7. Anforderungen

an Absprachen im Strafverfahren

Auch im Strafverfahren sind Verständigungen grundsätzlich zulässig. So hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 27. Januar 198772 dargelegt,

67 Vgl. Schmidt-Hieber, Verständigung (Fn. 3), Rn. 230; Stahl, KÖSDI 1998, 11631. 68 Dazu Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 123 ff.; Kohlmann (Fn. 60), § 385 AO Rn. 310. 69 Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 127 ff.; Kohlmann (Fn. 60), § 385 AO Rn. 310. 70 Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 130; Kohlmann (Fn. 60), § 385 AO Rn. 310. 71 Streck, Steuerfahndung (Fn. 63), Rn. 781, 783; Stahl, KÖSDI 1998, 11631 [24]. 72 BVerfG NJW 1987, 2662, 2663.

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daß Absprachen im Strafverfahren zulässig sind, solange der Mindeststandard eines rechtsstaatlichen Verfahrens gewahrt ist und die maßgeblichen strafrechtlichen Vorschriften und Leitlinien unter Beachtung des Fairneßgrundsatzes und ohne Verstoß gegen das allgemeine Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) ausgelegt und angewandt werden. Entsprechend hat der vierte Senat des Bundesgerichtshofs in seinem Grundsatzurteil vom 28. August 1997 dargelegt, 73 daß Absprachen zulässig sind, sofern alle Verfahrensbeteiligten in die Verständigung über den Verfahrensabschluß einbezogen sind, der Angeklagte nicht zu einem Geständnis gedrängt wird, das Gericht keine verbindliche Zusage über die Höhe der zu verhängenden Strafe macht und keinen Rechtsmittel verzieht als Gegenleistung verlangt. Weiterhin müsse die Verständigung in öffentlicher Hauptverhandlung erfolgen und das Ergebnis in das Protokoll aufgenommen werden. Schließlich muß die vereinbarte Strafe dem Unrechtsgehalt der Tat gerecht werden; ein aufgrund einer Vereinbarung abgelegtes Geständnis darf nicht ohne weiteres dem Urteil zugrunde gelegt werden, sondern muß vom Gericht auf seine Glaubwürdigkeit hin überprüft werden. Der zweite Strafsenat entwertet in seiner Entscheidung vom 10. Juni 199874 allerdings die vom vierten Senat statuierten Grundsätze durch eine minimalistische Interpretation des Amtsaufklärungsgrundsatzes. Die Tatsache, daß für ein Geständnis eine konkrete Freiheitsstrafe in Aussicht gestellt worden sei, mache die Absprache nicht unzulässig. Außerdem soll das Tatgericht die Glaubhaftigkeit eines Geständnisses zwar prüfen und Ausführungen hierzu im Urteil treffen müssen, wenn aufgrund konkreter Umstände Zweifel an der Richtigkeit des Geständnisses bestehen. Die Tatsache, daß das Geständnis auf einer Absprache beruht, sei jedoch kein solcher Umstand. Diese Rechtsprechung des zweiten Strafsenats läuft auf ein Unterwerfungsverfahren hinaus, das dem US-amerikanischen guilty-plea-Verfahren entspricht, ohne daß die dortigen Sicherungen eingehalten werden. Zu diesen Sicherungen seitens des Gerichts zählt, daß der Angeklagte über die Konsequenzen seiner Erklärung informiert ist, daß er freiwillig handelt und eine tatsächliche Grundlage für die Absprache besteht. Der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des vierten Strafsenats ist grundsätzlich zuzustimmen: Gegen Absprachen im Strafverfahren bestehen keine durchgreifenden Bedenken, sofern die Absprachen mit den rechtsstaatlichen Prinzipien in Einklang stehen und sichergestellt ist, daß Absprachen überhaupt als solche erkannt und vor dem Hintergrund dieser Prinzipien überprüft werden können. In diesem Zusammenhang kommen dem Legalitätsprinzip, der Aufklärungspflicht der Ermittlungsorgane und Gerichte, dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung, der Rechtsstellung des Beschuldigten und dem Öffentlichkeitsgrundsatz besondere Bedeutung zu. Dennoch bedeuten Absprachen letztlich einen Verzicht auf eine Orientierung der Urteilsfindung am Ideal der „materiellen Wahrheit", auf strikte Proportionalität von Strafmaß und Tatschuld und auf 73 BGHSt 43, 195 ff. 74 BGH NJW 1999, 370 ff.

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die Unabhängigkeit des Verfahrensausgangs von der relativen Machtposition der Verfahrensbeteiligten. Im übrigen ist es äußerst fragwürdig, inwiefern die vom Bundesgerichtshof aufgestellten Grundsätze auf Absprachen im Ermittlungsverfahren übertragbar sind. Bezüglich der erforderlichen Teilnahme an der Absprache ist es notwendig, daß nicht nur die Steuerfahndung eine Zusage macht. Vielmehr ist auch die Strafsachenstelle bzw. die Staatsanwaltschaft zu beteiligen. Wenn das Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft geführt wird, ist zweifelhaft, ob die Wirksamkeit der Zusage durch die Verletzung der Beteiligungsrechte der Finanzbehörde berührt wird, der gemäß § 407 AO das Recht zusteht, die Gesichtspunkte vorzubringen, die von ihrem Standpunkt für die Entscheidung von Bedeutung sind.

2. Kooperative Gesamtbereinigung im Rahmen des Besteuerungs- und des Steuerstrafverfahrens a) Notwendigkeit einer kooperativen Gesamtbereinigung Im Steuerstrafrecht besteht das Problem, daß eine Einigung über Tatsachen, wie sie im Besteuerungsverfahren Voraussetzung für eine tatsächliche Verständigung ist, im Rahmen einer Absprache im Strafverfahren nicht möglich ist. Dennoch besteht in der Praxis das Bedürfnis, beide, die tatsächliche Verständigung und die Absprache im Strafverfahren, miteinander zu verknüpfen. Es bedarf daher einer kooperativen Gesamtbereinigung im Besteuerungs- und im Steuerstrafverfahren, durch die dem Umstand Rechnung getragen wird, daß sowohl das Besteuerungsverfahren durch Absprachen im Strafverfahren als auch das Strafverfahren durch eine tatsächliche Verständigung im Steuerverfahren beeinflußt werden kann. Aufgrund der Unaufklärbarkeit des steuerlichen Sachverhaltes besteht regelmäßig die Gefahr, daß sowohl das Besteuerungs- als auch das Strafverfahren sehr langwierig werden und daß bei endgültiger Unaufklärbarkeit das Besteuerungsverfahren zwar durch eine Schätzung abgeschlossen werden kann, das Strafverfahren dagegen wegen der Geltung des Grundsatzes „in dubio pro reo" mit einem Freispruch beendet werden muß, 75 wenngleich auch im Steuerstrafverfahren die Schätzung in eingeschränkter Form zulässig und möglich ist. Daher darf dem Beschuldigten das Angebot gemacht werden, die Schätzung gering zu halten, wenn er sich verpflichtet, ein Teilgeständnis abzulegen.76 Die Finanzbehörden sind jedoch in der Regel weniger daran interessiert, ein Steuerstrafverfahren durchzuführen, als die verkürzten Steuern möglichst vollständig zu erfassen und zu erheben. Betriebsprüfer, die im Rahmen einer Außenprüfung ungeklärte Vermögenszuwächse feststellen, betrachten sich regelmäßig nicht als Strafverfolgungsorgane und sind 75 76

Seer, Verständigungen im Steuerrecht (Fn. 5), S. 24 f. Seer, Verständigungen im Steuerrecht (Fn. 5), S. 24 f.

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deshalb daran interessiert, sich ein unbelastetes Prüfungsklima zu erhalten. 77 Es liegt daher im Interesse der Finanzbehörden, dem Steuerpflichtigen die Beendigung eines Strafverfahrens für den Fall in Aussicht zu stellen, daß er im Besteuerungsverfahren die Verwirklichung eines bestimmten Sachverhaltes akzeptiert. 78

b) Vorgehens weise bei der kooperativen Gesamtbereinigung Im Ermittlungsverfahren ist zu beachten, daß eine kooperative Gesamtbereinigung nur dann zugleich Bindungswirkung im Besteuerungs- und im Strafverfahren entfalten kann, wenn an ihr jeweils ein zur Entscheidung befugter Amtsträger beteiligt ist. Demnach sollte ein gemeinsames Gespräch mit dem Veranlagungssachgebietsleiter, dem Strafstellensachgebietsleiter und - wegen der Möglichkeit des in § 386 Abs. 4 Satz 2 AO vorgesehenen Evokationsrechts der Staatsanwaltschaft - auch mit einem Vertreter der Staatsanwaltschaft geführt werden. Soweit zu dem Abschluß des Strafverfahrens eine Entscheidung des Gerichts notwendig ist (wie etwa beim Erlaß eines Strafbefehls 79), sollte dessen Auffassung zuvor erkundet und die Wirksamkeit der Verständigung von der Gerichtsentscheidung abhängig gemacht werden. 80 Solange die Mitwirkung des Gerichts nicht feststeht, sollte der Steuerpflichtige kein Geständnis abgeben. Daher ist es Aufgabe des Strafverteidigers, auf die konkrete Formulierung der tatsächlichen Verständigung zu achten.81 Im Hauptverfahren ist eine kooperative Gesamtbereinigung nur erschwert möglich; die für diesen Verfahrensabschnitt zuständigen Strafverfolgungsorgane Staatsanwaltschaft und Strafgericht - sind im Gegensatz zu den Finanzbehörden weniger an der Zahlung der hinterzogenen Steuern als an einer schuldangemessenen Bestrafung interessiert. Eine kooperative Gesamtbereinigung wird deshalb hier regelmäßig so aussehen, daß das Zugeständnis des Steuerpflichtigen als Geständnis erfolgt. 82 Das Ziel, eine Absprache herbeizuführen, darf nie der alleinige Grund für Vorleistungen des Beschuldigten im Rahmen einer Verständigung sein, denn diese können zu seinen Lasten berücksichtigt werden, wenn die Absprache nicht zustande kommt. 83 Im Strafverfahren sollten daher Zugeständnisse nicht voreilig er77

Seer, Verständigungen im Steuerrecht (Fn. 5), S. 23 f. Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 125 f. 79 Vgl. dazu Heller/Schmied, wistra 1984, 207 ff. so Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 132; Kohlmann (Fn. 60), § 385 Rn. 311; Schmidt-Hieber, Verständigung (Fn. 3), Rn. 228; Stahl, KÖSDI 1998, 11629 f. [17]; zur Möglichkeit einer tatsächlichen Verständigung unter Vorbehalt: BFH, BStBl. II 1996, 625, 626; Stahl, KÖSDI 1998, 11628 [10]. ei Stahl, KÖSDI 1998, 11630 [23]. 52 Vgl. Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 88 f. u. 133. 53 So Burkhard, Der Strafbefehl im Steuerstrafrecht (Fn. 59), S. 179. 78

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folgen. Sobald der Beschuldigte erst einmal ein Geständnis abgelegt hat, hat dies neben den strafrechtlichen Konsequenzen zur Folge, daß der Sachverhalt nicht mehr unklar und daher eine tatsächliche Verständigung im Besteuerungs verfahren nicht mehr möglich ist. 84 Demgegenüber sollte eine tatsächliche Verständigung nur unter dem Vorbehalt abgeschlossen werden, daß auch im Strafverfahren die gewünschten Folgen eintreten. Die Finanzbehörde kann die Steuernachzahlung dadurch absichern, daß diese Zahlung bei der Einstellung des Strafverfahrens als Auflage nach § 153a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StPO festgesetzt wird. Auch im Strafbefehlsverfahren kann die Zahlung der Steuern zur Auflage gemacht werden, wenn eine Verwarnung mit Strafvorbehalt nach § 59 StGB ergeht (§ 59a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB). 85 Die Verhandlungsführung ist im Einzelnen schwierig: Einerseits erfordert sie ein hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen und an Verständigungsbereitschaft. Andererseits ist aber daran zu denken, daß aufgrund des Gesetzmäßigkeitsprinzips keine freien Vereinbarungen möglich sind und eine voreilige Offenbarung von Tatsachen oder allein der Verständigungsbereitschaft zu neuen Ermittlungen der Finanz- und Strafbehörden führen kann. 86 Wenn diese Behörden besonders eindringlich eine kooperative Gesamtbereinigung anstreben, kann dies auf einem Mangel an Beweisen beruhen. Im Einzelfall ist ein bloßes Abwarten schon deshalb empfehlenswert, weil mit der Arbeitsbelastung der Finanzbehörden auch deren Verständigungsbereitschaft steigt.87

c) Einzuhaltende Grenzen bei der kooperativen Gesamtbereinigung Soweit eine tatsächliche Verständigung zur Folge hat, daß Steuern festgesetzt werden können, die ohne sie nicht festgesetzt werden konnten, indiziert diese Schadenswiedergutmachung, wie oben dargelegt, eine Schuldminderung. Indem in die kooperative Gesamtbereinigung auch die Zahlung der Steuern aufgenommen wird, kann der entstandene Steuerausfall sogar völlig beseitigt werden. Die für die Steuerfestsetzung nach § 162 AO ausreichende Wahrscheinlichkeit genügt jedoch für eine Verurteilung im Strafverfahren noch nicht. Daher stellt sich nach einer tatsächlichen Verständigung die Situation so dar, daß nicht sicher ist, ob dem Steuerpflichtigen eine Steuerhinterziehung nachgewiesen werden kann und selbst im Falle des Nachweises das Urteil milde ausfallen müßte, weil das Strafmaß nach § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB und ggf. nach § 46a Nr. 2 StGB zu mindern ist. Daher überschreiten die Strafverfolgungsorgane regelmäßig nicht ihren Beurteilungsspielraum, wenn sie sich bereit erklären, im Falle einer tatsächlichen Verständi84 85 86 87 26*

Vgl. Salditi bei St. Schmidt, StuW 1998, 280. Dazu Schmidt-Hieber, Verständigung (Fn. 3), Rn. 227. Eich, Die tatsächliche Verständigung (Fn. 5), S. 126. Mack bei St. Schmidt, StuW 1998, 281.

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gung von einem Strafverfahren abzusehen, ein bereits laufendes Strafverfahren einzustellen oder eine Entscheidung durch Strafbefehl zu treffen, die bereits bei hinreichendem Tatverdacht möglich ist. Wird die tatsächliche Verständigung als Geständnis abgegeben, so gilt dieses als Indiz für ein noch geringeres Schuldmaß. Gleichzeitig liegt dann aber auch ein erheblicher Tatverdacht vor, der regelmäßig zur Verurteilung ausreicht, so daß eine Einstellung des Verfahrens kaum noch gerechtfertigt werden kann. Dagegen kann eine Entscheidung durch Strafbefehl und die Einstellung anderer Verfahren bzw. die Beschränkung des betreffenden Verfahrens nach den §§ 154 f. StPO vereinbart werden. Darüber hinaus darf das Strafverfahren nicht als Drohmittel verwendet werden, um die Zustimmung zu einer Schätzung im Besteuerungs verfahren zu erreichen. In diesen Fällen werden Besteuerung und Strafverfolgung in sachfremder Weise miteinander gekoppelt: Für die Durchführung eines Strafverfahrens ist das Legalitätsprinzip entscheidend und nicht die Zustimmung zu einer Schätzung.88 Tatsächliche Verständigungen, die auf dieser Grundlage getroffen werden, sind unwirksam oder jedenfalls analog § 123 BGB anfechtbar. 89 Umgekehrt ist es nicht zulässig, als Gegenleistung für ein Teilgeständnis die Schätzung im Besteuerungs verfahren auch dann niedriger anzusetzen, wenn dies nicht aufgrund der offenbarten Tatsachen geboten ist. Im Rahmen der tatsächlichen Verständigung besteht zwar ein Ermessensspielraum der Finanzbehörden.90 Das Ablegen eines Teilgeständnisses ist aber kein Aspekt, der das Ermessen zugunsten des Steuerpflichtigen beeinflussen darf. Ein auf diese Weise erlangtes Geständnis darf nach § 136a StPO im Strafverfahren nicht verwertet werden. 91

III. Notwendigkeit gesetzlicher Regelungen Im Strafverfahren besteht die Möglichkeit, zu einem einvernehmlichen Verfahrensabschluß zu gelangen, wenn die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen eingehalten werden. Hiervon wird auch in großem Umfang Gebrauch gemacht. Im Steuerstrafverfahren besteht die Besonderheit, daß auch das Steuerverfahren mit der tatsächlichen Verständigung eine einverständliche Lösung kennt. Für den Steuerpflichtigen, gegen den wegen einer Steuerstraftat ermittelt wird, ist es angesichts der faktischen Auswirkungen der tatsächlichen Verständigung auf 88 Seer, Verständigungen im Steuerrecht (Fn. 5), S. 281; ders., in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 64. 8 9 Β FH, BFH/NV 1997, 765 f.; FG Münster, EFG 1996, 464, 465; Seer, Verständigungen im Steuerrecht (Fn. 5), S. 360 f.; ders., in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 64; Stahl, KÖSDI 1998, 11630 [20]. 90 Dazu Seer, in: Tipke/Kruse (Fn. 5), § 85 AO Tz. 48.

91 Vgl. Streck, StuW 1993, 370; St. Schmidt, DStR 1998, 1735.

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das Strafverfahren erforderlich, eine kooperative Gesamtbereinigung, in der die Absprache im Strafverfahren mit einer tatsächlichen Verständigung im Steuerverfahren verbunden wird, anzustreben. Den sich hierbei stellenden Gefahren, die mit der Einräumung der Spielräume verbunden sind, sollte dadurch Rechnung getragen werden, daß die faktisch bereits eingetretene Zweiteilung der Strafprozeßordnung für streitige und unstreitige Verfahren auch formell anerkannt und eine für eine Legalisierung der Absprachepraxis erforderliche „zweite Strafprozeßordnung" geschaffen wird. 92 An Vorschlägen hierfür mangelt es nicht. Manche lehnen sich an die Grundidee des Strafbefehlverfahrens an, 93 andere sprechen sich für ein guilty plea mit gesetzlich festgelegtem Strafnachlaß aus.94 Denkbar ist auch eine Entscheidung nach Aktenlage mit Zustimmung des Angeklagten nach italienischem Vorbild. 95 Jede dieser vorgeschlagenen Formen ist gegenüber dem derzeit bestehenden „halblegalen grauen Markt" vorzuziehen, da die Ungewißheit der höchstrichterlichen Akzeptanz beseitigt würde. 96 Für das Modell des guilty plea spricht, daß das Gericht sicher stellt, daß der Angeklagte, der ein guilty plea abgibt, über die Konsequenzen dieser Prozeßerklärung informiert ist, daß er sie freiwillig abgibt und daß eine tatsächliche Grundlage für sie vorhanden ist. Wer sich hierauf einläßt, muß allerdings auch wissen, daß er die Orientierung der Urteilsfindung am Ideal der materiellen Wahrheit einbüßt. Strikte Proportionalität von Strafmaß und Tatschuld werden aufgegeben. Die Anerkennung von Absprachen im Steuerstrafrecht ist insgesamt von so grundlegender Bedeutung, daß es nicht ausreicht, den praktischen Bedürfnissen der Beteiligten durch die Anerkennung konsensualer Erledigungsstrategien Rechnung zu tragen. Hier ist der Gesetzgeber aufgerufen, Zulässigkeit und Grenzen der Kooperation zu regeln und so die staatliche Hoheitsgewalt in ihre Grenzen zu verweisen und dem Bürger die Ausübung seiner Freiheitsrechte zu garantieren. Nur so kann erreicht werden, daß Absprachen im Steuerstrafverfahren nicht zum „Handel mit der Gerechtigkeit" werden. Gerade davor hat aber das Bundesverfassungsgericht zu Recht gewarnt. 97

92 Vgl. dazu die Erörterungen anläßlich des 58. Deutschen Juristentags (Gutachten von Schünemann, Referate von Böttcher, Schäfer und Widmaier). 9 3 Vgl. Bode, DRiZ 1988, 281; Dölp, NStZ 1998, 253; Zschockelt, in: Festschrift für Saiger, S. 435, 436. 94 Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167 f.; Weigernd, NStZ 1999, 57, 62 f.; zur Rechtslage in England vgl. Soyer, in: Leitner (Hrsg.), Aktuelles zum Finanzstrafrecht, S. 82 ff. 95

Bogner, Absprachen im Deutschen und Italienischen Strafprozeßrecht, 2000. 6 Vgl. Meyer-Goßner, NStZ 1992, 167; zustimmend Bogner, Absprachen (Fn. 95), S. 127; vgl. auch Küpper, Jura 1999, 400. 97 BVerfG NJW 1987, 2662, 2663. 9

Verantwortung und Wahrheitsliebe im verfassungsjuristischen Zitierwesen Von Peter Häberle I. Einleitung, Problem Fragen an die Verantwortungsbereitschaft des Menschen, Bürgers und Wissenschaftlers sind immer wieder gestellt und annähenderweise beantwortet worden. „Verantwortung" ist seit längerem ein Thema der Staats- bzw. Verfassungstheorie (pionierhaft P. Saladin, 1984: „Verantwortung als Staatsprinzip"), auch in der Verwaltungslehre,1 und der Klassikertext stammt von dem Philosophen H. Jonas (Prinzip Verantwortung, 1979),2 zum positiven Verfassungstext im GG geronnen (Art. 20 a von 1994), zuvor schon in Art. 3 Abs. 2 Bay Verf. (1984) und in Schweizer Kantonsverfassungen, ζ. B. Verf. Bern von 1993 (Präambel). Die Wahrheitsfrage ist als Identitätselement der Wissenschaft von W. von Humboldt, jetzt wirkkräftig durch das BVerfG (E 35, 79 (113)) kanonisiert; „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat" wurden 1995 vom Verfasser dieses Geburtstagsblattes zur Diskussion gestellt3 und sie haben sich verschärft auch in tagespolitischen Kontexten gestellt (ζ. B. bei der Frage der Wahrheitsanforderungen an die politischen Parteien in Sachen ihrer Finanzierung).4 Mag man vom Bürger mindestens subjektive „Wahrhaftigkeit" verlangen, so muß man von Wissenschaftlern ein Mehr fordern. Da das oft vergessen wurde, sind heute Ethikkommissionen notwendig.5 Die sog. 1 R. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren, 1990; zuvor: R. Scholz/E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 34 (1976), S. 145 ff.; nach „Grundtypen der Verwaltungsverantwortung" differenziert: G.E Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 404 ff. 2 Dazu J. Schubert, Das „Prinzip Verantwortung" als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, 1998. Aus der jüngsten Literatur: H. Dreier, Verantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, in: U. Neumann/L. Schulz (Hrsg.), Verantwortung in Recht und Moral, 2000, S. 9 ff. 3 Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995; eine Fortschreibung durch den Verf.: „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat - eine Zwischenbilanz", in: FS Hollerbach, 2001, S. 15 ff. 4 Dazu T. Koch, Rechtsfolgen unzureichender Rechenschaftslegung politischer Parteien, AöR 127 (2002), S. 165 ff. 5 Dazu aus der Lit.: Κ Sobota, Die Ethikkommission - Ein neues Institut des Verwaltungsrechts?, AöR 121 (1996), S. 229 ff.; E. Deutsch, Private und öffentlich-rechtliche Ethikkommissionen, NJW 2002, S. 491 f.

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Peter Häberle

„Wahrheitskommissionen"6 in Südafrika, El Salvador, jetzt auch Haiti, Peru und Sierra Leone bilden neue vielversprechende Verfahren des Entwicklungstypus „Verfassungsstaat", und wenn es jüngst in Deutschland dem Bundesrechnungshof 7 gelungen ist, die wahrheitswidrige Praxis der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg bei der Definition der „Vermittlung" aufzudecken (2002), so ist dies eine Leistung dieses unabhängigen Verfassungsorgans im Interesse der Wahrheitsermittlung, die gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Wissenschaftssoziologische Fragen des Rezensierens und Zitierens sind von verfassungsjuristischer Seite aus für Teilbereiche immer wieder behandelt worden. Machte das Buch „Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft" 8 die Rezensionen an klassischen und neueren Beispielen zum Thema, wurde schon 1980 wohl erstmalig die besondere Literaturgattung „Festschrift" behandelt,9 so hatte H.P. Ipsen früh eine große Rezensionsabhandlung zur Lehrbuchliteratur veröffentlicht. 10 A. Blankenagel fragte gezielt nach der Wissenschaftssoziologie. 11 Bei all dem wurde die Frage der „richtigen" Art zu zitieren immer mehr oder weniger deutlich mit erörtert, auch wenn dann 1988 ein erster eigener Aufsatz über die juristische Fußnotenkultur erschienen ist. 12 Selbstzitate wären ein neues Forschungsfeld. Handwerk und Kunst des Zitierens sind wie alle Wissenschaften hohen Anforderungen der Wahrheit ausgesetzt, und einige Aspekte dieser Verantwortung seien auch deshalb W. Schmitt Glaeser als Geburtstagsblatt dargebracht, weil er bei seinen eigenen Büchern, Gutachten, Aufsätzen und sonstigen Beiträgen im Fach immer auf größte Genauigkeit beim Zitieren Wert gelegt hat 13 und immer wieder Koautoren erklärtermaßen herangezogen hat. 14 6 Zuletzt: A.R. Chapman/P. Ball, The Truth of Truth Commissions: Comparative Lessons from Haiti, South Africa and Guatemala, in: Human Rights Quarterly 23 (2001), S. 1 ff. 7 Aus der Lit.: H. Schulze- Fielitz, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, VVDStRL 55 (1996), S. 231 ff. 8 Eingeleitet und hrsg. von P. Häberle, 1982. 9 P. Häberle, Festschriften im Kraftfeld ihrer Adressaten, AöR 105 (1980), S. 652 ff.; später etwa H. Schulze- F ielitz, Festschriften im Dienst der Wissenschaft, DVB1. 2000, S. 1260 ff. 10

Deutsche Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Lehrbücher, AöR 106 (1981), S. 161 ff. 11 Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), S. 35 ff.; siehe auch von ihm später: Vom Recht der Wissenschaft und der versteckten Ratlosigkeit der Rechtswissenschaftler bei der Betrachtung des- und derselben, AöR 125 (2000), S. 70 ff. 12 Von P. Häberle und A. Blankenagel, Fußnoten als Instrument der Rechts-Wissenschaft, in: Rechtstheorie 19 (1988), S. 116 ff.; zur Fußnotentechnik auch Ρ Tettinger, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, 1992, S. 215 ff.; VK Hoffmann-Riem, Durch Verzerrung und Verdächtigung zur „wahren Wissenschaft", AfP 1984, S. 87 ff., 88. 13 Vgl. ζ. B. die Tübinger Habilitationsschrift: Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, 1968; das Salzburger Staatsrechtslehrerreferat „Partizipation an Verwaltungsentscheidungen", VVDStRL 31 (1973), S. 179 ff.; das Gutachten (ζ. B. Kabelkommunikation und Verfassung, 1979) oder den Festschriftenbeitrag (in: FS

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II. Erster Teil: Beispielfelder (Auswahl) Das Beispielmaterial ist im Positiven wie Negativen unüberschaubar. Im folgenden seien nur einige besonders prägnante Beispiele vor allem für kritikwürdigen Umgang mit vorangegangener älterer Literatur ausgewählt. /. Zitierpraktiken

des BVerfG

Bei aller weit über Deutschland hinausstrahlenden Erfolgsgeschichte der Judikatur des BVerfG seien einige Fragen an seine Zitierpraxis nicht verschwiegen. So bekennt sich das BVerfG noch nicht in E 6, 309 ff., sondern erst in Bd. 12, 205 (254 ff.) zu dem Autor, dem es Idee und Wort der „Bundestreue" zu verdanken hat, 15 zu R. Smend. Das Zitat wird sozusagen „nachgeliefert" - vielleicht eine Unsicherheit aus der Frühgeschichte des Gerichts (?). Im KPD-Urteil wird Poppers Idee „process of trial and error" nur einem anderen Autor zugeschrieben (E 5, 85 (135)). In der Ersten Numerus Clausus Entscheidung (E 33, 302 (331 ff.)) wird die Lehre von den Grundrechten als Teilhaberechten bis in einzelne Formulierungen hinein aus dem von Senat und Präsident E. Benda seinerzeit vom Koreferenten der Regensburger Staatsrechtslehrertagung P. Häberle 1971 aus Marburg angeforderten und auch dem Berichterstatter (H. Simson) vorliegenden „Zweitbericht" „Grundrechte im Leistungsstaat" übernommen. 16 Der 1971 ebenfalls entwickelte Gedanke des Grundrechtschutzes durch Verfahren („status activus processualis") wird im Fall Mülheim-Kärlich (E 53, 30 (57 ff.)) im Sinne des Verf. vertieft, aber nur das Sondervotum ging erklärtermaßen auf den wissenschaftlichen Vorschlag aus dem Jahre 1971 ein (vgl. SV Simon/Heußner, E 53, 69 ff.). Besonders auffällig - und vorbildlich - ist die Enthaltsamkeit von BVerfG-Richter K. Hesse in Bezug auf Selbstzitate. Er zitiert sich selbst ebenso wenig, wie er auch nicht eigene Schüler zitiert - aus Prinzip nicht! Ganz anderes wäre von anderen Judikaten anderer Richter, auch Bundesverfassungsrichter, vor allem späterer Perioden zu berichten. Dabei war das BVerfG gut beraten, vor der Amtszeit von K. Hesse, diesen zu Dürig, 1990, S. 91 ff.; FS Lerche, 1993, S. 315 ff., oder FS K. Stern, 1997, S. 1182 ff., FS Vogel, 2000, S. 353 ff., FS Maurer, 2002, S. 1213 ff.), den Handbuch-Artikel (HStR, Bd. II, 1987, S. 49 ff.) und Zeitschriftenaufsätze (z. B. ZRP 2000, S. 395 ff.); pionierhaft: W. Schmitt Glaeser, Planende Verwaltung, protestierende Bürger und überforderte Richter, Der Landkreis 11/1976, S. 443 ff. '4 Z. B.: B. Klein, in: JöR 39 (1990), S. 105 ff., oder H. Schulze-Fielitz, in: Die Verwaltung 25 (1992), S. 273 ff. 15

R. Smend, Ungeschriebenes Verfassungsrecht im monarchischen Bundesstaat, Festgabe O. Mayer, 1916, S. 245 ff. 16 Vgl. den Passus in VVDStRL 30 (1972), S. 43 (96, 107 f.); s. auch E. Friesenhahn, der vom Einfluß des Regensburger Referates von P. Häberle in seiner Juristentagsrede spricht, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, DJT II (1974), S. G 1 (29). Zum Ganzen jetzt H. Schuhe-Fielitz, Was macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus?, JöR 50 (2002), S. 1 (56).

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398

zitieren (vgl. E 20, 56 (101 f., 105)) und nach dessen Amtszeit ihn sogar besonders häufig zu erwähnen. 17 Nur ungern erinnert der Verf. daran, daß der Zweite Senat mit G. Leibholz Leibholz-Zitate verwandte (ζ. Β. E 20, 56 (100 f.); früh: E 1, 208 (225, 249)). Gewiß darf mancher Autor glücklich sein, wenn das BVerfG die Sache übernimmt, „geistiges Eigentum" 18 an Verfassungsideen gibt es letztlich nicht. Da das Gericht aber sonst oft sehr zitierfreudig ist (ζ. Β. E 102, 370 (387 ff.)), ist diese Kritik wohl erlaubt. Ein letzter Aspekt sei angemerkt. Bisweilen zitiert das BVerfG auch den „unverfänglicheren" Klassiker - so im Maastricht-Urteil H. Heller zur Frage der „Homogenität", 19 obwohl der Sache nach ein anderer deutlichere Spuren hinterlassen hat - im Maastricht-Urteil zum Homogenitätskonzept wohl C. Schmitt 20

2. Zitierweisen

in der verfassungsjuristischen Defizite und Problemfälle

Literatur -

a) Spektakuläre Problemfälle Aus Reverenz gegenüber dem Jubilar Schmitt Glaeser sei vorweg das oft übernommene, nicht immer zitierte, schon klassische Schema aus seinem „Verwaltungsprozeßrecht" erwähnt. 21 Jedem Autor fallen naturgemäß Defizite in Bezug auf sich selbst besonders auf. Obwohl die Gefahr des „Selbstreferenziellen" bei jedem Wissenschaftler groß ist, seien einige krasse Beispiele herausgegriffen. Der Begriff „Drittwirkung der Grundrechte" (H. P. Ipsen) und seine Erfolgsgeschichte ist solchen „Signalworten" zu verdanken. 22 Doch nur relativ selten wird heute dieser Name hier noch mitgeführt. In jüngerer Zeit ist die Abhandlung von S. Hobe zum „kooperationsoffenen Verfassungsstaat" (1998) besonders erstaun17

Dazu schon meine Laudatio für K. Hesse in: H.-P. Schneider/R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und Richterkunst, 1990, S. 107 (128). Weitere Entscheidungen unter Einfluß der Werke von K. Hesse etwa E 93, 1 (21): „praktische Konkordanz" (ohne Autorennennung). „Die praktische Konkordanz" ohne Autorennennung zitiert E. Schmidt-Jortzig, Grenze der staatlichen Strafgewalt, FS BVerfG Bd. II, 2001, S. 505 (513). Hinweise auf die „Grundzüge" von K. Hesse etwa in: E 84, 90 (119); 86, 288 (320). 18

Aspekte bei T. Seydel, Die Zitierfreiheit als Urheberrechtsschranke, 2002. 19 E 89, 155 (186). 20

Dazu kritisch I. Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die Europäische Integration, AöR 120 (1995), S. 100 ff. 21 1. Grundsätzliche Beachtung der formlosen Rechtsbehelfe und ihre Systematisierung im Kontext der VerwO (Einleitung, II). 2. Aufschlüsselung und Systematisierung des Allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses (Erster Teil, § 2, IX). 3. Grundlegende Systematisierung der Klagearten, insbesondere auch der allgemeinen Leistungsklage (Zweiter Teil, insbes. § 6) mit „Bürgerverurteilungsklage" (§ 6, 3. Abschn.). 4. Doppelte Verfassungs-Unmittelbarkeit (Rn. 56). Vgl. zuletzt W. Schmitt Glaeser/H.-D. Horn, Verwaltungsprozeßrecht, 15. Aufl.,

2000. 22

Dazu Lüneburger Symposium für H.P. Ipsen, 1988, S. 51, 53, 87.

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399

lieh. An keiner einzigen Stelle wird auf den „kooperativen Verfassungsstaat' 4 und das Beispielmaterial von 1978 aus fremder Feder Bezug genommen.24 Da der frühe Beitrag 20 Jahre zurückliegt, nehmen auch einige jüngere Autoren unter Hinweis auf Hobe nicht mehr auf den älteren Aufsatz von 1978 Bezug. Wer weiß, wie schwer sich im eigenen „einsamen Gehirn" ein prägnantes Stichwort zu einer komplexen neuen Entwicklung finden läßt, kann verstehen, daß dieser Fall hier aufgedeckt wird. Ähnliches läßt sich in Bezug auf die „Gemeineuropäische Verfassungskultur" in einer guten Kommentierung des Art. 23 GG im „Sachs"-Kommentar des GG nachweisen (2. Aufl. 1999): hier wird nur spätere Dissertations- bzw. Sekundärliteratur erwähnt (Rn. 21 mit Fn. 55). /. von Münch verweist in seinem verdienstvollen „Staatsrecht II" (2002) beim Abschnitt „Grundrechte als Verfahren" auf sich selbst in einem anderen eigenen Buch (Kommentar). 25 Um noch in einigen Beispielen fortzufahren: Der Begriff „Verwaltungskultur" wurde 1982 wohl erstmals in einem grundsätzlichen kulturwissenschaftlichen Kontext erarbeitet. 26 Weit spätere (gute) Aufsätze von D. Cybulka 21 und von W. Thieme 28 gehen darauf nicht ein; auch nicht das von den Herausgebern „Die Verwaltung" gestaltete Beiheft „Die Verwaltung als Verwaltungskultur" (2001). Die Idee des „Gemeineuropäischen Verfassungsrechts", erstmals vom Verfasser in JöR 32 (1983, S. 9 (16 f., 25 ff.)) angedeutet und in EuGRZ 1991, S. 261 ff., grundsätzlich zur Diskussion gestellt, wird viel später in anderen Werken vereinzelt aus anderen Quellen übernommen. 29 Auch die „Verfassungskultur" hat sich längst verselbständigt. 30

b) Denkbare Gründe Hier soll kein „Klagelied" angestimmt, doch darf Erstaunen geäußert werden. Die negativste Vermutung wäre, daß die Autoren oft gar nicht mehr selbst „ihre 23 Der Staat 37 (1998), S. 521 ff. 24 P. Häberle, Der kooperative Verfassungsstaat, in: FS Schelsky, 1978, S. 141 ff., und ders., in: VVDStRL 36 (1978), S. 130 (Aussprache in Basel). 2 5 Vgl. I. v. Münch, Staatsrecht II, S. 118 f. 2 6 R Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982, S. 20, Anm. 25, mit Hinweis auf E. Schmidt-Aßmann. 27

Verwaltungsreform und Verwaltungskultur, in: FS Knöpfle, 1996, S. 79 (91 ff.). « Über Verwaltungskultur, in: Die Verwaltung 20 (1987), S. 277 ff. 29 Z. B. M. Pechstein/G. Koenig, Die Europäische Union, 3. Aufl. 2000, Rn. 561. - In Sachen Präambel ohne Zitat der einschlägigen, sonst allseits erwähnten Arbeit des Verfassers (FS Broermann, 1982, S. 211 ff.): Ch. Busse, Eine kritische Würdigung der Präambel der Europäischen Grundrechtecharta, EuGRZ 2002, S. 559 ff.; zum „Religionsverfassungsrecht" die Belege in A. Kupke, Die Entwicklung des deutschen Religionsverfassungsrechts nach der Wiedervereinigung, insbesondere in den Neuen Bundesländern, Diss. Bayreuth, 2002, i.E. 30 ρ Häberle, Verfassunglehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 20 ff. (2. Aufl. 1998, S. 90 ff.); später C. Tomuschat, Rezension von „Europäische Rechtskultur", 1994, in: Der Staat 35 (1996), S. 140 f.; J. Limbach, Interview in: „Die Zeit", vom 2. Mai 2002, S. 42. 2

400

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eigenen Fußnoten" verfassen, sondern dies an studentische Hilfskräfte, die JurisSuchmaschine oder den Computer delegieren. Auch könnte es Kennzeichen jeder Generation sein, generationenspezifisch zu zitieren: den vertrauten gleichaltrigen Kollegenkreis, mit (unbewußt) erhofften „Gegenleistungen". Oft mag es auch nur die Fülle des Materials sein, das die Auswahl einseitig erscheinen läßt, mitunter mag eine Idee in der „Luft" liegen. Zu hoffen ist, daß unter Verfassungsjuristen keine bewußten Plagiate vorkommen, vieles auf sog. „Zitierkarussels" beruht oder auf Nachlässigkeit. Doch ist es eine Erfahrung: Wer nicht sogleich zitiert ist, wird mit seinem „Pionierwerk" rasch vergessen, nachfolgende Zitatketten (und -kartelle) werden gerne unkontrolliert und ungeprüft sekundär übernommen.

III. Zweiter Teil: Wissenschaftstheoretische Sollforderungen Da auch der Zitierapparat bzw. die Fußnoten ein Stück Wissenschaft sind, müssen Wahrheitspostulate namhaft gemacht werden, die diesen Teilbereich der Wissenschaft speziell im Verfassungsrecht in Verantwortung nehmen.

1. Treue gegenüber klassischen Prägungen „Klassikertexte im Verfassungsleben" (so die gleichnamige Schrift des Verf. von 1981 ) 3 1 sind ein Wert- und ein Erfolgsbegriff. Beides deutet auch auf das ZitiertWerden. Der Typus „Verfassungsstaat" lebt von bestimmten Klassikern, der Klassikerkanon ist indes offen. Auch wenn man in der täglichen Arbeit nicht immer zu den „Himmeln" der „obersten" Klassiker wie Montesquieu und Rousseau, J. Rawls oder H. Jonas greifen muß: auch (z. B. wegen des kürzeren Zeitabstands) „mittlere" Klassiker wie in Deutschland G. Radbruch, E. Friesenhahn, K. Hesse sollten in ihren klassischen Begriffsprägungen der Wahrhaftigkeit wegen zitiert werden. In Bezug auf E. Friesenhahn geschieht dies öfters, Hesses „Praktische Konkordanz" wird mitunter ohne seinen Namen zitiert. 32 Vor allem sollte möglichst der „locus classicus" mit zitiert werden, damit der „Nachgeborene" den Kontext nachlesen kann. Die jüngere Generation müßte sich schon die Mühe machen, zwischen Primär- bzw. Pionier- und Sekundärliteratur, auch „Tertiärliteratur" zu unterscheiden und nicht einfach jene auslassen oder (unbewußt) „vergessen". Gewiß stehen auch die „Riesen" auf den Schultern anderer Riesen,33 gewiß „gehört" in der Kulturgeschichte, auf lange Sicht betrachtet, eine geistige originelle Erfindung letzlich 31 s. für das Völkerrecht: M. Kotzur, Die Wirkungsweise von Klassikertexten im Volkerrrecht, JöR 49 (2001), S. 329 ff. 32 Vgl. oben Anm. 17. - Zu E. Friesenhahn: Ρ Häberle, Die geschlossene (?) Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer - ihr offenes Diskussionsforum, in: FS Tsatsos, 2003, i.E. 33 Zu diesem Bild jetzt W. Graf Vitzthum, in: ders. (Hrsg.), in: P. Häberle, Kleine Schriften, 2002, S. 397 ff.

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401

nicht mehr dem „Erfinder": die Parallele zum nur begrenzten Schutz des geistigen Eigentums liegt auf der Hand (vgl. BVerfGE 31, 229; 31, 275); 34 dennoch ist es nicht nur Eitelkeit, wenn der Erstautor darauf bestehen will, daß man sein früher Erarbeitetes fair anerkennt. Freilich müssen die älteren Autoren auch die jüngere Generation „lesen" - und zitieren!

2. Differenzierung

nach Literaturgattungen

„Vollständigkeit" kann nicht das Postulat aller wissenschaftlichen Werkgattungen sein - insbesondere nicht im Zeitalter umfassender Datenbanken, die mit einem Knopfdruck noch die letzte Amtsgerichtsentscheidung zu einem Thema zugänglich machen. Wertende Literaturauswahl ist unvermeidlich. Dabei sollte nach der jeweiligen Literaturgattung differenziert werden. Ein „Großkommentar" zum Verfassungsrecht (ζ. B. der Maunz/Dürig) muß in der Benennung der einschlägigen Literatur nahezu vollständig sein, gleiches gilt für „Riesenhandbücher" (ζ. B. das HStR, Bd. I (1987) bis Bd. IX (1997)).35 Die Monographie verlangt unterschiedliche Zitiertechniken. Bei Dissertationen darf man tunlichst Vollständigkeit des herangezogenen Schrifttums erwarten, in Habilitationsschriften kann vielleicht „subjektiver und selektiver" zitiert werden, je größer der Originalitätswert ist. 36 Besondere Maßstäbe dürften für Grundlagenaufsätze „reiferer" Autoren gelten. Sie können sich Sammelfußnoten leisten oder pointiert vorgehen, doch niemals sollte gegnerische Literatur übergangen werden. Kurzkommentare zum GG (z. B. H. D. Jarassi B. Pieroth, 6. Aufl. 2002) dürfen stark selektiv vorgehen und besonders die Praxis „ansprechen". Kurzlehrbücher oder Aufsätze in Ausbildungszeitschriften 37 können das Pädagogische betonen, sollten aber nicht ganz auf „große Literatur" verzichten. In sich rasant entwickelten neuen Rechtsgebieten wie dem Europarecht ist ein erstaunliches Phänomen zu beobachten. Da die Aufsatzflut kaum mehr zu überblicken ist, erscheint der Fußnotenapparat einem „Wanderzirkus" oder einer 34 Aus der Lit.: F. Fechner, Geistiges Eigentum und Verfassung, 1999, bes. S. 397 ff. 35 Dazu aus der Rezensionsliteratur vor allem H. Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren GG, in: Die Verwaltung 32 (1999), S. 241 ff.; K.A. Schachtschneider, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Wende, JöR 42 (1994), S. 23 ff. 36 Entwicklungen der Dogmatik sollten dabei nachvollzogen werden. Erstauflagen sollten auch, aber nicht ausschließlich berücksichtigt werden; ein fragwürdiges Beispiel: M. Jaestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999. Die „Wesensgehaltgarantie" des Verf. (1. Aufl. 1962) ist grundrechtsgeschichtlich nicht erwähnt, die spätere, dritte, stark erweiterte (1983) ist der Sache nach nicht berücksichtigt. Die These von der Ausgestaltungsbedürftigkeit der Grundrechte durch das Gesetz mußte seit 1962 hart erkämpft werden. Der Autor übersieht dies wohl. Richtig G. Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S. 17, 19 u.ö. 37 Dazu mit europäischem Material: mein Beitrag: Juristische Ausbildungszeitschriften in Europa, ZEuP 2000, S. 399 ff.

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„Wanderdüne" zu gleichen. Ohne Bewertung wird das immer gleiche Fußnotenkarussell (vielleicht auch wegen des Computers) bewegt, da und dort um einige neue Aufsätze vermehrt. Um so weniger werden Bücher wirklich innerlich verarbeitet. Auch ganz jenseits der Schulen, Generationen und unterschiedlichen Denkrichtungen sollte zitiert und vor allem gelesen werden. Manche Autoren werden „mehr gelesen als zitiert" und umgekehrt - um ein Wort von W. Hoffmann-Riem abzuwandeln. Im Ganzen ist viel Bescheidenheit angesagt. Letztlich gilt für den wissenschaftlichen Generationen vertrag: „Alle verdanken sich allen". Das Zurückstellen der eigenen Eitelkeit fällt uns Menschen naturgemäß schwer. Gerade die Älteren (Autoren) möchten nicht ganz vergessen werden. Der heute immer mehr praktizierte „Tagungstourismus" leistet seinen eigenen negativen Beitrag. Nur wer örtlich präsent ist und „gesehen" wird, wird später (oft flüchtig genug) zitiert. Mag man sich das Wort „nothing new under the sun" - seit Platon - zu eigen machen, auch Goethes Einsicht, es komme nur darauf an, einen schon oft formulierten alten Gedanken neu auszusprechen: Die Selbsterziehung zur Wahrheit im Zitieren und zur Verantwortung im Atac/i-Denken bleibt ein wissenschaftsethisches Gebot. An das BVerfG wie auch an andere europäische Verfassungsgerichte wären eigene Maßstäbe zu richten. Sie seien hier nicht erarbeitet (Stichwort: pluralistische Streuung der verschiedenen Nationen).

3. Das Pluralismus-Gebot Dem Geist und Buchstaben der „Verfassung des Pluralismus" gemäß, ein Konzept des Verf. aus dem Jahre 1980, muß auch die an ihr und in ihr arbeitende Verfassungsrechtslehre in allen Literaturgattungen pluralistisch gerecht werden, d. h. konkret: Gegenmeinungen müssen auch in den Fußnoten zu Wort kommen, es darf zu keinen offenkundigen Asymmetrien kommen, etwa große Nachweise der Befürworter der eigenen Meinung, Minimalisierung oder Marginalisierung des Apparats in Bezug auf die Gegenrichtung. Das Pluralismusgebot, dem Herausgeber von wissenschaftlichen „Reihen" 38 und Zeitschriften (nicht der von Festschriften!) verpflichtet sind, muß den wissenschaftlichen Diskurs buchstäblich bis in die Fußnoten hinein prägen. Wissenschaftliches Argumentieren heißt ein diskursives Sich-Einlassen auf das Für und Wider. Leider wird dieses Gebot in nicht wenigen Publikationen grob mißachtet.39 Das Gesagte gilt gerade auch 38 Vorbildlich arbeitet z. B. die Tübinger Reihe „Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht" oder die Reihe: „Jus Publicum" (seit 1991). 39 Aus der Kommentarliteratur etwa bei G. Enders zum „Doppelcharakter" der Grundrechte aus dem Jahre 1962, wo bestimmte Literatur, auch „gleichsinnige", einfach „unterschlagen" wird (im „Berliner Kommentar" zum GG C 1 vor Art. 1 GG Rn. 62 ff.). Gleiches gilt für den „Grundrechtsschutz" durch Verfahren", ebd. Rn. 71 - ein Theorievorschlag erstmals aus dem Jahr 1971.

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für Kontroversen, die Ausprägungen des Schulen- oder Richtungsstreits in Deutschland sind. 40 Bei all dem geht es nicht um ein quantitatives „Zählen" der Stimmen, sondern um ein qualitatives Abwägen und „Berücksichtigen".

IV. Ausblick Dieser Beitrag will nur eine Skizze sein. Als Geburtstagsblatt mit persönlichen Einfärbungen im Blick auf einen Jubilar kann kein umfassender Beitrag verantwortet werden. Immerhin sollte ins Bewußtsein rücken, daß es Zitierregeln - Maßstäbe - Sollforderungen gibt, die gerade von den Verfassungsjuristen zu befolgen sind. Solche Kunstregeln mögen mehr „Handwerk" im guten Sinne des Wortes sein, aber sie sind nicht weniger verantwortungsbewußt wahrzunehmen. Die Zitiertechniken stehen nicht für sich, sie sind Teil unserer nationalen Wissenschafts- und Rechtskultur - heute zunehmend im Kontext Europas. Den nationalen Ausprägungen (weniger Fußnoten sind ζ. B. in Frankreich und Großbritannien üblich) sollte dabei genug Raum bleiben, den bayerischen über das Bayerische Verwaltungsblatt hinaus zumal - der Jubilar hat auch hierzu einen Beitrag geleistet.41

40

Dazu mein Beitrag: Ein „Zwischenruf zum Diskussionsstand in der deutschen Staatsrechtslehre, in: FS H. Maier, 1996, S. 327 ff. 41 Ζ. B. die Aufsätze von W. Schmitt Glaeser, Bestands- und Entwicklungsgarantien für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, BayVBl. 1985, S. 97 ff.; Politisch motivierte Gewalt und ihre „Fernziele", BayVBl. 1989, S. 454 ff.; Schwindende Werte, wachsende Zweifel über den Minimalkonsens in der offenen Gesellschaft, BayVBl. 1995, S. 577 ff. - Buchbesprechungen des Jubilars in: BayVBl. 1985, S. 512; 1986, S. 640; sonstige Publikationen in der „Bayerischen Staatszeitung", ζ. B. in Nr. 35 vom 31. 8. 1990, Nr. 13 vom 29. 3. 1996. Siehe auch die relativ vielen Beiträge in „Bayerischen Festschriften", etwa zu: 50 Jahre Bayerische Verfassung, 1996, S. 43 ff., oder FS zum 50jährigen Bestehen des BayVerfGH, 1997, S. 155 ff.

IV. Innere Sicherheit, Medien

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Nach dem 11. September: An den Leistungsgrenzen eines verfassungsstaatlichen Polizeirechts? Von Helmuth Schulze-Fielitz I. Das prekäre Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Verfassungsstaat Der moderne westliche Verfassungsstaat erfährt seine Legitimation auf verschiedenen Begründungsebenen. Der klassische Staatszweck von Frieden und Sicherheit steht am Beginn der Ausbildung des modernen Staates1 und konstituiert die Gewährleistung der Inneren Sicherheit als fundamentale Staatsaufgabe 2 nach Maßgabe des Grundgesetzes.3 Seine staatstheoretische Entsprechung findet er in der Begründung des Gewaltmonopols des souveränen Staates durch Jean Bodin und der vertragstheoretischen Unterwerfung unter dessen Macht um eines effektiven Bürgerfriedens willen durch Thomas Hobbes.4 Als zweite Legitimationsschicht des Verfassungsstaats tritt die rechtsstaatliche Begrenzung dieser staatlichen Macht i. S. der Gewährleistung von Sicherheit auch vor dem Staat hinzu.5 Die vertragstheoretische Entsprechung bei John Locke bindet die staatliche Gewaltausübung an den Schutz der verfassungsvertraglich verbürgten Freiheits- und Eigentumsrechte, um derentwillen allein die Gewaltausübung beim Staat monopolisiert wird, 6 wobei die Idee der Gewaltenteilung (Montesquieu) zur Ausbalan1

Vgl. nur W. Schmitt Glaeser, Private Gewalt im politischen Meinungskampf, 2. Aufl. 1992, S. 184 ff. 2 s. nur allg. BVerfGE 46, 214 (223); J. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, HStR III, 2. Aufl. 1997, § 57 Rn. 44 ff.; Κ Eichenherger, Die Sorge für den inneren Frieden als primäre Staatsaufgabe (1977), in: ders., Der Staat der Gegenwart, 1980, S. 73 ff.; s. auch im hiesigen Kontext H.-H. Trute, Die Erosion des klassischen Polizeirechts durch die polizeiliche Informationsvorsorge, in: GedS Bernd Jeand'Heur, 1999, S. 403 (413); J. Aulehner, Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge, 1998, S. 310 ff. 3 C. Gusy, Rechtsgüterschutz als Staatsaufgabe, DÖV 1996, S. 573 (577 ff.); H.P. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 2. Aufl. 1977, S. 99 ff., 347 ff. 4 Vgl. dazu T. Hobbes, Leviathan (1651), hrsgg. von I. Fetscher, 1966, Kap. 17, S. 131 ff.; übersichtlich H. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1995, S. 59 ff., 81 ff.; s. auch im aktuellen juristischen Kontext J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 3 f.; zuletzt C. Calliess, Sicherheit im freiheitlichen Rechtsstaat, ZRP 2002, S. 1 (2 f.); ders., Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 88 ff.; allg. zur Relevanz von Klassikern P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. 5 Übersichtlich H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG II, 1998, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 5 ff. 27*

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cierung verschiedener Teilelemente staatlicher Gewaltausübung wesentlich beiträgt. Kehrseite des Schutzes der Sicherheit des einzelnen sowohl vor dem Dritten durch den Staat wie auch vor dem Staat selbst ist von Anfang an und untrennbar der Schutz der Freiheit des einzelnen; deshalb kann es keine staatstheoretische Vorrangbeziehung zwischen Sicherheit und Freiheit geben, sondern nur unterschiedliche Formen der Konkretisierung. Ein neues Legitimationsniveau findet sich in der demokratischen Organisation des Verfassungsstaats im Sinne der gleichen Mitwirkung aller Bürger, wie sie staatstheoretisch bei Jean-Jacques Rousseau begründet ist 7 und etwa in Deutschland als Demokratisierungsprozeß historisch mit dem Abschied vom Klassenwahlrecht und der endgültigen Einführung des Frauenwahlrechts seinen Abschluß findet. 8 Die im 19. Jahrhundert erkannte staatliche Pflicht zur Vor- und Fürsorge ergänzt als Staatszweck die primäre Aufgabe der Sicherheit, indem sie in dialektischer Reaktion auf die liberale Begrenzung des Staates auf die Freiheitssicherung an die fürsorgliche Tradition der „guten Polizey" i.S. einer Wohlfahrtsvorsorge des aufgeklärten Absolutismus anknüpft; die sozialstaatlichen Theorien von Karl Marx über Ferdinand Lassalle bis hin zu den christlichen Soziallehren suchen diesen Staatszweck auf den Begriff zu bringen. 9 So wie der Sozialstaat zur Lösung der sozialen Frage „korrigiert", so dürfte der Umweltstaat zur Lösung der Umweltfragen ein neues Legitimationsniveau anzeigen,10 mag dieser als eigenständiger Legitimationsgrund auch (noch) umstritten sein.11 Der moderne Verfassungsstaat als Typus bezieht seine Legitimation aus allen fünf verfassungsrechtlich gewährleisteten Zwecken; deshalb läßt sich weder ein Verfassungswert als allen anderen vorrangig diesen gegenüber ausspielen,12 noch läßt sich die Freiheit der Bürger als maßgeblicher Bezugspunkt der Verfassungszwecke13 relativieren, indem die Staatsaufgabe Sicherheit als konkurrierendes 6 Vgl. J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690), hrsgg. von W. Euchner, 1977; übersichtlich Kersting, Philosophie (Fn. 4), S. 109 ff., 122 ff.; im hiesigen Kontext auch Isensee, Grundrecht (Fn. 4), S. 5 ff.; Calliess, Sicherheit (Fn. 4), S. 4. 7 Vgl. J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (1762); übersichtlich Kersting, Philosophie (Fn. 4), S. 149 ff. « Übersichtlich H. Dreier, in: ders. (Fn. 5), Art. 20 (Demokratie) Rn. 9 ff. 9 Übersichtlich R. Gröschner, in: Dreier (Fn. 5), Art. 20 (Sozialstaat) Rn. 1 ff. 10 H. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Fn. 5), Art. 20a Rn. 2, im Anschluß an H. Dreier, Rechtsethik und staatliche Legitimität, Universitas 48 (1993), S. 377 (383 ff.), und H. Hofmann, Die Aufgaben des modernen Staates und der Umweltstaat, in: M. Kloepfer (Hrsg.), Umweltstaat, 1989, S. 1 (36 ff.); R. Wahl/1. Appel, Prävention und Vorsorge. Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: R. Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 1 (19 ff.). 11 Krit. z. B. M. Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 60; Calliess, Rechtsstaat (Fn. 4), S. 100 ff.; J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, HStR V, 2. Aufl. 2000, § 111 Rn. 32 ff. 12 Vgl. auch BVerwGE 49, 202 (209); BVerfGE 49, 24 (56 f.) betr. Sicherheit des Staates und der Bevölkerung. 13 Vgl. BVerwGE 26, 169 (170 f.), und BGHSt 14, 358 (364 f.).

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Grundrecht ausgewiesen wird. 14 Ungeachtet dessen bestehen zwischen den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen Spannungen, die sich nicht beliebig durch Verfassungsinterpretation auflösen oder i.S. eines Entweder/Oder entscheiden lassen, ohne das prekäre Projekt eines Verfassungsstaates überhaupt in Frage zu stellen. Ein „klassisches" Spannungsverhältnis ist durch die Folgen der New Yorker Anschläge am 11. September 2001 aktualisiert und vertieft worden - der verfassungsstaatlich genuine Auftrag des Staates zur Sicherung von Frieden und Sicherheit um der Freiheit der Bürger willen einerseits und sein Verhältnis zum Schutz der grundrechtlichen Freiheit der Bürger vor dem Staat andererseits. 15 Es geht um einen rechtsstaatlichen In-Sich-Konflikt. 16 Diese Spannung wird beispielhaft an der Nahtstelle sichtbar, an der die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und der Freiheitsanspruch der Bürger immer wieder neu austariert werden - im Polizeirecht.

II. Kernelemente eines verfassungsstaatlichen Polizeirechts im Wandel I. Vom konkreten Rechtsgüterschutz zum Schutz der Rechtsordnung Die polizeiliche Kernaufgabe ist die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit. Damit ist die Gesamtheit der rechtlich geschützten Rechtsgüter gemeint, nämlich die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des einzelnen und des Bestandes des Staates und sonstiger Hoheitsträger mit ihren Einrichtungen und Veranstaltungen.17 Der Bezug auf konkret zu schützende Rechtsgüter soll die Handlungsvoraussetzungen des Staates disziplinieren. Indessen gibt es seit langem Tendenzen, daß die konkret zu schützenden und gefahrbedrohten Rechtsgüter „entkonkretisiert" werden. Das kann ζ. B. im städtischen Alltag sichtbar werden, wenn „Punker" unbeschadet rechtmäßigen Ver14 Vgl. aber Isensee, Grundrecht (Fn. 4), S. 34 ff. u.ö.; Aulehner, Informationsvorsorge (Fn. 2), S. 428 ff.; Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 25 ff., 84 ff.; krit. H. Meier, Ein Grundrecht auf Sicherheit, Merkur 646, 2003, S. 174 ff. (176); J. Limbach, Ist die kollektive Sicherheit der Feind der individuellen Freiheit?, 2002, S. 4 f. 15 Zuletzt W. Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge, ZRP 2002, S. 497 ff. 16 Vgl. BVerfGE 57, 250 (276); Limbach, Sicherheit (Fn. 14), S. 7; allg. Schulze-Fielitz (Fn. 5), Rn. 36 ff. 17 Vgl. nur E. Denninger, Polizeiaufgaben, in: H. Lisken/E. Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl. 2001, Kap. E Rn. 6 ff.; B. Pieroth/B. Schlink/M. Kniesel, Polizeiund Ordnungsrecht, 2002, § 8 Rn. 3 ff.; F. Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 2003, 2. Kap. Rn. 66 ff.; monographisch zuletzt Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 119 ff.; M. Albers, Die Determination polizeilicher Tätigkeit in den Bereichen der Straftatenverhütung und der Verfolgungsvorsorge, 2001, S. 30 ff.

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haltens als Mitglieder einer „Szene" sich auf bestimmten öffentlichen Plätzen nicht mehr aufhalten dürfen. 18 Ein anderes Beispiel sind Ausreisebeschränkungen durch Paßbeschränkungen für auffällig gewordene „Hooligans", die an einen drohenden Verstoß gegen „sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland" geknüpft werden; dafür soll eine Beeinträchtigung des „internationalen Ansehens" der Bundesrepublik ausreichen,19 womit die Ausreisefreiheit unter einen allgemeinen Politikvorbehalt gestellt wird. 20 Solche Entkonkretisierung wird bei polizeilichen Maßnahmen zur Bekämpfung „des" Terrorismus noch gesteigert: Das Ausmaß möglicher Schäden an Leib, Leben oder Sachgütern, die der internationale Terrorismus verursachen kann, erscheint tendenziell so hoch und unbegrenzt, daß die eingrenzende Funktion der Rechtsgüterbestimmung schwindet. Mit ihr wird zugleich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als verfassungsrechtlicher Maßstab geschwächt, wenn der Zweck so weit ist und die Kausalbeziehungen zwischen Zweck und Mittel so wenig aufklärbar, daß der Zweck alle Mittel „heiligt". 21 Mit der Imagination der denkmöglichen Rechtsverletzungen scheint die Bedrohung der Inneren Sicherheit an sich jedes gesetzlich vorgesehene Mittel zur Verhütung ihrer Gefährdung zu rechtfertigen.

2. Von der Abwehr konkreter Gefahren zur Prävention von Risiken Das klassische Polizei- und Sicherheitsrecht orientiert sich an der Abwehr von (konkreten und abstrakten) Gefahren i.S. der Verhinderung von Schäden (an Rechtsgütern).22 Bekanntlich ist Voraussetzung für eine Gefahr eine Sachlage, in der bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden für eines der Schutzgüter eintreten wird. 23 In der Entwicklung des modernen Polizei- und Sicherheitsrechts wandelt sich nicht nur der Begriff der Gefahr hin zu unschärferen Differenzierungen, 24 sondern es verschieben sich die Schwerpunkte staatlichen Handelns i« Vgl. (krit.) VGH BW NVwZ 2003, 115 (116) = DÖV 2003, 127 (128); A. Trupp, Das polizeiliche Aufenthaltsverbot als Legislativskandal, KritV 85 (2002), S. 459 ff. "9 Vgl. VGH Baden-Württemberg NJW 2000, 3658 ff.; ausf. M. Breucker, Transnationale polizeiliche Gewaltprävention, 2003, S. 163 ff., 170 ff.; krit. M. Rossi, Beschränkungen der Ausreisefreiheit im Lichte des Verfassungs- und Europarechts, AöR 127 (2002), S. 612 ff. (632 ff.). 20 Rossi, Beschränkungen (Fn. 19), S. 637. 21 Trute, Erosion (Fn. 2), S. 408 ff.; D. Neumann, Vorsorge und Verhältnismäßigkeit, 1994, S. 115 ff., 133 f. 22 s. etwa Albers, Determination (Fn. 17), S. 32 ff. 23 Vgl. nur Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht (Fn. 17), Rn. 84. 24 Vgl. näher C. Gusy, Polizeirecht, 5. Aufl. 2003, Rn. 107 ff., 185 ff.; Aulehner, Informationsvorsorge (Fn. 2), S. 472 ff.; H. Wagner, Kommentar zum Polizeigesetz von NordrheinWestfalen, 1987, Vor § 1 Rn. 33 ff., § 1 Rn. 63 ff.

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von der Abwehr konkret bezeichneter Gefahren hin zur Prävention i.S. nicht nur vorbeugender Gefahrenabwehr, sondern vor allem präventiver, vorsorglicher Risikobekämpfung im Vorfeld von Gefahren; 25 darin wird ein „Charakteristikum heutiger Sicherheitsgewährleistung", 26 wenn nicht in kritischer Verallgemeinerung ein Megatrend mit typenbildender Kraft hin zum „Präventionsstaat" 27 gesehen. Hintergrund ist der Umstand, daß die sozialen Veränderungen in der modernen Gesellschaft die Handlungsmöglichkeiten von Gefahrverursachern oder potentiellen Straftätern und deren Expansion bestimmen. Die neuen Formen der organisierten Kriminalität stellen auch ihre Bekämpfung vor neue Herausforderungen; charakteristische Probleme sind etwa Tendenzen zur Professionalisierung, Akkumulation von Kapital und Kommerzialisierung, Oszillieren zwischen legalen und illegalen Tätigkeitsfeldern, Erwerb von technischem und wirtschaftlichem Know-how, hierarchisch-geschlossene Organisationsformen, Arbeitsteilung, Logistik, Internationalität, hohe Gewaltbereitschaft zur Sanktionierung von Abweichlern u. a. m. 2 8 Zugleich wird die Gesellschaft selbst mit wachsender Ausdifferenzierung ihrer sozialen Strukturen und Funktionen sowohl leistungsfähiger wie auch störungsanfälliger: Gefahrenabwehr und Kriminalitätsbekämpfung werden unter solchen Rahmenbedingungen schwieriger. Gegenständlich wandelt sich die präventive Kriminalitätsbekämpfung zu einer nicht mehr nur strafrechtlichen, sondern auch spezifisch polizeilichen Aufgabe, um durch Ursachenbeseitigung oder Abschreckung die heimliche oder vorsätzliche Gefahrverursachung rechtzeitig zu bekämpfen. In Antwort auf jene Veränderungen im Realbereich (wie die zunehmenden öffentlichen Gewalttätigkeiten, die organisierte Kriminalität oder auch der Terrorismus) wird die polizeiliche Vorsorge zur 25 K. Waechter, Die aktuelle Situation des Polizeirechts, JZ 2002, S. 854 (855 ff.); E. Denninger,; Freiheit durch Sicherheit?, StV 2002, S. 96 (96 f.); ders., Polizeiaufgaben (Fn. 17), Rn. 197 ff.; Albers, Determination (Fn. 17), S. 252 ff.; in positiver Programmatik Aulehner, Informationsvorsorge (Fn. 2), S. 5, 47 ff., 95 ff., 474 ff.; grundsätzlich zust. die Besprechung von F.-L. Knemeyer, AöR 124 (1999), S. 702 ff. 26 Mosti, Garantie (Fn. 11), S. 159. 27 Schon früh E. Denninger, Der Präventionsstaat, KJ 21 (1988), S. 1 ff.; zuletzt ders., Freiheit durch Sicherheit?, KJ 35 (2002), S. 467 ff.; auch in: H.-J. Koch (Hrsg.), Terrorismus - Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, 2002, S. 83 ff.; allgemeiner im Kontext des Wachstums der Staatsaufgaben D. Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention (1986), in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 3. Aufl. 2002, S. 197 (200 ff.); zur Parallele der Vorsorge im Umweltrecht B. Schlink, Die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht, VVDStRL 48 (1990), S. 235 (253 ff.); Wahl/Appel, Prävention (Fn. 10), S. 13 ff., 58 ff., 72 ff.; krit. Calliess, Rechtsstaat (Fn. 4), S. 21 ff. 2« s. näher Albers, Determination (Fn. 17), S. 100 ff.; Trute (Fn. 2), S. 404; Aulehner, Informationsvorsorge (Fn. 2), S. 57 ff.; W. Graf, Rasterfahndung und organisierte Kriminalität, 1997, S. 29 ff.; C. Gusy, Beobachtung organisierter Kriminalität durch den Verfassungsschutz?, StV 1995, S. 320 (321); s. auch N. Pütter, Der OK-Komplex, 1998; E. Werthebach/B. Droste-Lehnen, Organisierte Kriminalität, ZRP 1994, S. 57 ff.; M. Bogel, Strukturen und Systemanalyse der Organisierten Kriminalität in Deutschland, 1994.

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Verhütung von Straftaten oder für die Verfolgung von künftigen Straftaten ausgedehnt 2 9 - ob durch Einsatz geheimdienstlicher Mittel, durch verstärkte Informationseingriffe i m Vorfeld von akuten Strafrechtsverstößen, durch ereignisunabhängige Polizeikontrollen ohne jeden Gefahrenverdacht 30 („Schleierfahndung") oder auch nur durch präventive Videoüberwachung öffentlicher Räume. 3 1 Jüngst haben die neuen gesetzgeberischen Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung die Möglichkeiten der präventiven Überwachung deutlich ausgeweitet, 32 wie sie auch in der „flächendeckenden Präventivkontrolle" und Datenspeicherung von Finanztransaktionen zum Ausdruck k o m m t . 3 3 Dieser polizeilichen Kriminalitätsbekämpfung entspricht eine unstrukturierte Annäherung von präventivem Polizei- und repressivem Strafprozeßrecht, 34 insofern Informationen gleichermaßen zur präventiven Gefahrenabwehr wie zur späteren repressiven Strafverfolgung dienen und die gesetzlichen Ermächtigungsnormen des Polizei- und Strafprozeßrechts ähnlich strukturiert sind. 3 5 Aber auch jenseits der Kriminalitätsbekämpfung hat der Gedanke der präventiven Verhinderung von Gefahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Gefahrenabwehrrecht gilt ζ. B. Personen und ihren wesentlich gefahrgeneigten Eigenarten, die als 29 Ausf. Albers, Determination (Fn. 17), S. 97 ff., 118 ff., 131 ff.; Trute (Fn. 2), S. 405 ff.; für eine deutlichere Unterscheidung zwischen polizeilicher Gefahrenvorsorge und der Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr und die S traftaten Verfolgung F.-L Knemeyer, Datenerhebung, Datenverarbeitung und Datennutzung als Kernaufgaben polizeilicher Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr und Straftaten Verfolgung (Informations Vorsorge), in: FS Walter Rudolf, 2001, S. 483 (489 ff.). 30 C. Möllers, Polizeikontrollen ohne Gefahrenverdacht, NVwZ 2000, S. 383 ff.; K. Waechter, Die „Schleierfahndung" als Instrument der indirekten Verhaltenssteuerung durch Abschreckung und Verunsicherung, DÖV 1999, S. 138 ff.; s. auch M. Schütte, Befugnis des Bundesgrenzschutzes zu lageabhängigen Personenkontrollen, ZRP 2002, S. 393 ff.; H. F. Lisken, Jedermann als Betroffener, in: H. Bäumler (Hrsg.), Polizei und Datenschutz, 1999, S. 32 ff. 31 Zu diesen krit. K. Waechter, Videoüberwachung öffentlicher Räume und systematischer Bildabgleich, NdsVBl. 2001, S. 77 ff.; A. Schmitt Glaeser, Videoüberwachung öffentlicher Räume. Zur Möglichkeit administrativer panoptischer Machtausübung, BayVBl. 2002, S. 584 ff.; ausf. D. Büllesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur KriminalitätsVorsorge, 2002. 32 Vgl. τ. Groß, Terrorbekämpfung und Grundrechte, KJ 35 (2002), S. 1 (2); s. näher die Begründungen des Gesetzentwurfs (BT-Drs. 14/7386, S. 35 ff.) und des Ausschußberichts (BT-Drs. 14/7864, S. 4 ff). 33 Vgl. Ε. v. Bubnoff, Terrorismusbekämpfung - eine weltweite Herausforderung, NJW 2002, S. 2672 (2674 f.); J. Jahn, Verschärfte Finanzkontrollen nach Terroranschlägen, ZRP 2002, S. 109 (111); W. Hetzer, Geldwäsche und Terrorismus, ZRP 2002, S. 407 ff. 34 Zur Notwendigkeit der Unterscheidung als systemleitender Zäsur Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht (Fn. 17), Rn. 9; Albers, Determination (Fn. 17), S. 92 ff.; s. auch C. Hoppe, Vorfeldermittlungen im Spannungsverhältnis von Rechtsstaat und der Bekämpfung Organisierter Kriminalität, 1999, S. 75 ff., 155 ff.; H. Dreier, Erkennungsdienstliche Maßnahmen im Spannungsfeld von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung, JZ 1987, S. 1009 ff. 35 Waechter, Situation (Fn. 25), S. 856; H.-H. Trute, Das Polizei- und Ordnungsrecht im Spiegel der Rechtsprechung, Die Verwaltung 32 (1999), S. 73 (75 f.).

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potentielle Wiederholungstäter in bestimmten Sachzusammenhängen in Dateien registriert und sektorspezifisch von der Möglichkeit einschlägiger Betätigungen abgehalten werden, etwa durch Aufenthaltsverbote oder polizeilichen Gewahrsam für Mitglieder der Drogenszene,36 Melde- und Paßsperren zur Verhinderung der Ausreise von Hooligans bei Fußballspielen;37 Polizeirecht verliert an Berechenbarkeit. 38 Das Dilemma solcher für sich zweckmäßigen und nicht per se verfassungswidrigen 39 einzelnen Aktivitäten besteht darin, daß sie erstens keine Grenzen in sich tragen. 40 Sie sind abgekoppelt sowohl vom konkreten Anfangsverdacht i.S. von § 152 StPO für ein repressives Vorgehen wie auch von konkreten Gefahren im klassischen polizeirechtlichen Sinn. Angetrieben von einer aus strukturellen Gründen prinzipiellen „Unersättlichkeit der Sicherheitsbehörden" 41 können sie in ihrer Intensität immer stärker ausgeweitet und optimiert und in ihrer Vielzahl kumuliert werden; dabei gibt es weder durch genaue Begrenzungen im Gesetz42 noch allgemein klare Kriterien für den Punkt, wo die Vielzahl der einzelnen Maßnahmen umschlägt in eine „neue Qualität", die den freiheitlichen Verfassungsstaat als solchen gefährden könnte. Zweitens liegt in solchen Maßnahmen oft zugleich eine verhaltensbestimmende Belastung für die überwältigende Mehrzahl unbescholtener Mitbürger als Nichtstörern, die in ihrem privaten Verhalten eben auch (mit-)überwacht werden. 43 Die Datei mit Informationen über gewaltbereite „Hooligans" ζ. B. enthält im Zuge präventiver Identitätsfeststellungen auch Daten friedlicher Fußballzuschauer,44 die öffentliche Video-Überwachung trifft auch den harmlosen Passanten, beim Abhören des Telefons werden auch bloße Kontakt- oder Begleitpersonen belauscht. Ist die Vorstellung des Bundesverfassungsgerichts falsch geworden, auch das Verhalten der „normalen" Bürger im Alltag könnte durch eine solche zunehmende Inanspruchnahme von Nichtstören 45 nachhaltig beeinflußt werden? 46 36 Vgl. Trute, Polizei- und Ordnungsrecht (Fn. 35), S. 88 f. m. w. N. 37 Vgl. VGH Mannheim NJW 2000, S. 3658; Rossi, Beschränkungen (Fn. 19), S. 640 ff.; ausf. Breucker, Gewaltprävention (Fn. 19), S. 143 ff. 38 Waechter, Situation (Fn. 25), S. 858; präzise am Beispiel der Bekämpfung der „Hooligans" durch die Datei „Gewalttäter Sport" Ross, Beschränkungen (Fn. 19), S. 640 ff.; a.A. Breucker, Gewaltprävention (Fn. 19), S. 151 ff. 39 Trute, Erosion (Fn. 2), S. 414 f.; tendenziell a.A. O. Müller, Der Abschied von der konkreten Gefahr als polizeirechtliche Eingriffsbefugnis, StV 1995, S. 602 ff. 40 Denninger, Freiheit (Fn. 27), S. 472. 41 Limbach, Sicherheit (Fn. 14), S. 8; s. auch Mosti, Garantie (Fn. 11), S. 235, im Anschluß an Schlink, Bewältigung (Fn. 27), S. 258. 42 Krit. Müller, Abschied (Fn. 39), S. 604 f. 43 Waechter, Situation (Fn. 25), S. 859 f.; Trute, Erosion (Fn. 2), S. 411, 417; Müller, Abschied (Fn. 39), S. 603; s. auch H. W. Alberts, Der Nicht-Störer im bereichsspezifischen Datenschutz, ZRP 1990, S. 147 ff. 44 Rossi, Beschränkungen (Fn. 19), S. 641. 45 SächsVerfGH DVB1. 1996, 1423 (1431, 1437 f.); T. Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, in: N. Achterberg / G. Püttner/T. Würtenberger (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band 2, 2. Aufl. 2000, § 21 Rn. 30.

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3. Von der Alltagskenntnis der Gefahren zur verwissenschaftlichten oder spekulativen Gefahrenbestimmung Das klassische Polizeirecht konnte sich primär aus der Sicht des Polizisten und seiner Kenntnis der gefährlichen Situationen des typischen Alltags an den für den Laien vorhersehbaren Kausal Verläufen vor dem Eintritt von Schadensfällen orientieren: Vielfach auftretende Gefahren erlauben aus früheren Störungen in der Vergangenheit gesicherte Rückschlüsse für die Zukunft unter dem Gesichtspunkt der „hinreichenden Wahrscheinlichkeit" einer Gefahr. 47 Die Unmittelbarkeit der drohenden Gefahr im konkreten Fall verlangte und erlaubte abwehrendes Handeln der Polizei. Mit dem Bedeutungswachstum neuer und eben noch unbekannter Gefahrenszenarien löst sich die Vorhersehbarkeit des Kausalverlaufs von der Alltagserfahrung. Statt dessen werden Prognosen entweder fachwissenschaftlich ermittelt, etwa in Form von Wahrscheinlichkeits- und Risikoanalysen im Umweltrecht oder im Recht der technischen Sicherheit, 48 oder Gefahrvermutungen hinsichtlich unbestimmter und unberechenbarer Risiken werden stärker spekulativ.49 Polizeirecht wandelt sich zum „Risikoverwaltungsrecht"; 50 im Grenzfall soll der Staat Gefahren bekämpfen, die er bestenfalls ahnen, nicht aufgrund von Vorerfahrungen kennen kann. Er muß verstärkt zur Gefahrerforschung Zuflucht nehmen, um mögliche, aber zeitlich und räumlich, personell und sachlich unbestimmte Straftaten zu unterbinden. Der rechtsstaatliche Begriff der Gefahr erodiert 51 und mit ihm mangels eines bekannten Beitrags eines konkreten Individuums auch der Begriff des „Störers". 52

4. Die Einebnung organisations- und verfahrensrechtlicher

Unterschiede

Eine weitere Tendenz der neueren Polizeirechtsentwicklung verbindet sich mit einem Trend zur Zentralisierung der Gefahrenabwehr und zur stärkeren Zusam46 BVerfGE 65, 1 (41 ff.); 100, 313 (359); gleichsinnig Limbach, Sicherheit (Fn. 14), S. 10. 47 Vgl. nur Denninger, Polizeiaufgaben (Fn. 17), Rn. 30 ff.; Gusy, Polizeirecht (Fn. 24), Rn. 110 ff.; B. Drews /G. Wacke/K. Vogel/W. Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 220 ff.; s. auch am Beispiel der Personenkontrolle Möllers, Polizeikontrollen (Fn. 30), S. 383 f. 48 Vgl. K.-H. Ladeur, Risikooffenheit und Zurechnung - insbesondere im Umweltrecht, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 111 ff., 118 ff. 4 9 Denninger, Freiheit (Fn. 27), S. 471 ff.; s. auch am Beispiel der „grenzpolizeilichen Erfahrung" Schütte, Befugnis (Fn. 30), S. 398. 50 R. Pitschas, Polizeirecht im kooperativen Staat, DÖV 2002, S. 221 (224). 51 Trute, Erosion (Fn. 2), S. 406 ff.; Würtenberger, Rn. 30. 52 Trute, Erosion (Fn. 2), S. 410 ff.

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menarbeit der verschiedenen Behörden; auch dieser Trend ist durch Reaktionen auf den 11. September erheblich verstärkt worden. 53 Er zeigt sich auf der europäischen Ebene einer gemeinsamen Sicherheitspolitik mit wachsenden Zuständigkeiten von Europol als zwischenstaatlicher Polizeibehörde (Art. 29 ff. EU) oder Plänen für einen europäischen Haftbefehl, auch in Antwort auf die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität, den Waffen- und Drogenhandel oder die Schleuserkriminalität. 54 Auf innerstaatlicher Ebene führt eine stärkere Zusammenarbeit von Verfassungsschutz, BND und Landespolizei zu Prozessen einer Zentralisierung, 55 die jedenfalls am Beginn der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch verhindert werden sollte und als Trennungsgebot von Polizei- und Nachrichtendiensten grundsätzlich noch gilt. 5 6 Die Nachrichtendienste erhalten zunehmend Aufgaben, die über die Ermittlung von Informationen hinausgehen; sie werden für polizeiliche Aufgaben instrumentalisiert. 57 Umgekehrt wird die dem Bürger grundsätzlich offen gegenübertretende Polizei mit geheimdienstlichen Befugnissen ausgestattet. Diese Funktionsvermischung verunklart früher eindeutige Kompetenzund Funktionsabgrenzungen zwischen Gefahrenabwehr und Verdachtserforschung,58 die zudem im Bereich der Datenerhebung deren Zweckbindung nicht unterlaufen dürfen. 59

III. Wandel des Polizeirechts als Selbstgefährdung des Verfassungsstaates? 1. Prinzipielle

Grenzen einer Verschiebung der Staatszwecke

Ist dieser Wandel des Polizeirechts ein Symptom für eine Selbstgefährdung des Verfassungsstaates? Haben insbesondere die polizei(recht)lichen Reaktionen auf den 11. September diesem Wandel zu einer neuen Qualität verholfen? Die grund53 Vgl. Κ . Nehm, Ein Jahr danach. Gedanken zum 11. September 2001, NJW 2002, S. 2665 (2671). 54 Vgl. Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht (Fn. 17), Rn. 44 ff. m. w. N.; Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 579 ff., 582 ff. 55 Vgl. auch R. Lhotta, Effiziente Kompetenzallokation als institutionenpolitisches Entdeckungsverfahren, Die Verwaltung 36 (2003), S. 177 (185 ff.). 56 BVerfGE 97, 198 (217); 100, 313 (369 f.); Trute, Erosion (Fn. 2), S. 426 f.; C. Gusy, Das gesetzliche Trennungsgebot zwischen Polizei und Verfassungsschutz, Die Verwaltung 24 (1991), S. 467 ff. 57 Vgl. Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 408 ff.; C. Gusy, Polizei und Nachrichtendienste im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität, KritV 77 (1994), S. 242 ff.; E. Denninger, Verfassungsschutz, Polizei und die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, KritV 77 (1994), S. 232 ff. 58 Gusy, Rechtsgüterschutz (Fn. 3), S. 580 f. 59 Vgl. BVerfGE 100, 313 (385 ff.); s. auch R. Müller-Terpitz, Die „strategische Kontrolle" des internationalen Telekommunikationsverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst, Jura 2000, S. 296 ff.

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rechtsdogmatische Konstruktion eines „Grundrechts auf Sicherheit" i.S. einer Schutzpflicht des Staates zur Abwehr von Bedrohungen des Bürgers durch den privaten Dritten 60 und ihre Gewichtung zur zentralen Staatsaufgabe zu Lasten der Aufgabe des Schutzes vor dem Staat verschiebt zunächst nur die Perspektiven. Es steht nun weniger der Störer und seine rechtsstaatliche Bekämpfung, sondern die Opferperspektive im Vordergrund. 61 Das bipolare Spannungsverhältnis zwischen Freiheit des Bürgers und Sicherheit vor dem Staat verschwindet hinter einer multipolaren Zuordnung der Interessen Privater. Dabei wird Sicherheit zum allein zentralen Wert, dem alle Freiheiten nachgeordnet zu sein scheinen.62 Diese Sicht fördert und fordert zugleich möglichst frühzeitige und möglichst umfassende Prävention durch staatliches Handeln - über die herkömmliche Gefahrenabwehr hinaus. Eigenart der Präventionsaufgabe wie jeder finalen Optimierungsaufgabe ist es indessen, tendenziell nie vollkommen erfüllbar und daher prinzipiell grenzenlos zu sein. Der weite Spielraum des Gesetzgebers ermöglicht eine Verstärkung der Anstrengungen des präventiven Schutzes, die stets mit realen und für jedermann potentiellen Freiheitsbeschränkungen verbunden sind; denn die Trennung in rechtstreue Bürger und Straftäter ist immer nur ex post eindeutig. Schon das Ziel oder die Hoffnung eines totalen Schutzes führt in den Polizeistaat als Gegenbild zum westlichen Verfassungsstaat - lassen sich klare Grenzen festlegen, deren Überschreitung den Verfassungsstaat gefährden?

2. Das Extrembeispiel:

Folter im Verfassungsstaat?

Eine offenkundige Grenze für staatliche Sicherheitspolitik scheint das Folterverbot zu sein. Die Anwendung von Folter verstößt nach fast allgemein vertretener Auffassung in Deutschland gegen Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG 6 3 und Art. 1 GG 6 4 und ist auch im internationalen Recht vielfältig geächtet,65 wie nicht zuletzt in der Diskussion um einen Beitritt der Türkei zur EU immer wieder deutlich wird. Ungeachtet dessen gibt es im Blick auf aktuelle Rahmenbedingungen der Terrorismusbe60 Nw. Fn. 14. 61 So Waechter, Situation (Fn. 25), S. 854 f. 62 Deutlich Möstl, Garantie (Fn. 11), bei dem Freiheit und Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat (außer S. 37 ff.) weitgehend vernachlässigt sind; Aulehner, Informationsvorsorge (Fn. 2), S. 310 ff., 328, 428 ff., 446 ff.; krit. Denninger, Freiheit (Fn. 27), S. 472. 63 Vgl. H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), GG III, 2000, Art. 104 Rn. 54 f. m. w. N. 64 Ζ. Β. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG I, 1996, Art. 1 Rn. 80; A. Podlech, in: AK-GG, 3. Aufl. 2001, Art. 1 I Rn. 73; s. aber auch C. Starck, in: H. von Mangoldt/F. Klein/C. Starck, GG I, 4. Aufl. 1999, Art. 1 Rn. 71. 65 Vgl. Art. 5 AEMR, Art. 7 i.V.m. Art. 4 und 10 Abs. 1 IPbpR; das UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafen vom 10. 12. 1984 (BGBl. 1990 II, S. 246) und das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26. 12. 1987 (BGBl. 1989 II, S. 946).

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kämpfung neuerdings Rechtfertigungsversuche. 66 Sie sind im Ergebnis in Deutschland auch weiterhin kaum konsensfähig 67 und stehen außerhalb ernsthafter rechtspolitischer Operationalisierbarkeit. Aber die methodische Art des Denkansatzes erscheint bemerkenswert und symptomatisch: Es wird beispielhaft ein Extremfall konstruiert, in dem eine außerordentlich hohe und eindeutige Bedrohungslage für viele Menschen (ζ. B. durch eine tickende Zeitbombe an unbekanntem Ort) und ein allwissender verhafteter Einzeltäter (ζ. B. als Erpresser) gegenübergestellt werden und die Folgerung nahegelegt wird, im Konflikt des Lebens vieler Unschuldiger mit dem Leben des einzelnen Täters durch dessen durch Folter erzwungene Aussage das Leben der vielen zu retten. 68 Diese Wertung scheint vergleichbar zu sein mit der rechtlichen Zulässigkeit des sog. finalen Rettungsschusses der Polizei als einer „ultima ratio" und erlaubt positivrechtlich die Schlußfolgerung, daß eine Wertungslücke vorliege, die unter den genannten Umständen - methodisch durch teleologische Reduzierung der entgegenstehenden Normen - auch durch Folter geschlossen werden darf und sogar muß. Es geht hier nicht um die juristische Richtigkeit, die logische Konsistenz, die Praktikabilität oder die u.U. kontraproduktiven Folgen eines solchen Ansatzes in der Rechtspraxis, sondern um die gedankliche Konstruktion des Ausgangsbeispiels: Die Ausgangsbedingungen werden so gewählt, daß erstens die Offenheit einer polizeilichen Handlungssituation, wie sie das praktische Polizeihandeln regelmäßig kennzeichnet, durch entsprechende Annahmen weginterpretiert und als sicheres Ereignis angesehen wird und indem zweitens (und vor allem) die absehbaren Folgen (z.B. eines Mißbrauchs in „ähnlichen" zukünftigen Fällen) ausgeblendet werden, statt sie in die Abwägung mit einzubeziehen. Im Ergebnis drängt sich so geradezu alternativlos die Wertung der Zulässigkeit des Folterns auf. Der ungezügelte Wunsch nach Gewährleistung von Schutz und Sicherheit verdrängt dabei die Normalität des Polizeialltags, in dem Zwecke und Mittel konkret und immer wieder neu abzuwägen sind. Eben darin liegt die große Gefahr - daß vor den Hintergrundannahmen der bloßen und weithin fiktiven Möglichkeit solcher Extremsituation auch der polizeiliche Alltag der rechtsstaatlich differenzierten Wertungen beraubt wird. Jede noch so geringfügige Einschränkung des Folterverbots gibt wohl eine konstitutive Errungenschaft des westlichen Verfassungsstaats auf.

66 Vgl. im Anschluß an Entscheidungen des israelischen Supreme Court W. Brugger, Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, JZ 2000, S. 165 ff.; vgl. auch jüngst die Titelfrage der Wochenzeitschrift „The Economist" vom 11./17. 1. 2003, S. 11: „Is torture ever justified?", und Der Spiegel Nr. 9/2003 vom 24. 2. 2003, S. 22 ff.; krit. K. Lüderssen, SZ vom 25. 2. 2003, S. 13. 67 s. nur Isensee, Grundrecht (Fn. 4), S. 46: „Die Folter bleibt für Polizei und Justiz auch dann verboten, wenn sie das einzige Mittel wäre, um ein Menschenleben zu retten". 68 Brugger, Verbot (Fn. 66), S. 165 f.

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3. Die Normalität: Wachsende Freiheitsgefährdung durch Informationseingriffe? Im praktischen Polizeialltag der Gegenwart ist die Normalität von Informationseingriffen weit tiefenwirksamer. Ein Großteil der zunehmenden präventiven polizeilichen Tätigkeit besteht in der informationstechnologischen Ermittlung, Aufbereitung und Verarbeitung personenbezogener Daten,69 d. h. in polizeilicher Gefahren- und Informationsvorsorge als Ausdruck eines Paradigmenwechsels im Polizeirecht. 70 Verbesserte Information durch noch intensiveren Datenaustausch der verschiedenen Sicherheitsbehörden gehört zu den „Lehren aus dem 11. September". 71 Nach den Einsichten des Volkszählungsurteils können aber unter den Bedingungen der modernen Datenverarbeitungstechniken an und für sich scheinbar belanglose Daten in ihrer gezielten Verknüpfung mit anderen Sachzusammenhängen bedeutsam werden. 72 Sie können so ein solches Gewicht erlangen, daß beim Bürger in Unkenntnis der gegebenen Daten und in vager Kenntnis der Möglichkeiten der Informationserhebung Ungewißheit und Verhaltensunsicherheit erzeugt werden mit der Folge, daß er sein Verhalten darauf ausrichtet, nur ja nicht aufzufallen. 73 Jede Datenerhebung des Staates und ihre Verarbeitung in anders gearteten Zusammenhängen ist deshalb eine Beeinträchtigung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung mit einer Eingriffsqualität, die einer je spezifischen gesetzlichen Rechtfertigung für einen bestimmten Zweck bedarf. 74 Diese gesetzliche Ausgestaltung muß selbst die Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel vorentscheiden, soll sie nicht der Polizei als anordnender Instanz ohne rechtsstaatliche Begrenzung überlassen bleiben.75 69 Übersichtlich Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht (Fn. 17), Rn. 244 ff.; Pieroth/ Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht (Fn. 17), §§ 13-15; Albers, Determination (Fn. 17), S. 131 ff.; Κ Waechter, Polizei- und Ordnungsrecht, 2000, Rn. 274 f., 510 ff.; Aulehner, Informationsvorsorge (Fn. 2), S. 78 ff.; s. auch die Beiträge in Bäumler (Fn. 30). - Zu parallelen Tendenzen im Strafprozeßrecht J. Welp, Kriminalpolitik in der Krise, StV 1994, S. 161 (162 ff.); M. Hettinger, Entwicklungen im Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Gegenwart, 1997, S. 67 ff.; s. auch allg. D. Frehsee, Der Rechtsstaat verschwindet, 2003, S. 275 ff., 282 f., 334 ff., 356 ff. u.ö. 70 Albers, Determination (Fn. 17), S. 179 ff., 209 ff.; Aulehner, Informationsvorsorge (Fn. 2), S. 53 f., 74 ff., 95 f. 7 1 So Nehm, Ein Jahr danach (Fn. 53), S. 2671. 72 BVerfGE 65, 1 (45); 100, 313 (358 ff.); s. auch W Achelpöhler/ Η Niehaus, Rasterfahndung als Mittel zur Verhinderung von Anschlägen islamistischer Terroristen in Deutschland, DÖV 2003, S. 49 (50). 73 BVerfGE 100, 313 (359); 65, 1 (43); 27, 1 (6 f.). 74 SächsVerfGH DVB1. 1996, S. 1423 (1427 ff.); zuletzt ausf. Süllesfeld, Videoüberwachung (Fn. 31), S. 113 ff.; C. Gusy, Informationelle Selbstbestimmung und Datenschutz: Fortführung oder Neuanfang?, KritV 83 (2000), S. 52 (53 ff.); s. auch Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 219 ff., 223 ff.; Albers, Determination (Fn. 17), S. 231 ff.; U. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 I (2001) Rn. 176, 182; Groß, Terrorbekämpfung (Fn. 32), S. 4; grdl. B. Schlink, Die Amtshilfe, 1982, S. 169 ff. 7 5 Vgl. BVerfGE 100, 313 (359 ff.); LVerfG MV DVB1. 2000, S. 262 (269).

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IV. Das Beispiel der präventiv-polizeilichen Rasterfahndung 1. Die praktische Bedeutung Die Gewichtsverschiebungen innerhalb eines rechtsstaatlichen Polizeirechts werden beispielhaft an der polizeirechtlichen „Rasterfahndung 4' in Form eines Abgleichs von Informationen aus zwei oder mehreren unterschiedlichen Datenmengen 76 deutlich. Sie wurde in Deutschland nach den terroristischen Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 aktuell; 77 wo sie im jeweiligen Landespolizeirecht (von Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein) nicht vorgesehen waren, wurden die erforderlichen Befugnisgrundlagen 78 binnen weniger Wochen gesetzlich eingeführt. Sie gilt der aussondernden Suche und Eingrenzung von Personen, denen bestimmte, für sich unscheinbare Merkmale eigentümlich sind, von denen die Ermittlungsbehörden vermuten, daß sie für bestimmte potentielle Straftäter charakteristisch sein könnten. Allein in NordrheinWestfalen wurden auf Basis polizeirechtlicher Ermächtigungsgrundlagen die persönlichen Daten von 5 Millionen Männern nach solchen Merkmalen durchgeprüft, die für die New Yorker Attentäter charakteristisch zu sein scheinen, aber für sich keinerlei illegales Handeln anzeigen (männlich, 18-40 Jahre alt, islamische Religionszugehörigkeit, Student oder ehemaliger Student, legaler Aufenthaltsstatus, kriminalpolizeilich nicht aufgefallen, keine eigenen Kinder, finanziell autark mit unregelmäßigen Zahlungseingängen auf dem Konto). 79 Nach Abgleich zahlreicher Dateien (u. a. der Meldeämter, der gesetzlichen Sozialversicherungen, der Kundendateien von Stadtwerken, der Universitäten) blieben allein in diesem Bundesland 11.000 Personen als Merkmalsträger zur weiteren Ausforschung mit den herkömmlichen polizeilichen Mitteln übrig. 80 76

Vgl. H. Bäumler, Informationsverarbeitung im Polizei- und Strafverfahrensrecht, in: Lisken/Denninger (Fn. 17), Kap. J Rn. 198, 256 f.; Albers, Determination (Fn. 17), S. 176 ff.; M. Koch, Datenerhebung und -Verarbeitung in den Polizeigesetzen der Länder, 1999, S. 187 ff.; B. Sokol, Rasterfahndung vor 20 Jahren und heute, in: Bäumler (Fn. 30), S. 188 (189); zur strafprozeßrechtlichen Parallele: M. Siebrecht, Rasterfahndung, 1997, S. 20 ff.; Graf, Rasterfahndung (Fn. 28), S. 98 ff.; P. Wittig, Schleppnetzfahndung, Rasterfahndung und Datenabgleich, JuS 1997, S. 961 (968 ff.); J. Welp, Zur Legalisierung der Rasterfahndung, in: H.-U. Erichsen/H. Kollhosser/J. Welp (Hrsg.), Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 389 (389 f.). 77 Vgl. näher Achelpöhler/Niehaus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 49 ff.; J. Meisters, Die gefahrenabwehrrechtliche Rasterfahndung, JA 2003, S. 83 ff.; C. Gusy, Rasterfahndung nach Polizeirecht?, KritV 85 (2002), S. 474 ff., auch in: Koch (Fn. 27), S. 93 (98 ff.); W. Bausback, Rasterfahndung als Mittel der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung - Notwendigkeit einer Vereinheitlichung der landesrechtlichen Regelungen angesichts des internationalen Terrorismus?, BayVBl. 2002, S. 713 ff.; H. Lisken, Zur polizeilichen Rasterfahndung, NVwZ 2002, S. 513 ff.; s. auch R Gola/C. Klug, Die Entwicklung des Datenschutzrechts in den Jahren 2001/2002, NJW 2002, S. 2431 (2437 f.). 78 Zum Eingriffscharakter vgl. nur Sokol, Rasterfahndung (Fn. 76), S. 190 m. w. N.; Welp, Legalisierung (Fn. 76), S. 392 f., 414. 7 9 Vgl. AG Wiesbaden, DuD 2001, S. 752 (753).

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2. Die Auflösung der Orientierung am Schutz von Rechtsgütern Das herkömmliche rechtsstaatliche Polizeirecht orientiert sich an (abstrakt oder konkret) gefährdeten Rechtsgütern, wie sie im Begriff der öffentlichen Sicherheit zusammengefaßt sind; nur im Bezug auf deren Gefährdung läßt sich die Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen überhaupt bestimmen. Die Rasterfahndung orientiert sich überwiegend am Schutz von Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen oder von Bestand und Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder (z. B. § 26 HSOG), teilweise auch nur an der vorbeugenden Bekämpfung von „Straftaten von erheblicher Bedeutung" (z. B. Art. 44 Abs. 1 BayPAG). Dazu kann auch schon die gewerbsmäßige Begehung von Vermögensstraftaten gehören, in einigen Ländern reichen ohnehin Vergehen mit besonderem Gefährdungspotential für die Allgemeinheit (z. B. § 36 Abs. 1 SächsPolG).81 In der Präzisierung auf der Ebene der Rechtsgüter dürfte allerdings nur scheinbar eine Restriktion liegen. Bei der aus Anlaß der New Yorker Anschläge polizeilich durchgeführten Rasterfahndung blieb unbestimmt, welchem Rechtsgut in der Bundesrepublik Deutschland eine Gefahr drohen soll. Die Sicherheitsbehörden hatten keine Vorstellungen, wo konkret wessen Leib und Leben gefährdet gewesen sein könnte; die Bundesregierung selbst hatte oft erklärt, sie habe keine konkreten Hinweise auf geplante Anschläge in Deutschland. Es gehört geradezu zum Wesen terroristischer Straftaten, wegen ihrer mangelnden Konnexität von Tat und Tatziel präventiv unberechenbar zu sein. 82 Allein die Vorstellung, in Deutschland bislang nicht durch rechtswidriges Handeln aufgefallene Personen mit dem Profil der Täter von New York könnten irgendwo auf der Welt und vielleicht auch in Deutschland erneut ein Attentat dieser Dimension planen, soll danach zu präventiv-polizeilichen Maßnahmen ausreichen - die für den Rechtsstaat kennzeichnenden tatbestandlichen Eingrenzungen für das Handeln der Polizei und ihre Funktion, die Verhältnismäßigkeit des polizeilichen Handelns zu gewährleisten, löst sich indessen auf, wenn jede denkbare Bedrohung für irgendein konkret unbekanntes hochrangiges Rechtsgut ein solches Handeln mit der Eingriffstiefe der Rasterfahndung rechtfertigen kann. 3. Die Vernachlässigung der konkreten Gefahr Auch wenn Art und Zuschnitt des Handelns terroristischer Gewalttäter sich der Eigenart des Terrorismus entsprechend83 stets gegen irgendwelche höchstrangigen 80

Achelpöhler/Niehaus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 56, 57. Zur Parallele des § 98a Abs. 1 StPO vgl. H. Niehaus, Katalogtatensysteme als Beschränkungen strafprozessualer Eingriffsbefugnisse, 2001, S. 149 ff., zsfssd. S. 171 ff.; Siebrecht, Rasterfahndung (Fn. 76), S. 113 ff. 82 Nehm, Ein Jahr danach (Fn. 53), S. 2666. 81

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Vgl. näher D. S. Lutz, Was ist Terrorismus? Definitionen, Wandel, Perspektiven, in: Koch (Fn. 27), S. 9 ff.

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Rechtsgüter richten, so bleiben doch im rechtsstaatlichen Polizeirecht eine konkrete Gefahr im Einzelfall oder Fakten i.S. tatsächlicher Anhaltspunkte, die den Eintritt einer Störung als wahrscheinlich erscheinen lassen, für präventiv-polizeiliches Handeln eine bislang zwingende Voraussetzung.84 Für eine Rasterfahndung auf der Grundlage einer strafprozeßrechtlichen Ermächtigung fehlte es offenkundig an einem strafrechtlichen Anfangs verdacht für die Katalogstraftaten i.S. von § 98a Abs. 1 Nr. 2 StPO, zumal ja gerade auch nach kriminalpolizeilich nicht aufgefallenen Personen, sich legal verhaltenden „Schläfern", gesucht wurde. Auch unter präventiv-polizeilichem Gesichtspunkt konnten schon die bedrohten Rechtsgüter nicht konkretisiert werden; es fehlte an einer bestimmbaren Gefahr im Einzelfall. Die Rasterfahndung vollzog sich gleichsam im Vorfeld einer konkreten Gefahrensituation. 85 Die Rasterfahndung als polizeirechtliche Maßnahme droht sich mithin von der konkreten Gefahr als tatbestandlicher Voraussetzung zu lösen. Die polizeirechtlichen Ermächtigungsgrundlagen verlangen zwar noch überwiegend eine „gegenwärtige" Gefahr (früher auch § 26 HessSOG a.F.), vereinzelt eine „erhebliche" (§ 195a LVwG Schleswig-Holstein), in einigen Bundesländern auch nur eine einfache Gefahr (z. B. Art. 44 BayPAG). 86 Tatsächlich begnügt sich die polizeiliche Rasterfahndung aber mit einer abstrakten Gefahrvermutung: Es gibt weder konkrete Rechtsgüter noch konkrete Gefahren, sondern nur einen abstrakten Gefahrenverdacht; die Rasterfahndung zielt auf die Gewinnung eines Verdachts durch Ausrasterung einer Gruppe von Personen, die in ihrer überwältigenden Mehrzahl unverdächtig sind, deren Individualisierung aber klassische polizeiliche Ermittlungen ermöglichen soll. 87 Entgegen den überkommenen Grundsätzen des Rechtsstaats zählt nun nicht mehr allein, daß sich jemand stets legal verhalten hat und verhält; sondern nun erstreckt sich die Aufmerksamkeit darauf, ob er sich einmal illegal verhalten könnte: Die Informationseingriffe suchen, in analoger Anknüpfung an Kategorien Kants, nach Indizien der Immoralität im Vorfeld der Illegalität. Der Gesetzgeber sucht zwar teilweise nach bewußter konzeptioneller rechtsstaatlicher Disziplinierung, soweit er wie auch sonst bei besonders schwerwiegenden Grundrechtseingriffen oder notstandsähnlichen Lagen 88 auf eine „gegenwärtige" Gefahr abstellt. Indessen bleibt eine solche Gefahr auch dann nicht konkret bestimmt; Gefahrenabwehr tendiert so dazu, mit allgegenwärtig abstrakten Gefah84

Vgl. nur Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht (Fn. 45), Rn. 261. Sie wird z.T. eher als nachrichtendienstliche Aufgabe angesehen, vgl. C. Gusy, Geheimdienstliche Aufklärung und Verfassungsschutz, in: Koch (Fn. 27), S. 93 (97); s. auch Denninger, Verfassungsschutz (Fn. 57), S. 236. 86 Übersichtlich Bausback, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 715; Gusy, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 475 ff. 87 Gusy, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 481 ff., 489: „Verdachtsgewinnungseingriff'; ebenso Hoffmann-Riem, Freiheit (Fn. 15), S. 500. 88 Gusy, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 479 f. 85

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ren die Anwendung von Befugnisnormen zu rechtfertigen, die dadurch ihre rechtsstaatliche Begrenzungsfunktion verlieren. 4. Die spekulative Annahme der Gefahrensituation Der Verlust an rechtsstaatlicher Bestimmbarkeit setzt sich fort bei der Frage, ob eine „gegenwärtige" oder nur eine einfache Gefahr vorliegt. Bei „gegenwärtiger Gefahr" handelt es sich um die nach bisherigen Maßstäben höchste Steigerungsform des Gefahrenbegriffs, 89 bei der die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat oder in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht. 90 Die Kenntnis der Polizei von alltäglichen Gefahrensituationen versagt hier vor den neuartigen terroristischen Gefahren und Szenarien. In dieser Situation führt die Anwendung der polizeirechtlichen Je-Desto-Formel bei der Bestimmung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts91 zu einer Entgrenzung des Verhältnismäßigkeitsmaßstabes, wenn man angesichts der von Terroristen in Kauf genommenen Schäden nur eine geringe Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts verlangt. 92 Die Kommentarliteratur nennt dementsprechend keine Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe.93 Eine solche Argumentationslinie, die auf konkrete tatsächliche Anhaltspunkte verzichtet, ist unwiderlegbar; sie läßt keine Kriterien erkennen, ob und wann bei einem nur vagen Verdacht eine Gefahr jemals fehlen könnte. So sahen die Gerichte denn auch im Blick auf die Gegenwärtigkeit einer Gefahr bloße Vermutungen oder Mutmaßungen von Gefahren teils als ausreichend,94 teils nicht als ausreichend an. 95 Jedenfalls erscheint die Gegenwärtigkeit einer Gefahr 89

Denninger (Fn. 17) Rn. 47; s. auch F.-L. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 9. Aufl. 2002, Rn. 94. 90 BVerwGE 45, 51 (58); Denninger (Fn. 17), Rn. 43; Knemeyer (Fn. 89), Rn. 94; V. Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, 13. Aufl. 2001, Rn. 147; Drews /Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr (Fn. 47), S. 332. 91 Je größer der drohende Schaden, desto geringere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts, vgl. etwa BVerwGE 45, 51 (61); 47, 31 (40); 62, 36 (38 f.); BVerwG NJW 1970, 1890(1892). 92 Vgl. AG Düsseldorf DuD 2001, S. 754 (754 f.); LG Düsseldorf DuD 2001, S. 755; OLG Düsseldorf NVwZ 2002, S. 629 (629); VG Mainz DuD 2002, S. 303 (305); OVG RP DuD 2002, S. 307 (308); krit. Achelpöhler/Niehaus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 54. 93 Vgl. am Bsp. von Art. 44 Bay PAG W. Honnacker/R Beinhofer, PAG, 17. Aufl. 1999, Art. 44 Rn. 1 ff.; G. Berner/GM. Köhler, PAG, 15. Aufl. 1998, Art. 44 Rn. 2; Roese, in: Schmidbauer/Steiner/Roese, Bayerisches Polizeiaufgabengesetz, 1999, Art. 44 Rn. 2. 94 Vgl. Nw. in Fn. 92. - Für Maßnahmen zur Sicherung von Atomkraftwerken läßt sich offenbar nicht begründen, was für den Einsatz der Rasterfahndung ausreichend sein soll, vgl. Achelpöhler/Niehaus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 56. 95 LG Wiesbaden DuD 2002, S. 240 (240 f.); OLG Frankfurt NVwZ 2002, S. 626 (626 f.); LG Berlin DuD 2002, S. 175 (176 f.); zust. Achelpöhler/Niehaus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 54 f.; Groß, Terrorbekämpfung (Fn. 32), S. 3. - In Antwort auf die Schwierigkeiten der Begründung der „Gegenwärtigkeit" der Gefahr haben einige Länder (Hessen, Thüringen) in

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beliebig instrumentalisierbar, um „den politischen Erfordernissen nachzukommen' 4 ; 96 eine Begrenzung der Rasterfahndung auf den Fall einer „gegenwärtigen" Gefahr wird denn auch als entbehrlich angesehen.97 Indessen liegt gerade darin ein Verzicht auf die begrenzende Funktion des klassischen Polizeirechts, 98 wenn man die Rasterfahndung nicht auf Fälle eines inneren Notstandes i.S. einer nicht anders behebbaren akuten Gefahr beschränken will. 9 9 Die Gerichtspraxis sieht in den Attentaten gegen US-Einrichtungen irgendwo auf der Welt eine „Dauergefahr 4', die die deutsche Polizei zum Handeln ermächtigt, 100 oder folgert aus der Feststellung des Bündnis-Falles nach Art. 5 des NATO-Vertrages eine unmittelbar bevorstehende Gefahr. 101 Solche Maßnahmen ähneln aber eher Gefahrerforschungseingriffen, die - wie in Altlastenfällen - erst noch herausfinden sollen, ob eine konkrete Gefahr besteht. Sie sind mit solchen aber nicht identisch, insofern anders als beim Gefahrenverdacht mit einem konkreten Sachverhalt hier weder Taten noch Täter mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu benennen oder zu verorten sind. 102

5. Die Unschärfe bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung Die Auflösung des Rechtsgüterschutzes zu einem abstrakten Sicherheitsstreben, die Entkonkretisierung der Gefahr zu einer abstrakten Prävention und die ungenaue Kenntnis der Wahrscheinlichkeit der Gefahren machen es unmöglich, die verfassungsrechtlich gebotene103 Verhältnismäßigkeit i.S. von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Rasterfahndung als präventiv-polizeilicher Maßnahme wirklich belastbar zu prüfen. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung droht „zu einer normativ haltlosen Abwägung zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichem Sicherheitsbedarf zu verkommen". 104 Die Rasterfahndung ist gewiß Reaktion auf diese Judikatur den Begriff in ihren Ermächtigungsgrundlagen für die Rasterfahndung einfach gestrichen. 96 Bausback, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 721. 97 Bausback, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 722, unter Berufung auf die Rechtslage etwa in Bayern. 98 Groß, Terrorbekämpfung (Fn. 32), S. 5. 99 So Lisken, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 515 f. 'oo So VG Mainz DuD 2002, S. 303 (305); OVG RP DuD 2002, S. 307 (308); zust. Bausback, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 721. ιοί So VG Hamburg DuD 2002, S. 370 (371). 102 Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 214 f.; Trute, Erosion (Fn. 2), S. 408. i° 3 Vgl. nur Schulze-Fielitz (Fn. 5), Rn. 167 ff.; zuletzt W. Krebs, Zur verfassungsrechtlichen Verortung und Anwendung des Übermaßverbotes, Jura 2001, S. 228 ff.; L. Michael, Die drei Argumentationsstrukturen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - Zur Dogmatik des Über- und Untermaßverbotes und der Gleichheitssätze, JuS 2001, S. 148 ff., 654 ff., 764 ff., 866 ff. 104 C. Möllers, Urteilsanmerkung, ThürVBl. 2000, S. 41 (43), unter Verweis auf Neumann, Vorsorge (Fn. 21), S. 102 ff., 115; s. auch Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 235 ff.; Möllers, Polizeikontrollen (Fn. 30), S. 385 f.; Limbach, Sicherheit (Fn. 14), S. 7 f. 28:

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geeignet, den Polizeibehörden mehr personenbezogene Informationen zu geben; doch die Vagheit der konkret zu schützenden Rechtsgüter, die relativ abstrakte Vermutung von Gefahren angesichts weithin unbekannter Gefahrenszenarien und die vagen Verdachtsmerkmale der gesuchten Personen erschweren es, das Mittel der Rasterfahndung in das Verhältnis zu einem konkreten Zweck innerhalb einer gesetzgeberischen Vorgabe zu setzen und zu prüfen. Schon die geringen Fallzahlen und Informationen verbieten die Annahme gesicherter Regelhaftigkeiten, zumal bei so vielen veränderbaren Verhaltensmustern. 105 Das Beispiel der Rasterfahndung nach dem 11. September 2001 stellt uns daher vor konkrete Fragen: Ist die Ermittlung von zigtausenden von Merkmalsträgern 106 geeignet zur Ermittlung von Störern? Kann eine mehrmonatige Prüfung einer fünfstelligen Anzahl von Recherchefällen zur Abwehr „gegenwärtiger" Gefahren geeignet sein? 107 Ist die Einbeziehung auch deutscher Staatsangehöriger erforderlich? 108 Liegen die erforderlichen „tatsächlichen Anhaltspunkte" dafür, daß Verbrechen begangen werden könnten, allein schon in dem Umstand, daß die New Yorker Attentäter zuvor in Deutschland lebten und von hier aus ihren Anschlag planten? Ist die Orientierung an Merkmalen einer unübersehbaren Menge von Personen islamischer Religionszugehörigkeit als einer Bevölkerungsminorität angemessen, von der Verletzung der individuellen negativen Bekenntnisfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Art. 136 Abs. 3 W R V 1 0 9 ganz abgesehen? Ob man die Rasterfahndung im jeweiligen Fall nun für verhältnismäßig hält oder nicht 1 1 0 - die Prüfung scheint einen deutlichen Rückgriff auf Risikobewertungen erforderlich zu machen, die sich einer rational nachprüfbaren rechtlichen Kontrolle entziehen.

6. Die Entdifferenzierung

rechtsstaatlicher

Kontrollen

Die gesetzliche Ausgestaltung der Rasterfahndung führt praktisch in vielen scheinbar unscheinbaren Zusammenhängen zu einer Schwächung verwaltungsinterner wie externer politischer und rechtlicher Kontrollen; diese Entwicklung ist zumindest in der Kombination ihrer Einzelelemente problematisch. 105 Gusy, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 485. 106 Allein in Nordrhein-Westfalen blieben nach Durchführung der Rasterfahndung Anfang 2002 ca. 11.000 Merkmalsträger, in Bayern 2.000 Recherchefälle übrig, vgl. Achelpöhler/ Niehaus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 56. 107 Verneinend Gusy, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 487 ff., 490; Groß, Terrorbekämpfung (Fn. 32), S. 4 f.; Lisken, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 515; s. bereits Sokol, Rasterfahndung (Fn. 76), S. 192 f. los Verneinend OLG Düsseldorf NVwZ 2002, S. 631. 109 Dazu Groß, Terrorbekämpfung (Fn. 32), S. 5 f.; s. auch Κ Globig, Die LohengrinKlausel des Grundgesetzes, ZRP 2002, S. 107 ff. no Für letzteres Achelpöhler/Niehaus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 56 f.

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a) Aufhebung der „Gewaltenteilung in der Verwaltung" Die Verwendung von personenbezogenen Daten zu ganz anderen Zwecken als denen, für die sie zunächst erhoben worden sind, unterläuft die kompetenzielle Trennung bei der Datenerhebung. Von einer „Gewaltenteilung in der Verwaltung" 111 durch Trennung von Datenbeständen kann insoweit keine Rede mehr sein, wenn unterschiedliche Dateien (ζ. B. die Studentenverzeichnisse der Universitäten, aber auch grundsätzlich aller privaten Unternehmen - vgl. § 15 BDSG - ) erfaßt und polizeilich verarbeitet werden. Die Streubreite der Rasterfahndung, d. h. die Erfassung überaus zahlreicher und zum größten Teil völlig unverdächtiger Bürger und die Heimlichkeit der Datenverarbeitung sind von weitreichender Eingriffstiefe; 1 1 2 sie drohen eben jene Ungewißheit zu erzeugen, die das freiheitliche Klima eines offenen Verfassungsstaats nachhaltig gefährden könnte. Das gilt auch dann, wenn die Daten der Personen erfaßt, aber nicht unbedingt gespeichert werden, weil sie den vorgegebenen Rastern nicht entsprechen.

b) Entgrenzung von Kompetenzen Ein weiterer Verlust an Kontrollbalance verbindet sich mit der Entgrenzung der polizeilichen Kompetenzen infolge von Europäisierung und Globalisierung: Es geht nicht mehr nur um die präventive Abwehr von Gefahren für hochrangige Rechtsgüter im jeweiligen Bundesland, sondern auch für solche außerhalb von dessen Grenzen oder auch der Grenzen Deutschlands,113 obwohl Bundespolizeibehörden das Instrument der Rasterfahndung bislang gerade nicht zur Verfügung steht. 114 So soll möglicherweise aus Art. 1 Abs. 2 GG, jedenfalls aber aus dem Weltrechts- und dem passiven Personalitätsprinzip (§§ 6, 7 Abs. 1 StGB) die Zulässigkeit auch der präventiven Bekämpfung von Gefahrenlagen, auch wenn sie sich außerhalb Deutschlands verwirklichen, durch die Landespolizei (von Rheinland-Pfalz) zur weltweiten Verwirklichung der Menschenrechte folgen, 115 was alle Zuständigkeitsgrenzen präventivpolizeilichen Handelns sprengt. c) Organisations-, Verfahrens- und Rechtsschutzschwächen In Anerkenntnis der Eingriffstiefe der Rasterfahndung wird deren Anordnung teils einem Behördenleitervorbehalt (teilweise unter Zustimmungspflicht des Inni Schlink, Amtshilfe (Fn. 74), S. 11 ff., 31 ff., 62 ff. h 2 A.A. z. B. W.-R. Schenke, Verfassungsrechtliche Probleme polizeilichen Gewahrsams und polizeilicher Informationseingriffe, DVB1. 1996, S. 1393 (1400). 113 Achelpöhler/Niehaus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 54. 114 Vgl. Gusy, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 477. us VG Mainz DuD 2002, S. 303 (305); OVG RP DuD 2002, S. 307 (308); zust. Bausback, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 721 ; krit. Achelpöhler/Niehaus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 55.

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nenministers), 116 teils einem Richtervorbehalt 117 unterworfen. Überdies bestehen in den meisten Ländern Pflichten zur Benachrichtigung der Datenschutzbeauftragten des Landes zur Ermöglichung zusätzlicher interner Kontrollen. 118 Solche verfahrensrechtlichen Vorbehalte bei der Rasterfahndung 119 sind eine unabdingbare Kompensation für den Verlust an Bestimmtheit der materiellen gesetzlichen Erlaubnisvoraussetzungen. Dennoch kann mit einer konkreten Ausgestaltung eine deutliche Schwächung der herkömmlichen verfahrensrechtlichen Sicherungen verbunden sein. Soweit (wie in fünf Ländern) ein Richtervorbehalt für den Amtsrichter vorgesehen ist, führt dieser nach § 19 FGG zur ordentlichen Gerichtsbarkeit, die möglicherweise mit der verwaltungsrechtlichen Normalität des Polizeirechts nicht vertraut ist, keine Prüfung erledigter polizeilicher Maßnahmen kennt und den Richtervorbehalt eher als bedeutungslose Routine ohne jede Effektivität der Kontrolle erscheinen läßt. 120 Aber auch soweit (wie in elf Ländern) nur ein Behördenleitervorbehalt besteht und dieser zum repressiven Rechtsschutz durch die allgemeine Verwaltungsgerichtsbarkeit führt (z. B. Art. 44 Abs. 2 S. 1 BayPAG), fehlt es an einer vorherigen gerichtlichen Kontrolle durch unabhängige Dritte, wenn die Betroffenen, wie in der Regel, gar nichts von einem Informationseingriff erfahren; die Rechtsweggarantie des Art. 19 Abs. 4 GG wird so unterlaufen. 121 Kommt es im Ausnahmefall zu einer Klage, so führt die Aufhebung der Anordnung der Rasterfahndung - anders als beim Richtervorbehalt - nur zu einem Urteil inter partes, 122 ohne daß die Rasterfahndung im übrigen abgebrochen werden müßte. Solche Rechtsschutzprobleme verdeutlichen rechtsstaatliche Schwächen der Rasterfahndung.

us Vgl. z. B. Art. 44 Abs. 2 S. 1 BayPAG. ι· 7 Vgl. z. B. § 31 Abs. 4 PolG NW. •ι» Vgl. z. B. § 47 Abs. 4 S. 7 ASOG Berlin; Art. 44 Abs. 2 S. 2 BayPAG; s. ζ. B. näher den Bericht des Berliner Datenschutzbeauftragten zum 31. 12. 2002. 119 Übersichtlich Bausback, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 716 f.; Gusy, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 476 f. 12° Vgl. Achelpöhler/Niehaus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 52 f., denen zufolge bei den strafprozeßrechtlichen Grundrechtseingriffen noch nie ein Antrag der Verfolgungsbehörden abgelehnt worden sein soll (schon weil das Anordnungsverfahren nicht auf das Pensum des Richters angerechnet werde); Bausback, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 722; F. Dencker, Organisierte Kriminalität und Strafprozeß, in: H.-J. Albrecht u. a., Organisierte Kriminalität und Verfassungsstaat, 1998, S. 41 (55); Welp, Kriminalpolitik (Fn. 69), S. 163. Immerhin haben durchweg ordentliche Gerichte Einwände gegen die Rasterfahndung erhoben, vgl. Nw. in Fn. 95. 121 Krit. Achelpöhler/Niehaus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 52. 122 Achelpöhler/Nie haus, Rasterfahndung (Fn. 72), S. 51.

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V. Allgemeine rechtspolitische Folgerungen Läßt sich solchen Tendenzen zur problematischen Schwächung rechtsstaatlicher Determinationskraft gegensteuern? Neuere affirmative Überlegungen verzichten leichthin darauf und geben im Namen eines Wandels der Sicherheitsaufgabe unter Loslösung von „engen liberalstaatlichen Grenzen und Formen" der überkommenen Dogmatik des Gefahrenabwehrrechts 123 den Gefahrenbegriff für Vorfeldbefugnisse auf, 124 verzichten auf eine Straftat als Anlaß- und Bezugspunkt polizeilicher Informationstätigkeit,125 stellen so implizit auf einen faktischen Konsens der Polizeipraxis über die Evidenz von möglichen Gefahren ab und begnügen sich mit dem Zirkelschluß, daß das Informationsinteresse von einem Gewicht sein muß, das den Informationseingriff rechtfertigt, 126 oder daß ohne eine Informationsvorsorge „keine hinreichende Aussicht" bestehen dürfe, konkrete Gefahren rechtzeitig zu erkennen. 127 Die Bestimmung des „Gewichts" und der „hinreichenden Aussicht" ist indessen gerade das rechtsstaatliche Problem - auf sie verzichten bedeutet, die rechtsstaatliche Pflicht des Gesetzgebers aufzugeben, rechtliche Eingriffe klar und nachvollziehbar durch gesetzliche Kriterien zu determinieren. Parallel werden Informationseingriffe als qualitativ andersartige, dienende Hilfstätigkeiten vom klassischen Polizeirecht materiell unterschieden 128 und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als überschätzt und Fehlentwicklung einschränkend interpretiert. 129 Wer gegenüber solchen „realistischen" oder „praxisnahen" theoretischen Verzichtsleistungen am emphatischen Anspruch des rechtsstaatlichen Verfassungsstaats festhalten will, muß vielschichtig - vor allem kompensatorisch - ansetzen: Es gibt dann keine Patent-Antwort, aber vielleicht einen Instrumentenkasten mit einer Vielzahl von - für sich nur begrenzt wirksamen - Mitteln, die der Gesetzgeber politisch zu diskutieren hat und differenziert einsetzen kann.

7. Präzisierung

von gesetzlichen Eingriffsvoraussetzungen

Es gehört zu den herkömmlichen Forderungen einer rechtsstaatssensiblen Rechtspolitik, dem Gesetzgeber aufzugeben, die Eingriffsvoraussetzungen im Namen des rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgrundsatzes oder der Normenklarheit 130 •23 So zuletzt Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 17 ff. (Zitat: S. 19), 217 ff.; s. auch Aulehner, Informationsvorsorge (Fn. 2), S. 512 ff. 124 Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 19, 210 ff., 217, 225, 231 u.ö. 125 Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 214 f., 217. 126 Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 211. 127 Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 226. 128 Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 198 ff. 129 Vgl. Aulehner, Informationsvorsorge (Fn. 2), S. 5, 98 ff., 105, 372 ff., 399 ff., 448 ff. 130 Übersichtlich (auch zu den Unterschieden) Schulze-Fielitz (Fn. 5), Rn. 117 ff., 129 ff.; speziell E. Denninger/T. B. Petri, Normenklarheit und Normbestimmtheit im Polizeirecht Sieben Thesen, in: Bäumler (Fn. 30), S. 13 ff.

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präziser zu bestimmen. Das ist aber gerade im diffusen Vorfeldbereich der Gefahrenabwehr besonders schwierig und z.T. unmöglich, „wenn das Schutzgut nicht eindeutig definierbar ist, wenn Anhaltspunkte bestimmter Gefahrenlagen fehlen und wenn völlig offen ist, wer als Aggressor in Betracht kommt". 131 Eine Eingrenzung der Rasterfahndung ζ. B. durch Katalogstraftaten (etwa mit einer weniger großzügigen Aufnahme von Vermögensstraftaten) 132 bliebe bei der polizeilichen Bekämpfung von Attentätern wie denen vom 11. September weithin bedeutungslos. Ähnliches steht auch für eine Qualifizierung der Gefährdungslagen und Verdachtsgrade zu befürchten. 133 Ohnehin stoßen enge Eingriffsvoraussetzungen regelmäßig auf Einwände der Polizeipraxis. Dennoch gibt es durchaus Möglichkeiten, die Bestimmtheit der Eingriffsvoraussetzungen rechtsstaatlich zu optimieren; schon die vielfältigen Unterschiede der Regelungen der Landespolizeigesetze sprechen dafür, daß diese unterschiedlich gut rechtsstaatlichen Anforderungen gerecht werden (können). Es ist keine „Überhöhung" ζ. B. des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, vom Gesetzgeber eine Festlegung von Eingriffsvoraussetzungen über die bloße Existenz einer Gefahr hinaus zu verlangen. 134 Der Rechtsstaat verlangt hier weitere präzise Überlegungen im Detail, 135 wie sie auch schon in der landesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gefordert worden sind. 136 So läßt sich ζ. B. bei der Rasterfahndung der Abgleich mit personenbezogenen Daten, die einem Amts- oder Berufsgeheimnis unterliegen, relativ eindeutig gesetzlich begrenzen (so z. B. § 45a Abs. 1 S. 1 NGefAG), 137 für Zusammenhangsdaten ein Verwendungsverbot normieren (so z. B. § 31 Abs. 2 S. 2 PolG NW) und die Voraussetzungen der Gebote zur Löschung der Daten - namentlich über Dritte und Kontakt- und Begleitpersonen - präzise bestimmen (z. B. § 31 Abs. 3 S. 1 PolG NW). Auch der Schutz von Vertrauensverhältnissen (ζ. B. Mandanten Verhältnisse) ist besonderer Regelung zugänglich. 138 Stets sind die Folgen rechtswidriger Informationseingriffe für die Behandlung der Daten normierbar. 139

'31 Hoffmann-Riem, Freiheit (Fn. 15), S. 499. '32 Dafür Groß, Terrorbekämpfung (Fn. 32), S. 10 f.; s. auch allg. Albers, Determination (Fn. 17), S. 297 ff.; Koch, Datenerhebung (Fn. 76), S. 59 ff.; Trute, Erosion (Fn. 2), S. 416. '33 Vgl. BVerfGE 100, 313 (394 ff.); Koch, Datenerhebung (Fn. 76), S. 78 ff. 134 Vgl. aber Bausback (Fn. 77), S. 722 betr. die Rasterfahndung. 135 Albers, Determination (Fn. 17), S. 275 ff., 295 ff.; Hoppe, Vorfeldermittlungen (Fn. 34), S. 184 ff., 196 ff. 136 Vgl. SächsVerfGH DVB1. 1996, S. 1423 (1428 ff.); LVerfG MV DVB1. 2000, S. 262 (264 ff.). 137 Groß, Terrorbekämpfung (Fn. 32), S. 5, unter Berufung auf SächsVerfGH, DVB1. 1996, 1423 (1431 f.); Trute, Polizei- und Ordnungsrecht (Fn. 35), S. 93; das gilt, selbst wenn eine Normierung nur deklaratorisch sein sollte, vgl. Schenke, Probleme (Fn. 112), S. 1397 f. '38 Trute, Erosion (Fn. 2), S. 417 f. 139 Allg. Albers, Determination (Fn. 17), S. 329 ff.

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2. Prozeduralisie rung als Schranke unbegrenzter Auslegung Wo die materiellen Maßstäbe im Gesetz aus zwingenden Gründen oder mangels ausreichender verallgemeinerungsfähiger Erfahrungen nicht ausreichend präzisierbar sind, sind kompensatorisch verfahrensrechtliche Ausgestaltungsoptionen zu beachten. Solche Organisations- und Verfahrensregeln verstärken die Selbst- oder die Außenkontrolle polizeilichen Handelns. Wo das materielle Polizeirecht seine rechtsstaatlichen Konturen verliert, bedarf es von Verfassungs wegen einer prozeduralen Kompensation.140 Rechtspolitik hat von vornherein nicht nur die Ziele und die neuen Instrumente, sondern auch ihre freiheitsschonenden Modalitäten in den Blick zu nehmen. Insoweit lassen sich verschiedene Typen der Prozeduralisierung erkennen. a) Schon das gesetzlich deklaratorische Gebot einer Alternativenprüfung, ob eine Abwehr der Gefahr nicht auf andere Weise ebenso erfolgversprechend oder möglich wäre, könnte für eine Erforderlichkeitsprüfung sensibilisieren (vgl. ζ. B. § 36 i Abs. 1 S. 2 BremPolG betr. die Rasterfahndung). Solche Subsidiaritätsprüfungen werden gefördert durch eine zeitliche Befristung von Maßnahmen mit Prüfungspflichten vor einer Verlängerung. 141 b) Weiterhin kann man möglicherweise von anderen Rechtsgebieten lernen, etwa vom Umweltrecht. Auch dort hat das Vorsorgeprinzip die Maßstäblichkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ähnlich geschwächt wie es der Gedanke der Informationsvorsorge im Polizeirecht tut (so sehr im Umweltrecht der Bezug auf externen technischen Sachverstand eine disziplinierende Wirkung hat). 142 Vielleicht bedarf es deshalb ähnlich wie bei Vorsorgeanforderungen im Immissionsschutzrecht 143 - soweit möglich - auch bei großflächigen Informationseingriffen einer vorherigen Erarbeitung rational nachvollziehbarer Konzepte durch die Exekutive als Voraussetzung für die Verhältnismäßigkeit des polizeilichen Handelns.144 c) Auch verwaltungsinterne Kontrollen können möglicherweise für Probleme sensibilisieren, 145 auch wenn man ihre Wirksamkeit bezweifeln mag. Beispiele •40 Vgl. BVerfGE 65, 1 (46); 100, 313 (361 f.); SächsVerfGH DVB1. 1996, 1423 (1432 ff.); Groß, Terrorbekämpfung (Fn. 32), S. 11; Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 240; Trute, Polizeiund Ordnungsrecht (Fn. 35), S. 93; Neumann, Vorsorge (Fn. 21), S. 180 ff.; krit. Bausback, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 722 f.; H. Lisken/R. Mokros, Richter- und Behördenleitervorbehalte im neuen Polizeirecht, NVwZ 1991, S. 609 (613 f.). 141 Vgl. Albers, Determination (Fn. 17), S. 305 ff., s. auch S. 280 ff. 142 Trute, Erosion (Fn. 2), S. 410. 143 BVerwGE 69, 30 ff. 144 Trute, Erosion (Fn. 2), S. 410, 423, unter Verweis auf K.-H. Ladeur, Recht und Verwaltung, in: K. Dammann/D. Grunow/H.P. Japp (Hrsg.), Die Verwaltung des politischen Systems, FS Niklas Luhmann, 1994, S. 99 ff.; gleichsinnig Möllers, Polizeikontrollen (Fn. 30), S. 386 f.; s. auch Aulehner, Informationsvorsorge (Fn. 2), S. 525 ff.; zurückhaltend Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 200 ff., 239, 255 ff. 145 Allg. Albers, Determination (Fn. 17), S. 344 ff.

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sind die Dienststellen- oder Behördenleitervorbehalte bei der Rasterfahndung (bis hin zu Ministervorbehalten), 146 die Pflichten zur Benachrichtigung der Datenschutzbeauftragten, aber auch nachwirkende Pflichten von Landespolizeibehörden, für die Rechtmäßigkeit des vom BKA durchgeführten Datenabgleichs147 mit den diesem gelieferten personenbezogenen Daten zu sorgen. 148 Zu denken ist an Regeln über Speicherfristen und interne Prüfungstermine. 149 Bei Überwachungsmaßnahmen kann eine On-line-Überwachung (statt automatischer Bandgeräte) Eingriffsfolgen minimalisieren, indem ein Anhören offensichtlich irrelevanter oder geschützter Gespräche unverzüglich beendet werden könnte. 150 Pflichtenverstöße könnten durch strafprozeßrechtliche Verwertungsverbote sanktioniert werden, so daß die Wichtigkeit ihrer Vermeidung auch praktisch deutlich wird. d) Solche verwaltungsinternen Kontrollen bleiben freilich der internen polizeilichen Realitätswahrnehmung verhaftet. Zu fragen ist, da eine Betroffenenpartizipation naturgemäß ausfällt, nach begleitenden institutionellen Formen der Einbeziehung von Perspektiven unabhängiger Dritter als „Kontrastorgane", etwa durch vorherige Einbeziehung von Datenschutzbeauftragten oder anderen Formen von Ombudsleuten als Repräsentanten von Eingriffsbetroffenen. 151 e) Eine Steigerungsform mögen Richtervorbehalte (vor der polizeilichen Anordnung) sein, 152 sei es ortsnah beim einzelnen Amtsrichter, sei es „hochgezont" beim Senat eines Oberlandesgerichts als kollektivem Spruchkörper. Das Kontrollpotential von Richtervorbehalten ist zwar umstritten. 153 Sie sind jedenfalls dort zweckmäßig, wo ein nachträglicher Rechtsschutz leicht zu spät oder gar nicht zum Zuge kommt. f) Denkbar sind auch spezifisch parlamentarische Kontrollformen polizeilichen Handelns 154 und auch Berichtspflichten gegenüber dem Parlament. 155 g) Weiterhin bedarf es der gesetzlichen Normierung von nachträglichen Unterrichtungspflichten, sei es der Betroffenen (ζ. B. in Hamburg), sei es parlamentarischer Gremien (ζ. B. in Schleswig-Holstein) durch die Behörden; solches ist nur in 146 Trute, Erosion (Fn. 2), S. 425 f.; zurückhaltend Lisken/Mokros, Richter- und Behördenleitervorbehalte (Fn. 140), S. 610 ff.; s. auch Albers, Determination (Fn. 17), S. 308 f. 147 Dem BKA fehlt eine eigene Befugnis für Massenerhebungen zur Rasterung, vgl. Lisken, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 514. 14« So OVG Bremen vom 8. 7. 2002, zit. bei Bausback, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 720. 149 Albers, Determination (Fn. 17), S. 315 f.; allg. zur Berichtigung, zum Löschen und Sperren von Daten Koch, Datenerhebung (Fn. 76), S. 268 ff. 150 Vgl. Welp, Kriminalpolitik (Fn. 69), S. 163.

151 Albers, Determination (Fn. 17), S. 309; Trute, Erosion (Fn. 2), S. 412, 419 ff. 152 Lisken /Mokros, Richter- und Behördenleitervorbehalte (Fn. 140), S. 609 ff.; krit. Bausback, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 722 f. 153 Vgl. Schulze-Fielitz (Fn. 63), Rn. 19; B. Asbrock, Der Richtervorbehalt - prozedurale Grundrechtssicherung oder rechtsstaatliches Trostpflaster?, ZRP 1998, S. 17 ff. 154 Vgl. SächsVerfGH DVB1. 1996, S. 1423 (1435 f.); Trute, Erosion (Fn. 2), S. 424 f. 155 Vgl. allg. Koch, Datenerhebung (Fn. 76), S. 238 ff.

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einzelnen Ländern vorgesehen. 156 Es darf im Geltungsbereich von Art. 19 Abs. 4 GG nicht hingenommen werden, daß unter irreführender Berufung darauf, Datenschutz dürfe nicht zum Täterschutz werden, Betroffene von Informationseingriffen nach Abschluß der Maßnahmen nicht unterrichtet und so rechtsschutzlos gestellt werden dürfen, 157 sondern es ist ein angemessenes Kontrollniveau geboten. h) Schließlich könnte in solchen Fällen eine gegenüber sonstigen Ermessensnormen erhöhte Prüfungsintensität der gerichtlichen Kontrolle geboten sein. 158

3. Zeitliche Flexibilisierung

des Polizeirechts

Die rechtsstaatliche Erosion des Polizeirechts ist vor allem auch Folge gesetzgeberischer Novellen, zuletzt im Angesicht der Anschläge des internationalen Terrorismus. Sie sind sachlich eine Antwort auf einen aktuellen Ausnahmezustand,159 der zur Normalität i.S. eines Status quo ante zurückführen könnte. Polizeirecht sollte dem durch eine stärkere zeitliche Flexibilität gerecht zu werden suchen. Einerseits sollte man gerade in akuten Krisensituationen die katechontische Funktion des Gesetzgebungsverfahrens nicht überspielen; die normale Verfahrensdauer dient einem Rationalitätsgewinn,160 den gesetzgeberische „Schnellschüsse'4 oft gerade zunichte machen. Zwar wird man kaum verfassungsrechtlich belastbare Gebote in Form von Sachaufklärungs- oder Begründungspflichten bei der inhaltlichen Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens finden. 161 Aber im politischen Prozeß muß das Parlament die Transparenz der Gründe herstellen und die Regierung bzw. die Mehrheit zu genauen Begründungslasten zwingen. 162 Den Tendenzen zur Selbstentmachtung des Parlaments 163 muß durch die Politiker gegengesteuert werden. 156 Vgl. Groß, Terrorbekämpfung (Fn. 32), S. 4; allg. Albers, Determination (Fn. 17), S. 336 ff.; Koch, Datenerhebung (Fn. 76), S. 196 ff. 157 So aber BayVerfGH DVB1. 1995, S. 347 (352 f.); tendenziell a.A. BVerfGE 96, 27 (40); 100, 313 (364 f.); BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats) DÖV 2001, S. 777 (777 f.; 778 f.); SächsVerfGH DVB1. 1996, S. 1423 (1432 ff.); Trute, Polizei- und Ordnungsrecht (Fn. 35), S. 93 f.; Müller, Abschied (Fn. 39), S. 606; differenzierend Schenke, Probleme (Fn. 112), S. 1394 f., 1400. 158 Vgl. zur Parallele verdachtsunabhängiger Polizeikontrollen Möllers, Polizeikontrollen (Fn. 30), S. 387. 159 Waechter, Situation (Fn. 25), S. 861. 160 Vgl. H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 397 ff. u.ö.

i 6 · Vgl. aber auch Groß, Terrorbekämpfung (Fn. 32), S. 11 ff.; zurückhaltender SchulzeFielitz, Theorie (Fn. 160), S. 177 ff., 180 ff. m. w. N. 162 Vgl. Schulze-Fielitz, Theorie (Fn. 160), S. 383 ff.; ausf. U. Kischel, Die Begründung, 2003, S. 260 ff. 163 Vgl. M. Herdegen und M. Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), S. 7 (21 ff.) bzw. - zurückhaltender - S. 39 (44 f., 58 ff.).

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Andererseits muß der Gesetzgeber zu einem gewissen Grad experimentieren dürfen 164 mit der Konsequenz, daß neue Regeln und Ermächtigungen überprüfbar und reversibel sein sollten; eine Befristung solcher Ermächtigungsnormen könnte eine Rückkehr zur Normalität offenhalten, so wie die Befristung der neuesten AntiTerror-Gesetze auf fünf Jahre zu einer Evaluation der Instrumente führen könnte. 1 6 5 Die evaluative Qualitätskontrolle gerade auch von Sicherheitsgesetzen muß tendenziell verstärkt werden. 166

4. Staatliche Hinnahme von Risiken Alle rechtsstaatlichen Bemühungen müssen sich eine zentrale Einsicht vergegenwärtigen: Der Staat kann stets nur einen begrenzten Standard an Sicherheit gewährleisten: 167 „Totale" Sicherheit, zumal bei terroristischen Straftätern, ist durch das Polizeirecht weder erreichbar noch zu wünschen.168 Einerseits folgt aus dem staatlichen Gewaltmonopol unabdingbar ein Leistungsanspruch eines jeden Bürgers gegen den Staat auf einen Mindestschutz durch die staatliche Polizei; andererseits hat jeder Bürger einen Abwehranspruch auf Schutz vor zu weitgehender Inanspruchnahme (als Störer wie als Nicht-Störer) durch die staatliche Polizei nach Maßgabe des Übermaß Verbotes. Das jeweilige Niveau des Leistungs- wie des Abwehranspruchs ist in der Feinabstimmung durch den politischen Gesetzgeber festzulegen. Der staatliche Sicherheitsaufwand muß enden, wo der (letztlich unbegrenzt steigerungsfähige) polizeilich-sicherheitsrechtliche Aufwand präventivpolizeilicher Überwachung in seinen Aus- und Vorwirkungen die Freiheitlichkeit des Gemeinwesens auf eine Weise beschränkt, die den gerade durch bürgerliche Freiheitsentfaltung konstituierten Vorsprung des westlichen Verfassungsstaats gegenüber geschlossenen und repressiven Alternativen hinfällig werden läßt.

164

Trute, Erosion (Fn. 2), S. 415 f.; allg. H. Schulze-Fielitz, Zeitoffene Gesetzgebung, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 139 (162 ff.); H.-D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989. >65 Limbach, Sicherheit (Fn. 14), S. 8 f. 166 Vgl. SächsVerfGH DVB1. 1996, S. 1423 (1434); Hoffmann-Riem, Freiheit (Fn. 15), S. 500; Albers, Determination (Fn. 17), S. 311; H. Bäumler, Wo bleibt die Qualitätskontrolle der polizeilichen Datenverarbeitung?, DuD 1998, S. 314 ff.; H. Borgs-Maciejewski, Zur parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste, ZRP 1997, S. 361 ff.; s. als Beispiel (zur geringen präventiven Erfolgsquote lageabhängiger Kontrollen des BGS) Schütte, Befugnis (Fn. 30), S. 396 f. 167 Waechter, Situation (Fn. 25), S. 860. 168 Hoffmann-Riem, Freiheit (Fn. 15), S. 501; Denninger, Freiheit (Fn. 27), S. 468 f.; Nehm, Ein Jahr danach (Fn. 53), S. 2666, 2671; Listen, Rasterfahndung (Fn. 77), S. 515; Gusy, Polizeirecht (Fn. 24), S. IV f.; ders., Rechtsgüterschutz (Fn. 3), S. 579, 581.

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5. Staatliche Pflege des Sicherheitsgefühls

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der Bürger?

Das Ausmaß und die Intensität polizeilicher Prävention besonders auch in Form der „Informationsvorsorge" wird nicht nur von der objektiven Sicherheitslage, sondern auch durch das subjektive (Un-)Sicherheitsgefühl der Bürger bzw. der Öffentlichkeit geprägt. Das Wachstum des privaten Sicherheitsgewerbes 169 soll Ausdruck des gestiegenen Bedrohungsgefühls der Bevölkerung und den Zweifeln an der Fähigkeit der Polizei zur ausreichenden Gewährleistung der staatlichen Sicherheitsaufgabe sein. 170 Auch wenn für das Unsicherheitsgefühl Einbrüche und Überfälle in der eigenen Wohngegend ausschlaggebend sind, 171 so können wohl auch die auf Kriminalität und Gewalt überproportional zur Normalität ausgerichteten Inhalte der Massenmedien solches fördern. 172 Indessen ist in Deutschland die Kriminalitätsfurcht langfristig eher gesunken und erst in der Umbruch-Phase der 90er Jahre vorübergehend gestiegen,173 ohne daß das seit 1994 wieder rückläufige Unsicherheitsgefühl 174 der objektiven Sicherheitslage entsprechen müßte. Möglicherweise ist auch die staatliche Pflege des Sicherheitsgefühls als Kompensation für objektive Verzerrungen der Realität gerade in aufgeregten Zeiten neuartiger Kriminalitätsformen eine zunehmend wichtigere Staatsaufgabe, so sehr diese selbst präventiven Charakter hat. Von der stärkeren Informationsarbeit als Aufklärung bis zur auch bloß symbolischen Präsenz des Staates reicht ein breites Spektrum unausgeloteter Möglichkeiten. Jedenfalls schadet ein von massenmedialen Diskussionen aufgewühltes öffentliches Klima einer ausgewogenen Rechtspolitik.

VI. Ausblick: Die poröse Grenze der Verfassungskultur Alle vorgenannten Elemente der verfassungsstaatlichen Disziplinierung polizeilichen Handelns unter den Bedingungen nur sehr beschränkt eingrenzbarer Prävention sind eingebettet in ihre auch verfassungskulturell sensible Handhabung durch Polizeibehörden und Gerichte. Auch insoweit geben die deutschen Erfahrungen nur begrenzt Anlaß zu der Hoffnung, die praktizierte Verfassungskultur könnte die 169

Vgl. näher Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht (Fn. 17), Rn. 22 ff. m. w. N. Möstl, Garantie (Fn. 11), S. 291; Gusy, Polizei und private Sicherheitsdienste im öffentlichen Raum, VerwArch 92 (2001), S. 344 (353 ff.); R. Pitschas, Gefahrenabwehr durch private Sicherheitsdienste?, DÖV 1997, S. 393 (394). 171 K. Dörmann / M. Remmers, Sicherheitsgefühl und Kriminalitätsbewertung, 2000, S. 45 ff. u.ö. - Zur fehlenden Korrelation von statistischer Kriminalitätsbelastung und Kriminalitätsfurcht zuletzt J. Wurtzbacher, Sicherheit als gemeinschaftliches Gut, Leviathan 31 (2003), S. 92 (97 ff.). •72 Vgl. Frehsee, Rechtsstaat (Fn. 69), S. 397 ff. 170

173 K.-H. Reuband, Veränderungen in der Kriminalitätsfurcht der Bundesbürger 1965-1993, in: G. Kaiser/J.-M. Jehle (Hrsg.), Kriminologische Opferforschung, 1995, S. 37 ff. 174 Dörmann/Remmers, Sicherheitsgefühl (Fn. 171), S. 26 ff.

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Spielräume rechtlichen Ermessens zugunsten des Bürgers limitieren. Dagegen spricht etwa die empirisch belegte Tatsache, daß Deutschland im Bereich der Telefonüberwachung in der Welt auf einem einsamen Spitzenplatz zu stehen scheint, der in keinem erkennbaren Verhältnis zu irgendeinem Datum der Kriminalitätsentwicklung steht: Hierzulande soll etwa dreizehn Mal mehr abgehört werden als in den USA, mehr als in Westeuropa und den USA zusammen.175 Soeben wurde in Bayern der Entwurf einer Änderung des PAG (vorläufig?) von der Mehrheitsfraktion zurückgezogen, der neuartig eine präventivpolizeiliche Telefonüberwachung einführen wollte. 176 Wo der Einbruch in die Privatsphären von hunderttausenden von unbescholtenen Bürgern, die mit dieser Telefonüberwachung zwecks Ermittlung weniger Schwerkrimineller verbunden ist, bei Behörden und Gerichten als bloße Routinemaßnahme erscheint, dort können auch die Verfahrenskautelen präventiver Gefahrenabwehr nur wenig wirksam sein. Wenn man solche Umstände verallgemeinern müßte, dann wäre es mittelfristig nur eine Frage der Zeit, bis der freiheitliche Verfassungsstaat seine eigenen Funktionsvoraussetzungen so nachhaltig beschädigt hätte, daß er als ein Projekt der Moderne für gescheitert angesehen werden müßte. Um so aktueller erscheint die Aufgabe, die Freiheitsrechte im Verfassungsstaat vor einer schleichenden Auszehrung zu bewahren.

175 s. näher Welp, Kriminalpolitik (Fn. 69), S. 162; ausf. A. Böttger/C. Pfeiffer, Der Lauschangriff in den USA und in Deutschland, ZRP 1994, S. 7 ff.; s. auch H. Prantl, Verdächtig, 2002, S. 14 f., 78 ff. - Neuere Erhebungen durch das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg scheinen das für den innereuropäischen Vergleich zu relativieren, vgl. z. B. SZ vom 16. 5. 2003; FAZ vom 16. 5. 2003. 176 s. näher LT-Drs. 14/12261 vom 22. 4. 2003 (Gesetzentwurf) und LT-Drs. 14/12401 vom 8. 5. 2003 (Mitteilung, daß der Entwurf zurückgezogen wurde).

Sicherheit und Freiheit durch vorbeugende Verbrechensbekämpfung Der Rechtsstaat auf der Suche nach dem rechten Maß Von Hans-Detlef Horn I. Ein altes Thema in neuer Frontstellung „Die Bedrohung der Freiheit in der modernen Gesellschaft kommt nicht vom Staat, wie der Liberalismus annimmt, sondern von der Gesellschaft/' Walter Schmitt Glaeser stellt diese Worte von Hannah Arendt der Abhandlung über die „Private Gewalt im politischen Meinungskampf" voran.1 Die Deutungsgehalte des Zitats reflektieren akkurat die Anliegen der Schrift: Tatsachen feststellen, Irrtümer aufdecken, Defizite markieren, Konsequenzen anmahnen. Im Visier stehen die (gewalttätigen und die geistigen Angriffe, die den demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik Deutschland bis Anfang der 1990er Jahre erschütterten. Der Satz, der die Schrift einleitet, fixiert mit beklemmender Rhetorik den eingetretenen Zustand wie die drohende Gefahr: „Dies ist keine Gedächtnisschrift für den Rechtsstaat". Indes der Sorge war genug, um die Fundamente und Prämissen des Rechtsstaats in Erinnerung zu rufen und Strategien einer effektiven Gegenwehr zu entwickeln. Und als erste Voraussetzung für die Erfolgsaussichten solcher Anstrengungen mahnt er, eben jene Erkenntnis von Hannah Arendt zu verinnerlichen und praktisch umzusetzen: „ . . . wir sollten uns endlich und endgültig von dem Trauma befreien, daß es in erster Linie der Staat sei, der unsere Freiheit gefährde, und daß wir erst dann in Frieden leben können, wenn seine Befugnisse auf das engste begrenzt werden, auch und selbst dort, wo er die Aufgabe der Verbrechensbekämpfung, speziell der Bekämpfung von Gewalt, zu erfüllen hat". 2 Seit den islamistischen Terroranschlägen des 11. September 2001, die unmittelbar das US-amerikanische Gemeinwesen trafen, ihrer Zielrichtung nach aber der gesamten zivilisierten Welt der westlichen Kulturstaaten galten, hat die tatsächliche Bedrohungslage für ein Leben in Sicherheit und Freiheit eine Dimension angenommen, die alle bisherigen Risikoerfahrungen und Risikowahrnehmungen 1 Walter Schmitt Glaeser, Private Gewalt im politischen Meinungskampf. Zugleich ein Beitrag zur Legitimität des Staates (unter Mitwirkung von Hans-Detlef Horn), 1. Aufl. 1990, 2. Aufl. 1992, unter Verweis auf Hannah Arendt, Vita activa, 1960, S. 331. 2 Schmitt Glaeser (o. N. 1), S. 231.

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übertrifft. Der Schock sitzt tief. Nicht nur, daß man sich eine Attacke von solcher Brachialgewalt und Unmenschlichkeit zwar auf der Leinwand ausmalen, nicht aber in der Realität vorstellen konnte. Weit nachhaltiger rührt die Fassungslosigkeit aus der bestürzenden Einsicht in die Anfälligkeit und Verletzbarkeit einer offenen Gesellschaft. Das Urvertrauen, das sie voraussetzt und begleitet, das Urvertrauen in die eigene Umgebung, das Sich-Verlassen-Können auf die Integrität des öffentlichen Raums,3 ist zutiefst erschüttert. Der Glaube an die „heile Welt" eines friedlichen und angstfreien Neben- und Miteinander sieht sich konfrontiert mit der bitteren Erfahrung, immer und überall, zu jeder Zeit und an jedem Ort mit allem rechnen zu müssen. Daß der freiheitliche, säkularisierte Staat letzten Endes von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann,4 ist jählings ebenso greifbare wie schmerzvolle Wirklichkeit geworden. Im Blut tausender Opfer realisierte sich das Wagnis, das er um der Freiheit willen eingeht. Wie die Türme des World Trade Centers brach so auch schlagartig eine Illusion zusammen, die das Lebensgefühl der säkularisierten und saturierten Zivil-Gesellschaften der Gegenwart, auch und zumal in Deutschland, bestimmte: die Illusion über den Zielwert der Sicherheit.5 „Solange sich uns die Wahrheiten nicht mit Messern ins Fleisch schneiden, haben wir in uns einen geheimen Vorbehalt der Geringschätzung" (Nietzsche). Als sich der Staub über Ground Zero lichtete, änderte sich die Wahrnehmung. Ein alter Zusammenhang kam zu neuem Bewußtsein: Wie die Luft zum Atmen gehört die Sicherheit zur Freiheit. Der „Kampf gegen den Terror" formuliert die programmatische Antwort. Und tatsächlich deutet gegenwärtig vieles darauf hin, daß der freiheitliche Rechtsstaat in dieser Richtung neue virtù und Vitalität entfaltet, und es scheint auch, daß er dabei in der Bevölkerung von breiter Zustimmung getragen wird. Die sich jahrzehntelang als einzig liberal ausweisende Rechtspolitik, die auf Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit aus Furcht vor ausufernder Staatsmacht und Polizeistaatlichkeit eher mit Gleichmut und Toleranz als mit unbeugsamer Konsequenz reagierte, 6 zeigt sich korrekturgeneigt. Mit schon erstaunlich zu nennender Reaktionsgeschwindigkeit hat die Staatsaufgabe Sicherheit neue Aufmerksamkeit erfahren und einen neuen Stellenwert erlangt.7 Die Europäische Union hat in der „dritten 3

Vgl. allgemein zu den Ursachen und Erscheinungen eines zunehmenden Unbehagens in öffentlichen Räumen Uwe Volkmann, Die Rückeroberung der Allmende, NVwZ 2000, S. 361 f. 4 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 (60). 5 Ähnlich Wolfgang Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge, ZRP 2002, S. 497 (498). 6 Vgl. auch Josef Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 2. 7 Eine deutlichen Aufbruch aus der Behaglichkeit politischer „Ernstfall-Prüderie" (Josef Isensee, Verfassung ohne Ernstfall: der Rechtsstaat, in: Anton Peisl/Armin Möhler, Hrsg., Der Ernstfall, 1979, S. 98, 107) markieren bereits die seit den 1990er Jahren ergriffenen Maßnahmen gegen die organisierte und internationale Kriminalität; s. etwa das Gesetz zur

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Säule", der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, 8 mit dem Erlaß zahlreicher Rahmenbeschlüsse alsbald mehr oder weniger detaillierte Vorgaben an die Mitgliedstaaten gerichtet, wirksame Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung zu ergreifen, 9 und der deutsche Gesetzgeber hat zumal mit den AntiTerror-Paketen I und I I eine Vielzahl organisations- und materiell-rechtlicher Neuregelungen geschaffen, 10 die - das läßt sich wohl mit einiger Gewißheit behaupten - jedenfalls in diesem Umfang ohne die Ereignisse des 11. September auf absehbare Zeit nicht beschlossen worden wären, mögen auch entsprechende Gesetzentwürfe schon in den Schubladen der Politik bereitgelegen haben. Zu den Novellierungen des Bundesrechts traten Ergänzungen und Änderungen auf Landesebene hinzu, die, wie vor allem mit den Ermächtigungen zur Durchführung von Schleierund Rasterfahndungen, die Effektivität des präventiv-polizeilichen Handelns über die engere Gefahrenabwehr hinaus im Bereich der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erhöhen sollen. Alle diese Maßnahmen haben gemein, daß sie nicht einer staatsabweisenden, sondern einer staatsfordernden Maxime folgen. Es geht nicht um die Begrenzung des Staates, sondern um dessen Aktivierung. Nicht der Schutz vor der Staatsgewalt steht i m Vordergrund, sondern der Schutz durch die Staatsgewalt. Das reibt sich naturgeBekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität von 1992 (BGBl. I S. 1302) und das Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 (BGBl. IS. 3186). 8 Art. 29 ff. EU. Danach hat sich die Union das Ziel gesetzt, „den Bürgern in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein hohes Maß an Sicherheit zu bieten". Als Mittel zur Erreichung dieses Ziels bestimmt der Vertrag „die Verhütung und Bekämpfung der organisierten und nichtorganisierten - Kriminalität, insbesondere des Terrorismus, des Menschenhandels und der Straftaten gegenüber Kindern, des illegalen Drogen- und Waffenhandels, der Bestechung und Bestechlichkeit sowie des Betrugs". 9

s. Eckhardt v. Bubnoff, Terrorismusbekämpfung - eine weltweite Herausforderung, NJW 2002, S. 2672 ff. (Nachw.). 10 Das erste Sicherheitspaket umschließt die Abschaffung des Religionsprivilegs im Vereinsgesetz durch das Erste Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes vom 4. 12. 2001 (BGBl. I S. 3319) und die Ausdehnung der Strafbarkeit nach den §§ 129, 129a StGB auf extraterritorial organisierte terroristische Vereinigungen durch das StrafrechtsänderungsG 2002 - § 129b StGB vom 22. 8. 2002 (BGBl. I S. 3390). Das zweite Anti-Terror-Paket ist im Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (TBG) vom 9. 1. 2002 (BGBl. I S. 362, ber. S. 3142) zusammengefaßt und betrifft als Artikelgesetz die unterschiedlichsten Felder: Erweitert wurden die Aufgabenbereiche und Befugnisse der Verfassungsschutzbehörden des Bundes, des Militärischen Abschirmdienstes, des Bundesnachrichtendienstes, des Bundesgrenzschutzes und des Bundeskriminalamtes; ferner wurden (u. a.) die Aufnahme biometrischer Merkmale in Paß und Personalausweis erlaubt, die vereinsrechtlichen Kennzeichenverbote erweitert und die Ermächtigung zum Verbot von Ausländervereinen ausgedehnt; im Ausländer- und Asylrecht wurden Erleichterungen zur Identitätsfeststellung, Datenverarbeitung und Ausweisung von Ausländern geschaffen. Vgl. die Zusammenstellung der Novellierungen von Martin Nolte, Die Anti-Terror-Pakete im Lichte des Verfassungsrechts, DVB1. 2002, S. 573 ff. Siehe auch das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Geldwäsche und zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus (Geldwäschebekämpfungsgesetz) vom 14. 8. 2002 (BGBl. I S. 3105). FS Schmitt Glaeser

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mäß an der Grunddisposition klassisch-liberaler Rechtsstaatlichkeit. Ihr erscheint der Staat zuerst als „der große Leviathan" (Hobbes), latent geneigt, seine Macht zum Nachteil der ihm unterworfenen Bürger zu mißbrauchen. Die gravierende Bedrohung von Freiheit und Eigentum indes, die nunmehr akut geworden ist, präsentiert sich nicht als eine Entartung des Staatlichen, nicht als Staatsterror. Der Terrorismus, von dem wir uns heute weltweit bedroht sehen müssen,11 bezieht seine fanatischen Antriebskräfte aus einer diffusen fundamentalistisch-extremistischen Aggression, die sich gegen alle Errungenschaften der staatlich organisierten und rechtlich verfaßten Zivilität richtet, einschließlich ihrer Grundwahrheiten von Frieden und Freiheit. 12 Im Horizont jener vorgenannten Arendtschen Polarisierung rührt diese Bedrohung aus der Sphäre der Gesellschaft. 13 Sicherheit hiergegen bedeutet nicht Sicherheit vor dem Staat, sondern fordert Schutz und Sicherheit durch den Staat. Aus der Sicht des Liberalismus weckt solche Forderung freilich den steten Argwohn, ob hier nicht der Teufel mit dem Beelzebub vertrieben werde. Der Ruf nach dem Einsatz der Staatsgewalt ist verdächtig. Die staatliche Maßnahme der Gefahrenabwehr indiziert den Konflikt mit der liberalen Doktrin der Staatsabwehr. Nach ihr ist die Sphäre der Gesellschaft just auch jene, die als der Ort der bürgerlichen Freiheit dem staatlichen Wirken in prinzipiell abwehrender Weise gegenüberliegt. 14 Was zumal im Grundrechtsschutz des individuellen status negativus manifest wird, streitet im Ansatz gegen die Legitimität staatlicher Aktivität, die grund11 Die juristischen und politischen Schwierigkeiten, das Phänomen Terrorismus zu definieren, können hier außer Betracht bleiben; im näheren dazu vgl. v. Bubnoff ( o. N. 9), S. 2672; Dieter S. Lutz, Was ist Terrorismus? Definitionen, Wandel, Perspektiven, in: Hans-Joachim Koch (Hrsg.), Terrorismus - Rechtsfragen der äußeren und inneren Sicherheit, 2003, S. 9 ff. Eine inzwischen anerkannte Verständigungsgrundlage liefert Art. 2 Abs. 1 lit. b der „International Convention for the Suppression of Financing of Terrorism" von 1999, wonach Terrorismus definiert wird als „act intended to cause death or serious bodily injury to a civilian, or any other person not taking an active part in the hostilities in a situation of armed conflict, when the purpose of such act, by its nature or context, is to intimidate a population, or to compel a government or an international organization to do or abstain from doing any act". 12 s. dazu Kay Nehm, Ein Jahr danach - Gedanken zum 11. September 2001, NJW 2002, S. 2665 ff.; Lutz (o. N. 11), S. 12 f. 13 Diese Verortung erschöpft sich wohlgemerkt in der systematischen Abgrenzung zu Bedrohungen von Seiten des Staates. Insbesondere wird damit nicht eine konkret-bestimmte Gesellschaft einer wie auch immer gearteten Täterschaft bezichtigt; ohnehin fehlt dem Terrorismus das tellurische Moment: Josef Isensee zu Julien Freund, Der Partisan oder der kriegerische Friede, in: Helmut Quaritsch (Hrsg.), Complexio Oppositorum. Über Carl Schmitt, 1988, S. 394 f. ' 4 Zum Theorem der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassungstheoretische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung der individuellen Freiheit, 1973; Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 149 ff.; Hans Heinrich Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (HStR) I, 2. Aufl. 1995, § 28; Paul Kirchhof, Mittel staatlichen Handelns, in: HStR III, 2. Aufl. 1996, § 59 Rn. 17; Hans-Detlef Horn, Staat und Gesellschaft in der Verwaltung des Pluralismus, Die Verwaltung 26 (1993), S. 545 (551 ff.).

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rechtsbeschränkend und freiheitsverkürzend wirkt, mag sie auch die Sicherheit der freien Bürger und den Schutz der offenen Gesellschaft vor nicht-staatlichen Gewaltangriffen bezwecken. In dieser typologischen Verengung liegen die Staatsaufgabe Sicherheit und der bürgerschaftliche status positivus außerhalb der Reichweite des Rechtsstaatsbegriffs. Es nimmt daher nicht wunder, daß sich für Teile der Literatur gerade auch im Hinblick auf die jüngst unternommenen Anstrengungen zur Terrorismusbekämpfung hier nicht nur ein Spannungsverhältnis, sondern vielmehr eine elementare Gegensätzlichkeit von Rechtsstaat und Sicherheits- bzw. Präventionsstaat, ihrer Prämissen und Funktionslogiken, von Freiheit einerseits und Sicherheit andererseits auftut. 1 5 Dieses „Freiheit-Sicherheits-Syndrom" 16 ist die alte Herausforderung, vor die der freiheitliche Staat durch die Bedrohung der terroristischen, aber auch der organisierten und der zunehmenden Schwerst- und Kleinkriminalität heute in neuartiger Weise gestellt ist. Unter diesen Wirklichkeitsbedingungen sucht er nach einer neuen Balance, die gleichermaßen den Bedürfnissen nach Freiheit wie nach gesteigerter Sicherheit Rechnung trägt, 1 7 nach dem rechten Maß, das zugleich wirkliche

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Erhard Denninger, Freiheit durch Sicherheit? Wieviel Schutz der inneren Sicherheit verlangt und verträgt das deutsche Grundgesetz?, KJ 35 (2002), S. 467 ff.; ders., Freiheit durch Sicherheit? Anmerkungen zum Terrorismusbekämpfungsgesetz, StV 2002, S. 96 ff.; ders., Polizeiaufgaben, in: Hans Lisken/Erhard Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl. 2001, Kap. E Rn. 192 ff.; Hoffmann-Riem (o. N. 5), S. 500; Christoph Gusy, Rechtsgüterschutz als Staatsaufgabe, DÖV 1996, S. 573 (578 ff.); allgemein: Erhard Denninger, Der Präventionsstaat, KJ 21 (1988), S. 1 ff.; ders., Einleitung, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 9 ff.; Dieter Grimm, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaats, in: ders. (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 291 ff.; ders., Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 197 ff.; ders., Staatsaufgaben - eine Bilanz, in: ders. (Hrsg.), Staatsaufgaben, 1994, S. 771 (772 f.); Udo Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, 1994, S. 445 ff.; vor allem im umweltschutzrechtlichen Kontext Rainer Wahl/Ivo Appel, Prävention und Vorsorge: Von der Staatsaufgabe zur rechtlichen Ausgestaltung, in: Rainer Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 1 ff. (13 ff.); Hasso Hofmann, Die Aufgaben des modernen Staates und der moderne Umweltschutz, in: Michael Kloepfer (Hrsg.), Umweltstaat, 1989, S. 1 ff. (insbes. 18 ff.); zfssd. Helmuth Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, 1998, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 58. 16 Zitat: Isensee (o. N. 6), S. 2. - Mit ungebremster Wucht tritt das Syndrom hervor in den Beiträgen von Hans Lisken, der von weiten Teilen des deutschen Sicherheits- und Polizeirechts wiederholt das Zerrbild eines Polizei- und Überwachungsstaats oder permanenten Ausnahmezustands zeichnet oder gar Bezüge zu unrechtsstaatlichen Epochen der Vergangenheit herstellt; vgl. z. B. ders., Jedermann als Betroffener, in: Helmut Bäumler (Hrsg.), Polizei und Datenschutz, 1999, S. 32 ff.; ders., Polizei im Verfassungsgefüge, in: Handbuch des Polizeirechts (o. N. 15), Kap. C Rn. 28 ff., 31 ff.; ders., „Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität"?, NVwZ 1988, S. 22 (24 f.); ders., Zur polizeilichen Rasterfahndung, NVwZ 2002, S. 513 (515 f.); s. dazu die scharfe Kritik von Jürgen Schwabe, „Kontrolle ist schlecht, Vertrauen allein der Menschenwürde gemäß"?, NVwZ 1998, S. 709 ff. 17 Vorläufig Bilanz ziehend zuletzt Hoffmann-Riem (o. N. 5).

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Grundrechtsfreiheit und effektive Kriminalitätsbekämpfung gewährleistet, nach dem Weg, der den Rechtsstaat sowohl als freiheitlichen als auch als wehrhaften Rechtsstaat ausweist und einem Umschlag in eine „Kultur" des Polizei- und Überwachungsstaates ebenso nachhaltig vorbeugt wie einer Zerstörung der Kultur des Zusammenlebens in Frieden und Freiheit. Die Aufgabe ist prekär, aber unausweichlich. Und sie ist lösbar. Die Leistungsfähigkeit des Rechts- und Verfassungsstaates verdient auch hier Kredit, nicht Zweifel.

II. Der Rechtsstaat als Staat der Sicherheitsgewähr 1. Frieden und Sicherheit als existentielle Grundlagen legitimer Staatlichkeit Der Wunsch nach einem friedlichen Beisammenleben aller steht am Anfang der modernen Staatswerdung.18 Als eine spezifische Schöpfung des Rationalismus erhebt sich der neuzeitliche Staat historisch als verobjektiviertes Organisationsmodell politischer Ordnung über die (Bürger-)Kriegsparteien des Feudalzeitalters. Die Bodinsche Souveränität (potestas) für sich reklamierend, wird er zum Träger des Monopols legitimer physischer Gewaltausübung (vis). 19 Die in dieser normativ-faktischen Machteinheit des Staates hervortretende Solidarität der Staats-Bürger 20 findet die Antwort auf die Frage nach dem „Warum", d. h. nach der Legitimität der Staatsbildung,21 in den Gesellschaftsvertragslehren von Thomas Hobbes über John Locke und Jean Jacques Rousseau bis Immanuel Kant. 22 Ob aus anthropologischer Nützlichkeit, naturrechtlicher Zweckdienlichkeit, politischer Tugendhaftigkeit oder praktischer Rechtsvernunft: Das Entstehen und Bestehen des Staates erklärt sich theoretisch zuallererst als ein verabredeter Vorgang zur institutionellen Überwindung des vorstaatlichen Naturzustands (exeumdum e statu naturali), der zwar nicht notwendig (material) ungerecht sein muß, aber immer (formal) Unsicherheit bedeutet: Wegen der Einzigartigkeit des Menschen kann niemand vor der nötigenden Willkür und Gewalt eines anderen sicher sein. Sei es aus der Warte eines naturalistischen Anarchismus oder aus rationaler Vernunft, sei es auf der Grundlage eines pessimistischen oder eines optimistischen 18 s. Schmitt Glaeser (o. N. 1), S. 140 ff., 184 ff. m. N „ sowie Böckenförde (o. N. 4); Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 3. Aufl. 1988, S. 47 ff. •9 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 7. Neudruck der 3. Aufl. 1913, 1960, S. 454 ff.; Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1921, 5. Aufl. 1972, Studienausg. 1980, S. 815 ff.; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 243 ff. 20 Hermann Heller, Staatslehre, 6. Aufl. 1983, S. 269 ff. 21 Zum Prinzip der Legitimität als dem mit dem Prinzip der Einheit aufs engste verbundenen Baugesetz des modernen Staates vgl. Kriele (o. N. 18), S. 19; Schmitt Glaeser (o. N. 1), S. 150 ff. 22 Zu diesen Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994; Heiner Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit, 1990.

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Menschenbildes:23 Der im Denkmodell des Vertragsschlusses aufgenommene Übertritt in den status civilis entspringt der Primärkonvention der Individuen, in ihrem unausweichlichen Zusammenleben Sicherheit und Frieden zu haben, und kulminiert in der dementsprechend zweckgebundenen Anerkennung der Souveränität einer überindividuellen Staatsmacht - nicht kontingent und einmalig, sondern kategorisch und dauerhaft. So wie das Individuum in seiner Existenz ersten und letzten Endes von der friedlichen Koexistenz mit anderen abhängig ist, so ist der Staat in seiner legitimen Existenz verwiesen auf den ersten und letzten Zweck, kraft seines Gewaltmonopols inneren Frieden und öffentliche Sicherheit zu bewirken („existentielle Legitimität"). 24 Die Sicherheit, von der hier die Rede ist, meint allein den Integritätsschutz der Menschen in der Horizontalen zu ihresgleichen. Weitere (soziale, ökologische) Sinnzuschreibungen, die der (Verweisungs-)Begriff 25 im Fortgang von Staats- und Verfassungslehre erfährt, sind ausgeblendet. Sein Thema ist der Schutz von Leib und Leben, Selbstbestimmung, persönlicher Freiheit und Eigentum der Bürger vor den Angriffen nicht-staatlicher Kräfte, seine Stoßrichtung die Abwesenheit (der Gefahr und Bedrohung) von Mord und Totschlag, Körperverletzung und Nötigung, Freiheitsberaubung und Diebstahl im gesellschaftlichen Umgang. In diesem Sinne bildet der Staatszweck Sicherheit mit der ihm zugeordneten Gewaltmonopolisierung das Konstituens und das Kontinuum jeder legitimen, d. h. um der Menschen willen bestehenden Staatlichkeit - ohne freilich damit die Staatszwecklehre und zumal den Legitimationsstandard des Verfassungsstaats zu erschöpfen.

2. Verfassungsstaatliche

Anerkennung der Staatsaufgabe Sicherheit

Im Typus Verfassungsstaat erscheinen und ereignen sich die unbedingte Eigenschaft - (innere) Souveränität - und der unbedingte Zweck des Staates - (innere) Sicherheit - in den Formen des Rechts. Im Horizont der vernunftrechtlichen Einsicht stehend, daß die Abwesenheit von Unsicherheit (als Grundbedingung der Freiheit) das Regime des Rechts bedingt,26 präsentiert er sich - kantianisch gespro23 Darstellung bei Peter Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 2. Aufl. 2002, S. 36 ff. 24 Zur Staatslegitimation durch Sicherheit in staats- oder verfassungs(vertrags)theoretischer Begründung s. auch Kriele (ο. N. 18), S. 47 ff.; Isensee (ο. N. 6), S. 3 ff., 17 ff.; Kurt Eichenberger, Die Sorge für den inneren Frieden als primäre Staatsaufgabe, in: ders., Der Staat der Gegenwart, 1980, S. 73 ff.; im hiesigen Kontext auch Markus Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 5 ff.; Christian Calliess, Sicherheit im freiheitlichen Rechtsstaat, ZRP 2002, S. 1 (2 ff.); Josef Aulehner, Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge, 1998, S. 310 ff. 25

Isensee (ο. N. 6), S. 22 f.; ders., Die Friedenspflicht des Bürgers und das Gewaltmonopol des Staates, in: E. Müller u. a. (Hrsg.), FS für Eichenberger, 1982, S. 23 (34). 26 Dazu Hans-Detlef Horn, Kantischer Republikanismus und empirische Verfassung, ZÖR 57 (2002), S. 203 (211 ff.; Nachw.).

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chen - als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen",27 als eine rechtlich bewirkte Macht-, Entscheidungs- und Wirkungseinheit (Hermann Heller). 28 In ihm agiert das Recht als das Medium des ursprünglich staatsbildenden wie andauernd staatstragenden vereinigten Volkswillens nach allgemeiner Sicherheitsgewähr. Der öffentliche Rechtszustand, der den (Rechts-)Staat und den der (Rechts-)Staat schafft, ist der Zustand, der die Sicherheit im Beieinanderleben der Menschen garantiert. 29 Es ist zunächst diese Grundbestimmung von Recht und Staat, die in der grundgesetzlichen Fundamentalentscheidung für den Rechtsstaat verfassungsrechtlich aufgenommen ist. Als „staatsgewährleistete Friedensordnung durch Recht" 30 zielt sie auf öffentliche Sicherheit durch rechtliche Ordnung. Das, was das rechtsstaatliche Gemeinwesen - nicht nur als (äußere) Zwecksetzung, sondern als sein (inhärenter) Sinn - leistet, ist die Sicherheit des Alltagslebens im und durch Recht. Das setzt freilich voraus, daß nicht nur eine staatliche Rechtsordnung besteht, sondern daß sie auch tatsächlich wirksam wird. Daher entbindet das Rechtsstaatsprinzip auch den Auftrag zur wirksamen Durchsetzung des Rechts.31 Hier kommt der Zusammenhang von Recht und Macht, mit ihm die Autorität und das Gewaltmonopol des Staates zum Tragen. 32 Das Rechtsprinzip verweist die Ausübung der (souveränen) Staatsgewalt in die Bahnen und Schranken des Rechts, ebenso wie es aber auch deren Einsatz gerade zum Schutze und zur Effektivität des Rechts fordert. Schon insoweit zeigt sich ein Doppelauftrag des Rechtsstaats:33 Zur Rechtsbindung tritt die Rechtsdurchsetzung. Die Verbindlichkeit des Rechts und die Unversehrtheit der Rechtsordnung sind die wesensimmanenten Facetten des rechtsstaatlichen Schutzguts öffentliche Sicherheit. 34 In spezieller, freilich zentraler Weise gelangt dies zum Ausdruck in der staatlichen Justizgewährleistungspflicht 35 und im (Verfassungs-)Auftrag zur wirksamen Bekämpfung, Verhinderung und Aufklärung von Straftaten. 36 27

Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Erster Teil, § 45. Heller (ο. N. 20), S. 207 ff., 253 ff., 259 ff. 29 Zu kurz greift es daher, die rechtsstaatliche Rationalisierung der souveränen Staatsgewalt allein als ein Ergebnis jener staatstheoretischen Entwicklungslinie „nach" Hobbes zu begreifen, die den Akzent der Freiheitssicherung von der Monopolisierung aller Gewalt beim Staat auf die Bewahrung der Freiheit gegen den und vor dem Staat verlagerte. In seiner vernunftrechtlichen Herleitung und Begründung steht das Recht nicht nur im Dienste der Eingriffsabwehr bzw. der Begrenzung des staatlichen Freiheitszugriffs, sondern als Inbegriff der Bedingungen, die den Menschen die für die Wirklichkeit ihrer Freiheit unerläßliche Sicherheit gibt. ™ Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: HStR I, 2. Aufl. 1995, § 24 Rn. 1. 31 Dies gegenüber manchen Erinnerungslücken in der staatsrechtlichen Literatur neuerdings wieder hervorhebend Möstl (ο. N. 24), S. 63 ff. 32 Dazu m. N. Detlef Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 5 ff., 29 ff. 33 s. noch unten, bei Fn. 70. 34 s. auch Isensee (ο. N. 25), in: FS für Eichenberger, S. 23 (34); Merten (ο. N. 32), S. 61; Hans-Peter Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, 1973, S. 347 ff. •35 Vgl. BVerfGE 35, 382 (401); 54, 277 (292); 88, 118 (123) u. std. 28

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Doch die Entscheidung für den Rechtsstaat bedeutet weiteres. Die überkommene, ehedem aus den überpositiven Kategorien der Staatsphilosophie rührende Normativität der allgemeinen Staatsaufgabe Sicherheit 37 erlangt im Rechtsstaatsprinzip übergreifende, verfassungsjuristische Verpflichtungskraft. Auch wenn es insofern an einer kompakten expliziten Norm im Grundgesetz fehlt, 38 weil der Verfassunggeber sie zu den „Selbstverständlichkeiten der Staatlichkeit" zählte,39 erhebt das Prinzip Rechtsstaat die Sorge für die innere Sicherheit und den inneren Frieden, gleichsinnig: für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 40 zu einer verfassungsrangigen Forderung an Recht und Staat.41 Diese erschöpft sich nicht in der Summe jener einzelnen Sicherheitsaufgaben, deren Wahrnehmung das Grundgesetz konkret vorschreibt oder zuläßt,42 ebensowenig in der bloßen Eignung, im Sinne des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips einen hinreichenden Rechtfertigungsgrund für staatliche Freiheitseingriffe abgeben zu können. War die ältere staatsrechtliche Literatur und Judikatur noch geneigt, insofern die Berufung auf die Kategorien der Allgemeinen Staats(zweck)lehre genügen zu lassen, so kann mittlerweile die Erkenntnis, daß innerer Frieden und öffentliche Sicherheit Verfassungswerte des Grundgesetzes sind und die auf sie bezogene Staatsaufgabe verfassungsrechtliche Qualität hat, als weitgehend zweifelsfrei gelten. Dem sozialen und dem ökologischen Staatsziel nicht nachstehend weist sie die objektive Bindungswirkung und positive Verpflichtungskraft einer Staatszielbestimmung auf 43 - ebenso sekundiert wie fundiert durch die grundrechtlichen, gegenüber dem einzelnen wie der Gesamtheit aller Bürger 44 bestehenden Pflichten des Staates zum Schutze der grundlegenden Individualrechtsgüter, die sich zu einem allgemeinen „Grundrecht auf Sicherheit" fügen, 45 sowie durch 36 Vgl. BVerfGE 77, 65 (76) m. w. N.; 100, 313 (388 f.): „wesentlicher Auftrag eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens". 37 Über sie herrscht im staatsrechtlichen Schrifttum ohnehin kein Zweifel, vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III /1, 1988, S. 372; Möstl (ο. N. 24), S. 47,jew. m. w. N. 38 s. auch Volkmar Götz, Innere Sicherheit, in: HStR III, 2. Aufl. 1996, § 79 Rn. 1: „Die Verfassung korrespondiert den permanenten und umfassenden Forderungen nach Sicherheit nicht auf den ersten Blick". 39 Götz (ο. N. 38), § 79 Rn. 2; Isensee (ο. N. 6), S. 15 f.; Möstl (ο. N. 24), S. 45 m. N. 40 Isensee (ο. N. 6), S. 23; Möstl (ο. N. 24), S. 119 ff., 136 ff.

41 Götz (ο. N. 38), § 79 Rn. 1 ff. 42 So aber Gusy (o. N. 15), S. 577 f. 43 Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Grundgesetz, in: HStR III, 2. Aufl. 1996, § 57 Rn. 44 ff.; Gerhard Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 121 ff.; Christian Starck, Frieden als Staatsziel, in: Bodo Börner u. a. (Hrsg.), FS für Carstens, 1984, S. 867 ff.; gründliche Herausarbeitung jüngst von Möstl (ο. N. 24), S. 24 ff., 37 ff. 44 BVerfGE 46, 160(165). 45 Aus der Lit.: Isensee (ο. N. 6); ders., Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR V, 1992, § 111 Rn. 77 ff. (Nachw.); Robbers (ο. N. 43); s. auch Stern (ο. N. 37), S. 931 ff.; Herbert Bethge, Staatszwecke im Verfassungsstaat - 40 Jahre Grundgesetz,

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die zahlreichen expliziten Verfassungsaufträge, die den Schutz des Bestandes und der Sicherheit von Staat und Verfassung als Gemeinschafts(rechts)güter - um ihrer Funktion(en) willen - fordern. 46 Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Die Sicherheit des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet" 4 7

3. Der Terrorismus

als Fundamentalangriff

auf Staat und Rechtsstaat

Terroristische Gewalt wie Gefahr treffen Staat und Rechtsstaat existentiell.48 Der Terrorist kämpft nicht gegen einen bestimmten Staat. Er ist auch kein staatlicher Kombattant, auf den die herkömmlichen Kategorien von Krieg und Frieden anwendbar wären, nicht einmal Partisan oder Guerillakämpfer. 49 In ihm begegnet der absolute Feind. Die Mittel und Absichten des Terrorismus sind schlechthin verwerflich und durch nichts zu rechtfertigen: die Tötung und Verletzung von Zivilpersonen, um in der Öffentlichkeit Angst und Schrecken zu verbreiten und dadurch Aufmerksamkeit zu erlangen. 50 Sein Angriffsziel ist der Staat an sich, seine Kultur, seine Sinngebung und Wertordnung. 51 Die Rechts- und Friedensordnung, mit ihr das Gewaltmonopol des Staates werden nicht nur beiläufig mißachtet, sondern in DVB1. 1989, S. 841 (848 f.); Rainer Pitschas, Innere Sicherheit und internationale Verbrechensbekämpfung als Verantwortung des demokratischen Verfassungsstaates, JZ 1993, S. 857 (858); Aulehner (ο. N. 24), S. 428 ff., 460 ff. 46 Zu den verfassungsrechtlichen Schutzgütern des Bestandes und der Sicherheit des Staates sowie der Fundamente der grundgesetzlichen Verfassungsordnung (der freiheitlichen demokratischen Grundordnung) vgl. auch Jürgen Becker, Die wehrhafte Demokratie des Grundgesetzes, in: HStR VII, 1992, § 167 Rn. 47 f., sowie Walter Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, 1968, S. 31 ff. 47 BVerfGE 49, 24 (56 f. mit Verweis auf BVerwGE 49, 202, 209). - Grundsätzliche Kritik hiergegen bei Denninger (o. N. 15), KJ 35 (2002), S. 469, sowie StV 2002, S. 101; Peter-Alexis Albrecht, Die vergessene Freiheit, FAZ vom 24. 4. 2003, S. 8. 48

s. auch schon im Blick zumal auf den RAF-Terrorismus der 1970er Jahre Rüdiger Breuer, Terrorismus, wehrfähiger Staat und individuelle Rechte, in: Bernd Rüthers / Klaus Stern (Hrsg.), FG 10 Jahre Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 79 (84); für den rechtsextremistisch motivierten Terror gilt selbstredend das nämliche, vgl. auch Schmitt Glaeser (o. N. 1), S. 37 ff. 49 Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit Carl Schmitts ,Theorie des Partisanen' von Freund (o. N. 13) und die anschließende Aussprache; auch Josef Isensee, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 2002, S. 163. 50 Vgl. o.N. 11.

51 Gleiches gilt für die „organisierte Kriminalität"; auch sie richtet sich unmittelbar gegen die Handlungsfähigkeit des Staates und bedroht seine Existenz: Gusy (o. N. 15), S. 573 (Nachw.); s. auch Michael Kniesel, Vorbeugende Bekämpfung von Straftaten im neuen Polizeirecht - Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung?, ZRP 1989, S. 329 ff.

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ihren unabdingbaren Grundlagen und Aufgaben negiert. 52 Indem der Terrorist den Vorrang seiner politischen (Zerstörungs-)Absicht vor den Errungenschaften der staatlichen Zivilität beansprucht, richtet er sich gegen die staatlichen Grundkonventionen von innerem Frieden und innerer Sicherheit. Dergestalt herausgefordert muß sich die verfaßte Friedens- und Ordnungsmacht des Staates um ihrer selbst und ihrer Bürger willen effektiv schützen und zur Wehr setzen. Internationaler Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität fordern zudem eine bi- und multilaterale Zusammenarbeit. Ein Staat, der terroristischer Gewalt nachgibt, sich ihr nicht entgegenstemmt, läuft Gefahr, sich selbst aufzugeben. 53 Im Kampf gegen den Terror behauptet er die Legitimität seiner Existenz. Dabei bildet es nach dem Gesagten eine schiere Selbstverständlichkeit, daß der Rechtsstaat diesen Kampf nicht mit gleichen Mitteln fechten kann. Mit ungezügelter Gewaltanwendung zu antworten, bedeutete - ebenso wie gleichgültiges Zurückweichen - , die Legitimität seiner Macht preiszugeben. Der Terror trüge den Sieg davon, den Typus Verfassungsstaat von seinen zivilen Sockeln gestoßen und in den Strudel urzeitlicher Anarchie gezerrt zu haben. Auch als gewaltbewehrte staatliche Friedensmacht muß sich der Verfassungsstaat in den Bahnen des Rechts halten. Er kann sich nur mit den Mitteln verteidigen, die ihm das Recht bereitstellt. Seine Rechts- und Verfassungsbindung ist strikt und läßt sich nicht, wie einst nach der Lehre vom Vorbehalt der Staatsraison, nach Bedarf ablegen wie ein Mantel, der zu eng geworden ist. 54 Aber es „wäre eine Sinnverkehrung des Grundgesetzes, wollte man dem Staat verbieten, terroristischen Bestrebungen, die erklärtermaßen die Zerstörung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben und die planmäßige Vernichtung von Menschenleben als Mittel zur Verwirklichung dieses Vorhabens einsetzen, mit den erforderlichen rechtsstaatlichen Mitteln wirksam entgegenzutreten."55 Wirksam entgegentreten heißt: effektiv bekämpfen, verfolgen, verhüten, verhindern, unterbinden, vereiteln, abschrecken. In einem Wort: Prävention. So lautet der staatsrechtliche Handlungsauftrag, der aus der Staatsaufgabe Sicherheit folgt. 56 52 So auch die These von Bernd Grzeszick, Terrorismus: Gefährdung oder Rechtfertigung des Staates?, Referat auf der Jahrestagung der Görres-Gesellschaft 2002 in Erfurt. 53 Breuer (ο. N. 48). 54 Isensee (ο. N. 7), S. 110. Problematisch daher die Bejahung eines ungeschriebenen, präterkonstitutionellen Notrechts des Staates als ultima ratio gegen terroristische Bedrohung von Grzeszick (ο. N. 52). 55 BVerfGE 49, 24 (56). 56 Dieser staatsrechtliche Begriff der Prävention versteht sich als weit gefaßter, übergreifender Begriff. Er liegt oberhalb jener engeren, auf Vorbeugung und Vorsorge konzentrierten Begriffsfassungen, die in der polizeirechtlichen Debatte die (schon vorerwähnten, vgl. bei N. 15) Polaritäten zu reaktivem (Gefahrenabwehr, Schadenbeseitigung) und repressivem Staatshandeln (Strafverfolgung, Strafrecht) auslösen. Auch und namentlich das repressive Strafrecht hat nach den gängigen Strafzwecklehren und Straftheorien die Funktion und Wirkung der Prävention (General- und Speziai-, positive und negative Prävention); vgl. nur BVerfGE 45, 187 (253 ff.); auch Götz (o. N. 38), § 79 Rn. 5.

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III. Der Rechtsstaat als Staat der Freiheitsgewährleistung L Essentielle Legitimität durch freiheitliche

Ordnung

In der Bewirkung eines Gesamtzustands von Frieden und Sicherheit, geschaffen durch eine staatsmachtbewehrte Rechtsordnung, liegt die fundamentale und unabdingbare rationale Legitimationsleistung des Rechtsstaates. Doch ebenso fundamental und unabdingbar wehrt er einer Verabsolutierung des Bürgerfriedens. Die Staatsaufgabe Sicherheit ist für ihn keine Aufgabe um jeden Preis. Er weiß, daß der, der Macht genug hat, alle zu schützen, auch die Macht hat, alle zu unterdrücken, 57 daß Ruhe und Frieden in der Hand der souveränen Staatsgewalt auch „auf dem Kirchhofe der Freiheit" 58 enden kann. 59 Und er zieht daraus die Konsequenz: In seinem Legitimationsprogramm ist zugleich das gegenwärtig, was in der Entwicklungsgeschichte der Staatslegitimation der Hobbes'schen Fixierung auf den Sicherheitszweck nachfolgt. Die staatsethischen Ideale von pax et iustitia und salus publica suprema lex im Gebot einer material-rationalen Rechtfertigung der Staatsgewalt aufnehmend und akzeptierend bindet er die staatlich garantierte und rechtlich geformte Ordnung an materiale Werte, an bestimmte inhaltliche Geltungen und Haltungen. Zur existentiellen Staatslegitimation treten die Anforderungen hinzu, die die Ausgestaltung der staatlichen Rechts- und Friedensordnung in rechtsethisch-kultureller Hinsicht wesentlich bestimmen und in ihrer konkret-geschichtlichen Erscheinung anerkennungswürdig machen („essentielle Legitimität"). 60 In ihrem zentralen Anliegen geht es diesen Anforderungen darum, jene unumschränkte Staatsgewalt, die eine radikal zu Ende gedachte Staatslegitimation aus Sicherheit begründet, zu mäßigen und zu begrenzen. Das essentielle Legitimationsprogramm des Verfassungsstaates läßt die kaltblütige Alternative in der Staatslehre Hobbes' zwischen der Anarchie im Naturzustand und der absoluten Beherrschung durch den Leviathan61 hinter sich und verinnerlicht die Freiheitsphilosophie der nachfolgenden Natur- und Vernunftrechtsepoche von Locke bis Kant. 62 Der Wahrnehmung als Sicherheitsgarant folgt die Wahrnehmung des Staates - ungeachtet seiner Verankerung im Willen aller (des Volkes) - als Bedrohung für die bürgerliche Sicherheit. Das Grundbedürfnis nach Schutz von Leben, Gesundheit, Eigentum und Freiheit vor gewalttätigen oder sonst willkürlichen Übergriffen entfaltet seine zweite, die liberale Stoßrichtung. Es richtet sich nun auch gegen den Staat und zielt auf die Sicherheit des Bürgers vor dem Staat.63 57 Thomas Hobbes, Vom Bürger, Kap. VI, 13; auch ders., Leviathan, 18. Kap. a. E. 58 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt (Definitivartikel), Erster Zusatz a. E. 59 Zur Ambivalenz der Staatsmacht auch Kurt Eichenberger, Freiheit als Verfassungsprinzip, in: ders., Der Staat der Gegenwart, 1980, S. 165 (170 ff.). 60 Schmitt Glaeser (o. N. 1), S. 159 ff., 197 ff. 61 Calliess (o. N. 24), S. 4. 62 s. dazu wiederum Kersting (o. N. 22) sowie Bielefeldt

(o. N. 22).

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2. Die liberal-rechtsstaatliche

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Freiheit als Staatsabwehr

Diese Sicherheit vor dem Staat wird vollends zur Chiffre der Freiheit in der Auseinandersetzung des Liberalismus mit dem wohlfahrtsstaatlich-eudämonistischen Regulierungsanspruch der absolutistischen Tradition im 19. Jahrhundert. Im Ausbau der rechtsinstitutionellen Vorkehrungen zum Schutze der Entfaltungsfreiheit des Bürgers, wie Repräsentation, Gewaltenteilung und Gesetzesbindung, tritt die Eingriffsabwehr und Freiheitssicherung vor dem staatlichen Zugriff in den Vordergrund. 64 Der Entwicklungsprozeß mündet ein in das Grundgesetz. Vervollkommnet durch eine vormals nicht gekannte Wirkkraft der Grundrechte bildet auch dort der Schutz vor der Staatsgewalt den Kerngehalt des Vorstellungskomplexes, den der normative Begriff des Rechtsstaats auslöst. Der öffentliche Rechtszustand, der aus dieser Perspektive den (materiellen) Rechtsstaat ausweist, ist der Zustand, der die individuelle und gesellschaftliche Freiheit der Menschen soweit wie möglich gewährleistet, indem er die Staatsgewalt im und durch das Recht begrenzt und ihre Ausübung dem Zwang zur Rechtfertigung und dem Übermaßverbot unterwirft. 65 Staatliche Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung werden an das Gebot der möglichsten Freiheitswahrung gebunden, von diesem bestimmt und begrenzt. Wiederum kantianisch gewendet: Der liberale Rechts- und Verfassungsstaat hat die Bedingungen dafür zu schaffen, daß die Freiheit des einen mit der aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit verträglich wird. 66

IV. Der Auftrag zur dynamischen Synthese von Sicherheit und Freiheit 7. Rechtsstaatliche Balance in räum-zeit lie her Perspektive Dieses Ziel der Freiheitsgewährleistung stellt sich dem Ziel der Sicherheitsgewähr nicht prinzipiell in den Weg. „Die Freiheitsphilosophie Lockes ersetzt nicht die Sicherheitsphilosophie Hobbes."67 Die existentiellen und die essentiellen Legitimationsfaktoren des Verfassungsstaats ergänzen einander. Der rechtsstaatlichen Ordnung ist beides aufgegeben, die Sicherheit und die Freiheit. 68 Ihre Sache 63 Aus der Lit.: Isensee (ο. N. 6), S. 5 ff.; ders. (ο. N. 43), § 57 Rn. 46. 64 Möstl (ο. N. 24), S. 9 ff. 65 Übersichtlich Schmidt-Aßmann (ο. N. 30), § 24 Rn. 2 ff., 17 ff.; Josef Isensee, Rechtsstaat - Vorgabe und Aufgabe der Einung Deutschlands, in: HStR IX, 1997, § 202 Rn. 2 ff. 66 Vgl. Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Einleitung in die Rechtslehre, §§ B, C. 67 Isensee (ο. N. 6), S. 7; ders., Staat und Verfassung, in: HStR I, 2. Aufl. 1995, § 13 Rn. 102 f.; Calliess (ο. N. 24), S. 4. 68 Vgl. auch Di Fabio (ο. Ν. 15), S. 37: „komplementäre Fundamentalfunktionen des Staates".

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ist dieselbe: der Schutz der substantiellen Rechtsgüter des Menschen und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen. Allein die Schutzrichtung divergiert: erstere vor gesellschaftlich-privaten Übergriffen, letztere vor Beschränkungen durch die staatliche Hoheitsgewalt. Dementsprechend verschieden zeigt sich die verordnete Bewegungsrichtung des Staates: Zur Sicherheitsgewähr berufen hat er die Übergriffe anderer Bürger oder Fremder zu verhindern, unter dem Gesichtspunkt der Freiheitsgewährleistung hat er selbst Übergriffe zu unterlassen.69 Dem einheitlichen Rechtsstaat entsteht so der (fundamentale) „Doppelauftrag", staatliches Handeln ebenso zu aktivieren wie zu disziplinieren. 70 Daß beides zusammen gehört, daß auch der freiheitsgebundene und machtbegrenzte Staat Sicherheit und Frieden zu gewähren vermag, ist das Vermächtnis, das Locke dem modernen Verfassungsstaat hinterlassen hat. Das disqualifiziert und delegitimiert ein Gegeneinander-Ausspielen der beiden Verfassungswerte - in der einen wie in der anderen Weise. So bergen Formeln, wie: „Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit", oder gegenläufig: „Wer Sicherheit auf Kosten der Freiheit will, hat am Ende weder Freiheit noch Sicherheit", die Neigung in sich, als je einseitige Positionsbestimmungen das einheitliche Programm des Rechtsstaats zu verfehlen. Nichts anderes gilt für Versuche, mit Hilfe des „in dubio"-Axioms kategorische Mehrwerte, sei es „pro übertäte", sei es „pro securitate", zu behaupten. Solche (Kampf-)Strategien neigen zu einer Konfrontation des Entweder - Oder, die den bedrohten Bürger von heute allzu leicht in eine ähnlich fürchterliche Alternative stürzt wie einst Hobbes den Zeitgenossen der Religionskriege: statt Anarchie oder Leviathan, nun: Frieden oder Freiheit. Im vernunftrechtlichen Ideal des Verfassungsstaats sind solche Polarisierungen undenkbar. Im empirischen Verfassungsstaat wird der Weg zum Ziel. In der ständigen Annäherung an das Ideal des Zugleich von Sicherheit und Freiheit hat er die Spannungslage, die der Rechtsstaat in seinem Doppelauftrag aufweist, aufzunehmen und abzuarbeiten. Die Gewähr der öffentlichen Sicherheit und der Freiheitsanspruch des Bürgers, rechtsstaatlicher Schutz und rechtsstaatliche Freiheit stehen in ihm nicht in radikaler Antithetik, wohl aber in einem Verhältnis potentieller Gegenläufigkeit, 71 das in relativer Beziehung zu den Wirklichkeitsbedingungen von Raum und Zeit 7 2 in „dynamische Synthesen"73 überführt werden muß. Differenzierungen und Abwägungen sind nicht nur möglich, sondern notwendig. Im Wort69 Isensee (o. N. 6), S. 21. 70

Schmidt-Aßmann (o. N. 30), § 24 Rn. 1, 32; gleichsinnig Karl August Bettermann, Der totale Rechtsstaat, 1986, S. 5 f.: „Janus-Kopf" des Rechtsstaats; Calliess (o. N. 24), S. 5 m. w. N. 7

· Vgl. BVerfGE 57, 250 (276). Zum Gebot der Wirklichkeitsnähe in der Politik des freiheitlichen Verfassungsstaats Walter Schmitt Glaeser, Ethik und Wirklichkeitsbezug des freiheitlichen Verfassungsstaats, 1999, S. 53 ff., 60 ff. 73 Zum hier rezipierten Theoriemodell Walter Leisner, Antithesen-Theorie für eine Staatslehre der Demokratie, JZ 1998, S. 861 ff. 72

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schätz der Konkordanzformel: Aufgegeben ist die Herstellung einer Balance, die im Wechsel der politischen Lagen möglichste Freiheit in möglichster Sicherheit gewährleistet. 2. Von der Eingriffsrechtfertigung

zur allseitigen Abwägung

Im liberalen Ordnungssystem der Staatsabwehr ereignet sich die gebotene Austarierung im Modus der Eingriffsrechtfertigung. Auch soweit der Staat zum Schutze der Bürger und ihrer Freiheit aktiv ist, wird er - sobald die Sicherheit des einen nur durch die Beschränkung der Freiheit eines anderen, die Sicherheit der Allgemeinheit nur durch Eingriffe in die Freiheit des einzelnen erreicht werden kann - einer durchgängigen Rechtfertigungslast unterworfen. Eine Vereinnahmung der bürgerlichen Freiheitsrechte zu staatlicher Zweckverfolgung ist ausgeschlossen. Der rechtsstaatlichen Handlungspflicht folgt die rechtsstaatliche Handlungsgrenze auf dem Fuße. Darin zeigt sich zwar die Anerkennung jenes gestuften Legitimationszusammenhangs, der die Sicherheitsgewähr als theoretisch wie funktional vorausgehend identifiziert: 74 Durch gegenläufige Freiheitspositionen vermag diese auf das erforderliche und angemessene Maß beschränkt, nicht aber beseitigt zu werden. Gleichwohl weist der liberal-rechtsstaatliche Ansatz der Staatsaufgabe Sicherheit von vornherein, d. h. im Ausgangspunkt den Stellenwert einer prinzipiell rechtfertigungsbedürftigen, ja geradezu freiheitsfeindlichen Veranstaltung zu. 75 Die Rechtsordnung erscheint zuvörderst als Verteidigungslinie einer staatsfreien Freiheitssphäre, indes ihr Sicherheitszweck ein negatives Antlitz trägt. Der positive Zusammenhang, daß erst beide gemeinsam, die Sicherheit vor Dritten und die Freiheit vom Staat, die volle Unversehrtheit ein und derselben Schutzgüter bewirken, befindet sich tendenziell in einer Schieflage. Die Sicherheit trifft auf strukturelle Skepsis. Daß sie nicht nur Freiheitsbegrenzung, sondern auch Freiheitsverwirklichung bedeutet, bedarf in der Verfassungsdogmatik der Eingriffsabwehr und des Übermaßverbots des je individuellen Nachweises.76 Das ist wohlgemerkt lediglich als methodisches Faktum zur Kenntnis zu nehmen, nicht als inhaltliche Kritik am liberalen (Grund-)Rechtsstaat mißzuverstehen; es kann nicht darum gehen, sein dogmatisches Gerüst umzubauen oder gar abzulösen zugunsten einer Fundamentalalternative namens Sicherheitsstaat, der hier allzu gern mit der ganzen Schlagkraft seiner dunklen Assoziationen, die er hervorruft, als Drohkulisse aufgebaut wird. Zumal in ihrer abwehrrechtlichen Dimension kon74 Georg Jellinek, Die Entstehung der modernen Staatsidee, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Bd. 2 (1911), Neudruck 1970, S. 45 ff.; Isensee (ο. N. 6), S. 3, 21; Schmitt Glaeser (o. N. 1), S. 183; Di Fabio (ο. Ν. 15), S. 37; auch oben, Ziff. II. 1., 2. 75 Möstl (ο. N. 24), S. 15 u. ö.: Sicherheit als „Feindin der Freiheit"; Jutta Limbach, Ist die kollektive Sicherheit der Feind der Freiheit?, 2002.

™ Zum Ganzen Möstl (ο. N. 24), S. 37 ff.

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stituieren die Grundrechte den freien Staat und die offene Gesellschaft, jene segensreichen Errungenschaften eines mehrhundertjährigen politischen Kampfes und geistigen Schaffens am Projekt des Verfassungsstaates, der gerade seine letzte große Fundamentalalternative überwunden hat. Die (rechts)staatliche Sicherheitspolitik hat sich darauf einzustellen. Totale Sicherheit kann sie nicht bieten, schon faktisch nicht, vor allem aber rechtlich nicht. Sie muß und sie will sich an den Freiheitsansprüchen der Bürger gegen den Staat messen lassen. Daran darf, das wurde schon gesagt,77 kein Zweifel aufkommen. Soweit diese die Handlungsgrenze der Sicherheitspolitik markieren, bleibt die strukturelle Unterlegenheit des freiheitlichen Gemeinwesens gegenüber den potentiell unbegrenzten Mitteln terroristischer Netzwerke und krimineller Organisationen unüberwindbar. Das ist die Resultante des Wagnis' der Freiheit: Die rechtliche Garantie der Freiheit ist identisch mit der rechtlichen Hinnahme von Unsicherheit. 78 Doch die Ausmessung des danach zulässigen sicherheitspolitischen Aktionsradius allein aus der Warte kollidierender Abwehrrechte nimmt in Kauf, daß der Staat in der so abgeschirmten Bürgersphäre nicht nur keine Rechte hat, sondern, abgesehen von Unterlassungen, auch keine Pflichten. 79 Die positive Rechtspflicht des Staates, den Gebrauch der Freiheit im öffentlichen Raum zu sichern, kommt nicht, jedenfalls nicht voll zum Tragen. Sie läßt sich innerhalb der abwehrrechtlich gesteuerten Begründung dessen, was das Grundgesetz als hinzunehmende Unsicherheit (Restrisiko) der Freiheit vorgibt, nur ungenügend zur Geltung bringen. Es ist akkurat dieser Hintergrund, vor dem sich insbesondere mit der Lehre von den staatlichen Schutzpflichten für ein Grundrecht auf Sicherheit 80 eine gewandelte Auffassung von der Gestalt der grundgesetzlichen Freiheitsordnung Bahn gebrochen und inzwischen auch durchgesetzt hat. Neben dem (negativen) Schutz vor dem Staat etabliert sie auch den (positiven) Schutz durch den Staat als Faktoren des freiheitlichen Gemeinwesens. Anschaulich ist dies kürzlich mit dem Bild zweier sich teilweise überschneidender Kreise skizziert worden: 81 Die Staatsaufgabe Sicherheit steht einerseits in einem Spannungsverhältnis zur klassischen liberalen Abwehrfunktion des Rechtsstaats. Andererseits aber besteht in Anbetracht der Sicherheits- und Schutzdimension des Rechtsstaats auch eine gemeinsame Schnittmenge, in der Sicherheit und freiheitlicher Rechtsstaat sich decken. Außerhalb dieser Schnittmenge bleibt das Spannungsverhältnis freilich bestehen. Aber die notwendige Ausbalancierung erfährt ein anderes Gepräge. Aus dem in der Schnittmenge abgebildeten positiven Zusammenhang von Freiheit und Sicherheit empfängt sie maßgebende Steuerungsimpulse. Die Schnittmenge wird 77 78 79 80

Oben, Ziff. II. 3. Gusy (o.N. 15), S. 579. Vgl. Denninger (ο. N. 15), KJ 21 (1988), S. 11. s. ο. N. 45.

81 Calliess (ο. N. 24), S. 5 ff.

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zum „Kompaß" für die „Freiheitsverträglichkeit von Sicherheit". 82 Der Ort, an dem dies dogmatisch aufgenommen und verarbeitet wird, ist die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Sie gewinnt eine mehrpolige Dimension, in der sowohl das Übermaß- als auch das Untermaßverbot zusammengeführt sind und die je äußersten Grenzen der Abwägung markieren. Innerhalb des so gezogenen Rahmens83 zwischen dem „höchstens Zulässigen" und dem „mindestens Erforderlichen" liegt dann die Entscheidung über die richtige Antwort auf die gesellschaftlichen Bedrohungslagen dort, wo sie zu verantworten ist: beim demokratischen Gesetzgeber.

V. Das polizeirechtliche Sicherheitskonzept in Bewegung 7. Traditionelle

Gefahrenabwehr

„Schauplatz" dieser verfassungsrechtlichen Kautelen ist nicht nur, aber vor allem das Polizeirecht. Es bestimmt die dem staatlichen Handlungsauftrag entsprechenden präventiven Aufgaben und Befugnisse der zuständigen Behörden. 84 In seiner traditionellen Ausformung begreift es die aufgegebene Sicherheit als Abwesenheit von Gefahr. Die Gefahr ist sein zentraler Begriff. Sie wird gemeinhin definiert als eine Situation, die bei ungehindertem Fortgang des Geschehensablaufs typischerweise (abstrakte Gefahr) oder im Einzelfall objektiv oder jedenfalls nach subjektiv verständiger Einschätzung (konkrete Gefahr) in naher Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zum Eintritt eines Schadens, i. e. zu einer durch Dritte bewirkten Verletzung eines Schutzguts oder dem Bruch einer Norm, führen 82 Calliess, (ο. N. 24), S. 6, der den Umfang der Schnittmenge allerdings ohne weitere Auseinandersetzung auf den Bereich der physischen Sicherheit begrenzt. 83 Dazu allgemein Johannes Dietlein, Das Übermaßverbot, ZG 1995, S. 131 ff.; auch Hans-Detlef Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, 1999, S. 160 Fn. 283 (m. N. pro und contra); im hiesigen Zusammenhang Möstl (ο. N. 24), S. 99 ff., 658 (Zfssg.). 84 Im Recht der staatlichen Sicherheitsgewähr kommt der Prävention (im engeren Sinne, s. oben, N. 56) der Vorrang zu vor der Repression, vgl. BVerfGE 39, 1 (44) mit Hinweis auf E 30, 336 (350), auch BVerfGE 100, 313 (394); zur prägenden Unterscheidung statt vieler Denninger (o. N. 15), in: Handbuch des Polizeirechts, Kap. E Rn. 157 f. In der präventiven Verhinderung einer Mißachtung oder Schädigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, d. h. in der Bewahrung der Unversehrtheit ihrer Schutzgüter, liegt seine primäre Aufgabenstellung. Das schmälert nicht die Bedeutung der repressiven Verfolgung und Ahndung einer bereits eingetretenen Verletzung durch das Straf- und Strafprozeßrecht. Die Repression gehört ebenso - auch und gerade unter dem Gesichtspunkt ihrer mittelbar präventiven Wirkungen und Funktionen - zu den unverzichtbaren Mitteln des staatlichen Sicherheitsauftrags. Doch diese folgt jener - da mit dem Eintritt des Schädigungsfalles die Sicherung des Schutzguts bereits unwiderruflich verfehlt wurde - naturgemäß nach (dazu auch Möstl [o. N. 24], S. 148 ff., 152 ff.). Zur Abgrenzung der Gefahrenabwehr vom geheimdienstlichen Staatsund Verfassungsschutz s. nur Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Michael Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 2002, § 2 Rn. 16 ff. - Auf die Problemzonen dieser Unterscheidungen ist hier nicht einzugehen.

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Hans-Detlef Horn

wird. 85 Dieser Gefahrenbegriff konkretisiert die staatliche Sicherheitsaufgabe und er diszipliniert sie zugleich. Die Gefahr für ein Schutzgut und das heißt auch: erst diese ist der Tatbestand, der das präventive Handeln der Polizei eröffnet und auf die Gefahrenabwehr festlegt. 86 Daß das solchermaßen konzipierte Polizeirecht historisch ein Kind des Liberalismus ist, ist bekannt.87 Seine Wurzeln liegen in der Verdrängung sozialgestaltender und wohlfahrtsstaatlicher Aufgaben („gute Policey") aus dem materiellen Polizeibegriff und seiner Konzentration auf die „bloße" Gefahrenabwehr. 88 Aber auch in dogmatischer Hinsicht steht das überkommene Polizeirecht im Horizont der liberalen Rechtsstaatsverfassung. Sein zentraler Begriff der Gefahr leistet und erfüllt mehrere, ineinander laufende Funktionen, die allesamt dem Topos der Rechtfertigungsbedürftigkeit polizeilichen Handelns gegenüber der Freiheit des einzelnen verpflichtet sind: Die Gefahr fixiert zunächst die Schwelle, ab der die staatliche Sicherheitsaufgabe überhaupt erst relevant wird. Nur bei Gefahr dürfen die Polizei- und Sicherheitsbehörden handeln. Die Art der Gefahr zieht sodann die Trennlinie zwischen Aufgabe und Befugnis. Das Vorliegen einer abstrakten Gefahr eröffnet den allgemeinen Aufgabenbereich der Polizei. Dazu zählen seit jeher auch Maßnahmen der Gefahrenvorbeugung und -Vorsorge, ζ. B. der Gefahrermittlung, Gefahrerforschung und der Sammlung polizeilich relevanter Informationen. 89 Doch die Eröffnung der Aufgabe befugt herkömmlicherweise nicht zu polizeilicher Aktivität, die mit Eingriffen in Freiheitsrechte der Bürger verbunden ist. Dazu bedarf es - ganz auf der Linie des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips und der ihm entsprechenden Gesetzesvorbehaltslehre liegend - spezialgesetzlicher Ermächtigungen. Diese aber setzen in der Regel eine konkrete Gefahrenlage voraus. Nur bei einer im einzelnen Fall gegebenen Gefahr für ein geschütztes Rechtsgut dürfen die Polizeibehörden zu deren Abwehr freiheitsbeschränkende Maßnahmen ergreifen.

85 Vgl. nur Pieroth/Schlink/Kniesel (ο. N. 84), § 4; Volkmar Götz, Allgemeines Polizeiund Ordnungsrecht, 13. Aufl. 2001, Rn. 140 ff.; Wolf-Rüdiger Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2003, Rn. 69 ff. 86 Genau genommen werden nicht Gefahren, sondern Schäden abgewehrt, indem die als Gefahrenlagen eingestuften Situationen und Kausalverläufe in der gewünschten Abwehrrichtung beeinflußt werden; vgl. Marion Albers, Die Determination polizeilicher Tätigkeit in den Bereichen der Straftatenverhütung und der Verfolgungsvorsorge, 2001, S. 46. 87 Dazu nur Klaus Vogel, Über die Herkunft des Polizeirechts aus der liberalen Staatstheorie, in: Klaus Vogel (Hrsg.), FS für Wacke, 1972, S. 375 ff.; Hans Boldt, Geschichte der Polizei in Deutschland, in: Handbuch des Polizeirechts (ο. N. 15), Kap. A Rn. 20 ff.; Götz (ο. N. 85), Rn. 10 ff. 88 Als entscheidender Wendepunkt wird hier gemeinhin das Kreuzberg-Urteil des PrOVG aus dem Jahre 1882 (PrOVGE 9, 353 ff.) gesehen. 89 Pieroth/Schlink/Kniesel (ο. N. 84), § 4 Rn. 17; Hans-Heinrich Trute, Die Erosion des klassischen Polizeirechts durch die polizeiliche Informationsvorsorge, in: Wilfried Erbguth u. a. (Hrsg.), GS für Jean d'Heur, 1999, S. 403.

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Danach markiert die konkrete Gefahr jenen Punkt, an dem das Polizeirecht den Ausgleich zwischen Sicherheit und Freiheit hergestellt sieht. An diesem Punkt spiegelt sich die verfassungsrechtliche Normalvorstellung, in der die Konkordanz von rechtsstaatlicher Schutzpflicht und rechtsstaatlicher Freiheitswahrung erreicht ist. 90 Auch den Geboten der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit wird damit Rechnung getragen. Zwar ist die Bestimmung einer konkreten Gefahr unausweichlich von prognostischen Einschätzungen (über das Bevorstehen eines Schadensereignisses) abhängig; auch hält der Begriff eine gewisse Unschärfe vor, indem einzelne seiner Faktoren je nach Situation variieren können (Grad der Wahrscheinlichkeit je nach Nähe und Schwere des möglichen Schadenseintritts, Anscheinsgefahr, Dauergefahr bis hin zum Gefahren verdacht). Gleichwohl weist er aufgrund seiner Anbindung an die Alltagserfahrung vom Kausal verlauf eines Geschehens91 und aufgrund seiner Verfestigung in Vollzugspraxis und Rechtsprechung einen solchen Grad an Routine auf, daß er der Polizei kalkulierbar und nachvollziehbar aufzuzeigen vermag, wie weit sie gehen darf. Daß kehrseitig so auch der von polizeilichen Maßnahmen betroffene Bürger absehen kann, was auf ihn zukommt, lenkt den Blick auf die zweite Vorkehrung des klassischen Polizeirechts: Für eingreifende Maßnahmen kann grundsätzlich nur der Störer, also derjenige, dem die Gefahr im Einzelfall zugerechnet werden kann, in Anspruch genommen werden. Mit Ausnahme der polizeilichen Notstandslage kommt eine Beschränkung der Freiheit des Bürgers zum Zwecke der Gefahrenabwehr nur in Betracht, wenn zwischen ihm und der Gefahrenlage ein rechtfertigender Verantwortungszusammenhang besteht. Was die Rationalität des Störerbegriffs anbelangt, gilt das zum Gefahrenbegriff Gesagte entsprechend. Trotz des auch mit ihm verbundenen Erkenntnisproblems (über den Verantwortungsbeitrag für eine Gefahr) und der dadurch bedingten relativen Unschärfe ist die Störereigenschaft eine erfahrungsgesättigte und weithin verläßliche Kategorie. Mit dieser „doppelten Schranke", 92 der Eingriffsschwelle der konkreten Gefahr und der Zugriffsbegrenzung auf den Störer, entspricht das klassische Polizeirecht der liberal-rechtsstaatlichen Fassung des Freiheitsbegriffs. Sein Begriff der (Un-)Sicherheit (als Gefahr) korreliert der Struktur des Freiheitsbegriffs. Jener ist ebenso individualisiert wie dieser. Die polizeiliche Relevanz einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung steht in äquivalenter Relation zur Möglichkeit ihrer individuellen Zurechenbarkeit. Das Vorliegen und damit die Abwehrbedürftigkeit einer Unsicherheitslage orientiert sich an ihrer Abwehrfähigkeit, d. h. an 90

An sie schließt sich eine Art verfassungsrechtliche Vermutung an, vgl. Möstl (ο. N. 24), S. 197. 91 Vgl. Denninger (ο. N. 15), in: Handbuch des Polizeirechts, Kap. E Rn. 30; Bill Drews / Gerhard Wache/Klaus Vogel/Wolfgang Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 220 ff. 92 Wolfgang Hoffmann-Riem, Abbau von Rechtsstaatlichkeit durch Neubau des Polizeirechts?, JZ 1978, S. 335 (336). 30 FS Schmitt Glaeser

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Hans-Detlef Horn

der Möglichkeit der Inanspruchnahme eines Störers, die nur im Einzelfall, mithin bei konkreter Gefahr, gegeben sein kann. Die Aufgabe der öffentlichen Sicherheitsgewähr reicht in diesem System soweit, wie der individuelle Freiheitsbegriff eine individuelle Verantwortlichkeit zuläßt. Die Balance von Freiheit und Sicherheit erweist sich als eine Angelegenheit des grundrechtsgesteuerten Verhältnisses von individueller Freiheit und individueller Verantwortung. Die Unsicherheit, mit dem der äußere Freiheitsgebrauch im Zusammenleben der Menschen naturgemäß behaftet ist, ist solange und soweit ein Problem der Freiheit, nicht der Sicherheit, wie sich die Unsicherheit nicht gleichsam in individuelle Verantwortlichkeit übersetzten läßt. Das von allen hinzunehmende Maß an öffentlicher Unsicherheit bemißt sich nach Abzug dessen, was dem einzelnen zugerechnet werden kann. Gewiß grobschnittig, aber hinreichend, um zu verdeutlichen, worauf es ankommt: Wo kein (möglicher) Störer, da keine Gefahr; und wo keine Gefahr, da keine polizeiliche Befugnis. Das ist das Bauprinzip des dezidiert liberal-rechtsstaatlich konzipierten Polizeirechts. Daraus folgt, daß der Polizei unterhalb der Gefahrenschwelle, also in Sachlagen, die noch keine zurechenbare Gefährlichkeit aufweisen, die Hände gebunden sind, will heißen: keine auf die Abwehr einer zukünftigen Gefahr gerichteten Eingriffsmaßnahmen ergreifen darf. Die Pflege eines Sicherheitsabstands zum Eintritt einer Gefahr ist, sofern sie Freiheitseinbußen erforderlich macht, ausgeschlossen.

2. Vorfeldverteidigung

durch Kriminalprävention

Vor diesem Hintergrund erklärt sich der strategische Neuansatz - der den alten nicht ersetzt, sondern ergänzt - , den das neuere Sicherheits- und Polizeirecht aufweist, ebenso wie die rechtsstaatliche Besorgnis, die sich dagegen sogleich vielstimmig regt. Mit ihm erfährt eben jenes Vorfeld konkreter Gefahrenlagen in der Agenda der Staatsaufgabe Sicherheit eine stärkere Akzentuierung. Es geht um den Auf- und Ausbau eines dritten „Pfeilers der inneren Sicherheit", 93 der neben der klassischen Gefahrenabwehr und der repressiven Strafverfolgung auch die „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten" zum Inhalt hat. Es soll die Effektivität der Kriminalitätsbekämpfung gesteigert werden, indem - neben und zusätzlich zu den Mitteln und Methoden des Straf(prozeß)rechts - der präventiv-polizeiliche Aufgabenbereich und Aktionsradius auf die Verhütung künftiger Straftaten (Gefahrenvorsorge) und die Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten (Strafverfolgungsvorsorge) ausgedehnt wird. 94 Sämtliche Polizeigesetze enthalten inzwischen 93

Rainer Pitschas, Polizeirecht im kooperativen Staat, DÖV 2002, S. 221, auch in: ders. (Hrsg.), Kriminalprävention und „Neues Polizeirecht", 2002, S. 241 (242); Denninger (ο. N. 15), KJ 35 (2002), S. 470. 94 Vgl. zu dieser Neuorientierung etwa Rainer Pitschas, Öffentliche Sicherheit durch Kriminalprävention, in: Kriminalprävention (ο. N. 93), S. 13 ff.; Kay Waechter, Die aktuelle Situation des Polizeirechts, JZ 2002, S. 854 (855 ff.); Denninger (ο. N. 15), in: Handbuch des

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entsprechende Aufgaben- und /oder Befugnisnormen. 95 Im Mittelpunkt stehen hierbei Informationsgewinnungsinstrumente, wie die polizeiliche Observation oder der Einsatz verdeckter Ermittler und Techniken, ferner die Schleierfahndung, 96 die Rasterfahndung 97 und die Videoüberwachung öffentlicher Räume.98 Weitere spezialgesetzliche Ermächtigungen, ζ. B. zur Telefonüberwachung oder zur Datenspeicherung von Finanztransaktionen,99 treten hinzu. Polizeirechts, Kap. E Rn. 197 ff.; ders. (o. N. 15), KJ 35 (2002), S. 470 f.; Albers (o. N. 86), S. 116 ff., 252 ff.; Trute (o. N. 89), S. 404; Aulehner (o. N. 24), S. 95 ff., 474 ff. 95 Vgl. z. B. § 1 Abs. 4 HessSOG, Art. 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BayPAG. 96 Dazu (mit je unterschiedlichen Akzentsetzungen) Lisken (o. N. 16), NVwZ 1998, S. 22 ff.; Ulrich Stephan, „Zur Verfassungsmäßigkeit anlaßunabhängiger Personenkontrollen", DVB1. 1998, S. 81 ff.; Kay Waechter, Die „Schleierfahndung" als Instrument der indirekten Verhaltenssteuerung durch Abschreckung und Verunsicherung, DÖV 1999, S. 138 ff.; Christoph Möllers, Polizeikontrollen ohne Gefahrenverdacht, NVwZ 2000, S. 382 ff.; Berthold Kastner, Verdachtsunabhängige Personenkontrollen im Lichte des Verfassungsrechts, VerwArch 92 (2001), S. 216 ff.; Olaf Weingart, Die bayerische Polizeirechtsnorm des Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 PAG - Zur sog. Schleierfahndung und deren Verfassungsmäßigkeit, BayVBl. 2001, S. 33 ff., 69 ff.; Erhard Denninger, Schleierfahndung im Rechtsstaat?, in: Heiko Faber/Götz Frank (Hrsg.), FS für Stein, 2002, S. 15 ff.; sowie LVerfG MV, DVB1. 2000, 262 ff., einerseits und BayVerfGH, DVB1. 2003, 861 ff. = BayVBl. 2003, 560 ff. (dazu Hans-Detlef Horn, Die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. Anmerkung zu der Entscheidung vom 28. 3. 2003 - Schleierfahndung, BayVBl. 2003, S. 545 ff.), andererseits sowie SächsVerfGH vom 10. 7. 2003, veröffentl. unter http://www.justiz.sachsen.de / gerichte / homepages / verfg / does / 43-II-00A.rlf. 97 Zu dieser (wiederum in unterschiedlicher Beurteilung) Michael Siebrecht, Rasterfahndung, 1997; Bettina Sokol, Rasterfahndung vor 20 Jahren und heute, in: Polizei und Datenschutz (o. N. 16), S. 188 ff.; Lisken (o. N. 16), in: Polizei und Datenschutz, S. 32 ff.; ders. (o. N. 16), NVwZ 2002, S. 513 ff.; Helmut Bäumler, Informationsverarbeitung im Polizeiund Strafverfahrensrecht, in: Handbuch des Polizeirechts (o. N. 15), Kap. J 198 ff., 256 ff., 714 ff.; Winfried Bausback, Rasterfahndung als Mittel der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung - Notwendigkeit einer Vereinheitlichung der landesrechtlichen Regelungen angesichts des internationalen Terrorismus?, BayVBl. 2002, S. 713 ff.; Lothar Seel, Die präventiv-polizeiliche Rasterfahndung - Bestandsaufnahme, Problemfelder und Lösungswege, Die Polizei 2002, S. 192 ff.; Thomas Groß, Terrorismusbekämpfung und Grundrechte, KJ 35 (2002), S. 1 (2 ff.); Christoph Gusy, Rasterfahndung nach Polizeirecht?, KritV 85 (2002), S. 474 ff.; Klaus Rogai, Rasterfahndung in Zeiten des Terrorismus, in: Gunnar Duttge u. a. (Hrsg.), GS für Schlüchter, 2002, S. 611 ff.; Wilhelm Achelpöhler/Holger Niehaus, Rasterfahndung als Mittel zur Verhinderung von Anschlägen islamistischer Terroristen in Deutschland, DÖV 2003, S. 49 ff.; Hans-Detlef Horn, Vorbeugende Rasterfahndung und informationelle Selbstbestimmung, DÖV 2003, i. E.; aus der Rspr. s. nur SächsVerfGH, DVB1. 1996, 1423 (1438 f.) = SächsVBl. 1996, 160 (187 f.); OLG Frankfurt, NVwZ 2002, 626 ff.; OLG Düsseldorf, NVwZ 2002, 629 ff.; OVG RP, DÖV 2002, 743 ff. = NVwZ 2002, 1528 f.; OVG Bremen, NordÖR 2002, 372 ff. = NVwZ 2002, 1530 (LS). 98 Hierzu Kay Waechter, Videoüberwachung öffentlicher Räume und systematischer Bildabgleich, NdsVBl. 2001, S. 77 ff.; Alexander Schmitt Glaeser, Videoüberwachung öffentlicher Räume, BayVBl. 2002, S. 584 ff.; Dirk Biillesfeld, Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze zur Kriminalitätsvorsorge, 2002; aus der Rspr. VG Karlsruhe, NVwZ 2002, 117 f. 99 Joachim Jahn, Verschärfte Finanzkontrollen nach Terroranschlägen, ZRP 2002, S. 109 ff.; Wolfgang Hetzer, Geldwäsche und Terrorismus, ZRP 2002, S. 407 ff.

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Der sicherheitspolitische Grund für diese polizeilichen Handlungserweiterungen liegt in den Veränderungen der sozialen Verhältnisse bzw. des polizeilichen Umfeldes. 100 Vor allem die modernen Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung geben den Anlaß für eine mehr operativ-strategische Ausrichtung des Programms „Sicherheit durch Prävention". Die Spannbreite ist weit. Sie beginnt bei den zunehmenden, fast schon alltäglich gewordenen Gewalttätigkeiten und Zerstörungen im öffentlichen Raum einschließlich der sog. Kleinkriminalität und reicht über die Verbreitung der Organisierten Kriminalität bis hin zu den Attentaten des kultur-extremistischen Terrorismus. Dem soll die Polizei mit den neuen Instrumentarien wirksamer und das heißt vor allem: früher als bisher begegnen können. Die operative Vorfeld-Bekämpfung trägt der Schwäche, zuweilen Hilflosigkeit (zumal gegenüber dem sich jahrelang unauffällig verhaltenden und plötzlich zum Suizidterroristen erwachenden „Schläfer") des allein punktuell-gefahrenabwehrenden Sicherheitskonzepts Rechnung und sucht zu verhindern, daß sich die Bedrohungsphänomene bei ungestörter Verbreitung zu einer machtvollen Gefährdung auswachsen können, die sich nicht mehr beseitigen läßt. Ihre Mittel setzen gerade dort an, wo der Angriff auf die offene Gesellschaft beginnt: an ihrer „offenen Flanke". 101 Am Beispiel von Terrorismus und Organisierter Kriminalität: Deren Täter und Netzwerke oszillieren zwischen Legalität und Illegalität. 102 In den Vorlauf- und Begleitphasen ihrer Anschläge und Verbrechen agieren sie unauffällig und gesetzeskonform. Ihre „wahren" Absichten kommen nicht zum Vorschein. Sie machen sich das zunutze, was die Offenheit der offenen Gesellschaft im Kern ausmacht: die Gewährleistung des legalen Freiheitsgebrauchs aller im äußeren Verhältnis zueinander, ohne daß es auf die inneren Triebkräfte, Motive oder Gesinnungen ankommt. Das Dilemma des freiheitlichen Gemeinwesens, wohl über die Legalität, nicht aber über die innere Tugend, Sittlichkeit und Redlichkeit der Freiheitsausübung wachen zu können und zu wollen, bietet ihnen die logistischen Bedingungen ihres Aufmarsches. Über jenes Band, das den freiheitlichen Staat im Innersten zusammenhält, dringen sie in ihn ein und finden in dem, was das Risiko der Gewähr größtmöglicher Freiheit ausmacht, nämlich in der ebenso großen Unvorhersehbarkeit ihrer gesellschaftlichen Verletzungsmöglichkeiten, 103 jenen ungestörten Unterschlupf, aus dem sie jederzeit und plötzlich hervortreten und zuschlagen können. Die Antwort, die das neue Vorsorgekonzept darauf gibt, verlegt die vorderste Front des Gefahrenabwehrkampfes an diese offene Flanke. Sie zielt darauf ab, das Wagnis der Freiheit zu reduzieren und den Feinden der Freiheit das Leben schwe100 Näher zu den Hintergründen Albers (ο. N. 86), S. 100 ff.; Aulehner (ο. N. 24), S. 57 ff.; Trute (ο. N. 89), S. 404; Michael Kniesel (ο. N. 51); ders., Vorbeugende Bekämpfung von Straftaten im juristischen Meinungsstreit - eine unendliche Geschichte, ZRP 1992, S. 164 f. ιοί Joachim Fest, Die schwierige Freiheit. Über die offene Flanke der offenen Gesellschaft, 1993, insbes. S. 83 ff., 113 ff.; s. auch Schmitt Glaeser (ο. N. 72), S. 27 ff. 102 Trute (ο. N. 89), S. 404. 103 Vgl. Gusy (ο. N. 15), S. 579.

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rer zu machen. Durch die Sammlung von Informationen über die Kriminogenität bestimmter Milieus, Szenen, Orte oder Personen soll dem sicherheitspolitischen Präventivauftrag effektiver als bisher entsprochen werden. Statt auf die Abwehr bereits entstandener Gefahren durch Unterbrechung ihres Kausalverlaufs beschränkt zu sein, was bei krimineller, d. h. im Falle der vorsätzlichen und heimlichen Gefahrenproduktion regelmäßig ins Leere läuft, 104 soll schon der Entstehung solcher Gefahren vorbeugend und vorsorgend begegnet werden.

3. Die Herausforderung

rechtsstaatlicher

Durchformung

An der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Zulässigkeit dieses neuen Ansatzes kann kein Zweifel bestehen. Die partielle Abkehr von den traditionellen Strukturen des Polizeirechts begründet keine prinzipiellen Verfassungseinwände. Das ist heute weitgehend anerkannt. 105 Die polizeiliche Einschreitschwelle der konkreten Gefahr hat keine rechtsstaatlich unabdingbare Bedeutung. Innerhalb des von Überund Untermaßverbot gezogenen Rahmens steht es dem demokratischen Gesetzgeber frei, den präventiven Handlungsauftrag der Polizei auf die Kriminalitätsbekämpfung zu erstrecken und damit verbundene (Freiheits-)Eingriffe in den Bereich der Gefahrenvorbeugung vorzuverlegen. 106 Der Perspektiven Wechsel, der darin für die Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit zum Ausdruck kommt, nämlich der Übergang von der Fixierung auf die Störerperspektive hin zu einer Betonung der Opferperspektive, 107 ankert in den grundrechtlichen Schutzansprüchen der potentiellen Opfer. Doch das Abrücken vom Regelmodell evoziert ebenso zweifellos rechtsstaatliche Herausforderungen. Sie spiegeln sich in den vielstimmigen Klagen über die Erosion des klassischen Polizeirechts. 108 Diese zeigen an, daß der juristischen Verfaßtheit des staatlichen Gewaltmonopols unter dem Gesichtspunkt eines „hohen Maßes" 109 an öffentlicher Sicherheit über lange Zeit bei weitem nicht jene Aufmerksamkeit zuteil wurde wie etwa unter der Zielsetzung eines „hohen Schutzniveaus"110 für die Umwelt oder dem Infrastrukturgewährleistungsauftrag im Bereich der Informationstechnologien.111 Sie machen aber auch - jenseits unfruchtbarer Fundamentalkri104 Waechter (ο. N. 94), S. 855; Trute (ο. N. 89), S. 414 f.; Möstl (ο. N. 24), S. 227. 105 Tendenziell a. A. jedoch Hoffmann-Riem (ο. N. 92), S. 335; Oswin Müller, Abschied von der konkreten Gefahr als polizeiliche Eingriffsbefugnis, StV 1995, S. 602 ff., sowie Lisken (ο. N. 16). 106 Das hat jüngst auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur geheimdienstlichen Fernmeldeaufklärung klar festgestellt: BVerfGE 100, 313 (373, 383). 107 Waechter (ο. N. 94), S. 854. io» Vgl. Trute (ο. N. 89), S. 406 ff., sowie namentlich Denninger (Nachw. ο. N. 15), Hoffmann· Riem (ο. N. 5), und Lisken (Nachw. ο. N. 16). 109 Art. 29 EU. no Art. 174 Abs. 2 EG. m Vgl. ebenso Trute (ο. N. 89), S. 427.

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tiken - die intensive Suche nach den „passenden" Formen und Maßstäben deutlich, die der Rechtswissenschaft und der Rechtspraxis auf dem Weg zu einer rechtsstaatlichen Durchformung vorbeugender Polizeiarbeit aufgegeben ist. Die zentrale Problemstellung liegt hierin: Polizeiliche Vorfeldaktivitäten ereignen sich auf einem gedachten Zeitstrahl zu einem Zeitpunkt, in dem die Möglichkeit, das präventiv-polizeiliche Handeln als „Gegenmaßnahme" an dem vorangegangenem Tun eines Störers oder Straftäters „zu orientieren, zu individualisieren und damit zu dosieren", (noch) nicht besteht.112 Individuelle Verantwortlichkeiten sind (noch) nicht auszumachen. Die herkömmliche Verteilung der polizeilichen Haftung zwischen Störer und Nichtstörer fällt aus. Es handelt sich um sog. ereignis- und verdachtsunabhängige Maßnahmen. Diese stellten zwar solange kein Problem dar, wie sie nicht als Grundrechtseingriffe erkannt waren. Infolge des Ausbaus der grundrechtlichen Gewährleistungsinhalte, namentlich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung,113 treffen sie jedoch zunehmend auf geschützte Freiheitspositionen des Bürgers. Polizeiliche Informationsgewinnung ist heute regelmäßig mit Informationseingriffen zu Lasten Unbeteiligter verbunden (deren Intensität freilich häufig allzu dramatisch eingestuft wird) 1 1 4 . Die vom rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgebot gestellte Frage nach dem zulässigen Ausmaß solcher Eingriffe läßt sich demzufolge nur ungleich schwieriger beantworten als im Falle der Abwehr einer Gefahr. 115 Das Bezugsfeld der vorbeugenden Ermittlungstätigkeit ist nicht die klar umrissene, individuelle Unsicherheit einer Einzelfallsituation, sondern die kollektive Unsicherheit eines Gesamtzustands. Indem sie die Entstehung von Gefahren in den Blick bekommen will, reagiert sie auf diffuse Bedrohungslagen, von denen nicht einer, sondern alle betroffen sind, und in denen weder Taten noch Täter mit einiger Wahrscheinlichkeit benannt werden können. 116 Das führt zwar nicht - wie mancherorts im Schrifttum anklingend - geradewegs zu einem Versagen rechtsstaatlicher Handlungsbindungen oder gar in einen Zustand normativer Halt- und Maßstabslosigkeit. Gleichwohl fehlt es dieser ganz anderen Bedrohungssituation, an der die polizeiliche Tätigkeit hier ansetzt, an jener Konturenschärfe, von der in der gewohnten Weise auf die 112 So auch Denninger (ο. N. 15), KJ 35 (2002), S. 471 (Zitat). 113 BVerfGE 65, 1 (41 ff.), seither std.; Udo Di Fabio , in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1 Rn. 173 ff. " 4 Vgl. am Beispiel der Rasterfahndung Horn (o. N. 97), vor allem gegen die Haltung, hier werde eine Jedermann-Polizeipflichtigkeit begründet und jedermann zum potentiellen Störer oder gar Attentäter stigmatisiert; s. noch unten, Ziff. 4. 1.5 Trute (o. N. 89), S. 408 f., spricht von „Operationalisierungsschwächen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes"; vgl. ferner Dieter Neumann, Vorsorge und Verhältnismäßigkeit, 1994, S. 115 ff., 133, sowie die Nachw. o. N. 108, und Möstl (o. N. 24), S. 229 f., 235 f. 1.6 Das macht auch den Unterschied zum sog. Gefahrenverdacht aus. Er bleibt auf eine konkrete Sachlage bezogen, wenngleich die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines bevorstehenden Schadenseintritts noch unklar ist. Der insofern der Aufklärung dienende Gefahrerforschungseingriff kann daher noch in den herkömmlichen Strukturen des Gefahrenabwehrrechts verarbeitet werden; s. Trute (o. N. 89), S. 408.

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Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit des zu ihrer Bekämpfung eingesetzten Mittels geschlossen werden kann. Das Polizeirecht nimmt hier Züge eines (andernorts bereits ausgeformten) „Risikoverwaltungsrechts", 117 jedenfalls den Charakter eines eigengearteten „Rechtsgebiets der besonderen Gefahrenabwehr mit dem Inhalt der Kriminalitätsbekämpfung" an. 118 Nicht zuletzt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Fernmeldeaufklärung 119 wie auch einschlägige landesverfassungsgerichtliche Judikate der jüngeren Zeit 1 2 0 haben indes deutlich erwiesen, daß auch in diesem Bereich die limitierende Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Lage ist, unter Berücksichtigung der betroffenen Freiheitsinteressen eine angemessene und sachgerechte Bemessung der kriminalpräventiven Informationsvorsorge zu leisten. Eine Vereinnahmung zu beliebiger staatlicher Zweckverfolgung ist selbstredend ausgeschlossen. Dem suchen die einschlägigen polizeirechtlichen Eingriffsnormen dadurch zu entsprechen, daß sie regelmäßig „tatsächliche Anhaltspunkte" für die Begehung von Straftaten voraussetzen. Bloße Vermutungen oder Befürchtungen reichen hierfür nicht aus. Es muß sich um konkrete, in gewissem Umfang verdichtete (Verdachts-)Umstände handeln,121 die die Polizei zur Aufnahme ihrer Vorfelduntersuchungen befugt. Die weiteren Anforderungen an den angemessenen Ausgleich von Freiheit und Sicherheit, von individueller Pflichtigkeit und Verantwortung der Allgemeinheit lassen sich in Abhängigkeit (1) vom Gewicht des durch die Aufgabe der Straftatenverhütung geschützten Rechtsguts, (2) vom Grad der Bedrohung bzw. des Verdachts einer Gefahrenproduktion, (3) vom Maß der polizeilichen Vorfeldverlagerung bzw. der Intensität der betroffenen Freiheitsbeeinträchtigung und (4) vom Maß der verfahrensrechtlichen Schutzvorkehrungen nach dem Je-desto-Schema ausloten.122 Die hieraus bislang gewonnenen Grenzziehungen weisen freilich H? Pitschas (ο. N. 93), S. 224. us Waechter (ο. N. 94), S. 855. i ' 9 BVerfGE 100, 313 (373 ff.); dazu auch Markus Möstl, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die strategische Fernmeldeüberwachung und die informationelle Vorfeldarbeit im allgemeinen, DVB1. 1999, S. 1394 ff.; s. ferner die Überlegungen zur Determination polizeilicher Vorfeldtätigkeit nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips von Möstl (ο. N. 24), S. 229 ff., 236 ff.; Albers (ο. N. 86), S. 241 ff.; auch Aulehner (ο. N. 24), S. 446 ff., 457 ff. 120 BayVerfGH, BayVBl. 1995, 143 ff.; BayVBl. 1998, 142 ff.; BayVerfGH, BayVBl. 2003, 560 ff.; SächsVerfGH, DVB1. 1996, 1423 ff. = SächsVBl. 1996, 160 ff.; SächsVerfGH (ο. N. 96); auch LVerfG MV, DVB1. 2001, 262 ff. '21 Vgl. BVerfGE 100, 313 (395); SächsVerfGH, SächsVBl. 1996, 160 (187). Daß damit in spezifischer Weise solche Umstände gemeint sind, die auf kriminalistischer Erfahrung und polizeilichen Lageerkenntnissen beruhen, versteht sich von selbst und bedarf nicht eigens der Aufnahme in den Text der Eingriffsnorm (überzogen demgegenüber - zur Schleierfahndung - LVerfG MV, DVB1. 2000, 262, 267 f., dagegen BayVerfGH, BayVBl. 2003, 560, 562 f., eine dahingehende Dokumentationspflicht der Polizei bestimmt SächsVerfGH [o. N. 96J). 122 Vgl. BVerfGE 100, 313 (376, 392 f.); auch Möstl (o. N. 119), S. 1401 ff., sowie Horn (ο. N. 97), unter Ziff. II. 3.

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noch nicht die Schärfe und Verläßlichkeit auf, wie sie aus dem Gefahrenabwehrrecht bekannt sind. Aber sie machen das deutlich, was hier das Erfordernis einer äquivalenten Relation zwischen der Duldungspflicht des Betroffenen und dem Charakter der Bedrohungslage genannt sein will. Analog zu der im Gefahrenabwehrrecht geltenden äquivalenten Relation zwischen der polizeilich relevanten Störung (der Gefahr) und ihrer individuellen Zurechenbarkeit (auf einen Störer) 1 2 3 wird man im Gefahrenvorfeld formulieren können: Je anonymer und abstrakter sich die tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Bedrohungslage darstellen, desto weniger „individualisiert" muß auch die grundrechtliche Betroffenheit des Adressaten einer Vorfeldmaßnahme ausfallen. Das freilich verweist auf die Notwendigkeit einer differenzierteren Dogmatik der Betroffenenintensität als wir sie bisher haben.

4. Unklarheiten über die Eingriffsintensität Was damit gemeint ist, kann hier nur beispielhaft angedeutet werden: Vor allem im Zusammenhang mit den Maßnahmen der polizeilichen Schleier- und der Rasterfahndung offenbarten sich in Literatur und Rechtsprechung große Unsicherheiten, bisweilen Irrationalitäten, bei der Frage, wie intensiv die mit ihr verbundenen Grundrechtseingriffe einzustufen sind. Zumeist trifft man auf bloß apodiktische Behauptungen, die ohne jede Begründung entweder eine besonders schwerwiegende oder eine nur geringe Grundrechtsbetroffenheit annehmen. Gerade im Blick auf die maßgebende Bedeutung für die Verhältnismäßigkeitsprüfung bedarf es hier der Entwicklung sachgerechter Kriterien, die die zulässige grundrechtliche Eingriffsintensität - etwa entlang der Abgrenzung zwischen dem Vorfeld und dem Vor-Vorfeld einer Gefahr - differenziert zu beurteilen helfen. Zum Beispiel fehlt einer Personenkontrolle oder einem automatisierten Datenabgleich jede individuelle Focusierung. Die Duldungspflicht des hiervon Betroffenen trifft ihn allein als Teil einer anonymen Menge. Seine Person als solche und sein Verhalten sind zu dem Zeitpunkt, in dem die Kontrolle oder der Abgleich stattfindet, kriminalistisch betrachtet für die Polizei gänzlich uninteressant. Daraus folgt auch, daß die Forderung nach einem Zurechnungszusammenhang, der zwischen dem Verhalten des von einer Personenkontrolle Betroffenen und der von der einschlägigen Befugnisnorm vorausgesetzten Bedrohungslage bestehen müsse,124 von vornherein sinnwidrig ist. 1 2 5 Mit einer solchen Forderung wird der Versuch unternommen, eine Sachlage, in der die Gefahr oder Bedrohung gleichsam anonym ist, in das Prokrustesbett der Gefahrenabwehrdogmatik zu pressen. Das aber verfehlt im Ansatz die Aufgabe, die kriminalpräventive Tä123

s. oben, nach N. 92. 124 So LVerfG MV, DVB1. 2000, 262 (3. LS, 264 ff.) - Schleierfahndung. 125 Richtig BayVerfGH, BayVBl. 2003, 560 (563) - Schleierfahndung.

Sicherheit durch vorbeugende Verbrechensbekämpfung

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tigkeit der Polizei im Spannungsfeld von individueller Freiheit und allgemeiner Sicherheit einer je sachgerechten dogmatischen Ordnung zuzuführen. Dementsprechend wird man die Dinge etwa im Falle einer polizeilichen Observation anders zu beurteilen haben.

5. Präventivwirkungen

und Geeignetheit

Ebenso fragwürdig ist der nicht selten vernehmbare Einwand, die (seit Herbst 2001 durchgeführten) Maßnahmen der vorbeugenden Rasterfahndung hätten bisher in keinem einzigen Fall zur Entdeckung eines terroristischen Gewalttäters geführt und seien daher ungeeignet im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgebots. Die Geeignetheit einer polizeilichen Vorfeldmaßnahme zur Informationsgewinnung kann nicht davon abhängen, daß sie den an sich unerwünschten Erfolg, nämlich die Bestätigung einer Gefahr, erbringt. Das wäre so, als ob die Zweckmäßigkeit eines Feuerlöschers in Frage stünde, weil es nicht brennt. Eine Rasterfahndung kann, aber sie muß nicht zu dem „Erfolg" führen, daß Terroristen entlarvt werden. Allgemein: Vorbeugender Polizeiarbeit geht es darum, mögliche Gefährdungen zu entdecken, nicht möglichst Gefährdungen. Das entbindet freilich nicht von der verfassungsrechtlichen Notwendigkeit, über die Geeignetheit einer polizeilichen Vorfeldmaßnahme nachvollziehbare Rechenschaft abzulegen. Für den Fall der Rasterfahndung ergibt sich diese zunächst exakt aus der Informationsleistung, um deretwillen sie eingeleitet wurde: daß eben Personen „im Raster hängen bleiben". 126 Nun griffe es allerdings zu kurz, das Funktions- und Wirkungsspektrum solcher Vorfeldinstrumentarien der vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung auf die Informationsgewinnung zu beschränken. Neben die „informationelle Sicherheitsvorsorge" 1 2 7 zu dem Zweck, zu einem späteren Zeitpunkt eine wirksamere Gefahrenabwehr und Strafverfolgung betreiben zu können, 128 treten weitere (beabsichtigte) Effekte, die nicht nur vermutlich die gesellschaftliche Tolerierung der vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung weit nachhaltiger befördern, sondern möglicherweise auch die rechtliche Beurteilung der Geeignetheit und Erforderlichkeit der damit verbundenen Vorfeldeingriffsbefugnisse beeinflussen können. Die wissenschaftliche Erklärung dieser Effekte ist das Geschäft der Kriminologie. Ihre Er126 Die Konsequenz dieser Sicht ist natürlich, daß die Rationalität des Rasters ebenso wie die Auswahl der ihm zugeführten Daten gewissermaßen verfassungsrechtlicher „Beobachtung" unterliegt; das ist hier nicht zu vertiefen. ™ Pitschas (ο. N. 45), S. 858. 128 Für eine eigene polizeiliche Aufgabenkategorie der Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr und die Straftatenverfolgung spricht sich Franz-Ludwig Knemeyer, Datenerhebung, Datenverarbeitung und Datennutzung als Kernaufgaben polizeilicher Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr und Straftaten Verfolgung (Informations Vorsorge), in: Hans-Wolfgang Arndt (Hrsg.), FS für Rudolf, 2001, S. 483 (489 ff.), aus.

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kenntnisse erweitern die Wahrnehmung der präventiven Wirkungen, die in dem Konzept der vorbeugenden Straftatenbekämpfung angelegt sind, und erhöhen so die politische Rationalität und die rechtsstaatliche Steuerungsfähigkeit der polizeilichen Vorfeldtätigkeit. Die Kriminologie wird hier zu einer Art „Hilfswissenschaft" des Polizeirechts. 129 Nur zwei Aspekte seien angedeutet: Zum einen geht es um die Beeinflussung und Pflege des sozialen „Sicherheits-Klimas", das mit einer verstärkten Vorfeldkompetenz der Polizei erreicht werden soll. In Anbetracht der in der Bevölkerung verbreiteten Kriminalitätsfurcht verfolgt sie - ungeachtet der Frage, ob das Unsicherheitsgefühl der objektiven Sicherheitslage entspricht 130 - das Ziel, dem verlorengegangenen Vertrauen in die Integrität des öffentlichen Raums und die Verläßlichkeit der sozialen und rechtlichen Normen des Gesellschaftslebens entgegenzuwirken. Dahinter steht die Annahme eines im einzelnen komplexen, aber insgesamt nicht von der Hand zu weisenden Ursachenzusammenhangs zwischen dem „Zustand" einer gesellschaftlichen Ordnung und ihrer Anfälligkeit für die Entstehung von Kriminalität, wie er von der Broken-Windows-Theorie gezeichnet und empirisch belegt wird. 1 3 1 Ob und inwieweit dieser Gesichtspunkt dem polizeirechtlichen Schutzgut der öffentlichen Ordnung eine neue Bedeutung verleiht, ist freilich gegenwärtig noch nicht abzuschätzen. Der andere Präventiveffekt, dem in der rechtsstaatlichen Steuerung der vorbeugenden Kriminalitätsbekämpfung eine vergleichsweise größere Rolle zukommen könnte, ist der der Abschreckung. 132 An sich ein altbekanntes Mittel zur Verhinderung von Gefahren war sie bislang eine Sache des Strafrechts. Dort vor allem durch die Sanktionsandrohung der Verbotsnormen bewirkt, geht es hier um Abschreckung durch Kontrolle. Das Recht der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten zielt auf eine positive generalpräventive Wirkung, indem seine Mittel und Instrumente die Entdeckungswahrscheinlichkeit krimineller Gefahrenproduktion erhöhen. Freilich liegt es auch hier an der kriminologischen Forschung, die Zusam129

Waechter (ο. N. 94), S. 855; ders., Prävention durch Pranger - die Rückkehr der Stigmata, VerwArch 92 (2001), S. 368 ff. 130 Auch das allgemeine Gefühl von Unsicherheit, i. e. die Beurteilungsunsicherheit über das reale Maß an objektiven Sicherheitsgefährdungen, wird man als dem präventiven Auftrag der Staatsaufgabe Sicherheit zugehörigen Anlaß anzusehen haben. 131 Vgl. hierzu Waechter (ο. N. 94), S. 858; Uwe Volkmann, Broken Windows, Zero Tolerance und das deutsche Ordnungsrecht, NVwZ 1999, S. 225 ff. (m. w. N.); aus der Kriminologie vor allem den sog. „Sherman-Report": Lawrence W. Sherman u. a. (Hrsg.), Preventing Crime: What Works, What Doesn't, What's Promising?, 1997; ferner das „Düsseldorfer Gutachten" des Instituts für Kriminalwissenschaften und des Fachbereichs Psychologie (Sozialpsychologie) der Philipps- Universität Marburg, Empirisch gesicherte Erkenntnisse über kriminalpräventive Wirkungen, 2002, - die Hinweise auf diese Studien verdanke ich meinem Marburger Kollegen Dieter Rössner -, s. auch ders., Ordnung als Gemeinschaftswert - Nachdenken über das Zero-Tolerance-Prinzip, in: Fritjoft Haft/Hagen Hof/Steffen Wesche (Hrsg.), Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts, 2001, S. 223 ff. 1 32 Waechter (ο. N. 94), S. 859 f.; ders. (ο. N. 96), S. 144 ff.; Möstl (0. N. 24), S. 247 ff.

Sicherheit durch vorbeugende Verbrechensbekämpfung

menhänge zwischen Entdeckungs(wahrnehmungs)wahrscheinlichkeit schreckungswirkung verläßlich aufzuzeigen und nachzuweisen.

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und Ab-

So sehr nämlich die geschilderten Präventivwirkungen im Horizont der Laiensphäre als die stärksten Bataillone in der Verteidigung der offenen Flanke der offenen Gesellschaft erscheinen, so sehr muß die Frage ihrer rechtsstaatlichen „Verwertbarkeit" höchst wachsam im Auge haben, daß die polizeilichen Vorbeuge- und Kontrollbefugnisse zumindest in ihrer Summe die Tendenz hervorrufen können, in ein Überwachungsklima umzuschlagen, in dem die Lebendigkeit der offenen Gesellschaft wiederum verkümmert. Das verdeutlicht den Rang, der einer rationalen Kriminologie an dieser Stelle zukommt, weil und solange es für die Frage, inwieweit diese Wirkungen die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen beeinflussen können, an jener Alltagserfahrung fehlt, die im herkömmlichen Polizeirecht die Eingriffsschwelle der konkreten Gefahr für jedermann kalkulierbar macht. Verhängnisvoll wäre es indes, an dieser Stelle dunklen Bedrohungsszenarien einer nahenden polizeistaatlichen Apokalypse das Regime zu überlassen. Die im grundgesetzlichen Verfassungsstaat über Jahrzehnte ausgebauten Strukturen zur Bewahrung der individuellen und gesellschaftlichen Freiheit sind stabil genug, um sie mit der eminent politischen Herausforderung zu konfrontieren, die der freiheitlichen Ordnung von heute durch die Machtanmaßungen krimineller und terroristischer Subsysteme erwachsen ist. Auch wenn sich die offene Gesellschaft schwer tut, eine gemeinsame politische Sinnstiftung zu entwickeln: Die Furcht vor einer Kriminalisierung des Politischen könnte sich zu jener heilsamen Furcht vor der Zukunft entwickeln, die schon Tocqueville zu den unerläßlichen Bedingungen des freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens zählte.

Pluralismus als medienrechtliches Ordnungsprinzip? Von Herbert Bethge

I. Zur Vieldeutigkeit eines Begriffs Pluralismus ist ein vielschichtiger Begriff mit zahlreichen Facetten. Dieselbe Komplexität eignet seinen sprachlichen Variationen wie Pluralität und Pluralisierung. Normative Prägnanz kommt ihnen samt und sonders nicht zu. Trennscharfe Konturen haben sie nicht. Sie strömen im Gegenteil einen sanften Nebel aus. Eine gewisse Beliebigkeit, ja Grenzenlosigkeit ist ihnen nicht abzusprechen. Für konkrete juristische Problemlösungen taugen sie unmittelbar nichts. Das nimmt ihnen andererseits nicht jegliche juristische Relevanz. Herausforderungen des Rechts werden nicht selten durch plakative und plastische Begriffe umrissen. Für den Juristen haben sie zeichenhafte Bedeutung. Die Rechtswissenschaft läßt sich von der Assoziationsfülle solcher Formeln stimulieren und inspirieren. Man spricht von heuristischen Begriffen. 1 Sie müssen diskutiert und juristisch zubereitet werden, d. h. auf ihre Anwendbarkeit und Umsetzungsfähigkeit hin überprüft werden. Gegen solche Schlüsselbegriffe 2 und /oder Schleusenbegriffe 3 ist nichts einzuwenden. Falsch wäre es indessen, sie zu hypostasieren und zu globalen Welterlösungsformeln mit pseudonormativem Gehalt hochzustilisieren, um sodann aus spekulativ gewonnenen Prämissen rechtliche Ableitungen für jede Konfliktlösung zu versuchen. Exemplarisch für diese Situation standen die 70er Jahre, als es um die Reizworte „Demokratisierung" und „Partizipation" ging.4 Die Zeiten ändern sich. Die politische Grundstimmung dieser Tage ist von Suggestivbegriffen wie Sub1 Schmitt Glaeser, VVDStRL 31 (1973), S. 180; ders., in: Lerche/ Schmitt Glaeser/ Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, S. 42. 2 Dazu Voßkuhle, Die Verwaltung, Beiheft 4, 2001, S. 197 ff. - Auf einer ähnlichen Linie liegen „Signal-Wörter", die juristische Problemlagen erhellend zusammenfassen; dazu mit respektvollem Hinweis auf Hans Peter Ipsens unerschöpfliche Fähigkeiten Oppermann, JZ 1973,42. 3 Zum Rechtsstaat als „Schleusenbegriff' Böckenförde, in: ders., Staat-Gesellschaft-Freiheit, 1976, S. 66 ff.; Isensee, in: HStR IX, 1997, § 202 Rn. 11 mit Fn. 27; Schmidt-Aßmann, in: HStR I, 2. Aufl. 1995, § 24 Rn. 29. 4 Dazu Schmitt Glaeser (Nachweise in Fn. 1) sowie ders., DÖV 1974, 152; ders., Der Staat 13 (1974), S. 574 f.

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sidiarität, Deregulierung, Globalisierung und nachhaltige Entwicklung bestimmt; Schlagworte, die auch rechtswissenschaftliche Dimensionen haben. Schlüsselbegriffe können freilich vom Zeitgeist gestützt sein und mit ihm - mangels Nachhaltigkeit - vergehen. Sie können schließlich schon wegen sprachästhetischer Defizite den Verfall in sich tragen. So verhält es sich mit dem Paradoxon der „regulierten Selbstregulierung", einem Wortungetüm, das nur zur unfreiwilligen, im Grunde zur selbstreferentiellen Karikatur seiner Verfechter geraten kann. Doch gibt es auch Dauerbrenner mit oder ohne Passepartout-Funktion. Nicht nur von episodenhafter Kurzlebigkeit ist auf alle Fälle der Pluralismus, der als plastischer und assoziationsreicher Querschnittbegriff seit langem die Rechtswissenschaft beeindruckt, aber auch beunruhigt.5

II. Pluralismus als staatstheoretisches Grundprinzip Pluralistische Elemente und Implikationen charakterisieren schon die für die freiheitliche Demokratie fundamentale Dichotomie von Gesellschaft und Staat.6

7. Pluralismus als Signatur des freiheitlichen

Verfassungsstaates

Der Pluralismus der offenen Gesellschaft findet sein Pendant im freiheitlichen Verfassungsstaat. Wie es Walter Schmitt Glaeser formuliert: „Der freiheitliche Verfassungsstaat ist die Staatsform der pluralistischen Gesellschaft." 7 Er ist das Strukturelement der freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie. 8 Pluralismus steht insoweit für die Vielfalt der Richtungen, Strömungen und Meinungen der Gesellschaft im säkularen, zur weltanschaulichen Neutralität 9 verpflichteten Staat, den seinerseits folgerichtig das Gebot der Nichtidentifikation (Herbert Krüger) 10 trifft. Der von der pluralistischen Gesellschaft geprägte moderne Verfassungsstaat präsentiert 5

Scheyhing, Pluralismus und Generalklauseln, Recht und Staat 454 (1976), S. 3; Zacher, Der Staat 14 (1975), S. 444. 6 Rupp, in: Demokratie und Verwaltung, 1972, S. 612 f. 7 Schmitt Glaeser, Ethik und Wirklichkeitsbeziehung des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1999, S. 18, unter Bezugnahme auf Isensee, in: HStR I, 2. Aufl. 1995, § 13 Rn. 121 ff.; vgl. auch Isensee, in: HStR III, 2. Aufl. 1996, § 57 Rn. 93. 8 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 619 ff. m. w. N. in Fn. 213 ff. 9 BVerfGE 93, 1 (16); 102, 370 (394); BVerfG NJW 2002, 2627; grundlegend Schiaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972; vgl. auch Maurer, in: Festschrift für Winfried Brohm, 2002, S. 460. - Zur Gegenüberstellung von gesellschaftlichem Pluralismus einerseits und der „ideologischen Neutralität" der staatlichen Integrationsmacht andererseits vgl. Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 293. 10 Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 178 ff.; Steiner, VVDStRL 42 (1984), S. 29; vgl. auch Grimm, ebda., S. 73.

Pluralismus als medienrechtliches Ordnungsprinzip?

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sich zugleich als Gegenentwurf zum totalitären Staat, der auf die Identität von Staat und Gesellschaft setzt und auf der Ineinssetzung von privater und öffentlicher Existenz basiert. 11 Im freiheitlichen Verfassungsstaat ist die politische Ordnung eine pluralistische Ordnung, die maßgeblich von den politischen Parteien mitbestimmt wird, 12 in der aber auch die Medien eine entscheidende Rolle spielen.

2. Kontrast- und Korrespondenzbegriffe Der Totalitarismus ist notabene nicht der einzige, hier eindeutig pejorative, Kontrastbegriff, durch den der Pluralismus sozusagen positiv definiert wird. Der Pluralismus erlangt Prägung, Kontur und Farbe auch durch andere Kontrast- und Korrespondenzfiguren. Ein beileibe nicht negativ besetzter Gegenbegriff zum Pluralismus kann der Individualismus sein, wiewohl Pluralismus und Individualismus unter dem überwölbenden Dach eines multivalenten Rechtsstaatstypus auch korrespondierende, also nicht unbedingt gegenläufige 13 Bezüge erlangen (können).14 Pluralismus bedarf schließlich eines Restes staatsverbindlicher Ordnungssubstanz bzw. eines Mindeststandards an ethischer Homogenität, soll er nicht zur Anarchie entarten. 15 III. Medienspezifische Implikationen Auch im Bereich der Medien stellt der Zielwert „Pluralismus" ein mehrdimensionales Phänomen16 mit beträchtlichem Problempotential dar. Der Begriff selbst wirkt quecksilbrig und vexierend. Er deckt - deskriptiv - faktische Gegebenheiten. Er wirkt - normativ und abbreviativ - als Richtschnur und Maßstab für bestimmte Medieninhalte und Strukturen. Er warnt - appellativ - vor Fehlentwicklungen. Über einen einheitlichen rechtsdogmatischen Leisten schlagen läßt er sich nicht. Ihm kommt vielmehr in der systematischen Architektur der einzelnen Medien ein unterschiedlicher, nicht immer widerspruchsfreier Stellenwert zu, wobei allerdings die positive Konnotation überwiegt. Ein ausschließlicher Sympathieträger steht immerhin nicht zur Debatte. Auch normenhierarchisch bewegen sich die medienspezifischen Erscheinungen des Pluralismus auf unterschiedlichen Ebenen, also nicht notwendigerweise ausschließlich auf verfassungsrechtlichem Niveau. n Schmitt Glaeser, in: HStR II, 2. Aufl. 1998, § 31 Rn. 2; vgl. auch dens., JöR n.F. Bd. 50 (2002), S. 170; Hans H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 17 f. 12 Hans H Klein (Fn. 11), Art. 21 Rn. 9. 13

So aber Loewenstein, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1975, S. 385 f. 14 Isensee, in: HStR IX, 1997, § 202 Rn. 2. 15 Isensee, NJW 1977, 545. ι 6 Vgl. auch Roider, Perspektiven einer europäischen Rundfunkordnung, 2001, S. 240.

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Herbert Bethge

1. Pluralismus als Chiffre für Meinungsvielfalt

und Medienvielfalt

Pluralismus in seiner ursprünglichen und unprätentiösen Form steht im Medienrecht zunächst einmal für Vielfalt. Mit Vielfalt wiederum ist nicht so sehr in erster Linie die numerische Zahl von Medienträgern, Medienunternehmen und Medienprodukten gemeint. Vielfalt bedeutet vor allem Meinungsvielfalt, 17 eben Meinungspluralismus oder Pluralität der Meinungen.

a) Meinungsvielfalt in der Demokratie aa) Die schlechthin konstituierende nicht nur ein Schlagwort

Bedeutung der Medien -

Meinungsvielfalt ist Lebenselixier der Medienfreiheiten wie der Demokratie. In der Forderung nach Meinungsvielfalt treffen sich die grundrechtlich verbrieften Kommunikationsfreiheiten der Medien mit den Anliegen der Demokratie und des für sie bedeutsamen öffentlichen Meinungsbildungsprozesses.18 Freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung kann nur unter den Bedingungen umfassender Information gelingen,19 die vorzugsweise Sache der Medien ist. Das ist der Grund, warum die Medien von schlechthin konstituierender Bedeutung für die freiheitlich demokratische Grundordnung sind. 20 Gleichermaßen einsichtig ist, daß vor allem Presse und Rundfunk nicht nur Medium, sondern auch Faktor für die Bildung öffentlicher Meinung sind 21 und daß sie als Mitgestalter einer pluralistischen geistigen Auseinandersetzung agieren. 22 Von daher ist der Schluß zwingend, daß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG keinen Schutz vor der Programmkonkurrenz anderer Rundfunkveranstalter jedweder Organisationsform wie überhaupt vor journalistischer Konkurrenz vermittelt. 23 Umgekehrt erweist sich Meinungskonzentration - jedenfalls ab einem gewissen Intensitätsgrad - als gleichermaßen medien- wie demokratiekonträr. Darum stellt vorherrschende Meinungsmacht,24 zumal multimediale Meinungsmacht,25 d. h. die Bündelung publizistischer Wirkungsmöglichkeiten in 17 BVerfGE 83, 238 (320). is BVerfGE 20, 56 (97 f.); 52, 283 (296). 19 BVerfGE 97, 228 (257). 20 BVerfGE 35, 202 (221 f.); 101, 361 (389); Schmitt Glaeser, JöR n. F. Bd. 50 (2002), S. 169. 21 BVerfGE 12, 205 (260 f.); 35, 202 (222); 60, 53 (64). 22 Schmitt Glaeser, in: HStR II, 2. Aufl. 1998, § 31 Rn. 6. 23 BVerfGE 74, 297 (332 f.); 97, 228 (268); vgl. auch Neun, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Grenzen des Wachstums, 2002, S. 207; Michel/Brinkmann, in: Hahn/Vesting (Hrsg.), Beck'scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2003, § 5 Rn. 22; Jarass, AfP 1993, 460. 24 BVerwGE 108, 108 (121); BVerfGE 73, 118 (160); 95, 163 (172); 97, 228 (258). 25 BVerfGE 73, 118 (176); dazu Degenhart, Festschrift 100 Jahre SächsOVG, 2002, S. 487.

Pluralismus als medienrechtliches Ordnungsprinzip?

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Rundfunk und Presse, unter Umständen einen grundrechts- wie demokratiewidrigen Zustand dar. Deshalb sind Informationsmonopole verpönt 26 und ist das Entstehen „geschlossener Meinungsmärkte und Eliten" zu verhindern. 27 Deswegen trifft den Staat die Pflicht, der Meinungskonzentration entgegenzuwirken.28 Garant der Meinungsvielfalt ist insoweit letztlich der Staat, nicht der Markt. 29 bb) Zur Relevanz einer demokratisch-funktionalen der Kommunikationsgrundrechte

Sicht

(1) Demokratie und Grundrechte Der Interdependenz von Freiheit und Demokratie 30 auf dem Feld der Kommunikationsgrundrechte versucht eine „demokratisch-funktionale" Auslegungsmethode gerecht zu werden. Sie fungiert als eine Interpretationsvariante von mehreren Deutungsmöglichkeiten im Kanon des für die Grundrechtsauslegung typischen „additiven Methodenpluralismus". Ob die demokratisch-funktionale Sicht für alle Konflikte einen tauglichen oder auch nur zulässigen Lösungsansatz bereit hält, 31 steht auf einem anderen Blatt. Immerhin darf nicht außer acht gelassen werden, daß Demokratie und Freiheit „keine naturrechtliche Einheit" (Hans Heinrich Rupp) darstellen, sondern daß zwischen Volkssouveränität und Liberalität sehr wohl Friktionen auftreten (können).32 (2) Dienende Funktion der Freiheitsrechte? Als ausgesprochen prekär erscheint vor allem die vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung vertretene Deutung der Rundfunkfreiheit als einer „dienenden Freiheit". 33 Einem vor die Klammer der grundgesetzlichen Grundrechtsordnung gezogenen liberalen FreiheitsVerständnis widerstreiten solche Indienstnahmen und Instrumentalisierungen zutiefst. Walter Schmitt Glaeser 26 BVerfGE 97, 228 (258). 27 So Schmitt Glaeser, in: HStR II, 2. Aufl. 1998, § 31 Rn. 24. 28 BVerfGE 20, 162 (175 f.); 97, 228 (258). 29 Wieland, Der Staat 23 (1984), S. 256 f. m. w. N.; Bethge, DÖV 2002, 677. - Zur kaum mehr überschaubaren Kontroversliteratur vorwiegend zur Wahrung der Rundfunkvielfalt Tschon, Cross Ownership und publizistische Gewaltenteilung, 2002, S. 424 ff. 30 Vgl. auch BVerfGE 66, 116 (133). 31 Kritisch Hans H Klein, DVB1. 1994, 494 mit Fn. 70; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG I, 4. Aufl. 1999, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 3; vgl. auch Rupp, in: HStR I, 2. Aufl. 1995, § 28 Rn. 32 mit Fn. 82. 32 Kloepfer, in: HStR VI, 2. Aufl. 2001, § 143 Rn. 9; Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, 1999, S. 263 ff. 33 Seit BVerfGE 57, 295 (319 f.) st. Rspr.; zuletzt etwa BVerfGE 97, 228 (256 f.). Kritisch zuletzt Schoch, JZ 2002, 803; Bullinger, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, 2001, S. 217. 31 FS Schmitt Glaeser

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spricht nicht von ungefähr von einer „unglücklichen Formel". 34 Denn einem Freiheitsrecht immanent sind Beliebigkeit, Spontaneität, Individualität und individuelle Willkür. 35 Privatautonomie und Privatnützigkeit sind Basiselemente des Grundrechtsschutzes. 36 Grundrechte gewährleisten Selbstentfaltung, nicht Fremdbestimmung. Freiheit kann nur als Freiheit „wovon", nicht als Freiheit „wozu" verstanden werden. 37 Schon die Vorstellung eines „Funktionsgrundrechts" verfehlt die Idee voraussetzungsloser Freiheit. 38 Vor allem: Freiheit dient nicht; 39 der Grundrechtsträger leistet keinen verfassungsrechtlich vorausgesetzten Dienst 4 0 Private Freiheiten dürfen nicht inhaltlich mit öffentlichen Aufgaben, Gemeinwohlbelangen und Verantwortlichkeiten überzogen werden. 41 Dienende Freiheitsgewährleistungen großen Stils sind eine grundrechtliche contradictio in adjecto.42 Der Rundfunkveranstalter ist nicht der mit einer staatlich sanktionierbaren Grundpflicht oder Dienstbarkeit belastete Erfüllungsgehilfe der demokratischen Kommunikationsordnung. 43

(3) Besonderheiten der Rundfunkfreiheit? Andererseits: Die Rundfunkfreiheit, jedenfalls als Rechtsposition des öffentlichrechtlichen Integrationsfunks, wies immer schon fiduziarische Akzente auf. 44 Ob diese treuhänderische bzw. fremdnützige Tendenz mit dem Fortfall des Rundfunkoligopols 45 des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung obsolet geworden ist, steht zu bezweifeln. Die Frage, ob die Rundfunkfreiheit überhaupt zu jenen Freiheiten rechnet, die einen staatsausgrenzenden Charakter im klassisch-liberalen Sinn erfüllen, ist noch nicht beantwortet. 46 Das Bundes34 AöR 112 (1987), S. 232 f. 35 Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 163 f.; Schmitt Glaeser, VVDStRL 31 (1973), S. 222, 252; Starck, Festgabe BVerfG und GG II, 1976, S. 484; kritisch Krüger, Festschrift für Ulrich Scheuner, 1973, S. 289. 36 Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), S. 55 m. w. N. 3v Vgl. auch Isensee, Der Staat 20 (1981), S. 164. 38 Verständlich daher die Reaktion von Rupp, in: HStR I, 2. Aufl. 1995, § 28 Rn. 36 Fn. 94. 39 Kuli, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 663 ff. 40 Vgl. aber BVerfGE 87, 181 (198) für den Rundfunk. 41

Arndt, Die Rolle der Massemedien in der Demokratie, 1966, S. 4 f.; Kuli, in: Festschrift für Martin Löffler, 1980, S. 191. 42 Bethge, DÖV 2002, 677. 43 Bethge, NVwZ 1997, 6; Schoch, VVDStRL 57 (1998), S. 196 mit Fn. 180. 44 Ossenbühl, DÖV 1977, 381 ff.; Scholz, JZ 1981, 564; Kühler, Medienverflechtung, 1982, S. 85 mit Fn. 75; Schreier, Das Selbstverwaltungsrecht der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, 2001, S. 96 f. 45 Von Schmitt Glaeser, Der Staat 13 (1974), S. 579, als „künstliche Notlösung" eingeordnet; vgl. auch dens., AöR 97 (1972), S. 80 Fn. 76, 116. 46 Ähnlich Grimm, VVDStRL 42 (1984), S. 71.

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Verfassungsgericht hält die Rundfunkfreiheit im Unterschied zu anderen Freiheitsrechten des Grundgesetzes nicht für ein Grundrecht, das seinem Träger zum Zwecke der Persönlichkeitsentfaltung oder Interessenverfolgung eingeräumt ist. 47 Das steht freilich in einigem Gegensatz zum Befund des Gerichts, daß es dem Gesetzgeber untersagt ist, die private Form der Veranstaltung von Rundfunksendungen um das Grundelement privatautonomer Gestaltung und Entscheidung und damit um ihre eigentliche Substanz zu bringen. 48 Wie auch immer: Von diesen inhaltlichen Besonderheiten abgesehen kann die Rundfunkfreiheit - als Veranstalterfreiheit 49 inklusive Programmautonomie 50 - keine natürliche Freiheit sein.51 Sie wirkt nicht urwüchsig 52 etwa im Sinne einer bloß technischen Variante vorstaatlicher Meinungsfreiheit. Sie bedarf einer positiven Ordnung. 53 Sie ist normgeprägt und rechtserzeugt, d. h. gesetzesakzessorisch bzw. gesetzesdeterminiert. Sie bleibt ein Organisationsproblem. 54 Man mag die frühere „institutionelle Sicht" der Rundfunkfreiheit terminologisch verabschiedet haben. Der Sache nach existiert sie noch. 55

b) Medienvielfalt ja, publizistische Gewaltenteilung nein Meinungsvielfalt erfordert nicht zwangsläufig Medienvielfalt; andererseits kommt Medienvielfalt den Anliegen der Meinungsvielfalt entgegen. Der Medienvielfalt korrespondiert freilich kein Gebot publizistischer Gewaltenteilung. Presse und Rundfunk stehen sich zwar in ihrer jeweiligen Grundrechtsträgerschaft als staatsfrei konkurrierende Medien gegenüber, so daß von einer verfassungsrechtlich vorgegebenen Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit von Pressefreiheit und Rundfunkfreiheit auszugehen ist. 56 Doch gibt es keinen verfassungsrechtlichen Grundsatz publizistischer Gewaltenteilung,57 auf Grund dessen die Funktionsbereiche 47 BVerfGE 87, 181 (197). 48 BVerfGE 73, 118 (157, 171); 83, 238 (318, 329); 97, 228 (268). 49 BVerfGE 95, 220 (234). so BVerfGE 59, 231 (258); 87, 181 (201); 90, 60 (87); Stettner, UFITA Bd. 2002/III, S. 763 f. 51 BVerfGE 95, 220 (237); kritisch Depenheuer, AfP 1997, 673 m. w. N. 52 Hans H Klein, Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 199, im Anschluß an Bethge, VVDStRL 57 (1998), S. 30 f. 53 BVerfGE 57, 295 (320 f.); 83, 238 (296). 54 So schon Starck, Rundfunkfreiheit als Organisationsproblem, Recht und Staat 422/423 (1973); Scholz, JuS 1974, 299 ff. 55 Die jüngere organisations- und verfahrensrechtliche Sicht der Grundrechte hat vieles von der altvorderen institutionellen Blickweise aufgenommen; vgl. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 49; Bethge, Die Verwaltung 27 (1994), S. 437 Fn. 18. 56 BVerwGE 70, 310 (317). - Generell zur Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit aller grundrechtlichen Freiheitsangebote nach Geltungsgrund, Anwendungsauftrag und staatsrechtlichem Gewicht vgl. Kirchhof, in: HStR IX, 1997, § 221 Rn. 102. 31*

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von Presse und Rundfunk von Verfassungs wegen getrennt zu halten wären und funktionsübergreifende Überlagerungen nicht stattfinden dürften. Bereits die seinerzeitige These einer publizistischen Gewaltenteilung zwischen privatrechtlicher Pressestruktur auf der einen und einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkverfassung auf der anderen Seite gab nur eine historisch faktische Momentaufnahme als Verfassungsnormativität aus.58 Ob wenigstens eine Maxime der publizistischen Gewaltenteilung als verfassungspolitische Zielvorgabe den Gesetzgeber dazu ermächtigt, auf eine reinliche Funktionentrennung zwischen den verschiedenen Medien hinzuwirken, ist eine andere Frage. Ein verfassungsrechtlicher Inkompatibilitätsgrundsatz besteht in dieser Richtung jedenfalls nicht. 59 Konzentrationsprozessen nach der Art von multimedialer Meinungsmacht und/oder cross-ownership muß mit anderen Maßstäben als dem einer vermeintlich verfassungsrechtlich vorgegebenen publizistischen Gewaltenteilung begegnet werden. 60

2. Pressefreiheit

und externer Pluralismus

a) Die Konkurrenz von Presseerzeugnissen Auf dem Feld der Pressefreiheit steht der Pluralismus als Chiffre für die Existenz einer relativ großen Zahl selbständiger, vom Staat unabhängiger und nach ihrer Tendenz, politischen Färbung oder weltanschaulichen Grundhaltung miteinander konkurrierender Presseerzeugnisse.61 Presseunternehmen agieren in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz. 62 Der Pluralismus ist hier weitgehend das Synonym für die externe Pluralität von Presseprodukten, 63 kurz: für Außenpluralismus. Das Grundmuster stimmt auch dann, wenn man ins Kalkül zieht, daß Zeitungsverlage, Zeitungsdruckereien und Zeitungen nicht in beliebiger Anzahl neu gegründet und unterhalten werden können.64 Das Prinzip des externen Presse57 In dieser Richtung aber früher Krause-Ablaß, Der Grundsatz der „publizistischen Gewaltenteilung" im Verhältnis von Presse und Fernsehen, 1968, S. 3 ff.; Leisner, Werbefernsehen und Öffentliches Recht, 1967, S. 155; wie hier im Anschluß an Hans H. Klein, Die Rundfunkfreiheit, 1978, S. 56 f.; Lerche, Presse und privater Rundfunk, 1984, S. 30; Degenhart, AöR 109 (1984), S. 143; ders., Festschrift 100 Jahre SächsOVG, 2002, S. 491; BVerfGE 83,238 (313). 58 So zutreffend Merten, Evangelisches Staatslexikon, Band 1, 3. Aufl. 1987, Sp. 2091. 59 Α. M. noch Walter Schmidt, Rundfunkvielfalt, 1984, S. 102; Kubier, Medienverflechtung, 1982, passim. 60

Dazu umfassend Tschon, Cross Ownership und publizistische Gewaltenteilung, 2002, passim. 61 BVerfGE 12, 205 (261); 20, 162 (175); 52, 283 (296); vgl. auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 4. Aufl. 1999, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 81 mit Fn. 250. 62 BVerfGE 20, 162(175). 63 Kaiser, Das Recht des Presse-Grosso, 1979, S. 82. 64 BVerfGE 12, 205 (261).

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Pluralismus paßt sich ein in eine Reihe anderer indisponibler verfassungsrechtlicher Sicherungselemente des Printmediums. Presseunternehmen müssen sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden können. Sie arbeiten nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen und in privatrechtlichen Organisationsformen. 65 Die Presse ist ein privates, auf legitimes Gewinnstreben ausgerichtetes Gewerbe. 66 Diese Einbettung der Presse in Privatrecht und Privatwirtschaft ist - per Institutsgarantie 67 - in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG und in dem idealiter konkurrierenden Art. 12 Abs. 1 GG grundrechtlich festgeschrieben. Joseph H. Kaiser brachte es früh auf den Punkt: Private Struktur macht frei. 68 Vor diesem Hintergrund ist einsichtig, daß das Grundrecht der Pressefreiheit auch die Freiheit umfaßt, die Tendenz einer Zeitung festzulegen, beizubehalten, zu ändern und diese Tendenz zu verwirklichen. Mehr noch: Der Tendenzschutz ist - so das Bundesverfassungsgericht - eine Grundbedingung freier Presse.69

b) Der Ausschluß binnenpluralistischer Organisationsformen aa) Die Reichweite der Pressefreiheit Zur Pressefreiheit und zu ihren essentiellen Bestandteilen, Tendenzschutz und Redaktionsautonomie, gehört auch die für ein natürliches Freiheitsrecht typische liberale Freiheit zur Beliebigkeit; 70 ein Begriff, der ja keinesfalls negativ besetzt ist und mit dem kein Plädoyer für Schrankenlosigkeit verbunden ist, der Art. 5 Abs. 2 GG eine Absage erteilt. Tendenzschutz impliziert das Recht zur Einseitigkeit und zur Parteinahme. Wenn mit der Pressefreiheit Privatnützigkeit 71 und Privatautonomie als Elementardaten individualrechtlichen Grundrechtsschutzes gewährleistet sind, verbietet sich zugleich jede Art von planierender, d. h. Eigenwilligkeiten einebnender, Binnenpluralisierung von Presseunternehmen etwa nach dem Muster öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten. Dies gilt auch für den Fall, daß der vielfaltsichernde externe Pluralismus versagt und der Staat aufgerufen ist, den Ge65 BVerfGE 20, 162 (175); 57, 295 (323); 66, 116 (133); Hans H Klein, in: Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 199. 66 So Schmitt Glaeser, in: Festschrift für Günter Dürig, 1990, S. 105 Fn. 76. 6v Zum Institut „Freie Presse" BVerfGE 20, 162 (175); 80, 124 (133); BVerwGE 70, 310 (311). 68 Kaiser, Presseplanung, 1972, S. 31; vgl. auch Kuli, in: Festschrift für Martin Löffler, 1980, S. 194. 69 BVerfGE 52, 283 (296). 70 Dazu Schmitt Glaeser, VVDStRL 31 (1973), S. 223; Bullinger, in: HStR VI, 2. Aufl. 2001, § 142 Rn. 148 Fn. 303. 71 Zur Privatnützigkeit als Wesensmerkmal der Grundrechte Schmitt Glaeser, in: Festschrift für Günter Dürig, 1990, S. 104, im Anschluß an Hans H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, S. 43; vgl. auch Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), S. 55 m. w. N.; Bethge, DÖV 2002, 676.

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fahren der Pressekonzentration zu begegnen.72 Weder gestattet es die individualgrundrechtliche Dimension der Pressefreiheit, die medienbetriebliche Verfügungsbefugnis des Verlegers auf gesellschaftlich relevante Gruppen zu übertragen. Noch entspricht es dem Tendenzschutz, dem Medium Ausgewogenheits- und Objektivitätsauflagen zu machen. Horst Ehmkes - ohnehin nur halbherziger - Vorschlag einer „unabhängigen öffentlich-rechtlichen Zeitungsanstalt nach dem Vorbild der Rundfunk- und Fernsehanstalten"73 hat keine ernsthafte Resonanz gefunden. bb) Begrenzte öffentlich-rechtliche

Strukturen

Auch anderen für den Pressesektor ins Spiel gebrachten öffentlich-rechtlichen Strukturen ist mit Skepsis zu begegnen. Solche Vorbehalte gelten sowohl gegenüber öffentlich-rechtlichen Vertriebssystemen an Stelle der privaten Unternehmensform des Presse-Grosso 74 als auch gegenüber einer „Verkammerung" von Journalisten und Redakteuren in berufsständischen Zwangskörperschaften des öffentlichen Rechts.75 Ob man zusätzlich noch das medienübergreifende Prinzip der Staatsfreiheit 76 auch der Presse bemühen sollte, steht zu überlegen. Einerseits sind Staatsfreiheit und öffentlich-rechtliche Struktur nicht zwangsläufig unvereinbar. 77 Andererseits ist die privatrechtsförmliche Organisation von Kommunikationsmitteln nicht ausreichend, um den maßgeblichen Akteur am Schutzbereich der Pressefreiheit partizipieren zu lassen. Dem Staat selbst ist die Berufung auf das Grundrecht der Pressefreiheit auch dann versagt, wenn er sich privatrechtlicher Handlungsformen bedient. Die Flucht des Fiskus in die Medienfreiheit bleibt erfolglos; sie löst im Gegenteil die Korrekturfunktion der Grundrechte aus. Auch das ist letztlich der grundrechtsdogmatische Ertrag schon des ersten Fernsehurteils. 78 Schließlich handelte es sich bei der damaligen streitbefangenen Deutschland-Fernsehen-GmbH um ein lediglich fiskalisch drapiertes, im übrigen aber lupenreines Staatsfernsehen. 79 Dem Staat ist mit diesem Verdikt nicht etwa die „Teilhabe an öffentlicher Kommunikation" versagt. Doch wurzelt im modernen informalen Verwaltungsstaat die Legitimation der Regierung zur Informationsarbeit in ihrer Kom72 Dazu BVerfGE 20, 162 (175). 73

Ehmke, in: Festschrift für Adolf Arndt, 1969, S. 116; vgl. auch Stammler, Die Presse als soziale und verfassungsrechtliche Institution, 1971, S. 302, 349 ff. 7 4 Kaiser, Das Recht des Presse-Grosso, 1979, S. 82. 75 Wie hier Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 4. Aufl. 1999, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 46; bedenklich daher die Konzeption von Dietlein, in: Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 1182 f.; vgl. auch Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, 3. Aufl. 2003, Art. 5 Rn. 72. 76 Dazu BVerfGE 80, 124 (134); Kuli, in: Festschrift für Peter Lerche, 1993, S. 672. 77 Vgl. schon Arndt, JZ 1965, 337; Bethge, Die verfassungsrechtliche Problematik der Zulassung von Rundfunkveranstaltern des Privatrechts, 1981, S. 34 ff. m. w. N. 78 BVerfGE 12, 205 (263).- Dazu schon Mallmann, VVDStRL 19 (1961), S. 201 f.; vgl. auch Zeidler, ebda., S. 229. 79 Bethge, DÖV 2002, 679.

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petenz zur Staatsleitung, die ihre Schranke, nicht aber ihre Rechtfertigung in den individuellen Grundrechten der Bürger findet. 80

3. Pluralismusaspekte

im Bereich des Rundfunks

Das zentrale Turnierfeld der medienspezifischen Pluralismustheorie(n) ist vom verfassungsrechtlichen Diskurs über das audiovisuelle Kommunikationsmittel, d. h. über Rundfunk und Fernsehen, beherrscht. Auch insoweit erweist sich das elektronische Medium als das „Leitmedium". 81 Daß das Pluralismusgebot auch zu den Perspektiven einer europäische Rundfunkordnung rechnet, 82 ist da nur konsequent.

a) Die Prägekraft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkstruktur Der eigentliche haut-goût kommt dabei dem überkommenen Modell des öffentlich-rechtlichen Anstaltsfunks zu, bei dem sich zwei Pluralismusvarianten verbinden. Zum einen ist es die binnenpluralistische Zusammensetzung der Repräsentationsorgane, hauptsächlich des Rundfunkrats (beim ZDF ist es der Fernsehrat); für die Pluralität in den Gremien sorgen die gesellschaftlich relevanten Gruppen. Zum anderen ist es die auf Themenvielfalt, 83 Tendenzfreiheit und Ausgewogenheit setzende Verpflichtung der Anstalt zur Objektivität und Neutralität in der Programmgestaltung; insoweit liegt der Akzent auf der Pluralisierung des Gesamtprogramms. Insgesamt ergänzen und überschneiden sich formeller Organisationspluralismus und inhaltlicher Programmpluralismus. 84 aa) Die Sympathie-Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts Der entscheidende Anstoß für die Aufwertung der Organisations- und Programmstrukturen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks kam vom Bundesverfassungsgericht im ersten Fernsehurteil vom 28. Februar 1961. Namentlich die Mobilisierung der gesellschaftlich relevanten Kräfte in den Kollegialorganen, dies ergänzt durch das Verbot der Auslieferung des dergestalt „neutralisierten" Rundfunks an den Staat oder an eine gesellschaftliche Machtgruppierung, fand den Zuspruch des Bundesverfassungsgerichts. 85 Das Modell - von Walter Schmitt 80 BVerfG NJW 2002, 2633; s. auch BVerfG NJW 2002, 2629; vgl. weiter BVerfGE 81, 310 (334); BVerfG DVB1. 2002, 547; s. auch Huben ZG 9 (2002), S. 250 f. si Vgl. allgemein BVerfGE 97, 228 (257). 82 Roider (Fn. 16). 83 BVerfGE 83, 238 (296). 84 Roider (Fn. 16), S. 240. 85 BVerfGE 12, 205 (262 f.).

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Glaeser als „vom Gericht in den schönsten Farben gemaltes Wunschbild" bezeichnet 86 - erfreute sich auch im Schrifttum freundlicher Aufnahme, die sich in eleganten Bildern widerspiegelte. Hans-Peter Ipsen sprach vom „Legaleinsatz" der gesellschaftlich relevanten Gruppen. 87 Er Schloß sich der Auffassung an, die in der gesellschaftlichen Legitimation und Kontrolle des staatsfreien Rundfunks „eine spezifische und in ihrer Art singuläre Einrichtung der Gewaltenbalancierung nicht nur zwischen Staat und Gesellschaft, sondern auch innerhalb der Gesellschaft" sah88 und die den Rundfunk als ein Instrument der Neutralisierung und Auffächerung der in dieses Medium einfließenden unterschiedlichen Meinungen und der Instituierung von Unabhängigkeiten bezeichnete.89 Für die Attraktivität des Modells spricht der Umstand, daß auch die öffentlich-rechtlichen Landesmedienanstalten, die Privatveranstalter kontrollieren, ähnlich den anstaltsinternen Aufsichtsgremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nach dem Prinzip des Binnenpluralismus organisiert sind. 90 Doch wurden auch frühzeitig Vorbehalte angemeldet. bb) Zur Theorie der Verfassungsrechtsgewinnung Der eine Vorwurf war (und ist) methodischer Art: Die Anerkennung des binnenpluralistischen Repräsentationsmodells sei nicht so sehr durch Deduktion aus der Verfassung, sondern kraft purer Dezision (des Gerichts) gewonnen.91 Bei diesem Einwand wurde (und wird) freilich übersehen, daß das Bundesverfassungsgericht den Einsatz der gesellschaftlich relevanten Gruppen nicht als die allein denkbare, sondern nur als eine vertretbare Lösung qualifiziert hat. 92 Verfassungsrang hat die Konstruktion nicht. 93 (1) Das Bundesverfassungsgericht als Verfassungsgesetzgeber? Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings heute der Umstand, daß das Bundesverfassungsgericht in der Folgezeit aus der Gewährleistung der Freiheit der 86 Schmitt Glaeser, JöR n. F. Bd. 50 (2002), S. 180 f. 87 Ipsen, Mitbestimmung im Rundfunk, 1972, S. 67 f. 88 Ipsen (Fn. 87), S. 66, im Anschluß an Stern/Bethge, Öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Rundfunk, 1971, S. 44 (auch zum folgenden). 89 Vgl. auch Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1967, S. 877. 90 Bumke, Die öffentliche Aufgabe der Landesmedienanstalten, 1995, S. 290 ff.; Hans H. Klein, in: Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 203; s. allerdings Degenhart, in: Festschrift 100 Jahre SächsOVG, 2002, S. 486; Schmitt Glaeser, JöR n. F. Bd. 50 (2002), S. 182. 91 Merten, Evangelisches Staatslexikon, Band 1, 3. Aufl. 1987, Sp. 2094. 92 Breuer, VVDStRL 44 (1986), S. 236; vgl. auch BVerfGE 60,53 (64); 83,238 (296, 334). 93 Vgl. schon Herbert Krüger, in: Festschrift für Ulrich Scheuner, 1973, S. 285, gegen Ipsen (Fn. 87), S. 33.

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Berichterstattung durch den Rundfunk zahlreiche Ableitungen unternommen hat, die - so die Kritik auch von Walter Schmitt Glaeser 94 - sich nicht so sehr als Konkretisierung der Verfassung, sondern als Verfassungsgesetzgebung darstellen (sollen) 9 5 Auf einem benachbarten Feld liegt die spezifisch bundesstaatsrechtliche Frage, wieso der Bund, der über keinerlei substantielle Gesetzgebungskompetenzen auf dem Sektor des Rundfunkrechts verfügt, mit Hilfe „seines" Verfassungsgerichts Richterrechtssetzung auf einem Gebiet betreibt, das den Ländern vorbehalten ist. 96 Die Bedenken müssen ernst genommen werden. Vor allem muß der Vorstellung entgegengewirkt werden, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Umsetzung der grundrechtlichen Lapidarklauseln Richterverfassungsrecht schüfe 97 und/oder judikative Verfassungsgesetzgebung betriebe. 98 Das Argument, daß das Bundesverfassungsgericht selbst nicht an seine eigene Rechtsprechung, auch nicht an seine eigene Verfassungsauslegung, 99 gebunden ist, 1 0 0 sich also von ihr lösen kann, benennt das Problem nur, verstärkt aber das Dilemma. Die Problematik läßt sich bewältigen. Wichtig ist die Einsicht, daß zum einen nicht jedwede Verfassungskonkretisierung 101 durch das Bundesverfassungsgericht zu einer Art nachholender Verfassungsgebung gerät und daß zum zweiten die solchermaßen gewonnenen Rechtsprodukte nicht zu materiellem Verfassungsrecht avancieren, dem sich der Gesetzgeber nur noch durch Verfassungsänderung entziehen kann. 102

94 Schmitt Glaeser, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 1198. 95 Vgl. Ossenbühl, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 87; ders., in: Festschrift 50 Jahre BVerfG I, 2001, S. 44, im Anschluß an Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 57 Fn. 118. Von einer Art „Grundsatz-Gesetzgebung" des Bundes (durch das Bundesverfassungsgericht) spricht Hesse, in: Festschrift für Dietrich Schindler, 1989, S. 731 Fn. 33; vgl. auch dens., in: Festschrift für Ulrich Häfelin, 1989, S. 159 f. 96 Badura, JA 1987, 180. 97 Kritisch Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000, S. 306 f. 98 So aber Böckenförde (Fn. 95). 99 Löwer, in: HStR II, 2. Aufl. 1998, § 56 Rn. 15. 100 Seit BVerfGE 4, 31 (38) st. Rspr. Vgl. auch BVerfGE 85, 117(121). i°i Zu Facetten der „Konkretisierung" von Verfassungsrecht vgl. Lerche, in: Koller u. a. (Hrsg.), Einheit und Folgerichtigkeit im Juristischen Denken, 1998, S. 7 ff. ι 0 2 Dazu umfassend und zutreffend Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 169 ff., 363 ff.

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Die verfassungsstaatliche Kleiderordnung des Grundgesetzes stellt sich wie folgt dar: (2) Der Unterschied zwischen authentischer und autoritativer Verfassungsinterpretation Das Bundesverfassungsgericht ist nicht der authentische Interpret der (einfachrechtlichen) Rechtsordnung. 103 Das scheitert schon am Funktionsvorbehalt der Fachgerichtsbarkeit. 104 Das Bundesverfassungsgericht ist noch nicht einmal zur authentischen Interpretation des Grundgesetzes befugt, 105 sofern man unter Authentizität eine verbindliche Auslegung der Verfassung versteht, die nur noch durch formelle Verfassungsänderung (Art. 79 Abs. 1 GG) revidierbar wäre. 106 Eine derart authentisch verstandene Grundgesetzinterpretation liefe in der Tat der Sache nach auf eine Teilhabe des Hüters der Verfassung an der Verfassungsgebung hinaus. 107 Doch interpretiert das Bundesverfassungsgericht das Grundgesetz eben nicht authentisch, sondern nur autoritativ, d. h. verbindlich für die übrigen Staatsorgane.108 Autorität, nicht Authentizität kennzeichnet den Richterspruch. 109 Der Unterschied ist nicht nur semantischer Natur. 110 Insbesondere kreiert die entscheidungserhebliche Auslegung von Verfassungsnormen durch das Bundesverfassungsgericht kein Verfassungsrecht. 111 Wäre dies so, dann geriete das Bundesverfassungsgericht ohne Zweifel zur „Gegengewalt", der „Richterstaat" mutierte zum „Richter-Verfassungsstaat", der „Parlamentsstaat" würde durch den „Jurisdiktionsstaat" (ErnstWolfgang Böckenförde) 112 verdrängt; alles plastische Kontrastbilder, die Walter Schmitt Glaeser menetekelhaft gezeichnet hat. 113

103 Mißverständlich Ossenbühl, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG I, 2001, S. 47; ders., in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 83. »04 BVerfGE 94, 166 (216); Bethge, Jura 1998, 530; Robbers, NJW 1998, 938; vgl. auch Kunig, VVDStRL 61 (2002), S. 38 ff. 105 So aber Böckenförde, NJW 1999, 12. 106

Dazu kritisch neben Jestaedt (Fn. 102), Isensee, in: Wieser/Stolz (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 2000, S. 35. •°7 Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 45; vgl. auch Lerche, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG I, 2001, S. 339 mit Fn. 28. io« Isensee, in: Festschrift für Walter Leisner, 1999, S. 390. 109 Vgl. auch Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge (Hrsg.), BVerfGG, Stand 21. Lfg., 2002, § 67 Rn. 56 ff. no Zutreffend Eckart Klein, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG I, 2001, S. 510 Fn. 25. m Zutreffend Hans H. Klein, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 57. 112 Dazu Knies, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 1155 ff.; Brohm, in: Festschrift für Manfred Rehbinder, 2002, S. 653. 113 Schmitt Glaeser, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 1198.

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Dem Bundesverfassungsgericht ist freilich zuzugeben, daß es selbst nicht der Versuchung erliegt, seine Interpretationsresultate kurzerhand als Bundesverfassungsgerichtspositivismus (Bernhard Schlink) zu verordnen. Immerhin konzediert es dem Gesetzgeber, dessen Legislat für nichtig erklärt wurde, ein Normwiederholungsrecht. 114 Nur die Brüskierung des Bundesverfassungsgerichts ist dem wiederholenden Gesetzgeber untersagt. 115 Dieses Obstruktionsverbot ist aber die Konsequenz des Grundsatzes der Verfassungsorgantreue, 116 nicht die Folge eines vorherigen Aktes vermeintlich authentischer Verfassungsinterpretation. Auch das bestehende Medienrecht - sei es nun ausdrücklich von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gutgeheißen oder sei es nur in vorauseilendem Gehorsam vom Gesetzgeber der Judikatur „abempfunden" - ist kein konkretisiertes Verfassungsrecht, 117 jedenfalls kein solches von Verfassungsrang. 118 (3) Der Unitarisierungssog der Grundrechte Die „Konstitutionalisierung der Rechtsordnung" 119, namentlich die Aktivierung der Grundrechte durch die dritte Gewalt als „konsensuale Fundamentalnormen" 1 2 0 , bewirken eine Unitarisierung der Rechtsordnung, die die Koordinaten der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung zu Lasten der Länder verschiebt. 121 Bezeichnenderweise wird der grundrechtlich unterfütterte Unitarisierungstrend nicht durch den Gleichheitssatz (Art. 3 GG) ausgelöst; insoweit gilt immer noch die traditionelle (und richtige) Regel, daß der Gleichheitssatz nur den Inhaber der Landeskompetenz in seinem Verantwortungsbereich bindet 122 und daß im übrigen Bundesstaatlichkeit notwendigerweise Rechtsverschiedenheit impliziert. 123 Es sind die materiellen Freiheitsrechte, für die die Bundesgerichte, also nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern auch die Revisionsinstanzen der Fach114 BVerfGE 77, 84 (103); 96, 260 (263). us Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 4. Aufl. 2001, Art. 94 Abs. 2 Rn. 33; vgl. auch BVerfGE 96, 260 (263). 1,6 Zu den Grenzen des Normwiederholungsrechts Voßkuhle, NJW 1997, 2218; Hans H. Klein, in: Festschrift für Franz Klein, 1994, S. 518 f.; Ziekow, Die Verwaltung 27 (1994), S. 485; Schulze-Fielitz, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG I, 2001, S. 192. 117 Schoch, JZ 2002, 804; Stürner, AfP 2002, 291.

118 A. M. Ossenbühl, in: Badura/Scholz (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1998, S. 81, im Anschluß an Böckenförde. i ' 9 Dazu Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000; Hermes, VVDStRL 61 (2002), S. 121 ff.; Hoppe, in: Festschrift 50 Jahre VerfGH NW, 2002, S. 396 f. 120 Brohm, in: Festschrift für Manfred Rehbinder, 2002, S. 650. 121 Starck, Über Niedersächsische Verfassungsdinge, 1996, S. 30. 122 Seit BVerfGE 10, 354 (371) st.Rspr.; vgl. auch BVerfGE 51, 43 (58 f.); 98, 265 (328). 123 Rupp, in: Festschrift BVerfG II, 1976, S. 384; Bethge, AöR 110 (1985), S. 201; vgl. auch Felix, Einheit der Rechtsordnung, 1998, S. 149.

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Herbert Bethge

gerichtsbarkeiten, zunehmend Daten setzen, die den Gestaltungsspielraum der Landesgesetzgebung einzuschränken drohen. Beispielhaft für diese Entwicklung steht das Rundfunkrecht, das nicht durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Lasten der Landesgesetzgeber versteinert oder reduziert werden darf. 124 cc) Die verfassungsrechtliche

Qualität der gesellschaftlichen

Kontrolle

(1) Binnenpluralismus als Prinzip der Grundrechtssicherung Inhaltlich blieb das rundfunkspezifische pluralistische Repräsentationsprinzip nicht unumstritten. Ihm wurde ein Demokratiedefizit attestiert; demokratische Kontrolle könne nur parlamentarische Kontrolle sein; 125 es sei bedenklich, wenn die als öffentliche Aufgabe deklarierte Veranstaltung von Rundfunksendungen vollständig aus der staatlichen Kontrolle und aus der allgemeinen Verantwortlichkeit gegenüber dem Parlament herausgenommen und stattdessen einem „Equilibrium etablierter gesellschaftlicher Kräfte" anvertraut werde. 126 Demgegenüber wies aber Walter Schmitt Glaeser zutreffend darauf hin, daß die pluralistische Organisation der Rundfunkanstalten nicht so sehr eine Frage demokratischer, sondern ein Phänomen grundrechtssichernder Binnenstruktur ist. 1 2 7 Darum traf auch die Qualifikation dieses Pluralismus-Modells als eines „ständestaatlichen Demokratieersatzes' 4128 nicht den Kern der Sache. Bei der Tätigkeit der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt handelt es sich nicht um die Ausübung legitimationsbedürftiger Staatsgewalt. Die Suggestivkraft und die Breitenwirkung des elektronischen Kommunikationsmittels129 bedingen nicht seine Inkorporierung durch einen „Staatsvorbehalt unwiderstehlicher Macht" (Herbert Krüger). Die Aktivitäten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks rechnen ebensowenig zur mittelbaren Staatsverwaltung. 130 Die Anstaltstätigkeit erfolgt 124 Vgl. auch mit Blick auf kommunalrechtliche Landeskompetenzen Heintzen, Rechtliche Grenzen und Vorgaben für eine wirtschaftliche Betätigung von Kommunen im Bereich der gewerblichen Gebäudereinigung, 1998, S. 100 f. 125 Forsthoff, Strukturwandlungen der modernen Demokratie, in: Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl. 1976, S. 100; vgl. auch Zeidler, AöR 86 (1961), S. 402; Bettermann, DVB1. 1963,43. 126 Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, 1964, S. 252 Fn. 35. ' 27 Schmitt Glaeser, Der Staat 13 (1974), S. 579; ders., VVDStRL 31 (1973), S. 230. ' 2 « So Kisker, DÖV 1972, 528; ders., VVDStRL 31 (1973), S. 276. •29 Dazu BVerfGE 90, 60 (87); ähnlich BVerfGE 31, 314 (325); 35, 202 (227). 130 Vgl. die Nachweise bei Bethge, Die verfassungsrechtliche Problematik der Zulassung von Rundfunkveranstaltern des Privatrechts, 1981, S. 34 ff. m. w. N. auch zum folgenden; s. weiter BVerwGE 70, 310 (316); Frye, Die Staatsaufsicht über die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, 2001, S. 122; Degenhart, Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 763. - Umfassend und differenzierend Schreier, Das Selbstverwaltungsrecht der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, 2001, S. 216 ff.

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weitgehend staatsfrei 131 (staatsfern, staatsdistanziert). Die öffentlich-rechtliche Formal struktur des gemeinnützigen Anstaltsfunks ändert daran nichts. 132 Dem nichtstaatlichen Charakter der Programmfunktion korrespondiert folgerichtig die Grundrechtsträgerschaft der öffentlich-rechtlichen Anstalt. 133 Eine zusätzliche demokratische Rechtfertigung benötigt die Anstalt nicht. Sie bedarf einer spezifisch grundrechtlichen Legitimation. Das besorgen eben die gesellschaftlich relevanten Gruppen, die anstelle des Staats (und seiner Beamten) 134 die grundrechtssichernde Binnenstruktur ausfüllen. Die Installierung der gesellschaftlich relevanten Gruppen entspricht also keinem Erfordernis der demokratischen Legitimation von Staatsgewalt, sondern folgt dem Postulat der Sicherung staatsfreier Grundrechtssubstanz. Die notwendige demokratische Legitimation von Staatsgewalt und die grundrechtssichernde Legitimation der Binnenstruktur durch die gesellschaftlichen Intermediärgewalten treffen sich an einer Stelle: das ist die Figur des Parlamentsvorbehalts. 135 Die Entscheidung für den Binnenpluralismus als Organisationsstruktur ist eine wesentliche grundrechtsrelevante Frage, die der staatliche Gesetzgeber zu verantworten hat. Die Rundfunkfreiheit steht unter Parlamentsvorbehalt, 136 der seinerseits am Demokratiegrundsatz orientiert ist. 1 3 7 Entspricht der Gesetzgeber diesen Anforderungen, ist auch dem Erfordernis der „Legitimationskette vom Volk zu den besonderen Organen im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 G G " 1 3 8 Genüge getan. Ein Kontrolldefizit ist nicht zu besorgen. Schließlich sind die Entscheidungen der pluralistischen Kontrollgremien nicht von der staatlichen Rechtsaufsicht und von der Gerichtskontrolle ausgenommen. Das führt zu einer Anschlußbemerkung. (2) Die rechtlichen Schranken pluralistischer Kontrolle Pluralistisch gebündelter Sachverstand bietet noch keine absolute Richtigkeitsgewähr. Professionalität begründet noch kein Unbedenklichkeitsattest. Die Plausibilität von Entscheidungen pluralistisch gegliederter Gremien ist begrenzt. 139 Die 131 BVerfGE 31, 314 (329); BVerwGE 85, 148 (153 f.). 132 Α. M. wohl Schmitt Glaeser, VVDStRL 31 (1973), S. 197 Fn. 75; vgl. demgegenüber Lange, VVDStRL 44 (1986), S. 193. 133 BVerfGE 31, 314 (322); 78, 102 (103); 83, 238 (312 f.); 95, 220 (234). 134 Die Auffassung, daß auch ein neutrales (?), allein dem Gemeinwohl verpflichtetes Staatsbeamtentum in der Lage wäre, der Rundfunkfreiheit gerecht zu werden {Bettermann, DVB1. 1963, 43), ist heute nur noch rechtshistorisch interessant. 135 Zutreffend Lange (Fn. 132), S. 196. 136 BVerfGE 57, 295 (321). 137 BVerfGE 49, 89 (126 f.). 138 Dazu Schmitt Glaeser, Ethik und Wirklichkeitsbezug des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1999, S. 82. 139 Rupp, WissR 7 (1974), S. 96 Fn. 15; Bachof, JZ 1972, 209; ders., VVDStRL 30 (1972), S. 234 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 12. Aufl. 1999, § 7 Rn. 45; vgl. auch Degenhart, in: Festschrift 100 Jahre SächsOVG, 2002, S. 486.

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Herbert Bethge

Umsetzung der normativ fixierten Programmgrundsätze, die ihrerseits generalklauselartig gefaßt sind, bereitet Schwierigkeiten. Materielle Kriterien wie Ausgewogenheit, Objektivität, Programmpluralität etc. erweisen sich als unbestimmte Rechtsbegriffe, die sich einer perfektionistischen Durchnormierung entziehen und die im Fall einer Anwendung im Einzelfall Beurteilungsermächtigungen (Wertungsspielräume) der Kollegialorgane implizieren. 140 Doch liegt dadurch die Tätigkeit auch der Anstaltsorgane nicht außerhalb der staatlich verantworteten Rechtsordnung 141 (vgl. auch Art. 5 Abs. 2 GG). Rechtskontrolle ist nicht gegen gesellschaftliche Kontrolle austauschbar; gesellschaftliche Kontrolle gegen Rechtskontrolle genausowenig. Die Schranken der Rechtsordnung werden von der staatlichen Rechtsaufsicht 142 und von den Gerichten realisiert. Pluralistisch getragenes und ausgerichtetes Handeln ist rechtlich konturierbar und justitiabel. Letztlich geht es um die administrative bzw. (verwaltungs)gerichtliche Kontrolldichte. 143 (3) Pluralismus als einklagbares Rechtsprinzip? Das Prinzip des Binnenpluralismus ist in erster Line eine Maxime des objektiven Rechts. Der Gesetzgeber bedient sich der gesellschaftlich relevanten Gruppen, um Meinungsvielfalt zu ermöglichen, nicht aber, um subjektivrechtlich motivierte Anteile an einer publizistischen Verfügungsmasse zu befriedigen oder zu begründen. Dem Gesetz gewordenen objektiven Grundsatz gesellschaftlicher Repräsentanz korrespondieren infolgedessen keine klagbaren subjektiven öffentlichen Rechte gesellschaftlich relevanter Gruppen auf Vertretung in den anstaltsinternen Kontrollorganen. 144 Selbst wenn der Gesetzgeber die Normal Vorstellung gesellschaftlicher Repräsentanz in eklatanter Weise verfehlt oder eine Gruppierung der „verbandsimprägnierten Demokratie" (Hans Huber) evident benachteiligt, erwachsen daraus keine Teilhabeansprüche übergangener Interessenten bzw. Konkurrenten. 145 Der Grund dafür dürfte weniger in der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit liegen als in dem Umstand, daß der pluralistisch legitimierte und kontrollierte öffentlich-rechtliche Integrationsrundfunk nicht den partikularen Egoismen der einzelnen Verbände und ihrer Akteure überantwortet werden darf. Die abstrakte und kaum rechtlich sanktionierbare Gemeinwohlverpflichtung dieser Gruppen und ihrer Vertreter ändert daran nichts. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu dieser Frage noch nicht definitiv geäußert. Eine Klage der FDP auf Repräsentation in 140 Bethge, VVDStRL 57 (1998), S. 33 f. 141 BVerfGE 35, 202 (222). 142 Dazu Frye, Die Staatsaufsicht über die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, 2001. 143 Bethge, Die Verwaltung 27 (1994), S. 453 ff.; s. auch Degenhart, in: Festschrift 100 Jahre SächsOVG, 2002, S. 489. 144 Degenhart, Bonner Kommentar, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 714; Bethge, UFITA Bd. 81 (1978), S. 93 f. 145 Schmitt Glaeser, JöR n. F. Bd. 50 (2002), S. 188.

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den Kontrollgremien des NDR war in der falschen Prozeßart - in der Verfassungsorganstreitigkeit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG bzw. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG, 3. Var.) erhoben; das Bundesverfassungsgericht erkannte als potentielle Anspruchsgrundlage des klägerischen Begehrens allenfalls Art. 5 GG an, der aber keine im Organstreit rügefähige Rechtsposition darstellt. 146 Zu Recht weist das Schrifttum auf die vorwiegend prozeßrechtliche Ausrichtung dieses Urteils hin. 1 4 7 Auf keinen Fall haben Verbände und politische Parteien einen klagbaren Anspruch auf Repräsentanz (ihrer Vertreter) im Programm des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das war im Grunde die fundamentale Fehleinschätzung der FDP, als sie 2002 klageweise die Teilnahme ihres Vorsitzenden am von ARD und ZDF redaktionell verantworteten Kanzlerkandidaten-Duell reklamierte. 148 Die objektiv rechtsfehlerhafte Umsetzung des Pluralismuskonzepts durch den Rundfunkgesetzgeber muß wegen der Unzulässigkeit einer verfassungsgerichtlichen „Verbands- bzw. Konkurrentenklage" nicht ungerügt bleiben. In Betracht kommt eine Verfahrensart, die nicht auf die Realisierung subjektivrechtlicher Klagepositionen zugeschnitten ist. Das ist die als objektives Verfahren konzipierte abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). 1 4 9 Die eigentlichen Probleme liegen woanders. dd) Irritationen

und Pervertierungen

Das binnenpluralistische Repräsentationsmodell sah sich immer schon fundamentalen Zweifeln ausgesetzt; zumindest bereitete seine Umsetzung erhebliche Komplikationen. Theorie und Praxis klaffen auseinander. Die Tragfähigkeit des Modells, jedenfalls seine Effektivität, ist grundsätzlich in Frage gestellt. 150 Die schon frühzeitig 151 geäußerten Bedenken haben eher zugenommen. Die Schwierigkeiten beschrieb Walter Schmitt Glaeser schon 1972: „Eine andere und noch keineswegs beantwortete Frage ist es, ob die Repräsentanten aller bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Gruppen überhaupt benannt werden können und wenn ja, tatsächlich in den Rundfunkanstalten vertreten sind und (ob) schließlich eine derartige Besetzung wirklich die Gewähr inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gibt". 1 5 2 146 BVerfGE 60, 53 (62 ff.). 147 Hans H. Klein, in: Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 199 Fn. 48; Herzog, Verfassungsrechtliche Grundlagen des Parteienstaates, 1993, S. 30. 148 Dazu Bethge, ZUM 2003, 253 ff.; zur Ablehnung der Verfassungsbeschwerde s. BVerfG (2. Kammer) vom 30. 8. 2002, DVB1. 2002, 1406 f. 149 BVerfGE 83, 238 (332 ff.). 150 Hoffmann-Riem, AöR 109 (1984), S. 357 ff.; Bethge, JZ 1985, 311. 151 Vgl. nur Kaiser, Presseplanung, 1972, S. 32: „Die Säule der ganzen rundfunkrechtlichen Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts krankt." 152 Schmitt Glaeser, VVDStRL 31 (1973), S. 230 Fn. 219.

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1979 ergänzte er diesen Befund mit dem Hinweis, daß die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten im Hinblick auf den Meinungspluralismus alles andere als ideal seien. 153 Sein gleichzeitiger Rekurs auf Ernst Forsthoffs schneidendes Verdikt über die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten als „Nisthöhlen für Cliquen 4 ' 154 war da nur konsequent.155 Im vergangenen Jahr - 2002 - bekräftigte Walter Schmitt Glaeser seine kritische Einschätzung: Die Staats- und Parteiendominanz hat den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zum „Parteienrundfunk als mittelbaren Staatsrundfunk" denaturiert. 156 In diesen scharfsinnigen Befundnahmen steckt viel Richtiges und Bedenkenswertes; nur Weniges stellt sich als - dann freilich allemal legitime - Überzeichnung eines zeitkritischen Beobachters der Szenerie des Medienrechts dar. (1) Pflicht des Gesetzgebers zur idealtypischen Besetzung der Gremien? Die Frage so stellen heißt natürlich, sie verneinen. Denn gesellschaftliche Relevanz ist undefinierbar. 157 Einen allgemeinen verbindlichen Maßstab für die Gewichtigkeit und Bedeutsamkeit der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen gibt es nicht und kann es auch nicht geben. 158 Den Bereich der Gesellschaft charakterisieren Spontaneität, Flexibilität und Mobilität. Ihm fehlen die Sicherheit, die Berechenbarkeit und die stringente Zweckrationalität normativ fixierter öffentlichrechtlicher Kompetenzstrukturen. Doch gibt die nüchterne Einsicht in die Vagheit des Begriffs der gesellschaftlichen Intermediärgewalten und das Wissen um die Schwierigkeit ihrer Auswahl keine Veranlassung dazu, Existenz und Relevanz der Gruppen und Kräfte überhaupt zu leugnen. Das wäre schlicht ein Grenzenlosigkeitsschluß. Dem vom Parlamentsvorbehalt in Pflicht genommenen Gesetzgeber ist daher ein weiter Gestaltungsspielraum nicht nur bei der Entscheidung für das binnenpluralistische Modell überhaupt, sondern auch bei dessen .Ausgestaltung einzuräumen. Weiter ist ihm eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Relevanz der Verbände und der Rekrutierung der Vertreter zuzugestehen.159 Oberster positiver Zielwert ist die Sicherung der Meinungsvielfalt. Sozusagen negative Richtschnur sind der Ausschluß des Staatsrundfunks sowie das Verbot der Auslieferung des Mediums an eine gesellschaftliche, soziale oder private Machtgruppie153 Schmitt Glaeser, Kabelkommunikation und Verfassung, 1979, S. 126 Fn. 279; vgl. auch ebda., S. 102 ff. 154 Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, 2. Aufl. 1971, S. 156. Vgl. auch Kuli, in: Festschrift für Martin Löffler, 1980, S. 194: „Proporzelend". 155 Schmitt Glaeser (Fn. 153), S. 109. 156 JöR n. F. Bd. 50 (2002), S. 181, im Anschluß an Bullinger, in: HStR VI, 2. Aufl. 2001, § 142 Rn. 92. 157 Kuli, in: Festschrift für Ernst Forsthoff, 1972, S. 213 ff.

158 Bethge, UFITA Bd. 81 (1978), S. 78. 159 BVerfGE 83, 238 (334 f.).

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rung. 160 Im übrigen lassen sich - so das Bundesverfassungsgericht - Über- und Unterrepräsentationen vergleichbarer Gruppen, die unterhalb grober Verzerrung liegen, nicht beanstanden.161 (2) Das Ärgernis der parteipolitischen Infiltrierung In der Tat stellt die Landnahme der politischen Parteien in den Kontrollgremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten das zentrale Manko dar. Sicherlich ist gegen eine angemessene Repräsentation der politischen Parteien in den Anstaltsgremien nichts zu erinnern. Auch eine - allerdings deutlich reduzierte - Mitgliedschaft von Staats Vertretern hat das Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet. 162 Doch ist die unverfrorene parteipolitische bzw. etatistische Infiltrierung der Kollegialorgane, die sich vor allem in aktuellen personalpolitischen Querelen niederschlägt, das eigentliche Ärgernis. Die idealistische Sympathie-Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts wurde nicht honoriert, sondern pervertiert. Mehr noch: Es gehört mittlerweile zu den bitteren Ironien der Geschichte der höchstrichterlichen Karlsruher Entscheidungskultur, daß sich politische Parteien und öffentlichrechtlicher Rundfunk zwar jeweils höchster Wertschätzung des Bundesverfassungsgerichts erfreuten, daß aber die strukturelle Verbindung der beiden hochgelobten „Integrationsfaktoren' 4163 zu einem ziemlichen Fiasko geführt hat. In Rede steht die Repräsentanz, nüchterner: die Dominanz der politischen Parteien in den Kollegialorganen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Zugegeben: Die Perhorreszierung des parteiendominierten öffentlich-rechtlichen Anstaltsfunks als verkappter Staatsrundfunk kommt nicht ohne - zum Teil polemische - Verkürzung aus. Schließlich gehören die staatsfreien ( ! ) 1 6 4 und frei gebildeten, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnden 165 politischen Parteien gerade nicht zur organisierten Staatlichkeit.166 Ihre verfassungsprozessuale Qualifikation als „Verfassungsorgan" 167 befördert sie nicht zwangsläufig zu Staatsorganen. 168 Doch macht die Personalunion von Partei- und Staatsvertretern (oder eine 160 BVerfGE 73, 118 (153). 161 BVerfGE 83, 238 (335). 162 BVerfGE 12, 205 (263). 163 Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk attestiert das Bundesverfassungsgericht „integrierende Funktionen für das Staatsganze" (BVerfGE 31, 314 [329]). Die politischen Parteien werden als „integrierende Bestandteile des Verfassungsaufbaus" bezeichnet (seit BVerfGE 1, 208 [225] st.Rspr.). 164 BVerfGE 20, 56 (100); 84, 290 (300). 165 BVerfGE 85, 264 (287). 166 Hesse, VVDStRL 17 (1959), S. 33. 167 Seit BVerfGE 4, 27 ff., gefestigte Rechtsprechung. 168 Vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 21. Lfg., 2002, § 63 Rn. 58; vgl. auch Benda/ Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Aufl. 2001, Rn. 1011, aber auch Rn. 457; Hans H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 401; Huber, in: Festschrift 3

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graue Gemengelage) das Skandalon aus. Wenn die politische Klasse überhaupt zu Reformvorhaben in der Lage sein sollte, muß durch Gesetz klar gestellt werden, daß Staats- und Parteienvertreter keinesfalls die Mehrheit in den Kollegialorganen haben dürfen.

IV. Schlußbemerkung Ist nun der Pluralismus ein medienrechtliches Ordnungsprinzip? Die so gestellte Frage operiert mit mehreren Unbekannten und ist daher zu verneinen. Schon das im Verfassungsrecht, im Verwaltungsrecht und im Privatrecht angesiedelte Medienrecht ist eine ebenso breitflächige wie an den Rändern konturenarme Querschnittsdisziplin. Sie weist vielleicht einen gesicherten und konsensfähigen Kernbestand von Themen und Normen auf. Sie zehrt aber im übrigen von Einflüssen und von Ergänzungen benachbarter Rechtsmassen bzw. Referenzgebiete. Der Pluralismus gar ist sicherlich mehr als nur ein interessantes Schlagwort. Doch bleibt er gleichwohl - vom sehr allgemeinen Gedanken der Vielfalt einmal abgesehen ein vages Orientierungsdatum ohne unmittelbare normative Substanz.169 Ein das gesamte Medienrecht durchwirkendes Regulativ vermag der Pluralismus nicht abzugeben. Das mindert nicht seinen Reiz. Er ist eine faszinierende Idee, die die Phantasie des Juristen beflügelt, die aber zugleich seinen Ordnungssinn herausfordert. Ideen und Ideale beseitigen zudem nicht die kritische Distanz des Juristen; er darf ihnen Sympathie bekunden und sie umzusetzen suchen. Das unterscheidet sie von Ideologien, denen Walter Schmitt Glaeser immer schon eine entschiedene Absage erteilt hat. 1 7 0

50 Jahre BVerfG II, 2001, S. 616, 624 f. - Fundamentalkritisch Knies, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 1165 f. 169 Zacher, Der Staat 14 (1975), S. 444. 170 Schmitt Glaeser, VVDStRL 31 (1973), S. 180 ff.; Zacher, in: Festschrift für Günter Dürig, 1990, S. 91 ff.

Zur Rechtfertigung der Sonderstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im dualen System Dargestellt am Beispiel des österreichischen Rundfunkrechts Von Karl Korinek

I. Die Bedeutung des öffentlichen Auftrags für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk 1. Einleitende Bemerkungen I m dualen Rundfunksystem 1 gibt es ein Nebeneinander von privatwirtschaftlich orientierten Rundfunkanbietern und einem Rundfunk, dessen Ziel nicht Gewinnmaximierung, sondern die Erfüllung eines bestimmten öffentlichen Auftrags ist. In der deutschsprachigen Terminologie hat sich für die Rundfunkanstalten, die diesem Konzept des „public broadcasting 4 ' verpflichtet sind, der Begriff des „öffentlich-rechtlichen Rundfunks" durchgesetzt. 2 Die Ausgestaltung der dualen Rundfunkordnung wurde in den meisten europäischen Staaten durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung mitgestaltet, 3 wo1 Der Terminus hat sich nach dem 4. Fernsehurteil des BVerfG (BVerfGE 73, S. 118 ff.) allgemein durchgesetzt; vgl. statt aller Martin Bullinger, Freiheit von Rundfunk und Film, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1989, S. 667 ff. (S. 698 ff.). Für Österreich vgl. etwa Wolfgang Buchner, Die Position des ORF und seine Aufgabe in einem dualen Rundfunksystem, in: Karl Korinek / Michael Holoubek (Hrsg.), Österreich auf dem Weg zum dualen Rundfunksystem, 1991, S. 21 ff. (S. 25 f.) und S. 78 ff. (S. 84 ff.), sowie neuestens Michael Holoubek, Recht der Massenmedien, in: Michael Holoubek/Michael Potacs (Hrsg.), Handbuch des öffentlichen Wirtschaftsrechts, Bd. I, 2002, S. 1041 ff., insb. S. 1078 ff. 2 Vgl. dazu Michael Holoubek/Matthias Traimer/Michael Weiner, Grundzüge des Rechts der Massenmedien, 2000, S. 33 f., sowie Holoubek, Recht der Massenmedien (o. N. 1), S. 1079 f. 3 Vgl. etwa das in o. N. 1 erwähnte Urteil des BVerfG (BVerfGE 73, S. 118 ff.) oder die wegweisende Entscheidung des Corte constitutionale 225/1974, Foro Italiano 1974 I, 1945. Siehe dazu Bernd Holznagel, Rundfunkrecht in Europa, 1996, S. 119 f. Für Österreich vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Karl Korinek, Die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen des Rundfunks in Österreich, in: Öst. Juristenkommission (Hrsg.), Rechtsstaat Liberalisierung und Strukturreform, 1998, S. 33 ff.

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Karl Korinek

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bei die Verfassungsgerichte für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bestimmte öffentliche Aufträge, insbesondere einen Versorgungsauftrag und einen Programmauftrag, postulierten: Während die meisten der einschlägigen verfassungsgerichtlichen Judikate von der Existenz staatlicher Gestaltungspflichten im Interesse der Sicherung von Pluralismus und Meinungsvielfalt ausgingen, spielt in Österreich wie unter Pkt. II zu zeigen sein wird - der „Rechtfertigungsgedanke" eine entscheidende Rolle.4 Wie dem auch sei: Die Existenz eines öffentlichen Auftrages wird allgemein als notwendiges Element jedes öffentlich-rechtlichen Rundfunks angesehen. Ein solcher öffentlicher Auftrag unterscheidet sich schon formal von normalen Unternehmenszielen, wie sie jedes Unternehmen für sich formuliert: Unternehmensziele werden vom Unternehmen selbst gesetzt, der öffentliche Auftrag wird dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk von außen gesetzt, und zwar vom Staat. Wenn dieser Staat demokratisch-parlamentarisch konstituiert ist und den Anspruch erhebt, ein Rechtsstaat zu sein, dann muß der öffentliche Auftrag auf eine Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers rückführbar sein. Der öffentliche Auftrag kann dabei in Form gesetzlicher Ermächtigungen an andere Staatsorgane5 oder aber vom Gesetzgeber selbst formuliert werden. Jedenfalls aber ist es - nach dem in Österreich vorherrschenden Verständnis rechtsstaatlicher Erfordernisse - Sache des Gesetzgebers, den öffentlichen Auftrag im Gesetz inhaltlich ausreichend zu determinieren. Dementsprechend zählt in Österreich seit je die gesetzliche Formulierung des öffentlichen Auftrags zum Kernbestand des die Organisation und die Aufgaben des öffentlich-rechtlichen Rundfunks regelnden Gesetzes.6

2. Das verfassungsrechtliche

Erfordernis

eines öffentlichen

Auftrags

Im dualen Rundfunksystem österreichischer Prägung ist der ORF gegenüber privaten Rundfunkveranstaltern mehrfach privilegiert; diese Privilegierung zeigt sich insbesondere durch eine Bevorzugung bei der Frequenzzuteilung7 und durch die Gebührenfinanzierung. 8 4 Das entspricht der besonderen Bedeutung des Gleichheitsgrundsatzes in der österreichischen verfassungsgerichtlichen Judikatur. Zur Frage, wieweit sich Gestaltungsanforderungen auch aus Grundrechtsgewährleistungen selbst ableiten lassen, vgl. für Österreich Michael Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997, allgemein S. 154 ff., für die Rundfunkfreiheit im besonderen S. 226 ff., S. 346 ff. 5 Vgl. aus der Literatur allgemein etwa Heinz Peter Rill, Art. 18 B-VG, in: Heinz Peter Rill/Heinz Schäffer (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, insb. Rz. 61 ff.; speziell zum Rundfunkrecht VfSlg. 14.256/1995. 6 Vgl. nunmehr insb. § § 3 - 5 ORF-Gesetz, Art. I des BG BGBl I 83/2001. 7 Vgl. für den terrestrischen Hörfunk § 10 PrivatradioG, BGBl I 20/2001, und für terrestrisches Fernsehen § 12 PrivatfernsehG, BGBl I 84/2001.

« Vgl. § 31 ORF-G.

Zur Sonderstellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks

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Dieser Privilegierung müssen „Gegenleistungen" gegenüberstehen, sonst wären die Privilegien gemeinschaftsrechtlich nicht zulässig9 und verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen; sie würden dem Gleichheitsgrundsatz widersprechen. 10 Der öffentliche Auftrag rechtfertigt somit erst die besondere Stellung des öffentlichrechtlichen Rundfunks im dualen System. Die Bevorzugung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wäre verfassungswidrig, gäbe es keinen adäquaten öffentlichen Auftrag. Das Problem ist freilich: Was ist adäquat ? Es kann für die Intensität der Bindung an einen öffentlichen Auftrag nicht gleichgültig sein, wie groß die Privilegierung ist. Wenn die Finanzierung eines öffentlichen Rundfunks zur Gänze oder fast zur Gänze über Gebühren erfolgt, kann man ihn intensiver an öffentliche Aufträge binden als dann, wenn man sich für ein gemischtes Finanzierungssystem entscheidet. Formulierung und Bindungsintensität des öffentlichen Auftrags müssen daher im Verhältnis zu den Vorteilen stehen, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eingeräumt sind: Es wäre verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen, würde der öffentliche Auftrag nur ein Feigenblatt, nur ein Placebo sein, um formal die Gebührenfinanzierung und die Frequenzbevorzugung zu rechtfertigen. Aber andererseits: Der öffentliche Auftrag darf nicht so sein, daß er den öffentlich-rechtlichen Rundfunk „erdrückt", ihn in seiner Geschäftspolitik übermäßig einschränkt. Es muß auch beachtet werden, daß die Finanzierung eben nicht nur über Gebühren erfolgt. Verhältnismäßigkeit ist also gefragt - und zwar auch dann, wenn man verfassungsdogmatisch wie in Österreich dem gleichheitsrechtlich grundgelegten Rechtfertigungsansatz folgt. 11 Dabei hat die Politik, konkret der Gesetzgeber, einen Gestaltungsspielraum, aber keinen unbegrenzten. Der Gesetzgeber hat zwar die Gestaltungsprärogative, aber er steht letztlich unter der nachprüfenden Kontrolle durch den Verfassungsgerichtshof. Dieser kann freilich nur dann eingreifen, wenn die Privilegien oder die Bindung übermäßig sind. Der Verfassungsgerichtshof ist - wie so oft - der Sache nach auch in diesen Fällen auf eine „Vertretbarkeitskontrolle" beschränkt. 12

II. Der Inhalt des öffentlichen Auftrags Was also den öffentlich-rechtlichen Rundfunk letztlich rechtfertigt, ist dessen öffentlicher Auftrag. Freilich greift es zu kurz, wenn man von einem öffentlichen 9

Sie wären nämlich als unzulässige Beihilfen i. S. d. Art. 87 ff. EG zu qualifizieren. 10 Vgl. allgemein statt aller Walter Berka, Die Grundrechte, 1999, Rz. 921 ff. n Auf die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgedankens auch im Rahmen der Gleichheitsprüfung hat in Österreich erstmals Michael Holoubek (Die Sachlichkeitsprüfung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes, ÖZW 1991, S. 72 ff. [77 ff.]) aufmerksam gemacht. ι 2 Vgl. dazu allgemein Karl Korinek, Betrachtungen zur österreichischen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS Ludwig Adamovich, 1992, S. 253 ff., insb. S. 271 ff.

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Auftrag spricht. In Österreich besteht der öffentliche Auftrag - betrachtet man es aus rundfunkverfassungsrechtlicher Sicht - aus jedenfalls drei Komponenten, einem sog. Grundversorgungsauftrag (l), einem die organisationsrechtliche Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks betreffenden Auftrag (2) und einem Programmauftrag (3). (1) Der „Versorgungsauftrag" 13 enthält einen Sendeauftrag und einen Versorgungsauftrag i. e. S.: Zum einen verpflichtet das Gesetz den ORF auf eine Mindestanzahl von Hörfunk- und Fernsehprogrammen - drei österreichweit und neun jeweils bundeslandweit empfangbare Hörfunkprogramme und zwei österreichweit empfangbare Fernsehprogramme; zum anderen ist der ORF verpflichtet, dafür zu sorgen, daß alle zum Betrieb eines Rundfunkempfangsgeräts berechtigten Bewohner des Bundesgebietes gleichmäßig und ständig mit zwei der drei österreichweit empfangbaren Hörfunkprogramme und dem bundeslandweit empfangbaren Programm des Hörfunks und mit beiden österreichweit empfangbaren Programmen des Fernsehens versorgt werden. Die Verpflichtung zur gleichmäßigen und ständigen Versorgung bezieht sich nach dem Gesetzestext auf die Programmund Empfangsqualität, wird aber dadurch etwas relativiert, daß die Verpflichtung nur „nach Maßgabe der technischen Entwicklung und der wirtschaftlichen Tragbarkeit" besteht. Es besteht somit zwar kein umfassender, aber doch ein weitgehender Auftrag zur Grundversorgung durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. (2) Das Rundfunkverfassungsrecht verpflichtet den Gesetzgeber dazu, für den „öffentlich-rechtlichen Rundfunk" organisationsrechtliche Vorkehrungen zu treffen, die insbesondere die Unabhängigkeit seiner Mitarbeiter und ganz allgemein eine gewisse binnenpluralistische Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks gewährleisten. Der Gesetzgeber hat hier einen Ausgleich zwischen binnenpluralistischen Anforderungen und der ebenso verfassungsrechtlich vorgezeichneten Effizienz eines öffentlichen Unternehmens zu treffen. Und auch hier hat er einen Gestaltungsspielraum; insbesondere ist damit dem ORF keine bestimmte Organisationsform verfassungsrechtlich vorgezeichnet. Das Organisationsrecht hat dabei eine nicht zu unterschätzende Sicherungsfunktion zur Gewährleistung von Bedingungen, die eine Erfüllung der inhaltlichen Aufgaben durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erwartbar erscheinen lassen.14 Drei Regelungskomplexe sind als im Dienst dieser Gewährleistungsfunktion stehend anzusehen: Die organisationsrechtlichen Vorschriften im engeren Sinn, die Vorschriften über die besondere Stellung der programmgestaltenden Mitarbeiter und jene über die Kontrolle.

'3 § 3 ORF-G. 14

Vgl. schon Korinek, Rahmenbedingungen des Rundfunks in Österreich (o. N. 3), S. 46 f.

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Während insbesondere das RFG 197415 eine binnenpluralistische Organisation vorgesehen hatte,16 sind von dieser Konzeption, die schon das RFG 198417 verlassen hatte, im geltenden ORF-G 18 nur mehr Ansätze nachweisbar: So gibt es zwar noch Direktoren 19 und Landesdirektoren, die „die laufenden Geschäfte dieses Bereichs selbständig zu führen" haben, doch sind sie dem Generaldirektor gegenüber weisungsgebunden.20 Die wichtigsten Regelungen im Dienst der Realisierung des organisationsrechtlichen öffentlichen Auftrags sind zweifellos die Vorschriften über die Stellung der programmgestaltenden Mitarbeiter, die der Sicherung der Unabhängigkeit dieser Mitarbeiter und der Verankerung eines Redakteurstatuts sowie eines Schiedsgerichts dienen.21 Auf die Bedeutung der Kontrollbestimmungen wird noch einzugehen sein. (3) Zum Kernbestand des öffentlichen Auftrags zählt nach dem österreichischen Rundfunkrecht wie auch in anderen Rechtsordnungen der „Programm- und Qualitätsauftrag" des ORF. Ein derartiger, auf die Inhalte der gesendeten Programme bezogener Auftrag wird gemeiniglich als essentiale jedes öffentlich-rechtlichen Rundfunks bezeichnet.22 Was die inhaltliche Seite des öffentlichen Auftrags des ORF anlangt, so geht die Rundfunkverfassung wohl von einem öffentlich-rechtlichen Rundfunk aus, der auch und gerade von der breiten Masse der Bevölkerung angenommen und in Anspruch genommen wird, der aber - gemeinwohlorientiert - auch einen besonderen Auftrag zu erfüllen hat und sich daher in seiner Programmpolitik nur begrenzt am Markt und an den privaten Konkurrenten orientieren darf. Rundfunkverfassungsrecht und Gleichheitsgrundsatz verpflichten den Gesetzgeber zur Formulierung eines Programmauftrags, der auf die Bewahrung österreichischer Identität und der Grundsätze der österreichischen Bundesverfassung verpflichtet und auf tatsächliche Programmvielfalt, Meinungspluralismus, Ausgewogenheit und Objektivität sowie die Wahrung des dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk

15 RFG 1974, BGBl 397/1974. Der ORF, der vordem als GmbH konstituiert war, wurde mit diesem Gesetz als öffentlich-rechtliche Anstalt eingerichtet. 16 Vgl. etwa Karl Korinek, Die Gewährleistung von Kommunikationsfreiheit im österreichischen Rundfunkrecht, Rundfunkrecht 1980, S. 1 ff. 17 RFG-Nov. BGBl 246/1984; vgl. dazu etwa Paul Twaroch/Wolf gang Buchner, Rundfunkrecht in Österreich, 5. Auflage 2000, S. 17 f. 18 Vgl. §§ 22-25 ORF-G. Nunmehr ist der ORF als Stiftung öffentlichen Rechts bezeichnet; das ist insofern irreführend, als die einer Stiftung typischen Merkmale, wie insb. das Stiftungsvermögen als tragendes Element (vgl. Bernhard Raschauer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1998, Rz. 90) beim ORF nicht nachweisbar sind. Vgl. im übrigen Holoubek, Recht der Massenmedien (o. N. 1), S. 1082. 19 Und zwar vier bis sechs Direktoren, deren Geschäftsbereich vom Stiftungsrat auf Vorschlag des Generaldirektors festgelegt wird. 20 § 25 Abs. 1 ORF-G.

21 §§ 32-34 ORF-G. 22 Vgl. etwa Günter Herrmann, Rundfunkrecht, 1994, S. 259 f. und S. 507 f.

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eigenen Seriositäts- und Qualitätsauftrages gerichtet ist. 23 Dabei darf der Gesetzgeber freilich nicht so weit gehen, daß er eine effektive Unternehmensführung unmöglich macht, also den öffentlichen-rechtlichen Rundfunk in seiner - verfassungsrechtlich ebenfalls geschützten24 - unternehmerischen Dispositionsfreiheit übermäßig einschränkt. 25 Im geltenden ORF-Gesetz wird die inhaltliche Seite des öffentlichen Auftrags insbesondere durch einen detaillierten Programmauftrag und durch gesetzliche Programmgrundsätze konkretisiert. 26 Ziel dieser Vorschriften ist es, den ORF auf ein ausgewogenes und differenziertes Gesamtprogramm von Information, Kultur, Unterhaltung und Sport zu verpflichten und ein gewisses27 Maß an anspruchsvollen und qualitativ hochwertigen Sendungen vorzuschreiben. Der Programmauftrag des ORF ist damit deutlich umfassender und strikter als der für private Rundfunkanbieter vorgesehene „Grundstandard gleichgewichtiger Vielfalt". 28

III. Die Kontrolle der Einhaltung des öffentlichen Auftrags 7. Die Notwendigkeit

einer unabhängigen Rechtsaufsicht

Öffentliche Aufträge können durch einen vom Staat beherrschten und geleiteten Rundfunk oder durch einen selbständigen, unabhängigen Rundfunk realisiert werden. Das sind freilich nur Typen - in der Realität kommt es zu Mischformen: Der staatliche Rundfunk kann relativ unabhängig geführt werden, und in einem selbständigen und unabhängigen Rundfunk kann es zu staatlichen und politischen Einflüssen kommen - auf formalisierten Wegen und über informelle Kanäle. Aber vom Typus her gibt es eben zwei Grundformen.

23

Korinek, Rahmenbedingungen des Rundfunks in Österreich (o. N. 3), S. 47.

24

Vgl. etwa Karl Korinek, Art. 5 StGG, in: Karl Korinek / Michael Holoubek (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Rz. 23 (2002); allgemein dazu Berka, Grundrechte (o. N. 10), Rz. 173. 25

Im VfGH ist derzeit ein Verfahren anhängig, in dem u. a. geprüft wird, ob das geltende Recht diese Grenze überschritten hat; dieses Verfahren ist zu G 304/01 protokolliert. 26 Vgl. §§4 und 10 ORF-G; das Gesetz enthält weiter auch - gemeinschaftsrechtlich vorgegebene - Vorschriften, die bei Werbe- und Patronanzsendungen einzuhalten sind. 27 Günther Winkler hat dem Autor dieses Beitrags einmal freundschaftlich geraten, den Ausdruck „ein gewisses Maß" zu vermeiden und von „bestimmtem Maß" zu sprechen, so wie man auch von einem „bestimmten Ort" und nicht von einem „gewissen Ort" spricht. Im vorliegenden Fall sind die gesetzlichen Vorgaben aber so vage, daß sich die Feder sträubt, die Formulierung „bestimmtes Maß" zu verwenden. 28 So Holoubek, Recht der Massenmedien (o. N. 1), S. 1091. Vgl. zu diesen Standards § 16 PrivatradioG und §§ 30 ff. PrivatfernsehG (o. N. 7).

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Österreich hat sich 1966 für den Typus des unabhängigen und selbständigen, mehr oder weniger „staatsfernen" 29 Rundfunks entschieden30 und die Entscheidung steht heute außer Streit. Wenn der Staat aber öffentliche Aufträge vorgibt und ein selbständiger und unabhängiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk ihn zu realisieren hat, dann muß der Staat auch die Möglichkeit haben, im Wege einer Rechtsaufsicht zu kontrollieren, ob den von ihm gestellten Aufträgen entsprochen wird. Diese Kontrolle muß jedenfalls vom beaufsichtigten Rundfunkunternehmen unabhängig und effektiv 31 sein. In Österreich liegt die Kontrolle der Einhaltung der dem ORF vorgegebenen Aufträge - anders als es dem deutschen Recht typisch ist 3 2 und ähnlich wie beim französischen CSA (Conseil Supérieur de Γ Audiovisuel) 33 - bei einer unabhängigen kollegialen Verwaltungsbehörde, die als Tribunal i. S. d. Art. 6 EMRK eingerichtet ist: dem Bundeskommunikationssenat.34 Diese Einrichtung löste in dieser Aufgabe die frühere „Kommission zur Wahrung des Rundfunkgesetzes" (RFK) 35 ab, die eine reiche Judikatur zur Interpretation und Anwendung der den ORF bindenden öffentlichen Aufträge entwickelt hatte.36 Entscheidungen des Bundeskommunikationssenates unterliegen ihrerseits der Kontrolle ihrer Verfassungsmäßigkeit durch den Verfassungsgerichtshof 37 und auch der Rechtmäßigkeitskontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof. 38 29 Eine Verbindung bestand früher über das Kuratorium, dessen Mitglieder zum Teil von Staatsorganen oder politischen Organisationen entsendet wurden; nunmehr besteht eine solche Verbindung über den Stiftungsrat; ihre Intensität wird unterschiedlich bewertet. 30 RFG 1966, BGBl 195/1966. 31 Zu Recht hat Christoph Degenhart, Rundfunkaufsicht und Wettbewerbsgleichheit im dualen Rundfunksystem, ZUM 1997, S. 153 ff. (hic: 160), formuliert, daß auch gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk eine effektive Rundfunkaufsicht geboten ist. 32 Vgl. etwa Bernhard Frye, Die Staatsaufsicht über die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, 2001. 33 Vgl. etwa Holznagel, Rundfunkrecht in Europa (ο. N. 3), S. 214. 34 § 35 ORF-G, §§ 11 f. BG über die Einrichtung einer Kommunikationsbehörde Austria („KommAustria") und eines Bundeskommunikationssenates (KommAustria-G), BGBl I 32/2001. Daneben gibt es auch eine Kontrolle durch eine eigene „Prüfungskommission" (§ 40 ORF-G) sowie die Kontrolle durch den Rechnungshof (§ 31a ORF-G; diese Bestimmung gilt noch in der Fassung des BGBl 379/1984 und steht in Verfassungsrang); sowohl die Prüfungskommission als auch der Rechnungshof sind berufen, die Gebarung des ORF im Hinblick auf deren Ordnungsmäßigkeit, die Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften und auf ihre Effizienz (Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit) zu überprüfen. Insgesamt ist daher wohl eine gewisse Hypertrophie der Kontrolle über den ORF zu konstatieren. 35 §25 RFG (o.N. 15). 36 Vgl. insb. die Wiedergabe der Leitsätze der Judikate bei Twaroch/Buchner, Rundfunkrecht in Österreich (ο. N. 17) zu § 2 („Programmauftrag") im RFG 1974, S. 55 ff. In extenso wurden die Entscheidungen der RFK und werden nunmehr die Entscheidungen des Bundeskommunikationssenates in der Zeitschrift „Rundfunkrecht", einer Beilage zur Zeitschrift „Österreichische Blätter für gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht" publiziert. 37 Art. 144 B VG. 38 § 11 Abs. 3 KommAustria-G (ο. N. 34).

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Die Unabhängigkeit der Rechtsaufsicht über den ORF steht daher außer Zweifel. Diskutiert wird freilich in der rundfunkpolitischen Diskussion deren Effektivität. 2. Die Effektivität

der Rechtsaufsicht

Wir wissen aus der allgemeinen Staatslehre, daß Kontrolle dann effektiv ist, wenn die Antragslegitimation stimmt, wenn das Organ organisatorisch und personell gut und kompetent zusammengesetzt ist und wenn an die Kontrolle ausreichende Konsequenzen geknüpft werden. Die Antragslegitimation ist im Gesetz zwar äußerst kompliziert und kasuistisch geregelt, dürfte aber ausreichend sein, um ein effektives Tätigwerden des Kontrollorgans zu ermöglichen. Das Gesetz39 sieht sowohl Beschwerdemöglichkeiten als auch Antragsrechte vor. Zur Beschwerde ist jede Person legitimiert, die durch eine Rechtsverletzung unmittelbar geschädigt zu sein behauptet,40 sowie ohne eine derartige persönliche Betroffenheit jeder Rundfunkteilnehmer, sofern die Beschwerde von 300 weiteren Rundfunkteilnehmern unterstützt wird. Dazu kommt auch die Möglichkeit einer Konkurrentenbeschwerde, zu der ein Unternehmen legitimiert ist, dessen rechtliche oder wirtschaftliche Interessen durch die behauptete Verletzung berührt werden. 41 Daneben gibt es Antragslegitimationen des Bundes, der Länder, eines beim ORF eingerichteten „Publikumsrates", sowie eines Drittels der Mitglieder des Stiftungsrates; die Einhaltung von Vorschriften über Werbe- und Patronanzsendungen kann auch auf Antrag einer österreichischen Konsumentenschutzorganisation sowie - soweit Fernsehsendungen betroffen sind - auch von benannten Konsumentenschutzorganisationen anderer Mitgliedstaaten der EU 4 2 kontrolliert werden. Über die fachliche Qualität und organisatorische Ausgestaltung der Kontrolle hört man in der kritischen Öffentlichkeit kaum Klagen. Hingegen sind die Konsequenzen, die an ein festgestelltes Fehlverhalten des ORF geknüpft sind, nur bedingt geeignet, die Rechtsaufsicht als effektiv erscheinen zu lassen: Die Entscheidung der Aufsichtsbehörde besteht nämlich in der Regel (bloß) in der Feststellung, ob und durch welche Sachverhalte eine Bestimmung des ORF-

39 § 36 ORF-G. Für bestimmte schwerwiegende Rechtsverletzungen in Fernsehprogrammen sind auch Personen antragslegitimiert, sofern sie bloß in ihren Interessen verletzt sind; diese Regelung entstammt dem Gemeinschaftsrecht und ist - dessen Geltungsbereich entsprechend - auf Fernsehsendungen eingeschränkt. Ob dies den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Gleichheitsgrundsatzes entspricht, ist Gegenstand des in o. N. 25 genannten verfassungsgerichtlichen Verfahrens. 4 1 § 36 Abs. 1 Ζ 1 lit. d ORF-G. 42 Auch diese Regelung entstammt dem Gemeinschaftsrecht; für sie gilt das in ο. N. 40 Gesagte sinngemäß. 40

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Gesetzes verletzt worden ist. Nach dem Wortlaut des Gesetzes43 kann der Senat auch auf Veröffentlichung seiner Entscheidung erkennen - der Verfassungsgerichtshof hat in seiner Judikatur 44 diese Veröffentlichungspflicht aber sehr weit interpretiert und erkannt, daß bei Rechtsverletzungen, die vom österreichischen Rundfunk als Medium (durch Tun oder Unterlassen) begangen wurden, die Öffentlichkeit über verurteilende Entscheidungen stets unterrichtet werden muß. „Nur in jenem verhältnismäßig schmalen Bereich, in dem die Entscheidung für die Öffentlichkeit ohne jedes Interesse ist, kann eine Veröffentlichung unterbleiben." Da aber der Bundeskommunikationssenat - ebenso wie schon die Rundfunkkommission in aller Regel keine medienwirksame Art der Veröffentlichung vorschreibt, bleibt die Veröffentlichung verurteilender Entscheidungen in aller Regel ohne große Wirksamkeit. Weitere Sanktionen zu ergreifen, ist der Bundeskommunikationssenat in aller Regel45 nicht zuständig. Insbesondere fehlt ihm die Möglichkeit, Bußgeldzahlungen zu verhängen, „Gegensendungen" anzuordnen oder bestimmte Programmelemente zu suspendieren. Lediglich bei sehr gravierenden Verletzungen des inhaltlichen Programmauftrags (Verletzung der Menschenwürde, „Aufreizen" zu Haß aus rassischen, religiösen o. ä. Gründen oder Verletzung von Bestimmungen zum Schutz von Minderjährigen), bei der Verletzung bestimmter Werbebeschränkungen und bei mißbräuchlicher Disposition über ausschließliche Übertragungsrechte von Ereignissen erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung ist die Verhängung von - freilich relativ niedrigen - Verwaltungsstrafen 46 vorgesehen. Ob das Gegenstück zum öffentlichen Auftrag, nämlich die Kontrolle von dessen Einhaltung, in ausreichender Effizienz ausgestaltet wurde, 47 wird daher in der rundfunkpolitischen Diskussion bezweifelt.

43 So nunmehr § 37 Abs. 45 ORF-G; früher wortgleich in § 29 Abs. 4 RFG (ο. N. 15). 44 VfSlg. 12.497/1990. 45

Wird die Verletzung des ORF-G durch ein Organ des ORF (Stiftungsrat, Generaldirektor, Publikumsrat oder Prüfungskommission) festgestellt, die im Zeitpunkt dieser Feststellung noch andauert, kann der Senat die Entscheidung auch aufheben; die Ersatzentscheidung ist unter Bindung an die Rechtsansicht des Senats zu treffen; hierfür besteht die Sanktion der Auflösung oder Abberufung des Organs (§ 37 Abs. 2 ORF-G). 46 Die maximale Höhe dieser Verwaltungsstrafen ist bei der ersten Fallgruppe im Hinblick auf die relative Schwere des Verstoßes und bei Verstößen gegen Werbebeschränkungen im Hinblick auf deren wirtschaftliche Relevanz (Problem des „Einkalkulierens" der Strafe) mit € 36.000,- relativ niedrig; für die dritte Fallgruppe beträgt der Strafrahmen € 36.000,- bis € 58.000,-. 47 Wie dies etwa von Degenhart, Rundfunkaufsicht und Wettbewerbsgleichheit (ο. N. 31), zu Recht postuliert wurde.

V. Wettbewerb, Steuern

Zur wettbewerbsrechtlichen Sanktionierung öffentlich-rechtlicher Normen Von Helmut Köhler I. Einführung Ob und inwieweit ein Verstoß gegen Normen des öffentlichen Rechts zugleich einen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht darstellen und damit wettbewerbsrechtliche Sanktionen auslösen kann, war und ist Gegenstand lebhafter Auseinandersetzungen im Schrifttum und vor den Gerichten. Es geht dabei im wesentlichen um zwei Fragen: Zum einen darum, ob es mit dem Regelungsanspruch und dem Rechtsdurchsetzungsmechanismus einer öffentlich-rechtlichen Norm vereinbar ist, daß sie darüber hinaus mittels einer Gleichung „Gesetzesverstoß gleich Wettbewerbsverstoß'4 auch mit dem (scharfen) Instrument des Wettbewerbsrechts durchgesetzt wird. Zum anderen, wenn sich dies bejahen läßt, wie sich die Umsetzung eines Verstoßes gegen eine öffentlich-rechtliche Norm in einen Wettbewerbsverstoß begründen läßt. Der folgende Beitrag zu dieser Fragestellung ist dem langjährigen Fakultätskollegen Walter Schmitt Glaeser in dankbarer und herzlicher Verbundenheit gewidmet.

II. Vorrang öffentlich-rechtlicher Sanktionen? Die Frage, ob die öffentlich-rechtlichen Sanktionen einer Vorschrift die Rechtsfolgen eines Verstoßes abschließend regeln oder ob sie Raum für zusätzliche zivilrechtliche, insbesondere wettbewerbsrechtliche Sanktionen lassen, kann hier zwar aufgeworfen, aber nur unvollständig beantwortet werden. Immerhin: Das Problem hat eine große praktische Relevanz. Der Anreiz, gegen Verstöße gegen öffentlichrechtliche Normen auch wettbewerbsrechtlich, nämlich mit zivilrechtlichen Unterlassungs-, Beseitigungs- und Schadensersatzansprüchen, vorzugehen, ist groß. Das hängt damit zusammen, daß Verwaltung und Verwaltungsgerichte zwar vielleicht gründlicher, aber eben nicht so rasch arbeiten wie die Wettbewerbsgerichte, bei denen auch einstweilige Verfügungen innerhalb weniger Tage erwirkt werden können.1 So haben beispielsweise Unternehmen der Privatwirtschaft ein Interesse daran, gegen Kommunalrechtsverstöße ihrer Konkurrenten der Gemeindewirtschaft 1 Vgl. Teplitzky,

in: GroßkommUWG, § 1 Rn. G 11 ff.

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Helmut Köhler

(Stadtwerke usw.) wettbewerbsrechtlich vorzugehen. So pflegen, um ein anderes Beispiel zu erwähnen, Kammern von freiberuflich Tätigen (Ärzten, Anwälten usw.) gegen Werbeverstöße von Mitgliedern nicht so sehr mit den in den jeweiligen Gesetzen vorgesehenen öffentlich-rechtlichen Sanktionen vorzugehen, sondern vor die Wettbewerbsgerichte zu gehen.2 Das Problem der „Sanktionenkonkurrenz" zwischen öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Normdurchsetzung hat zwei Aspekte. Zum einen geht es um die Frage, ob bereits das Vorhandensein öffentlich-rechtlicher Sanktionen von vornherein die gleichzeitige zivilrechtliche Sanktionierung über zivilrechtliche „Transmissionsnormen" ausschließt. Dies wäre nur der Fall, wenn der öffentlich-rechtlichen Norm durch Auslegung zu entnehmen wäre, daß die darin vorgesehene Sanktionierung eine abschließende Regelung ist. In aller Regel wird dies im Hinblick auf die unterschiedlichen Schutzzwecke der betreffenden Normen nicht der Fall sein. Eine Ausnahme ist für den Fall zu erwägen, daß die öffentlich-rechtliche und die zivilrechtliche Sanktion inhaltlich übereinstimmen, etwa wenn die Sanktion darin besteht, daß der von dem Gesetzesverstoß betroffene Bürger oder Unternehmer einen klagbaren Anspruch auf künftiges Unterlassen des Verstoßes hat. Denn dadurch würde die Gefahr heraufbeschworen, daß ein und derselbe Kläger sein Rechtsschutzziel sowohl vor den Verwaltungsgerichten als auch vor den ordentlichen Gerichten verfolgt, in der Hoffnung, wenn nicht vor dem einen, so doch vor dem anderen Gericht Recht zu bekommen. Es bestünde also die Gefahr einer Doppelung der Sanktionen, aber auch einander widersprechender Entscheidungen. Allein dieses Problem ist vom Gesetzgeber bedacht und in den §§ 17, 17 a GVG geregelt. Einschlägig ist insbesondere § 17 Abs. 2 GVG. Danach entscheidet das Gericht des zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten. Es ist daher verfahrensrechtlich dafür Sorge getragen, daß es nicht zu parallelen Gerichtsverfahren kommt. Sind dagegen die öffentlich-rechtlichen und die zivilrechtlichen Sanktionen unterschiedlich ausgestaltet, so wird in der Regel anzunehmen sein, daß der öffentlich-rechtlichen Norm keine „Sperrwirkung" zukommt. Am Beispiel des Baurechts: Ist die verletzte Norm „nachbarschützend", so kann der verletzte Nachbar ggf. nach § 823 Abs. 2 BGB Schadensersatz wegen „Schutzgesetzverletzung" verlangen, was er auf der Grundlage allein der baurechtlichen Norm nicht tun könnte. Gleiches gilt, wenn eine öffentlich-rechtliche Körperschaft sowohl in ihrer Eigenschaft als Hoheitsträger gegen einen Gesetzesverstoß mit öffentlich-rechtlichen (ζ. B. berufsrechtlichen) Sanktionen, gleichzeitig aber in ihrer Eigenschaft als Wirtschaftsverband (§ 13 Abs. 2 Nr. 2 UWG = § 8 Abs. 2 Nr. 2 RegE UWG 2003) wettbewerbsrechtlich im Wege der Unterlassungsklage vorgehen kann.3 Denn die Sanktionen unterscheiden sich. 2 Vgl. nur BGH GRUR 1998, 835, 836 - Zweigstellenverbot; BGH WRP 2003, 374 Anwalts-Hotline.

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Erst recht steht es der Verhängung zivilrechtlicher Sanktionen nicht entgegen, wenn der Vollzug der öffentlich-rechtlichen Norm der öffentlichen Verwaltung vorbehalten ist, weil die Norm keine öffentlich-rechtliche Klagebefugnis verleiht. Am Beispiel des Ladenschlußgesetzes: Verstößt ein Kaufmann gegen dieses Gesetz, so kann die zuständige Verwaltungsbehörde einschreiten. Betroffene Mitbewerber brauchen sich jedoch nicht damit zu begnügen, ein Einschreiten der Verwaltungsbehörde anzuregen. Sie können vielmehr gegen den Verstoß nach Wettbewerbsrecht vorgehen und dazu die Zivilgerichte anrufen. Das hat Vor- und Nachteile. Die Verwaltungsbehörde kann ihre Gründe haben, weshalb sie gegen den Verstoß nicht einschreitet.4 Das Wettbewerbsgericht hat diesen Ermessensspielraum nicht: Wenn ein Verstoß vorliegt, muß es den Kaufmann auf Antrag hin zur Unterlassung künftiger Verstöße verurteilen. Andererseits sind die Wettbewerbsgerichte „praktisch nicht korrumpierbar und auch politischen Einflüssen - nicht zuletzt auch dank ihrer kollegialen Zusammensetzung und des Fehlens einer echten Hierarchie - weniger stark ausgesetzt als Strafverfolgungs-, Verwaltungs- und Sozialbehörden".5

III. Ergänzende wettbewerbsrechtliche Sanktionen? Steht fest, daß die für die jeweilige öffentlich-rechtliche Norm vorgesehenen Sanktionen nicht als abschließende Regelung zu verstehen sind, führt dies zur weiteren Frage, welche zusätzlichen Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit ein Verstoß gegen eine solche Norm wettbewerbsrechtlich sanktioniert werden kann. Wettbewerbsrechtliche Sanktionen setzen voraus, daß die betreffende Handlung eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht darstellt. Die Frage ist daher dahin zu präzisieren, unter welchen Voraussetzungen der Verstoß gegen eine öffentlich-rechtliche Norm zugleich einen Wettbewerbsverstoß darstellt.

7. Die Rechtslage im geltenden Wettbewerbsrecht Die Frage wurde von den Wettbewerbsgerichten jahrzehntelang mit Hilfe einer Zweiteilung des Normenbestands gelöst.6 Der Verstoß gegen sog. wertbezogene 3 Vgl. nur BGH GRUR 1998, 835, 836 - Zweigstellenverbot; BGH WRP 2003, 374, 375 - Anwalts-Hotline. - Die Frage ist allerdings sehr str. und wird voraussichtlich in nächster Zeit vom BVerfG entschieden. 4 Vgl. Stolterfoht, Der Wettbewerbsrichter als Verwaltungsjurist, in: FS Rittner, 1991, S. 695 ff., 714. 5 Vgl. Teplitzky, in: GroßkommUWG, § 1 Rn. G 12. 6 Vgl. die Darstellung bei Hefermehl, in: Baumbach /Hefermehl, Wettbewerbsrecht, 22. Aufl., § 1 Rn. 608-831; Piper, in: Köhler/Piper, UWG, 3. Aufl., § 1 Rn. 726-936; sowie Teplitzky, in: Großkommentar UWG, § 1 Rn. G 1-G 258. 33 FS Schmitt Glaeser

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Normen sollte ohne weiteres einen Wettbewerbsverstoß gegen § 1 UWG begründen, der Verstoß gegen sog. wertneutrale Normen dagegen nur dann, wenn der Täter bewußt und planmäßig handelt und für ihn die Erzielung eines Wettbewerbsvorsprungs vor den gesetzestreuen Mitbewerbern erkennbar war. Als „wertbezogen" wurde dabei eine Norm angesehen, die entweder sittlich fundiert, d. h. Ausdruck einer sittlichen Grundanschauung war, oder dem Schutze eines wichtigen Gemeinschaftsgutes diente. Als „wertneutral" wurde eine Norm angesehen, die lediglich aus Gründen ordnender Zweckmäßigkeit erlassen worden war. Dieses Konzept hat der Bundesgerichtshof in der „Abgasemissionen"-Entscheidung7 aufgegeben. Es ging dabei um die Frage, ob der Vertrieb von Waren, die unter Verstoß gegen Umweltschutzvorschriften hergestellt wurden, wettbewerbswidrig sein kann, weil die dabei erzielten Kosteneinsparungen einen Wettbewerbsvorsprung ermöglichen. Der BGH verneinte dies: Es sei nicht Aufgabe des § 1 UWG, Verstöße gegen gesetzliche Bestimmungen im Vorfeld des Wettbewerbshandelns zu sanktionieren, die zwar in irgendeiner Weise Auswirkungen auf die Wettbewerbschancen der Mitbewerber haben, aber kein Wettbewerbsverhalten darstellen und auch nicht geeignet sind, dem eigentlichen Wettbewerbsverhalten den Charakter eines gerade in wettbewerblicher Hinsicht unlauteren Handelns zu geben. Vielmehr sei zu unterscheiden: (1) Verstößt das Wettbewerbsverhalten gegen ein Gesetz, das dem Schutze wichtiger Gemeinschaftsgüter wie dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung dient, indiziert die Verletzung einer derartigen wertbezogenen Norm grundsätzlich die wettbewerbsrechtliche Unlauterkeit mit der Folge, daß es regelmäßig nicht der Feststellung weiterer Unlauterkeitsmerkmale bedarf. Dies hat seinen Grund darin, daß es auch dann, wenn die verletzte Norm selbst keinen unmittelbar wettbewerbsbezogenen Zweck verfolgt, in der Zielsetzung des § 1 UWG liegt zu verhindern, daß Wettbewerb unter Mißachtung gewichtiger Interessen der Allgemeinheit betrieben wird. (2) Anders liegt es, wenn der Gesetzesverstoß dem wettbewerblichen Handeln vorausgeht oder nachfolgt. Denn insoweit fällt der Gesetzesverstoß nicht mit dem Wettbewerbsverhalten zusammen, sondern steht damit nur in einem mehr oder weniger engen Zusammenhang. Der Gesetzesverstoß macht das Wettbewerbsverhalten nur dann wettbewerbswidrig, wenn die verletzte Norm „zumindest eine sekundäre wettbewerbsbezogene Schutzfunktion" aufweist, also zumindest auch die Gegebenheiten eines bestimmten Marktes festlegt und so auch gleiche rechtliche Voraussetzungen für die auf dem Markt tätigen Mitbewerber schafft. 8 Ein Marktverhalten ist folglich nicht schon dann unlauter, wenn es Vorteile aus einem Verstoß gegen ein Gesetz ausnutzt, das - selbst wenn es wertbezogen ist - keinen zumindest sekundären Marktbezug aufweist. Mit dieser Entscheidung hat zwar der BGH - bildlich gesprochen - den alten Kurs verlassen und eine neue Richtung gewiesen. Ungewiß blieb damals freilich noch, wohin die Reise letztlich führen würde. 7 Β GHZ 144, 255 = GRUR 2000, 1076 - Abgasemissionen. 8 BGHZ 144, 255, 269 - Abgasemissionen.

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Eine weitere Klärung hat die neueste Rechtsprechung zu kommunalrechtlichen Vorschriften gebracht. Bekanntlich sorgten die Vorschriften über die Begrenzung der wirtschaftlichen Betätigung kommunaler Unternehmen wegen der dahinterstehenden wirtschaftlichen Interessen der Privatwirtschaft einerseits und der Kommunen andererseits für „Zündstoff. Im Hinblick auf den oft als unzulänglich empfundenen Rechtsschutz der Privatwirtschaft durch die Verwaltungsgerichte trachteten Unternehmen der Privatwirtschaft danach, mit Hilfe des Wettbewerbsrechts (UWG) und der ordentlichen Gerichte die ausgreifende wirtschaftliche Betätigung der Kommunen zu zügeln. In zwei grundlegenden Entscheidungen zur bayerischen und zur nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung hat der BGH 9 diesen Bestrebungen eine Absage erteilt. Er hat darin zum Ausdruck gebracht, daß der Verstoß gegen Vorschriften, die lediglich den Marktzutritt und nicht auch (zumindest mittelbar) das Marktverhalten regeln, nicht als Wettbewerbsverstoß angesehen werden können. Damit zeichnet sich ab, daß der Sache nach nur noch ein Verstoß gegen solche öffentlich-rechtliche Normen, die (zumindest auch) das Markt verhalten von Unternehmen regeln, einen Wettbewerbsverstoß nach § 1 UWG darstellen können. Für die Praxis ist damit weitgehende Rechtsklarheit geschaffen. Die Frage ist aber, ob dies auch künftig so bleibt.

2. Die Rechtslage im künftigen Wettbewerbsrecht Die Tage des UWG von 1909 sind gezählt. Noch in dieser Legislaturperiode soll ein völlig neues UWG verabschiedet werden, das den gewandelten Anforderungen des Gemeinschaftsrechts, aber auch der Verbraucher und der Wirtschaft Rechnung tragen soll. Der Regierungsentwurf für das neue Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb wurde am 07. Mai 2003 vom Kabinett verabschiedet. Das neue UWG soll bereits zum 1. Januar 2004 in Kraft treten. Daher ist es berechtigt, ja geradezu geboten, einen Blick auf die künftige Rechtslage zu werfen.

a) Ausdrückliche Regelung des Rechtsbruchtatbestands Anders als das derzeitige Wettbewerbsrecht, das lediglich mit der Generalklausel des § 1 UWG arbeitet, wird das künftige UWG die Generalklausel (§ 3 RegE UWG) durch Beispielstatbestände unlauterer Wettbewerbshandlungen (§§ 4 - 7 RegE UWG) ergänzen. Als ein solcher Beispielstatbestand wird in § 4 Nr. I I 1 0 auch der Rechtsbruch aufgeführt. Die Regelung lautet: 9 BGH GRUR 2002, 825 - Elektroarbeiten (zu Art. 87 BayGO); BGH GRUR 2003, 164 - Altautoverwertung (zu § 107 NWGO). In dieser Entscheidung ist der BGH ausdrücklich auf die Kritik (ζ. B. von Dreher, ZIP 2002, 1648) an der „Elektroarbeiten"-Entscheidung eingegangen und hat sie zurückgewiesen. Daraus erhellt, daß der BGH an seiner Rspr. festhalten will. 33*

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„Unlauter im Sinne des § 3 handelt insbesondere, wer ... 11. einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln."

Bezogen auf öffentlich-rechtliche Normen bedeutet dies, daß ein Verstoß gegen sie nur dann einen Wettbewerbsverstoß darstellen kann, wenn es sich dabei um eine Regelung handelt, „die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln". Was bedeutet dies? Im Folgenden soll versucht werden, Inhalt und Tragweite dieser Regelung zu klären.

b) Regelung des Markt Verhaltens auch im Interesse der Marktteilnehmer aa) Regelung des Marktverhaltens Die Vorschrift muß eine Regelung des Marktverhaltens zum Gegenstand haben. Als Marktverhalten ist jede Tätigkeit auf einem Markt anzusehen, die unmittelbar oder mittelbar der Förderung des Absatzes oder Bezugs eines Unternehmens dient. Dazu gehört nicht nur das Angebot und die Nachfrage von Waren oder Dienstleistungen, sondern auch die Werbung, einschließlich der bloßen Aufmerksamkeitswerbung. Den Gegensatz bilden Tätigkeiten, die keine Außenwirkung auf einem Markt für Waren oder Dienstleistungen haben, wie ζ. B. die Produktion, die Forschung und Entwicklung, die Einstellung und Entlassung von Arbeitnehmern. Diesbezügliche Regelungen fallen mangels Marktbezugs von vornherein aus dem Anwendungsbereich des § 4 Nr. 11 RegE UWG heraus. Einen Marktbezug haben zwar sog. Marktzutrittsregelungen. Doch sind auch sie von den Marktverhaltensregelungen zu unterscheiden.11 Reine Marktzutrittsregelungen sind solche Normen, die Personen den Marktzutritt aus Gründen verwehren, die nichts mit ihrem Marktverhalten, also der Art und Weise des Agierens am Markt, zu tun haben. Dazu gehören insbesondere Normen, die bestimmten Personen zu ihrem eigenen Schutze oder zum Schutze des Unternehmens, in dem sie tätig sind, den Marktzutritt nicht oder nur unter Einhaltung bestimmter Voraussetzungen gewähren. Dazu gehören ferner wirtschaftslenkende Normen, die bestimmte Unternehmen von bestimmten Märkten fernhalten sollen, um die auf einem bestimmten Markt agierenden Unternehmen vor unliebsamem Wettbewerb zu schützen. Verstöße gegen reine Marktzutrittsregelungen fallen nicht unter § 4 Nr. 11 RegE UWG und können auch nicht über die Generalklausel erfaßt werden. Es ist nämlich nicht die ordnungspolitische Aufgabe des UWG, Märkte vor dem Zutritt weiterer Wettbewerber abzuschotten. Ihm geht es lediglich darum, unlautere 10 Die Regelung des § 4 Nr. 11 ist nahezu wörtlich aus dem Entwurf von Köhler/Bornkamm/ Henning-Bodewig, WRP 2002, 1317, dort § 5 Nr. 4, übernommen worden; vgl. auch Köhler, NJW 2002, 2761. u Vgl. dazu bereits Köhler, GRUR 2001, III, 780.

Zur wettbewerbsrechtlichen Sanktionierung öffentlich-rechtlicher Normen

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Verhaltensweisen auf einem Markt zu unterbinden, die geeignet sind, den bestehenden Wettbewerb zum Nachteil der Mitbewerber, der Verbraucher und der sonstigen Marktteilnehmer zu verfälschen. Vielfach läßt sich eine Regelung nicht eindeutig als Marktzutritts- oder als Marktverhaltensregelung qualifizieren, sondern enthält beide Elemente. Für die Anwendung des § 4 Nr. 11 RegE UWG reicht es schon nach dessen Wortlaut aus, daß die gesetzliche Vorschrift „auch" eine Regelung des Marktverhaltens im Interesse der Marktbeteiligten darstellt. Ob dies der Fall ist, muß durch Auslegung der jeweiligen Norm festgestellt werden. Von einer Vorschrift mit Doppelnatur ist in der Regel auszugehen, wenn die Betätigung auf einem bestimmten Markt einer öffentlich-rechtlichen Erlaubnis bedarf und die betreffende Norm damit im Interesse der Marktbeteiligten, insbesondere der Verbraucher, eine bestimmte Qualifikation eines Unternehmers und damit ein bestimmte Qualität der angebotenen Waren oder Dienstleistungen sicherstellen will. 1 2 Entsprechendes gilt für produktbezogene Genehmigungsvorbehalte (ζ. B. des Arzneimittelsrechts), die die Qualität oder Unbedenklichkeit eines bestimmten Produkts gewährleisten sollen. Doppelnatur hat auch, um ein weiteres Beispiel anzuführen, § 5 Abs. 1 PostG. Danach ist zur gewerbsmäßigen Beförderung von Briefsendungen, deren Einzelgewicht nicht mehr als 100 g beträgt, eine Erlaubnis (Lizenz) erforderlich. Nach der Rechtsprechung13 regelt diese Norm unmittelbar den Wettbewerb auf dem Markt für Postdienstleistungen, um den „Universaldienst", also die flächendeckende Grundversorgung mit Postdienstleistungen, zu gewährleisten. Daraus wird klar, daß die Norm nicht nur den Marktzutritt regelt, sondern zugleich die Qualität der angebotenen Dienstleistung im Interesse der Marktteilnehmer, insbesondere der Verbraucher, sichern will. Nichts anderes besagt die Rechtsprechung, wenn sie darin den Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter erblickt. Daher handelt es sich bei § 5 Abs. 1 PostG „auch" um eine Marktverhaltensregelung. Befördert daher ein Unternehmen ohne diese Lizenz Briefsendungen, so erfüllt dies den Tatbestand des § 4 Nr. 11 RegE UWG. bb) Interesse der Marktbeteiligten Die Vorschrift muß (auch) dazu bestimmt sein, das Marktverhalten „im Interesse der Marktteilnehmer" zu regeln. Das sind nach der Legaldefinition des § 2 Nr. 2 RegE UWG neben den Mitbewerbern und Verbrauchern, alle Personen, die als Anbieter oder Nachfrager von Waren oder Dienstleistungen tätig sind. Diese Konkretisierung bedeutet zweierlei. Zum einen reicht es nicht aus, daß sich die Norm lediglich zugunsten der Marktteilnehmer auswirkt. Zum anderen genügt es nicht, daß die Norm ein wichtiges Gemeinschaftsgut oder die Interessen Dritter (ζ. B. Arbeitnehmer, Gläubiger, Schuldner) schützt, sofern damit nicht gleichzeitig auch 12 Vgl. BGH GRUR 2002, 825, 826 - Elektroarbeiten. 13 Vgl. BGH GRUR 2003, 250, 251 - Massenbriefsendungen aus dem Ausland zu § 1 UWG; vgl. auch BGH WuW/E DE-R 197, 198.

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die Interessen von Marktteilnehmern geschützt werden sollen. Am Beispiel des Ladenschlußgesetzes: Würde dieses Gesetz nur die Interessen der Arbeitnehmer und nicht zugleich - zumindest auch - die Interessen der Mitbewerber schützen, würde es nicht die Voraussetzungen des § 4 Nr. 11 RegE UWG erfüllen. cc) Zuwiderhandlung

gegen die gesetzliche Vorschrift

Der Rechtsbruchtatbestand setzt eine Zuwiderhandlung gegen die gesetzliche Vorschrift voraus. Das Verhalten muß also den Tatbestand dieser Norm vollständig erfüllen. Setzt der Tatbestand der Norm, wie etwa bei Strafvorschriften, Verschulden des Handelnden voraus, muß dieses Verschulden auch dann vorliegen, wenn lediglich verschuldensunabhängige Unterlassungs- oder Beseitigungsansprüche nach § 8 Abs. 1 RegE UWG, gestützt auf § 4 Nr. 11 RegE UWG geltend gemacht werden. Der vorbeugende Unterlassungsanspruch (§ 8 Abs. 1 S. 2 RegE UWG) kann allerdings schon dann geltend gemacht werden, wenn eine Zuwiderhandlung gegen die gesetzliche Vorschrift droht, also unmittelbar bevorsteht. dd) Erfordernis

eines Verschuldens?

Für die Unlauterkeit ist es nicht erforderlich, daß der Handelnde schuldhaft gegen die gesetzliche Vorschrift verstoßen hat. Dies spielt nur beim verschuldensabhängigen Schadensersatz eine Rolle. 14 Allerdings hat die Rechtsprechung15 die Unlauterkeit und damit das Bestehen eines Unterlassungsanspruchs in Fällen verneint, in denen der Handelnde von der rechtlichen Zulässigkeit seines Verhaltens ausgegangen ist, weil die zuständigen Behörden und Verwaltungsgerichte es ausdrücklich als rechtlich zulässig bewertet haben. Dem ist aber für das künftige Recht nicht zu folgen. Denn der Unterlassungsanspruch ist zukunftsbezogen. Daß der Handelnde in der Vergangenheit wegen behördlicher und gerichtlicher Billigung in nicht vorwerfbarer Weise darauf vertraut hat, sein Verhalten sei objektiv rechtmäßig, mag ihn vor einem Schadensersatzanspruch bewahren. Dies gibt ihm aber kein Recht, ein objektiv rechtswidriges Verhalten in der Zukunft fortzusetzen. Sonst würden auch ungleiche Wettbewerbsbedingungen zum Nachteil der Mitbewerber geschaffen. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob überhaupt ein Gesetzesverstoß vorliegt, wenn der Handelnde sich auf eine behördliche Genehmigung berufen kann, die zwar fehlerhaft, aber nicht nichtig ist. 16 Das ist zu verneinen. Denn die Genehmigung kann dann nur in dem dafür vorgesehenen verwaltungsrechtlichen Verfahren beseitigt werden. ι 4 Vgl. jüngst BGH GRUR 2003, 162 - Progona. Darin wurde ein Verschulden bejaht, weil zwar eine Landesbehörde dem Unternehmer die „Verkehrsfähigkeit" eines Arzneimittels attestiert hatte, diese aber dafür nicht zuständig war und der Unternehmer dies hätte auch erkennen müssen. 15 BGH GRUR 2002, 269, 270 - Sportwetten-Genehmigung. 16 So lag der Fall in BGH GRUR 2002, 269, 270 - Sportwetten-Genehmigung.

Zur wettbewerbsrechtlichen Sanktionierung öffentlich-rechtlicher Normen

ee) Erfordernis

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eines bewußten und planmäßigen Handelns?

Zur Erfüllung des Rechtsbruchtatbestandes des § 4 Nr. 11 RegE UWG ist des weiteren nicht einmal erforderlich, daß der Handelnde „bewußt und planmäßig" vorgegangen ist. Der Handelnde muß sich insbesondere nicht von der Absicht leiten lassen, sich einen Wettbewerbsvorsprung vor seinen sich gesetzestreu verhaltenden Mitbewerbern zu verschaffen. Vielmehr liegt Unlauterkeit auch dann vor, wenn der Handelnde weiß, daß auch seine Mitbewerber gegen das Gesetz verstoßen und er versucht, lediglich einen Wettbewerbsnachteil auszugleichen. Liegt ein nur einmaliger, versehentlicher und geringfügiger Gesetzesverstoß vor, so wird es aber in der Regel an der weiteren Voraussetzung des § 3 RegE UWG fehlen, nämlich der Eignung zur nicht unerheblichen Verfälschung des Wettbewerbs zum Nachteil der übrigen Marktteilnehmer.

IV. Das Problem unterschiedlicher Normauslegung durch Verwaltungsgerichte und ordentliche Gerichte Durch die Neuregelung des Rechtsbruchtatbestands wird sichergestellt, daß künftig nicht mehr jede öffentlich-rechtliche Vorschrift über unternehmerische Tätigkeit mit dem scharfen Schwert des Wettbewerbsrechts durchgesetzt werden kann, sondern nur solche Vorschriften, die zumindest auch eine Regelung der Marktverhaltens im Interesse der Marktteilnehmer bezwecken. Für den verbleibenden Bereich stellt sich aber nach wie vor das Problem, daß Verwaltungsgerichte und ordentliche Gerichte eine öffentlich-rechtliche Norm unterschiedlich auslegen.17 Es ist daher - zumindest theoretisch - möglich, daß ein ordentliches Gericht (im Wege der Vorfragenentscheidung) einen Verstoß gegen eine öffentlichrechtliche Norm annimmt, während die Verwaltungsgerichte die gegenteilige Auffassung vertreten. Der Rechtssicherheit und dem Vertrauen der Bürger in die Gerichte ist dies nicht eben förderlich. Es fehlt nicht an Vorschlägen, dies pragmatisch zu lösen, etwa durch die Empfehlung an die Wettbewerbsgerichte, (ggf. gegen die eigene Überzeugung) einen Gesetzesverstoß zu verneinen, zumindest aber keinen Wettbewerbsverstoß anzunehmen, wenn die Verwaltungsgerichte (oder die zuständigen Verwaltungsbehörden) das betreffende Handeln als zulässig gewertet haben.18 So gut der Vorschlag gemeint ist, ist er doch nicht akzeptabel. Denn damit würde u.U. eine „falsche" Gesetzesauslegung zementiert. Richtigerweise muß das Wettbewerbsgericht, auch wenn abweichende verwaltungsgerichtliche oder verwaltungsbehördliche Entscheidungen vorliegen, seiner Überzeugung folgen und ggf. einen Gesetzesverstoß sowie einen Wettbewerbsverstoß bejahen.19 Es gibt 17 Dazu eingehend Stolterfoht

(Fn. 4), S. 707 ff.

•s Vgl. Stolterfoht (Fn. 4), S. 708; OLG München NJW-RR 1987, 1524, 1525. 19 Selbstverständlich bedeutet dies nicht, daß damit dem Einwand des unvermeidbaren Rechtsirrtums der Boden entzogen würde. Er kann aber nur für den verschuldensabhängi-

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keinen „natürlichen" Vorrang der Gesetzesauslegung durch die zuständigen Fachgerichte, wie sich zwingend aus § 17 Abs. 2 GVG ergibt. Letztlich muß in einem Streitfall ggf. der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes die Frage entscheiden.

V. Zusammenfassung und Ausblick Als Ergebnis der Untersuchung läßt sich festhalten, daß öffentlich-rechtliche Normen auch mittels wettbewerbsrechtlicher Transmissionsnormen (derzeit § 1 UWG; künftig § 3 i.V.m. § 4 Nr. 11 RegE UWG) sanktioniert werden können, sofern diesen Normen keine abschließende Regelung der Sanktionen zu entnehmen ist. Durch die deutlich restriktivere Handhabung des Rechtsbruchtatbestandes in der neueren Rechtsprechung des BGH und im künftigen UWG (§ 4 Nr. 11 RegE UWG) ist aber sichergestellt, daß nur noch echte Marktverhaltensregelungen des öffentlichen Rechts als Grundlage für ein Einschreiten der Wettbewerbsgerichte in Betracht kommen. Das Risiko unterschiedlicher Auslegung öffentlich-rechtlicher Normen durch Verwaltungsgerichte und ordentliche Gerichte ist hinzunehmen.

gen und vergangenheitsbezogenen Schadensersatzanspruch, nicht aber für den verschuldensunabhängigen und zukunftsbezogenen Unterlassungsanspruch Geltung beanspruchen.

Die Verlängerung des Postmonopols im Lichte seiner verfassungs- und unionsrechtlichen Rahmenbedingungen Von Peter M. Huber I. Einleitung Kurz vor dem ursprünglich ins Auge gefaßten Ende des alten Postmonopols rechtstechnisch gesprochen dem Ende der gesetzlichen Exklusivlizenz der Deutschen Post AG nach § 51 PostG - zum 31. 12. 2002 hat der Gesetzgeber dieses Ende noch einmal hinausgeschoben. Durch das Erste 1, Zweite2 und Dritte 3 Gesetz zur Änderung des PostG hat er nun den 31. 12. 2007 als den Zeitpunkt bestimmt, zu dem das - umfangmäßig freilich erheblich reduzierte - Postmonopol endgültig enden soll. Diese Verschiebung hat die Konkurrenten der Deutschen Post AG auf den Plan gerufen, die gegen alle drei Änderungsgesetze mit Verfassungsbeschwerden vorgegangen sind, und sie wirft unter den dogmatischen Auspizien der Übergangsvorschrift des Artikels 143b Abs. 2 Satz 1 GG, der Berufsfreiheit und des Willkürverbots in der Tat Fragen auf, die nicht mehr und nicht weniger berühren als die wirtschafts-, industrie- und strukturpolitische Handlungsfähigkeit des deutschen Gesetzgebers im weitgehend liberalisierten bzw. von Brüssel aus gelenkten Binnenmarkt. Die Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz der Deutschen Post AG findet ihre verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG. Danach können u. a. den aus der Deutschen Bundespost POSTDIENST hervorgegangenen Unternehmen für eine Übergangszeit die vor der Umwandlung bestehenden ausschließlichen Rechte des Bundes verliehen werden. Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG ist insoweit eine gegenüber Art. 87f Abs. 1 GG speziellere Regelung. Während dieses die dauerhaften Qualitätsstandards für die Versorgung im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation vorgibt - „flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen", „Erbringung durch die Nachfolgeunternehmen der Deutschen Bundespost und andere private Anbieter" (Abs. 2) - will jener die spezifischen und zeitlich begrenzten Folgen ι Erstes Gesetz zur Änderung des PostG vom 2. 9. 2001, BGBl. I 2001, S. 2271. 2 Zweites Gesetz zur Änderung des PostG vom 30. 1. 2002, BGBl. I 2002, S. 572. 3 Drittes Gesetz zur Änderung des PostG vom 16. 8. 2002, BGBl. I 2002, S. 3218 ff.

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bewältigen, die sich aus der Umwandlung des Sondervermögens Deutsche Bundespost in Aktiengesellschaften ergeben. Das folgt aus dem Wortlaut der Bestimmungen, ihrer systematischen Stellung im Text der Verfassung - Art. 143b GG befindet sich im Abschnitt X I „Übergangs- und Schlußbestimmungen" - sowie aus der Entstehungsgeschichte.

II. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe einer Lizenzverlängerung 1. Übergangszeit als Verbot einer Dauerregelung Das Erste Gesetz zur Änderung des Postgesetzes und Art. 1 Ziff. 1 Zweites Gesetz zur Änderung des Postgesetzes betreffen Briefsendungen und adressierte Kataloge, deren Einzelgewicht weniger als 200g beträgt und deren Preis sich innerhalb der von § 51 Satz 1 PostG beschriebenen Grenzen hält, d. h. Leistungen, die früher unter das Briefmonopol des Bundes fielen. Mit der Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz bis zum 31. Dezember 2007 etablieren sie zwar kein zeitlich unbefristetes Monopol, dehnen das bestehende - temporäre - Monopol aber doch immerhin um weitere fünf Jahre aus. Allerdings hatte schon das im wesentlichen am 1. Januar 1998 in Kraft getretene PostG vom 2. Dezember 1997 (§ 58 Abs. 1 PostG)4 mit der Einräumung der gesetzlichen Exklusivlizenz bis zum 31. Dezember 2002 die von Art. 6 PTNeuOG vorgenommene Zuerkennung ausschließlicher Rechte bis zum 31. Dezember 1997 um weitere fünf Jahre verlängert, so daß die Neuregelung im Ergebnis darauf hinaus läuft, die Dauer der gesetzlichen Exklusivlizenz auf insgesamt zwölf Jahre auszudehnen. Gleichwohl sprengt auch dies den von Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG gezogenen Rahmen nicht. 2. Die „ Übergangszeit" als Zielvorgabe a) Die „Übergangszeit" als konkretisierungsbedürftiger Verfassungsbegriff Der insoweit maßgebliche Begriff der „Übergangszeit" ist ein unbestimmter, auf gesetzliche Konkretisierung angewiesener Verfassungsbegriff, dessen rechtlicher Gehalt angesichts der wirtschaftspolitischen Offenheit des Grundgesetzes5 verfassungsrechtlich nur schwach determiniert ist. aa) Die Entscheidung, wie die Überführung des Sondervermögens Deutsche Bundespost POSTDIENST und der staatlichen „Erfüllungsverantwortung" für den 4 BGBl. I 1997, S. 3294. 5 BVerfGE 4, 7, 17 f.; 7, 377, 400; 50, 290, 338; R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, AT, 1990, § 3 II S. 74 f.

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Postdienst in die von Art. 87f Abs. 1 und 2 GG vorgezeichneten Verhältnisse zu erfolgen hat, ist daher in erster Linie Sache des Gesetzgebers. Er verfügt insoweit, wie sich auch aus dem systematischen Zusammenhang mit der Mindestfrist für die Beibehaltung der Kapitalmehrheit des Bundes an der Deutschen Post AG nach Art. 143b Abs. 2 Satz 2 GG ergibt, über einen weiten Einschätzungs- und Konkretisierungsspielraum. 6 Deshalb hat grundsätzlich auch der Gesetzgeber darüber zu entscheiden, wie lange die „Übergangszeit" dauert, ob das Monopol, wie zunächst vorgesehen, bis zu einem bestimmten Stichtag unverändert fortbesteht und sodann ausläuft, oder ob es - wie nun vom Dritten Gesetz zur Änderung des Postgesetzes festgelegt - stufenweise zurückgeführt wird. 7 bb) Indem Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG seine Überführung in den von Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG vorgesehenen Dauerzustand gebietet, gibt er allerdings die Richtung für die Gesetzgebung vor, freilich ohne damit einen konkreten Zeitrahmen festzulegen. Eine Übergangsfrist von etwa einem Jahrzehnt wird insoweit allgemein für zulässig gehalten.8 cc) Eine Grenze dieses Konkretisierungsspielraumes ist erst dann erreicht, wenn die materielle Vorgabe des Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG - der prinzipielle Abbau des früheren Postmonopols während einer „Übergangszeit" - offensichtlich verfehlt wird. Maßstäbe ergeben sich insoweit aus dem Tatbestand von Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG und aus seinem Verhältnis zur Dauerregelung des Art. 87f GG, die einerseits Anforderungen an die Infrastrukturverantwortung des Bundes normiert, gleichzeitig aber auch deren Erfüllung im Wettbewerb von Deutscher Post AG und privaten Anbietern verlangt. Unzulässig wäre es deshalb etwa, das Monopol bzw. die gesetzliche Exklusivlizenz gegenständlich auszuweiten oder die „Übergangszeit" so lange zu bemessen, daß dies faktisch einer dauerhaften Festschreibung des Monopols gleichkäme.9

b) Die Konkretisierung durch das 1. bis 3. PostÄndG Das Erste bis Dritte Gesetz zur Änderung des Postgesetzes überschreiten den so gezogenen Rahmen nicht.

6 VG Köln, Urt. vom 13. 11. 2001, Az. 22 Κ 10190/00, Umdr. S. 9; M. Herdegen, in: Beck'scher Kommentar zum PostG, 2000, § 51 Rdnr. 4. 7 Siehe BT-Drucks. 13/7774, S. 33 zu § 50, wo die Bundesregierung schon in der Einräumung der gesetzlichen Exklusivlizenz einen „stufenweisen" Übergang vom Monopol zum Wettbewerb gesehen hat; P. Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 143b Rdnr. 18. 8 M. Herdegen, in: Beck'scher Kommentar zum PostG, 2000, § 51 Rdnr. 4. 9 BT-Drucks. 13/7774, Α.; Η. Gersdorf, Verlängerung des Briefmonopols: Der Staat als Hüter oder Antagonist des Gemeinwohls?, DÖV 2001, 661, 665; ders., in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Band III, 4. Aufl., 2001, Art. 143b Rdnr.ll; R. Uerpmann, in: v. Münch/Kunig, GG, Band 3, 3. Aufl., 1998, Art. 143b Rdnr. 3.

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aa) Art. 1 Erstes Gesetz zur Änderung des Postgesetzes verlängert zwar die gesetzliche Exklusivlizenz bis zum 31. Dezember 2007. Damit bleibt die „Übergangszeit" jedoch bestimmt und mutiert nicht zu einer Dauerregelung. Das gilt insbesondere, wenn man auch Art. 2 Ziff. 1 lit. a) des Dritten Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes mit seinen zeitlich gestaffelten gegenständlichen Beschränkungen der gesetzlichen Exklusivlizenz in den Blick nimmt. Denn mit ihm wird das Monopol sukzessive abgebaut und die verfassungsrechtliche Zielvorgabe jedenfalls schrittweise verwirklicht. bb) Auch die in Art. 1 Ziff. 1 Zweites Gesetz zur Änderung des Postgesetzes enthaltene Streichung von § 51 Abs. 1 Nr. 7 PostG sprengt den Rahmen einer „Übergangsvorschrift" im Sinne von Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG nicht. Denn diese Vorschrift knüpfte an die unzureichende Erfüllung einer Universaldienstleistung nach § 13 Abs. 2 und 3 PostG an, also an eine Leistung, die während der Übergangszeit und der Dauer der gesetzlichen Exklusivlizenz ausweislich des § 52 PostG a.F./n.F. ausschließlich von der Deutschen Post AG erbracht werden kann bzw. muß. 10 Die Neufassung des § 52 durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Postgesetzes (Art. 1 Ziff. 2 Satz 1 ) hat die Deutsche Post AG nunmehr sogar ausdrücklich verpflichtet, Universaldienstleistungen zu erbringen. Sie hat damit freilich nur kodifiziert, was auf dem Markt für Postdienstleistungen de facto auch vorher schon galt. 11 Das bedeutet keine sachliche Ausdehnung der gesetzlichen Exklusivlizenz.

III. Die fehlende Grundrechtsrelevanz der Verlängerung Diese am Wortlaut orientierte Auslegung hält auch einer Überprüfung am Maßstab der Grundrechte stand. Denn die hier in Rede stehenden Gesetze besitzen keine unmittelbare Grundrechtsrelevanz, insbesondere keine objektiv berufsregelnde Tendenz. Die Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz stellt sich nämlich nicht als Schrankenziehung i.S.v. Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG dar und kann deshalb auch nicht am Maßstab dieses Grundrechts gemessen werden, obwohl sie die Interessen der Konkurrenten der Deutschen Post AG tatsächlich beeinträchtigt. Das gilt erst recht für Art. 1 Ziff. 2 Zweites Gesetz zur Änderung des Postgesetzes, der der Deutschen Post AG die Universaldienstleistungspflicht auferlegt und allein für sie belastend wirkt. 12 10

77z. v. Danwitz, in: Beck'scher Kommentar zum PostG, 2000, § 11 Rdnr. 15. Zur Vorgeschichte der PUDLV, deren Erlaß nicht eilbedürftig war, weil die Deutsche Post AG de facto die gesetzlich und unionsrechtlich geforderten Universaldienstleistungen erbrachte, andere Unternehmen dazu nicht in der Lage waren, Th. v. Danwitz, in: Beck'scher Kommentar zum PostG, 2000, Anh. § 11 § 1 PUDLV Rdnr. 14. 12 Α. Α. H. Gersdorf, DÖV 2001, 661, 668; L. Grämlich, Ende gut, alles gut ? - Anmerkungen zum neuen Postgesetz, NJW 1998, 867, 869; Knauth/Husch, Ordnungspolitische Neugestaltung des Postsektors, ArchPT 1997, 5, 9 f.; R. Scholz, Rechtsgutachten zur weiteren Privatisierung und Deregulierung des deutschen Postwesens, insbesondere zur verfassungsrechtlichen Begrenzung der Exklusivlizenz im Sinne des § 51 Postgesetz, 2001, S. 81 ff.; 11

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1. Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG als verfassungsunmittelbare Schutzbereichsreduzierung Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG enthält eine - dem staatlichen Organisationsvorbehalt für den öffentlichen Dienst vergleichbare - Schutzbereichsreduzierung. 13 Anders als bei einfachgesetzlichen Monopolen - etwa im Bereich des Spielbankenrechts 14 - billigt die Verfassung das Monopol hier selbst, wenn auch nur für eine Übergangszeit und sachlich begrenzt. Sie regelt die Frage der Berufsfreiheit aber insoweit speziell und - vorbehaltlich der Grenzen von Art. 19 Abs. 2 und 79 Abs. 3 GG - abschließend. Nur mit einer solchen, den Schutzbereich der Berufsfreiheit tatbestandlich ausschließenden Regelung konnte der verfassungsändernde Gesetzgeber von einer definitiven Absicherung des temporären Monopols ausgehen. Würde es sich bei Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG hingegen lediglich um eine verfassungskräftige Ermächtigung zur grundrechtlichen Schrankenziehung handeln, so hätte es für die Verleihung ausschließlicher Rechte stets einer Abwägung bedurft, in der die gegenläufigen Interessen privater Konkurrenten, Dauer und Umfang des Monopols u.a.m. hätten eingestellt werden müssen.15 Damit aber wäre der Fortbestand des Monopols von einem schonenden Ausgleich der kollidierenden Verfassungsvorgaben aus Art. 12 Abs. 1, 87f Abs. 1 und 2 sowie Art. 143b GG abhängig, über den letztlich das Bundesverfassungsgericht entscheiden müßte. Das aber wollte der verfassungsändernde Gesetzgeber gerade vermeiden. 16 Gegen die Annahme einer verfassungskräftigen Ermächtigung zur Schrankenziehung spricht aber auch ihre Redundanz. Denn angesichts des „AnwendungsVorrangs" von Art. 87f Abs. 1 GG vor Abs. 2 (Th. v. Danwitz) wäre auch der einfache Gesetzgeber durchaus in der Lage gewesen, zum Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsinteressen - und die Verpflichtungen aus Art. 3 ff. RiL 97/67/EG bzw. Art. 87f Abs. 1 GG sind überragend wichtige Gemeinschaftsinteressen - die Berufsfreiheit privater Konkurrenten der Deutschen Post AG zu be-

undeutlich M. Herdegen, in: Beck'scher Kommentar zum PostG, 2000, § 51 Rdnr. 3, der davon spricht, daß die Verfassung selbst Ansprüche aus Art. 12 Abs. 1 GG beschränke. Th. y. Danwitz, Verfassungsfragen der gesetzlichen Exklusivlizenz der Deutschen Post AG, 2002, S. 47; zu dieser Figur BVerfGE 14, 10, 111; 37, 314, 322; 41, 205, 227; BVerwGE 96, 302, 307; zur Überlagerung von Art. 12 Abs. 1 GG im Rahmen von Art. 33 GG siehe BVerfGE 17, 371, 377; 73, 280, 292; 80, 257, 265; P. M. Huber, Zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Berufsausübungsregelungen, in: FS für Kriele, 1997, S. 389, 391; H. J. Papier, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., 1995, § 18 Rdnr. 37. 14 BVerfGE 102, 197 ff.; BVerwGE 96, 302 ff. 15 Dazu grundlegend P. Lerche, Vorbereitung grundrechtlichen Ausgleichs durch gesetzgeberisches Verfahren, in: Lerche/Schmitt Glaeser/Schmidt-Aßmann, Verfahren als staatsund verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984, S. 97, 109 ff. •6 H. Gersdorf, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Band III, 4. Aufl., 2001, Art. 143b Rdnr. 10.

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schränken.17 Soweit daher die Billigung des Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG reicht, bedarf es keiner Abwägung mit gegenläufigen Interessen potentieller Konkurrenten am Maßstab der Verhältnismäßigkeit. 2. Das Interesse am Auslaufen der gesetzlichen Exklusivlizenz als „ Chance und Erwartung " Ohne grund- bzw. freiheitsrechtlichen Anknüpfungspunkt scheiden aber auch verfassungsrechtliche Einwände aus dem Gesichtspunkt individualisierenden Vertrauensschutzes aus.18 Deshalb ist es im vorliegenden Zusammenhang ohne Bedeutung, wenn die Konkurrenten der Deutschen Post AG im Vertrauen auf das Ende der gesetzlichen Exklusivlizenz bereits Dispositionen getroffen haben sollten. In der Sache handelte es sich bei der Aussicht auf das Ende der gesetzlichen Exklusivlizenz nämlich nur um - durch Art. 14 Abs. 1 GG gerade nicht geschützte - Chancen und Erwartungen. 19 Diese Beurteilung wird dadurch zusätzlich erhärtet, daß schon der Gesetzgeber des PostG 1997 eine Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz über den 31. Dezember 2002 hinaus ins Auge gefaßt und einem gegenläufigen Vertrauen damit von vornherein den Boden entzogen hat. Denn nach § 47 PostG muß die Regulierungsbehörde in ihrem alle zwei Jahre zu erstattenden Bericht u. a. zur Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz Stellung nehmen. Dies wäre sinnlos, wenn das Gesetz die Möglichkeit einer Verlängerung nicht von vornherein im Auge gehabt hätte.20 IV. Das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG als alleiniger individualisierender Maßstab Eine Grenze für den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers nach Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG bildet freilich das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG. Dieses 17 Daß dies im Gesetzgebungsverfahren für zweifelhaft gehalten wurde, ändert nichts am objektiven Regelungsgehalt der Norm; siehe insoweit BT-Drucks. 12/7269, S. 9; M. Herdegen, in: Beck'scher Kommentar zum PostG, 2000, § 51 Rdnr. 3. '8 77z. v. Danwitz, Verfassungsfragen der gesetzlichen Exklusivlizenz der Deutschen Post AG, S. 100. •9 BVerfGE 28, 119, 142; 68, 193, 222 f.; 74, 129, 148; Β GHZ 45, 150, 155; 76, 387, 394; P. Badura, Eigentum, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., 1995, § 10 Rdnr. 96; O. Depenheuer, in: v. Mangoldt/ Klein /Starck, GG, Band I, 4. Aufl., 1999, Art. 14 Rdnr. 137; ders., Entwicklungslinien des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes in Deutschland 1949-2001, in: v. Danwitz/Depenheuer/Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S. 109, 180. 20 BT-Drucks. 13/7774, S. 43 f.; 13/9420, S. 3 f.; H. Gersdorf, DÖV 2001, 661, 663; M. Herdegen, Stellungnahme zur Anhörung des Unterausschusses Telekommunikation und Post am 18. Juni 2001, MS., S. 3 f.

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wäre verletzt, wenn die Erwägungen zur Konkretisierung des unbestimmten Verfassungsbegriffs „Übergangszeit" im Ersten bis Dritten Gesetz zur Änderung des PostG so offensichtlich fehlsam wären, daß sie vernünftigerweise keine Grundlage für gesetzgeberische Maßnahmen abgeben könnten. Davon wäre namentlich auszugehen, wenn die der gesetzgeberischen Entscheidung zugrunde liegende Prognose auf einer offensichtlich unvollständigen Tatsachengrundlage getroffen worden wäre oder die festgestellten Tatsachen die normative Wertung evidentermaßen nicht zu tragen vermochten, die Prognose also „ungültig" wäre. 21 In diesem Fall würde die Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz mangels Rechtfertigung durch Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG auch in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerinnen eingreifen. 22 Davon kann jedoch keine Rede sein, weil es einen sachlichen Grund für die Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz und die Reduzierung des Schutzbereichs von Art. 12 Abs. 1 bzw. Art. 2 Abs. 1 GG gibt: die Erfüllung der staatlichen Gewährleistungsverantwortung für die Erbringung des Universaldienstes (§ 11 PostG i.V.m. §§ 1 ff. PUDLV i.V.m. Art. 3 ff. RiL 97/67/EG) und die Gewährleistung von Reziprozität bei der schrittweisen Verwirklichung des Binnenmarktes für Postdienstleistungen. 1. Die Ermöglichung der Postreform

im nationalen Kontext

Die Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz will zum einen dem Umstand Rechnung tragen, daß das aus dem öffentlich-rechtlichen Sondervermögen Deutsche Bundespost POSTDIENST hervorgegangene Unternehmen Deutsche Post AG nach Auffassung des verfassungsändernden Gesetzgebers von 1994 nicht schon mit Inkrafttreten des Art. 87f GG in der Lage war, im grundsätzlich gewollten Wettbewerb zu bestehen. Deshalb sollte ihm zur Bewältigung des notwendigen Strukturwandels für eine Übergangszeit weiterhin ein - sachlich begrenztes - Monopol („ausschließliche Rechte") eingeräumt werden. 23 2. Die Bedeutung der unionsrechtlichen Rahmenbedingungen für die Auslegung von Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG Zugleich aber steht Art. 143b Abs. 2 GG auch in unmittelbarem sachlichen Zusammenhang mit der Verwirklichung des Binnenmarktes für Postdienstleistungen in Europa. 21 Grundlegend BVerfGE 50, 290, 332 f.; VG Köln, Urt. vom 13. 11. 2001, Az. 22 Κ 10190/00, Umdr. S. 9 f. zu § 51 PostG. 22 BVerfGE 30, 292, 317; 77, 84, 106; zum Evidenzmaßstab bei der Willkürkontrolle auch BVerfGE 99, 367, 389. 23 BT-Drucks. 13/7774, S. 33, 44; VG Köln (Fn. 21), Umdr. S. 8; H. Gersdorf, DÖV 2001, 661, 664; M. Herdegen, in: Beck'scher Kommentar zum PostG, 2000, § 52 Rdnr. 2.

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Der die reservierten Rechte (Exklusivlizenz) betreffende Art. 7 RiL 97 / 67 / EG ist in seiner ursprünglichen Fassung bzw. in der Fassung der RiL 2002/39/EG nicht unmittelbar anwendbar. Das folgt zum einen aus seiner vollständigen Umsetzung in deutsches Recht, zum anderen aber auch aus dem Umstand, daß er für frühere oder aktuelle Monopolunternehmen wie die Deutsche Post AG nicht lediglich vorteilhaft ist; denn deren Rechtsstellung wird durch den dort vorgesehenen Abbau ausschließlicher Rechte geschmälert. 24 Mittelbar ist das unionsrechtliche Umfeld des Art. 143b GG allerdings durchaus von Belang, bildet es doch den rechtlichen und rechtspolitischen Kontext, in dem der verfassungsändernde Gesetzgeber des Jahres 1994 die Regelung des Art. 143b GG erlassen hat. 25 Der Regelungsgehalt von Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG erschließt sich vollständig nur vor diesem Hintergrund, so daß es nicht zuletzt von den unionsrechtlichen Rahmenbedingungen der gesetzlichen Exklusivlizenz abhängt, ob es für ihre Verlängerung bis zum 31. Dezember 2007 einen sachlichen Grund gibt oder nicht. 26 3. Die RiL 97/67/EG Die Vorschriften des PostG dienen der Sache nach der Umsetzung der Richtlinie 97/67/EG 2 7 , auch wenn sie nicht zu diesem Zweck erlassen worden sind und deren Rahmen nicht ausschöpfen. 28 a) Zum Verhältnis von Richtlinie und Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EG) In der Sache konkretisieren diese jedoch - wie auch aus den angegebenen Rechtsgrundlagen erhellt - die Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EG) und das unionale Wettbewerbsrecht, insbesondere Art. 86, 82 EG. Das ist für den vorliegenden Zusammenhang deshalb von Bedeutung, weil diese primärrechtlichen Rahmenbedingungen für die Liberalisierung des Marktes für Postdienstleistungen schon vor dem Erlaß der RiL 97/67/EG festgestanden und den politischen Spielraum des verfassungsändernden Gesetzgebers in Deutschland begrenzt haben.29 24

Angesichts der anteiligen Vermögensprivatisierung der Deutschen Post AG kann dahingestellt bleiben, ob der Ausschluß der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinie bei belastender Wirkung auch für den Fall gilt, daß der Belastete ein öffentlich beherrschtes Unternehmen ist; EuGHE 1986, 723 ff. - Marshall, Rz. 49; R M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl., 2002, § 8 Rdnr. 103 ff. 25 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 12/8108, S. 7; P. Lerche, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 143b Rdnr. 18. 2 6 J. Wieland, in: Dreier (Hrsg.), GG, Band III, 2000, Art. 143b Rdnr. 9; a.A. H. Gersdorf, DÖV 2001,661,665. 27 Abi. EG 1998 Nr. L 15/14. 28

Th. v. Danwitz, in: Beck'scher PostG Kommentar, 2000, EuGrdl Rdnr. 21. Insbesondere zur Betrauung von Dienstleistungen mit allgemeinem wirtschaftlichen Interesse nach Art. 86 Abs. 2 EG und den damit verbundenen Anforderungen EuGHE 1991,1 29

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Im Anwendungsbereich der RiL 911611 EG, RiL 2002/39/EG treten die primärrechtlichen Maßstäbe allerdings zurück. Zwar sehen die RiL 97 / 67 / EG (41. Erwägungsgrund) und die RiL 2002/39/EG vom 10. Juni 2002 (33. Erwägungsgrund) vor, daß sie die im EG-V festgelegten Wettbewerbsregeln und die Dienstleistungsfreiheit unberührt lassen - was für die RiL 2002/39/EG auch mit Blick auf die Bekanntmachung der Kommission über die Anwendung der Wettbewerbsregeln auf dem Postsektor und über die Beurteilung bestimmter staatlicher Maßnahmen betreffend Postdienste30 klargestellt wird. Damit ist jedoch nur gemeint, daß jenseits der Regelungen der Richtlinie auch auf die allgemeinen Vorschriften der Art. 49 ff. und 81 ff. EG zurückgegriffen werden kann, ζ. B. auf das Beihilfenregime der Art. 87 ff. EG. Soweit die RiL 97/67/EG i.d.F. der RiL 2002/39/EG dagegen reicht, steht sie einem Rückgriff auf die insoweit allgemeineren Bestimmungen des EG-V jedoch entgegen. Das ordnungsgemäß erlassene Sekundärrecht ist insoweit grundsätzlich lex specialis zu den Grundfreiheiten und - nach der jüngeren Rechtsprechung des EuGH - auch zu Art. 86 EG. 31

b) Zur unionsrechtlichen Akzeptanz nationaler Sicherungsvorkehrungen bei der Liberalisierung des Postdienstleistungsmarktes Für die Auslegung von Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG ist zudem von Bedeutung, daß die EG in den vergangenen 15 Jahren auf zahlreichen Märkten der Daseinsvorsorge bzw. der Infrastrukturgewährleistung eine Liberalisierung durchgesetzt hat. Dieser Prozeß wurde typischerweise durch Sicherheitsvorkehrungen wie sog. Ungleichgewichtsklauseln begleitet, mit denen den Mitgliedstaaten im Interesse einer ordnungsgemäßen und ununterbrochenen Erbringung von Universaldienstleistungen die Möglichkeit eröffnet wurde, die Erbringung von Waren und Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse durch ihre (früheren) Monopolunternehmen sicherzustellen und diese vor einer für sie ruinösen ungleichmäßigen Marktöffnung zu schützen. Damit sollte bzw. soll zugleich verhindert werden, daß Staats- oder Monopolunternehmen aus anderen Mitgliedstaaten den bisherigen Erbringern von Universaldienstleistungen etc. die profitablen Marktsegmente entziehen und dadurch die Erbringung der Universaldienstleistung insgesamt gefährden. Diese Gefahr ist dort besonders groß, wo die „Heimatmärkte" ausländischer Mo- 1979, 2019 - Höfner und Elser; 1993,1 - 2533, 2568 - Corbeau, Rz. 14 ff.; 1997,1 - 5699, 5783 - EdF, Rz. 53; 1997,1-7119 ff. - Job Centre; 1999,1 - 5751, 5893 - Albany, Rz. 107; 2000, I - 825, 876 - Deutsche Post AG, Rz. 49; zur Paßfähigkeit der RiL 97/67/EG mit dem Primärrecht L. Grämlich, NJW 1998, 866, 872. 30 Abi. EG 1998 Nr. C 39/2. 31 EuGHE 1997, I - 5815 ff. - Kommission/Frankreich (EdF); P. M. Huher, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl., 2002, § 17 Rndr. 44, 121; das verkennt J. A. Kämmerer, Die Verlängerung der Exklusivlizenz der Deutschen Post AG - ein Postmonopol im Zwielicht, DVB1. 2001, 1705, 1711 ff. 34 FS Schmitt Glaeser

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nopolunternehmen nicht im selben Maße geöffnet werden, so daß diese ihre finanz-strukturellen Vorteile zur Eroberung lukrativer Marktsegmente in anderen Mitgliedstaaten nutzen können. So lagen die Dinge Anfang der 90er Jahre auch auf dem Markt für Postdienstleistungen.32 Für dessen Liberalisierung hatte die Kommission damals erste Initiativen ergriffen. Spätestens seit der Veröffentlichung der Kommissionsvorschläge zur Liberalisierung des Marktes für Postdienstleistungen 199233 war deshalb auch die später durch die RiL 97/67/EG und jetzt durch die RiL 2002/39/EG gesteuerte Entwicklung erkennbar, auch für den deutschen verfassungsändernden Gesetzgeber des Jahres 1994.

4. Gebot einer „unionsrechtsorientierten" des Art. 143b Abs. 2 GG

Auslegung

Über die Bewältigung der mit der bloßen Umwandlung des früheren Sondervermögens Deutsche Bundespost POSTDIENST verbundenen Probleme hinaus ermächtigt die 1994 in das Grundgesetz eingefügte Vorschrift des Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG 3 4 den Gesetzgeber somit auch zu einer beobachtenden und flexiblen „Begleitung" des unionsrechtlich gesteuerten Liberalisierungsprozesses auf dem Postdienstleistungsmarkt, einschließlich nationaler Vorkehrungen zur Gewährleistung des Grundsatzes der Reziprozität. 35 Mit der Ermächtigung zur übergangsweisen Aufrechterhaltung eines Teils des früheren Postmonopols will er dem Gesetzgeber die Möglichkeit eröffnen sicherzustellen, daß der deutsche Markt nicht einseitig geöffnet wird. Er soll verhindern können, daß Monopolunternehmen anderer Mitgliedstaaten sich auf dem deutschen Markt etablieren, ohne daß für die Deutsche Post AG vergleichbare Chancen auf 32 EuGHE 1993, I - 2533, 2569 - Corbeau, Rz. 18; J. A. Kämmerer, DVB1. 2001, 1705, 1712 mit Blick auf die Deutsche Post AG; zur Ungleichgewichtsklausel auf dem Elektrizitätsbinnenmarkt siehe Art. 19 Abs. 5 RiL 96/92/EG (ABl. EG 1997 Nr. L 27/20); zur Verankerung des Grundsatzes der Reziprozität im deutschen Recht siehe Art. 4 § 2 En WG 1998; dazu G. Britz, Öffnung der Europäischen Strommärkte durch die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie ?, RdE 1997, 85 ff. 33 Das Grünbuch der Kommission über die Entwicklung des Binnenmarktes für Postdienste vom 11. Juni 1992 KOM (1992) 476 endg.; Mitteilung der Kommission über Leitlinien für die gemeinschaftlichen Postdienste vom 2. Juni 1993; M. Herdegen, in: Beck' scher Kommentar zum PostG, 2000, § 52 Rdnr. 8. 34 BGBl. I 1994, 2245. 35 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 12/8108, S. 7: „Bei der Entscheidung über die Folgegesetzgebung in der kommenden Wahlperiode wird auch der politischen Willensbildung bei der Europäischen Union ... sowie der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Zulässigkeit und zur Dauer ausschließlicher Rechte, die die Mitgliedstaaten ihren Post- und Telekommunikationsunternehmen gewähren, Rechnung zu tragen sein".

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den „Heimatmärkten" ihrer ausländischen Konkurrenten bestehen. Auf diese Weise kann zugleich verhindert werden, daß die in vielfältiger Weise privilegierten Monopolunternehmen anderer Mitgliedstaaten die lukrativen Segmente des deutschen Marktes besetzen, während für die Deutsche Post AG nur die unrentablen Versorgungsaufgaben verbleiben. Daß dies auch der Erfüllung des Gewährleistungsauftrags von Art. 87f Abs. 1 GG dient, liegt auf der Hand. Die Sicherstellung der Gegenseitigkeit („Reziprozität") bei der Liberalisierung des Marktes für Postdienstleistungen dient insoweit nicht nur dem industrie- bzw. strukturpolitisch legitimierten Anliegen, der Deutschen Post AG eine möglichst vorteilhafte Position auf dem europäischen Markt für Postdienstleistungen zu sichern, sondern auch bzw. in erster Linie - der Wahrnehmung der sozialstaatlich radizierten Infrastrukturverantwortung aus Art. 87f Abs. 1 (und 2) GG. Die Sicherstellung der Reziprozität bei der Liberalisierung des europäischen Marktes ist für Postdienstleistungen deshalb ein entscheidendes Kriterium für die Bemessung der „Übergangszeit", wahrscheinlich sogar das einzig verbliebene. Orientiert sich der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der gesetzlichen Exklusivlizenz somit an den unionsrechtlichen Rahmenbedingungen für die Liberalisierung des Marktes für Postdienstleistungen, so ist dies auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden. Damit folgt aus Art. 49, 86 Abs. 2 EG bzw. Art. 7 RiL 97/62/EG, jetzt i.d.F. der RiL 2002/39/EG der sachliche Grund, der es rechtfertigt, die „Übergangszeit" i.S.v. Art. 143b Abs. 2 GG an der schrittweisen Liberalisierung des europäischen Marktes für Postdienstleistungen auszurichten.

5. Die unions rechtliche η Vorgaben für die Liberalisierung des Postdienstleistungsmarktes Nach Art. 7 Abs. 1 RiL 97161 /EG können die Mitgliedstaaten Inlandsbriefsendungen bis zu einem Gewicht von 350g und bis zum Fünffachen des öffentlichen Tarifs für den Anbieter der Universaldienstleistung reservieren, d. h. ein entsprechendes Monopol begründen, soweit dies für die Erbringung des Universaldienstes notwendig ist. Das setzt voraus, daß ein Unternehmen zumindest faktisch mit der Erbringung von Universaldienstleistungen betraut ist und daß die Reservierung ausschließlicher Rechte der Sicherstellung des Universaldienstleistungsauftrags dient - die Richtlinie spricht von „Notwendigkeit". Ob eine solche „Notwendigkeit" besteht, entscheiden grundsätzlich die Mitgliedstaaten, die insoweit lediglich einer Evidenzkontrolle durch die Kommission und den EuGH unterliegen. Das folgt weniger aus der Parallele zu Art. 86 Abs. 2 EG, bei dem der EuGH auch einen gewissen - im einzelnen jedoch umstrittenen - Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten anerkannt hat, als aus dem Charakter von Art. 7 RiL 97/67/EG als zeitlich klar determinierter Übergangsregelung. 34*

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a) Die Vorgaben für den Monopolabbau Diese Regelung war von Anfang an nur als ein erster Schritt auf dem Weg zur vollständigen Liberalisierung und Harmonisierung der reservierbaren Dienste konzipiert. Das ergibt sich aus Art. 7 Abs. 3 und Art. 27 RiL 97/67/EG sowie den Erwägungsgründen : - So waren das Europäische Parlament und der Rat nach Art. 7 Abs. 3 im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarktes für Postdienste gehalten, bis zum 1. Januar 2000 „über die weitere schrittweise und kontrollierte Liberalisierung des Marktes für Postdienste ab dem 1. Januar 2003" zu entscheiden und dabei die Preis- und Gewichtsgrenzen des Art. 7 Abs. 1 zu überprüfen. - Der Übergangscharakter wird ferner daran deutlich, daß Art. 27 die Geltung der RiL 97/67/EG von vornherein auf den 31. Dezember 2004 befristete. - Schließlich findet sich das Ziel einer vollständigen Liberalisierung des Marktes für Postdienstleistungen schon im Erwägungsgrund 19 RiL 97/67/EG vorsichtig erwähnt. b) Das stufenweise Liberalisierungsprogramm nach der RiL 2002/39/EG Dieses Konzept einer schrittweisen Liberalisierung wird durch die kürzlich in Kraft getretene und zum 31. Dezember 2002 in nationales Recht umzusetzende RiL 2002/39/EG 3 6 bestätigt und bekräftigt, wobei als Endpunkt der Entwicklung nun erstmals das Jahr 2009 aufscheint, ein Zeitpunkt also, der sechs Jahre nach den 1997 angestellten Prognosen zur Vollendung des Binnenmarktes für Postdienstleistungen liegt: So ändert Art. 1 Ziff. 1 RiL 2002/39/EG die Gewichts- und Preisgrenzen für reservierte Dienste nunmehr dahingehend ab, daß die Gewichtsgrenze ab dem 1. Januar 2003 auf 100g und ab dem 1. Januar 2006 auf 50g gesenkt wird, während die Preisgrenze ab 2003 auf das Dreifache des öffentlichen Tarifs sinkt, ab 2006 auf das Zweieinhalbfache. Art. 1 Ziff. 6 RiL 2002/39/EG befristet die Richtlinie nun auf den 31. Dezember 2008 und setzt damit das Jahr 2009 als (vorläufiges) Datum für die Vollendung des Binnenmarktes fest. Dementsprechend heißt es in Erwägungsgrund 14 RiL 2002/39/EG: „Es ist zweckmäßig, auf Gemeinschaftsebene einen Zeitplan für eine schrittweise und kontrollierte Öffnung des Marktes für Briefsendungen festzulegen, so daß allen Anbietern von Universaldienstleistungen genügend Zeit bleibt für die Modernisierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen, die erforderlich sind, um das langfristige Überleben unter neuen Marktbedingungen sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten brauchen außerdem ausreichend Zeit, um ihre Regulierungssysteme an ein offeneres Umfeld anzupassen. Deshalb sollte für die weitere Marktliberalisierung ein schrittweiser Ansatz vorgesehen werden, d. h. Übergangsphasen 36 Abi. EG 2002 Nr. L 176/21, 23 f.

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in Form signifikanter, aber kontrollierter Marktöffnungen, gefolgt von einer Überprüfung der Lage und der Unterbreitung eines Vorschlags, in dem gegebenenfalls 2009 als Termin für die Vollendung des Binnenmarkts für Postdienste bestätigt oder aufgrund der Ergebnisse der Überprüfung ein angemessenes alternatives Vorgehen zur Erreichung des Ziels festgelegt wird." 37

6. Die gesetzliche Exklusivlizenz der Deutschen Post AG im Lichte der unionalen Liberalisierungsvorgaben Die gesetzliche Exklusivlizenz der Deutschen Post AG nach § 51 PostG wird diesen Anforderungen gerecht. Sie setzt die faktische bzw. rechtliche Verpflichtung der Deutschen Post AG zur Erbringung von Universaldienstleistungen i.S.v. § 11 PostG i.V.m. PUDLV während der Dauer der gesetzlichen Exklusivlizenz voraus 38 und orientierte sich in ihrer ursprünglichen Fassung hinsichtlich ihres Umfangs (bis zu 200g und bis zum Fünffachen des Tarifs von 1997) zunächst an den Vorgaben des Art. 7 RiL 97 / 67 / EG. Die Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz durch Art. 1 Erstes Gesetz zur Änderung des Postgesetzes bis zum 31. Dezember 2007 läßt sich hingegen damit erklären, daß die Liberalisierung des europäischen Marktes für Postdienstleistungen schleppender vonstatten geht bzw. gegangen ist, als es der deutsche Gesetzgeber beim Erlaß des PostG Ende 1997 erwartet hatte. Ausdrücklich hat die Bundesregierung die Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz 2001 denn auch mit den Verzögerungen auf Unionsebene begründet: „Entgegen der in der Richtlinie 97 / 67 / EG über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität enthaltenen Vorgabe ist auf europäischer Ebene noch keine Entscheidung über die Fortführung der Liberalisierung getroffen worden." An diesem Befund hat auch der Erlaß der RiL 2002/39/EG vom 10. Juni 2002 39 nichts grundsätzliches geändert, hat sie die ursprüngliche Perspektive einer Vollendung des Binnenmarktes für Postdienstleistungen zum 1. Januar 2005 doch mindestens bis in das Jahr 2009 hinein verlängert. 40 37 AB1.EG 2002 Nr. L 176/22. 38 Vgl. BT-Drucks. 14/7820, S. 8; für eine nur faktische Erbringung 77z. v. Danwitz, in: Beck'scher Kommentar zum PostG, 2000, § 11 Rdnr. 15; für eine rechtliche Verpflichtung K. Stern, ebenda, § 52 Rdnr. 8; § 52 PostG i.d.F. des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes (Art. 1 Ziff. 2 Satz 1) hat den Streit mit Wirkung vom 7. Februar 2002 im Sinne einer rechtlichen Verpflichtung entschieden; zur Qualifikation der Deutschen Post AG als Unternehmen, das mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse i.S.v. Art. 86 Abs. 2 EG betraut ist, EuGHE 2000,1 - 825, 875 - Deutsche Post AG, Rz. 45. 39 ABl. EG 2002 Nr. L 174/21. 40

BT-Drucks. 14/6121, S. 1; zum Gesetzentwurf für das Zweite Gesetz zur Änderung des Postgesetzes siehe BR-Drucks. 645/01, S. 5; zu den ursprünglichen Zeitvorstellungen RiL

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a) Die Verhinderung von Asymmetrien als ratio der Verlängerung Wenn der Gesetzgeber die gesetzliche Exklusivlizenz der Deutschen Post AG bis zum 31. Dezember 2007 verlängert, so will er damit also primär die Entstehung von Ungleichgewichtigkeiten bei der Liberalisierung des Marktes für Postdienstleistungen verhindern. 41 aa) Solche Asymmetrien könnten sich auf mittlere Sicht auch als Risiko für die ordnungsgemäße Erbringung der Universaldienstleistungen i.S.v. Art. 3 RiL 97/67/EG bzw. § 11 PostG, §§ 1 ff. PUDLV insgesamt erweisen, weil sie die Deutsche Post AG der Möglichkeit berauben könnten, defizitäre Leistungen im Bereich der Universaldienste durch lukrative zu stützen. Diese Annahme des Gesetzgebers ist angesichts der bereits vorhandenen Präsenz ausländischer Monopolunternehmen auf den liberalisierten deutschen Märkten für Kurier-, Express- und Paketdienstleistungen sowie der langsameren Marktöffnung in anderen Mitgliedstaaten durchaus plausibel, jedenfalls - und nur daraufkommt es unter verfassungsrechtlichem Blickwinkel an - nicht evident fehlerhaft. Das gilt ungeachtet des Umstandes, daß die Regulierungsbehörde Telekommunikation und Post (vgl. auch § 47 Abs. 1 PostG) und die Monopolkommission diese Prognose nicht teilen. 42 Der Gesetzgeber vermeidet durch die Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz damit von vornherein eine Situation, in der er nicht nur gegen seine Infrastrukturverantwortung aus Art. 87f Abs. 1 GG verstoßen würde, sondern Deutschland auch Gefahr liefe, die in Art. 3 ff. RiL 97/67/EG konkretisierten Verpflichtungen zur Erbringung von Universaldienstleistungen zu verletzen. 43 Daß dies willkürlich wäre und deshalb den verfassungsrechtlichen Ermächtigungsrahmen verließe, ist nicht ersichtlich. bb) Im übrigen darf der Gesetzgeber im Rahmen des Art. 7 RiL 97 / 67 / EG, RiL 2002/39/EG sogar Risiken berücksichtigen, die sich aus einer asymmetrischen Öffnung des Marktes für Postdienste gerade für die Erbringung von Universal97/67/EG: 19. Erwägungsgrund, Art. 7 Abs. 3 (1. 1. 2000/1. 1. 2003); 43. Erwägungsgrund, Art. 27 (31. 12. 2004); demgegenüber geht der unionale Gesetzgeber jetzt davon aus, daß es frühestens zum 1.1. 2009 zu einer „Vollendung des Binnenmarktes für Postdienste" kommen wird, d. h. zu einer vollständigen Liberalisierung, RiL 2002/39/EG: 16., 18. und 21. Erwägungsgrund, Art. 1 Ziff. 1 (1. 1. 2003/1. 1. 2006); 31. Erwägungsgrund, Art. 1 Ziff. 6 (31. 12. 2008); 24. Erwägungsgrund; Art. 1 Ziff. 1 Abs. 3 (2009). 41 BR-Drucks. 645/01, S. 5. 42

Stellungnahme RegTP zur öffentlichen Anhörung vom 18. 6. 2001, Ausschuß für Wirtschaft und Technologie, Aussch.-Drucks. 320/ 14d S. 4; zur aktuellen Marktöffnung in Europa S. 5 f.; Stellungnahme der Monopolkommission zur öffentlichen Anhörung vom 18. 6. 2001, Ausschuß für Wirtschaft und Technologie, Aussch.-Drucks. 320/ 14h, S. 12; zu den Prognosen der Kommission zur künftigen Marktöffnung KOM (2000) 319 endg., S. 13. 43 Erwägungsgrund 16 RiL 97/67/EG; M. Herdegen, in: Beck'scher Kommentar zum PostG, 2000, § 51 Rdnr. 13; zur Vermeidung integrationspolitischer Spannungen als legitimem Gemeinwohlbelang siehe Art. 10, 249 Abs. 3 EG; für die Rechtsprechung BVerfGE 80, 74, 80.

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dienstleistungen durch die Deutsche Post AG ergeben. Die privatwirtschaftliche Erbringung von Postdienstleistungen hat ausweislich des Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG nicht nur durch Private zu erfolgen, sondern auch und gerade durch die aus dem Sondervermögen Deutsche Bundespost hervorgegangenen Unternehmen. Deshalb darf die Liberalisierung des Marktes für Postdienste jedenfalls keine Existenzgefährdung der Deutschen Post AG nach sich ziehen. Auch wenn davon gegenwärtig keine Rede sein kann, so kann eine entsprechende „RisikoVorsorge" in den gegenständlichen und zeitlichen Grenzen von Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 7 RiL 97/67/EG doch ein sachgerechter Grund für eine Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz sein.

b) § 51 PostG n.F. als Kompromiß zwischen nationalen Liberalisierungsvorgaben und unionaler Monopolrechtfertigung Die Zielsetzung von § 51 PostG, einerseits das nationale Liberalisierungsprogramm zu verwirklichen, gleichzeitig aber auch die unionsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Universaldienstleistung bzw. die Infrastrukturgewährleistung zu erfüllen und deutschen Unternehmen - der Deutschen Post AG - zugleich Chancengleichheit auf dem europäischen Markt für Postdienstleistungen zu sichern, teilen das Erste und Zweite Gesetz zur Änderung des Postgesetzes. Dies wird durch die Neufassung des Art. 7 durch die RiL 2002/39/EG und das diesen umsetzende Dritte Gesetz zur Änderung des Postgesetzes bestätigt und bekräftigt. Indem letzteres die stufenweise Abschaffung der gesetzlichen Exklusivlizenz nunmehr nach einem konkreten Zeitplan vorgibt, konkretisiert es zugleich das in Art. 143b Abs. 2 GG enthaltene Tatbestandsmerkmal der „Übergangszeit" in sachlich nicht zu beanstandender Weise. Konkret wird § 51 PostG dahingehend abgeändert, daß die gesetzliche Exklusivlizenz auf Briefsendungen und adressierte Kataloge zum 1. Januar 2003 auf ein Einzelgewicht von 100g und einen Einzelpreis von bis zum Dreifachen des Tarifs der untersten Gewichtsklasse reduziert wird (Art. 1 Ziff. 3 lit. a), und zum 1. Januar 2006 auf ein Einzelgewicht von bis zu 50g und einen Einzelpreis, der unter dem Zweieinhalbfachen der untersten Gewichtsklasse liegen muß (Art. 2 Ziff. 1 lit. a). Mit der Befristung der gesetzlichen Exklusivlizenz auf den 31. Dezember 2007 bleibt § 51 PostG n.F. schließlich (wiederum) hinter den unionsrechtlich eröffneten Möglichkeiten zurück. Während es die RiL 2002/39/EG im Hinblick auf die weitere Liberalisierung des Marktes für Postdienste in der Gemeinschaft 44 nämlich erlauben würde, die Beförderung von Briefsendungen bis zu 50g und einem Preis bis zum Zweieinhalbfachen des einfachen Tarifs zumindest auch für das Jahr 2008 44 Abi. EG 2002 Nr. L 176/21.

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Peter M. Huber

noch den Erbringern von Universaldienstleistungen vorzubehalten - die „Vollendung des Binnenmarktes für Postdienste" zum Jahr 2009 steht im übrigen noch unter einem Überprüfungsvorbehalt des unionalen Gesetzgebers - , läßt das neu gefaßte Postgesetz die Exklusivlizenz bereits ein Jahr früher auslaufen. Damit wird die Öffnung des deutschen Marktes für Postdienste im Interesse des verfassungsrechtlichen Liberalisierungsauftrags von Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG auch in Zukunft weiter reichen als unionsrechtlich gefordert.

V. Zusammenfassung und Ausblick Das Erste bis Dritte Gesetz zur Änderung des Postgesetzes halten sich in dem durch Art. 143b Abs. 2 GG gezogenen Rahmen. Sie behalten den Übergangscharakter der gesetzlichen Exklusivlizenz nach § 51 PostG trotz deren Verlängerung bei - durch ihre zeitliche Begrenzung auf den 31. Dezember 2007 und durch ihren schrittweisen Abbau, wie ihn das Dritte Gesetz zur Änderung des Postgesetzes nun in Übereinstimmung mit der RiL 2002 / 39 / EG vorsieht. Da das Grundrecht der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) im Anwendungsbereich von Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG nicht gilt, kann eine Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz, die sich im Rahmen von Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG hält, Konkurrenten der Deutschen Post AG auch nicht in grundrechtlich geschützten Interessen verletzen. Art. 12 Abs. 1 bzw. Art. 2 Abs. 1 GG sind insoweit schon tatbestandlich nicht einschlägig. Die Verlängerung der gesetzlichen Exklusivlizenz ist im übrigen auch nicht willkürlich. Sie dient in erster Linie der Verhinderung von Ungleichgewichten bei der Liberalisierung des europäischen Marktes für Postdienstleistungen bzw. der Sicherstellung der Reziprozität und damit mittelbar auch der Erfüllung jener Verpflichtungen, die sich für die Bundesrepublik Deutschland aus Art. 3 ff. RiL 97/67/EG bzw. aus Art. 87f Abs. 1 GG ergeben. Selbst nach dem Ende der „Übergangszeit" i.S.v. Art. 143b Abs. 2 Satz 1 GG wäre eine gesetzliche Exklusivlizenz für die Deutsche Post AG jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Die unionsrechtlichen Rahmenbedingungen für die Verwirklichung des Art. 3 RiL 97/67/EG und die insoweit parallel gelagerte Entscheidung des Grundgesetzes für „flächendeckend angemessene und ausreichende Dienstleistungen" (Art. 87f Abs. 1 GG), die dauerhaft auch durch die Deutsche Post AG zu erbringen sind (Art. 87f Abs. 2 Satz 1 GG) und gegenwärtig nur durch diese erbracht werden können,45 benennen insoweit nämlich ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut, dessen Schutz selbst objektive Berufswahlschranken rechtfertigen kann. 46

45 BT-Drucks. 14/7820, S. 8. 46 R Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 143b Rdnr. 16, Fn. 45.

Die Verlängerung des Postmonopols

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Zudem folgt aus Aufbau und Systematik des Art. 87f GG, daß für die privatwirtschaftliche Erbringung von Postdienstleistungen nach Abs. 2 nur insoweit Raum ist, als der Bund seiner in Art. 87f Abs. 1 GG niedergelegten Infrastrukturverantwortung auf diese Weise auch tatsächlich gerecht werden kann (sog. Vorrang des Abs. 1) 4 7 Das deckt sich - soweit sich Universaldienst und Infrastrukturgewährleistung überschneiden - mit der unionsrechtlichen Pflicht Deutschlands, die von Art. 3 ff. RiL 97/67/EG geregelten Universaldienstleistungen auch tatsächlich zu erbringen. Zu diesem Zweck könnten - mangels realistischer Alternativen, über deren Vorliegen wiederum in erster Linie der Gesetzgeber zu entscheiden hat - die Grundrechte potentieller Konkurrenten der Deutschen Post AG in dem von Art. 7 RiL 97 / 67 / EG, RiL 2002 / 39 / EG gelassenen Rahmen sogar bis zur Grenze des Wesensgehalts (Art. 19 Abs. 2 GG) 4 8 beschränkt werden; ggf. müssen sie es. Auch wenn Grundgesetz und Europarecht dem Gesetzgeber noch einen gewissen Gestaltungsspielraum für eine begrenzte Fortführung des Postmonopols lassen: die durch § 51 PostG angeordnete Reduzierung des Schutzbereichs von Art. 12 Abs. 1 GG hält sich angesichts der bereits 66%igen Öffnung des Marktes für Postdienste insgesamt und der 25%igen Öffnung des Briefbeförderungsmarktes im Jahre 2001 49 schon heute in Grenzen. 50 Daß das Rad hier noch einmal zurückgedreht werden könnte, ist nicht zu erwarten.

47 Th. v. Danwitz, Verfassungsfragen der gesetzlichen Exklusivlizenz der Deutschen Post AG, S. 35. 48 BVerfGE 37, 271, 280 ff.; 73, 339, 376; 89, 155, 175; 102, 147, 164; R M. Huben Recht der Europäischen Integration, § 4 Rdnr. 20 ff. m. w. N. 4 9 Jahresbericht 2001 RegTP, S. 59 f. 50

Selbst diejenigen, die von einer Grundrechtsrelevanz der gesetzlichen Exklusivlizenz ausgehen, verneinen deshalb die Qualifikation als objektive Berufswahlschranke, ausführlich R. Scholz (Fn. 12), S. 85 ff.

Börsenrecht und Kartellrecht Von Volker Emmerich und Jochen Hoffmann

Der Jubilar, dem diese Zeilen in alter Verbundenheit gewidmet sind, hat sich stets besonders für die Grenzbereiche des öffentlichen Rechts interessiert. So ist vielleicht die Hoffnung berechtigt, daß auch der folgende Beitrag über einen auf den ersten Blick abgelegenen Grenzbereich zwischen öffentlichem Recht und Kartellrecht seine wohlwollende Aufmerksamkeit finden wird.

I. Einleitung Das Börsengesetz (BörsenG) in der Fassung des Vierten Finanzmarktförderungsgesetzes vom 21. Juni 20021 enthält in § 6 eine eigenartige Bestimmung über die „Anwendbarkeit der Vorschriften des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB)" auf die Börsen. Nach Abs. 1 der Vorschrift hat die Börsenaufsicht darauf hinzuwirken, daß die Vorschriften des GWB eingehalten werden. Dies gilt nach Abs. 1 Satz 2 insbesondere für den Zugang zu Handels-, Informations- und Abwicklungssystemen und sonstigen börsenbezogenen Dienstleistungseinrichtungen sowie deren Nutzung. Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift fügt hinzu, daß die Zuständigkeit der Kartellbehörden unberührt bleibt. Nach Abs. 2 Satz 2 unterrichtet die Börsenaufsichtsbehörde (s. §§ 1 Abs. 1, 2 BörsenG) die zuständige Kartellbehörde, in erster Linie also das Bundeskartellamt in Bonn, bei Anhaltspunkten für Verstöße gegen das GWB. Die Kartellbehörde informiert gemäß § 6 Abs. 2 Satz 3 BörsenG ihrerseits die Börsenaufsichtsbehörde nach Abschluß ihrer Ermittlungen über deren Ergebnis. § 6 BörsenG geht zurück auf § 2a BörsenG von 1994, der durch das Zweite Finanzmarktförderungsgesetz 2 in das Gesetz eingefügt worden war. In der Begründung zu diesem Gesetz wird als eines der Ziele des Gesetzes die Sicherung eines fairen Wettbewerbs der Börsenplätze und Handelssysteme hervorgehoben. 3 Der Wettbewerb müsse letztlich entscheiden, welche Handelsformen und -systeme für welche Märkte und Produkte geeignet seien. Der Staat habe lediglich dafür zu sorgen, daß der Wettbewerb fair bleibe. Deshalb müßten die Börsenaufsichts1 BGBl. I, S. 2010. 2 BGBl. I,S. 1749. 3 Begr. z. RegE, BT-Drucks. 12 (1994)76679, S. 34 (l.Sp. 2. Abs.), 36 (2. Abs. unter 2c).

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behörden möglichen Wettbewerbs Verzerrungen durch die Offenhaltung der Märkte und des Zugangs zu Handels-, Informations- und Abwicklungssystemen entgegenwirken.4 Vor allem im Lichte dieser Zielsetzung mußte daher auch der neue § 2a BörsenG a.F. (= § 6 n.F.) gesehen werden. Folgerichtig heißt es in der Begründung zu § 2a BörsenG a.F., die Schwächung der Marktposition der Börsenmakler, der Regionalbörsen und kleinerer Unternehmen auf dem Wertpapiermarkt liege nicht im Interesse der Aufrechterhaltung des Wettbewerbs. Deshalb verpflichte Abs. 1 der Vorschrift die Börsenaufsichtsbehörde, möglichen Tendenzen zur Konzentration oder gar Oligopolisierung des Wertpapierhandels und bestimmter Handelssysteme und einer Monopolisierung im Bereich der Börsen-EDV entgegenzuwirken. Der faire Wettbewerb und die Chancengleichheit der Marktteilnehmer beim Zugang zu Handels- und Abwicklungssystemen seien sicherzustellen. Abs. 2 des § 2a BörsenG a.F. schaffe für die Börsenaufsichtsbehörden die nötige förmliche Handhabe, eine Überprüfung möglicher Verstöße gegen das GWB durch die zuständigen Kartellbehörden herbeizuführen. 5 Diese Bemerkungen der Gesetzesverfasser zeigen, daß sie der neuen Vorschrift des § 2a BörsenG a.F. (= § 6 n.F.) an sich zentrale Bedeutung für den Aufbau und die Aufrechterhaltung der von ihnen angestrebten, möglichst wettbewerblich organisierten deutschen Börsenlandschaft beigemessen hatten. Deshalb wurden die Börsenaufsichtsbehörden auf die Offenhaltung der Märkte mit den Instrumenten des GWB verpflichtet (§ 6 Abs. 1 BörsenG) und ihnen zugleich die (offenbar nicht als selbstverständlich angesehene) Befugnis verliehen, die Kartellbehörden zu informieren, wenn sie Anhaltspunkte für Verstöße gegen das GWB feststellen ( § 6 Abs. 2 Satz 2 BörsenG). Trotz der ihm somit nach dem Willen des Gesetzgebers zukommenden Bedeutung hat § 6 BörsenG (= § 2a a.F.) in der juristischen Öffentlichkeit bisher kaum Beachtung gefunden. Soweit die Vorschrift überhaupt erwähnt wird, sieht man in ihr überwiegend nicht mehr als eine im Grunde überflüssige Wiederholung der auf der Grundlage des § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB von 1998 (= § 98 Abs. 1 a.F.) weithin akzeptierten Regeln über die Anwendbarkeit des GWB auf die öffentliche Hand.6 Auch die deutschen Kartellbehörden hatten sich bisher, soweit ersichtlich, nur ge-

4 Begr. (Fn. 3), S. 36 (r.Sp. „zu c"). 5 Begr. (Fn. 3), S. 61 (r.Sp. „zu § 2a"). 6

s. insbesondere Karlheinz Autenrieth, in: Gemeinschaftskommentar, GWB und Europäisches Kartellrecht, 4. Aufl. 1985, § 98 Abs. 1, Rn. 45 - 45b; Heiko Beck, WM 2000, S. 597, 610; Wolfgang Groß, Kapitalmarktrecht, 2000, §§ 1 bis 2c BörsenG, Rn. 14 (S. 59); Armin Jungbluth, in: Langen / Bunte, Deutsches und europäisches Kartellrecht Bd. 1, 9. Aufl. 2001, § 130 Abs. 1, Rn. 61 (S. 1659); Jochen Mues, Die Börse als Unternehmen, 1999, S. 177 ff.; Peter Götz von Olenhusen, Börsen und Kartellrecht, 1983; Eberhard Schwark, BörsenG, 2. Aufl. 1994, § 4, Rn. 20; - anders lediglich einmal Klaus J. Hopt/Baum, in: Hopt/Rudolf/ Baum (Hrsg.), Börsenreform, 1997, S. 376.

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legentlich mit den kartellrechtlichen Problemen der Börsen zu beschäftigen, 7 während es auf Gemeinschaftsebene bereits eine umfangreiche Praxis der Gemeinschaftsorgane zur Anwendung der Wettbewerbsregeln des EGV insbesondere auf restriktive Börsenzulassungsregelungen gibt, die hier aber nicht weiter verfolgt werden sollen.8 Der Grund für die geringe Beachtung, die § 6 BörsenG (= § 2a a.F.) bislang in der juristischen Öffentlichkeit gefunden hat, ist leicht zu erkennen: Er liegt in der üblichen methodischen Vorgehensweise, die ihren Ausgangspunkt nicht bei der besonderen Regelung des § 6 BörsenG, sondern bei der allgemeinen Regelung des § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB (= § 98 Abs. 1 a.F.) über die Anwendbarkeit des GWB auf die öffentliche Hand nimmt und folgerichtig in § 6 BörsenG lediglich eine Bestätigung oder Wiederholung dieser allgemeinen Regelung sieht, womit freilich die Vorschrift des § 6 BörsenG gleichsam schon vorweg kartellrechtlich neutralisiert, d. h. ihres eigenständigen Regelungsgehalts beraubt wird. Zwingend ist eine solche Vorgehens weise indessen nicht. Es wird sich im Gegenteil zeigen, daß § 6 BörsenG, wenn man ihn im Lichte der mit ihm von den Gesetzesverfassern verfolgten Zielsetzung sieht, einen durchaus eigenständigen, deutlich über den allgemeinen § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB hinausgehenden Regelungsgehalt besitzt.

II. § 6 BörsenG - eine bloße Wiederholung des § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB? Nach § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB findet dieses Gesetz auch Anwendung auf Unternehmen, die ganz oder teilweise im Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder die von ihr verwaltet oder betrieben werden. Eine wörtlich übereinstimmende Vorschrift enthielt schon das GWB von 1957 in § 98 Abs. 1. Es kann nicht die Aufgabe dieses Beitrags sein, die verwickelte Interpretationsgeschichte der genannten Vorschriften im einzelnen nachzuzeichnen.9 Für die Zwecke dieses Beitrags genügt es vielmehr, kurz den gegenwärtigen Diskussionsstand anzudeuten, da - wie bereits betont - eine Auslegung des die meisten Interpreten offenbar verwirrenden § 6 BörsenG (= § 2a a.F.) üblicherweise aus diesem Blickwinkel versucht wird - mit der Folge, daß von der Vorschrift des § 6 BörsenG eigentlich nichts mehr übrig bleibt, was ihre eigenständige Existenz zu rechtfertigen vermöchte. Der Unternehmensbegriff wird in § 130 Abs. 1 GWB, ebenso wie sonst im GWB, allgemein ganz weit ausgelegt. Er umfaßt deshalb heute im Grunde jede 7

s. zu der Preisbildung für Heizöl an der Frankfurter Getreide- und Produktenbörse Bundeskartellamt, Tätigkeitsbericht 1979/1980 (BT-Drucks. 9/565), S. 11 f., 47 (r.Sp.). 8 s. mit Nachweisen Volker Emmerich, in: Immenga/ Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht Bd. I, 1997, Art. 85 Abs. 1, Rn. Β 25. 9 s. dazu statt aller Volker Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, 1969, S. 253 ff.; ders., in: Immenga/Mestmäcker, GWB, 3. Aufl. 2001, § 130 Abs. 1 (S. 2656 ff.).

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Form wirtschaftlicher Betätigung des Staates und seiner Gliederungen auf einem beliebigen Markt, und zwar ganz ohne Rücksicht auf die Rechtsform, in der dies geschieht, und die Zwecke, die der Staat damit letztlich verfolgt. 10 Die unvermeidliche Konsequenz dieses über den Unternehmensbegriff kontinuierlich ausgedehnten Anwendungsbereichs des Kartellrechts ist freilich, daß das Kartellrecht, nicht zuletzt in Gestalt der Wettbewerbsregeln des EGV, immer tiefer in bisher noch eifersüchtig verteidigte Reservate der reinen Lehre des öffentlichen Rechts eindringt, so daß das Konfliktpotential zwischen Kartellrecht und öffentlichem Recht unvermeidlich immer mehr anwächst.11 Von Seiten einzelner Vertreter des öffentlichen Rechts wird in jüngster Zeit deshalb der Versuch gemacht, dieses Konfliktpotential dadurch zu neutralisieren, daß das Kartellrecht einfach seiner privatrechtlichen Herkunft entkleidet und in toto in das öffentliche Recht inkorporiert wird. 12 Das Kartellrecht würde dann zu einem Prüfungsmaßstab unter anderen, an dessen Hand die Verwaltungs- und Sozialgerichte gegebenenfalls die Wirksamkeit wirtschaftlicher oder auch wirtschaftslenkender Maßnahmen des Staates zu prüfen hätten. In der kartellrechtlichen Literatur und Rechtsprechung haben derartige Versuche freilich zu Recht bislang keinen Anklang gefunden und sollen auch hier nicht weiter verfolgt werden. Mit der überwiegenden Meinung ist vielmehr daran festzuhalten, daß das Kartellrecht - als genuin privatrechtliche Materie - nur auf privatrechtlich geordnete Wettbewerbsbeziehungen der öffentlichen Hand und ihrer Unternehmen Anwendung findet. Die daraus resultierende weitere Frage, anhand welcher Kriterien bei der wirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand privatrechtlich und öffentlich-rechtlich geordnete Beziehungen unterschieden werden können, ist heute gleichfalls im wesentlichen als geklärt anzusehen. Entscheidend sind nicht etwa die Leistungsbeziehungen der öffentlichen Hand; ausschlaggebend ist vielmehr allein, ob der Staat und seine Unternehmen ihre Leistungen neben anderen auf einem Markt anbieten oder nachfragen, weil sich daraus Wettbewerbsbeziehungen zu anderen Unternehmen ergeben können, in denen dann auch zum Schutze der privaten Konkurrenten der öffentlichen Hand Raum für die Anwendung des GWB sein muß. 13 An privatrechtlich geordneten Wettbewerbsbeziehungen der öffentlichen Hand als Voraussetzung für die Anwendung des privaten Kartellrechts - fehlt es dage10 Vgl. zum folgenden Volker Emmerich (Fn. 9); ders., Kartellrecht, 9. Aufl. 2001, § 2, 3 (S. 18 ff.). u Bis hin zur offenen Auflehnung gegen das Gesetz (GWB) in BSG, NJW-RR 2002, S. 1691, ein nahezu unglaubliches Urteil. ι 2 s. Volker Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, GWB, § 130 Abs. 1, Rn. 9 m. Nachweisen. 13 s. statt aller zuletzt BGH, L M Nr. 52 zu § 1 GWB (Bl. 4 ff.) = NJW-RR 1999, S. 1266 „Lottoblock"; LM Nr. 22 zu § 20 GWB (Bl. 4 f.) = NJW 2000, S. 866 „Kartenlesegerät"; Volker Emmerich, in: Immenga/Mestmäcker, GWB, § 130, Rn. 13 ff.

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gen, wenn von der öffentlichen Hand Leistungen aufgrund hoheitlicher Bestimmungen gefordert oder gewährt werden, insbesondere also, wenn die öffentliche Hand befugt ist, ihre Wettbewerbsbeziehungen selbst einseitig öffentlich-rechtlich zu regeln, wenn sonstige öffentliche Sonderregelungen bestehen - etwa aufgrund hoheitlicher Maßnahmen der Regulierungsbehörden - oder wenn ein Anschlußund Benutzungszwang angeordnet ist. 14 Beispiele sind die Berufsordnungen der freien Berufe, d. h. Satzungen, die (auf freilich häufig zweifelhafter gesetzlicher Grundlage) die Wettbewerbsbeziehungen der Berufsangehörigen regeln, ferner ein Anschluß- oder Benutzungszwang zugunsten kommunaler Unternehmen oder anderer Anstalten des öffentlichen Rechts, der für das Aufkommen privater Konkurrenz von vornherein keinen Raum läßt, sowie sonstige öffentlich-rechtliche Regelungen, durch die (wiederum auf gesetzlicher Grundlage) die öffentlichen Unternehmen oder ihre Träger ihre Wettbewerbsbeziehungen (soweit vorhanden) einseitig hoheitlich regeln, so daß schon deshalb für eine ergänzende Anwendung des privaten Kartellrechts kein oder doch nahezu kein Raum mehr bleibt. Es sind genau diese weithin akzeptierten Ausnahmen von der prinzipiellen Anwendbarkeit des GWB auf die öffentliche Hand, die im Anwendungsbereich des § 6 BörsenG erhebliche Schwierigkeiten bereiten, weil sie - bei ihrer Übertragung auf die Börsen als öffentliche Unternehmen - entgegen dem Regelungszweck des § 6 BörsenG für die Anwendung des GWB nahezu keinen Raum mehr lassen. Um dies zu erkennen, muß man sich folgendes vergegenwärtigen: Die deutschen Börsen sind nach überwiegender, wenn auch nicht unbestrittener Auffassung teilrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts, die von dem jeweiligen Börsenträger unterschieden werden müssen.15 Dafür sprechen in der Tat die Organisation der Börsen (s. die §§9, 12 BörsenG), ihre Behördeneigenschaft (§ 13 Abs. 6 BörsenG), ihre hoheitlichen Aufgaben sowie insbesondere ihre Satzungsautonomie, geregelt in den wichtigen §§ 13 und 14 BörsenG, nach denen der Börsenrat die Börsen- und Gebührenordnungen als Satzungen erläßt. Dies ändert indessen nichts daran, daß die Börsen zugleich als öffentliche Unternehmen im Sinne des Kartellrechts anzusehen sind, weil sie wirtschaftlich werthafte Leistungen gegen Entgelt in Konkurrenz mit anderen Börsen und Handelssystemen auf Märkten anbieten und nachfragen. Es steht deshalb außer Frage, daß die Börsen - trotz ihrer Qualifizierung als teilrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts - (auch) das Kartellrecht zu beachten haben (§ 6 BörsenG, § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB). Fraglich kann überhaupt nur sein, wieweit tatsächlich die Unterwerfung der Börsen unter das deutsche Kartellrecht aufgrund des § 6 BörsenG reicht.

14 s. KG, WuW/E OLG 5821, 5837 = NJWE-WettbR 1997, S. 257 „Lottoblock"; Volker Emmerich, in: Immenga/ Mestmäcker, GWB, § 130 Abs. 1, Rn. 27 ff. m. Nachweisen. is VGH Kassel, NJW-RR 1997, S. 110; Eberhard Schwark, BörsenG, § 1, Rn. 16 ff.; Peter Götz von Olenhusen, Börsen und Kartellrecht (Fn. 6), S. 54 ff.; Jochen Mues, Börse (Fn. 6), S. 67, 72 ff.; Siegfried Kumpel, Bank und Kapitalmarktrecht, 2. Aufl. 2000, Tz. 17.117 ff. (S. 1987 ff.).

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Hier kommt es nun, wenn man so will, zum Schwur: Folgt man (ohne Not) dem herkömmlichen Verständnis über die Abgrenzung der privatrechtlichen von den öffentlich-rechtlichen Wettbewerbsbeziehungen der öffentlichen Hand im Rahmen des § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB auch bei der Auslegung des speziellen § 6 Abs. 1 BörsenG, wonach das Kartellrecht zurückzutreten hat, soweit öffentlich-rechtliche Sonderregelungen für die betreffenden Märkt bestehen, so bleibt in der Tat im Börsenrecht - trotz des § 6 BörsenG - nur ein ganz schmaler Raum für die Anwendung des GWB, weil, insbesondere aufgrund der Satzungsautonomie der Börsen (§§ 13, 14 BörsenG), die wichtigsten Wettbewerbsbeziehungen der Börsen gerade öffentlich-rechtlichen Sonderregelungen in Gestalt der Börsen- und Gebührenordnungen unterliegen. 16 Dieses Ergebnis widerspricht jedoch offenkundig den von den Verfassern des Zweiten Finanzmarktförderungsgesetzes von 1994 mit dem neuen § 2a BörsenG a.F. (= § 6 n.F.) verfolgten Zwecken. Deshalb liegt der Schluß nahe, daß die übliche Interpretation des § 6 BörsenG (= § 2a a.F.) im Lichte des allgemeinen § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB zu kurz greift, daß die Vorschrift mit anderen Worten eine weitergehende Bedeutung als bisher üblicherweise angenommen haben muß, weitergehend in dem Sinne, daß sie klarstellen soll, daß die Börsen in größerem Umfang als aufgrund des § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB üblich an das GWB gebunden sind, und zwar zu dem Zweck, die vom Gesetzgeber gewollte wettbewerbliche Ordnung der Börsenmärkte umfassend abzusichern. Solches Verständnis des § 6 BörsenG ist in der Tat möglich.

III. Ein anderer Blick auf § 6 BörsenG Der Ausgangspunkt ist klar: Wenn § 6 BörsenG (= § 2a a.F.) seinem Zweck gerecht werden soll, für eine wettbewerbliche Ordnung der Börsenmärkte in Deutschland zu sorgen, so muß er angesichts der Satzungsautonomie der Börsen für alle wichtigen Fragen einen anderen, und zwar weitergehenden Sinn haben, als ihm üblicherweise im Anschluß an die gängige Interpretation des § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB beigelegt wird. In dieselbe Richtung weisen die bisher vielleicht noch zu wenig gewürdigten Regelbeispiele für die Anwendung und Durchsetzung des GWB bei den Börsen in § 6 Abs. 1 Satz 2 BörsenG, weil es sich dabei durchweg um Fragen handelt, welche die Börsen aufgrund der § 13 und 14 BörsenG auch ganz oder teilweise durch Satzungen regeln können (s. insbesondere § 13 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 und Abs. 4 BörsenG). Wenn nun der Gesetzgeber trotzdem bei der Regelung dieser Fragen die strikte Beachtung des GWB durch § 6 Abs. 1 BörsenG anmahnt, dann kann dies im Grunde nur bedeuten, daß hier (ausnahmsweise) auch die Ausübung der Satzungsautonomie durch die Börsen (die unbezweifelbar zugleich öffentliche Unternehmen sind) der Kontrolle durch das Kartellrecht unterliegen soll, eben, um trotz der Satzungsautonomie der Börsen eine wettbewerbliche •6 Exemplarisch Heiko Beck, WM 2000, S. 597, 599, 610; Peter Götz von Olenhusen, Börsen und Kartellrecht (Fn. 6), S. 103, 141 ff.; Jochen Mues, Börse (Fn. 6), S. 175 ff.

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Ordnung der Börsenmärkte sicherzustellen. Erst bei dieser Sicht der Dinge gewinnt § 6 BörsenG überhaupt eine eigenständige, über den allgemeinen § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB hinausgehende Bedeutung.17 Auf der anderen Seite macht eine Unterwerfung der Börsen unter die zusätzliche Kontrolle des Kartellrechts in der Tat dort keinen Sinn, wo sie bereits - als Anstalten des öffentlichen Rechts und Behördenträger - einer strikten öffentlich-rechtlichen Bindung unterliegen. Als zusätzlicher Anwendungsbereich des Kartellrechts im Börsenrecht, den § 6 BörsenG hier in Ergänzung zu § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB eröffnet, bleibt damit der Bereich, in dem die Börsen über einen autonomen Handlungsspielraum bei der Gestaltung ihrer Wettbewerbsbeziehungen, wenn auch zum Teil eben durch Satzungen, verfügen. Entgegen dem üblichen Verständnis erweist sich damit § 6 BörsenG als durchaus sinnvolle Vorschrift. Denn er ordnet (ausnahmsweise) dort die Anwendung des Kartellrechts auf die öffentlich-rechtliche Gestaltung der Wettbewerbsbeziehungen eines Verwaltungsträgers (der Börsen) an, wo diese, sei es in Vollzug des BörsenG, sei es bei dem Erlaß von Satzungen, autonome unternehmerische Entscheidungen - wenn auch in öffentlich-rechtlicher Gestalt - treffen, einfach deshalb, weil solche Entscheidungen dann auch der Kontrolle durch das dafür primär berufene Kartellrecht unterliegen müssen.

IV. Beispiele 7. Erlaß von Satzungen Aufgrund ihrer Satzungsautonomie sind die Börsen befugt, ihre wichtigsten Wettbewerbsbeziehungen einseitig öffentlich-rechtlich zu regeln, und zwar einschließlich der von den Handelsteilnehmern und Emittenten zu zahlenden Gebühren (§§ 13 und 14 BörsenG). Entscheidend ist nun im vorliegenden Zusammenhang, daß der Börsenrat bei dem Erlaß dieser Satzungen jedoch weitgehend unabhängig von staatlichen Weisungen in Selbstverwaltung handelt, da sich die Börsenaufsicht im wesentlichen auf eine Rechtsaufsicht beschränkt (§§ 13 Abs. 5, 14 Abs. 2 BörsenG). 18 Der Einfluß der Aufsichtsbehörde auf den Satzungsinhalt ist infolgedessen gering, so daß die Börsen bei dem Erlaß der Satzungen einen großen Ermessensspielraum haben - mit der weiteren Folge, daß sie dabei nach der hier vertretenen Auslegung des § 6 BörsenG unternehmerisch und nicht spezifisch hoheitlich tätig werden. Das Ergebnis leuchtet auch von der Sache her ein: Wenn der Staat den Börsen schon die Befugnis erteilt, ihre Wettbewerbsbeziehungen durch den Erlaß von Satzungen autonom zu regeln, er aber auf der anderen Seite zugleich eine wettbewerbliche Ordnung der Börsenmärkte sicherstellen will, so bleibt nichts anderes übrig, als den Erlaß derartiger den Wettbewerb regelnder Satzungen eines 17

Ebenso bisher nur einmal (beiläufig) Klaus J. Hopt/Baum, Börsenreform (Fn. 7), S. 376. ι» Eberhard Schwark, BörsenG (Fn. 6), § 4, Rn. 5 (S. 119 f.). 35 FS Schmitt Glaeser

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Volker Emmerich und Jochen Hoffmann

Verwaltungsträgers (ausnahmsweise) der Kontrolle durch das Kartellrecht zu unterwerfen, wie es unmittelbar dem Zweck und dem Wortlaut des § 6 Abs. 1 BörsenG entspricht. 19 Dies hat weitreichende Konsequenzen. Die wichtigsten sind die Anwendbarkeit des Kartell-, des Mißbrauchs- und des Diskriminierungsverbots des GWB auf den Erlaß und die Anwendung der aufgrund der §§13 und 14 BörsenG erlassenen Satzungen (§§ 1, 19, 20 GWB). Gegen das Kartellverbot verstößt daher insbesondere jede Form der Koordinierung des Erlasses von Börsen- oder Gebührenordnungen zwischen den verschiedenen Börsen, wie sie jedenfalls früher verbreitet praktiziert wurde. 20 Soweit eine Börse marktbeherrschend ist - unstreitig im Falle der Frankfurter Wertpapierbörse mit einem Marktanteil von 85 % 2 1 - muß sie außerdem bei dem Erlaß und der Anwendung von Satzungen das Mißbrauchs- und das Diskriminierungsverbot des GWB beachten (§§ 19, 20 GWB). Auf diese Weise eröffnet sich erstmals die Möglichkeit, die verschiedenen Marktregelungen in den Satzungen der Börsen einer inhaltlichen Kontrolle zu unterwerfen. Das trifft nicht nur für die Höhe der Gebühren zu (§ 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB), sondern ebenso etwa für die verschiedenen Anschluß- und Benutzungszwänge, die in den Börsenordnungen zugunsten der Börsen und ihrer Tochtergesellschaften bestimmt sind. Der Sache nach handelt es sich dabei um Koppelungsgeschäfte, die einer sachlichen Rechtfertigung bedürfen (§§19 Abs. 4 Nr. 1, 20 Abs. 1 GWB), widrigenfalls sie einen Mißbrauch darstellen und deshalb - als Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot (§§ 19, 20 Abs. 1 GWB) - nichtig sind (§ 134 BGB). Soweit es schließlich um die Benutzung der Börseneinrichtungen geht, kommt ferner von Fall zu Fall die Anwendung des § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB in Betracht, wenn es sich dabei um wesentliche Einrichtungen handelt, woran angesichts der zentralen Position der Börsen im Wertpapierhandel für die meisten Börseneinrichtungen kein Zweifel bestehen dürfte. Von daher gesehen bekommt jetzt erstmals auch die ausdrückliche Anordnung des § 6 Abs. 1 Satz 2 BörsenG einen guten Sinn, da es danach gerade die Aufgabe der Börsenaufsichtsbehörden sein soll, über die Anwendung des GWB den Zugang zu Handels-, Informations- und Abwicklungssystemen und sonstigen börsenbezogenen Dienstleistungseinrichtungen sowie deren Nutzung sicherzustellen. Das ist jedoch der Sache nach nichts anderes als ein direkter Hinweis auf die Anwendbarkeit der §§ 19 und 20 Abs. 1 GWB und insbesondere des § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB auf die Börsen und ihre Einrichtungen. 19

Ebenso Peter Götz von Olenhusen, Börsen (Fn. 6), S. 141 f.; anders die überwiegende Meinung: Karlheinz Autenrieth, Gemeinschaftskommentar (Fn. 6), § 98 Abs. 1, Rn. 45b; Heiko Beck, WM 2000, S. 597, 599, 610; Ulrich Immenga, in: ders./Mestmäcker, GWB, § 2 Abs. 2, Rn. 16 (S. 224 f.); Eberhard Schwark, BörsenG, § 4, Rn. 20, § 5, Rn. 9 (S. 127, 133). 20 s. Heiko Beck, WM 2000, S. 597, 606 f.; Peter Götz von Olenhusen, Börsen (Fn. 6), S. 141 ff.; Eberhard Schwark, BörsenG (Fn. 6), § 5, Rn. 8 f. (S. 133). 21 s. Heiko Beck, WM 2000, S. 597, 609.

Börsenrecht und Kartellrecht

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2. Vollzug des Börsenrechts Soweit die Börsen Verwaltungsaufgaben wahrnehmen, insbesondere aufgrund des BörsenG, werden sie als Teil der mittelbaren Staatsverwaltung tätig und unterliegen daher in den meisten Beziehungen einer strikten Bindung an das öffentliche Recht, so daß daneben kein Raum für die Anwendung des Kartellrechts bleibt. Der wichtigste Fall ist die Zulassung von Handelsteilnehmern oder Wertpapieren (s. die §§ 16, 30,51 BörsenG). Daneben gibt es jedoch auch hier Bereiche, in denen die Börsen über einen unternehmerischen Verhaltensspielraum verfügen, mit dem dann notwendigerweise die Bindung an das Kartellrecht, wiederum in erster Linie in Gestalt der §§ 19 und 20 GWB, korrespondiert. Beispiele sind die Zulassung als Skontroführer und die Skontrenverteilung nach den §§26 und 29 BörsenG. Daß hier eine Kontrolle nach dem GWB möglich sein muß, leuchtet wiederum im Lichte des Zwecks und des Wortlauts des § 6 Abs. 1 Satz 2 BörsenG ein. Weitere Beispiele dieser Art finden sich in der Börsenordnung der Frankfurter Wertpapierbörse, insbesondere in den §§ 37 und 47 Abs. 2 dieser Satzung. Dies soll hier nicht mehr im einzelnen ausgeführt werden. Worauf es ankam, war vielmehr allein, deutlich zu machen, daß § 6 BörsenG, eine bisher weithin unbeachtet gebliebene Vorschrift, neben § 130 Abs. 1 Satz 1 GWB durchaus eine eigenständige Bedeutung hat, indem er die Börsen - trotz ihrer Eigenschaft als teilrechtsfähige Anstalten des öffentlichen Rechts und als Verwaltungsträger - auch dann an das Kartellrecht bindet, wenn sie von ihrem unternehmerischen Entscheidungsspielraum Gebrauch machen, und sei es auch in Gestalt des Erlasses von Satzungen oder von Verwaltungsakten.

Gedanken zu steuerlichen Bewertungsfragen und zum Sinn der Erbschaft- und Schenkungsteuer Von Karl-Georg

Lo ritz

I. Bewertungsfragen als wiederkehrendes Thema in Deutschland Bewertungsfragen, insbesondere bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer, scheinen in Deutschland zu einem wiederkehrenden Thema zu werden. Zwar haben Bewertungsfragen auch bei der Ertragsteuer elementare Bedeutung. Dennoch finden sie, jedenfalls unter der Überschrift „Bewertung", eine deutlich geringere Aufmerksamkeit. Im Einkommensteuerrecht spricht man vielmehr von „Abbau von Steuervergünstigungen" oder „Streichung von Steuersubventionen". Tatsächlich werden auch hier häufig Bewertungsansätze geändert, mit der Folge, daß die dann höheren Ansätze in den Jahresabschlüssen und Steuererklärungen zu Steuermehrbelastungen führen. 1 Das Ertragsteuerrecht ist allerdings bezüglich der Bewertungsansätze so intransparent und unübersichtlich geworden, daß diese Ansätze offenbar bei der Rechtsprechung kaum noch die Reaktion auslösen, sie anhand der verfassungsrechtlichen Maßstäbe überprüfen zu müssen. Geschähe dies, dann müßte wohl ein erheblicher Teil der einschlägigen Vorschriften für verfassungswidrig gehalten und eine entsprechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG eingeholt werden. Bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer - im folgenden auch (nur) „Erbschaftsteuer" genannt - und bei der (nicht mehr zur Anwendung gelangenden) Vermögensteuer haben insbesondere Bewertungsansätze seit vielen Jahren das Augenmerk der Rechtsprechung auf sich gezogen. Die Vorlagebeschlüsse des Finanzgerichts Hamburg im Jahre 19882 und des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz im Jahre 19913 haben bekanntlich zu den entsprechenden Beschlüssen des 2. Senats des 1 In den letzten Jahren wurde z. B. eine Veränderung der AfA-Tabellen vorgenommen. Im Bereich der Immobilien vergeht kaum ein Jahr, wo nicht über die Höhe der AfA und damit über die Bewertungsansätze diskutiert wird, wovon die verschiedenen Fassungen des § 7 Abs. 5 EStG, der nur für neu errichtete Wohngebäude gilt, zeugen. Der in den parlamentarischen Beratungen befindliche Entwurf eines Gesetzes zum Abbau von Steuervergünstigungen und Ausnahmeregelungen (Steuervergünstigungsabbaugesetz) vom 28. November 2002, BR-Drucksache 866/02, sieht eine Änderung zahlreicher Bewertungsgrundlagen vor, wie etwa §§ 7 Abs. 4, 7 Abs. 5 EStG, 82b EStDV. 2 EFG 1988,586.

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Bundesverfassungsgerichts zur Vermögensteuer und Erbschaftsteuer des Jahres 1995 geführt 4 Am 22. Mai 2002 hat der 2. Senat des Β FH erneut einen Vorlagebeschluß erlassen. Dieser hält wesentliche Β e wertungs Vorschriften des Erbschaftsteuergesetzes in der Fassung des Jahressteuergesetzes 19975 wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG für verfassungswidrig. Die Vorschriften zur Ermittlung der Steuerbemessungsgrundlage bei Betriebsvermögen, bei den Anteilen an Kapitalgesellschaften sowie beim Grundbesitz (einschließlich des landund forstwirtschaftlichen Vermögens) seien gleichheitssatzwidrig ausgestaltet.6 Der Vorlagebeschluß fällt in eine Zeit, in welcher der Staat angesichts höchster Finanznöte namentlich in Gestalt des Steuervergünstigungsabbaugesetzes deutlich zeigt, daß er, ungeachtet aller vorherigen Aussagen der Regierungspolitiker und ihrer Parteien im Wahlkampf, jede sich bietende Gelegenheit zu Steuermehreinnahmen aufgreift. Zum Ausdruck kommt dies auch in der im Jahr 2002 von zwei Länderministerpräsidenten neu entfachten Diskussion um die Wiedereinführung der Vermögensteuer, welche von der Bundesregierung nur mit Mühe unterdrückt werden konnte. Sollte das Bundesverfassungsgericht erneut verfassungswidrige Bewertungsungleichheiten feststellen, dann wäre dies für die Bundesregierung möglicherweise geradezu ein „Willkommensgeschenk", um durch Höherbewertung etwa des Grund- und des Betriebsvermögens Steuermehreinnahmen zu erzielen. Diese, so würde möglicherweise argumentiert, seien durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn schon nicht geboten, so doch veranlaßt. Bewertungsfragen sind und waren oftmals ein eher unauffälliges Einfallstor für Steuererhöhungen, aber auch für Steuersenkungen bzw. für Steuervergünstigungen, da solche Veränderungen weitaus weniger „politische Aufregung" zu erzeugen pflegen als Absenkungen und Anhebungen der Steuersätze im Tarif. Rechtspolitische Fragen müssen sehr wohl die Wissenschaft, dürfen aber die Gerichte bei der Entscheidung konkreter Fälle nicht interessieren. Dennoch bleibt nicht zu verkennen, daß der 2. Senat des BFH durch seinen Vorlagebeschluß mitunter erhebliche rechtspolitische Folgen auslösen kann, falls das Bundesverfassungsgericht sich seiner Auffassung anschließt. Die Entscheidung des 2. Senats des BFH vermittelt auch eher den Eindruck, er habe durchaus eine Gelegenheit zumindest gerne wahrgenommen, wenn nicht sogar gesucht, um an den Bewertungsvorschriften rütteln zu können. Bei nüchterner Betrachtung ergeben sich nämlich, ohne daß dies hier im einzelnen erörtert werden soll, durchaus erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit der Richtervorlage an das Bundesverfassungsgericht. 7 Im konkreten Fall, in dem es um die Bewertung eines Anwartschaftsrechts auf 3 EFG 1992, 165. 4 BVerfGE 93, 121; BVerfGE 93, 165. 5 Dies ist das Gesetz, mittels dessen die in Fn. 4 zitierten Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1995 vom Gesetzgeber „umgesetzt" wurden. 6 BFH BStBl. II 2002, 598. 7 Zweifelnd auch D. Birk, FR 2002, 1071, 1072.

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Übereignung eines Grundstücks ging, hätte der BFH m.E. dieses im Wege der verfassungskonformen Auslegung durchaus nach den für Grundstücke geltenden Regelungen bewerten können.8 Das methodische Instrumentarium im deutschen Recht ist heute so weit fortgeschritten, daß es schließlich kein Problem sein sollte - vor allem aufgrund der im Steuerrecht geltenden wirtschaftlichen Betrachtungsweise - erbschaftsteuerlich einen vererbten Anspruch auf Übereignung eines Grundstücks wie die Vererbung des Grundstücks selbst zu bewerten. Dies muß jedenfalls in solchen Fällen gelten, in denen der Anspruch tatsächlich zum Erwerb des Eigentums am Grundstück führt. Die steuerlichen Bemessungsgrundlagen haben nicht nur aus praktischen, sondern auch aus verfassungsrechtlichen Gründen zentrale Bedeutung, wenn man wie das Bundesverfassungsgericht 9 bei der verfassungsrechtlichen Bewertung Steuernormen in Bemessungsgrundlage und Steuersatz trennt. Bestimme, so das Bundesverfassungsgericht im Vermögensteuerbeschluß, der Gesetzgeber für das gesamte steuerpflichtige Vermögen einen einheitlichen Steuersatz, so könne eine gleichmäßige Besteuerung nur in den Bemessungsgrundlagen der jeweils für sich zu bewertenden wirtschaftlichen Einheiten gesichert werden. 10 Dies deutet darauf hin, daß das Bundesverfassungsgericht eine Kompensation ungleicher Bewertungen etwa durch Gewährung von Freibeträgen oder Tarifermäßigungen (ζ. B. bei den mit den Nominalwerten anzusetzenden Vermögensgegenständen) nicht zuließe. Eher scheint die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung im Steuerrecht dazu zu tendieren, bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung nicht das Ergebnis der Belastung durch eine bestimmte Steuerart in den Blick zu nehmen als vielmehr die einzelnen Komponenten des Steuertatbestandes, zu denen maßgeblich die Bewertung gehört. Dieses Verständnis scheint etwa auch dem Beschluß des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichtes zum Existenzminimum11 zu Grunde gelegen zu haben. Hier wurde bekanntlich verlangt, daß der Gesetzgeber einen Teil des Einkommens, das der Steuerpflichtige zur Sicherung seiner Existenz und derjenigen seiner unterhaltspflichtigen Familienangehörigen benötige, von der Besteuerung freizustellen sei. Das Bundesverfassungsgericht formuliert, daß das Existenzminimum dem Steuerpflichtigen nicht nur nach Abzug der Steuern erhalten bleiben müsse, sondern der Gesetzgeber nur das darüber hinausgehende Einkommen der Besteuerung unterwerfen dürfe. 12 Ersichtlich wurde diese Aussage vom Gesetzgeber im Sinne eines Zwangs zur Gewährung eines steuerfreien Existenzminimums im Steuertarif 8 Falls das Bundesverfassungsgericht sich dieser von D. Birk, FR 2002, 1071, 1072, geäußerten Ansicht anschließt, wäre die Vorlage unzulässig. Nur wenn das Bundesverfassungsgericht der Argumentation des 2. Senats des BFH folgt, daß maßgeblicher Punkt für die Verfassungswidrigkeit nicht die Bemessungsgrundlage, sondern die einheitliche Tarifvorschrift des § 19 Abs. 1 ErbStG ist, wäre die Vorlage zulässig. 9 BVerfGE 93, 121, 142 f. 10 BVerfGE 93, 121, 136.

n BVerfGE 87, 153. 12 BVerfGE 87, 153, 160.

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für alle und nicht nur eines Zwangs zum Verbleib des Existenzminimums im monetären Ergebnis verstanden. Ob dies zutreffend ist, soll nicht Gegenstand dieser Abhandlung sein, muß aber hinterfragt werden. Es geht um die dogmatische Frage, ob sich wirklich aus der Verfassung ein Gebot ergibt, wie die Besteuerung „technisch" in Form von Tarifen, Grundfreibeträgen, Bewertungen und sonstigen Freibeträgen zu gestalten ist. Eine Regelung darf m.E. z. B. nicht deshalb als verfassungswidrig qualifiziert werden, weil die Bewertung vergleichbarer Sachverhalte unterschiedlich ist, wenn der Unterschied im Tarif oder auf andere Weise, etwa mittels eines Freibetrags, ausgeglichen wird und so das Ergebnis dem Gleichheitssatz genügt. Die Verfassung gebietet Belastungs- und nicht Bewertungsgleichheit. Legt man dem Gesetzgeber zu strenge verfassungsrechtliche Fesseln bei der Ausgestaltung des Steuerrechts an, so führt dies zu zusätzlichen Einschränkungen der Regelungsspielräume des Steuergesetzgebers und leider sehr rasch auch zu rein fiskalpolitisch motivierten Systemdurchbrechungen an anderer Stelle. Man denke beispielhaft an die aus reinen Fiskalzweckerwägungen angesetzte 80 %-Grenze für Bewirtungsaufwendungen (§ 4 Abs. 5 S. 1 Ziff. 2 EStG) und die derzeit im Steuervergünstigungsabbaugesetz in der Diskussion befindliche Erhöhung der pauschalierten Bemessungsgrundlage für die private PKW-Nutzung von monatlich bisher 1 % auf 1,5 % des inländischen Fahrzeuglistenpreises (§§ 6 Abs. 1 Nr. 4 S. 2, 8 Abs. 2 S. 2 EStG). Immer diffizileren, angeblich aus der Verfassung ableitbaren, zwingenden Regelungsvorgaben ist deshalb mit Zurückhaltung zu begegnen. Das gilt insbesondere auch in Bezug auf Bewertungsmaßstäbe.

II. Überblick über die derzeitige Rechtslage im Erbschaftsteuerrecht 1. Die Grundproblematik Will man zumindest die Zielrichtung verfassungsmäßiger und zugleich wirtschafts- und gesellschaftspolitisch, also insgesamt rechtspolitisch vernünftiger Bewertungen festlegen, so ist es sinnvoll, zumindest überblicksweise das geltende Recht zu betrachten. Der Gesetzgeber hat bekanntlich im Rahmen der politischen Diskussion über eine Neuregelung der Vermögensteuer nicht zuletzt vor den Bewertungsproblemen kapituliert. Auch heute ist unter Fachleuten unbestritten, daß eine sachgerechte Bewertung, die laufend anzupassen wäre, allein im Immobilienbereich deutschlandweit mehrere tausend Beamte erforderte. Über Bewertungen kann man auch theoretisch sehr viel schreiben, vor einem verfassungsrechtlichen, einfach-(steuer)gesetzlichen bzw. steuersystematischen Hintergrund sowie aus einer betriebs- und volkswirtschaftlichen Betrachtungsweise heraus. Die praktisch bedeutsame Frage ist aber immer, wie bei einem einheitlichen Steuersatz eine Bewertung so gestaltet

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werden kann, daß sie nicht zu faktisch aus den Erträgen des zu besteuernden Vermögens nicht mehr bezahlbaren Steuerbelastungen führt. Solche können sich insbesondere bei nicht zur Einkünfteerzielung geeigneten oder tatsächlich nicht genutzten Vermögensgegenständen, wie etwa bei unbebauten, nicht vermietbaren Grundstücksflächen, bei Edelmetallen und Kunstsammlungen ergeben.13 Hier werden nun einmal keine Erträge erzielt, mit denen die Steuer bezahlt werden könnte. Steuerpflichtige, welche die Steuer nicht aus anderen Quellen oder aus sonstigem Vermögen bezahlen können, sind damit gezwungen, die Substanz zu veräußern. Ohne sich dieser Problematik zu stellen, hat der Gesetzgeber durch zum Teil niedrige und sehr unterschiedliche Bewertungen eine Rechtslage geschaffen, bei der die Vermögensteuer für die meisten betroffenen Steuerpflichtigen tatsächlich dann doch noch „bezahlbar" war. Die Bewertung war nichts anderes als eine verdeckte Lenkungsmaßnahme. Namentlich im Einkommensteuergesetz, dessen Vorschriften über § 8 Abs. 1 S. 1 KStG prinzipiell auch für die Körperschaftsteuer gelten, dienen Bewertungen bekanntlich vielfach dort, wo Wertschwankungen der Vermögenssubstanz zu berücksichtigen sind, wie stets bei Gewinneinkunftsarten und etwa in Form der AfA auch bei Überschußeinkunftsarten dazu, subventionistische Lenkungszwecke zu verwirklichen. Zwar besteht kein Zweifel, daß der Gesetzgeber von Verfassungs wegen lenken darf. 14 Insofern könnte man fragen, warum bei Steuern wie bei der Erbschaftsteuer die Verfolgung von Lenkungszwecken mit Hilfe der Bewertung verfassungsrechtlich nicht zulässig sein sollte. Mit dem Hinweis auf den einheitlichen Steuersatz läßt sich ein solches Lenkungsverbot gewiß nicht rechtfertigen, weil die Situation bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer insofern nicht anders ist. Wäre es etwa verfassungswidrig, wenn der Gesetzgeber im Wege der pauschalierten Bewertung des selbstgenutzten Einfamilienhauses bzw. der selbstgenutzten Eigentumswohnung sicherstellte, daß es auf Ehegatten und im Haus oder in der Wohnung mitwohnende, nahe Angehörige steuerfrei vererbt werden könnte? Muß dies zwingend durch einen Freibetrag geschehen? Die derzeit geltenden Freibeträge 15 reichen bekanntlich in großstädtischen Ballungsgebieten angesichts der hohen Immobilienpreise nicht aus, um einen steuerfreien Übergang auch nur mittelgroßer, selbstgenutzter Häuser oder Eigentumswohnungen zu erreichen.

13 Hier nützen auch die ohnehin recht verschwommenen Erwägungen des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts im Vermögensteuerbeschluß, BVerfGE 93, 121, 137 ff., nichts, wo das Gericht ausführt, daß die Vermögensteuer eine Sollertragsteuer sei. Hierzu und generell kritisch zur Rechtfertigung der Vermögensteuer K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. II, 1993, S. 771 ff. sowie S. III ff., 794 ff.; H. W. Arndt, in: Steuern auf Erbschaft und Vermögen, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, Bd. 22, 1999 (hrsg. von D. Birk), S. 25 ff.; D. Birk, ebenda, S. 7 ff. >4 BVerfG FR 2002, 391, 403; BVerfGE 93, 121, 147 f.; BVerfGE 84, 239, 274; BVerfGE 38, 61, 79 ff. 15 s. die Freibeträge in § 16 ErbStG und den besonderen Versorgungsfreibetrag in § 17 ErbStG.

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Die Diskussion um eine sachgerechte oder zumindest verfassungsmäßige Bewertung hat inzwischen eine solche Zahl an sogar grundlegend verschiedenen Ansichten hervorgebracht, daß die Gefahr besteht, der Zusammenhang zwischen den Bewertungsverfahren und -maßstäben einerseits und den Steuertarifen andererseits könnte verloren gehen. Ein solcher Zusammenhang ist auch bei einheitlichen Steuersätzen, wie die Vermögensteuer sie kennt, nicht von vornherein unproblematisch. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts im Beschluß zur Erbschaftsteuer vom 22. Juni 199516 scheint freilich eine verfassungsmäßige Besteuerung auch in den Fällen, in denen sich wie bei der Erbschaftsteuer die Steuersätze nach dem Verwandtschaftsgrad und nach der Größe des anfallenden Vermögenszuwachses richten, davon abzuhängen, daß „realitätsgerechte" Bemessungsgrundlagen für die einzelnen Wirtschaftsgüter gefunden werden. Unberücksichtigt blieb dabei insbesondere die dem Gesetzgeber auch vom Bundesverfassungsgericht nicht verwehrte Möglichkeit der unterschiedlichen Behandlung einzelner Vermögensgegenstände unter Lenkungsgesichtspunkten.17 Ungeachtet, ob man aus wissenschaftlichen Gründen ein möglichst lenkungsfreies Steuerrecht fordert oder die Lenkung als aus der deutschen Steuerwirklichkeit nicht wegzudenkende Realität betrachtet, muß es in jedem Fall dem Gesetzgeber überlassen bleiben, ob er seine Lenkungszwecke durch unterschiedliche Bewertungen, durch Freibeträge oder durch unterschiedliche Steuersätze erreicht. Dabei mag man die Richtigkeit der Aussage des Bundesverfassungsgerichts, der Gesetzgeber müsse für die Steuerintervention gesondert prüfen, ob er das Handlungsmittel der Besteuerung für außerfiskalische Zwecke einsetzen darf und will, 1 8 diskutieren. Nicht zu folgen ist dem Bundesverfassungsgericht aber darin, daß es ausgeschlossen sei, eine bei gleichbleibender gesetzlicher Regelung allein aufgrund veränderter tatsächlicher Verhältnisse bewirkte steuerliche Ungleichbehandlung damit zu rechtfertigen, daß der tatsächlich erreichte, vom Gesetzgeber aber so nicht beschlossene Belastungsunterschied legitime Lenkungszwecke erreichen könne. Denn dies liefe im Ergebnis darauf hinaus, daß eine sich im Laufe der Zeit ergebende steuerliche Ungleichbehandlung, welche der Gesetzgeber, um Lenkungszwecke zu verfolgen, billigend in Kauf nahm, jeweils durch eine entsprechende Gesetzesänderung gleichsam deklaratorisch hätte bestätigt werden müssen. Für die Verfassungsmäßigkeit genügte danach nicht ein objektiv vorhandener, in den gesetzgeberischen Willen aufgenommener Lenkungszweck. Vielmehr müßte der Gesetzgeber ihn jeweils zur Zeit des Gesetzeserlasses bewußt gehabt haben. Gerade bei der Bewertung im Bereich der Substanzsteuern muß die Frage erlaubt sein, ob es sich tatsächlich lohnt, etwa ertragloses Vermögen zunächst mit 16 BVerfGE 93, 165, 173. 17 BVerfGE 38, 61, 79 ff.; BVerfGE 84, 239, 274; aus der Literatur statt aller B. Welling/A. Richter, BB 2002, 2305, 2310; zur Zulässigkeit von Lenkungsnormen im Steuerrecht allgemein statt aller Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 1993, S. 361 (mit Darstellung der unterschiedlichen Meinungen), und Bd. II, 1993, S. 1058 ff. (zur Lenkungskompetenz). 18 BVerfGE 93, 121, 147.

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großem Aufwand „richtig" zu bewerten, um es hinterher eventuell von der Steuer freistellen zu müssen. Geradezu grotesk wäre ein Zwang zur präzisen Bewertung bei Vermögensgegenständen wie dem selbstgenutzten Haus und der selbstgenutzten Eigentumswohnung, die nach der Aussage des Bundesverfassungsgerichts im wesentlichen ohne bzw. ohne zu große Steuerbelastung vererbbar sein müssen.19

2. Gedanken zum Verständnis des Bewertungsverfahrens Die heute geltenden unterschiedlichen Bewertungsverfahren werden nur im historischen Kontext verständlich, der hier nur überblicksweise dargestellt wird. Das Bewertungsgesetz als solches ist entstanden aus der Idee einer Einheitsbewertung für die den Vermögensbestand belastenden Steuern. 20 Nachdem die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft worden ist, die Vermögensteuer nicht mehr erhoben wird und das Bundesverfassungsgericht wesentliche Teile der vormaligen Grundstücksbewertung für verfassungswidrig erklärt hat, gelten die sogenannten Einheitswerte, die gesondert festgestellt werden, nur noch für die Grundsteuer, nicht mehr jedoch für die Erbschaftsteuer. Auch die verbleibende Funktion als „Mantelgesetz"21 kann man heute durchaus anzweifeln. R. Seer wies denn auch zu Recht darauf hin, daß schon die Idee der Einheitswertbewertung nur hätte überzeugen können, wenn der Belastungsgrund und das Belastungsziel der davon betroffenen Steuern im wesentlichen vergleichbar gewesen wären und die Bewertungsobjekte, die von den jeweiligen einheitswertabhängigen Steuern erfaßt wurden, annäherungsweise vergleichbare Werte zugewiesen erhalten hätten.22 Die Erkenntnis, daß jeder im Steuerrecht zur Anwendung gelangende Wert seine Bedeutung nur im Zusammenhang mit dem jeweiligen Steuertatbestand erhält, geht schließlich bereits auf Albert Hensel zurück. 23 Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts hat in den Beschlüssen zur Vermögensteuer und Erbschaftsteuer 24 die in den konkreten Fällen einschlägigen, damals geltenden Bewertungen für verfassungswidrig erklärt. Es hat mit dem Obiter dictum, die Vermögensteuer dürfe zu den übrigen Steuern auf den Ertrag nur hinzutreten, soweit die steuerliche Gesamtbelastung des Sollertrages bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Ausgaben und sonstigen Entlastungen in der Nähe der hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibe, eine - realistisch betrachtet - recht vage Obergrenze gesetzt.25 Es zeigt sich 19 BVerfGE 93, 165, 174 f. 20 Hierzu R. Seer, in: Tipke /Lang, Steuerrecht, 17. Aufl. 2002, § 13 Rn. 1. 21 Hierzu R. Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 20), § 13 Rn. 6. 22 R. Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 20), § 13 Rn. 2, und der Hinweis auf H. Zitzelsberger, in: Festschrift für W. Ritter, 1997, S. 661, 662. 23 A. Hensel, Steuerrecht, 3. Aufl. 1933, S. 82. 24 BVerfGE 93, 121; BVerfGE 93, 165. 25 Selbst diese wird aber ζ. B. nach E. Böckenförde in seiner abweichenden Meinung, BVerfGE 93, 121, 157, abgelehnt.

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aber bei diesen Beschlüssen, ebenso wie beim mehrfach zitierten Vorlagebeschluß des 2. Senats des BFH vom 22. Mai 2002, 26 daß es relativ leicht fällt, Bewertungsmaßstäbe mit dem Verdikt der Gleichheitssatzwidrigkeit in Form des Verstoßes gegen das Gebot der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit zu belegen. Demgegenüber ist es sehr schwer, Bewertungsmaßstäbe zu entwickeln, die in der Praxis mit vertretbarem Verwaltungsaufwand vollzogen werden können und die den vom jeweiligen Gericht oder auch Autor selbst gestellten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Noch schwieriger wird es, wenn man berücksichtigt, daß die Verfassung auch im Steuerrecht nur eine äußerste Grenze setzt, weil das, was verfassungsgemäß ist, keinesfalls rechtspolitisch sinnvoll oder gar ökonomisch vernünftig sein muß. Kann es, so ist zu fragen, überhaupt eine Bewertung im Erbschaftsteuerrecht geben, die all diese Voraussetzungen erfüllt, also neben der Verfassungsmäßigkeit im Wege einer einfachen und vor allem verwaltungsmäßig kostengünstigen Regelung umgesetzt werden kann, des weiteren wirtschaftspolitisch vernünftig, steuerpolitisch gerecht sowie für den betroffenen Steuerpflichtigen tatsächlich aus den Erträgen bezahlbar ist und schließlich sogar noch sein Verständnis findet, damit Ausweichreaktionen unterbleiben. Einigkeit dürfte weitgehend darin bestehen, daß von diesem „Ideal" der derzeitige Rechtszustand bei den einzelnen Bewertungsarten mehr oder weniger weit entfernt ist.

3. Überblick über die derzeitigen Bewertungsmethoden Schon bei stichwortartiger Darstellung zeigt sich die Inhomogenität des heutigen Bewertungsrechts. Das Erbschaftsteuergesetz verfolgt ausweislich seines § 10 Abs. 1 bei der Wertermittlung das Ziel, den Wert des steuerpflichtigen Erwerbs zu ermitteln. So besteht auch in der Literatur Einigkeit, daß die deutsche Erbschaftsteuer eine Erbanfall Steuer darstellt, welche einen Erwerb beim Empfänger besteuert. 27 Mit dieser Aussage ist freilich wenig gewonnen; denn, ungeachtet wie hoch oder niedrig der steuerpflichtige Erwerb bewertungsmäßig angesetzt wird, eine hierauf erhobene Steuer führt stets zum Substanzverzehr, wenn sie nicht ausnahmsweise aus den (künftigen) Erträgen bezahlt werden kann. In Deutschland sind die Erträge des Vermögens allerdings selten so hoch, daß sie vor allem angesichts der hohen Belastung mit Ertragsteuern zur Begleichung einer auch nur moderaten Erbschaftsbesteuerung ausreichen würden. Der verfassungsrechtliche Schutz vor Substanzzugriff wird dadurch entwertet, daß offenbar auch nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die durch den Erbanfall eingetretene Bereicherung selbst in 26 BFH BStBl. II 2002, 598. 27 j. R Meincke, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, 13. Aufl. 2002, Einführung Rn. 1; R. Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 20), § 13 Rn. 103; ders., in: Steuern auf Erbschaft und Vermögen (Fn. 13), S. 191, 193 f.; ders., StuW 1997, 283, 284 f.; G. Crezelius, in: Festschrift für K. Tipke, 1995, S. 403, 404, alle jeweils m. w. N.

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den Fällen mit Steuern belastet werden darf, in denen das ererbte Vermögen nachweislich seiner Natur nach keine (positiven) Erträge abwerfen kann. All diese dargestellten Gesichtspunkte werden von dem heutigen, historisch aus verschiedenen Ansätzen kommenden Bewertungsrecht, weitgehend nicht berücksichtigt. Der 2. Senat des BFH hat dies in seinem Vorlagebeschluß vom 22. Mai 2002 im Einzelnen ausgeführt. 28 Grundlage der Bewertungen ist nach § 9 BewG der gemeine Wert, der gemäß § 12 Abs. 1 ErbStG auch für die Erbschaftsteuer gilt. Aufgrund der zahlreichen Ausnahmeregelungen gilt diese Regelbemessungsgrundlage allerdings nur noch für nicht zum Betriebsvermögen gehörende bewegliche Gegenstände, wie etwa Hausrat, Schmuck und Kunstgegenstände. Sie findet ferner für Anteile an Kapitalgesellschaften, bei denen ein Kurswert vorliegt oder die Ableitung aus stichtagsnahen Verkäufen möglich ist, §§ 11 Abs. 1 und Abs. 2 S. 2 BewG, für Investmentzertifikate, § 11 Abs. 4 BewG, für Kapitalforderungen und Schulden, § 12 BewG, sowie für nicht zum Betriebsvermögen gehörende Nutzungen und Leistungen, § 13 BewG, Anwendung. Demgegenüber gilt die Regelbewertung nicht für die bei den meisten Erbfällen quantitativ größten Vermögensteile, nämlich für privates Immobilienvermögen und auch nicht für Betriebsvermögen, § 12 Abs. 5 ErbStG i.V.m. §§ 95 ff. BewG, ebenso wenig für nicht notierte Anteile an Kapitalgesellschaften, § 12 Abs. 2 ErbStG i.V.m. § 11 Abs. 2 BewG, für landund forstwirtschaftliches Vermögen und für Betriebsgrundstücke, § 12 Abs. 3 ErbStG i.V.m. §§ 140 ff., 145 ff. BewG. 29 Auch gibt es für Betriebsvermögen, für land- und forstwirtschaftliches Vermögen und unter bestimmten Voraussetzungen für Anteile an inländischen Kapitalgesellschaften, wenn der Erblasser oder der Schenker zu mehr als einem Viertel unmittelbar beteiligt war, neben dem Freibetrag in Höhe von 256.000,- Euro, § 13a Abs. 1 ErbStG, den Bewertungsabschlag von 40 %, § 13a Abs. 2 ErbStG, und die Tarifbegrenzung, § 19a ErbStG. Sie führt dazu, daß die Besteuerung entsprechend Steuerklasse I erfolgt. Beim Betriebsvermögen hat der Gesetzgeber im Jahre 1992 im Wesentlichen die Übernahme der Steuerbilanzwerte für erbschaft- und schenkungsteuerliche Zwecke angeordnet, das bis dahin geltende System der Bewertung der Einzelwirtschaftsgüter aber beibehalten.30 Allerdings gelten seit 1. Januar 1996 für Betriebsgrundstücke die Einheitswerte nicht mehr, und auch die Buchwerte wurden nicht übernommen. Vielmehr kommen die für alle Grundstücke geltenden, sogenannten Bedarfswerte im Sinne von §§ 138 Abs. 3, 145 ff. BewG zur Anwendung. Nach bisherigen Erfahrungen liegen diese Werte deutlich über den früheren auf den 28 BFH BStBl. II 2002, 598 ff. 29 Zu Bewertungsverfahren beim Grundbesitz umfänglich z. B. W. Jakob, Möglichkeiten einer Vereinfachung der Bewertung des Grundbesitzes sowie Untersuchung einer befristeten Anwendung von differenzierten Zuschlägen zu den Einheitswerten, 1993; K. G. Loritz, DStR 1995, Beihefter zu Heft 8, 3 ff. 30

Die Regelung erfolgte durch das Steueränderungsgesetz 1992 - StÄndG 1992 - vom 25. Februar 1992, BGBl. I 1992, 297.

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1. Januar 1964 festgestellten Einheitswerten. Grundstücke werden, je nach Nutzungsart, nach unterschiedlichen Verfahren bewertet. Für unbebaute Grundstücke gilt ein typisierender Wert, der aus dem Verkehrswert in Form der Bodenrichtwerte bestimmt wird. Maßgeblich sind die Fläche und der um 20 % ermäßigte Bodenrichtwert, §§ 138 Abs. 1 S. 2, 145 Abs. 3 BewG. Für bebaute Grundstücke gilt ein spezielles Ertragswertverfahren, § 146 Abs. 2 BewG. Der Wert eines bebauten Grundstückes wird mit dem 12,5-fachen der für dieses im Durchschnitt der letzten drei Jahre vor dem Besteuerungszeitpunkt erzielten Jahresmiete, vermindert um die Wertminderung wegen des Alters des Gebäudes, angesetzt. Da hier wiederum zahlreiche Typisierungen und Ausnahmen angeordnet sind, kann es zu erheblichen Ungleichbewertungen kommen. Um wenigstens die schlimmsten Ausschläge nach „oben" zu vermeiden, steht es dem Steuerpflichtigen offen, einen niedrigeren als den nach den gesetzlichen Regeln ermittelten Grundstückswert nachzuweisen, der dann angesetzt werden muß, § 146 Abs. 7 BewG. Für Wohnungseigentum und Teileigentum gelten diese Bewertungsgrundsätze entsprechend, § 146 Abs. 8 BewG. Das land- und forstwirtschaftliche Vermögen unterliegt wieder anderen Bewertungsmaßstäben, §§140 ff. BewG. Da auch der Schuldenabzug in § 10 Abs. 5 und 6 ErbStG in verschiedenen Varianten geregelt ist, kann es hier zusätzlich zu unterschiedlichen Bewertungen bzw. zu einer durchaus erheblichen Modifizierung der Nachlaßbewertung kommen.

4. Die grundlegend verschiedenen Ansätze in der Literatur Nach alledem ist es nicht erstaunlich, daß in der Literatur keine Einigkeit auch nur über die grundlegenden Ansätze für eine sachgerechte Bewertung, ja nicht einmal über deren Zielrichtung, besteht.31 Symptomatisch hierfür sind auch die Vorträge und Diskussionsbeiträge bei der Tagung der Deutschen Steuerjuristischen Gesellschaft des Jahres 1998: Zur Rechtfertigung der Vermögensteuer gewann H. W. Arndt das klare Ergebnis, daß unter steuersystematischen Aspekten nur die durchgängige Nichtbesteuerung des Vermögens zu rechtfertigen sei. 32 Nach J. R Meinckes Auffassung kann die Erhebung der Erbschaftsteuer in einem Kernbereich, wenn sie Reinvermögenszugänge beim Erwerber nach Maßgabe des Erwerbs erfasse, „gut begründet" werden. Ginge es indes außerhalb dieses Kernbereichs um eine Besteuerung ohne Reinvermögenszugang, bestünden Bedenken gegen eine Rechtfertigung in der im 31

Hingewiesen sei stellvertretend für viele auf die grundlegende Abhandlung von K. Vogel, DStZ/A 1979, 28 ff.; s. a. die Beiträge in: Werte und Wertermittlung im Steuerrecht, Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft, 1984 (hrsg. von A. Raupach); P. Kirchhof, DStR 1984, 575 ff.; ders., Die Steuerwerte des Grundbesitzes, 1985, S. 17 ff.; neuerdings R Fischer, DB 2003, S. 9 ff., mit umfänglicher Darstellung des Meinungstandes. 32 H. W. Arndt, in: Steuern auf Erbschaft und Vermögen (Fn. 13), S. 25 ff., 37.

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Gesetz vorgesehenen Weise. ' Die besondere Problematik der Rechtfertigung der Vermögensbesteuerung aus verfassungsrechtlicher Sicht schließlich hat D. Birk mit einer Fülle von Argumenten veranschaulicht. 34 Zu Recht stellt er heraus, daß der Gesetzgeber die Vermögensleistungsfähigkeit nur sehr vergröbert messen könne. Von der Finanzverwaltung überprüfbare Angaben müßten sich wohl auf Geldvermögen und Grundstücke beschränken. Schmuck, Kunstgegenstände und andere private Sachgüter könnten sie hingegen nicht erfassen, was dazu führe, daß die Vermögensteuer immer nur annäherungsweise die vorhandene Leistungsfähigkeit erfassen könne. Bei der Bemessung sei deshalb Zurückhaltung geboten. Daher liege es nahe, für die Bemessung der Steuerlast auf den Gedanken der Sollertragsteuer zurückzugreifen, was wiederum das technische Mittel wäre, um zur Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes und damit zu einer maßvollen Steuerbelastung zu gelangen. Nichtsdestoweniger werde durch die Vermögensteuer nach ihrer Konzeption auf das Vermögen und nicht auf den Vermögensertrag zugegriffen. Wie diffus alle Systematisierungen des Verhältnisses der Erbschaft- zur Einkommen· und Körperschaftsteuer sind, haben G. Crezelius 35 und R. Meilinghoff 36 deutlich gemacht. Versteht man nämlich die Erbschaftsteuer als Steuer auf die Bereicherung, so kommt es zwangsläufig zu einer Doppelbelastung, insbesondere bei stillen Reserven, aber auch in anderen Fällen, wie etwa bei Renten und wiederkehrenden Bezügen.37 Nicht weniger Diskrepanzen als bei den Grundfragen über eine Rechtfertigung der Steuern bestehen hinsichtlich der Bewertungsansätze: So stellte etwa L. Osterloh dem herrschenden Verständnis des Ertragswerts die These entgegen, der enge Ertragswertbegriff verfehle die ökonomische Rationalität. Er füge sich nicht in den systematischen Zusammenhang einer an der Leistungsfähigkeit orientierten Besteuerung ein und zwar auch dann nicht, wenn man eine potentielle Vermögensteuer als Sollertragsteuer qualifiziere. Die theoretische Basis der herrschenden Meinung, wie sie mit den scheinbar korrelierenden Gegensatzpaaren Tauschwert / Gebrauchswert und Verkehrswert / Ertragswert entworfen wurde, sei mit dem herrschenden engen Begriff des Ertragswertes nicht vereinbar. Hinter dem Begriffspaar Ertragswert / Verkehrswert verberge sich der Gegensatz zwischen einem engen juristischen und einem weiten ökonomischen Begriff des Ertrags wertes. Der enge Ertragswert erweise sich als ungeeignet, die Werte unterschiedlicher Vermögensarten mit unterschiedlicher oder auch ohne Ertragskraft im engeren Sinne in ihrer Relation realitätsgerecht abzubilden. Allerdings sei der Verkehrswert bzw. der gemeine Wert im Sinne des § 9 BewG nicht der einzig „richtige" Wert, unabhängig vom jeweiligen Besteuerungszusammenhang. Abweichun33 J. Ρ Meincke, in: ebenda, S. 39 ff. 34 D. Birk, in: ebenda, S. 7 ff., insbes. S. 23 f. 35

G. Crezelius, in: ebenda, S. 73 ff. 36 R. Mellinghoff, in: ebenda, S. 127 ff. 37 Hierzu R. Meilinghoff, in: ebenda, S. 127, 160 ff.

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gen vom Verkehrswert, die lediglich bei einzelnen Vermögensarten, nicht aber bei anderen aufträten, stünden einer gleichmäßigen steuerlichen Belastung eines Ge38

samtvermögens entgegen. R. Seer fordert eine Vermeidung der doppelten Erfassung stiller Reserven in Betriebsvermögen beim Erwerber sowohl mit der Einkommen- als auch mit der Erbschaftsteuer. Um eine solche auszuschließen, sei der ertragsteuerliche Ansatz maßgebend. Der Grundsatz der Bestands- und Bewertungsidentität sollten daraufhin auf alle Wirtschaftsgüter ausgedehnt werden, deren stille Reserven einkommensteuerrechtlich verstrickt seien.39 Auch die aktuelle Diskussion um Bewertungen, die durch den Vorlagebeschluß des BFH vom 22. Mai 2002 ausgelöst wurde, läßt kaum eine einheitliche Linie erkennen. Einig sind sich die Autoren allenfalls darin, daß die Entscheidung, wie D. Birk dies ausdrückt, niemanden überrascht hat. 40 Die Beschlüsse des BFH vom 11. Januar 2002 und vom 22. Mai 2002 - im letzteren hat er ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 148 Abs. 1 S. 2 BewG, wonach der Wert eines Erbbaurechts über dessen gesamte Laufzeit gleichbleibend durch Abzug des Kapitalwerts der Erbbauzinsverpflichtung vom Grundstückswert zu ermitteln sei, geäußert 41 - haben in der Praxis große Unsicherheit erzeugt: D. Birk weist hier zu Recht darauf hin, daß ein besonderes Problem auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Gleichheitssatz liege, die dem Gesetzgeber unterschiedliche Grenzen, von einem bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an die Erfordernisse des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, setzten.42 Das Bundesverfassungsgericht habe sich nicht abstrakt festgelegt, wann die großzügige und wann die strenge Gleichheitsprüfung erfolgen müsse, sondern stelle auf die jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereiche ab. Da im Steuerrecht der Gesetzgeber an das Prinzip der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit gebunden sei, müsse er, wenn er bei der Auswahl des Steuergegenstandes von einem weiten Entscheidungsspielraum Gebrauch gemacht habe, bei der Ausgestaltung des steuerrechtlichen Ausgangstatbestands die einmal getroffene Belastungsentscheidung folgerichtig im Sinne der Belastungsgleichheit umsetzen. Damit bedürften Ausnahmen von einer folgerichtigen Umsetzung eines besonderen sachlichen Grundes. 43 Diese Formulierungen legten es, so D. Birk, nahe, Privilegierungen im Bereich der Erbschaftsteuer einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen, so daß die Rechtfertigungsschwelle hoch 38 L Osterloh, in: ebenda, S. 177, 181 ff. 39 R. Seen in: ebenda, S. 191, 197 ff. 40 D. Birk, FR 2002, 1071 ff. 41 BFH DStR 2002, 1217 = BFH/NV 2002, 1076; BFH/NV 2002, 790; hierzu D. Eisele, DStR 2002, 1654 ff.; D. Gebel, BB 2002, 2365 ff. 42 D. Birk, FR 2002, 1071, 1072 unter Hinweis auf BVerfGE 91, 389, 401; BVerfGE 99, 367, 388. 43 So auch BVerfG FR 2002, 391,407.

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sei. Es dürfte jedenfalls nicht ausreichen, die Belastungsunterschiede, wie dies das Bundesfinanzministerium im Verfahren vor dem BFH getan habe, mit dem bloßen Hinweis auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers zu rechtfertigen. 44 Angesichts der gestellten Anforderungen, daß einerseits das Gebrauchsvermögen einschließlich des Einfamilienhauses von der Erbschaftsbesteuerung im Falle des Übergangs auf nahe Angehörige freigestellt werden muß, 45 andererseits das Betriebsvermögen im Interesse der Erhaltung vor allem klein- und mittelständischer Unternehmen und der durch sie geschaffenen Arbeitsplätze so zu besteuern ist, daß der Betrieb tatsächlich vom Erwerber fortgeführt werden kann, stellt sich die Frage, was bei all diesen Vorgaben für Bewertung und Belastungsobergrenzen an Erbschaftsteuern noch erhoben werden kann. Diese Fragestellung ist insbesondere auch vor dem Hintergrund gerechtfertigt, daß es insgesamt nicht wiederum zu einer erheblichen Ungleichbehandlung zwischen den vorgenannten und weiteren zu „privilegierenden" Vermögensarten einerseits und dem übrigen Vermögen andererseits kommen soll 4 6 Die Erkenntnisse einer jahrzehntelangen literarischen Diskussion, aber auch der Rechtsprechung, wie denn eine wünschenswerte Bewertung ausgestaltet werden könnte, sind vielfältig, aber insgesamt unbefriedigend. Mag man für einzelne Vermögensarten noch zu einigermaßen befriedigenden Prinzipien und vielleicht sogar Ergebnissen gelangen,47 so wird dies bei einer alle Vermögensarten umfassenden Betrachtung mehr als schwierig. Dabei wird in der bisherigen Diskussion ein wesentlicher Aspekt, der vielleicht im Steuerrecht künftig mehr als bisher zu beachten ist, sogar noch unterdrückt, nämlich der der gleichmäßigen Erfaßbarkeit des zu bewertenden Vermögens. Das Bundesverfassungsgericht hat im Zinsbesteuerungsurteil vom 27. Juni 199148 die tatsächliche Erfassung von Besteuerungsgrundlagen als wesentliche Komponente der Steuergerechtigkeit herausgestellt und jedenfalls einen verfassungsrechtlichen Zwang zur gleichmäßigen Steuererhebung propagiert. 49 Dennoch wird die Zinsbesteuerung nach wie vor von der Literatur zum Teil als verfassungswidrig beurteilt. 50 Der Gesetzgeber muß also der Komponente 44 D. Birk, FR 2002, 1071, 1072. 45 Hierzu insoweit insbesondere Κ Offerhaus, DB 2002, 2064 f. 46 Interessant in diesem Zusammenhang die Fragestellung M. Elickers, „Darf der Steuerzugriff ein Unternehmen zahlungsunfähig machen?", StuW 2002, 217 ff., der dies zwar für die Ertragsteuern erörtert, dessen Ausführungen die Problematik im Falle einer Kumulierung der Belastung mit Ertragsteuern und Erbschaftsteuer aber besonders deutlich machen. 47 Wie schwierig dies ist, wurde vom Verfasser bereits zum Immobilienvermögen an anderer Stelle (DStR 1995, Beihefter zu Heft 8, 3 ff.) erörtert; s. ferner W. Jakob, Fn. 29. 48 BVerfGE 84, 239. 49 Der Gesetzgeber reagierte bekanntlich mit dem Zinsabschlaggesetz vom 9. November 1992, BGBl. I 1992, 1853. 50 So etwa J. Lang, in: Tipke /Lang (Fn. 20), § 9 Rn. 563; aus der weiteren Literatur s. R. U. Knist, Kapitalvermögen und Steuerhinterziehung, 1996, S. 42 ff., insbes. S. 47 ff.; H. J. Papier/ A. Dengler, BB 1996, 2541 ff.; a.A. M. Vogt/A. Kramer, DStZ 1999, 491 ff.; J. Wie-

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der Steuergerechtigkeit durch gleichmäßige Steuererhebung zwingend Rechnung tragen. Dieser Aspekt muß bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer ein zumindest ebenso großes Gewicht wie bei der Steuer auf Kapitalerträge haben, weil bei ersterer für den jeweiligen Steuerpflichtigen im Regelfall wesentlich größere Beträge und damit Steuerlasten auf dem Spiel stehen. Insgesamt, so bleibt festzuhalten, ist es bis heute offenbar weder dem Gesetzgeber noch der Literatur trotz aller Bemühungen gelungen, wenigstens eine in sich stimmige und homogene Zielrichtung einer Vermögensbewertung für die Erbschaft- und Schenkungsteuer zu finden.

III. Anforderungen an eine sachgerechte Zielsetzung der Bewertung Vor diesem Befund wäre es vermessen, zu glauben, es könnte gelingen, die Zielrichtungen der Bewertung sachgerecht und in sich konsistent zu formulieren. M.E. ist dies aufgrund der Vielzahl ganz unterschiedlicher Anforderungen unmöglich. Diese verschiedenen Vorgaben resultieren zum Teil aus den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, teilweise aus der Steuersystematik, vor allem aber aus den genannten rechtspolitischen Erwägungen, die hier bei weitem nicht abschließend beschrieben wurden. Versucht man, Zielsetzungen für eine Bewertung zu formulieren, so mag man bei oberflächlicher Betrachtung glauben, recht schnell einige elementare Erkenntnisse, gewissermaßen als Eckpfeiler, verankern zu können. Dazu könnte etwa der vom 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts im Beschluß zur Erbschaftsteuer aufgestellte Grundsatz gehören, ein Betrieb müsse von den Erben so weiter geführt werden können, daß sie ihn weder veräußern noch aufgeben müßten.51 Von Verfassungs wegen bestehe eine Verpflichtung, eine verminderte finanzielle Leistungsfähigkeit erbschaftsteuerrechtlich zu berücksichtigen, und zwar unabhängig von der verwandtschaftlichen Nähe zwischen Erblasser und Erben. 52 Dem liegt erkennbar die für Steuerrechtler selbstverständliche Trennung in Betriebsvermögen einerseits und Privatvermögen andererseits zu Grunde, die das Erbschaftsteuergesetz in den erwähnten §§ 13a, 19a übernommen hat. Tatsächlich ist diese vom Einkommensteuerrecht seit jeher vorgenommene Trennung im heutigen Wirtschaftsleben in vielen Fällen eher als „künstlich" zu bezeichnen. Sie zieht nämlich keine Grenze, welches Vermögen in der wirtschaftlichen Realität unternehmerisch investiert ist und als Kapital für unternehmerische Zwecke zur Verfügung steht und welches der privaten Geldanlage dient. So wird eine unternehmerische Investition in Form einer typisch stillen Beteiligung in der Hand einer Privatperson als privates Kapitalvermögen, das zu Einkünften aus Kapitalvermögen im Sinne des § 20 Abs. 1 Ziff. 4 EStG führt, qualifiziert mit der land, JZ 2000, 272 ff.; BFH BStBl. II 1997, 499; BFH BStBl. II 1999, 138, und, bezogen auf Veranlagungszeiträume vor 1993, BFH BStBl. II 2001, 16, die von der Verfassungsmäßigkeit der Zinsbesteuerung ausgehen. 51 BVerfGE 93, 165, 175 f. 52 BVerfGE 93, 165, 176.

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Folge, daß es keine erbschaftsteuerliche Privilegierung genießt. Demgegenüber wird ein in fast genau derselben Weise unternehmerisch investiertes Vermögen dann, wenn der Investor als Mitunternehmer im Sinne des § 15 Abs. 1 S. 1 Ziff. 2 EStG qualifiziert wird, zum Betriebsvermögen und genießt die steuerlichen Vorteile der §§ 13a, 19a ErbStG. Der Unterschied ist bei realistischer Betrachtung des Nutzens für die Volkswirtschaft nicht etwa ein qualitativer. Der typisch stille Gesellschafter trägt ebenso wie der atypisch stille Gesellschafter das volle Risiko des Kapitalverlustes im Falle der Insolvenz des Unternehmens. Sein Kapital kann sogar ebenso wie beim atypisch stillen Gesellschafter bei entsprechender vertraglicher Regelung durch laufende Verluste schwinden. Lediglich an den stillen Reserven ist er nicht beteiligt. 53 Warum, so muß man fragen, ist dann erbschaftsteuerrechtlich eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt? Wenn man, wie das Bundesverfassungsgericht, steuerliche Besserstellungen bei der Erbschaftsteuer auf Unternehmensvermögen wegen dessen gesellschaftspolitischer Funktionen verlangt, dann dürfen Abgrenzungen nicht anhand formaler, der Einkommensteuer entlehnter, Kriterien erfolgen. Vielmehr müssen sie die tatsächlichen Vorgänge sachgerecht erfassen. Privi legierende Vorgaben für unternehmerisch gebundenes Vermögen müssen dann an dessen tatsächlicher wirtschaftlicher Verwendung ansetzen. Die Privilegierung muß konsequenterweise auch Beteiligungen an Kapitalgesellschaften in Form von Aktien und GmbH-Anteilen ohne Rücksicht auf die Größe der Beteiligung am Nominalkapital sowie Investitionen in Investmentfonds, soweit sie ihrerseits in Unternehmen investieren, einschließen. Ein zweiter Eckpfeiler müßte in der realitätsgerechten Vermögenserfassung liegen. Gerade in diesem Bereich kann man theoretisch viel fordern, darf sich aber den Blick auf die Realitäten nicht verstellen: Will der Staat nicht noch mehr, als er dies heute schon ist, zum absoluten steuerlichen „Spitzelstaat" werden, so kommt man nicht um die Feststellung umhin, daß eine auch nur annähernd vollständige Erfassung aller Vermögenswerte im Erb- und Schenkungsfall schlichtweg unmöglich ist. Mit den im Entwurf des Steuervergünstigungsabbaugesetzes geplanten, lückenlosen Kontrollmitteilungspflichten der Banken kann man die dortigen Depots und Sparguthaben der in- und auch ausländischen Steuerpflichtigen erfassen. Weder lassen sich aber die ausländischen Vermögenswerte der der deutschen Erbschaftsbesteuerung unterliegenden Personen erkennen noch ist es möglich, deren privates Vermögen zu ermitteln, geschweige denn sachgerecht zu bewerten. Niemand wird ernstlich auf den Gedanken kommen, das Finanzamt müsse nach jedem Erbfall eine steuerliche Außenprüfung mit dem Zweck der Ermittlung aller privaten Vermögensgegenstände durchführen. 54 53

Zum Vergleich zwischen stiller und atypisch stiller Gesellschaft statt aller U. Blaurock, Handbuch der stillen Gesellschaft, 5. Aufl. 1998, Rn. 176 ff., S. 1190 ff. 54 Man könnte sich auch unschwer vorstellen, daß bei Inkrafttreten einer solchen Regelung die Steuerpflichtigen nach dem Tod eines Erblassers, soweit sie nicht steuerehrlich wären, 36*

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Ein klares Bekenntnis müßte jeder, der eine Bewertung in Höhe eines Verkehrswertes in Gestalt des potentiellen Veräußerungspreises verlangte, dahingehend ablegen, ob er - auch vor dem Hintergrund des Art. 14 GG 5 5 - dann nicht nur in Extremfällen, sondern in der Regel dem Erben die Veräußerung des Vermögens zur Begleichung der Steuerlast abverlangte. Insbesondere gilt dies beim Grundbesitz, der von wenigen Ausnahmen, wie etwa gut rentierlichen Einzelhandelsimmobilien, abgesehen, in Deutschland zumeist nur Erträge von wenigen Prozenten abwirft. Dem kann man nicht entgegenhalten, daß sich die Veräußerungspreise von Grundbesitz durchweg anhand der Erträge bemessen. Das trifft in vielen, aber bei weitem nicht in allen Fällen zu. Sollte sich z. B. für größeren Waldbesitz überhaupt ein Erwerber finden und wäre ein solcher bereit, einen nennenswerten Kaufpreis zu bezahlen, so handelte es sich um einen Liebhaberpreis. 56 Würden Einfamilienhäuser in der Größe von einigen Hundert Quadratmetern und einem Grundstück von einigen Tausend Quadratmetern in guten Lagen deutscher Großstädte mit den potentiellen Veräußerungspreisen bewertet und darauf die Erbschaftsteuern erhoben, so hätten die Erben im Falle der Vermietung solcher Anwesen keine Möglichkeit, die Steuerbelastung aus den Erträgen einer Vermietung zu begleichen. Die Veräußerung würde unausweichlich. Gleiches gilt selbst bei Aktien ertragreicher Unternehmen, da in Deutschland bekanntlich die Dividendenrenditen, vor allem in Haussephasen der Börsen, gering sind. Damit zeigt sich, daß schon die elementarsten Vorgaben für eine Bewertung, nämlich die Einhaltung der (auch vom Bundesverfassungsgericht festgelegten) verfassungsmäßigen Grenzen, die eine weitgehende Verschonung unternehmerisch investierten Vermögens, aber auch von Teilen des privaten Gebrauchsvermögens einschließlich des Immobilienvermögens und die realistische Möglichkeit der Bezahlung der Steuer aus künftigen Erträgen gebieten, kaum lösbare Schwierigkeiten bereiten. Zudem ist in Zeiten, in denen weiten Teilen der Bevölkerung die „Welt" auch für Vermögensanlagen offen steht, diese Möglichkeit die größte offene Flanke jeder Vermögensbesteuerung im Erbfall. Die daraus resultierende Ungerechtigkeit wird um so größer, je höher die Besteuerung des erfaßbaren Vermögens ist. Vor allem aber bestehen erhebliche Probleme, wenn eine Vermögensteuer in Form der Sollertragsteuer und die Erbschaftsteuer in Form einer Bereicherungsteuer, die an die Vermögensmehrung beim Empfänger anknüpft, ausgestaltet werden sollen. Verbindet man nämlich bei der Erbschaftsteuer mit dieser Qualifizierung das Postulat, die Steuer nur so festzusetzen, daß der Erbe prinzipiell von der Versogleich damit beginnen würden, die wertvollsten Gegenstände, wie Kunstgegenstände, Möbel, Schmuckstücke und dergleichen aus ihren Wohnungen bzw. Bankschließfächern zu entfernen und erst nach Abschluß der steuerlichen Prüfungen zurückzuholen. 55 Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen der Bewertung statt aller Löhle, Verfassungsrechtliche Gestaltungsspielräume und -grenzen bei der Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen, 2001; M. Fischer, DB 2003, 9, 10 ff. 56 Solche Liebhaberpreise bezahlt vielleicht noch derjenige, der Wald für eine Eigenjagd erwirbt.

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äußerung der Vermögenssubstanz verschont wird, dann wird eine solche Steuer zwangsläufig in noch größerem Umfang als heute aufkommensmäßig relativ bedeutungslos sein. Der Gesetzgeber könnte nämlich eine solche Verschonung entweder nur durch eine sehr „zurückhaltende" Bewertung des nicht liquiden Vermögens, insbesondere des Grundbesitzes und des unternehmerisch gebundenen Vermögens, erreichen, was nahezu zwangsläufig zu verfassungswidrigen, weil gleichheitssatzwidrigen Bewertungen führte. Auch Freibeträge hätten dieselbe Wirkung. Oder er müßte seine Steuersätze so weit absenken, daß die Steuer aus den vom Erben erzielbaren und ihm nach der Ertragsbesteuerung verbleibenden Erträgen beglichen werden könnte. Die Erbschaftsteuer würde damit nahezu automatisch zu einer Art zusätzlicher Einkommensteuer des Erben, was, wie zu zeigen ist, eine durchaus vernünftige Zielrichtung darstellen könnte. Damit zwangsläufig einhergehende niedrige Steuersätze würden zwar die Ungerechtigkeit in der fehlenden Erfaßbarkeit weiter Teile des Privatvermögens und des ausländischen Vermögens nicht vermeiden, jedoch tatsächlich erheblich in ihren Wirkungen verringern. Wer sich einem solchen Konzept verschließt und bei Erbschaftsteuersätzen, welche nicht deutlich niedriger als die heute geltenden wären, eine gleichmäßige Bewertung des übergegangenen Vermögens mit den Verkehrswerten in Gestalt potentieller Veräußerungspreise fordert, muß sich darüber im klaren sein, daß er den Erben zur Veräußerung durchaus beträchtlicher Teile seines Vermögens zwingt. Je höher die Steuerbelastung wegen der höheren Wertansätze der zu besteuernden Gegenstände wird, um so größer wird die Diskrepanz zur Belastung der von Verfassungs wegen zu privilegierenden Vermögensgegenstände wie solchen des privaten Gebrauchs- und des unternehmerisch gebundenen Vermögens. Da es in einem Staat mit einem freiheitlichen Wirtschaftssystem dem Einzelnen auch freistehen muß, welches Vermögen er einer unternehmerischen Bindung unterwirft, entsteht eine zusätzliche Ungerechtigkeit dadurch, daß durch entsprechende Gestaltungen die Zuführung von Privatvermögen zum unternehmerischen Vermögen und damit zur erbschaftsteuerlichen Privilegierung offensteht. Letztlich verbleibt damit das aus steuerrechtlicher Sicht ziemlich enttäuschende Ergebnis: Eine „gerechte", möglichst gleichmäßige Bewertung führt nicht dazu, daß auch die Besteuerung gerechter und gleichmäßiger würde. Sie wird bestenfalls systematisch korrekter.

IV. Brauchen wir eine Erbschaft- und Schenkungsteuer? Läßt man sich nicht von vermeintlichen Gerechtigkeitsüberlegungen beirren, die da lauten, es könne nicht angehen, daß jemand durch Erbschaft oder Schenkung steuerfrei Vermögen erbe, während derjenige besteuert werde, der sich etwas erarbeite, so muß man heute nüchtern die Frage nach dem Sinn und der Notwendigkeit der Erbschaftsteuer stellen. Dabei mag man sich vor Augen führen, daß die Erbschaft- und Schenkungsteuer kaum eine finanzwirtschaftliche Bedeutung hat und

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vom Steueraufkommen her eine Bagatellsteuer darstellt. Im Jahre 2001 trug sie zum Steueraufkommen der Bundesrepublik Deutschland nur ca. 0,63 % bei. 57 Dabei geht es nicht darum, wissenschaftlich vor praktischen Bewertungsschwierigkeiten zu kapitulieren. Vielmehr ergibt eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Bewertungsfragen, daß die Erbschaft- und Schenkungsteuer und noch viel mehr die Vermögensteuer im dritten Jahrtausend in der Bundesrepublik Deutschland von ihren Zwecken her nicht mehr gerechtfertigt sind. In Zeiten, in denen auch für kleine Vermögen die ausländischen Märkte zur Anlage offen stehen, kann man auch unter verfassungsrechtlichen Aspekten, vor allem aber im Hinblick auf die sonstigen Überlegungen, die Erfaßbarkeit von Besteuerungsgrundlagen nicht als Marginalie abtun, sondern muß sie als wesentlichen Eckpfeiler in die Überlegungen einbeziehen. Jedenfalls wenn man die Erbschaftsteuer und auch die Vermögensteuer nicht als Instrument zur Umverteilung verstehen will und auch nicht verstehen darf, kann sie sinnvollerweise nur eine „Bereicherungsteuer für den Erbfall" sein.58 Damit wäre sie eine bloße Ergänzung zur Einkommensteuer. Eine solche ist aber weder nötig noch wünschenswert und unter Gerechtigkeitsaspekten auch nicht geboten. Es darf nämlich nicht unerwähnt bleiben, daß in Zeiten, in denen mehr als 90 % der erwerbstätigen Bevölkerung Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beziehen, und im Falle des Todes Ehepartnern und unterhaltberechtigten Kindern Anwartschaften auf Renten oder Beamtenpensionen hinterlassen, auch hierin hohe Vermögenswerte liegen, die zwar nicht bei rechtlicher, aber bei wirtschaftlicher Betrachtung quasi „vererbt" werden. Diese Werte werden gerade durch die Erbschaftsteuer nicht erfaßt, was eine zusätzliche Ungerechtigkeit bedeutet. Würden die Vorgaben verwirklicht, die offenbar dem 2. Senat des Bundesfinanzhofs in seinem Vorlagebeschluß vorschweben, so müßte künftig der Gesetzgeber in einem ersten Schritt komplizierte Bewertungsverfahren und -methoden einführen, die zu einer möglichst gleichmäßigen Bewertung aller Vermögensgegenstände führen müßten. In einem nächsten Schritt müßte er, um verfassungsrechtlichen Geboten Rechnung zu tragen, durch Freibeträge oder Bewertungsabschläge privates Gebrauchsvermögen und unternehmerisch gebundenes Vermögen in größerem Umfang freistellen. In einem dritten Schritt müßte er, was bislang in der Diskussion vernachlässigt wurde, m.E. in realitätsgerechter Form berücksichtigen, daß erhebliche Teile des Privatvermögens und des ausländischen Vermögens tatsächlich nicht erfaßt werden können. Wie das Ergebnis einer Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte aussehen könnte, ist völlig offen. Schließlich müßten die Steuersätze auf den Prüfstand gestellt werden, sowohl unter dem Aspekt, inwieweit der Gesetzgeber tatsächlich die Substanzveräußerung verlangen kann und will, als 57

Nachweis aus http://www.destatis.de, Finanzen und Steuern, Kassenmäßige Steuereinnahmen. 58 So bereits R. Seer, in: Tipke/Lang (Fn. 20), § 13 Rn. 102 ff.; ders., in: Steuern auf Erbschaft und Vermögen (Fn. 13), S. 191, 193 ff.

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auch vor dem Hintergrund, daß Steuersätze in der derzeitigen Höhe gerade bei großen Vermögen die Kapitalflucht aus Deutschland fördern. Nähme man den Aspekt der realitätsgerechten Erfaßbarkeit wirklich ernst, so wären schon heute weite Teile des Erbschaftsteuerrechts aus diesem Grunde verfassungswidrig, es sei denn, man verschließt auch weiterhin die Augen davor, daß ein vielleicht nicht ganz zu vernachlässigender Teil der Steuerpflichtigen nicht immer steuerehrlich ist. Selbst wenn man sich vom Idealbild, falls es ein solches überhaupt gibt, einer Bewertung des der Erbschaftsbesteuerung unterliegenden Vermögens entfernt, bedeutete ihre Erhebung einen erheblichen Verwaltungsaufwand, der einen beträchtlichen Teil aller Steuereinnahmen aufzehren würde. Man denke nur daran, daß man die heute geltenden Steuerbilanzwerte bei der Erbschaftsteuer künftig durch eigens zu ermittelnde Werte ersetzen würde. Die einzig vernünftige rechtspolitische Vorgehensweise ist die Abschaffung der Erbschaft- und Schenkungsteuer. Hält man dies derzeit für politisch nicht durchsetzbar, so wäre als Kompromiß allenfalls ein Zuschlag auf die Einkommensteuer für die dem Erben aus der Erbschaft zufließenden Erträge zu erwägen. Ein derartiges Steuermodell wird in einzelnen Staaten wie Kanada, wenn auch in anderer Form, praktiziert. Selbstverständlich gibt es auch dann Ungerechtigkeiten und wäre die Problematik des ertragslosen Vermögens virulent. Zudem wäre eine solche Steuer mitunter „gestaltungsanfällig 44. Zumindest aber könnte sich der Gesetzgeber hierbei im Rahmen des bestehenden Systems der Einkommensbesteuerung bewegen, und die schwierige Aufgabe der Vermögensbewertung auf den Stichtag mit all den Ungerechtigkeiten, Friktionen und vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten entfiele.

V. Zusammenfassung Die Diskussion um die „richtige" Bewertung, insbesondere im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht zielt in den letzten Jahren auf die Herstellung einer möglichst gleichmäßigen Bewertung aller von der Steuer erfaßten Wirtschaftsgüter. Eine Bewertung kann indes nur dort wissenschaftlich seriös begründet werden, wo die Zielsetzung der Steuer, für deren Tatbestand sie Werte liefern soll, klar feststeht. Bei der Erbschaftsteuer ist das nicht der Fall. Die in Wissenschaft und Praxis genannten Zielsetzungen sind durchaus diffus. Fast hat man den Eindruck, so mancher Autor glaube, die Erbschaftsteuer rechtfertigen zu müssen, weil sie nun einmal immer existiert. Wenn überhaupt, so wäre die Erbschaftsteuer nach hier vertretener Ansicht allenfalls mit der Begründung zu rechtfertigen, es sei eine Zusatzbelastung auf solche Erträge aufzuerlegen, die aus einer nicht kraft eigener Leistung, sondern unentgeltlich durch Erbschaft oder Schenkung dem Steuerpflichtigen zustehenden Quelle stammen. Der verfassungsrechtlich verbleibende Spielraum einer solchen Steuer wäre bezüglich ihrer Höhe und damit bezüglich

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der aus ihr fließenden Einnahmen allerdings eher gering. Das Problem der Bewertung würde sich indes in der heute bestehenden Form nicht stellen; denn im Ertragsteuerrecht stellen sich Bewertungsfragen bekanntlich vor allem dort, wo keine in Zahlen bewerteten Einnahmen und Ausgaben vorliegen. Hier gibt es aber bereits jetzt Lösungen, mögen sie auch zum Teil unbefriedigend sein. Die Tatsache, daß eine solche Steuer unproblematisch erhoben werden könnte, gibt allerdings keine rechtspolitische Rechtfertigung. M.E. lohnt nämlich all der für eine sachgerechte erbschaftsteuerliche Bewertung erforderliche Aufwand nicht, vor allem, wenn man berücksichtigt, welchen wirtschaftspolitischen Schaden heute die deutsche Erbschaftsteuer verursacht. Steuerpflichtige mit mittleren und großen Vermögen meiden Deutschland und verlassen es sogar. Das Fazit ist einfach: Die Steuerrechtswissenschaft muß erkennen, daß es Steuern gibt, die sich „überleben". Die auch verfassungsrechtlich beste Lösung bei mancher Steuer ist ihre Abschaffung. Die nicht mehr erhobene Vermögensteuer ist dafür ein gutes Beispiel. Der Gesetzgeber sollte die Abschaffung bei der Erbschaftund Schenkungsteuer wagen.

VI. Europäisches, Internationales

Größere und kleinere Mitgliedstaaten in der Europäischen Union Von Thomas Oppermann

Persönliche Vorbemerkung Mit Walter Schmitt Glaeser verbindet mich seit Jahrzehnten gute Bekanntschaft, die längst in Freundschaft erwachsen ist. So bereitet es Freude, an dieser Ehrung mitwirken zu können. Unsere erste Begegnung ergab sich Ende der sechziger Jahre in Tübingen durch meine Berufung an die dortige Fakultät. In den Universitätswirren nach 1968 war es stets eine Wohltat, Menschen zu begegnen, die dem Aktionismus und der Hektik jener Zeit nicht erlagen. Mit seinem wohltemperierten bajuwarischen Naturell gehörte Walter Schmitt Glaeser dazu. Beeindruckend war, wie er sich schützend vor seinen Lehrer Günter Dürig stellte, dem die häßlichen Begleiterscheinungen der sogenannten „Kulturrevolution" innerlich mehr zusetzten, als er sich anmerken ließ. Später verfolgte ich aus der Ferne mit hohem Respekt den Aufbau der Bayreuther Universität und ihrer Juristischen Fakultät zu einer der erfolgreichen Neugründungen in der Bundesrepublik. Schmitt Glaesers maßgeblicher Anteil hieran ist bekannt. 1992 konnte ich mich persönlich davon überzeugen, als wir beide - gemeinsam mit Hartmut Maurer, Thomas Fleiner-Gerster und Wilfried Berg - die Staatsrechtslehrertagung in Bayreuth organisierten. Schmitt Glaesers Ansehen in der Universität und als Mitglied des Bayerischen Senats ebneten die Wege zu festlichen Tagen. Zwei Jahre später durfte ich ihm die Stafette im Vorsitz der Vereinigung übergeben, für die er zusammen mit Michael Kilian, Karl Korinek, Bernhard Raschauer und Hans-Peter Schneider die Staatsrechtslehrer 1994 zum ersten Mal in die neuen Bundesländer nach Halle und das Jahr darauf nach Wien führte. Neben manch anderen Begegnungen brachte uns eine glückliche Fügung 2001/2002 in Budapest ein weiteres Mal in enge Verbindung. Die drei „Donauländer" Baden-Württemberg, Bayern und Österreich hatten beschlossen, Ungarn auf seinem Wege in die Europäische Union durch Hilfe bei der Gründung einer deutschsprachigen Graduiertenhochschule in Budapest zu unterstützen. Sie wurde nach dem Außenminister der österreichisch-ungarischen Monarchie „AndrassyUniversität Budapest" benannt. Die Hilfe aus Deutschland und Österreich bedeutete neben finanziellen Zuwendungen Mitwirkung aus den Universitäten der drei Länder bei der Schaffung des Profils der neuen Einrichtung. Das schließlich vom

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Thomas Oppermann

Gründungssenat übernommene interdisziplinäre Konzept, junge Praktiker und Wissenschaftler aus Mittelosteuropa durch europäisch geprägte Vertiefungsstudien in Politik, Wirtschaft, Recht und Kultur auf die Mitgliedschaft in der EU vorzubereiten, trug wesentlich die Handschrift Schmitt Glaesers. Im Gründungssenat, in dem wir uns begegneten, wog seine Stimme besonders. Es muß Schmitt Glaeser mit Freude erfüllt haben, daß die Andrassy-Universität nach Überwindung der unvermeidlichen Probleme im postkommunistischen Ambiente Ende 2002 in Anwesenheit des Bundespräsidenten feierlich ihre Tore öffnete. Welchen Beitrag soll ich dem Freund im Rahmen dieser Festschrift widmen? Schmitt Glaesers Werk ist durch Zugehen auf das Konkrete gekennzeichnet. Mit dem souverän gehandhabten Instrumentarium juristischer Dogmatik und Methodik werden Rechtsfragen angegangen, die sich im realen Leben von Staat und Gesellschaft stellen. Bayerisch verwurzelt greift Schmitt Glaeser in alle wesentlichen Aspekte des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts in seiner grundgesetzlichen Prägung aus. Dabei geht es zugleich immer um Grundfragen und Leitprinzipien, ohne deren Mitbedenken die Lösung des Autors „Rechtstechnik" bliebe. Wesentliche Aspekte der Staatslehre, Demokratie, Rechtsstaat, Föderalismus und manches andere, schwingen wie selbstverständlich mit und dienen der Überzeugungskraft des Arguments. Unter diesen Umständen könnte das seit langem andauernde Ringen zwischen größeren und kleineren Mitgliedstaaten um ihre „gerechte" Position im Gefüge der Europäischen Union Schmitt Glaeser interessieren. Bei der Niederschrift dieser Zeilen spielt es sich im Europäischen Konvent ab, der 2002 / 2003 einen europäischen Verfassungsvertrag vorbereitet. Mit ihm soll sich die ab 2004 abzeichnende EU von 25 und mehr Mitgliedstaaten handlungsfähig erhalten und gleichzeitig besser demokratisch legitimiert werden. Unabhängig vom Ausgang des Verfassungskonvents und der nachfolgenden Regierungskonferenz wird die Suche nach dem tragfähigen Ausgleich zwischen dem Völkerrechtsgrundsatz der Gleichheit kleiner und großer Staaten und der bundesstaatlich-demokratischen Anerkennung demographischer und anderer tatsächlicher Unterschiede ein Dauerthema des europäischen Einigungswerkes bleiben.

I. Die beiden Legitimationsstränge der Europäischen Union Die politischen und literarischen Stellungnahmen zu Wesen und Rechtsnatur der in einem Halbjahrhundert Gemeinschaftsgeschichte seit 1950 entstandenen Europäischen Union sind mittlerweile Legion. Der „unvollendete Bundesstaat" Walter Hallsteins (1969) hat sich mehr und mehr als eine Zukunftsvision erwiesen, die wie eine Fata Morgana immer wieder in die Ferne rückt, je mehr man sich ihr zu nähern scheint. Auf der anderen Seite besteht heute weitgehend Einigkeit, daß es der Realität der „immer engeren Union der Völker Europas" (Art. 1 EU-Vertrag) nicht mehr entspricht, die supranationale Gemeinschaft unter die Internationalen

Größere und kleinere Mitgliedstaaten in der Europäischen Union

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Organisationen des Völkerrechts einzureihen, wie es der bedeutende Internationalist Ignaz Seidl-Hohenveldern noch 2000 getan hat. Juristische Phantasie bequemt sich notgedrungen dazu, die EU irgendwo „zwischen" die klassischen Pole Staatenbund und Bundesstaat einzureihen. Dafür werden verschiedene, teilweise schöne Vokabeln angeboten: „Gemeinschaft" (CarlFriedrich Ophüls), „Staatenverbund" (BVerfGE 89, 155 ff. „Maastricht"), „Vereintes Europa" (Präambel und Art. 23 Grundgesetz) oder eben die europaweit seit 1992 offizielle Benennung als „Europäische Union" (Art. 1 EU-Vertrag). Das Wort „Union", das nach allem Anschein auch für die künftige „Groß-Union" von Brest bis Brest-Litowsk und von Schottland bis Zypern gelten soll, empfängt dabei historische Patina in Erinnerung an die Begründung der nordamerikanischen Union 1776/1787. Im Europäischen Verfassungskonvent macht die Vorstellung von den „zwei Legitimationssträngen" der EU die Runde. Sein Präsident Valéry Giscard d'Estaing bedient sich gerne dieses Bildes. Woraus schöpft die EU ihre Existenz und Zukunft? Sie ist zum einen aus dem Willen der ursprünglich sechs, inzwischen fünfzehn und morgen mehr als 25 Staaten entstanden, ihre Politiken in der Wirtschaft und darüber hinaus zu bündeln. Wie weit geht dieser politische Wille? Ist man bereit, dem so entstandenen Geschöpf, der Gemeinschaft oder Union, allmählich die staatliche Souveränität zu überantworten? Zweifel sind angebracht. Grundlage der Union bleibt nach Vorstellung ihrer Gründer auch nach 2003 / 2004 ein völkerrechtlicher „Verfassungsvertrag", über dessen weiteres Schicksal die Mitgliedstaaten „Herren" bleiben möchten. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs (Art. 4 EUVertrag) und der (Minister)Rat der Gemeinschaft (Art. 202 EG-Vertrag) sind zusammen mit der im Kern völkerrechtlichen Vertragsänderung (Art. 48 EU-Vertrag) Ausdruck der Position der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge". Andererseits wächst allmählich ein integriertes Europa heran, das seine Legitimation nicht mehr aus der abgeleiteten Übertragung nationaler Gewalt gewinnt, sondern aus der unmittelbaren Zustimmung der europäischen Bürger und Völker. Hierfür steht ein Europäisches Parlament, das seine wachsenden Rechte seit 1979 aus den Europawahlen herleitet. Mit der Europäischen Kommission, dem Gerichtshof und der Europäischen Zentralbank sind weitere genuin europäische Institutionen geschaffen worden. Diese Organe der EU bilden ein Gegengewicht zur „Herrschaft" der Mitgliedstaaten. Das Bild von den „zwei Legitimationssträngen" der EU erscheint wirklichkeitsnah.

II. Die Mitgliedstaaten im europäischen Verfassungsgefüge Auch wenn man, wofür vieles spricht, die Erkenntnis von den zwei Legitimationssträngen der EU akzeptiert, bleiben die Mitgliedstaaten in diesem Zusammenhang kraft ihrer völkerrechtlichen „Ratifizierungsgewalt" bisher der Souverän. Sie tragen Verantwortung für die künftige Gestalt der Europäischen Union und ihrer

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Institutionen. Da auf der anderen Seite die „genuin europäischen" Institutionen (Parlament, Kommission usw.) in der Entwicklung der Union bereits eine respektable Position gewonnen haben, sind beide Seiten bei der Fortentwicklung der Union aufeinander angewiesen. Hieraus erklärt sich die bei der Einsetzung des Europäischen Verfassungskonvents 2002 zum zweiten Mal angewendete Methode, die Revision der Europaverträge von einem parlamentarisierten Gremium vorbereiten zu lassen, in dem das Europäische Parlament und die Kommission einen respektablen Platz einnehmen. Die Mitgliedstaaten behalten jedoch auf der anschließenden Regierungskonferenz das letzte Wort. Die EU-Staaten sind von höchst unterschiedlicher Größe und Gewicht. In der Union von 15 Mitgliedstaaten spannt sich der Bogen zwischen Deutschland mit ungefähr 80 Millionen Bürgern und Luxemburg mit 400.000. Deutsche Bundesländer wie Baden-Württemberg, Bayern oder Nordrhein Westfalen überragen nach Bevölkerungszahl und Bruttosozialprodukt bis auf Polen alle anderen Beitrittsstaaten von 2004. Nach der großen Erweiterung ist Malta mit weniger Einwohnern als Köln kleinster Mitgliedstaat. Legt man die Wirtschaftskraft zugrunde, ergeben sich ähnliche Diskrepanzen. Gleichzeitig ragen in der Union von 25 Staaten und 450 Millionen Bürgern ab 2004 sechs Mitglieder (Deutschland, England, Frankreich, Italien, Polen und Spanien) deutlich hervor. Sie verkörpern gute zwei Drittel der Unionsbevölkerung und des in der Union erwirtschafteten Bruttosozialproduktes. Darf die Verfassung der künftigen Union, die mit gemeinsamen Politiken und teilweise einer gemeinsamen Währung staatsähnliche Züge aufweist, an derartigen Fakten vorbeigehen? Sollte auch künftig das Referendum in einem Mitgliedsstaat wie Dänemark nach Maastricht 1992 oder Irland nach Nizza 2001 über das Wohl und Wehe der Zukunft der Union entscheiden dürfen?

III. Die „genuin europäischen" Organe: Staatengleichheit versus „reales Europa" Die Frage nach der angemessenen Gewichtung zwischen den Mitgliedstaaten stellt sich in besonderer Schärfe bei den „genuin europäischen" Organen mit politisch oder juristisch bedeutsamer Entscheidungsgewalt: Europäisches Parlament, Kommission, Europäische Zentralbank und Europäischer Gerichtshof.

7. Europäisches Parlament Für das Parlament hat das Prinzip der demokratischen Repräsentation spezifisches Gewicht. Hier ist seit dem Maastricht-Vertrag 1992 die demographische Komponente in einer schwierigen Kombination mit der Staatengleichheit bis zu einem gewissen Grade zum Tragen gebracht worden. Nach den Zahlen des NizzaVertrages 2001 spannt sich der Bogen zwischen 99 Abgeordneten für das bevölke-

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rungsreichste Deutschland, 72 gleichermaßen für England, Frankreich und Italien bis schließlich zu sechs luxemburgischen und fünf maltesischen Abgeordneten. Das Gewicht der Staatengleichheit bleibt gleichwohl erheblich. Ein deutscher Europaparlamentarier vertritt ungefähr 800.000 Bürger, sein luxemburger Kollege 70.000. Ein solches „Mischsystem" ist unvermeidlich, solange die EU Staatenunion und nicht Bundesstaat sein will.

2. Europäische Zentralbank und Kommission Im Zentrum des verfassungspolitischen Ringens um die institutionelle Struktur der „Groß-EU" ab 2004 stehen die Europäische Zentralbank und die Kommission. Dies ist alles andere als zufällig. Beide Einrichtungen greifen mit europäischer Gemeinschaftsgewalt ähnlich wie staatliche Entscheidungsträger unmittelbar in die mitgliedstaatliche Sphäre ein. Am deutlichsten wird dies an der Geldpolitik des EURO sichtbar, mit der die EZB täglich auf die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten und der in ihnen handelnden Wirtschaftssubjekte Einfluß nimmt. Aber auch die Kommission prägt durch ihr gesetzgeberisches Initiativmonopol bei aller Mitwirkung von Parlament und Rat maßgeblich eine europäische Normsetzung, der Mitgliedstaaten und Bürger anschließend unterworfen sind. Darüber hinaus kann die Kommission in bestimmten Bereichen wie im Wettbewerbsrecht als Exekutive unmittelbare Hoheitsgewalt über die Unternehmen und Individuen ausüben. Wie die Gemeinschaftsgewalt in diesen beiden Institutionen verteilt ist und wie daraufhin das von EZB und Kommission zu definierende europäische Gemeininteresse jeweils konkret aussieht, hängt aufs Engste mit der Zusammensetzung der Organe der EZB und Kommission zusammen. In der Union von 15 Mitgliedstaaten, die sich 2004 zunächst auf 25 erweitert, war eine tragfähige Balance zwischen den größeren und kleineren EU-Staaten gefunden worden. In der intern mit Mehrheit entscheidenden Kommission stellten die „Großen" (Deutschland, England, Frankreich, Italien und Spanien) mit jeweils zwei Kommissaren die Hälfte der 20 Mitglieder. Ähnlich sind die Gewichte innerhalb der Zentralbank in Frankfurt verteilt, wo sich unter den 18 Mitgliedern von Rat und Direktorium acht Mitglieder aus Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien befinden (Großbritannien nimmt an der Währungsunion bisher nicht teil). Mit der bevorstehenden Erweiterung auf 25 und möglicherweise bald 30 und mehr EU-Staaten stellt sich die Grundfrage neu, ob die bevölkerungsreicheren Mitglieder, zu denen nunmehr Polen gehören wird, aufgrund ihres demographischen und wirtschaftlichen Gewichtes ein Anrecht auf die Wahrung des bisherigen Status im größeren Kreise haben oder ob sie im Interesse besserer Repräsentanz der „Kleineren" hieran Abstriche hinnehmen sollten.

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a) Europäische Zentralbank Am weitesten ist diese unausweichliche Reformdiskussion bisher in der EZB gediehen, wo der Rat von derzeit 18 Mitgliedern (davon sechs aus dem Direktorium) je nach künftigen EURO-Beitritten auf bis zu 33 Mitglieder anwachsen kann. Eine solche Aufblähung würde nicht nur die praktische Handlungsfähigkeit des EZB-Rates bedrohen, sondern führte gleichzeitig dazu, daß beispielsweise ein Mitglied wie Deutschland als Staat mit der größten Volkswirtschaft im „Euroland", dessen Währung bis 1999 Stabilitätsanker des europäischen Binnenmarktes war, bei den EZB-Entscheidungen in eine ausgeprägte Minderheitenposition verwiesen wird. Nicht viel anders sähe es bei Frankreich, Italien und Spanien aus. Der EZBRat sucht dem mit dem Vorschlag einer künftigen „gewichteten Rotation" bei den Abstimmungen im Rat zu begegnen. Sobald mehr als 15 Mitglieder der Währungsunion beigetreten sind, sollen in einem nach künftigen Mitgliedschaften gestuften Verfahren „Stimmgruppen" gebildet werden. Dabei erhalten die fünf größten EZBLänder ein höheres Stimmgewicht als die übrigen. Ob mit einem solchen oder ähnlichen Modellen bereits dem Anspruch der großen Volkswirtschaften nach einem angemessenen Gewicht bei den geldpolitischen Entscheidungen der Bank entsprochen wird, bleibt umstritten. Von grundsätzlichem Interesse sind solche Überlegungen, weil hier in einem „vorbundesstaatlichen" Denken der Versuch unternommen wird, die Entscheidungsfindung der EZB an die Strukturen des „realen Europas" anzunähern. Wie die Erfahrung der amerikanischen Federal Reserve Bank lehrt, sind solche Strukturen einer an der Preisstabilität orientierten, kohärenten Geldpolitik förderlich.

b) Europäische Kommission Bei der europäischen Verfassungsreform im Konvent und daran anschließend kommt der Zusammensetzung der Kommission in der künftigen „Groß-EU" besondere Bedeutung zu. Solange die Kommission über das Initiativmonopol bei der europäischen Gesetzgebung verfügt, spielt sie eine Schlüsselrolle in der Fortentwicklung der Union. Umgekehrt gerät diese klassische Rolle als „Motor und ehrlicher Makler" (Walter Hallstein) in Gefahr, wenn sich wichtige Mitgliedstaaten im Kommissionsgremium nicht mehr angemessen vertreten fühlen. Außerdem ist bei der Kommission wie beim EZB-Rat absehbar, daß die Arbeitsfähigkeit jenseits einer bestimmten Mitgliederzahl leidet. Möglicherweise haben die kleineren EU-Staaten auf der Nizza-Konferenz 2001 einen fatalen Pyrrhus-Sieg errungen, als sie für das Nachfolgegremium der ProdiKommission ab 2004/2005 gegen die größeren Mitglieder das Prinzip ertrotzten, daß ab 21 EU-Staaten jeder über „seinen" Kommissar verfügen soll (Art. 4 des Erweiterungsprotokolls von Nizza). Im Gegensatz zu der bisher geltenden Regelung wird damit den sechs bevölkerungsreicheren Mitgliedern ein einseitiges Opfer

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auferlegt (Verzicht auf einen Kommissar). Sie werden damit in eine deutliche Minderheit innerhalb der künftigen Kommission versetzt. Dies kann sehr leicht zur Folge haben, daß die Akzeptanz von Vorschlägen aus einer solch „unrepräsentativen" Kommission abnimmt und daß die Berechtigung ihres Initiativmonopols zugunsten des Parlamentes und des Rates in Frage gestellt wird. Unter diesen Umständen stellt sich dem Verfassungskonvent und der anschließenden Regierungskonferenz die Aufgabe, eine „föderal" besser gewichtete Kommission in arbeitsfähiger Größenordnung zu entwickeln. Ansatzpunkt hierfür ist der in Nizza 2001 ebenfalls gefaßte Beschluß, daß die Kommission ab dem Beitritt des 27. Mitgliedstaates durch Einführung einer „gleichberechtigten Rotation" verkleinert werden soll. Hier bietet sich noch einmal die Chance der Rückkehr zu einer angemessenen Gewichtung zwischen den bevölkerungsreicheren und übrigen EU-Staaten. Am „Reißbrett" ist ein solches Modell leicht zu entwickeln. Es bestünde in der Zuweisung eines ständigen Sitzes innerhalb der Kommission an jeden der sechs größeren Mitgliedstaaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und Spanien). Die übrigen ungefähr 20 kleinen und mittleren EU-Mitglieder könnten in zwei gleichgroße Gruppen aufgeteilt werden. In jeder der beiden Gruppen würden die betreffenden Mitgliedstaaten während einer fünfjährigen Sitzungsperiode des Europäischen Parlamentes ein Kommissionsmitglied stellen. Denkbar wäre auch bereits ein Wechsel nach zweieinhalb Jahren zur Halbzeit der Sitzungsperiode. Alle kleinen und mittleren Staaten hätten damit die Garantie, in festen Abständen über eine eigene Vertretung in der Kommission zu verfügen. Zahlenmäßig entstünde eine arbeitsfähige Kommission von ungefähr 15 Mitgliedern (sechs ständigen und ungefähr zehn rotierenden). Es handelte sich um eine „gleichberechtigte" Rotation, bei der den größeren Staaten der endgültige Verzicht auf einen der bisherigen zwei Kommissare auferlegt würde, während die übrigen gewissermaßen von einem auf einen „halben Sitz" zurückgingen. Von Ferne erinnern solche Überlegungen an die Struktur des UN-Sicherheitsrates mit seinen ständigen und nichtständigen Mitgliedern. Im Gegensatz zu dort wäre es im Rahmen der gleichberechtigten europäischen Integration jedoch nicht denkbar, den ständigen Kommissionsmitgliedern besondere Rechte zu verleihen. Mit Rückblick auf den Kampf der kleineren Staaten auf der Nizza-Konferenz um „ihren" Kommissar dürfte der Widerstand aus diesen Reihen gegen ein solches Rotationsmodell beträchtlich sein. Dies gilt besonders für die Beitrittsstaaten, die zur „Eingewöhnung" in die Union besonderen Wert auf eine Vertretung in der Kommission legen. Andererseits ist gerade das Interesse der kleineren EU-Mitglieder an einer starken Kommission als Hüterin des europäischen Allgemeininteresses ausgeprägt. Möglicherweise setzt sich vielleicht doch noch die Einsicht durch, daß eine ungerechtfertigte Verkürzung der Repräsentanz der größeren EU-Staaten in der Kommission diese notwendig schwächen muß. Dies widerspräche nicht nur den Anliegen der „Kleinen", sondern zugleich dem Grundanliegen der EU-Verfas37 FS Schmitt Glaeser

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sungsreform, die erweiterte Union von 25 und mehr Mitgliedstaaten handlungsfähig zu halten. Vorschläge im Verfassungskonvent suchen den kleineren Mitgliedstaaten dadurch entgegenzukommen, daß der Kommissionspräsident eine handlungsfähige Zahl von Kommissaren (13-15) ohne feste nationale Zuordnung vorschlägt. Die so nicht berücksichtigten EU-Staaten stellen eine Art nicht stimmberechtigter „Junior-Kommission". 3. Gerichtshof Aus verschiedenen Gründen läßt sich das Prinzip der Staatengleichheit am Europäischen Gerichtshof (und gleichermaßen am Gericht erster Instanz) am ehesten ohne Abstriche verwirklichen. Wie bereits das Beispiel des Europäischen Menschengerichtshofes in Straßburg mit über 40 Richtern aus den einzelnen EMRKStaaten zeigt, schafft die gleichberechtigte und umfangreiche Besetzung eines überstaatlichen Gerichtes aus allen Mitgliedstaaten keine unüberwindlichen Probleme. Zum einen läßt die Verpflichtung der Richter zur Unparteilichkeit kaum Raum für überzeugende Forderungen nach besonderen Rechten für einzelne Mitgliedstaaten. Andererseits ist die Arbeitslast der europäischen Gerichtsbarkeit in den letzten Jahrzehnten derart angewachsen, daß der mit der Erhöhung der Zahl der Mitgliedstaaten einhergehende Zuwachs im Richterkollegium nur willkommen sein kann. Seit der in Nizza 2001 eingeschlagenen Gerichtsreform ist der Weg vorgezeichnet, wie durch eine Differenzierung der Spruchkörper innerhalb des Gerichtshofes demnächst 25 und mehr europäische Richter sich sinnvoll betätigen können. III. Zur Staatengewichtung im Rat: die Einführung des demographischen Faktors Seit den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft in den fünfziger Jahren gehörte zum Integrationsmodell der Verträge die Möglichkeit nach der Größe der Mitgliedstaaten unterschiedlich gewichteter Stimmabgabe im Rat. Das wichtigste Beispiel war die schon in den Römischen Verträgen von 1958 (Art. 148 EWG-Vertrag) vorgesehene qualifizierte Mehrheitsentscheidung, die ursprünglich für Deutschland, Frankreich und Italien je vier Stimmen vorsah, für Belgien und die Niederlande je zwei und für Luxemburg eine Stimme. Bestimmte Schutzregelungen, insbesondere das Vorschlagrecht der Kommission, verhinderten dabei eine einfache Überstimmung der Beneluxstaaten durch die drei „Großen". Durch alle seitherigen Vertragsänderungen in Verbindung mit dem Wachstum der Gemeinschaft und späteren Union von sechs auf heute 15 Mitgliedstaaten hindurch wurde an diesen Grundprinzipien bei der Berechnung der qualifizierten Mehrheit festgehalten. Mit der Zunahme der Zahl der Mitgliedstaaten stellt sich seit einiger Zeit das umgekehrte Problem eines „Schutzes der Großen", indem durch komplizierte „Schwellen" für die qualifizierte Mehrheit verhindert werden soll, daß große Mit-

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gliedstaaten durch ein disparates Bündnis einer größeren Zahl „Kleiner" die anderen bevölkerungsreichen Mitglieder überstimmen. Erstmals wurde hierfür in der Nizza-Konferenz als Schutzklausel für bevölkerungsreiche Mitgliedstaaten außer den „Schwellenwerten" ein demographischer Faktor in die Stimmengewichtung eingefühlt. Ab 2005 kann ein Ratsmitglied beantragen, daß bei einer Beschlußfassung mit qualifizierter Mehrheit überprüft wird, ob diese Mehrheit mindestens 62% der Gesamtbevölkerung der Union umfaßt (Erklärung zur Erweiterung der EU des Nizza-Vertrages, letzter Absatz). Inzwischen mehren sich im Verfassungskonvent und anderwärts die Stimmen, welche anstelle dieses überkomplizierten Nizza-Mechanismus sowohl für die einfache wie für die qualifizierte Mehrheit in der künftigen europäischen Verfassung „doppelte" Mehrheiten, das heißt sowohl der Zahl der Mitgliedstaaten als auch der EU-Bevölkerung für erforderlich und ausreichend erachten. Möglicherweise bahnt sich hier ein sowohl in der Öffentlichkeit verständlicher als auch unter europäisch-repräsentativen Gesichtspunkten für die Belange größerer und kleinerer EU-Staaten langfristig überzeugender Kompromiß an.

Schlußbemerkung: Von der Einstimmigkeit zur „superqualifizierten" Mehrheit? Schließlich haben die Erfahrungen in der Union zwischen Maastricht und Nizza Gefahren einer „Diktatur der Kleinen" in Fällen von Einstimmigkeitsentscheidungen aufgezeigt. Die Ratifikation des Maastricht-Vertrages nach 1992 geriet nach der Zustimmung aller übrigen Mitgliedstaaten durch ein zunächst negatives Referendum in Dänemark ebenso in Gefahr wie diejenige des Ni zza-Vertrages durch die Notwendigkeit der Zustimmung der irischen Bevölkerung. Auch diese wurde erst 2002 in einem „zweiten Anlauf mit Mühe erreicht. Die Norweger hatten bereits 1972 und 1994 zweimal von ihrer Regierung ausgehandelte Beitrittsverträge durch Referenden zu Fall gebracht. In der künftigen „Groß-EU" von 25 und mehr Mitgliedstaaten erhöhen sich die Gefahren aus solchen „Vetopositionen" eines einzelnen Mitgliedstaates bei grundlegenden Entscheidungen weiterhin. Ihnen könnte durch die Ersetzung der Einstimmigkeitsregel durch eine hohe „superqualifizierte" Mehrheit begegnet werden, welche die Ablehnung bisher einstimmig zu beschließender Rechtsakte durch einen oder zwei der kleinsten Mitgliedstaaten zu überwinden vermag. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß damit die Souveränität der betroffenen Mitgliedstaaten („Irland plus Malta") in wichtigen Fragen angetastet und in die Hände einer übergroßen Unionsmehrheit gelegt würde. Vermutlich stellt sich damit die Frage nach der Anerkennung eines ausdrücklichen Austrittsrechtes für die betroffenen Staaten. Damit würde die andere hier nicht mehr zu behandelnde Grundfrage der Union nach ihrer bündischen Auflösbarkeit oder bundesstaatlichen Ewigkeitsgarantie an unvermuteter Stelle neu aufgeworfen. 37*

Der Status der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union" Von Prodromos

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Der Status der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union" wird verschieden beurteilt. 1 Die Fakten sind dabei bekannt: Der Europäische Rat von Köln im Juni 1999 bejahte die Notwendigkeit einer Grundrechtscharta der Union und legte ihre Hauptlinien fest. 2 Vier Monate später setzte der Europäische Rat von Tampere die „Zusammensetzung und [das] Arbeitsverfahren des Gremiums zur Ausarbeitung des Entwurfs einer EG-Charta der Grundrechte" fest. 3 Das Gremium setzte sich schließlich aus je einem Beauftragten der 15 Staats- und Regierungschefs und je zwei Vertretern der 15 nationalen Parlamente (sowie je einem stellvertretenden Mitglied der jeweiligen Opposition), 16 Vertretern des Europäischen Parlaments sowie einem Beauftragten des Präsidenten der Europäischen Kommission, also insgesamt 62 Beauftragten zusammen. Dazu entsendeten der Europarat, der Europäi-

1 Zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union s. vor allem Siegbert Alber/Ulrich Widmeier, Die EU Charta und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2001, S. 497 ff.; Christian Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union - Fragen der Konzeption, Kompetenz und Verbindlichkeit, EuZW 2001, S. 157 ff.; Wolfgang Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, Integration 2001, S. 34 ff.; Christoph Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVB1. 2001, S. 1 ff.; Koen Lenaerts /Eddy Smijter, A «Bill of Rights» for the European Union, CMLR 2001, S. 273 ff.; Eckhard Pache, Die Europäische Grundrechtscharta - ein Rückschritt für den Grundrechtsschutz in Europa, EuR 2001, S. 476 ff.; Ingolf Pernice, Europäische Grundrechte-Charta und Konventionsverfahren. Zehn Thesen zum Prozeß der Europäischen Verfassung nach Nizza, Integration 2001, S. 194 ff.; Hans-Werner Rengeling, Die Europäische Charta der Grundrechte, in: Festschrift für Rauschning, 2001, S. 225 ff.; Dimitris Triantafyllou, The European Charter of Fundamental Rights and the «rule of law»: restricting fundamental rights by reference, CMLR 2002, S. 53 ff.; Albrecht Weber, Die Europäische Grundrechtscharta - auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung?, NJW 2000, S. 537 ff. Insbesondere zur Frage des Status der Charta s.: Andrea Iber, Der Status der Grundrechtscharta im Gemeinschaftsrecht: Derzeitige Verbindlichkeit und Zukunftsperspektiven der Charta - insbesondere im Verfassungskonvent, ZEuS 2002, S. 483 ff. Eine Materialiensammlung bieten: Norbert Bersdorf /Martin Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002 (dieselben kündigen zudem einen Kommentar zur Grundrechtscharta an). 2 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Köln, 3.-4. Juni 1999, Annex IV, abrufbar unter: http://db.consilium.eu.int/df/intro.asp?lang=de . 1 Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von 15.-16. Oktober 1999, Annex, abrufbar unter: http://db.consilium.eumt / df / intro.asp?lang=de.

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sehe Gerichtshof für Menschenrechte und der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften jeweils einen Vertreter als Beobachter. In seiner konstituierenden Sitzung am 17. Dezember 1999 entschied das Gremium (body, enceinte) durch Abstimmung unter anderem, sich in „Konvent (convention)" umzubenennen. Danach mied es der Konvent in seinen Sitzungen, durch Abstimmungen zu entscheiden. Er tagte aber immer öffentlich und seine Debatten waren über Medien und Internet zugänglich. Trotz der Vorlage von über tausend Stellungnahmen war der Entwurf bereits am 28. Juli 2000 abgeschlossen und wurde am 2. Oktober 2000 vom Konvent angenommen. Bereits während der verhältnismäßig kurzen Debatten über die Charta wurde jedoch eine stets wachsende Opposition einiger Mitgliedstaaten sowie Kritik in der Wissenschaft bemerkbar, die sich gegen die Konventsmethode sowie das Konzept und den Inhalt der Grundrechtscharta richteten. Bei einer längeren Vorbereitungszeit wäre diese Opposition wahrscheinlich noch viel breiter und stärker geworden. Die rasche Folge der Verhandlungen und die Vermeidung von Abstimmungen hielt die Konflikte in Grenzen und ermöglichte die einmütige Annahme durch den Konvent.4 So wurde die Charta am 7. Dezember 2000 im Rahmen des Nizza-Gipfels vom Europäischen Rat, dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission feierlich proklamiert. Als aber der Vertrag von Nizza am 26. Februar 2001 unterzeichnet wurde, enthielt er die Charta nicht. Die Charta ist damit nicht Bestandsteil des Nizza-Vertrags. Die Charta ist auch nicht selbständig von den Mitgliedstaaten vertraglich vereinbart worden. Mit Recht ist bemerkt worden, daß das Konventsverfahren für die Erarbeitung der Grundrechtscharta das Vertragsre visions verfahren nach Art. 48 EGV ergänzen oder vorbereiten, nicht aber ersetzen kann.5 Gleiches gilt für die oben erwähnte feierliche Proklamation der Charta durch Unionsorgane auf der Regierungskonferenz von Nizza.6 Als eine gemeinsame Erklärung von Europäischem Parlament, Rat und Kommission ist die Grundrechtscharta mit der gemeinsamen Grundrechtserklärung vom 5. April 1977 vergleichbar und damit nicht unmittelbar verbindlich. 7 Die Proklamation hat der Grundrechtscharta lediglich politische Wirkung verliehen.8 Eine Einigung der Mitgliedstaaten für die rechtlich verbindliche 4

s. Dix, Grundrechtscharta und Konvent (Fn. 1), S. 38 f.: „[Abstimmungen] konnten jedoch im Interesse eines möglichst breit legitimierten Ergebnisses bis zuletzt vermieden werden. Überdies hätte ein Ergebnis, das unter den Regierungsbeauftragten im Konvent streitig geblieben wäre, die Kontroverse in den Rat verlagert und wegen der dort erforderlichen Einstimmigkeit den Erfolg des Konvents in Frage gestellt." 5 s. Pernice, Europäische Grundrechte-Charta und Konventionsverfahren (Fn. 1), S. 194, 196. 6 s. Pache, Die Europäische Grundrechtscharta (Fn. 1), S. 485; Rudolf Streinz, Europarecht, 5. Aufl. 2001, Rn. 358a (S. 133). 7 s. Bengt Beutler/Roland Bieber/Jörn Pipkorn/Jochen Streil, Die Europäische Union Rechtsordnung und Politik, 5. Aufl. 2001, Rn. 641 (S. 353). 8 Iber, Status der Grundrechtscharta im Gemeinschaftsrecht (Fn. 1), S. 487.

Der Status der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union"

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Annahme der Grundrechtscharta war einfach nicht zu erreichen. Zumindest das Vereinigte Königreich und Dänemark waren dagegen. Die Charta blieb also aus dem Vertrags werk von Nizza ausgeschlossen. Der Grund der Opposition war selbstverständlich nicht die Ablehnung der Grundrechtserklärung als solche. Er bezog sich vielmehr zum einen auf die starken Zweifel an dem Bedürfnis nach einer neuen, neben der Europäischen Menschenrechtskonvention geltenden Grundrechtscharta und auf die Gefahr von substantiellen und justiziellen Konflikten zwischen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Zum anderen war die Rechtsqualität der Charta zu streitig, um ihre Annahme trotz des Bestehens der Europäischen Menschenrechtskonvention zu rechtfertigen. Ebenso streitig war die demokratische Legitimation der Konstituierung und des Arbeitsverfahrens des Konvents. Vor allem aber wurde die verbindliche Annahme der Grundrechtscharta als ein wichtiger historischer Schritt zur Konstitutionalisierung und Föderalisierung der Europäischen Union betont - eine Entwicklung, die in verschiedenen Mitgliedstaaten auf starken Widerstand stößt. So konnte die durch den Konvent ausgearbeitete Grundrechtscharta nicht in das Vertragswerk von Nizza aufgenommen werden. Die Charta bleibt sicherlich eine bedeutende (wenn auch wegen des rasanten Verhandlungsgangs und der systematischen Vermeidung von Abstimmungen nicht immer zuverlässige) Informationsquelle über die den Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundrechtsvorstellungen. Sie hätte diese Bedeutung beibehalten, selbst wenn dem Vertrag von Nizza die Zustimmung versagt geblieben wäre. 9 Man darf aber nicht aus den Augen verlieren, daß die Charta nicht als Bestandteil des Vertrags von Nizza von der Regierungskonferenz angenommen worden ist. Die feierliche Annahme änderte nichts daran; sie war allein eine politische Handlung, ohne jegliche rechtliche Wirkung. Trotzdem gibt es Autoren, die von einer weitgehenden Verbindlichkeit ausgehen.10 Vor allem spricht man allenthalben nicht von einem „Entwurf einer Charta", sondern einfach von der „Charta", als hätte die Proklamation der Charta Rechtsgültigkeit verliehen. Der Vertrag von Nizza, der nun nach dem positiven Ergebnis der Irischen Volksabstimmung vom Oktober 2002 von sämtlichen nationalen Parlamenten bereits ratifiziert worden ist, enthält die Grundrechtscharta nicht. Der Status (und der endgültige Inhalt) der Grundrechtscharta wird erst durch die bereits angekündigte Gipfelkonferenz von 2004 behandelt.11 Bemerkenswert ist es aber, daß diese aus dem 9 Vgl. Pernice, Europäische Grundrechte-Charta und Konventionsverfahren (Fn. 1), S. 194. 10 s. Lenaerts /de Smijter, «Bill of Rights» for the European Union (Fn. 1), 10.3.1.; Grabenwarter schreibt der Grundrechtscharta Rechtserheblichkeit zu, da ihr nach dem Vorbild der gemeinsamen Grundrechtserklärung vom 5. April 1977 die Rolle einer quasiauthentischen Interpretation der Verträge und „daher eine wenigstens weiche, normative Wirkung" zukomme (DVB1. 2001, Fn. 1, S. 11). 11 s. die von der Konferenz von Nizza angenommene Erklärung Nr. 23 (Erklärung zur Zukunft der Union), Nr. 5 und 7.

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Prodromos Dagtoglou

Text des Vertrags von Nizza ausgeschlossene und auf zukünftige Verhandlungen verwiesene Grundrechtscharta mancherorts eine gewisse „Vor-Geltung" zu beanspruchen scheint. Die oben erwähnte rechtlich unverbindliche Proklamation wird als „Vorstufe zur vertraglichen Regelung4' betrachtet. 12 Diese feierliche Annahme genüge sogar, „um [die Grundrechtscharta] als Referenz für den Gerichtshof bei der Feststellung allgemeiner Rechtsgrundsätze zum effektiven Grundrechtsschutz gemäß Art. 6 Abs. 2 EUV zu legitimieren". 13 Der Gerichthof selbst hat die Charta noch nicht zitiert, 14 wohl aber haben Generalanwälte des Gerichthofs mehrmals auf die Grundrechtscharta verwiesen. 15 Ähnliche Verweise finden sich auch in der Rechtsprechung von nationalen Gerichten. So verweist der Beschluß des spanischen Verfassungsgerichts zum Datenschutz vom 1. November 2000 auf Art. 8 der Charta. 16 Diese Verweise erkennen also eine Art „Vorwirkung" der Grundrechtscharta an, obwohl die Charta noch nicht ratifiziert ist, ja nicht einmal zur Ratifikation den nationalen Parlamenten vorliegt. Wie ist aber diese Wirkung auf Kredit rechtlich zu begründen? Und wie weit kann sich der Jurist von seiner (politischen) Überzeugung über die gegenwärtige Notwendigkeit der Konstitutionalisierung der Europäischen Union bei der Beurteilung des Status der Grundrechtscharta leiten lassen? Gerade im Bereich des Europarechts kommen manchmal Fälle vor, in denen juristische Autoren allgemein anerkannte rechtliche Gesichtspunkte als legalistischen Formalismus, der dem Ruf der Zeit nicht gerecht wird, abtun und mit dem Eifer eines Missionars argumentieren. Die Diskussion um die Charta der Grundrechte der Europäischen Union erinnert immer wieder daran.

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Dix , Grundrechtscharta und Konvent (Fn. 1), S. 35. Pernice, Europäische Grundrechte-Charta und Konventionsverfahren (Fn. 1), S. 195. 14 Zwar könne die gemeinsame Grundrechtserklärung vom 5. April 1977 nach Auffassung des EuGH Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen seien (vgl. EuGH Rs. 4/79-Hauer, Slg. 1979, S. 3727 ff., Rn. 15; Rs. 222/ 84-Johnston, Slg. 1986, S. 1651 ff., Rn. 18). Bezüglich der Grundrechtscharta hat sich der EuGH aber ähnlicher Äußerungen enthalten. Nur das Gericht Erster Instanz hat die Grundrechtscharta erwähnt (vgl. Rs. T-l 12/98-Mannesmannröhren-Werke AG, Slg. 2001, S. 11-729 ff.; Rs. T-54/99-max.mobil, Slg. 2002, S. 11-313 ff.). 13

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So verweist Generalanwalt Alber in seinen Schlußanträgen zur Rs. C-340/99-NT Traco, Slg. 2001, S. 1-4109, 4112, Rn. 94, zur Bedeutung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse auf Art. 34 der Charta; Generalanwalt Tiziano begründet in seinen Schlußanträgen zur Rs. C-173/99-BECTU, Slg. 2001, S. 1-4881, 4883, Rn. 26 ff., sogar das Recht auf bezahlten Urlaub als Grundrecht ausführlich unter Verweis auf Art. 31 Abs. 2 und die Präambel der Charta (vgl. Pernice, Europäische Grundrechte-Charta und Konventions verfahren, Fn. 1, S. 195). Für weitere Verweise s. Iber, Status der Grundrechtscharta im Gemeinschaftsrecht (Fn. 1), S. 489. •6 Abrufbar unter http://www.tribunalconstitucional.es / STC2000 / STC-292.htm, Beschluß STC 292/2000 vom 30. 11. 2000, Ziff. II.8 (vgl. Pernice, Europäische Grundrechte-Charta und Konventionsverfahren, Fn. 1, S. 195).

Der Schutz der Grundrechte in den Verfassungen Ostmitteleuropas Von Klaus Stern*

I. Die Bedeutung der Grundrechte für Ostmitteleuropa Während Grundrechtsthemen in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine nie ermüdende Konjunktur hatten, vor allem auch unseren Jubilar vielfach beschäftigten, 1 wird dem Schutz der Grundrechte in den ostmitteleuropäischen Staaten erst seit der „Wende" zu Ende der achtziger Jahre größere Aufmerksamkeit in der verfassungsvergleichenden Betrachtung gewidmet. Im Zuge des tiefgreifenden Systemwechsels nach dem Zusammenbruch der kommunistischen und sozialistischen Einparteienstaaten haben sich alle ostmitteleuropäischen Staaten neue Verfassungen gegeben oder doch ihre alten Verfassungstexte grundlegenden Revisionen unterzogen und sich damit auf den langen Weg in einen gemeinsamen europäischen Verfassungsraum begeben. Diese Entwicklung läßt sich nicht zuletzt auch mit dem Wunsch nach einer baldigen Osterweiterung der Europäischen Union 2 sowie durch die zahlreichen neuen Mitgliedschaften im Europarat dokumentieren. Die „Rückkehr nach Europa" von Polen, Ungarn, der Tschechischen und der Slowakischen Republik, Slowenien, Kroatien sowie der baltischen Staaten kommt, unter Anschluß an europäisch-atlantische Verfassungstraditionen, durch das Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und freiheitlicher Demokratie zum Ausdruck und hat vor allem auch zur Verankerung von zahlreichen Grundrechten in den neuen Verfassungen der Länder geführt. Dem erfolgreichen Menschen- und Grundrechtsschutz * Wesentliche Teile diese Beitrages wurden in französischer Sprache veröffentlicht in: „Les droits individuels et le juge en Europe" - Mélanges en L'honneur de Michel Fromont, Presses universitäres de Strasbourg, 2001. 1 s. etwa bereits die Habilitationsschrift „Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf', 1968; ferner vor allem „Das elterliche Erziehungsrecht in staatlicher Reglementierung", 1980; „Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung", in: HStR II, § 31 ; „Schutz der Privatsphäre", in: HStR V, § 129; „Meinungsfreiheit, Ehrenschutz und Toleranzgebot", NJW 1996, 873. 2 Vgl. zu den mit der Osterweiterung der Europäischen Union verbundenen Problemen der ostmitteleuropäischen Beitrittsländer die verschiedenen Länderberichte in K. Stern, (Hrsg.), Zukunftsprobleme der Europäischen Union - Erweiterung nach Osten oder Vertiefung oder beides?, Schriften des Rechtszentrums für Europäische und Internationale Zusammenarbeit (R.I.Z.), Bd. 7, 1998.

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kommt eine zentrale Bedeutung im gegenwärtigen Transformationsprozeß Ostmitteleuropas zu, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es gerade die von politischer Verfolgung und massiven Menschenrechtsverletzungen geprägte Vergangenheit dieser Staaten war, die zu den gesellschaftlich-politischen Umwälzungen geführt hat, aus denen schließlich die neuen Verfassungsordnungen hervorgegangen sind. Nach einem Wort V. Havels ist die „Anerkennung der Menschenrechte ( . . . ) die grundlegende Bedingung und die einzige wirkliche Garantie des wahren Friedens".3 Um ihren hohen Rang zu betonen, wurden die ausführlichen Grundrechtskataloge in der Regel - nach deutschem Vorbild 4 - an die Spitze der neuen Verfassungen gestellt und durch eine institutionell eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit geschützt. Im Bereich des Individualrechtsschutzes beruht der Reformprozeß der ostmitteleuropäischen Länder zu modernen Verfassungsstaaten allerdings nicht auf den verfassungstextlich garantierten Grundrechten - schon die kommunistischen bzw. sozialistischen Verfassungen enthielten bekanntlich umfangreiche Grundrechtskataloge - als vielmehr auch auf einem fundamental gewandelten Grundrechtsverständnis. Standen dem Einzelnen nach sozialistischem Grundrechtsverständnis die Grundrechte nicht schon kraft seines Menschseins, sondern erst kraft staatlicher Verleihung für seine Eigenschaft als Teil des gesellschaftlichen Kollektivs zu, und wurde hiernach die Funktion der Grundrechte, in Abgrenzung zum individualistischen Grundrechts Verständnis bürgerlich-rechtsstaatlicher Tradition, nicht vorrangig in der Abwehr staatlicher Eingriffe in den Bereich persönlicher Freiheit 5, sondern vielmehr in der Gewährleistung von „Mitwirkungs-, Beteiligungs- und Anteilsrechten" 6 gesehen, so anerkennen die neuen Verfassungen in Ostmitteleuropa nunmehr expressis verbis angeborene und unentziehbare Menschen- und Grundrechte.7 Die Garantie der individuellen Freiheit bedeutet daher nicht nur die Freiheit im und zum Staat, sondern vielmehr auch die Freiheit vom Staat.8 In dieser 3 Zitiert nach T. G. Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas 1980- 1990, 2. Aufl. 1993, S. 181. 4 s. hierzu auch K. Stern, Ausstrahlungswirkung des Grundgesetzes auf ausländische Verfassungen, in: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Bewährung und Herausforderung Die Verfassung vor der Zukunft, Dokumentation zum Verfassungskongreß 50 Jahre Grundgesetz/50 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 1999, S. 249. 5 Vgl. hierzu Κ Stern/M. Sachs, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III /1, 1988, § 66; J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR V, § 111. 6 E.-W. Böckenförde, Die Rechtsauffassung im kommunistischen Staat, 1967, S. 45. 7 s. zum sozialistischen Grundrechtsverständnis statt vieler den Bericht der Unabhängigen Wissenschaftlerkommission „Menschenrechte in den Staaten des Warschauer Paktes", zusammengefaßt von G. Brunner, 1988; zum Transformationsprozeß umfassend m. w. N. W. Kahl, Das Grundrechts Verständnis der postsozialistischen Verfassungen Osteuropas - Eine Studie am Beispiel von Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei und Russland, 1994, sowie Ewa Letiwska, Liberal Concept of Human Rights in Central and Eastern Europe, Warsaw, Institute of Public Affairs, 1998. 8 Vgl. Κ Westen, Die sozialistischen Rechtsordnungen, in: G. Grasmann (Hrsg.), Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart: Auf der Grundlage von ,Les grands systè-

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Weise haben sich die ostmitteleuropäischen Länder 9 der von den Vereinigten Staaten von Amerika und insbesondere von Frankreich ausgehenden naturrechtlichen Tradition angeschlossen, nach der die fundamentalen Rechte des Menschen nicht erst vom Staat verliehen werden, sondern „droits naturels, inaliénables et sacrés" 10 sind. Walter Schmitt Glaeser, der sich vielfältig um den Grundrechtsschutz verdient gemacht hat, mit einem Beitrag über den Schutz der Grundrechte in wichtigen Verfassungen der in die europäische Verfassungsgemeinschaft zurückgekehrten ostmitteleuropäischen Staaten zu ehren, wird deshalb seinem herausragenden wissenschaftlichen Wirken und nicht zuletzt auch seiner engagierten politischen Tätigkeit im Bayerischen Senat in besonderem Maße gerecht, zumal er sich vor kurzem auch noch maßgeblich für die Andrassy-Universität in Budapest und die dort etablierten verfassungsrechtlichen Lehrveranstaltungen eingesetzt hatte. Im Folgenden sollen die Grundzüge und einige Besonderheiten des Grundrechtsschutzes in ausgewählten ostmitteleuropäischen Ländern dargestellt und insoweit eine Bestandsaufnahme des Reformprozesses vorgenommen werden, wobei der Rechtsprechungspraxis der verschiedenen nationalen Verfassungsgerichte in ihrer Funktion als Garanten zur effektiven Durchsetzung von Freiheits- und Gleichheitsrechten besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.

II. Allgemeine Grundrechtslehren Das mit dem neuen verfassungsrechtlichen Individualrechtschutz in Ostmitteleuropa einhergehende gewandelte Grundrechtsverständnis hat weitreichende Folgen für den Bereich der allgemeinen Grundrechtslehren, namentlich für die funkmes de droit contemporain' von R. David und C. Jauffret Spinosi, 2. Aufl. 1989, S. 324; P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates. Methoden und Inhalte. Kleinstaaten und Entwicklungsländer, 1992, S. 394. The man versus the state bleibt die vorrangige Grundrechtsdimension. 9 Vgl. etwa Art. 30 polnische Verfassung, § 8 i.V.m. § 54 Abs. 1 und Art. 1 und Art. 10 Abs. 1 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 12 Abs. 1 slowakische Verfassung, Art. 25 Abs. 1 und Art. 35 kroatische Verfassung, Art. 10 estnische Verfassung, Art. 95 lettische Verfassung und Art. 21 litauische Verfassung. Die deutsche Übersetzung der ostmitteleuropäischen Verfassungen wurde hier wie im folgenden entnommen aus H. Roggemann (Hrsg.), Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas. Einführung und Verfassungstexte mit Übersichten und Schaubildern, 1999. Soweit ersichtlich, hat der Schutz der Menschenrechte bislang nur in Ungarn zur Herausbildung einer entsprechenden Rechtsprechungspraxis des Verfassungsgerichts geführt. Vgl. hierzu A. Zimmermann, Bürgerliche und politische Rechte in der Verfassungsrechtsprechung mittel- und osteuropäischer Staaten unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. A. Frowein/T. Marauhn (Hrsg.), Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, 1998, S. 89 (95). 10 So die Präambel der Französischen Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789.

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tionale Dimension des Grundrechtsschutzes sowie hinsichtlich der Frage der Einschränkbarkeit von Grundrechten. Wurde nach sozialistischem Grundrechtsverständnis keine funktionale Unterscheidung der Grundrechte vorgenommen, so betonen die postsozialistischen Reformverfassungen und verschiedene Verfassungsgerichte heute verstärkt die „Doppelfunktion der Grundrechte", einerseits als subjektive Abwehrrechte gegenüber staatlichem Handeln und andererseits als objektive Wertentscheidungen, aus denen konkrete staatliche Schutzpflichten für verfassungsrechtlich garantierte Rechtsgüter sowie Institutsgarantien abgeleitet werden können. So sind beispielsweise staatliche Schutzpflichten ausdrücklich anerkannt worden hinsichtlich des Rechts auf Leben, 1 1 wozu insbesondere das polnische wie das ungarische Verfassungsgericht in ihren kürzlich ergangenen Judikaten zum Schwangerschaftsabbruch konkretisierende Ausführungen gemacht haben, 1 2 des Eigentums, 1 3 der Ehe und Familie, 1 4 der K i n d e r 1 5 und der U m w e l t 1 6 . Grundrechtliche Instituts11

Vgl. etwa Art. 38 polnische Verfassung, § 8 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 ungarische Verfassung, Art. 6 Abs. 1 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 15 Abs. 1 slowakische Verfassung, Art. 17 und 21 kroatische Verfassung, Art. 16 estnische Verfassung, Art. 93 lettische Verfassung und Art. 19 litauische Verfassung. 12 s. die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofs vom 28. Mai 1997, Κ 26/96, worin er die „verfassungsrechtlichen Garantien für den Schutz des menschlichen Lebens in jeder Phase seiner Entwicklung" durch ein Gesetz als verletzt ansah, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. L. Garlicki (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen: Analysen und Entscheidungssammlung 1986-1997, 1999, S. 273, und die Entscheidungen des ungarischen Verfassungsgerichts vom 9. Dezember 1991, 64/1991 (XII. 17.) AB, wonach aus der „objektiven Seite des Rechts auf Leben ( . . . ) gleichzeitig ( . . . ) die Verpflichtung des Staates" folgt, „für dessen Schutz durch gesetzgeberische und organisatorische Maßnahmen Sorge zu tragen." Die „objektive institutionelle Pflicht des Staates zum Schutz des Lebens (erstreckt sich) auch auf das werdende Leben, ebenso wie auf die Gewährleistung der Lebensbedingungen der künftigen Generationen", deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom, Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn, 1995, S. 256 (262 f.), sowie vom 23. November 1998, 48/1998 (XI.23.) AB, deutsche Übersetzung der Leitsätze bei H. Küpper, „Das zweite Abtreibungsurteil des ungarischen Verfassungsgerichts", Osteuropa Recht 1999, S. 155 (169). 13 Vgl. etwa Art. 21 und Art. 64 polnische Verfassung, § 13 ungarische Verfassung, Art. 11 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 20 slowakische Verfassung, Art. 67, Art. 70 und Art. 71 slowenische Verfassung, Art. 3 und Art. 48 kroatische Verfassung, Art. 32 estnische Verfassung, Art. 105 lettische Verfassung und Art. 23 litauische Verfassung. 14 Vgl. etwa Art. 18, Art. 48 und Art. 71 polnische Verfassung, § 15, § 67 und § 71 ungarische Verfassung, Art. 10 und Art. 32 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 41 slowakische Verfassung, Art. 53, Art. 54 und Art. 55 slowenische Verfassung, Art. 35 und Art. 61 kroatische Verfassung, Art. 27 estnische Verfassung, Art. 110 lettische Verfassung und Art. 38 litauische Verfassung. 15 Vgl. etwa Art. 72 polnische Verfassung, § 76 Abs. 1 ungarische Verfassung, Art. 32 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 41 slowakische Verfassung, Art. 53, Art. 54 und Art. 56 slowenische Verfassung, Art. 63 und Art. 64 kroatische Verfassung, Art. 27 estnische Verfassung, Art. 110 lettische Verfassung und Art. 38 und Art. 39 litauische Verfassung. 16 Vgl. etwa Art. 5 polnische Verfassung, § 18 ungarische Verfassung, Art. 35 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 44 slowakische Verfassung, Art. 72 slowenische Verfassung, Art. 69 kroatische Verfassung und Art. 115 lettische Verfassung.

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bzw. Einrichtungsgarantien finden sich demgegenüber in bezug auf das Eigentum und Erbrecht, 17 die Ehe und Familie 18 sowie auch die Presse19. Ebenso haben verschiedene Prinzipien über die Beschränkbarkeit von Grundrechten, verstanden als materielle Grundrechtssicherungsmechanismen zum Schutz vor unzulässigen Eingriffen in grundrechtliche Gewährleistungen, ihren Weg in die neuen ostmitteleuropäischen Verfassungsordnungen gefunden. Zunächst ist die „Wesensgehaltsgarantie" häufig positiv verankert worden, um einen Kern grundrechtlicher Garantien vor zu weitreichenden Beschränkungen durch den einfachen Gesetzgeber zu schützen. Dabei sind unterschiedliche Formulierungen verwandt worden, die in der Sache allerdings keinen Unterschied bedeuten. Bisweilen werden Grundrechte als unaufhebbar bezeichnet.20 Häufiger findet man die Vorgabe, daß bei jedem Eingriff das Wesen und der Sinn des jeweiligen Grundrechts gewährt bleiben muß.21 Besonders prononciert ist in dieser Hinsicht § 8 Abs. 2 ungarische Verfassung, wonach „der Wesensgehalt eines Grundrechts nicht beschränkt werden darf." Mittlerweile ist die Wesensgehaltsgarantie auch in der Rechtsprechung des polnischen und des ungarischen Verfassungsgerichts in bezug auf die Frage näher konkretisiert worden, wann der Wesensgehalt eines Grundrechts betroffen ist. Das ungarische Verfassungsgericht hat dabei eine Unterscheidung von absolutem und relativem Wesensgehalt vorgenommen. In seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Todesstrafe aus dem Jahre 1990 sah das Gericht den absoluten Wesensgehalt des in § 54 Abs. 1 ungarische Verfassung geschützten Rechts auf Leben als verletzt an, da dieses Grundrecht nicht nur eingeschränkt, sondern vielmehr vernichtet werde. 22 In seiner siebenjährigen Geschichte hat das Gericht 17

s. oben Fn. 13. s. oben Fn. 14. 19 Vgl. etwa Art. 14 und Art. 15 polnische Verfassung, § 61 Abs. 2 ungarische Verfassung, Art. 26 slowakische Verfassung, Art. 39 slowenische Verfassung, Art. 38 kroatische Verfassung, Art. 45 estnische Verfassung, Art. 119 lettische Verfassung und Art. 44 litauische Verfassung. 20 Vgl. etwa mit gleichem Wortlaut Art. 1 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten sowie Art. 12 Abs. 1 slowakische Verfassung: „Grundrechte und Grundfreiheiten sind nicht entziehbar, veräußerbar, verjährbar und aufhebbar", und auch Art. 57 bulgarische Verfassung: „Die Grundrechte der Bürger sind unabänderlich." 21 Vgl. etwa Art. 31 Abs. 3 polnische Verfassung: „Solche Beschränkungen dürfen das Wesen der Freiheiten und der Rechte nicht verletzen", Art. 4 Abs. 4 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten: „Bei der Anwendung der Bestimmungen über die Schranken der Grundrechte und Grundfreiheiten muß ihr Wesen und Sinn berücksichtigt bleiben", Art. 13 Abs. 4 slowakische Verfassung: „Bei der Einschränkung von Grundrechten und Grundfreiheiten muß auf ihr Wesen und ihren Sinn geachtet werden", Art. 11 estnische Verfassung: „Diese Beschränkungen müssen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein und dürfen das Wesen der beschränkten Rechte und Freiheiten nicht verändern", und auch Art. 49 Abs. 2 rumänische Verfassung: „Die Einschränkung muß gemessen an dem Sachverhalt, der sie verursacht hat, verhältnismäßig sein und darf das Wesen des Rechts oder der Freiheit nicht berühren". 18

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Daher handelt es sich bei dem Recht auf Leben entgegen dem Eindruck der Einschränkbarkeit des § 54 Abs. 1 ungarische Verfassung um ein absolutes Recht; vgl. hierzu die Ent-

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den absoluten Wesensgehalt allerdings nur äußerst selten als berührt angesehen.23 In ähnlicher Weise geht auch das polnische Verfassungsrecht in neueren Entscheidungen davon aus, daß der „contenu essentiel" des betroffenen Grundrechts nicht durch einschränkende Maßnahmen berührt werden darf. Dabei sind die Besonderheiten der einzelnen Rechte und Freiheiten zu berücksichtigen und mithin strengere Bewertungsmaßstäbe auf Eingriffe in persönliche und politische Rechte24 als in wirtschaftliche und soziale Rechte25 anzuwenden.26 Zum anderen ist auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in alle neuen Verfassungsordnungen der ostmitteleuropäischen Staaten aufgenommen worden. Grundrechtliche Beschränkungen können daher im übrigen nur dann als verfassungsmäßig angesehen werden, wenn sie keinen übermäßigen, unzumutbaren Eingriff in geschützte Grundrechtspositionen darstellen. Sofern dieser Grundsatz nicht schon ausdrücklich in der einen oder anderen Form in den Verfassungen normiert worden ist, 27 hat er jedenfalls Einzug in die jeweilige verfassungsgerichtliche Praxis gehalten, wobei das polnische, ungarische, tschechische und das slowenische Verfassungsgericht das Verhältnismäßigkeitsprinzip mit allen seinen drei Elementen - Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit - zur Anwendung gebracht haben. Das polnische Verfassungsgericht hat sich 1995 zum ersten Mal in seiner Geschichte auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gestützt, welchen es aus dem Rechtsstaatsprinzip regelmäßig aufgegriffen hat. Danach sind nur die unbedingt notwendigen und auch im übrigen angemessenen Grundrechtsbeschränkungen verfassungsmäßig, wobei eine Abwägung zwischen Individualinteresse und dem gesetzgeberisch zu schützenden öffentlichen Interesse vorgenommen werden muß. 28 In ganz ähnlicher Weise sieht es das ungarische Verfassungsgericht Scheidung Nr. 23/1990 (X.31.) AB, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 136(140). 23

Soweit ersichtlich geschieht dies nur noch in den Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch, s. hierzu oben Fn. 12; vgl. hierzu auch A. Zimmermann (Fn. 9), S. 91 f., und G. Haimai, Bürgerliche und politische Rechte in der Verfassungsrechtsprechung Ungarns, in: J. A. Frowein/T. Marauhn (Fn. 9), S. 125. 24 Vgl. hinsichtlich der in Art. 83 polnische Verfassung a.F. geschützten Meinungsfreiheit die Entscheidung vom 2. März 1994, W 3/93, deutsche Übersetzung bei G. Brunner/L. L. Garlicki (Fn. 12), S. 231 (234). 25 Vgl. hinsichtlich der in Art. 6 polnische Verfassung a. F. geschützten Wirtschaftsfreiheit die Entscheidung vom 26. April 1995, Κ 11/94, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. L. Garlicki (Fn. 12), S. 265 (266). 26 Zur polnischen Rechtsprechungspraxis in diesem Bereich siehe L. Garlicki, „Chronique de Jurisprudence Constitutionnelle: Pologne", in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1995, 919 (933); vgl. auch A. Zimmermann (Fn. 9), S. 92. 27 Vgl. etwa Art. 11 estnische Verfassung: „Diese Beschränkungen müssen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein ( . . . )." Art. 49 Abs. 1 und 2 rumänische Verfassung, wonach eine grundrechtliche Beschränkung zur Erreichung bestimmter Zwecke „erforderlich" sowie unter den besonderen Gegebenheiten der jeweiligen Situation im übrigen „verhältnismäßig" sein muß.

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als erforderlich an, nicht ohne einen zwingenden Grund die von Verfassungs wegen garantierten Grundrechte zu beschränken, und verlangt darüber hinaus, einen Vergleich zwischen dem verfolgten Zweck und den mit der Maßnahme hervorgerufenen Grundrechts- und Freiheitsbeeinträchtigungen im Sinne einer Zweck-Mittel-Relation vorzunehmen. 29 Dabei ist der Gesetzgeber sogar ausdrücklich verpflichtet worden, unter den zur Zweckerreichung gleich geeigneten Mitteln das jeweils mildeste auszuwählen. Schließlich hat das tschechische Verfassungsgericht 1994 in seiner Entscheidung über die Änderungsnovelle zur Strafprozessordnung die verschiedenen Kriterien der Geeignetheit und Erforderlichkeit herausgearbeitet sowie eine Interessenabwägung - hier unter kollidierenden Grundrechten - seitens des Gesetzgebers verlangt. 30 Auch das slowenische Verfassungsgericht ist im Zusammenhang mit der Verhängung von Untersuchungshaft zu wesentlich gleichen Grundsätzen gekommen.31 Die vorgestellten Entscheidungen belegen eindrucksvoll die zunehmend größere Bedeutung, welche dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der neueren ostmitteleuropäischen Verfassungsgerichtspraxis zur Effektuierung grundrechtlicher Garantien beigemessen wird.

III. Der Schutz von bürgerlichen und politischen Grundrechten Ebenso wie die umfassenden Grundrechtsbestimmungen im deutschen Grundgesetz und der portugiesischen oder spanischen Verfassung vollständig nur vor dem Hintergrund der totalitären Vergangenheit dieser Staaten verstanden werden können, stellen die ausführlichen Grundrechtskataloge in den postsozialistischen Verfassungen eine deutliche Antwort auf 45 Jahre kommunistische und sozialistische Unterdrückung dar. 32 28

Vgl. die Entscheidungen vom 26. April 1995, Κ 11/94, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. L. Garlicki (Fn. 12), S. 265 (268), sowie vom 2. November 1996, Κ 27/95; hierzu auch im einzelnen L. L. Garlicki (Fn. 26), S. 933. 29 Vgl. die Entscheidung Nr. 20/1990 vom 4. Oktober 1990, zitiert nach G. Brunner, Zweieinhalb Jahre ungarische Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 32 (1993), S. 287 (312). 30 PL. US 4/94, vgl. dazu im einzelnen M. Hoskova, Rechtsstaatlichkeit in der tschechischen Republik, in: R. Hofmann/J. Marko/F. Merli /E. Wiederin (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, 1996, S. 25 (267). 31

Vgl. die beiden Entscheidungen vom 7. Juli 1995, englische Übersetzung in: East European Case Law Reporter 1996, S. 263 (270) und S. 274 (278). 32 Im Zusammenhang mit der Überwindung der sozialistischen Unrechtsherrschaft durch verstärkte Grundrechtsgewährleistungen sind die verschiedenen historischen Bezüge in den Präambeln der neuen ostmitteleuropäischen Verfassungen ausgesprochen eindrucksvoll. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die einleitenden Erwägungen zur tschechischen Charta der Grundrechte und -freiheiten verwiesen: „Die Bundesversammlung hat ( . . . ) in Anerkennung der Unverletzlichkeit der natürlichen Menschenrechte, Bürgerrechte und der Souveränität des Gesetzes, anknüpfend an allgemein geteilte Werte und an die demokratische Tradition ( . . . ) , eingedenk der bitteren Erfahrungen aus Zeiten, als die Menschenrechte und die Grundfreiheiten in unserer Heimat unterdrückt wurden, in der Hoffnung auf die Sicherung dieser

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Zunächst schützen alle neuen Verfassungsordnungen in Ostmitteleuropa mittlerweile die klassisch-liberalen Grundrechte auf Leben33 und körperliche Unversehrtheit 34 . Dies war in der ersten Übergangsphase des Transformationsprozesses der ostmitteleuropäischen Länder nicht selbstverständlich, wie das Problem der Todesstrafe gezeigt hat. Während nur eine Minderheit dieser Staaten, wie beispielsweise die Tschechische und die Slowakische Republik, Slowenien und Kroatien sich von vornherein hat dazu entschließen können,35 die Todesstrafe verfassungsrechtlich ausdrücklich abzuschaffen, und ihre Verfassungswidrigkeit in den übrigen Staaten aus dem geschützten Recht auf Leben zu folgern sein wird, bedurfte es in Ungarn wegen des in dieser Hinsicht mißverstandenen § 54 Abs. 2 der Verfassung erst einer klärenden Entscheidung des Verfassungsgerichts. 36 Als noch schwieriger erweist sich allerdings, hinsichtlich des Schutzes ungeborenen Lebens einheitliche Entwicklungstendenzen auszumachen, zumal sich diesbezüglich in einigen ostmitteleuropäischen Verfassungen entgegengesetzte Positionen feststellen lassen. Beispielsweise ist in Art. 55 slowenische Verfassung ausdrücklich das Recht verbürgt, frei über die Geburt eigener Kinder zu entscheiden; demgegenüber betonen die tschechische37 und die slowakische38 Verfassung, daß menschliches Leben bereits vor der Geburt schutzwürdig sei. Soweit ersichtlich, haben die mit der Abtreibungsfrage zusammenhängenden schwierigen grundrechtlichen Probleme bislang nur in Polen und Ungarn zu verfassungsgerichtlichen Auseinandersetzungen geführt. So hat es das polnische Verfassungsgericht zunächst als zulässig angesehen, daß Ärzte aus Gewissensgründen ihre Teilnahme an Abtreibungen verweigern können. 39 Danach schützt das Grundrecht auf Gewissensfreiheit, auf das sich die Ärzte in ihrem Antrag gestützt haben, nicht nur die Freiheit, bestimmte Weltanschauungen zu haben, sondern auch die Freiheit von jedem Zwang, entgegen seinem Gewissen handeln zu müssen. In einer weiteren Entscheidung bewertete das polnische Verfassungsgericht 1997 - bei drei abweichenden Meinungen - den

Rechte durch gemeinsame Anstrengung aller freien Völker ( . . . ) diese Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten verabschiedet". 33 s. oben Fn. 11. 34 Vgl. Art. 7 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 16 Abs. 1 slowakische Verfassung, Art. 35 slowenische Verfassung, Art. 22 und Art. 23 kroatische Verfassung, Art. 20 estnische Verfassung, Art. 94 lettische Verfassung und Art. 21 litauische Verfassung. 35 s. Art. 6 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 15 Abs. 3 slowakische Verfassung, Art. 17 slowenische Verfassung und Art. 21 Abs. 2 kroatische Verfassung. 36 Vgl. Art. 7 Abs. 1 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 16 Abs. 1 slowakische Verfassung, Art. 35 slowenische Verfassung, Art. 22 und Art. 23 kroatische Verfassung, Art. 20 estnische Verfassung, Art. 94 lettische Verfassung und Art. 21 litauische Verfassung. 37 Art. 3 tschechische Verfassung i.V.m. Art. 6 Abs. 1 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten. 38 Art. 15 Abs. 1 slowakische Verfassung. 39 Entscheidung Nr. U 8/90 vom 15. Januar 1991, OTK 1991, S. 113 ff., vgl. hierzu A, Zimmermann (Fn. 9), S. 121 f.

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Schwangerschaftsabbruch aus sozialen Gründen für verfassungswidrig. 40 Wie das Gericht ausführt, ist menschliches Leben in jedem Stadium seiner Entwicklung unter den Schutz der Verfassung gestellt, wobei hinsichtlich der pränatalen Phase nicht differenziert werden darf. 41 Der Schutz des Lebens hat zudem Vorrang vor sozialen Gründen auf Seiten der Schwangeren zur Vornahme des Abbruchs. 42 Demgegenüber hat das ungarische Verfassungsgericht in seinem kürzlich ergangenen zweiten Abtreibungsurteil 43 die Frage bewußt offengelassen, ob der Fötus als Rechtssubjekt angesehen werden kann und ihm deshalb das Recht auf Leben nach § 54 ungarische Verfassung zusteht. Vielmehr folgte das Gericht der Linie, die es bereits im ersten Abtreibungsurteil aus dem Jahre 199144 eingeschlagen hat, indem es ausführte, daß die diesbezügliche Entscheidung in Ermangelung konkreter verfassungsrechtlicher Wertvorgaben im wesentlichen dem Gesetzgeber obliege. Wenn sich der ungarische Gesetzgeber daraufhin auch gegen die Rechtssubjektivität der Leibesfrucht ausgesprochen hat, so kommt ihr allerdings immer noch die subjektiv-rechtliche staatliche Schutzpflicht zu Gute, die aber nicht mehr die Absolutheit des subjektiven Rechts auf Leben zu gewährleisten hat und sich daher nicht automatisch gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren durchsetzt, sondern vielmehr eine Abwägung im Einzelfall erforderlich mache.45 Die gesetzlich vorgesehene Notlagenindikation, so der Kerngehalt der neuen Entscheidung, ist daher nur verfassungsmäßig, sofern sie in der Praxis nicht zur völligen Freigabe der Abtreibung führe, was durch gleichzeitige Bestimmungen über den Schutz der Leibesfrucht, ζ. B. staatliche Kontrollen oder ein umfangreiches Angebot an Erziehungshilfen, vermieden werden könne. 46 Fast alle neuen Verfassungsordnungen in Osteuropa schützen im Bereich der bürgerlichen Grundrechte und -freiheiten die allgemeine Handlungsfreiheit 47 und 40 Entscheidung Κ 26/96 vom 28. Mai 1997, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. L. Garlicki (Fn. 12), S. 273. 41 Ibid., S. 275: „In bezug auf den Wert eines verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts, wie es das menschliche Leben darstellt, darunter auch das sich in der pränatalen Phase entwickelnde Leben, darf nicht differenziert werden. Es liegen keine hinreichend präzisen und begründeten Kriterien für eine solche Differenzierung je nach Entwicklungsphase des menschlichen Lebens vor. Von dem Moment seiner Entstehung an wird das menschliche Leben zu einem verfassungsrechtlich geschützten Wert. Dies gilt ebenso für die pränatale Phase." 42 Ibid., S. 282 f. Das im Herbst 1996 in Kraft getretene Änderungsgesetz gestattete den Schwangerschaftsabbruch auch bei „schwieriger Lebenslage" oder bei „schwieriger persönlicher Situation" der Schwangeren. 43 Entscheidung 48/1998 (XI.23.) AB vom 23. November 1998, deutsche Übersetzung der Leitsätze bei H. Küpper (Fn. 12). 44 Entscheidung 64/1991 (XII. 17.) AB vom 9. Dezember 1991, deutsche Übersetzung bei G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 256 ff.; hierzu G. Haimai, Bürgerliche und politische Rechte in der Verfassungsrechtsprechung Ungarns, in: J.A. Frowein/T. Marauhn (Hrsg.) (Fn. 9), S. 125 ff. 45 Vgl. hierzu im einzelnen H. Küpper (Fn. 12), S. 160 f. 4 * Ibid., S. 163.

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die Privatsphäre 48. Die Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit hat in diesem Sinne das früher unter den kommunistischen bzw. sozialistischen Verfassungen geltende Regel-Ausnahme-Verhältnis inhaltlich umgekehrt. Da die allgemeine Handlungsfreiheit in Ungarn allerdings nicht ausdrücklich durch die Verfassung geschützt wird, mußte sie durch das ungarische Verfassungsgericht erst unmittelbar aus der Menschenwürde abgeleitet werden, wobei es aus der Menschenwürdegarantie als subsidiärem Auffanggrundrecht zugleich das umfangreiche Konzept eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelt hat. 49 Auch die Religions- und Glaubensfreiheit 50 wurde durchweg unter verfassungsrechtlichen Schutz gestellt. Wiederum waren es - soweit ersichtlich - das polnische und das ungarische Verfassungsgericht, die im Bereich der Religionsfreiheit die wohl umfassendste Rechtsprechungstätigkeit vorweisen können. Das polnische Verfassungsgericht sah eine vom Erziehungsminister auf der Grundlage des Gesetzes über die Beziehungen zwischen Staat und katholischer Kirche erlassene Verordnung, wonach ein Religionsunterricht fakultativen Charakters durch staatlich bezahlte Religionslehrer wieder eingeführt werden sollte, mit dem in Art. 82 polnische Verfassung a. F. (Art. 25 polnische Verfassung n. F.) enthaltenen Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat als vereinbar an. Wenn das staatliche Neutralitätsgebot zwar die Einführung eines Pflichtfachs Religion verbiete, so könne hieraus aber kein Verbot des staatlich geförderten Religionsunterrichts für Schüler gefolgert werden, deren Eltern sich diesen wünschen. Jede andere Auslegung des Neutralitätsgebots würde im Gegenteil einen Eingriff in die Religions- und Glaubensfreiheit darstellen. 51 In einer weiteren Entscheidung hat das Gericht eine Bestimmung des polnischen Rundfunkgesetzes, welches die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zum Respekt „christlicher Werte" verpflichtet hatte, dahingehend verfassungskonform ausgelegt, daß hierunter nur universell anerkannte Werte und ethische Grundsätze verstanden werden können.52 In Ungarn leitete das 47 So ζ. B. in Art. 31 polnische Verfassung, Art. 2 Abs. 3 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 2 Abs. 3 slowakische Verfassung und Art. 94 lettische Verfassung. 48 Vgl. etwa Art. 47 polnische Verfassung, Art. 7 Abs. 1 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 16 Abs. 1 slowakische Verfassung, Art. 35 slowenische Verfassung, Art. 35 kroatische Verfassung, Art. 26 estnische Verfassung, Art. 96 lettische Verfassung und Art. 22 litauische Verfassung. 49 Entscheidung 27/ 1990, hierzu im einzelnen G. Brunner, Vier Jahre ungarische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 13 (52). 50 Vgl. etwa Art. 53 polnische Verfassung, § 70 ungarische Verfassung, Art. 15 und Art. 16 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 24 slowakische Verfassung, Art. 41 slowenische Verfassung, Art. 17 und Art. 40 kroatische Verfassung, Art. 40 estnische Verfassung, Art. 99 lettische Verfassung und Art. 26 litauische Verfassung. Entscheidung Κ 11/90 vom 30. Januar 1991, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. L. Garlicki (Fn. 12), S. 119 (124); vgl. auch die Entscheidung U 12/92 vom 20. April 1993, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. L. Garlicki (Fn. 12), S. 179 (189), zur Einführung eines Ethikunterrichts als Alternative zum Religionsunterricht. 52 Entscheidung Κ 17/93 vom 7. Juni 1994, OTK 1994, S. 84 ff., deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. L. Garlicki (Fn. 12), S. 248 (251).

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Verfassungsgericht aus dem in § 60 Abs. 3 ungarische Verfassung normierten Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche das strikte Verbot einer institutionalisierten Verbindung beider Seiten ab. 53 Das Gericht betont den engen sachlichen Zusammenhang der Religionsfreiheit mit der Menschenwürde 54 und verpflichtet den Staat gegenüber dem Einzelnen, unabhängig von dessen Kirchenmitgliedschaft, 55 zum Schutz der positiven wie auch negativen Religionsfreiheit, für deren Verwirklichung er auch die notwendigen materiellen Voraussetzungen schaffen muß. 56 Zur Sicherstellung dieser umfassend gewährleisteten Religionsfreiheit auf dem Gebiet der Schulpflicht müssen die staatlichen Schulen in religiösen Fragen neutral sein und dürfen daher keinen Unterricht erteilen, der den Überzeugungen und Bekenntnissen von Eltern beziehungsweise der Schüler zuwiderläuft. 57 Wenn zwar der ungarische Staat selbst nicht verpflichtet ist, bekennende Schulen einzurichten und zu unterhalten, so muß er jedoch die rechtlichen Grundlagen zur Errichtung solcher Institutionen schaffen und diesen privaten Schulen daraufhin die gleiche finanzielle Unterstützung zukommen lassen, wie sie staatlichen Schulen gegenüber erbracht werden. 58 Eine deutliche Aufwertung haben auch die politischen Freiheitsrechte erfahren, die in den kommunistischen bzw. sozialistischen Verfassungen entweder überhaupt nicht oder nur in sehr rudimentärer Form verankert waren, in pluralistisch-demokratischen Rechtsstaaten jedoch eine zentrale Verantwortung erfüllen. So werden beispielsweise die Meinungs-59 und Pressefreiheit 60 in umfangreichen Bestimmungen unter verfassungsrechtlichen Schutz gestellt. Dabei wird die grundlegende Bedeutung dieser Grundrechte auch von verschiedenen osteuropäischen Verfassungsgerichten anerkannt.61 Das polnische Verfassungsgericht etwa bezeichnet die Mei53 Entscheidung 4/1993 (11.12.) AB vom 8. Februar 1993, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 421 (425 f.). 54 Ibid., S. 424. Aus der inneren Beziehung zur Menschenwürde folgt danach insbesondere „die Verpflichtung des Staates, auf die Beurteilung des Wahrheitsgehalts des religiösen Glaubens oder des Gewissens zu verzichten." 55 Entscheidung 8/1993 (11.27.) AB vom 23. Februar 1993, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 469 ff. 56 Entscheidung 4/1993 (11.12.) AB vom 8. Februar 1993, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 421 (428). 57 Ibid., S. 428. 58 Ibid., S. 430 f. Die Pflicht zur finanziellen Förderung kirchlicher Schulen überrascht vor dem Hintergrund der ausdrücklich in der Verfassung postulierten und in derselben Entscheidung betonten Trennung von Staat und Kirche. 59 Vgl. Art. 54 polnische Verfassung, § 61 ungarische Verfassung, Art. 17 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 26 slowakische Verfassung, Art. 39 und Art. 40 slowenische Verfassung, Art. 38 kroatische Verfassung, Art. 41 estnische Verfassung, Art. 99 lettische Verfassung und Art. 25 litauische Verfassung. 60 s. obenFn. 19. 61

s. z. B. zum polnischen Verfassungsgericht L. L. Garlicki, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichts, in: J. Burmeister (Hrsg.), Verfassungs38*

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nungsfreiheit als „un des droits les plus précieux de l'individu" 6 2 und verpflichtet den Gesetzesanwender, einschränkende Bestimmungen vor allem im Lichte der hohen verfassungsrechtlichen Bedeutung dieses Grundrechts auszulegen.63 Auch für das ungarische Verfassungsgericht gehören die Meinungs- und Pressefreiheit zu den „grundlegenden Werten der pluralistischen demokratischen Gesellschaft", 64 wobei der Meinungsfreiheit insbesondere als „Mutterrecht" 65 aller anderen kommunikativen Grundrechte eine hervorgehobene Rolle zukommt. Dabei betont das Gericht ausdrücklich den inneren Zusammenhang zwischen der freien individuellen Entfaltung und der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung mit der Folge, daß gesetzliche Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit stets unter Berücksichtigung ihrer besonderen Funktion zur Gewährleistung des gesellschaftlichen Pluralismus auszulegen sind. 66 In diesem Sinn hat das Gericht auch eine Bestimmung des ungarischen Strafgesetzbuches aufgehoben, die die bloße Verunglimpfung - in Abgrenzung zur Aufstachelung - der ungarischen Nation und anderer Gemeinschaften oder Gruppen unter Strafe gestellt hat, da es sich hierbei um eine unverhältnismäßige und im übrigen nicht zwingend gebotene Einschränkung der Meinungsfreiheit gehandelt hat. 67 Schließlich sind das tschechische68, slowenische69 und das litauische70 Verfassungsgericht zu ganz ähnlichen Grundsätzen gekommen, wobei sehr häufig rechtsvergleichend ausdrücklich auf den Schutz der Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verwiesen wurde. Staatlichkeit, Festschrift für K. Stern, 1997, S. 939 ff., sowie zum ungarischen Verfassungsgericht, ibid., S. 953 ff. 62 Vgl. die Entscheidung W 3/93 vom 2. März 1994, zitiert nach L. L. Garlicki, La liberté d'opinion dans les décisions du tribunal consitutionnel polonais, in: Bericht zur 10. Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte, S. 6. 63 s. die Entscheidung W 3/93 vom 2. März 1994, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. L. Garlicki (Fn. 12), S. 231 (232), sowie insbesondere die Entscheidung Κ 17/93 vom 7. Juni 1994, deutsche Übersetzung in ibid., S. 248 (251). 64 Entscheidung 30/1992 (V.26.) AB vom 25. Mai 1992, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 368 (371). 65 Ibid., S. 372. 66 Ibid., S. 372: „Es ist eine geschichtliche Erfahrung, daß jedesmal, wenn die Freiheit der Meinungsäußerung beschränkt wurde, auch die gesellschaftliche Gerechtigkeit und menschliche Kreativität verletzt und die Entfaltung der in den Menschen verborgenen Fähigkeiten reduziert wurde. Die schädlichen Folgen haben sich nicht nur im Leben des Individuums, sondern auch im Leben der Gesellschaft ergeben und haben zu einer leidvollen Sackgasse in der Geschichte der Menschheit geführt." 67 Ibid., S. 382. 68 Entscheidung PI. US 43793, VerfGE 1, S. 113 (118 f.), vgl. hierzu M. Hoskova (Fn. 30), S. 260. 69 Entscheidung U-I-172/94 vom 9. November 1994, englische Übersetzung in: East European Case Law Reporter, 1994, S. 273 ff. 70 Entscheidung Nr. 19 vom 20. April 1995, englische Übersetzung in: East European Case Law Reporter, 1996, S. 61 ff.

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Im Vergleich zu älteren westeuropäischen Grundrechtskatalogen fällt im Bereich der Kommunikationsgrundrechte vor allem die ausführlich ausgestaltete Informationsfreiheit auf. 71 Dabei wurde dem Einzelnen nicht selten ein subjektiver Anspruch gegenüber der ausführenden Gewalt auf Herausgabe bestimmter staatlicher Informationen zugesprochen und unmittelbar verfassungsrechtlich verankert. Das ungarische Verfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, daß infolge des in § 61 Abs. 1 ungarische Verfassung verankerten Informationsgrundrechts jedem Bürger auf Antrag alle Daten, die durch staatliche Einrichtungen erhoben oder verarbeitet worden und von öffentlichem Interesse sind, zugänglich gemacht werden müssen. Bei der Qualifizierung von Unterlagen und Dokumenten als öffentlich ist danach zudem deren Inhalt ausschließlich entscheidend, nicht jedoch eine bestimmte Art von Akten. Dementsprechend hat das Gericht auch ein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, welches kategorisch die Kenntnisnahme von Vorlagen und Niederschriften aus kommunalen Vertretungskörperschaften ausgeschlossen hatte.72 Aus dem Bereich der politischen Grundrechte sind noch die Versammlungs-73 und Vereinigungs- bzw. Koalitionsfreiheit 74 zu nennen, die in den neuen Verfassungstexten der ostmitteleuropäischen Länder nunmehr ausdrücklich garantiert werden, um eine breitere gesellschaftliche Partizipation am öffentlichen Leben durch Interessen verbände zu ermöglichen. Schließlich enthalten alle Reformverfassungen auch den Grundsatz der Gleichbehandlung vor dem Gesetz, wobei sie es zumeist nicht bei einem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz75 belassen, sondern diesen zusätzlich durch verschiedene spezielle Diskriminierungsverbote, ζ. B. hinsichtlich Mann und Frau 76 , der Min71 Vgl. etwa Art. 61 polnische Verfassung, § 61 ungarische Verfassung, Art. 17 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 26 slowakische Verfassung, Art. 39 slowenische Verfassung, Art. 44 estnische Verfassung, Art. 100 und Art. 104 lettische Verfassung, Art. 25 litauische Verfassung. 72 Entscheidung 32/192 (V.29.) AB vom 25. Mai 1992, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 384 (387). 73 Vgl. etwa Art. 57 polnische Verfassung, § 62 ungarische Verfassung, Art. 19 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 28 slowakische Verfassung, Art. 42 slowenische Verfassung, Art. 42 kroatische Verfassung, Art. 47 estnische Verfassung, Art. 103 lettische Verfassung und Art. 36 litauische Verfassung. 74 Vgl. etwa Art. 11 bis Art. 13, Art. 58 und Art. 59 polnische Verfassung, Art. 20 und Art. 27 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 29 und Art. 37 slowakische Verfassung, Art. 42 slowenische Verfassung, Art. 43 kroatische Verfassung, Art. 48 estnische Verfassung, Art. 102 lettische Verfassung und Art. 35 litauische Verfassung. 75 Vgl. etwa Art. 32 polnische Verfassung, § 70/A Abs. 1 ungarische Verfassung, Art. 1 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 12 slowakische Verfassung, Art. 14 slowenische Verfassung, Art. 3 und Art. 4 kroatische Verfassung, Art. 12 estnische Verfassung, Art. 91 lettische Verfassung und Art. 29 litauische Verfassung. 7 6 s. z. B. in Art. 33 polnische Verfassung: „Mann und Frau haben in der Republik Polen gleiche Rechte im familiären, politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. Frau und Mann haben insbesondere das gleiche Recht auf Bildung, Beschäftigung und Beför-

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derheiten 77, dem Wahlrecht 78 oder dem Zugang zu öffentlichen Ämtern 79 , konkretisieren. In diesem Bereich stellen sich insbesondere die Fragen, wann eine unzulässige willkürliche Ungleichbehandlung vorliegt und unter welchen Bedingungen möglicherweise eine sogenannte „positive Diskriminierung" zulässig sein kann. Das polnische Verfassungsgericht hat bereits 1987 und 1988 in seiner ersten grundlegenden Entscheidung zum Gleichheitssatz80 hervorgehoben, daß es sich hierbei um einen - unter der neuen Verfassung von 1997 fortgeltenden - fundamentalen Verfassungsgrundsatz handelt,81 wonach eine Differenzierung nach solchen Kriterien, die de facto Gruppen von Bürgern mit unterschiedlichem rechtlichen Status entstehen lassen können, verfassungswidrig ist. 82 Danach ist eine hoheitliche Handlung, die auch nur mittelbar eine Ungleichbehandlung der Geschlechter zur Folge hat, beispielsweise bei der Zulassung zum Studium, unzulässig.83 Andererseits ist eine unterschiedliche Behandlung von Personen in unterschiedlichen Situationen durchaus zulässig, sofern eine rational nachvollziehbare Beziehung zwischen dem Differenzierungsmerkmal und der unterschiedlichen Behandlung besteht und die ungleiche Rechtsfolge zu der tatsächlich bestehenden Unterschiedlichkeit auch im übrigen verhältnismäßig ist. 84 Während das ungarische Verfassungsgericht zunächst jede erforderliche und keinem verfassungswidrigen Zweck zuwiderlaufende Differenzierung für zulässig gehalten hat, 85 nahm es später eine Reduzierung der möglichen Differenzierungsmerkmale in der Weise vor, daß einderung, auf gleiche Vergütung für Arbeit gleichen Wertes, auf Sozialversicherung sowie zur Besetzung von Stellungen, Ausübung von Funktionen und Erlangung öffentlicher Würde und Auszeichnungen", und § 66 Abs. 1 ungarische Verfassung: „Die Republik Ungarn sichert die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Hinblick auf alle bürgerlichen sowie politischen sowie wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte." 77

s. ζ. B. in Art. 24 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 33 slowakische Verfassung. 78 s. ζ. B. die Wahlrechtsgleichheit in § 71 ungarische Verfassung, Art. 21 Abs. 3 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 30 Abs. 3 slowakische Verfassung, Art. 43 slowenische Verfassung, Art. 45 Abs. 1 kroatische Verfassung und Art. 6 lettische Verfassung. 79 s. z. B. § 70 Abs. 4 ungarische Verfassung, Art. 21 Abs. 4 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 30 Abs. 1 und 4 slowakische Verfassung. 80 Der Gleichheitsgrundsatz war zu jener Zeit in Art. 67 Abs. 2 polnische Verfassung von 1953 verbürgt. 81 s. die Entscheidung Ρ 2/87 vom 3. März 1987, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 89 ff., sowie die Entscheidung Κ 1 /88 vom 30. November 1988, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 97 ff. 82 Entscheidung Ρ 2/87 vom 3. März 1987 (Fn. 81), S. 93 f. 83 Ibid. 84

Vgl. hierzu die Entscheidung vom 9. März 1988, erläutert bei L. L. Garlicki , La jurisprudence du tribunal constitutionnel polonais en 1988, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle 1988, S. 507 (517). 8 5 Entscheidung 9/1990 vom 25. April 1990, VerfGE 1, S. 46 (48), dargestellt bei G. Brunner, Vier Jahre ungarische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: G. Brunner/L. Sólyom, (Fn. 12), S. 51.

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zelne Bürger nur wegen eines besonders gewichtigen verfassungsrechtlichen Grundes unterschiedlich behandelt werden dürfen. 86 Das litauische Verfassungsgericht hat hierzu ausgeführt, daß eine gesetzlich vorgesehene Ungleichbehandlung von Personen insoweit zulässig ist, als sie sich in deutlich unterscheidbaren Situationen befinden. 87 In Ermangelung ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Vorgaben haben bislang nur das polnische und ungarische Verfassungsgericht nähere Aussagen zur sogenannten „positiven Diskriminierung" zur Herstellung der faktischen Gleichheit bestimmter Bevölkerungsteile, insbesondere von Männern und Frauen, getroffen. Nach beiden Gerichten ist eine Bevorteilung von Frauen zur beschleunigten Verwirklichung der tatsächlichen Gleichstellung zulässig, sofern es um die Effektuierung eines anderen Grundrechts geht und kein weiteres Grundrecht verletzt wird, wobei abschließende Entscheidungen, insbesondere auch hinsichtlich der Zulässigkeit der Quotenregelung, noch auf sich warten las-

IV. Der Schutz von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Grundrechten Eine weitere Säule des großen postsozialistischen Verfassungsreformprojekts war neben der Einführung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und den damit untrennbar verbundenen klassisch-liberalen Grundrechten die Neuordnung der Wirtschafts- und Eigentumsverfassung. Viele der neuen Verfassungen enthalten ausdrückliche Bestimmungen über das Wirtschaftssystem und verankern hierin in bewußter Abkehr von der sozialistischen Planwirtschaft die Grundlagen der Marktwirtschaft, wobei deren Absicherung durch die Garantie von wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten eine zentrale Rolle beigemessen wird. Die Verfassungsnormen über wirtschaftliche und soziale Grundrechte sind insgesamt sehr zahlreich und zumeist an exponierter Stelle aufzufinden. Alle neuen ostmitteleuropäischen Verfassungsordnungen enthalten die Eigentumsgarantie 89 und verbürgen die verschiedenen Freiheiten der wirtschaftlichen Betätigung, insbesondere die Berufs- 90, Unternehmens-91 und Wettbewerbsfrei86 Entscheidung 21 /1990 vom 5. Oktober 1990, VerfGE 1, S. 73 (77 f.). 87 Entscheidung 10 /1995 vom 28. Februar 1996, englische Übersetzung in: East European Case Law Reporter 1996, S. 180 (185). 88 Vgl. zu den Entscheidungen des ungarischen Verfassungsgerichts A. Adam, Der Schutz der Grundrechte durch die Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn, in: G. Brunner (Hrsg.), Politischer Pluralismus und Verfassungsstaat in Deutschland und Ungarn, 1992, S. 23 (39); sowie die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts KW 5/91 vom 24. September 1991, OTK 1991, S. 96 (103). 89

s. hierzu im Überblick J. Lippott, Das Eigentum in den osteuropäischen Verfassungen der Gegenwart, ZvglRWiss 95 (1996), S. 227 ff. 90 Vgl. etwa Art. 65 polnische Verfassung, § 70/Β ungarische Verfassung, Art. 26 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 35 slowakische Verfassung, Art. 49

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heit 92 . Dabei fällt auf, daß in der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des Eigentums häufig subjektivrechtliche Schutzbestimmungen mit Normen objektivrechtlichen Charakters kombiniert werden. 93 Neben der Gewährleistung der Eigentumsfreiheit gibt es in sämtlichen Verfassungen auch Enteignungsregelungen. Diese lassen den staatlichen Entzug von Eigentum regelmäßig nur unter engen Voraussetzungen und gegen eine entsprechende Entschädigung zu. Demgegenüber fehlen in einigen der neuen Verfassungen konkrete Bestimmungen über die Beschränkbarkeit und die soziale Bindung des Eigentums unterhalb der Schwelle der Enteignung, so daß sich verschiedene Verfassungsgerichte mit diesem Bereich auseinandersetzen mußten. Das polnische Verfassungsgericht hat zur Beschränkung des Eigentums sowohl den allgemeinen Gesetzesvorbehalt als auch den in Art. 1 polnische Verfassung verankerten Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit herangezogen. Mit Bezugnahme auf den allgemeinen Gesetzesvorbehalt betont das Gericht, daß die Verfassung neben den individuellen Grundrechten auch die gesamtgesellschaftlichen Bedürfnisse zu schützen habe.94 Das Eigentum ist also nicht absolut gewährleistet. Vielmehr bedarf es bei der Ermittlung der Verfassungsmäßigkeit eines gesetzlichen Eingriffs in geschützte Eigentumspositionen stets einer einzelfallbezogenen Abwägung,95 wobei auch der Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit herangezogen werden kann. 96 Auch ist die Enteignung nach der ungarischen Verfassung die einzige ausdrücklich vorgesehene Form des staatlichen Eingriffs in das Eigentum.97 Gleichwohl hat das ungarische Verfassungsgericht wegen § 8 Abs. 2 ungarische Verfassung 98 auch andere gesetzliche

slowenische Verfassung, Art. 54 kroatische Verfassung, Art. 29 estnische Verfassung, Art. 106 lettische Verfassung und Art. 48 litauische Verfassung. 91 Vgl. etwa Art. 22 polnische Verfassung, § 9 ungarische Verfassung, Art. 26 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 49 kroatische Verfassung, Art. 45 estnische Verfassung, Art. 100 lettische Verfassung und Art. 44 litauische Verfassung. 92 s. hierzu im einzelnen W. Gärtner, Die Eigentumsgarantien in den Verfassungen Polens, Ungarns, der Tschechischen und der Slowakischen Republik - Verfassungsrechtliche Grundlagen und Verfassungspraxis, in: Recht in Ost und West 1995, S. 75 (109 ff.). 93 s. exemplarisch die Ergänzung des Art. 33 slowenische Verfassung, wonach „das Recht auf Privateigentum ( . . . ) gewährleistet" wird, mit Art. 67 slowenische Verfassung: „Die Art des Eigentumserwerbs und der Nutznießung des Eigentums wird gesetzlich geregelt, so daß dessen wirtschaftliche, soziale und ökologische Funktion gewährleistet wird"; vgl. hierzu im einzelnen Lippott (Fn. 89), S. 234; T. Marauhn, Wirtschaftliche und soziale Rechte im Spiegel der Verfassungsrechtsprechung mittel- und osteuropäischer Staaten unter vergleichender Berücksichtigung der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: J. A. Frowein/T. Marauhn (Fn. 9), S. 135 (139). 94 Entscheidung Κ 12/90, VerfGE 1990, S. 66 (76 f.); vgl. hierzu W. Gärtner (Fn. 92), S. 138 f., sowie kritisch K. Dzialocha, Der Rechtsstaat unter den Bedingungen einer grundlegenden Umformung des Rechtssystems, dargestellt am Beispiel Polens, Osteuropa Recht 1993, S. 1 (21). 9 5 Ibid. % Entscheidung Ρ 6/92, VerfGE 1993 I, S. 84 (89); hierzu W. Gärtner (Fn. 92), S. 139. 97

§ 13 Abs. 2 ungarische Verfassung.

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Eingriffsformen als zulässig angesehen, die funktional einer Inhalts- und Schrankenbestimmung des Grundrechts gleichkommen und den Staat nicht zu Entschädigungszahlungen verpflichten. 99 Dabei unterscheidet sich die vom Gesetzgeber vorzunehmende Inhalts- und Schrankenbestimmung vor allem durch die Schwere des Eingriffs von der Enteignung. 100 In ganz ähnlicher Weise hat mittlerweile auch das litauische Verfassungsgericht verschiedene gesetzliche Eingriffe in das Eigentumsrecht auf die verfassungsrechtlich vorgesehene101 Inhaltsbestimmung gestützt.102 Zunehmend wird der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zur konkreten Bestimmung unzulässiger Eingriffe in grundrechtlich geschützte Eigentumspositionen verwendet. 103 So hat das ungarische Verfassungsgericht beispielsweise eine zeitlich unbestimmte Eigentumsbeschränkung als unverhältnismäßig angesehen.104 Darüber hinaus garantieren die neuen Verfassungen in umfassenden Katalogen soziale Grundrechte, wie beispielsweise das Recht auf Arbeit 105 oder das Recht auf soziale Sicherheit 106. Gelegentlich wurden die verschiedenen sozialen Grundrechtsbestimmungen als „sozialistisches Erbe" 1 0 7 angesehen. Dies dürfte nur bedingt zutreffend sein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß derartige Gewährleistungen schon geraume Zeit auch Bestandteil neuerer westeuropäischer Verfassun98 § 8 Abs. 2 ungarische Verfassung: „In der Republik Ungarn statuiert das Gesetz die Grundrechte und -pflichten betreffenden Regelungen, jedoch darf der Wesensgehalt eines Grundrechts nicht beschränkt werden." 99 Entscheidung 16/1991 (IV.20.) AB vom 18. April 1991, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 183 (188). im Entscheidung 64/1993 (XII.22.) AB vom 21. Dezember 1993, deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 539 (548 f.).

ι 0 1 Art. 23 Abs. 2 litauische Verfassung: „Die Rechte des Eigentums werden durch die Gesetze geschützt." i° 2 Vgl. die Entscheidung vom 13. Dezember 1993, englische Übersetzung in: Rulings and Decisions of the Constitutional Court of the Republic of Lithuania, Volume I, 1994, S. 52 ff., sowie die Entscheidung vom 19. Januar 1994, englische Übersetzung in: Rulings and Decisions of the Constitutional Court of the Republic of Lithuania, Volume II, 1994, S. 1 ff.; s. hierzu S. Staciokas, Consitutional review and the Protection of Property Rights. The Experience of the Constitutional Court of the Republic of Lithuania, in: Journal of Constitutional Law in Eastern and Central Europa 2 (1995), S. 211 (234 ff.). 103 Vgl. im einzelnen T. Marauhn (Fn. 93), S. 161 ff. 104 Entscheidung 24/1992 (IV.21.) AB, ABH 1992, S. 126 (128). 105 Vgl. § 70/Β ungarische Verfassung, Art. 35 slowakische Verfassung und Art. 54 und Art. 55 kroatische Verfassung. 106 Vgl. § 70/E ungarische Verfassung, Art. 30 und Art. 31 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 39 slowakische Verfassung, Art. 51 slowenische Verfassung, Art. 56 und Art. 57 kroatische Verfassung, Art. 28 estnische Verfassung, Art. 109 lettische Verfassung, Art. 48, 52 und Art. 53 litauische Verfassung. 107

G. Brunner, Vier Jahre ungarische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 13 (52), bezeichnet die sozialen Grundrechte als „leidige Problematik ( . . . ) aus dem propagandistischen Erbe des gescheiterten Sozialismus".

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gen sind. 108 Allerdings sind die sozialen Grundrechte auch in den neuen ostmitteleuropäischen Verfassungen nur sehr selten als subjektive Rechte ausgestaltet worden. Als eigenständige Weiterentwicklungen im Vergleich zu den älteren westeuropäischen Verfassungen sind demgegenüber die nunmehr in den Verfassungsordnungen der ostmitteleuropäischen Staaten enthaltenen grundrechtlichen Garantien im Bereich des Minderheitenschutzes 109, des Kinderschutzes 110 sowie schließlich des Umweltschutzes111 anzusehen.

V. Institutioneller Grundrechtsschutz durch Verfassungsgerichtsbarkeit und Bürgerrechtsbeauftragte Im Zuge der Rückkehr der ostmitteleuropäischen Staaten zu demokratischrechtsstaatlichen Gemeinwesen hat die Verfassungsgerichtsbarkeit nochmals, wie schon in Deutschland, Österreich und Italien in den fünfziger Jahren sowie Portugal und Spanien in den siebziger Jahren, einen deutlichen Aufschwung in Europa erlebt. War den teilweise schon zu Zeiten kommunistischer bzw. sozialistischer Herrschaft existierenden, aber kaum als echte Gerichte zu qualifizierenden sog. Verfassungsräten nach dem Prinzip der Einheit der Staatsgewalt noch relativ wenig Durchschlagskraft beschieden, so haben die nach dem Zusammenbruch der totalitären Regime errichteten Verfassungsgerichte die demokratisch-rechtsstaatliche Verfassungsstaatlichkeit maßgeblich gefestigt sowie insbesondere die effektive Durchsetzung von grundrechtlichen Garantien gesichert. Bei der Entscheidung zugunsten einer institutionell eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit haben sich die ostmitteleuropäischen Länder deutlich am deutschösterreichischen Vorbild orientiert. 112 Polen errichtete bereits im Jahre 1982 - damals noch als sozialistisches Land mit Bestrebungen zur Wiedereinführung der Rechtsstaatlichkeit nach der Solidarnosc-Bewegung - einen Verfassungsgerichts108 Vgl. dazu J. Polakiewicz, Soziale Grundrechte und Staatszielbestimmungen in den Verfassungsordnungen Italiens, Portugals und Spaniens, ZaöRV 54 (1994), S. 340 ff., sowie R. Steinberg, Der Beitrag des Einigungsprozesses und der neuen Bundesländer zur Verfassungsentwicklung in Deutschland, in: H. Däubler-Gmelin/K. Kinkel/H. Meyer/H. Simon (Hrsg.), Gegenrede: Aufklärung - Kritik - Öffentlichkeit, Festschrift für E.-G. Mahrenholz, 1994, S. 423 (436). 109 s. hierzu im einzelnen G. Brunner/B. Meissner (Hrsg.), Das Recht der nationalen Minderheiten in Osteuropa, 1999. 110 s. hierzu oben Fn. 15. 111 Vgl. Art. 5 polnische Verfassung, § 18 ungarische Verfassung, Art. 35 tschechische Charta der Grundrechte und -freiheiten, Art. 44 slowakische Verfassung, Art. 72 slowenische Verfassung, Art. 69 kroatische Verfassung und Art. 115 lettische Verfassung. 1,2 s. hierzu K. Stern, Ausstrahlungswirkung des Grundgesetzes auf ausländische Verfassungen (Fn. 4).

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hof, der allerdings erst 1986 seine Tätigkeit aufnahm. 1 1 3 Dieses Verfassungsgericht ist mittlerweile durch die neue polnische Verfassung von 1997 und das Gesetz über den Verfassungsgerichtshof erheblich aufgewertet worden. 1 1 4 Inzwischen hat die Idee der verselbständigten Verfassungsgerichtsbarkeit einen Siegeszug in ganz Ostmitteleuropa angetreten, 115 so namentlich in U n g a r n 1 1 6 , der Tschechischen 117 und Slowakischen 1 1 8 Republik, aber auch in Slowenien 1 1 9 und Kroatien 1 2 0 , die ihre noch aus jugoslawischer Zeit stammende Verfassungsgerichtsbarkeit dem westeuropäischen Modell angepaßt haben. Nicht anders verfuhren L e t t l a n d 1 2 1 , L i tauen 1 2 2 und Estland 1 2 3 , wenngleich die estnische Verfassung auch eine dezentrali113 Vgl. L. L. Garlicki, Das polnische Gesetz über den Verfassungsgerichtshof, in: Der Staat 26 (1987), S. 279 ff.; ders., Vier Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen (1985-1989), JöR 39 (1990), S. 285 ff.; K. Dzialocha, Der Verfassungsgerichtshof und die Garantie der Bürgerrechte in Polen, Osteuropa Recht 1987, S. 247 ff.; R. Machacek/Z. Czeszeiko-Sochacki, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Volksrepublik Polen, EuGRZ 1998, S. 269 ff. 114 s. hierzu H. Roggemann, Die Verfassung der Republik Polen vom 2. April 1997 im Spiegel des gesamteuropäsichen Verfassungsstandards, in: Recht in Ost und West 1998, S. 1 (10 f.); zur verfassungsgerichtlichen Entwicklung vgl. auch M. F. Brzezinski/L. L. Garlicki, Judicial Review in Post-Communist Poland: The Emergence of a Rechtsstaat?, in: 31 Stanford Journal of International Law 13, 24 (1995). 115 s. hierzu G. Brunner, Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, ZaöRV 53 (1993), S. 819 (822); R. Teitel, Constitutionalism in the Post-Cold War World: Judiciary Panel Paradoxes in the Revolution of the Rule of Law, in: 19 Yale Journal of International Law 238 (1994). 116 § 32/A ungarische Verfassung; vgl. hierzu G. Haimai, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn, in: Recht in Ost und West 1993, S. 4 ff.; L. Sólyom, The First Year of the Constitutional Court, Acta Juridica Hungarica 1991, S. 5 ff.; dens., Establishing a State governed by the rule of law, in: Review of Central and East European Law 1996, S. 347 (349 f.); G. Brunner (Fn. 115), S. 827 f., dens., Vier Jahre ungarische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 13 ff.; F. Majoros, Zur Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn, Osteuropa Recht 1993, S. 106 ff. 117

Art. 83 bis Art. 89 tschechische Verfassung; vgl. G. Brunner, Die neue Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa (Fn. 115), S. 832 f.; K. Vodicka, Unaufhebbare Grundprinzipien der tschechischen Verfassungsordnung, Osteuropa Recht 1996, S. 225 (241). ι· 8 Art. 124 bis Art. 140 slowakische Verfassung; vgl. G. Brunner (Fn. 115), S. 832 f. 119 s. hierzu 7. Kristan, Verfassungsgerichtsbarkeit in Slowenien, Osteuropa Recht 1993, S. 22 ff.; ders., Verfassungsentwicklung und Verfassungsordnung Sloweniens, ZaöRV 53 (1993), S. 322 (352 f.). 120 Art. 122 bis Art. 127 kroatische Verfassung; hierzu N. Pesut, Verfassungsgerichtsbarkeit in Kroatien, Osteuropa Recht 1996, S. 18 (19 f.); G. Brunner (Fn. 115), S. 827. 121 s. hierzu E. Levits, Verfassungsgerichtsbarkeit in Lettland, Osteuropa Recht 1997, S. 305 ff. 122 Art. 102 litauische Verfassung; vgl. hierzu R. Steinberg, Die neuen Verfassungen der baltischen Staaten, JöR 43 (1994), S. 55 (57); G. Brunner (Fn. 115), S. 834. 123 Nach Art. 149 Abs. 3 estnische Verfassung ist der Staatsgerichtshof funktional auch als Verfassungsgericht zuständig; vgl. hierzu S. Kofmel, Die neue Verfassung der Republik Estland vom 28. Juni 1992, ZaöRV 53 (1993), S. 135 (150 f.); G. Brunner (Fn. 115), S. 834 f.; R. Steinberg (Fn. 122), S. 55 (57).

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sierte Normenkontrolle vorsieht, wonach jedes Gericht berechtigt und verpflichtet ist, entscheidungserhebliche Normen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls nicht anzuwenden.124 Den Verfassungsgerichten ist die Aufgabe zugewiesen, den Vorrang der Verfassung einschließlich der hierin enthaltenen Grundrechtskataloge innerhalb der Rechtsordnung sicherzustellen. Um dieser Rolle als „Hüter der Verfassung 4' zu entsprechen, hat man die neuen Verfassungsgerichte mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet.125 Zum Schutz der Grundrechte kommt dem Institut der Verfassungsbeschwerde eine herausragende Bedeutung zu. Fast alle ostmitteleuropäischen Verfassungen abgesehen von jenen der baltischen Staaten - sehen grundsätzlich die Möglichkeit einer Individualbeschwerde vor. Sie ermöglicht, eine durch hoheitlichen Akt verursachte Grundrechtsverletzung beim Verfassungsgericht geltend zu machen. 126 Allerdings ist die inhaltliche Ausgestaltung und die tatsächliche Bedeutung dieser Grundrechtsbeschwerden höchst unterschiedlich. In der Regel richtet sich die Beschwerde gegen den staatlichen Akt, durch den der Beschwerdeführer unmittelbar in seinen Grundrechten verletzt worden ist, wobei dies meistens ein Einzelakt, wie beispielsweise ein Verwaltungsakt oder ein Gerichtsurteil sein wird, ausnahmsweise aber auch eine Rechtsnorm sein kann. Diese echte Verfassungsbeschwerde 1

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existiert in der Tschechischen und Slowakischen Republik, in Slowenien sowie in Kroatien 130 . Als Beschwerdegegenstand kommen bei dieser Erscheinungsform der Verfassungsbeschwerde alle exekutiven wie judikativen Einzelentscheidungen in Betracht. Grundrechtsverletzende Rechtsnormen können nicht unmittelbar angegriffen werden; vielmehr muß gleichzeitig zur Beschwerde gegen den Einzelakt ein Normenkontrollverfahren beantragt werden, 131 wenn nicht das Besch werde verfahren von Amts wegen in ein Normenkontrollverfahren überführt 1 3 2 oder letzteres inzident durchgeführt 133 wird. In einigen wenigen Verfas124 s. Art. 15 estnische Verfassung. Die Verfassungsgerichtsbarkeit wird daher in Estland nur teilweise durch den Staatsgerichtshof ausgeübt. 125 Vgl. hierzu den Überblick bei G. Brunner, Entwicklung der polnischen Verfassungsgerichtsbarkeit in rechtsvergleichender Sicht, in: G. Brunner/L. L. Garlicki (Fn. 12), S. 15 (32 ff.). 126 s. hierzu G. Brunner (Fn. 115), S. 856; G. Brunner, Grundrechtsschutz durch Verfassungsgerichtsbarkeit in Osteuropa, in: J. Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für K. Stern, S. 1057 (1048). 127 Vgl. Art. 87 Abs. 1 lit. d tschechische Verfassung i.V.m. §§ 72 ff. tschechisches Verfassungsgerichtsgesetz. 128 Vgl. Art. 127 slowakische Verfassung i.V.m. §§ 49 ff. slowakisches Verfassungsgerichtsgesetz. 129 Vgl. Art. 160 Abs. 1 sechster Spiegelstrich und Abs. 3 slowenische Verfassung i.V.m. §§50 ff. slowenisches Verfassungsgerichtsgesetz. 130 Vgl. Art. 125 dritter Spiegelstrich kroatische Verfassung i.V.m. §§ 28 ff. kroatisches Verfassungsgerichtsgesetz. 131 So in der Tschechischen Republik; vgl. hierzu G. Brunner (Fn. 126), S. 1049. 1 32 So in Slowenien; vgl. hierzu G. Brunner (Fn. 126), S. 1049.

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sungsordnungen ist demgegenüber die Beschwerde so eigentümlich ausgestaltet worden, daß der Betroffene, ohne den konkreten Einzelakt rügen zu können, direkt die dem Vollzugsakt zugrundeliegende Rechtsnorm wegen Verfassungswidrigkeit angreifen muß. Diese unechte Verfassungsbeschwerde besteht in Ungarn und Polen. So kann nach § 48 ungarisches Verfassungsgerichtsgesetz jedermann eine Grundrechtsbeschwerde erheben, der behauptet, durch die Anwendung einer verfassungswidrigen Norm in seinen Grundrechten verletzt worden zu sein. Das Problem dieser Bestimmung, welche als die „wohl ( . . . ) am meisten mißlungene Regelung des Verfassungsgerichtsgesetzes 4'134 bezeichnet worden ist, besteht darin, daß der Beschwerdeführer die Aufhebung der verfassungswidrigen Rechtsnorm erreichen kann, wenngleich der ihn primär verletzende Einzelakt weiterhin wirksam bleibt. Es kommt hinzu, daß der Bürger dieses unbefriedigende Ergebnis weitaus einfacher auf dem Wege des gleichzeitig vorgesehenen Normenkontrollverfahrens herbeiführen kann, da er dort keine Beschwerdebefugnis nachweisen muß und keine Fristen einzuhalten hat. Aus diesem Grunde kommt der Verfassungsbeschwerde in der Praxis, abgesehen von wenigen Ausnahmesituationen, kaum wirkliche Bedeutung zu, was sich an der niedrigen Zahl von Klageeingängen ablesen läßt. 135 Um diesem Zustand abzuhelfen, hat sich das ungarische Verfassungsgericht in einer stark umstrittenen Entscheidung über die beschränkt gesetzliche Ermächtigung hinweggesetzt und auch die auf dem verfassungswidrigem Gesetz beruhende Gerichtsentscheidung aufgehoben. 136 Auch in Polen kann der einzelne Bürger mit der in Art. 79 Abs. 3 polnische Verfassung vorgesehenen „Verfassungsklage" nicht unmittelbar die Verfassungsmäßigkeit einer behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung überprüfen lassen; er ist vielmehr darauf verwiesen, allein die Verfassungswidrigkeit der diesen Entscheidungen zugrunde liegenden Normen zu rügen, um bei Erfolg bestenfalls in einem weiteren Prozeß die Wiederaufnahme des ursprünglichen Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens zu erreichen. 137 133 So in Kroatien, wobei diese Vorgehensweise vom dortigen Verfassungsgericht in Ermangelung einer ausdrücklichen Regelung im Verfassungsgerichtsgesetz entwickelt wurde. Vgl. hierzu die Entscheidung U-III-428 /1993 vom 16. März 1994, Narodne novine Nr. 26/ 1994; zitiert nach G. Brunner (Fn. 126), S. 1049. 134 G. Brunner, Vier Jahre ungarische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: G Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 13(34). >35 Vgl. ibid., S. 34 f.; ders. (Fn. 126), S. 1052; G. Haimai, Establishing a State governed by the Rule of Law, in: 22 Review of Central an East European Law 1996, Nr. 4, S. 347 (350 ff.); F. Majoros, Zur Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn, Osteuropa Recht 1993, S. 106 (116 f.). •36 Entscheidung 57/1991 (XI.8.) AB; deutsche Übersetzung in: G. Brunner/L. Sólyom (Fn. 12), S. 239 ff. 137 Art. 79 Abs. 1 i.V.m. Art. 188 Abs. 1 Nr. 5 polnische Verfassung; vgl. hierzu im einzelnen G. Brunner, Entwicklung der polnischen Verfassungsgerichtsbarkeit in rechtsvergleichender Sicht, in: G. Brunner/L. L. Garlicki (Fn. 12), S. 15 (48 ff.); L. L. Garlicki, Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Polen, in: G. Brunner/L. L. Garlicki (Fn. 12), S. 64 (84); T. DiemerBenedict, Wirtschaftsfreiheit in Polen: verfassungs- und verwaltungsrechtliche Grundlagen des Rechts auf wirtschaftliche Betätigung, 2001, S. 232 ff.; G. Freytag, Die Verfassung der

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Unter den verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten steht in den ostmitteleuropäischen Ländern die Normenkontrolle im Vordergrund. Sie kann ebenfalls dem Grundrechtsschutz dienen, weil der Kreis der Antragsberechtigten oft so großzügig ausgestaltet worden ist, daß auch der Einzelne das Verfahren in Gang setzen kann. In Ungarn hat man sich sogar zur Einführung einer Normenkontrolle in Form der actio popularis entschlossen, so daß das Antragsrecht im Verfahren der nachträglichen Normenkontrolle jedermann verliehen worden ist, ohne daß er ein konkretes Rechtsschutzinteresse nachweisen muß. 138 Zudem können hier sogar bloße Verwaltungsvorschriften zulässiger Kontrollgegenstand sein, und es kommt ferner nicht nur die Verfassung, sondern jede im Einzelfall höherrangige Norm als Kontrollmaßstab in Betracht. 139 Das so ausgedehnte Normenkontrollverfahren hat allerdings zu einer erheblichen Überlastung des ungarischen Verfassungsgerichts geführt. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, daß der Grundrechtsschutz zunehmend Eingang gefunden hat in die Verfassungsgerichtsbarkeit der jungen ostmitteleuropäischen Demokratien und mittlerweile auch große praktische Bedeutung erlangt hat, wobei die Entwicklung - wiederum - in Polen und Ungarn am weitesten fortgeschritten ist. Allerdings hat die grundrechtsschützende Verfassungsgerichtsbarkeit noch in ganz Ostmitteleuropa ihren Schwerpunkt auf dem Gebiet der Normenkontrolle, weniger auf dem der individuellen Grundrechtsbeschwerde, wenngleich sich das Verhältnis langsam zu ändern beginnt. Dabei kann der offensichtliche Mangel einiger Staaten - beispielsweise im Baltikum - an verfassungsgerichtlichem Individualrechtsschutz auch nur teilweise durch den gleichzeitig eröffneten Rechtsweg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als gemildert angesehen werden. Die ostmitteleuropäischen Verfassungsgerichte sind jedoch auf dem bestem Weg, zu wirksamen Institutionen des Grundrechtsschutzes zu werden. Dem Grundrechtsschutz dient schließlich auch ein häufig anzutreffender sog. Bürgerrechtsbeauftragter oder Ombudsmann,140 der entgegen seinem Namen nicht nur für Bürgerrechte, sondern für alle verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte zuständig ist. Teilweise sind ihm weitgehende Kompetenzen eingeräumt worden, beispielsweise in Polen, wo der Bürgerrechtsbeauftragte im Normenkontrollverfahren vor dem Verfassungsgericht antragsberechtigt ist. 1 4 1 Republik Polen vom 2. April 1997 im Spiegel des gesamteuropäischen Verfassungsstandards, in: Recht in Ost und West 1998, S. 1 (11). 138 § 21 Abs. 2 ungarische Verfassung. 139

§ 33 bis § 43 ungarische Verfassung; das ungarische Verfassungsgericht sieht auf der Grundlage von § 7 Abs. 2 ungarische Verfassung i.V.m. dem Gesetz über die Rechtsetzung Nr. XI/1987 in jedem Verstoß gegen die gesetzlichen Vorrangs- und Vorbehaltsregelungen einen Verfassungsverstoß, vgl. hierzu die Entscheidungen 17/1990 und 60/ 1992. 140 s. z. B. Art. 208 bis Art. 212 polnische Verfassung, § 32 ungarische Verfassung, Art. 159 slowenische Verfassung und Art. 93 kroatische Verfassung. 141 Vgl. hierzu G. Brunner, Entwicklung der polnischen Verfassungsgerichtsbarkeit in rechtsvergleichender Sicht (Fn. 12), S. 37; T. Diemer-Benedict (Fn. 137), S. 236; G. Freytag, (Fn. 137), S. 13.

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VI. Schlußbemerkungen Die ostmitteleuropäischen Länder haben mit ihren neuen Verfassungen auf dem Gebiet des Individualrechtsschutzes Anschluß gefunden an die von der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sowie der Französischen Deklaration der Menschen· und Bürgerrechte ausgehende Verfassungstradition. Sie haben mittlerweile den in internationalen und supranationalen Organisationen proklamierten Menschen- und Grundrechtsstandard erreicht. Zudem haben sie die beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und insbesondere die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 einschließlich ihrer mittlerweile elf Zusatzprotokolle 142 ratifiziert und sich damit auch der Jurisdiktionsgewalt des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterworfen, der den Schutz der hiernach geschützten Rechte garantiert, falls der nationale Rechtsschutz unzureichend sein sollte. Das hohe Niveau des moderne Verfassungsstaatlichkeit am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts kennzeichnenden Menschen- und Grundrechtsschutzes spiegelt sich in den Verfassungstexten der neuen ostmitteleuropäischen Demokratien trefflich wider. Zugleich fällt auf, daß eine Ausdifferenzierung der Grundrechtsdogmatik durch die Verfassungsgerichtsbarkeit bislang in ganz unterschiedlichem Maße stattgefunden hat, wobei die Entwicklung in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik am weitesten gediehen ist. Einige dieser neuen Verfassungen enthalten sogar positive Fortentwicklungen der älteren westeuropäischen Grundrechtskataloge, ζ. B. hinsichtlich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, der Informationsgrundrechte, der Kinderschutzrechte sowie eines „Umweltgrundrechts 4'. Die Rezeption von älterem ausländischen Verfassungsrecht im Bereich der Grundrechte erfolgte daher durchaus „hinterfragend" und unter Anpassung an aktuell gewordene Schutzbedürfnisse. In diesem Sinne sind die Grundrechtsentwicklungen in den neuen ostmitteleuropäischen Verfassungen auch als Weiterbildung der modernen Verfassungsstaatlichkeit zu verstehen. Nach leidvollen Erfahrungen mit totalitären Regimen leisten die Staaten Ostmitteleuropas mit ihren neuen Grundrechtskatalogen und Verfassungsgerichten nicht nur einen weiteren Beitrag zur Universalität der Menschenrechte, 143 sondern tragen vielmehr auch zur breiteren Durchsetzung des mittlerweile deutlich erkennbaren europäischen Menschen- und Grundrechtsstandards bei, der ein wesentliches 142

Vgl . hierzu E. Konstantinov, Die osteuropäischen Länder und der Rechtsschutz durch die Europäische Menschenrechtskonvention, in: Recht in Ost und West 1998, S. 21 ff. 143 s. hierzu K. Stern, Zur Universalität der Menschenrechte, in: F. Ruland/B. Baron v. Maydell/H.-J. Papier (Hrsg.), Festschrift für H. F. Zacher, 1998, S. 1963 ff.; ders., Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HStR V, § 108; E. Klein, Universeller Menschenrechtsschutz - Realität oder Utopie?, EuGRZ 1999, S. 109 ff.; M. Herdegen, Natural Law, Constitutional Values and Human Rights - A Comparative Analysis, HRU 1998 (Vol. 19), S. 37 ff.

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Merkmal der „europäischen Verfassungsgemeinschaft" 144 , verstanden als eine historisch in mehreren Jahrhunderten gewachsenen Werte- und Rechtsgemeinschaft, geworden ist. Insbesondere nach den jüngsten verfassungsrechtlichen Umgestaltungen in den ostmitteleuropäischen Staaten läßt sich insoweit schon heute in Grundzügen ein „gemeineuropäisches Verfassungsrecht" 145 , ein ehedem dem römischen Recht vergleichbares ius publicum europaeum erkennen.

144 Vgl. fc. Stern, Ausstrahlungswirkung des Grundgesetzes auf ausländische Verfassungen (Fn. 4), S. 249 (262). 145 s. hierzu K. Stern, ibid.; sowie P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff.; ders., Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, in: Publications de l'Institut suisse de droit compari, Nr. 28, 1995, S. 261 ff.; J. A. Frowein, Die Herausbildung europäischer Verfassungsprinzipien, in: A. Kaufmann/E.-J. Mestmäcker/H. F. Zacher (Hrsg.), Rechtsstaat und Menschenwürde, Festschrift für W. Maihofer, 1988, S. 149 ff.; ders., Wesentliche Elemente einer Verfassung, in: Publications de l'Institut Suisse de droit compari, Nr. 28, 1995, S. 71 ff.; allgemeiner bereits H. Coing, Gemeines Recht und Gemeinschaftsrecht in Europa, in: E. v. Caemmerer/H.-J. Schlochauer/E. Steindorff (Hrsg.), Probleme des europäischen Rechts, Festschrift für W. Hallstein, 1966, S. 116 ff.

Der Aufbau kommunaler Selbstverwaltung von oben Föderalismus und Dezentralisation in Rußland Von F ranz-Ludwig Knemeyer* I. Vom zentralistischen Einheitsstaat zu Föderalismus und Dezentralisation Die Bayerische Verfassung des Jahres 1946 sieht den Aufbau der Demokratie von unten nach oben.1 Die zentrale Bestimmung in Art. 11 Abs. 4 BV gibt - obwohl nur einmal kopiert 2 - das Verständnis der Position kommunaler Selbstverwaltung im Staate des Grundgesetzes und der ihm entsprechenden Länderverfassungen vor. Übereinstimmend wird in dieser Norm die Bedeutung der Gemeinde für die Verwirklichung des demokratischen Prinzips zum Ausdruck gebracht.3 Diese Bestimmung spiegelt aber auch den tatsächlichen Aufbau der Demokratie nach der totalitären Unterbrechung der Jahre 1933-1945 wieder. 4 Die funktionierende Verwaltung in bürgerschaftlicher Mitwirkung wurde von der Wurzel her neu aufgebaut. Diese Wurzeln bildeten und bilden die Gemeinden, aber auch die Landkreise und Bezirke. 5 Diesem auf der kommunalen Selbstverwaltung aufgebauten Staat hat Walter Schmitt Glaeser auch in politischer Funktion gedient und dem System der Dezen* Der Beitrag beruht auf Arbeiten im Zusammenhang mit einer Beratung der Duma und des Föderationsrates sowie Gesprächen im für die kommunale Selbstverwaltung zuständigen Wirtschaftsministerium im September 2002. Zu besonderem Dank verpflichtet bin ich u. a. Herrn De Emil Markwart, Mitglied der deutschen „Ost-Euro", die als private Beratungsgesellschaft maßgeblich am Aufbau kommunaler Selbstverwaltung in der Russischen Föderation beteiligt ist. 1 Knemeyer, Bayern - nach außen föderalistisch, nach innen zentralistisch?, 50 Jahre Bayerische Verfassung, Bayerische Landeszentrale für Politische Bildung, D 42, 1996, S. 184 ff. 2 Art. 3 Abs. 2 der Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern. 3 Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern, 4. Aufl. 1992, Art. 11, Rn. 15; VerfGH 33, S. 87 LS. 3. 4 Dazu Low, Kommunalgesetzgebung im NS-Staat, 1991. 5 Zur Demokratie von unten auch Ralf Dahrendorf, Für einen Föderalismus von unten Baden-Württemberg als Modell europäischer Möglichkeiten, Baden-Württembergische Gemeindezeitung 2002, S. 401 ff., und Paul Kirchhof Die Kommunen als unverzichtbares Fundament einer modernen Demokratie, ebenda S. 408 ff. 39 FS Schmitt Glaeser

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tralisation immer einen hohen Beachtenswert eingeräumt. Ihm, der im Staat (ganz) oben Verantwortung getragen und als Senator und Präsident des Bayerischen Senats6 die Gesetzgebung maßgeblich mitbestimmt hat, sei ein Beitrag gewidmet, der von einem anderen Systemdenken bestimmt ist - und wie zu zeigen sein wird - auch noch bestimmt sein muß: einem Systemdenken und Handeln von oben nach unten.7 Wenn diese Zielrichtung auf Rußland bezogen angesprochen wird, so veranlaßt dies leicht zu Assoziationen an das sowjetische System der Unterstellung allen Handelns im Staat unter die eine Staatsmacht, das über 70 Jahre geltende „BefehlsPrinzip" des Zentralstaates und der alles beherrschenden Partei.8 Nun hat jedoch auch die Russische Föderation im Rahmen ihres Transformationsprozesses seit dem Jahre 19939 nicht nur das System des Föderalismus eingeführt, sondern innerhalb der „Föderationssubjekte" 10 auch das innerstaatliche Organisationsprinzip der Dezentralisation verankert: Die Machtvertikale ist (rechtlich) aufgelöst durch Föderalismus und Dezentralisation. Mit der Ratifizierung der Europäischen Kommunalcharta am 5. Mai 1998 (in Kraft seit dem 1. September 1998) hat sich die Russische Föderation auch verpflichtet, die wichtigsten Standards kommunaler Selbstverwaltung in der Föderation zu garantieren. 11 Um dieser Verpflichtung allerdings nachkommen zu können, bedurfte und bedarf es erst einmal des Aufbaus einer demokratischen kommunalen Selbstverwaltung. Anders als im Westen Deutschlands, wo nach zwölfjähriger totalitärer Unterbrechung an vorhandene Traditionen angeknüpft werden konnte - nach der doppelten totalitären Unterbrechung im Osten war dies schon erheblich schwieriger 12 - war und ist es in Rußland nicht möglich, kommunale Selbstverwaltung zu reaktivieren. 13 6 Eine Einrichtung, die jenseits von Parteien und Parteiungen die gesellschaftlichen Interessen der bayerischen Stände in den Gesetzgebungsprozeß eingebracht hat, ein oberstes Staatsorgan, das die bayerische Landespolitik sachverständig kritisch begleitet und initiiert hat. 7 Als „bekennender Subsidiarist" sehe ich diese Entwicklung natürlich mit besonders kritischem Interesse. 8 Hoffschulte, Rußland und die „Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung", Europa kommunal 1994, S. 172 ff., 220 ff., 223. 9 Zur Entwicklung bis zum Jahre 1993 s. etwa Bjalkina, Die örtliche Selbstverwaltung in der Russischen Föderation: Lage, Probleme, Perspektiven, EuR 2001, S. 15 ff. 10 Die Russische Föderation gliedert sich in 89 „Subjekte" - vertreten im Föderationsrat durch jeweils zwei Abgeordnete - , 21 Republiken, 57 Provinzen, Gebiete und Städte von föderaler Bedeutung (Moskau, St. Petersburg), elf autonome Gebiete und Bezirke. 11 Zur EKC Knemeyer (Hrsg.), Die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 1989, und Bert Schaffarzik, Handbuch der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung, 2002. 12 Zur doppelten totalitären Unterbrechung und dem Aufbau danach in der Übergangskommunalverfassung der DDR Knemeyer (Hrsg.), Aufbau kommunaler Selbstverwaltung in der DDR, 1990, und Bretzinger, Die Kommunal Verfassung der DDR, 1994.

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So bedurfte und bedarf es eines völligen Neubaus bzw. eines Umbaus staatlicher Verwaltungsbezirke und Einrichtungen in Institutionen kommunaler Selbstverwaltung. Dieser „Transformationsprozeß" konnte und mußte und muß von oben angestoßen, begleitet und durchgesetzt werden. 14 Die wesentlichen Grundlagen für diesen Transformationsprozeß sind in einigen Bestimmungen der Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993 (in Kraft seit dem 25. Dezember 1993) gelegt. Ein erstes Gesetz über die Grundprinzipien der Organisation der kommunalen Selbstverwaltung in der Russischen Föderation, verabschiedet von der Staatsduma am 12. August 1995 (in Kraft seit dem 28. August 1995), hat in einem für unser Verständnis sehr umfangreichen Rahmenwerk diesen Verfassungsbestimmungen Leben gegeben und die Grundlage für den Aufbau kommunaler Selbstverwaltung in den Föderationssubjekten gelegt. 15 In der Folgezeit ist eine Vielzahl von Gesetzen mit Bezug auf die kommunale Selbstverwaltung erlassen worden. 16 Damit ist gleichzeitig ein wichtiger Schritt in Richtung europäische Rechtsordnung, europäische Demokratie und Gesellschaftsordnung getan, auch wenn noch vielfältige Schritte der Umsetzung fehlen. 17 Neben dem Föderationsgesetzgeber haben aber auch die Föderationssubjekte ihrerseits Materien festgeschrieben, die im Föderationsgesetz selbst nicht angesprochen sind. 18

II. Der zweite Ansatz zur Etablierung der kommunalen Selbstverwaltung Im Jahre 2002 - also sieben Jahre später - ist kommunale Selbstverwaltung in sehr unterschiedlichem Maße an der Basis realisiert. Neben den Verfassungsnormen gab es wohl - für deutsche Verhältnisse - ein recht ausführliches Gesetz auf Föderationsebene. Kommunale Selbstverwaltung wurde aber in vielen Föderationssubjekten in der Praxis nicht in dem erforderlichen Maße entwickelt. Nach 13

Selbstverwaltungsstrukturen im Zarenreich seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind nicht wieder zu beleben. 14 Zum Neubau des Bayerischen Staatssystems von oben nach unten zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch den Minister Montgelas s. Knemeyer, Regierungs- und Verwaltungsformen in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, 1970, S. 110 ff., 175 ff., 258. 15 Zum Gesetzentwurf grundlegend schon Heinrich Hoffschulte, Rußland und die „Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung", Europakommunal 1994, S. 172 ff., 220 ff. Hoffschulte macht darauf aufmerksam, wenn dieses Projekt kommunaler Selbstverwaltung nicht gelinge, könnte eine Phase der Rezentralisierung drohen. 16 Bjalkina, Die örtliche Selbstverwaltung in der Russischen Föderation (Fn. 9), S. 21 f. 17 Bjalkina, Die örtliche Selbstverwaltung in der Russischen Föderation (Fn. 9), S. 23. 18 Zur Problematik der „vorauseilenden" Gesetzgebung Bjalkina, Die örtliche Selbstverwaltung in der Russischen Föderation (Fn. 9), S. 28, und Fuhrmann, Rechtliche Rahmenbedingungen der örtlichen Selbstverwaltung in Rußland, der Städtetag 1998, S. 295 ff., 297 und 370 ff., 371. 39*

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zwölf Jahren seit dem ersten Russischen Gesetz über kommunale Selbstverwaltung und sieben Jahren nach dem Inkrafttreten des geltenden Gesetzes gibt es immer noch Föderationssubjekte, in denen überhaupt keine kommunale Selbstverwaltung etabliert wurde, bzw. in denen nur wenige Einheiten als Selbstverwaltungssubjekte anerkannt wurden. Zudem wurden derartige Subjekte zum Teil auch rechtlich dem Staat untergeordnet. Andere FöderationsSubjekte haben kommunale Selbstverwaltung ausschließlich auf der Ebene der Landkreise organisiert. In anderen wieder wurde Selbstverwaltung ausschließlich auf der Gemeindeebene eingeführt. So sah sich der Präsident der Russischen Föderation veranlaßt, 19 eine „Kommission zur Vorbereitung von Vorschlägen über die Abgrenzung der Aufgaben und Kompetenzen zwischen den föderalen Staatsmachtorganen, den Staatsmachtorganen der Föderationssubjekte und den Organen der kommunalen Selbstverwaltung" einzuberufen. 20 Eine Arbeitsgruppe für allgemeine Fragen der Organisation von Staatsorganen und kommunaler Selbstverwaltung hat nunmehr ein entsprechendes Konzept vorgelegt, in dessen Abschnitt 3 es vor allem um eine „Vervollständigung" der territorialen Grundlage der kommunalen Selbstverwaltung und ihrer Kompetenzen geht. Die Arbeitsgruppe sieht die Notwendigkeit der gleichzeitigen Lösung zweier Aufgaben: 1. der Annäherung der kommunalen Selbstverwaltung an die Bevölkerung und 2. der Gewährleistung der effizienten Tätigkeit von kommunalen Gebilden zur Lösung der Fragen örtlicher Bedeutung. Beides erfordert, wie die Arbeitsgruppe zu Recht feststellt, eine Verbesserung der territorialen Grundlage der kommunalen Selbstverwaltung. Um eine Balance für das ganze Land zu finden - dies gehört zu den Grundvoraussetzungen der Organisation der kommunalen Selbstverwaltung - wird die Bildung von zwei Ebenen vorgeschlagen: eine Gemeindeebene und eine Kommunal-Rayonebene.21 Ähnlich der Konstruktion unserer kreisfreien Städte werden zudem Munizipalitäten mit Rayonsstatus vorgeschlagen. Im einzelnen werden dann Grundsätze für die territoriale Gliederung mit Größenrichtwerten und vor allem eine Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Ebenen in Form eines Kataloges vorgeschlagen.

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Auf politische (Hinter-)Gründe kann und sollte nicht eingegangen werden: Kommunale Selbstverwaltung als Machtbalance zu den Organen der Föderationssubjekte, aber auch in der Erkenntnis, daß die Entwicklung des ganzen Landes maßgeblich davon abhängt, ob und wie es gelingt, Initiativen von unten zu ermöglichen(7), in der Erkenntnis, daß die einheitliche Staatsmacht nicht nur dreifacher Gewaltenteilung bedarf, sondern auch durch eine horizontale Gewaltenteilung erweitert werden muß(?), vielleicht auch in der Erkenntnis, daß kommunale Selbstverwaltung besonders befähigt ist, diejenigen Aufgaben wahrzunehmen, die sich gleichzeitig am Bedarf der Bürger und der örtlichen Wirtschaft orientieren müssen. 20 Diese Kosak Kommission war beauftragt, Vorschläge zu einer generellen Neuordnung der Kompetenzen und Ressourcen zwischen Föderation, Föderationssubjekten und Kommunen zu unterbreiten. 21 Zur „Kommunalisierung" der staatlichen Rayons, s. hinten Teil V. 2.

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Darüber hinaus wird - wie schon im ersten Gesetz verankert - die Möglichkeit der Delegation staatlicher Aufgaben auf kommunale Organe unter besonderem Hinweis auf das Konnexitätsprinzip vorgesehen. Schließlich wird dem Aspekt der Steuerverteilung besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Auch das Verfahren der Bildung - Reorganisation - der territorialen Neugliederung wird im Föderationsgesetz festgelegt. 22 Das vorgeschlagene Konzept verfolgt das Ziel, die Übertragung einzelner staatlicher Aufgaben auf die kommunale Selbstverwaltung wesentlich zu straffen und zu ordnen. Seine Realisierung schafft die notwendigen Voraussetzungen für eine Kontrolle effizienter Erfüllung einschließlich administrativer Einwirkung zwecks sachgemäßer Erledigung der übertragenen Kompetenzen. Auf diese Weise können auch den Kommunalrayons unmittelbar durch föderale Gesetze staatliche Kompetenzen z. B. im Sozialbereich, im Bereich des Bildungswesens oder des Gesundheitswesens, übertragen werden - dem Konnexitätsprinzip entsprechend jedoch nur bei gleichzeitiger Mittelzuweisung.23 Um dieses System umzusetzen, sieht die Arbeitsgruppe umfangreiche Regelungen im föderalen Gesetz vor, einem Gesetz, das schon in der ersten Fassung von 1995 für unsere Vorstellungen sehr ins Detail geht. Um dieses System, das hier nur angedeutet werden konnte, zu werten, bedarf es zunächst der Spiegelung am verfassungsrechtlichen Hintergrund. Alsdann sei ein Blick geworfen auf die tatsächlichen Probleme, um dann die Entwürfe 2002 unter Berücksichtigung der besonderen Situation der Russischen Föderation - der historischen Entwicklung, der Inhomogenität der Föderationssubjekte24 - der völlig unterschiedlichen Siedlungs-, Verkehrs- und Entwicklungsstände zu behandeln.25 Auf machtpolitische Bremsfaktoren kann und soll nur hingewiesen werden. Ein „Machtwort" des Präsidenten kann eine Gesetzgebung in Gang setzen, das Verfahren auch beschleunigen. Vor der Umsetzung und erst recht der mentalen Akzeptanz liegen jedoch noch vielfältige Hindernisse und Schranken. Schrankenwärter sind vor allem die Machtverlierer.

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s. dazu insbesondere Art. 4 und 13 des Föderationsgesetzes. Das in Art. 133 der Verfassung verankerte Konnexitätsprinzip ist einer der wesentlichen Pfeiler kommunaler Selbstverwaltung. In der Europäischen Kommunalcharta ist dieses Prinzip (leider) nicht verankert. 24 Die Inhomogenität zeigt sich nicht nur an den exorbitanten Größenunterschieden - Einwohnerzahlen und Fläche - sondern auch an dem ganz unterschiedlichen rechtlichen Status. Die Republiken sind ζ. B. berechtigt, eigene Verfassungen zu verabschieden und eigene Staatssprachen festzulegen. Die Provinzen, Gebiete und Städte von föderaler Bedeutung erlassen an Stelle dessen Statuten. 23

25 s. dazu etwa Engel, Struktur und Umsetzung der EKC, in: Knemeyer (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung in Ost und West, 2003, S. 83.

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III. Der verfassungsrechtliche Hintergrund Mit der Verfassung der Russischen Föderation vom 12. Dezember 1993 - in Kraft seit dem 25. Dezember 1993 - wurden die Grundlagen für Föderalismus und Dezentralisation gelegt.26 Diese Verfassung enthält in ihrem Kapitel 8 - die örtliche Selbstverwaltung - vier grundlegende Artikel zur kommunalen Selbstverwaltung. Sie basieren auf dem Prinzip einheitlicher Volkssouveränität (Art. 3 Abs. 1) und der Teilung der „Gewalt" zwischen Organen der Staatsgewalt und der „örtlichen Selbstverwaltung" (Art. 3 Abs. 2). Als Bruch mit dem alten System wird in Art. 12 Satz 2 noch einmal deutlich gemacht: „Die Organe der örtlichen Selbstverwaltung gehören nicht zum System der Organe der Staatsgewalt". Schließlich bestimmt Art. 12 Satz 1 die verfassungsrechtliche Anerkennung und Garantie der örtlichen Selbstverwaltung in der Russischen Föderation und bestimmt: „Örtliche Selbstverwaltung ist im Rahmen ihrer Befugnisse selbständig". Dieses „im Rahmen ihrer Befugnisse" ist nach h. M. nicht anders zu sehen als das uns aus dem Grundgesetz bekannte „im Rahmen der Gesetze". Denn „Befugnisse" werden der kommunalen Selbstverwaltung durch die Verfassung und die Gesetze verliehen bzw. übertragen. Gemäß Art. 72n gehört die Festlegung allgemeiner Organisationsprinzipien für das System der Organe der Staatsgewalt und der örtlichen Selbstverwaltung zur „gemeinsamen Kompetenz" der Föderation und der Subjekte der Russischen Föderation. Noch weitgehend ungeklärt ist, wie diese gemeinsame Kompetenz der Föderation rechtlich einzuordnen ist: - Stellt sie sich als Rahmenkompetenz der Föderation und Ausfüllungskompetenz der Subjekte dar, - stellt sie sich verfahrensmäßig als Gesetzgebungskompetenz mit Zustimmung des Föderationsrates dar oder ist zu begreifen - als „Zugriffskompetenz" dergestalt, daß die Russische Föderation die Regelungskompetenz besitzt, die Föderationssubjekte jedoch dann und solange eigenständige Regelungen erlassen können, solange die Materie durch Föderationsgesetz noch nicht geregelt ist? Das russische Verfassungsgericht räumt den Föderationssubjekten eine derartige Zugriffskompetenz ein. Das Gesetzgebungsverfahren sieht vor, daß alle Gesetze vom Föderationsrat nach der Verabschiedung durch die Staatsduma bestätigt werden. Mit einer gemeinsamen Kompetenz hat dies also nichts zu tun. Fuhrmann, der sich 1998 ausführlich mit den verschiedenen Gesetzgebungskompetenzen des Russischen Parlaments befaßt hat, gelangt zu dem Ergebnis, daß 26 Die Verfassung vom 21. April 1992, in der die Unterteilung zwischen Staatsgewalt und örtlicher Selbstverwaltung schon verankert war, konnte in Folge der politischen Prozesse im Jahre 1993 nicht in Kraft treten; s. dazu Bjalkina, Die örtliche Selbstverwaltung in der Russischen Föderation (Fn. 9), S. 15 ff., 17.

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die gemeinsame Zuständigkeit zur föderalen Gesetzgebung, abweichend von der ausschließlichen Gesetzgebung, eine Öffnung für den Erlaß eigener normativer Rechtsakte der Subjekte enthält. Machen die Subjekte hiervon Gebrauch, so dürfen ihre Gesetze nicht bereits in der föderalen Gesetzgebung geregelte Materien verändern (Art. 76 Abs. 2 Verf). Betreffen dagegen die Regelungen der föderalen Gesetzgebung und der Gesetzgebung der Subjekte denselben Regelungsgegenstand, so ergibt sich dieselbe Rechtsfolge wie bei der ausschließlichen Gesetzgebung der Föderation. Es würde allein die föderale Regelung gelten (Art. 76 Abs. 5 Verf). 27 Zwangsläufig ergeben sich aus dieser gemeinsamen Zuständigkeit Kompetenzkonflikte. Zur Vermeidung schlägt Fuhrmann vor, in den föderalen Gesetzen zur Regelung gemeinsamer Zuständigkeiten eine Vorschrift aufzunehmen, die den verbleibenden Regelungsraum der Subjekte hinreichend exakt definiert und das Gesetz selbst als abschließende, von den Subjekten nicht mehr erweiterungsfähige Regelung erklärt. 28 Ohne diese Frage letztlich zu entscheiden - die Kollisionen werden auch relevant bei der Umsetzung in den Föderationssubjekten - besteht jedenfalls die Kompetenz des Föderationsgesetzgebers zur Festlegung allgemeiner Organisationsprinzipien für das System der örtlichen Selbstverwaltung auch und gerade in Abgrenzung zum System der Organe der Staatsgewalt. Obwohl das Russische Verfassungsgericht den Föderationssubjekten das Recht der „vorauseilenden Gesetzgebung" in Fragen der gemeinsamen Kompetenz zugesteht, dürfte der Verfassungsgeber eine andere Intention verfolgt haben: das System der Rahmengesetzgebung. Die zweite angesprochene Möglichkeit, die gemeinsame Kompetenz als Zustimmungsrecht im Sinne eines zustimmungsbedürftigen Gesetzes nach deutschem System kann nicht gemeint sein, da das russische Gesetzgebungsverfahren vorsieht, daß alle Gesetze vom Föderationsrat nach der Verabschiedung durch die Staatsduma bestätigt werden. Dies hat also mit einer gemeinsamen Kompetenz nichts zu tun. Dabei ist im schon erwähnten Kapitel 8 - die örtliche Selbstverwaltung - eine Reihe von Vorgaben enthalten, die der Gesetzgeber zu beachten hat. In Ausgestaltung der Garantie des Art. 12 enthält Art. 133 neben der Garantie des Rechtsschutzes und der Aufgabendelegation nur bei entsprechender Finanzdelegation (Konnexitätsprinzip) das „Verbot einer Einschränkung derjenigen Rechte der örtlichen Selbstverwaltung, die durch die Verfassung der Russischen Föderation und durch Föderationsgesetze festgelegt worden sind". Dieses Einschränkungsverbot ist umfassend und bezieht sich auch auf die Gesetzgebung der Föderationssubjekte mit der Konsequenz, daß die Föderationsgesetze den Charakter von Rahmengesetzen und Vollregelungsgesetzen entfalten. Für die kommunalen Kompetenzen gibt Art. 132 Abs. 1 den „eigenen Wirkungskreis vor, in dem bestimmt wird, daß die „Organe der örtlichen Selbstverwaltung" selbständig das munizipale Eigentum ver27

Fuhrmann, Rechtliche Rahmenbedingungen (Fn. 18), S. 297. 8 Fuhrmann, Rechtliche Rahmenbedingungen (Fn. 18), S. 298.

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walten, den örtlichen Haushalt aufstellen, bestätigen und vollziehen, sowie örtliche Steuern und Abgaben festsetzen und für den Schutz der öffentlichen Ordnung sorgen und „sonstige Fragen von örtlicher Bedeutung4' entscheiden. Im „übertragenen Wirkungskreis 44 können die „Organe der örtlichen Selbstverwaltung mit einzelnen staatlichen Befugnissen ausgestattet werden". Gleichzeitig sind ihnen die erforderlichen materiellen und finanziellen Mittel zu übertragen. Die Wahrnehmung dieser Befugnisse unterliegt der Kontrolle des Staates (Art. 132 Abs. 2). Neben dieser klaren Garantie sowie der Kompetenzenordnung sind die Rechte der Bevölkerung in den Art. 130 und 131 normiert. Dabei wird deutlich unterschieden zwischen der eigenständigen Wahrnehmung der Bürger sowie der Wahrnehmung durch Organe der örtlichen Selbstverwaltung (Art. 130 Abs. 2). Die selbständige Entscheidung der Bevölkerung bezieht sich auf Fragen von örtlicher Bedeutung sowie den Besitz und die Nutzung von munizipalem Eigentum und die Verfügung darüber. Als Formen selbständiger Entscheidung werden Wahlen und Referenden (Volksabstimmungen) und andere Formen der unmittelbaren Willensbekundung normiert. Von besonderer Bedeutung ist die Bestimmung des Art. 131 Abs. 1 Satz 2: „Die Struktur der Organe der örtlichen Selbstverwaltung wird von der Bevölkerung selbständig bestimmt". Diese Regelung - im Jahre 1993 wohl ohne die daraus sich ergebenden Konsequenzen in „Demokratieeuphorie" in die Verfassung eingefügt hat bereits und wird noch und gerade im Zuge der Verabschiedung des neuen Gesetzes zu nicht unerheblichen Kontroversen führen. Die Struktur der Organe - Vertretungsorgan und Exekutivorgan, weitere Organe unmittelbarer oder mittelbarer Wahl, Ausgestaltung im Einzelnen, Zuordnung der Kompetenzen etc. - ist dem Verfassungswortlaut entsprechend bereits in einer Reihe kommunaler Gebilde erfolgt. Die Systeme zeigen dabei eine nicht unerhebliche Vielfalt und Divergenz. Zudem könnte eine detaillierte Strukturbestimmung in der neuen Gesetzgebung zur Nagelprobe für gerade eingerichtete Selbstverwaltungsstrukturen führen. Um so wichtiger ist es, die Föderationsgesetzgebung mit ihrem Rahmen möglichst schnell zu konkretisieren, um die Problemfälle denkbar gering zu halten. In dieser Föderationsgesetzgebung sollen ja die Strukturen der Organe der örtlichen Selbstverwaltung weitgehend vorbestimmt werden - sei es auch nur in Form von Modellen. Zur Lösung dieses Problems bietet sich eine Unterscheidung zwischen Grund- und Detail strukturen oder Außen- und Binnenstrukturen an. Einen Ansatz dazu stellen die Regelungen in den Art. 34 ff. dar. Die Praxis dürfte hier freilich erhebliche Unsicherheiten bringen. Keine verfassungsrechtlichen Probleme ergeben sich bei den geplanten Regelungen über die territoriale Neuordnung. Hier geht es darum, ein Verfahren festzuschreiben, daß bei der Bildung der Territorien, in denen örtliche Selbstverwaltung und auch spätere Grenzenänderung verwirklicht wird, die Meinung der Bevölkerung der betreffenden Territorien berücksichtigt wird (Art. 131 Verf). Auch gegen eine föderationsgesetzliche Bestimmung der Materien, die dem Referendum oder anderen Formen unmittelbarer Willensbekundung zugänglich

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sind und anderer Materien, die allein durch Entscheidung der örtlichen Organe der Selbstverwaltung geregelt werden können, bestehen keine Bedenken (Art. 130). Verfassungsrechtlicher Knackpunkt bleibt damit der Erlaß der „Hauptsatzung", in der die Struktur der Organe der örtlichen Selbstverwaltung - im Rahmen gesetzlicher Vorgaben im Kommunalgesetz des Föderationssubjekts - geregelt wird (Art. 131 Abs. 1 Satz 2). Für diese Ausgestaltung und die Abgrenzung ihrer Kompetenzen ist eine Fülle von Modellen denkbar. U. a. um einer effektiven Verwaltungsaufsicht willen müßten die Föderationsgesetze bestimmte Modelle vorgeben, in deren Rahmen die Kommunen über die Hauptsatzung wählen könnten. Die derzeitigen Vorgaben des Oktoberentwurfs sind als systembildend kaum geeignet. Sie lassen - wie in folgendem nur angedeutet werden kann - eine Fülle von Fragen offen und Problemen ungelöst. Um eine „Wende" - eine wirkliche Abkehr vom alten System - auch nach außen zu verdeutlichen, sollte der Begriff der Machtorgane aufgegeben werden. Auch müßte klar zwischen (Gebiets-)Körperschaften als Juristischen Personen und Trägern von Hoheitsbefugnissen und der Ausübung dieser Befugnisse durch Organe unterschieden werden. Auch die Begriffsbestimmungen in Art. 1 des Septemberentwurfs 2002 und Art. 2 des Oktoberentwurfs 2002 lassen noch manche Fragen offen. Sie gehen von einem noch nicht mit dem Grundsystem der Europäischen Kommunalcharta kompatiblen Systemverständnis aus.29 Eine eigenständige, verfassungsrechtliche Vorgabe findet der Komplex der territorialen Neuordnung. Die Änderung der Grenzen von Selbstverwaltungsterritorien ist unter Berücksichtigung der Meinung der Bevölkerung und „unter Berücksichtigung der historischen und sonstigen örtlichen Traditionen" zulässig.

IV. Das Föderationsgesetz des Jahres 1995 und die Entwürfe vom September und Oktober des Jahres 2002 Das schon relativ umfangreiche Föderationsgesetz des Jahres 1995 hat eine Fülle von Fragen aufgeworfen. Ihre Lösung wurde schwerpunktmäßig seit 1999 angegangen. Wie Bjalkina in ihrem Beitrag auf dem Stand des Jahres 2000 hervorhebt, berechtigt schon der im Jahre 1999 veröffentlichte Entwurf der „grundlegenden Bestimmungen (Konzeption) der staatlichen Politik zur Entwicklung der örtlichen Selbstverwaltung in der Russischen Föderation" zu gewissen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. 30 Ausgehend von bestehenden Mängeln wurde schon in diesem Entwurf hervorgehoben, daß die Tätigkeit des Staates zur Lösung der Probleme 29 Die Europäische Kommunalcharta geht von einem dem deutschen Verwaltungsrecht kompatiblen System aus. 30 Bjalkina, Die örtliche Selbstverwaltung in der Russischen Föderation (Fn. 9), S. 33.

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nur im Rahmen einer einheitlichen staatlichen Politik zur Entwicklung der örtlichen Selbstverwaltung erfolgen könne. Mit der Umsetzung der neuen Konzeption in die Entwürfe des Jahres 2002 31 wird das Gesetz von 1995 nicht nur wesentlich ergänzt und erweitert, sondern in seinen Strukturen und Vorgaben für die Verwirklichung kommunaler Selbstverwaltung in den Föderationssubjekten erheblich genauer, aber auch enger. Die Vorgaben werden konkreter und belassen weniger Raum, erstreben freilich auch weniger Konflikte. In den allgemeinen Vorschriften - Abschnitt 1 - wird zunächst kommunale Selbstverwaltung in Anlehnung an Art. 3 Abs. 1 EKC definiert. Art. 2 schreibt Grundbegriffe und Definitionen fest. Diese Begriffe können zum Teil nur historisch mit Bezug auf das alte sowjetische System verstanden werden. Unklar in ihrer rechtlichen Bedeutung sind aber vor allem Grundbegriffe wie Juristische Person, Organ und Kommunalgebilde. Unklar ist auch die Erlangung der Rechtsfähigkeit. Deutlich wird dies vor allem im Abschnitt 6 über die Organe und Amtspersonen der kommunalen Selbstverwaltung und deren Status als „Juristische Person4', wie im Folgendem noch zu zeigen sein wird. Art. 3 gestaltet das Recht der Bürger in der kommunalen Selbstverwaltung in Anlehnung an Art. 130 der Verfassung aus. Art. 4 bestimmt die rechtlichen Grundlagen kommunaler Selbstverwaltung. Er unterscheidet die verschiedenen „Kommunalgebilde" und trennt zwischen Poseleniye - Gemeinde, Kommunalrayon - „Landkreis" und Stadtbezirk - Stadt mit dem Status eines Kommunalrayons. Damit ist ein klares System zweier Ebenen festgeschrieben. Das Gesetz von 1995 hatte die Möglichkeit der Zweistufigkeit nur angedeutet. Der Entwurf geht aber von einer zwingenden Regelung aus - Probleme könnte dieses bringen in dünn besiedelten, weiten Bereichen. Hier sollte man zumindest einzelnen Föderationssubjekten - die Möglichkeit eines einstufigen Systems einräumen. 32 Art. 5 behandelt Kompetenzen der föderalen Staatsorgane im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung. Art. 6 regelt die Kompetenzen der föderalen Gesetzgeber. In der Oktoberfassung enthalten beide Bestimmungen keine Kataloge mehr. Sie sind auf grundsätzliche Regelungen reduziert. Art. 7 enthält schließlich Rechtsgrundlagen für die kommunale Rechtssetzung. Art. 8 steckt den Rahmen für interkommunale Zusammenarbeit ab und Art. 9 befaßt sich mit den Symbolen der Kommunen.

31 Der Oktoberentwurf weicht in einer Reihe von Bestimmungen inhaltlich und in der Zählung vom Septemberentwurf ab. 32 s. dazu die Anmerkung hinten (Fn. 36).

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Der zweite Abschnitt, überschrieben mit „Grundsätze der territorialen Organisation der kommunalen Selbstverwaltung", normiert in Art. 10 bis 13 sehr ausführlich die Zusammensetzung der Territorien, Grenzenänderung und Reorganisation kommunaler „Gebilde". Es wird festgelegt, daß das Territorium jedes Föderationssubjekts flächendeckend in Kommunalrayons und städtische Bezirke aufgeteilt wird. Das Territorium eines Kommunalrayons setzt sich zusammen aus den Territorien der ihn bildenden Munizipalitäten sowie den zwischen den einzelnen Siedlungen befindlichen und Munizipalitäten nicht zugehörigen Territorien - also ausmärkischen Gebieten. Diese ausmärkischen Gebiete konnten und mußten gebildet werden. In diesen Bereichen gibt es also nur eine kommunale Ebene. Dieses System entspricht der Verfassungsbestimmung, nach der das gesamte Staatsgebiet in Kommunen eingeteilt wird. Nach dem Gesetz von 1995, das die zwei Ebenen kommunaler Selbstverwaltung noch nicht ausdrücklich vorsah, konnte mit dem System der ausmärkischen Gebiete nicht gearbeitet werden. Schließlich wird bestimmt, was im Einzelnen zum Territorium einer Munizipalität gehört und festgelegt, daß die Territorien durch Gesetze der Föderationssubjekte in Übereinstimmung mit dem vorliegenden föderalen Gesetz gebildet werden und dabei die Meinung der Bevölkerung in einem durch das vorliegende Gesetz festgelegten Verfahren ermittelt und berücksichtigt wird. Auf Initiative der Bevölkerung kann die Reorganisation oder auch Auflösung von Kommunalgebilden erfolgen (Art. 13). Einen wesentlichen Fortschritt bildet auch der Abschnitt 3 mit seiner auch vom Septemberentwurf abweichenden Regelung über die Kompetenzen der Kommunalgebilde in „Fragen örtlicher Bedeutung". Während Art. 14 die Kompetenzen der Gemeinden normiert, bestimmt Art. 15 katalogmäßig die Kompetenzen eines Kommunalrayons und Art. 16 die eines Stadtbezirks. Art. 17 normiert die Kompetenzen der Selbstverwaltungsorgane, die zur Erfüllung der Kompetenzen der „Gebietskörperschaften" berufen sind. Diese Systematik bringt den ersten Ansatz zu einer EKC-entsprechenden und dem westlichen Verwaltungsrechtssystem gebräuchlichen Unterscheidung zwischen Trägern von Aufgaben und den diese Aufgaben ausführenden Organen. Art. 18 bestimmt schließlich die „rechtliche Regulierung" der Kompetenzen der Selbstverwaltungsorgane. Abschnitt 4 normiert die „Ausstattung der Selbstverwaltungsorgane mit einzelnen staatlichen Kompetenzen". Hier geht es um die Übertragung von Staatsaufgaben auf Kommunen. In der Folge des Gesetzgebungsverfahrens sollte es noch erreicht werden, daß geklärt wird, daß diese Aufgaben nicht auf Selbstverwaltungsorgane, sondern auf die kommunalen Gebietskörperschaften selbst übertragen werden. Aus dem Bereich der weiteren Regelungen sei nur hingewiesen auf - Abschnitt 5 (Art. 22 bis 34) - Formen der Ausübung der kommunalen Selbstverwaltung durch die Bevölkerung und die Beteiligung der Bevölkerung an deren Ausübung. Im Abschnitt 6 - dem wohl noch „unausgegorensten", werden in Art. 34 ff. unter der Überschrift „Organe und Amtspersonen der kommunalen Selbstverwal-

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tung" die organisatorischen Grundstrukturen kommunaler Gebilde geregelt. Neben Pflichtigen Vorgaben werden den einzelnen Kommunen - jeweils in ihrer Hauptsatzung zu regeln - unterschiedliche ergänzende Strukturen ermöglicht, ohne daß dabei bestimmt wird, daß ein Mindestmaß an Vergleichbarkeit zumindest innerhalb der einzelnen Föderationssubjekte bestehen müßte. Hier wird man nicht umhin kommen, die relativ große Organisationsfreiheit unter dem Aspekt der Vergleichbarkeiten aber auch der staatlichen Rechtsaufsicht zu systematisieren. Auf Einzelheiten einzugehen würde den Raum sprengen. Hingewiesen sei nur auf folgende Aspekte: Neben dem Vertretungsorgan eines Kommunalgebildes (Art. 35) steht als zweites wesentliches Organ der Glawa als „höchste Amtsperson der Kommune". Daneben steht die „örtliche Verwaltung" als ausführend verfügendes Organ des Kommunalgebildes, ein Kontrollorgan sowie eine Wahlkommission und weitere Einzelorgane zum Teil als „Vertretungsorgane" bezeichnet zum Teil auch mit den Rechten einer juristischen Person begeben. Ist die Position des Vertretungsorgans noch am ehesten nachvollziehbar, so ist die Stellung des Glawa als Leiter der örtlichen Verwaltung, die gleichzeitig eigenes Organ sein soll, kaum rechtlich eindeutig einzuordnen. Unabhängig davon ist die Position des Glawa unterschiedlich, je nachdem, ob er von der Bevölkerung direkt oder vom Vertretungsorgan gewählt ist. Eines geht allerdings klar hervor, daß der Glawa nicht gleichzeitig Vorsitzender des Vertretungsorgans und Leiter der örtlichen Verwaltung sein kann. Ist er von der Bevölkerung direkt gewählt, so gehört er dem Vertretungsorgan mit Stimmrecht an und ist dessen Vorsitzender. Ist er dagegen vom Vertretungsorgan gewählt, so hat er die Position vergleichbar der eines Stadtdirektors. Völlig unausgegoren ist die Regelung über die Rechtsfähigkeit des Kommunalorgans und die Position der „Organe als juristische Personen" (Art. 42). Neben Organen als juristische Personen stehen schließlich Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser, Kulturhäuser, Altenheime etc. mit selbständiger Rechtsfähigkeit - zivilrechtlich geregelt. Ungeklärt ist auch die Erlangung der Rechtsfähigkeit über die Eintragung ins Handelsregister etc. Das Problem liegt hier in der Bildung neuer Strukturen ohne die parallele Bildung eines nachvollziehbaren Verwaltungsrechts. 33 In den weiteren Abschnitten werden Bestimmungen zur kommunalen Rechtssetzung (Abschnitt 7), zu den wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen der kommunalen Selbstverwaltung (Abschnitt 8), zu den Garantien der kommunalen Selbstverwaltung (Abschnitt 9) und zur Haftung der Organe und Amtspersonen sowie zur Kontrolle (Abschnitt 10) geregelt. Zur Kontrolltätigkeit bestimmt Art. 75, daß die Staatsanwaltschaft der Russischen Föderation die Einhaltung der föderalen Gesetze, der Gesetze der Föderationssubjekte, der Satzungen von Kommunalgebilden und der Rechtsakte von Organen und Amtspersonen beaufsichtigt (Rechtsaufsicht durch die Staatsanwaltschaft). Diesem Problem könnte allein ein 33

s. dazu hinten (Fn. 43).

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eigener Abschnitt in einer wissenschaftlichen Prüfung, aber auch einer Empfehlung an die Duma gewidmet werden. Die Staatsanwaltschaften sind zu einer wirksamen Verwaltungskontrolle gar nicht in der Lage. Zudem fehlt eine Regelung über eine Kommunalaufsicht in ihrer Präventivfunktion des Schutzes und der Förderung. Dazu freilich sagt ein eigenständiges Bundesgesetz Wesentliches aus. Schließlich normiert Art. 75 Abs. 2, daß die Kontrolle über die Erfüllung der übertragenen staatlichen Verwaltungsaufgaben von beauftragten Organen (Organen der Staatsmacht) ausgeübt wird. Abschnitt 11 enthält schließlich Besonderheiten der Organisation kommunaler Selbstverwaltung. Er betrifft ausschließlich vier Kategorien: die Stadtstaaten Moskau und St. Petersburg, geschlossene administrativ-territoriale Gebilde, Wissenschaftsstädte und staatsgrenzennahe Gebilde. Gerade die Einfügung dieses Abschnitts durch den Oktoberentwurf stellte einen großen Fortschritt dar, da nicht mehr alle Städte mit über 50.000 Einwohnern pauschal behandelt werden. Abschnitt 12 enthält schließlich Schluß- und Übergangsbestimmunen, die bislang in einem Sondergesetzentwurf enthalten waren.

V. Ergebnis und Anregungen Die Entwürfe des Jahres 2002 bedeuten namentlich bezogen auf die territoriale Organisation und die Kompetenzenverteilung einen Riesenschritt vorwärts. Die Gesetzgebung der Russischen Föderation ist damit auf dem richtigen Weg, unabhängig davon, daß auch nach der Fortschreibung des Septemberentwurfs im Oktoberentwurf bei weitem nicht alle Fragen geklärt sind. So steht zu hoffen und zu erwarten, daß noch eine Reihe von Punkten im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens geklärt werden und der Gesetzgeber der Russischen Föderation damit seiner Verpflichtung aus der Europäischen Kommunalcharta nachkommt, kommunale Selbstverwaltung in den Föderationssubjekten lebendig zu etablieren und zu sichern. Die doppelte Zielrichtung des Konzepts des Jahres 2002 ist in den Entwürfen konsequent verfolgt. Auf der Basis der Art. 3, 12 und 130-133 der Verfassung sind im Rahmen des Transformationsprozesses und in der derzeitigen Aufbausituation umfangreichere gesetzliche Vorgaben erforderlich als in schon etablierten Organisationen.

1. Die äußere Kommunalverfassung - die Position der Gemeinden, der Stadtbezirke (der rayonfreien Städte), der Kommunalrayons Das Gesetz folgt der klaren Ausgrenzung der Kommunen aus der staatlichen Unterstellung und trifft eine klare Unterscheidung zwischen Föderalismus und Dezentralisation. Die Kommunen sind Teil der Föderationssubjekte und üben gemein-

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sam mit ihnen öffentliche Gewalt aus - unterteilt in Staatsgewalt und Kommunalgewalt. 34 Örtliche Selbstverwaltung - bürgerschaftliche Selbstverwaltung auf zwei Ebenen - ist nicht Fortsetzung staatlicher Gewalt auf örtlicher (und überörtlicher) Ebene. Andererseits sind Kommunen nicht „Staaten im Staate", sondern autonom im Rahmen staatlicher Gesetze.35

2. Grundsätzlich zwei kommunale Ebenen, drei Kommunaltypen Abgrenzung zu den Territorien der unteren staatlichen Verwaltungsstufe Zur Annäherung der Verwaltung an die Bürger und Gewährleistung einer effizienten öffentlichen Verwaltung (gegenläufige Aufgaben des Konzepts) sind grundsätzlich zwei Ebenen und eine Verschmelzung beider Ebenen in Verdichtungsräumen gebildet: - Ländliche Gemeinden und Städte, auf deren Gebiet auch die Kommunalrayons ihre Aufgaben wahrnehmen, - Kommunalrayons, - Städtische Bezirke („rayonfreie Gemeinden"). Bei diesen sogenannten städtischen Bezirken handelt es sich um rayonfreie Gemeinden im Sinne kreisfreier Gemeinden oder Städte. Nicht vorgesehen ist eine Selbstkonstituierung kommunaler Gebietskörperschaften im Sinne einer Herauslösung aus dem Staate. Diese rayonfreien Gemeinden oder städtischen Bezirke haben die Aufgaben sowohl „normaler" Gemeinden als auch kommunaler Rayons. Wichtig erscheint es, die Bestimmung des Art. 8 über die interkommunale Zusammenarbeit so flexibel auszugestalten, daß auch u. a. die Bildung von Verwaltungsgemeinschaften im ländlichen Raum möglich ist. Zudem fehlt (noch) eine Regelung für so großflächige, dünn besiedelte Räume, daß zwei Ebenen kommunaler Selbstverwaltung keinen Sinn machen.36 Unter dem Aspekt, Bürgernähe und Effektivität zu harmonisieren, werden Richtwerte angegeben. Mindesteinwohnerzahlen, die sich noch im Septemberentwurf fanden, sind gestrichen. In Folge der exorbitanten Inhomogenität zwischen den 34 Der Begriff der Gewalt sollte auf kommunaler Ebene besser durch den der Hoheit ersetzt werden: Satzungshoheit, Finanzhoheit etc. Zum Begriff der Verwaltung als Gewalt Walter Leisner, Die undefinierbare Verwaltung, 2002, S. 191 ff. 35 Zur Ausgestaltung der Subjektsgesetze Bjalkina, Die örtliche Selbstverwaltung in der Russischen Föderation (Fn. 9), S. 24 und 29. 36 Etwa in Jakutien, Chabarovsk, Magadan, Krasnoyarsk etc. Föderationssubjekte, deren Fläche teilweise die Gesamtfläche Westeuropas übertrifft, deren Bevölkerungszahlen aber zwischen 70.000 wie in Tschukotka und zwei Mio. schwanken. Derart flexibel ausgestaltete Systeme finden sich allenthalben in Europäischen Staaten. Man vergleiche nur die verschiedenen Systeme in den deutschen Bundesländern oder in Finnland. - Zum „Freigemeindeexperiment" in Finnland s. etwa Ryynänen, Österreichische Gemeindezeitung 1997, S. 8, 17 ff.

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und innerhalb der verschiedenen Föderationssubjekte können die Zahlen nur ganz grobe Richtwerte darstellen. Die Konkretisierung von Richtwerten sollte situationsbezogen unter dem Aspekt von Bürgernähe und Effektivität dem jeweiligen Föderationsgesetz vorbehalten werden. 37 Angebracht erscheinen schließlich Aussagen zum Verhältnis kommunaler Gebietszuschnitte zur Gebietsgliederung der unteren staatlichen Verwaltungsstufe der Rayoni. Unter dem Gesichtspunkt weiterer Kommunalisierung staatlicher Aufgaben aber auch der Etablierung einer klaren Kommunalaufsicht sollten sich staatliche und kommunale Verwaltungsgrenzen prinzipiell nicht schneiden.

3. Abgrenzung von Kompetenzen der verschiedenen kommunalen Ebenen Der Entwurf sieht eine klare Kompetenzenabgrenzung zwischen den beiden Ebenen und Zusammenfassung dieser beiden Kompetenzengruppen bei Städten mit Rayonstatus vor. Nur nicht erfaßte Aufgaben stehen dem Zugriff offen. Klar werden sollte, daß alle örtlichen Aufgaben in die Zuständigkeit der lokalen Gebietskörperschaften fallen, sofern diese nicht ausdrücklich durch Gesetz der Kompetenz anderer Stellen zugewiesen sind. Das im Entwurf enthaltene System der Aufgabenabgrenzung entspricht nicht dem System der Gebietswirksamkeit der Aufgaben und der bürgerschaftlichen Betroffenheit - örtliche und überörtliche Aufgaben - , sondern einem Effektivitätssystem, dessen Auswirkungen noch keineswegs überschaubar sind, für dessen wirksame Umsetzung es aber einer darauf bezogenen Gebietsgliederung bedürfte. Dabei geht es keineswegs allein um eine klare finanzverfassungsrechtliche Abgrenzung zwischen den Ebenen.38 Bedenkenswert erscheint eine Aufgabenabgrenzung nach Kriterien der Allzuständigkeit für die erste Ebene und in numerierte Aufgaben für die zweite Ebene. Rayonaufgaben müßten dadurch gekennzeichnet sein, daß sie überörtlich im Gebiet des Rayon anfallen und einer gleichartigen Erledigung im Rayon bedürfen. 39 Für die zweite Ebene müßte das Verbot einer Kompetenz-Kompetenz klar normiert werden. Verfehlt wäre es, der leistungsfähigeren Einheit zu erlauben, Aufgaben nicht so finanzstarker Einheiten an sich zu ziehen. Jede Einheit muß ihren 37 In einer „Territorialen Grundnorm" sollten diese Kriterien festgehalten werden. Hier bietet sich eine Ergänzung von Art. 12 Abs. 4 des Entwurfs an. Zu den Kriterien einer territorialen Grundordnung Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, 10. Aufl. 2000, Rn. 72 ff. 38 Zur Finanzverfassung s. auch Art. 53-67. Zur finanziellen Erstickung kommunaler Selbstverwaltung, Bjalkina, Die örtliche Selbstverwaltung in der Russischen Föderation (Fn. 9), S. 23. 39 Dazu etwa Knemeyer, Bayerisches Kommunalrecht, 10. Aufl. 2000, Rn. 146 ff. Abgrenzung nach dem Territorialitätsprinzip.

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Aufgaben entsprechend finanziell ausgestattet sein. Dementsprechend bedarf es auch einer Bestimmung, die verdeutlicht, daß die im Gesetzeskatalog aufgeführten Kommunalaufgaben nicht beiden Ebenen zur gesamten Hand garantiert sind.

4. Vom Staat auf die Kommunen übertragene Aufgaben Delegationsaufgaben In den Konsequenzen noch nicht im Einzelnen durchdacht, erscheint das System der übertragenen Aufgaben oder Delegationsaufgaben. Schon die Verfassung normiert in Art. 132 Abs. 2, daß „die Organe der örtlichen Selbstverwaltung durch Gesetz mit einzelnen staatlichen Befugnissen ausgestattet werden können, zu deren Vollzug ihnen die erforderlichen und materiellen Mitteln übergeben werden". Gleichzeitig wird bestimmt, daß die Realisierung der übertragenen Befugnisse der Kontrolle des Staates unterliegt. Unklar bleibt, ob diese Aufgaben mit der Übertragung zu kommunalen Aufgaben unter Fachaufsicht des Staates werden oder staatliche Aufgaben bleiben, für deren Erfüllung nur kommunale Organe ausgeliehen werden. 40 Die Übertragung allein auf Kommunalrayone und nicht aber auf Gemeinden spricht nicht für eine „echte Übertragung". Gerade die Schnittstelle zwischen vom Staat auf die Kommunen übertragenen und nur unter seiner Fachaufsicht „verbleibenden" und von den Kommunen zu erfüllenden, aber staatlich bleibenden Aufgaben ist noch nicht geklärt. 41 5. Zur Finanzierung der Delegationsaufgaben Ausgehend von Art. 132 Abs. 2 Verf. und Art. 8 des September-Entwurfs (Art. 6 Abs. 4 Gesetz 1995) bedarf der Grundsatz der Konnexität - der Aufgaben entsprechenden Finanzausstattung - der weiteren Konkretisierung. 42 Zudem ist sicherzustellen, daß die eigentlich kommunalen Aufgaben durch Überbürdung staatlicher Aufgaben nicht erstickt werden. 40

Zu diesem Streit für Deutschland z. B. Bjalkina, Die örtliche Selbstverwaltung in der Russischen Föderation (Fn. 9), S. 31, und Gotte, Kommunale Aufgaben in Bayern und Nordrhein-Westfalen - Abgrenzung der verschiedenen Wirkungskreise einerseits und der Gemeinde- und Kreisaufgaben andererseits, Diss. iur. 1995, sowie Moritz, Die innergemeindliche Zuständigkeitsordnung zwischen Recht und Politik, 2002. 41 Der Gesetzentwurf vom 9. Oktober 1998 „Über die allgemeinen Prinzipien der Zuweisung einzelner staatlicher Aufgaben an die Organe der örtlichen Selbstverwaltung" wurde in erster Lesung angenommen, ist aber nie verabschiedet worden. 42 Im Gegensatz zum Septemberentwurf (Art. 8) enthält der Oktoberentwurf keine eigene Grundbestimmung zum Konnexitätsprinzip mehr. Allerdings geht das Konnexitätsprinzip aus der Verfahrensregelung des Art. 19 hervor. Zur Finanzierung kommunaler Aufgaben allgemein s. Art. 63 des Gesetzentwurfs.

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6. Innere Kommunalverfassung

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- Kommunalstruktur

Besonders problembeladen sind die gesetzlichen Vorgaben für eine innere Kommunalverfassung - die Kommunalstruktur. Ausgehend von der Verfassungsbestimmung des Art. 131 Abs. 1 Satz 2 - nach dem die Struktur der Organe der örtlichen Selbstverwaltung von der Bevölkerung selbständig bestimmt wird - muß ein Weg gefunden werden, der eine Etablierung lebensfähiger und effektiver kommunaler Selbstverwaltung ermöglicht. Dazu bedarf es einer Gesamtschau der Verfassungsbestimmungen und Prinzipien. Ihnen entsprechend sollten verschiedene Strukturmodelle von oben vorgegeben werden, aus denen sich die Föderationssubjektgesetzgeber und die einzelnen Kommunen „bedienen" können. Dieser Zugriff auf verschiedene Modelle, die durch Aufnahme in das Föderationsgesetz auch verfassungsrechtlich auf ihre Zulässigkeit abgeklopft sind, verhindert eine bei völliger Gestaltungsfreiheit zwangsweise einsetzenden Rechtsunsicherheit. Die Bestimmung des Art. 131 Abs. 1 Satz 2 kann nur eingebettet in das Gesamtsystem der Verfassung gelesen werden und bedarf in dieser Form der Ausgestaltung im Föderationsgesetz. Eine derartige Ausgestaltung ist auch unter dem Gesichtspunkt der Verpflichtungen der Europäischen Kommunalcharta der rechtssichere Weg. Diese Modelle müssen freilich so offen gestaltet werden, daß sie den Kommunen für eine ortspezifische Ausgestaltung in der „Hauptsatzung" genügend Raum lassen. Unter diesem Gesichtspunkt ist ζ. B. die vorgesehene Vorgabe von zwei Pflichtigen Hauptorganen etc. der richtige Weg. Das Problem liegt hier in der Bildung neuer Strukturen ohne die parallele Bildung eines nachvollziehbaren Verwaltungsrechts. 43

7. Kommunalaufsicht

- Verwaltungsaufsicht

Bedeutsam ist eine wirksame Etablierung einer Staats-Verwaltungs-Aufsicht, die nicht zu verwechseln ist mit der Justizaufsicht durch die Staatsanwaltschaft (Durchgriffsaufsicht). Die Staats-Verwaltungs-Aufsicht als Kommunalaufsicht ist die wirksame Klammer zwischen äußerer und innerer Kommunalverfassung und entsprechender Aufgabenwahrnehmung. 44 Ihr kommt nicht nur die nachträgliche Rechtmäßigkeitskontrolle, sondern vordringlich auch eine Schutz- und Förderungsfunktion zu (Präventivaufsicht). Eine derartige Förderung ist beispielhaft im Bundesprogramm zur staatlichen Unterstützung der örtlichen Selbstverwaltung vom 27. Dezember 1995 angelegt. Diese Verwaltungsaufsicht müßte Verwaltungs- und nicht Justizorganen der Föderationssubjekte obliegen. Sie könnte schon etablierten staatlichen Stellen für 43 Auf erste Ansätze namentlich im Schrifttum von Professoren der Lomonossow Universität kann nur hingewiesen werden. 44 Im deutschen Kommunalrechtssystem wird die Aufsicht zu Recht als Korrelat zur Autonomie im Rahmen staatlicher Gesetze gesehen.

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kommunale Selbstverwaltung und gegebenenfalls nachgeordneten Behörden bei verschiedenen Föderationssubjekten zugeordnet werden. 8. Rechtsschutz - Gerichtsschutz Art. 133 entsprechend bedarf es der Etablierung eines effektiven Rechtsschutzes der Kommunen bei Eingriffen in das Recht der kommunalen Selbstverwaltung. Dazu gilt es auf Dauer eine Verwaltungsgerichtsbarkeit zu etablieren. Rechtsschutz von Kommunen etwa gegen Akte der Verwaltungsaufsicht sollte nicht bei den ordentlichen Gerichten oder beim Verfassungsgericht angesiedelt sein. 9. Gesetzliche Vorgaben von oben - Umsetzung unten Bedarf es für einen wirksamen Aufbau kommunaler Selbstverwaltung gesetzlicher Vorgaben von oben und auch der Hilfestellung und Förderung durch die staatlichen (Aufsichts-) Behörden, so kann der eigentliche Aufbau nur unten umgesetzt werden. Ob und inwieweit dabei die örtliche Ebene und die Rayonsebene gleichzeitig wirkungsvoll installiert werden, hängt von mehreren Faktoren ab, so u. a. von den grundsätzlichen Fragen: - werden bereits etablierte staatliche Rayoni kommunalisiert, d. h., mit eigenen dem Staat nicht unterstellten gewählten Organen versehen und von ihnen die entsprechenden Aufgaben wahrgenommen? - werden auf örtlicher Ebene die entsprechenden Organe etabliert, die ihrerseits die Rayons aufbauen? - wird das kollegiale Hauptorgan in Form einer Bürgermeisterversammlung als Beschlußorgane des Rayons etabliert oder werden die Mitglieder der Rayonsversammlung von den Bürgern gewählt? Gegen eine Bürgermeisterversammlung als Vertretungsorgan des Rayons sprechen die Selbständigkeit der zweiten Ebene und die notwendige weitergehende demokratische Einwirkung. Eine Bürgermeisterversammlung würde den Landkreis zu einem Gemeindeverband werden lassen. Der kommunalen Zusammenarbeit in Form von Verbänden, von Zweckverbänden - Gemeindeverbänden - bedarf es in vielfältigen anderen Bereichen, die nicht die Ebene und den Umfang der Kommunalrayons erreichen. 45 Wesentlich erscheint, daß die kommunalen Ebenen als menschlichste und zugleich effizienteste Organisationsebenen im Staat46 von oben klar vorstrukturiert, aber „unten vor Ort" eigenverantwortlich etabliert werden. 45 Von dieser kommunalen Zusammenarbeit ist zu unterscheiden die gemeinsame Wahrnehmung kommunaler Interessen insbesondere gegenüber dem Staat durch kommunale Spitzenverbände sowie den Kongreß der munizipalen Formationen.

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10. Der lange Weg der Umsetzung gesetzlicher Vorgaben Die eigentlichen Probleme für eine wirksame Etablierung kommunaler Selbstverwaltung in einem bisher völlig anders gestalteten System bringt die Umsetzung. 47 Neben vielfältigen Organisationsproblemen werden die Schwierigkeiten in der mentalen Etablierung kommunaler Selbstverwaltung liegen. Ein zweites wesentliches Problem wird sich auftun bei einer notwendig werdenden Revision schon etablierter Kommunalinstitutionen und -verfahren. Wenn hier keine Harmonisierungsregelung gefunden wird, könnte dies der Tod der Selbstverwaltung in „fortschrittlichen" Bereichen sein, noch ehe sie wirklich zu leben begonnen hat. Vor Ort muß erkannt werden, wie bedeutsam eine funktionierende, den örtlichen Interessen entsprechende Verwaltung ist, die mit Rückhalt der Bürger im Rahmen ihrer örtlichen Möglichkeiten ein Klima und Bedingungen schafft für den Aufbau und die Förderung eigenverantwortlicher Regelung der eigenen Angelegenheiten. Eine starke und lebensfähige kommunale Selbstverwaltung ist ein Garant nicht nur für den demokratischen Aufbau, sondern auch für eine gesunde wirtschaftliche und soziale Entwicklung im örtlichen Bereich. 48 Die Entwicklung des ganzen Landes hängt maßgeblich davon ab, ob und wie es gelingt, Initiativen auch von unten zu ermöglichen: Eigeninitiative und Verantwortung für die eigenen Angelegenheiten! Der Umbau von einer Macht- und Befehlsstruktur zu einer Selbstverwaltungskultur ist ein Generationenweg - ein wahrlich langer Marsch. 49 Der Hinderungsgründe gibt es viele, angefangen vom Beharrungsvermögen von Systemen bis zu bewußten Verhinderungen unter Machterhaltungsgesichtspunkten. Immerhin ist festzustellen, daß die Möglichkeit einer Rezentralisation abgewendet erscheint und daß kommunale Selbstverwaltung in der Russischen Föderation legislatorisch von oben - auf dem guten Wege ist.

46 Zum Aufbau in westeuropäischen Staaten Knemeyer, 50 Jahre Kommunen in Europa, Geschichte - Probleme - Perspektiven, in: Institut für europäische Regionalforschungen, Europa als Wirkungsraum der Kommunen, Interregiones 11 / 2002, S. 33. 47 Der Zeitpunkt der Umsetzung des „Bundesprogramms zur staatlichen Unterstützung der örtlichen Selbstverwaltung" vom 27. Dezember 1995 wurde immer wieder verschoben. Dazu Bjalkina, Die örtliche Selbstverwaltung in der Russischen Föderation (Fn. 9), S. 20, 28 f. 48 Wettbewerb der Standorte. 49 So Hoffschulte, Rußland (Fn. 8), S. 223; zur Umsetzungsdauer Engel, Struktur und Umsetzung der EKC, in: Knemeyer (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung in Ost und West, S. 64.

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Schriftenverzeichnis Walter Schmitt Glaeser Stand April 2003

I. Monographien Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf. Eine Untersuchung über die Verfassungsschutzbestimmung des Art. 18 GG und ihr Verhältnis zum einfachen Recht, insbesondere zum politischen Strafrecht. Bad Homburg v.d.H. u. a. 1968, 350 S. Die Rechtsstellung der Studentenschaft. Zu den rechtlichen Beziehungen zwischen Studentenschaft und wissenschaftlicher Hochschule. Bad Homburg v.d.H. u. a. 1968, 36 S. Verwaltungsprozeßrecht. Kurzlehrbuch mit Systematik zur Fallbearbeitung. Stuttgart u. a. 1. Aufl. 1970, 15. Aufl. 2000 (zusammen mit Hans-Detlef Horn), 340 S. Kabelkommunikation und Verfassung. Das privatrechtliche Unternehmen im „Münchner Pilotprojekt". Berlin 1979, 275 S. Das elterliche Erziehungsrecht in staatlicher Reglementierung. Ein verfassungsrechtliches Essay zum „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge" vom 18. Juli 1979. Bielefeld 1980, 67 S. Recht des Immissionsschutzes. Leitfaden mit Dokumentation (zusammen mit Jürgen W. Meins). Königstein/Ts. 1982, 682 S. Abbau des tatsächlichen Gleichberechtigungsdefizits der Frauen durch gesetzliche Quotenregelungen. Schriftenreihe des Bundesministeriums des Innern, Band 16. Stuttgart 1982, 77 S. Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie (zusammen mit Peter Lerche und Eberhard Schmidt-Aßmann). Heidelberg 1984, 127 S. Die Stellung der Bundesländer bei einer Vereinigung Deutschlands. Berlin 1990, 66 S. Private Gewalt im politischen Meinungskampf. Zugleich ein Beitrag zur Legitimität des Staates (unter Mitwirkung von Hans-Detlef Horn). Berlin 1. Aufl. 1990, 2. Aufl. 1992, 261 S. Ethik und Wirklichkeitsbezug im freiheitlichen Verfassungsstaat. Berlin 1999, 112 S.

II. Zeitschriftenaufsätze und Beiträge zu Sammelwerken Kommunale Verordnungen und staatliche Aufsicht. In: Bayerische Verwaltungsblätter 1959, S. 401-406.

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Schriftenverzeichnis Walter Schmitt Glaeser

Die Ortsplanung - eine Aufgabe des eigenen Wirkungskreises der Gemeinden. In: Der Bayerische Bürgermeister 1960, S. 12-15. Die kommunale Selbstverwaltung in Finnland. In: Der Landkreis 1961, S. 394-397. Die Selbstverwaltung in Bayern. In: Maalaiskunte (Finnische Fachzeitschrift für Gemeinderecht) 1962, S. 297-303. Die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage nach § 80 VwGO (zusammen mit Oskar Tschira). In: Der Bayerische Bürgermeister 1962, S. 1 - 4 . Die Erhebung von Mahngebühren im eigenen Wirkungskreis der Kommunen. In: Der Bayerische Bürgermeister 1962, S. 84-86. Kreisumlage und Rechtsschutz. In: Bayerische Verwaltungsblätter 1963, S. 100-103. Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes. In: Die öffentliche Verwaltung 1965, S. 433-443. Lehrfreiheit, Meinungsfreiheit und „Verfassungstreue". In: Deutsches Verwaltungsblatt 1966, S. 6-10, S. 166-171. Die Verwirkung des Wahlrechts und der Wählbarkeit nach § 39 Abs. 2 BVerfGG. Zugleich ein Beitrag zur Interpretation des Art. 18 GG. In: Neue Juristische Wochenschrift 1966, S. 1734-1739. Bauleitplanung und Interessenkollision. Zur Problematik der Befangenheit von Gemeinderatsmitgliedern. In: Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg 1968, S. 161-164, S. 180-184. Die verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle (zusammen mit Oskar Tschira). In: Bayerische Verwaltungsblätter 1970, S. 160-165, S. 203-208. Die Fortgeltung von Berufsvereinbarungen. Bemerkungen zu einer Abhandlung von Martin Bullinger. In: Wissenschaftsrecht 1973, S. 219-226. Partizipation an Verwaltungsentscheidungen. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 31 (1973), S. 179-265. Partizipation im öffentlichen Dienst. Bemerkungen zum Bericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstes. In: Die öffentliche Verwaltung 1974, S. 152-157. Die Freiheit der Forschung. In: Wissenschaftsrecht 1974, S. 107-134, S. 177-192. Mitbestimmung im Rundfunk. Zu einer Abhandlung von Hans Peter Ipsen. In: Der Staat 13 (1974), S. 573-582. Die besonderen Sachentscheidungsvoraussetzungen der „anderen Leistungsklage" (zusammen mit Oskar Tschira). In: Bayerische Verwaltungsblätter 1975, S. 492-495. Die Freiheit der Forschung. Einige grundsätzliche Erwägungen zu Art. 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes und den möglichen Kollisionen zwischen empirischer Forschung und Recht. In: Eser/Schumann (Hg.), Forschung im Konflikt mit Recht und Ethik, Stuttgart 1976, S. 77-99. Planende Behörden, protestierende Bürger und überforderte Richter. Rechtliche Aspekte zur Genehmigung von Kernkraftwerken. In: Der Landkreis 1976, S. 442-451. - Abgedruckt auch in: Bayreuther Hefte für Erwachsenenbildung, Heft 1, 1977. Stärkung der politischen Mitwirkungsrechte der Bürger. Zum Schlußbericht der EnquêteKommission Verfassungsreform. In: Die öffentliche Verwaltung 1977, S. 544-547.

Schriftenverzeichnis Walter Schmitt Glaeser Anspruch, Hoffnung und Erfüllung. Das Verwaltungsverfahren und sein Gesetz - eine einleitende Bemerkung. In: Schmitt Glaeser (Hg.), Verwaltungsverfahren. Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Richard-Boorberg-Verlages, Stuttgart u. a. 1977, S. 1-45. - Abgedruckt auch in: Masucci (Hg.), Problemi di Administrazione pubblica, 1979, S. 377-437. Die Eltern als Fremde. Verfassungsrechtliche Erwägungen zum Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung der elterlichen Sorge. In: Die öffentliche Verwaltung 1978, S. 629-635. Sicherung und Verwirkung der Grundrechte unter Einbeziehung der durch den „Radikalenerlaß" aufgeworfenen Fragen. In: Stein (Hg.), Menschenrechte in Israel und Deutschland, Köln 1978, S. 123-135. Systemgerechtigkeit in der Raumplanung. In: Maunz (Hg.), Verwaltung und Rechtsbindung. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes, München 1979, S. 291-306. Stichwort „Demokratie, Demokratisierung". In: Albers (Hg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, 2. Bd., Stuttgart 1980, S. 142-159. Planung und Grundrechte. In: Die öffentliche Verwaltung 1980, S. 1 - 6 . Die kommunale Landschaft nach den Gebietsreformen und ihre Folgewirkungen für die Raumordnung und Landesplanung. In: Der Landkreis 1980, S. 130-142. - Abgedruckt auch in: Die Kommune als Partner der Raumordnung und Landesplanung. Veröffentlichungen der Akademie für Raumordnung und Landesplanung, Forschungs- und Sitzungsberichte, Bd. 135, Hannover 1980, S. 13-41. Grundfragen des Planungsrechts. Eine Einführung (zusammen mit Eberhard König). In: Juristische Arbeitsblätter 1980, S. 321-326, S. 414-421. Massenverfahren vor Verwaltungsgerichten. Zu § 70 des Entwurfs einer Verwaltungsprozeßordnung (EVPO). In: Deutsche Richterzeitung 1980, S 289-297. Konflikt und Planung. In: Die Verwaltung 3 (1981), S. 277-304. Neue Medien in Baden-Württemberg. Bemerkungen zum Abschlußbericht der ExpertenKommission Neue Medien - EKM Baden-Württemberg. In: Verwaltungsblätter für BadenWürttemberg 1981, S. 337-344. Die Sorge des Staates um die Gleichberechtigung der Frau. In: Die öffentliche Verwaltung 1982, S. 381-389. Rechtspolitik unter dem Grundgesetz. Chancen - Versäumnisse - Forderungen. In: Archiv des öffentlichen Rechts 107 (1982), S. 337-386. Stichwort „Freiheit". In: Gutjahr-Löser/Hornung (Hg.), Politisch-Pädagogisches Handwörterbuch, 2. Aufl., Percha am Starnberger See u. a. 1985, S. 175-180. Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. In: Bayerische Verwaltungsblätter 1985, S. 97-105. „Neue Rundfunkprogramme" in Bayern. In: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 1985, S. 523-539. Das Gebot der „öffentlich-rechtlichen Trägerschaft" des Rundfunkbetriebs nach Art. l i l a Absatz 2 Satz 1 der Bayerischen Verfassung. In: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 1986, S. 330-334.

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Schriftenverzeichnis Walter Schmitt Glaeser

Koordinationspflicht der Länder im Rundfunkwesen. Zur Einspeisung herangeführter Programme in Kabelanlagen (zusammen mit Christoph Degenhart). In: Archiv für Presserecht 1986, S. 173-187. Der häßliche „Kommerzfunk". Ein Diskussionsbeitrag zu einem manipulatorischen Begriff. In: Die öffentliche Verwaltung 1986, S. 819-825. Stichworte für die Bereiche „Allgemeine Staatslehre, Staats- und Verfassungsrecht, Wahlrecht, Verfassungsgerichtsbarkeit". In: Tilch/Arloth (Hg.), Deutsches Rechts-Lexikon, 3 Bände, 3. Aufl., München 2001. Das Grundrecht auf Informationsfreiheit. In: Juristische Ausbildung 1987, S. 567-574. Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung. In: Isensee/ Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, Demokratische Willensbildung - Die Staatsorgane des Bundes, Heidelberg 1. Aufl. 1987, 2. Aufl. 1998, §31, S. 49-71. Stichwort „Partizipation (II. Rechtlich)". In: Görres-Gesellschaft (Hg.), Staatslexikon, Bd. 4, 7. Aufl., Freiburg i.Br. u. a. 1988, Paperback-Ausgabe 1995, Sp. 320-322. Zweites Gesetz zur Änderung des Polizeiaufgabengesetzes. Gesetzesentwurf der Staatsregierung (BayLT-Drs. 11/9078 vom 6. 8. 1988). In: Bayerische Verwaltungsblätter 1989, S. 129-135. Schutz der Privatsphäre. In: Isensee / Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, Freiheitsrechte, Heidelberg 1. Aufl. 1989, 2. Aufl. 2001, § 129, S. 41-107. Die Beurteilung politisch motivierter Gewalt durch das Bundesverfassungsgericht. In: Maurer (Hg.), Das akzeptierte Grundgesetz. Festschrift für Dürig, München 1990, S. 91 - 107. Private Gewalt im Volkswillensbildungsprozeß. In: Rolinski/Eibl-Eibelsfeldt (Hg.), Gewalt in unserer Gesellschaft, Berlin 1990, S. 195-219. Der Bayerische Senat (zusammen mit Bodo Klein). In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 39 (1990), S. 105-123. Zur Institution des öffentlich-rechtlichen Beauftragten (zusammen mit Rudolf Mackeprang). In: Die Verwaltung 24 (1991), S. 15-31. Das neue Gesetz über den Bayerischen Verfassungsgerichtshof. In: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1992, S. 443-446. Der öffentlich-rechtliche Habilitationsvortrag (zusammen mit Helmuth Schulze-Fielitz). In: Die Verwaltung 25 (1992), S. 273-299. Die Novelle zum Kommunalrecht 1992 (zusammen mit Hans-Detlef Horn). In: Bayerische Verwaltungsblätter 1993, S. 1 - 10. ... die Antwort gibt das Volk. Verfassungspolitische Erwägungen zur aktuellen Plebiszitdiskussion. In: Badura/Scholz (Hg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens, Festschrift für Lerche, München 1993, S. 315-328. Nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus: Ein Leben ohne Utopie? In: de Boor/Meurer (Hg.), Über den Zeitgeist. Deutschland in den Jahren 1918- 1990, Bd. I, Marburg 1993, S. 205-222.

Schriftenverzeichnis Walter Schmitt Glaeser Der Schutz des Grundeigentums unter dem Grundgesetz. Anspruch und Wirklichkeit. In: Agrarrecht 1995, S. 161-166. Über Ursachen politisch motivierter Privatgewalt und ihre Bekämpfung. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 1995, S. 56-63. - Abgedruckt auch in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1994, S. 21-42. Schwindende Werte, wachsende Zweifel. Über den Minimalkonsens in der offenen Gesellschaft. In: Bayerische Verwaltungsblätter 1995, S. 577-581. - Abgedruckt auch in: Rehm (Hg.), Staat und Weltanschauung, Donauwörth 1997, S. 146-160. Die Juristen-Fakultäten als Hüter des Rechtsstaats. In: Neue Juristische Wochenschrift 1995, S. 2597-2601. Meinungsfreiheit, Ehrenschutz und Toleranzgebot. In: Neue Juristische Wochenschrift 1996, S. 873 - 879. - Abgedruckt auch in: Vorstand der Münchener Juristischen Gesellschaft e.V. (Hg.), Einheit und Vielfalt der Rechtsordnung. Festschrift zum 30jährigen Bestehen der Münchener Juristischen Gesellschaft, München 1996, S. 195-209. Die Genossenschaften im Bayerischen Senat (zusammen mit Hanns Karl Steininger). In: Genossenschaftsverband Bayern (Hg.), Genossenschaften. Leitbilder und Perspektiven, München 1996, S. 6-20. Der Bayerische Senat. Struktur, Funktion und Bedeutung. In: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hg.), 50 Jahre Bayerische Verfassung. Entstehung, Bilanz, Perspektiven, München 1996, S. 43-65. Das Bundesverfassungsgericht als „Gegengewalt" zum verfassungsändernden Gesetzgeber? - Lehren aus dem Diäten-Streit 1995. In: Burmeister (Hg.), Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Stern, München 1997, S. 1183 -1199. Der Bayerische Senat. Kompetenz und Legitimität. In: Bayerischer Verfassungsgerichtshof (Hg.), Verfassung als Verantwortung und Verpflichtung. Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, Stuttgart, München u. a. 1997, S. 155- 175. Grenzen des Plebiszits auf kommunaler Ebene. In: Die öffentliche Verwaltung 1998, S. 824-831. Das Ansehen der Politiker als Problem des parlamentarischen Regierungssystems. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 2000, S. 95-103. - Abgedruckt auch in: Efstratiou (Hg.), Das Individuum und der Staat. Liber amicorum für Dagtoglou, Athen 2002, S. 369-391. Big Brother is watching you - Menschenwürde bei RTL2. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 2000, S. 395-402. Individuelle Verhaltenssteuerung im Bereich der inneren Sicherheit. In: Kirchhof/Lehner/ Rauach/Rodi (Hg.), Staat und Steuern, Festschrift für Vogel, Heidelberg 2000, S. 353-373. Dauer und Wandel des freiheitlichen Menschenbildes. In: Geis/Lorenz (Hg.), Staat - Kirche - Verwaltung, Festschrift für Maurer, München 2001, S. 1213-1227. Direkte Demokratie - eine Herausforderung für die repräsentative Demokratie, in: Thüringer Landtag (Hg.), Ettersburger Gespräche über „Demokratie lebendiger gestalten", Weimar 2001, S. 41-48. Die Macht der Medien in der Gewaltenteilung. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart N.F. 50 (2002), S. 169-190.

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Schriftenverzeichnis Walter Schmitt Glaeser

Grundrechtsverwirkung. In: Merten / Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, Deutschland II, Allgemeine Lehren, Heidelberg 2004, § 70 i.E.

III. Rechtsprechungsanmerkungen und -berichte Parteiverbot und Strafrecht. Zu fünf Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts. In: Juristenzeitung 1970, S. 59-61. Anzeigenblatt und Pressefreiheit. Zu einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 26. 3. 1971. In: Neue Juristische Wochenschrift 1971, S. 2012-2015. Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Archiv des öffentlichen Rechts 97 (1972), S. 6 0 - 123, S. 276-298. Der Fall Günter Wallraff oder die Dogmatisierung der Kritik. Bemerkungen zu einer merkwürdigen Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 20. Januar 1981. In: Archiv für Presserecht 1981, S. 314-319. Meinungsfreiheit und Ehrenschutz. Zum Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1982- 1 BvR 1376/79. In: Juristenzeitung 1983, S. 95-100. Das duale Rundfunksystem. Zum „4. Fernseh-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 11. 1986. In: Deutsches Verwaltungsblatt 1987, S. 14-21. Die Rundfunkfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Archiv des öffentlichen Rechts 112 (1987), S. 215-263. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG als „Ewigkeitsgarantie" des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Zum Beschluß des BVerfG vom 24. März 1987 („5. Fernseh-Entscheidung"). In: Die öffentliche Verwaltung 1987, S. 837-844. Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In: Archiv des öffentlichen Rechts 113 (1988), S. 5 2 - 100. Politisch motivierte Gewalt und ihre „Femziele". Zum Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 5. Mai 1988-1 StR 5/88. In: Bayerische Verwaltungsblätter 1988, S. 454-459. Anmerkung zu BVerfG vom 26. Juli 1990 (1 BvR 237/88). In: Juristische Rundschau 1991, 5. 16-17. Die Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs. Anmerkungen zu ausgewählten Entscheidungen aus jüngster Zeit (zusammen mit Hans-Detlef Horn). In: Bayerische Verwaltungsblätter 1992, S. 673-685; in: Bayerische Verwaltungsblätter 1994, S. 289-300; in: Bayerische Verwaltungsblätter 1996, S. 417-432; in: Bayerische Verwaltungsblätter 1999, S. 353-363, S. 391 -397.

IV. Herausgebertätigkeit Mitherausgeber der Zeitschrift „Die öffentliche Verwaltung" (seit 1976). Mitherausgeber und Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Die Verwaltung" (seit 1986). Verwaltungsverfahren. Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Richard-Boorberg-Verlages, Stuttgart u. a. 1977, 334 S.

Schriftenverzeichnis Walter Schmitt Glaeser Günter Dürig, Gesammelte Schriften 1952-1983 (zusammen mit Peter Häberle). Berlin 1984, 424 S. Das akzeptierte Grundgesetz. Festschrift für Günter Dürig zum 70. Geburtstag (zusammen mit Hartmut Maurer/Peter Häberle/Graf Vitzthum). München 1990, 493 S.

V. Buchbesprechungen (Auswahl) Gallwas, Der Mißbrauch von Grundrechten, 1967. In: Archiv des öffentlichen Rechts 95 (1970), S. 320-324. Bartsch, Die deutschen Studentenschaften, 1969. In: Die öffentliche Verwaltung 1970, S. 214. Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts. Eine vergleichende Darstellung von ZPO, FGO, VwGO, SGG, 1970. In: Bayerische Verwaltungsblätter 1971, S. 203. Mayer, Allgemeines Verwaltungsrecht. Eine Einführung, 1970. In: Juristenzeitung 1972, S. 62. Forsthoff/ Βlümel, Raumordnungsrecht und Fachplanungsrecht. Ein Rechtsgutachten. Planungsstudium Heft 7, hg. v. Kaiser, 1970. In: Archiv des öffentlichen Rechts 97 (1972), S. 472-473. Klüber, Das Gemeinderecht in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland, 1972. In: Die Verwaltung 7 (1974), S. 123-125. Hoppe / Rengeling, Rechtsschutz bei der kommunalen Gebietsreform. Verfassungsrechtliche Maßstäbe zur Überprüfung von Neugliederungsgesetzen, 1973. In: Die Verwaltung 9 (1976), S. 124-126. Becker/Thieme (Hg.), Handbuch der Verwaltung, 1974. In: Archiv des öffentlichen Rechts 101 (1976), S. 139- 144; Bd. 103 (1978), S. 274-280, Bd. 104 (1979), S. 513-519. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie. Dargestellt am Beispiel des Verfassungsrechtsdenkens in den Vereinigten Staaten von Amerika und des amerikanischen Antisubversionsrechts, 1974. In: Archiv des öffentlichen Rechts 101 (1976), S. 298-303. Hollihn, Partizipation und Demokratie. Bürgerbeteiligung am kommunalen Planungsprozeß?, Planen, Studien und Materialien zur wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Beratung, Band 12, 1978. In: Die öffentliche Verwaltung 1978, S. 777-778. Graf Vitzthum, Parlament und Planung. Zur verfassungsgerechten Zuordnung der Funktionen von Bundesregierung und Bundestag bei der politischen Planung 1978. In: Die öffentliche Verwaltung 1979, S. 383. Erichsen, Verstaatlichung der Kindeswohlentscheidung? Zur verfassungsrechtlichen Bestimmung des schulischen Erziehungsrechts. Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e.V. Berlin, Heft 57, 2. Aufl. 1979. In: Zeitschrift für Familienrecht 1980, S. 408-409. Jarass, Die Freiheit der Massenmedien. Zur staatlichen Einwirkung auf Presse, Rundfunk, Film und andere Medien, 1978. In: Archiv des öffentlichen Rechts 105 (1980), S. 320-323.

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Schriftenverzeichnis Walter Schmitt Glaeser

Bullinger/Kübler (Hg.), Rundfunkorganisation und Kommunikationsfreiheit. Landesberichte und Generalbericht der Tagung für Rechtsvergleichung 1979 in Lausanne, in: HoffmannRiem (Hg.), Materialien zur interdisziplinären Medienforschung, Bd. II, 1979. In: Archiv für Presserecht 1980, S. 174- 175. Westermann / Menger / Bielenberg / Hoppe / Schmidt-Aßmann / David (Hg.), Raumplanung und Eigentumsordnung, Festschrift für Ernst zum 70. Geburtstag, 1980. In: Die öffentliche Verwaltung 1981,S. 112-113. Battis, Öffentliches Baurecht und Raumordnungsrecht, 1981. In: Die Verwaltung 15 (1982), S. 256-258. Hohmann-Dennhardt, Ungleichheit und Gleichberechtigung. Zur kompensatorischen Funktion von Frauenquoten in Rechts- und Sozialpolitik, 1982. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 1983, S. 79-80. Scholz, Rundfunkeigene Programmpresse?, 1982. In: Die öffentliche Verwaltung 1983, S. 649. Scheuner, Das Grundrecht der Rundfunkfreiheit, 1982. In: Die öffentliche Verwaltung 1984, S. 175. Wolf, Das Recht zur Aussperrung. Die Krise des Rechtsstaates in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts, 1981. In: Die öffentliche Verwaltung 1984, S. 989-990. Ricker, Die Einspeisung von Rundfunkprogrammen in Kabelanlagen aus verfassungsrechtlicher Sicht, 1984. In: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 1985, S. 173-174. Treffer/Regensburger/Kroll, Medienerprobungs- und -entwicklungsgesetz. Handkommentar, 1985. In: Bayerische Verwaltungsblätter 1985, S. 512. Wolf, Medienfreiheit und Medienuntemehmen, 1985. In: Bayerische Verwaltungsblätter 1986, S. 640. Wassermann, Ist der Rechtsstaat noch zu retten? In: Die Verwaltung 19 (1986), S. 399-400. Kempf / Uppendahl, Ein deutscher Ombudsman: Der Bürgerbeauftragte von Rheinland-Pfalz, 1986. In: Die Verwaltung 21 (1988), S. 116-117. Rossen, Freie Meinungsbildung durch den Rundfunk. Die Rundfunkfreiheit im Gewährleistungsgefüge des Art. 5 Abs. 1 GG, 1988. In: Die öffentliche Verwaltung 1989, S. 41. Selmer, Bestands- und Entwicklungsgarantien für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in einer dualen Rundfunkordnung. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung ihrer Zulässigkeit und Reichweite, 1988. In: Die Verwaltung 22 (1989), S. 124- 126. Hoffmann-Riem (Hg.), Rundfunk im Wettbewerbsrecht. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk im Spannungsfeld zwischen Wirtschaftsrecht und Rundfunkrecht, 1988. In: Die öffentliche Verwaltung 1990, S. 258. Becker (Hg.), Beiträge zum Medienprozeßrecht. Festgabe für Ule zum 80. Geburtstag, 1988. In: Die Verwaltung 24 (1991), S. 265-266. Hill (Hg.), Gesetzesvorspruch. Verbesserter Zugang des Bürgers zum Recht, 1988. In: Die Verwaltung 24 (1991), S. 279-280.

Schriftenverzeichnis Walter Schmitt Glaeser Schwind/Baumann (Hg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission), Bd. I - IV, 1990. In: Die Verwaltung 24 (1990), S. 518-519. Gersdorf, Staatsfreiheit des Rundfunks in der dualen Rundfunkordnung der Bundesrepublik Deutschland, 1991. In: Die öffentliche Verwaltung 1993, S. 444. Pitschas, Verwaltungsverantwortung und Verwaltungsverfahren - Strukturprobleme, Funktionsbedingungen und Entwicklungsperspektiven eines konsensualen Verwaltungsrechts, 1990. In: Die öffentliche Verwaltung 1994, S. 619-620. Rüthers, Ideologie und Recht im Systemwechsel. Ein Beitrag zur Ideologieanfälligkeit geistiger Berufe. In: Juristische Rundschau 1996, S. 304-305. Morsey / Quaritsch / Siedentopf (Hg.), Staat, Politik, Verwaltung in Europa. Gedächtnisschrift für Schnur, 1997. In: Die Verwaltung 31 (1998), S. 131 - 132. v. Münch/Kunig, GG-Kommentar, Bd. 3, 1996. In: Die Verwaltung 31 (1998), S. 411. Stern, Im Dienst von Recht, Staat und Wissenschaft. Ausgewählte Reden, hg. von Tettinger/ Sachs, 2002. In: Deutsches Verwaltungsblatt 2003, S. 314-315.

VI. Sonstiges (Auswahl) Was noch geschehen muß. Sicherung und Sicherheit der Grundrechte. In: Die politische Meinung, 22. Jg., Nov./Dez. 1977, S. 5-15. Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit. Drei Beispiele. In: Politische Studien, Sonderheft 2/1979, S. 37-54. Das formelle Hauptgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Rechtsschutzgarantie in Art. 20 Abs. 1 der Verfassung Griechenlands. Vortrag an der Universität Athen anläßlich des fünfjährigen Bestehens der Verfassung Griechenlands, 5. Juni 1980, 1981, veröffentlicht in (griech.) Juristenzeitung 1982. Stellungnahme im Rahmen einer Sachverständigenanhörung durch das Bundesministerium des Innern am 21./22. Januar 1982 zum Thema: „Kann die Situation der Frauen durch ein Antidiskriminierungsgesetz verbessert werden?" In: Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit und Bundesministerium des Innern (Hg.), Bonn, S. 54-56. Vom sozialen zum totalen Rechtsstaat. Wie die Freiheit durch Gesetzgebung verspielt wird. In: Die politische Meinung, 27. Jg., Juli/Aug. 1982, S. 28-35. Stellungnahme im Rahmen einer Sachverständigenanhörung zum Entwurf eines Rundfunkgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen vor dem Hauptausschuß des Landtags Nordrhein-Westfalen. In: Ausschußprotokoll des Landtags Nr. 10/462 vom 8. Dezember 1986, S. 47 ff. Günter Dürig zum 70. Geburtstag. In: Archiv des öffentlichen Rechts 115 (1990), S. 308-310. Ein gespaltenes Lebensrecht in Deutschland? In: Bayerische Staatszeitung Nr. 35 vom 31. August 1990, S. 1,6.

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Stellungnahme im Rahmen einer Sachverständigenanhörung vor der Gemeinsamen Verfassungskommission vom 5. November 1992 zum Thema: „Gleichstellung von Frauen und Männern". In: Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, S. 13- 16, 29-31, 57-58. - Abgedruckt auch in: Limbach / Eckertz-Höfer (Hg.), Frauenrechte im Grundgesetz des geeinten Deutschlands. Diskussion in der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat und der Bundesratskommission Verfassungsreform - Dokumentation, 1993, S. 100-106, 127-131, 173-175,222-230. Gleichberechtigung oder Gleichstellung? In: Arbeitgeber 1993, S. 416-422. Sein „politischer Pep" ist die Gründlichkeit seiner Arbeit. Bestand, Entwicklung, Perspektiven des Bayerischen Senats. In: Bayerische Staatszeitung Nr. 3 vom 21. Januar 1994, S. 1 - 2 . Das Ende der Ideologie (Vortrag beim Osteuropa-Symposium des Deutschen Hochschulverbandes). In: Regensburger Bistumsblatt Nr. 45 vom 13. November 1994. Ein Leben ohne Utopie als Forderung der Humanität. In: MUT 1995, Nr. 331, S. 6-14. Abgedruckt auch in: Das Gymnasium in Rheinland-Pfalz, Mitteilungen des Philologenverbandes Rheinland-Pfalz, Heft 1 / 2 / 3 Oktober 1995, S. 12-15. Freiheit - Leistung - Eigentum. In: MUT 1995, Nr. 334, S. 12-21. Unser Staat ist kein Staat ohne Eigenschaften... In: Bayerische Staatszeitung Nr. 44 vom 3. November 1995, S. 1 - 2 . - Abgedruckt auch unter dem Titel: Verfassungsstaat, Grundkonsens, Christentum - Gleichklang oder Dissonanz?, in: Hanns-Seidel-Stiftung (Hg.), Politische Studien, Sonderheft 2/1995, Wertekonsens in der Demokratie, S. 6-11, sowie in: MUT 1996, Nr. 342, S. 48-52. Repräsentation der Mitte und des Normalen. In: Bayerische Staatszeitung Nr. 3 vom 19. Januar 1996, S. 1 - 2 . Der Bayerische Senat - ungeliebt, aber auch unnötig? In: Bayerische Staatszeitung Nr. 13 vom 29. März 1996, S. 1 - 2 . Laudatio für Klaus Vogel, in: Kirchhof/ Birk /Lehner (Hg.), Steuern im Verfassungsstaat. Symposion zu Ehren von Klaus Vogel, München 1996, S. 11-14. Toleranz - Institutionen - Mentalität: Eine Trilogie in der Fehlentwicklung. In: MUT 1996, Nr. 346, S. 66-81. Angesichts des Trümmerfeldes... 50 Jahre Bayerische Verfassung. In: Charivari. Bayerische Zeitschrift für Kunst, Kultur und Lebensart, Nr. 12, 22. Jg., Dez. 1996, S. 52-57. In Memoriam Günter Dürig. In: Archiv des öffentlichen Rechts 122 (1997), S. 134- 137. Erinnerung und Dank an Günter Dürig. In: Tübinger Universitätsreden n. F. Bd. 27, Reihe der Juristischen Fakultät, Bd. 13: Zum Gedenken an Professor Dr. iur. Günter Dürig (1920-1996), 1999, S. 33-36. Die Ethik des freiheitlichen Verfassungsstaates. In: Wiener Blätter zur Friedensforschung, Sept. 3/1999, S. 38-50. „Big Brother" - Fernsehen der Zukunft? In: Die politische Meinung, 46. Jg., Jan. 2001, S. 84-86. - Abgedruckt auch in: Medien Dialog, 14. Jg., Nr. 1/2001, S. 11 - 12. Politik und Medien - ein brisantes Mischsystem. In: Die politische Meinung, 47. Jg., Juni 2002, S. 11-16. Rechte Gefahr als Stabilisator. Die Idee des Antifaschismus wird mißbraucht. In: Agethen/ Jesse/Neubert (Hg.), Der mißbrauchte Antifaschismus, Freiburg i. Br. 2002, S. 325-329.