Recht - Bürge der Freiheit: Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag [1 ed.] 9783428522620, 9783428122622

Recht - Bürge der Freiheit - der Titel, unter dem diese Festschrift em. o. Univ.-Prof. Dr. Johannes Mühlsteiger SJ zur V

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Recht - Bürge der Freiheit: Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag [1 ed.]
 9783428522620, 9783428122622

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Recht – Bürge der Freiheit Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag

Herausgegeben von

Konrad Breitsching Wilhelm Rees

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

KONRAD BREITSCHING / WILHELM REES (Hrsg.)

Recht – Bürge der Freiheit

Kanonistische Studien und Texte begründet von Dr. A l b e r t M . Ko e n i g e r † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn fortgeführt von Dr. Dr. H e i n r i c h F l a t t e n † o.ö. Professor des Kirchenrechts und der Kirchenrechtsgeschichte an der Universität Bonn und Dr. G e o r g M ay Professor für Kirchenrecht, Kirchenrechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz herausgegeben von Dr. A n n a E g l e r Akademische Direktorin am FB 01 Katholisch-theologische Fakultät der Universität Mainz i. R. und Dr. Wi l h e l m R e e s Professor für Kirchenrecht an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Band 51 KONRAD BREITSCHING / WILHELM REES (Hrsg.)

Recht – Bürge der Freiheit

Recht – Bürge der Freiheit Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 80. Geburtstag

Herausgegeben von

Konrad Breitsching Wilhelm Rees

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0929-0680 ISBN 3-428-12262-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort der Herausgeber Recht – Bürge der Freiheit – der Titel, unter dem diese Festschrift em. o. Univ.-Prof. Dr. Johannes Mühlsteiger SJ zur Vollendung seines achtzigsten Lebensjahres gewidmet ist, bringt eine Grundmaxime zum Ausdruck, die der Jubilar in seinem wissenschaftlichen Wirken immer wieder vertreten und unzähligen Hörerinnen und Hörern anschaulich vermittelt hat. Einige kurze Lebensdaten zu Herrn Prof. em. Dr. Johannes Mühlsteiger SJ: Em. o. Univ.-Prof. Dr. Johannes Mühlsteiger SJ wurde am 24. Juni 1926 in Brixen / Südtirol geboren. Nach Abschluss des Humanistischen Gymnasiums in Brixen sowie der Philosophisch-Theologischen Studien am Priesterseminar Brixen wurde er 1950 zum Priester geweiht. Es folgten das Noviziat der Gesellschaft Jesu in St. Andrä im Lavantthal, philosophische Studien an der Ordenshochschule der Jesuiten in München / Pullach, das Studium der Katholischen Theologie in Innsbruck sowie die Promotion zum Dr. theol. ebendort. Das Studium der Kanonistik an der Päpstlichen Universität Gregoriana schloss sich an. Im Jahre 1970 wurde Johannes Mühlsteiger zum ordentlichen Universitätsprofessor für Kirchenrecht und zum Vorstand des Instituts für Kirchenrecht an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck ernannt. Diese Tätigkeit übte er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1994 aus. In dieser Zeit entfaltete er eine reiche wissenschaftliche Tätigkeit, insbesondere im Bereich der kirchlichen Rechtsgeschichte, die weit über die Grenzen Innsbrucks und Tirols Anerkennung fand. So gilt sein Interesse insbesondere dem josephinischen Eherecht, dem Bußwesen, der Religionsfreiheit, der Inkulturation und Rezeption des kirchlichen Rechts, dem Verfassungsrecht der Frühkirche, dem Grundgedanken der Communio und den frühen Kirchenordnungen (vgl. neuestens: Johannes Mühlsteiger SJ, Kirchenordnungen. Anfänge kirchlicher Rechtsbildung, Kanonistische Studien und Texte, Bd. 50, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2006). Mühlsteiger stellte sich darüber hinaus als Dekan bzw. Prodekan in den Jahren 1973 bis 1975 sowie 1977 bis 1978 in den Dienst der KatholischTheologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Für die Österreichische Bischofskonferenz und die österreichische Kirche leistete er als langjähriges Mitglied der Theologischen Kommission der Österreichischen Bischofskonferenz (1973 – 1981; 1990 – 1994) wertvolle Dienste. Von 1983 bis 1986 war Mühlsteiger Mitglied des Tribunals der Diözese Innsbruck für die

VI

Vorwort der Herausgeber

Seligsprechung von Pfarrer Otto Neururer (Götzens). Wesentliches leistete er für die Beziehungen der Katholisch-Theologischen Fakultät der LeopoldFranzens-Universität Innsbruck mit der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen, nicht nur im Blick auf den Erfahrungsaustausch und den Kontakt unter den Professoren, sondern auch auf rechtlicher Ebene. Auch heute ist er noch ein unermüdlicher Seelsorger. An dieser Stelle sei allen, die an der Festschrift mitgewirkt und ihr Zustandekommen ermöglicht haben, herzlich gedankt. Dieser Dank gilt zunächst jenen 53 Autorinnen und Autoren, die einen wissenschaftlichen Beitrag beigesteuert haben. Verbindlich danken wir für die finanzielle Förderung der Drucklegung den Diözesen Innsbruck und Feldkirch sowie der Erzdiözese Salzburg, der Österreichischen Bischofskonferenz, der der Jubilar über Jahre mit seinem Rat und großem Engagement zur Verfügung stand, der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen, die sich dem Jubilar in besonderer Weise verbunden weiß, dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, dem Amt der Tiroler Landesregierung und der Stadt Innsbruck. Frau Akademische Direktorin a. D. Dr. phil. Anna Egler Mainz, sind die Herausgeber für die Aufnahme der Festschrift in die Reihe „Kanonistische Studien und Texte“ zu verbindlichem Dank verpflichtet. Nicht zuletzt gilt der Dank Herrn Verleger Prof. Dr. jur. h. c. Norbert Simon und Herrn Dr. Florian Simon, Verlag Duncker & Humblot, Berlin, für die Bereitschaft zur Übernahme der Festschrift in das Verlagsprogramm sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlages für die stets entgegenkommende, zuverlässige und freundliche fachliche Betreuung. Innsbruck, im Mai 2006

Konrad Breitsching Wilhelm Rees

Inhaltsverzeichnis I. Grundlegendes Siegfried Battisti Naturrecht und Gerechtigkeit ……………………………………………………… 3 Karl Heinz Auer Die religiöse Valenz der Menschenwürdekonzeption ……………………………. 19 Johann Bair Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit aus dem Blickwinkel des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen ……………………………. 43 Georg Fischer Fraktale Geometrie und Ekklesiologie – Möglichkeiten und Grenzen einer Analogie ………………………………………………………………………….. 59 Roman Siebenrock Der eine Bund. Systematische Marginalien zur möglichen kirchenrechtlichen Bedeutung einer theologischen Grundkategorie aus dem jüngeren jüdischchristlichen Gespräch …………………………………………………………….. 71 Thomas Böhm Kirchenrecht und Pastoraltheologie „unter einem Dach“. Überlegungen zur Zusammenarbeit beider Fächer unter praktisch-theologischer Perspektive ..…….. 87 Johannes Panhofer Kanon 517 § 2 – der „Kirchenentwicklungsparagraph“. Das Kirchenrecht zwischen Beständigkeit und Weiterentwicklung ……………………………….. 113 Matthias Scharer Kirchenrecht und Kommunikative Theologie. Anfragen an eine mögliche Annäherung im Theologietreiben ……………………………………….………. 149

VIII

Inhaltsverzeichnis

II. Orientalistik und Neues Testament Martin Lang ina njmƯ ullûti, innjmƯšu – „In jenen Tagen“, „am Tag, als“. In illo tempore als Indikator für normative Ursprünglichkeit in altorientalischen literarischen Werken und in Rechtstexten ……………………………………….…………… 171 Corrado Marucci Diritto ebraico e condanna a morte di Gesù …………………………………….. 183

III. Theologiegeschichte, Dogmatik und Moral Lothar Lies Amt und Eucharistie bei Theodor von Mopsuestia ……………………..………. 203 Jozef Hendrik Anne van Banning Ein Franziskaner Traktat aus dem 13. Jahrhundert über die Wunder der Eucharistie ……………………………….……………………………………… 223 Nikolaus Wandinger Die kirchliche Sündenlehre als Heuristik einer theologischen Anthropologie. Impulse aus der Theologie Karl Rahners und Raymund Schwagers …………… 235 Hans Rotter Krankenseelsorge ……………………………………………………….………. 261 Wolfgang Palaver Moral und Politik: Thomas Morus als Vorbild für die politischen Eliten Europas ………………………………………………………………………..… 269

IV. Kirchliche Rechtsgeschichte Richard Potz und Eva Synek Einige Grundfragen kirchlicher Rechtsgeschichte ……………………...………. 287 Reinhard Meßner Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung. Übersetzung und Anmerkungen ………………………………………………………………….... 305

Inhaltsverzeichnis

IX

Monica Herghelegiu Kirchenrechtliche Konsequenzen des so genannten „Morgenländischen Schismas“ von 1054 und ihrer Aufhebung durch den „Dialog der Liebe“ im Jahr 1065 …... 337 Louis Carlen Das Kirchenportal im Recht ………………………………………….…………. 351 Hans Paarhammer Eine neue „Consistorial-Raths Ordnung“ unter dem letzten regierenden Salzburger Fürsterzbischof Hieronymus Joseph Franz de Paula, Graf von Colloredo 1786 .… 365 Alfred Rinnerthaler Die „Salzburger (Gottes-)Ehen“ und deren Erfinder …………..……………….. 389 Norbert Brieskorn Bernold von Konstanz – eine Allgemeine Rechtslehre in den „Streitschriften“ .… 415 Ilona Riedel-Spangenberger Der Kanonist Sicardus von Cremona (*1155 – †1215) in Mainz (1178 – 1183) … 437 Helmuth Pree Bonifaz VIII. (1294 – 1303) als kirchlicher Gesetzgeber ……………………… 453 Georg May Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert …..…… 481 Josef Gelmi Mittelalterliches Schulleben im Territorium des heutigen Südtirol …………….. 521

V. Kirchenrecht Ahlonko Kouassi Augustin Kuoanvih Zur Förderung der Würde und Rechte der Frau in der südtogolesischen Kirche. Theologisch-kirchenrechtliche Erwägungen ……………………………………. 535 José María Díaz Moreno El derecho a la intimidad. Una reflexión en torno a los c. 220 y 642 ……..……. 555

X

Inhaltsverzeichnis

Irina Kreusch Das Bischofsamt innerhalb der Communio. Eine Standortbestimmung anhand des bischöflichen Treueides ………………………………………….…….…… 585 Konrad Breitsching Zur interimistischen Leitung einer Diözese wegen Vakanz oder Behinderung des bischöflichen Stuhls ……………………………………….…. 599 Heribert Hallermann Die Würzburger Synode – ein Maßstab für synodale Prozesse? …..…………… 621 Peter Stockmann Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ – eine Territorialprälatur? …………………………………………….…………… 645 Johann Hirnsperger Das Kathedralkapitel zum hl. Martin in Eisenstadt. Dargestellt anhand der geltenden Statuten ………………………………………………………………. 677 Reiner Tillmanns Die Führung der Bezeichnung „katholisch“ nach dem Recht der lateinischen Kirche …………………………………………………………………….…….. 699 Bruno Primetshofer Neue Rechtsentwicklungen im Bereich der gemischten Institute des geweihten Lebens …………………………………………………………….…………….. 729 Philipp Helm Die Abtwahl in den Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation ……………………………………………….……… 749 Christoph Ohly Die Lebensführung im Säkularinstitut gemäß c. 714 CIC. Möglichkeiten und Entwicklungen …………………………………………………………...……… 759 Gerlinde Katzinger Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge in einer globalisierten Welt ……………………………………………………………… 787 Rudolf Pacik Wer darf wann die Kommunion unter beiden Gestalten empfangen? Die römischen Regelungen vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis heute …….. 827

Inhaltsverzeichnis

XI

Andreas Weiß Der Ablass − ein Testfall der Ökumene? ……………………………..………… 845 Bertram Zotz Kinderzahl und Ehewille. Überlegungen zur konsensrechtlichen Relevanz der vorausgehenden Begrenzung der Kinderzahl aus einer konkret beabsichtigten Ehe ……………………………………………………………………………..... 877 Nikolaus Schöch Verfahrensrechtliche Überlegungen zur Beurteilung der Zivilehe von Orthodoxen ………………………………………………………………..…….. 891 Elisabeth Kandler-Mayr Diözesane Bauämter – Vigilantia für den Denkmalschutz ……...……………… 913

VI. Kirche und Staat – Kirche und Gesellschaft Hugo Schwendenwein „Persona publica“. Fragen um die öffentlich-rechtliche Wirksamkeit der Kirche in Österreich ……………..………………………………………...……. 933 Albert Haunschmidt Die Mitgliedschaft in der Kirche nach staatlichem und kirchlichem Recht der Altkatholischen und Römisch-Katholischen Kirche ………………………...….. 959 Markus Graulich Die zivilrechtliche Bedeutung religiöser Eheschließung in den Ländern der Europäischen Union ……………………………………………………...……... 979 Karl Schwarz Konfessionelle Minderheiten in der Schule. Der Religionsunterricht – ein Seismograph für die Gewährleistung religiöser Interessen in der Gesellschaft ..... 1003 Adrian Loretan Haben Theologische Fakultäten eine Zukunft in den staatlichen Universitäten Europas? ………………………………………………………….……………. 1021 Brigitte Schinkele Vereinigungen von Gläubigen im Spannungsfeld von kirchlichem und staatlichem Recht. Überlegungen anlässlich des VfGH-Erkenntnisses S lg. 16.395/2001 ……………………………………………………………. .. 1031

XII

Inhaltsverzeichnis

Josef Michaeler Vertrag zwischen dem Hl. Stuhl und Italien vom 15. November 1984. Durchführung in Südtirol ……………………………………………...………. 1059 Johannes Messner KVW Träger vieler Dienste über die Grenzen hinweg. Eine sozial-karitative Bewegung aus der Zeit der Nachkriegszeit …………………………………… 1077 Andrej Saje Die Katholische Kirche in Slowenien im Verhältnis zum Staat ……………..... 1103 Richard Gohm Leben und Leiden für Christus und die Kirche. Msgr. Dr. Carl Lampert, Provikar der Administratur Innsbruck-Feldkirch ……………………………… 1119

Bibliographie von Johannes Mühlsteiger SJ ………………………….……. 1153 Verzeichnis der Mitarbeiter ……………………………………………...….. 1159

Abkürzungsverzeichnis AAS

Acta Apostolicae Sedis, Rom 1909 ff.

abgedr.

abgedruckt

Abs.

Absatz, Absätze

AchHist

Achaemenid History, Leiden 1987 ff.

ACLI

Associazioni Cristiane Lavoratori Italiani

ADERSt

Amtliche Deutsche Ein- und Rückwandererstelle

AfkKR

Archiv für katholisches Kirchenrecht, Innsbruck 1857 ff. (Mainz 1862 ff., Paderborn 1999 ff.)

AHP

Archivum Historiae Pontificiae, Roma

AIC

Adnotationes in ius canonicum, Frankfurt/Main

AKK

Arbeitsgemeinschaft Katholischer Katechetikdozenten

AKRK

Arbeitsgemeinschaft Katholischer Religionspädagogik und Katechetik

AKV

Kirchenverfassung der Altkatholischen Kirche Österreichs von 1980 in der Fassung vom 1. 12. 2003

AnBoll

Analecta Bollandiana, Brüssel 1882 ff.

AnerkennungsG

Gesetz vom 20. Mai 1847, betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften. Österreich

AnGr SFIC

Analecta Gregoriana. Series Facultatis Iuris Canonici, Roma

Anm.

Anmerkung

AnnéeC

L’Année Canonique, Paris 1952 ff.

AnPont

Annuario Pontificio

Ant.J.

Josephus Flavius, Antiquitates Judaicae

AnzSS

Anzeiger für die Seelsorge, Freiburg/Br. 1982 ff.

AOAT

Alter Orient und Altes Testament, Kevelaer / Neukirchen Vluyn

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts, Tübingen

XIV

Abkürzungsverzeichnis

Ap. Konst.

Apostolische Konstitution

Apost.

Apostolisch

Apost. Pön.

Apostolische Pönitentiarie

ARG

Archiv für Reformationsgeschichte, Leipzig 1903 ff.

ArOr

Archiv Orientální, Prag

Art.

Artikel

ASTAT

Landesinstitut für Statistik, Autonome Provinz BozenSüdtirol

ASVG

Allgemeines Sozialversicherungsgesetz. Österreich

AuOr

Aula Orientalis, Barcelona

AußStrG

Gesetz über das gerichtliche Verfahren in Rechtsangelegenheiten außer Streitsachen vom 9. August 1854. Österreich

AVA

Österreichisches Staatsarchiv – Allgemeines Verwaltungsarchiv

Aymans / Mörsdorf, KanR I

Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici. Band I. Einleitende Grundfragen. Allgemeine Normen, Paderborn u. a. 1991

Aymans / Mörsdorf, KanR II Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici. Band II. Verfassungs- und Vereinigungsrecht, Paderborn u. a. 1997 BA

Bundesarchiv

BBKL

Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hrsg. v. Friedrich Wilhelm Bautz, Hamm 1, 1970 ff.

Bd., Bde.

Band, Bände

bearb.

bearbeitet

begr.

begründet

BekenntnisgemeinschaftenG

Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften. Österreich

bez.

bezeichnet

BG

Bundesgesetz

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BGPhThMA

Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen, Münster

Abkürzungsverzeichnis

XV

BMBWK

Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Österreich

BMT

Beiträge zur mimetischen Theorie

BV

Bundesverfassung

B-VG

Bundes-Verfassungsgesetz 1920 idF 1929. Österreich

B-VGNov

Novelle des Bundesverfassungsgesetzes. Österreich

bzw.

beziehungsweise

c., cc.

canon, canones

CAD

The Assyrian Dictionary of the Oriental Institute of the University of Chicago, Chicago 1956 ff.

CCEO

Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, vom 18. Oktober 1990

CCPR

International Covenant on Civil and Political Rights

C.E.R.A.O.

Conférence épiscopale régionale de L’Afrique de l’Ouest francophone

cf.

confronta

CGIL

Confederazione Generale Italiana del Lavoro

CH

Codex Hammurapi

CIC

Codex Iuris Canonici

CISL

Confederazione Italiana Sindacati Liberi

CivCatt

La Civiltà Cattolica, Roma 1850 ff.

CMu

Chiesa e mobilità umana

COD

Conciliorum oecumenicorum decreta. Hrsg. v. G. Alberigo u. a., Bologna 31973

ComRelMiss, CpR

Commentarium pro Religiosis et Missionariis, Roma 1920 ff.

Conc.

Concessiones

CU

Codex Urnamma

DA

Diözesanarchiv

DAF

Diözesanarchiv Feldkirch

DAI

Diözesanarchiv Innsbruck

DBK

Deutsche Bischofskonferenz

XVI

Abkürzungsverzeichnis

DDC

Dictionnaire de droit canonique. 7 Bde., Paris 1935 – 1965

DH

Heinrich Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Hrsg. v. Peter Hühnermann, Freiburg/Br. u. a. 371991

DHGE

Dictionnaire d’histoire et de géographie ecclésiastiques, Paris 1, 1912 ff.

DiKa

Münchener Universitätsschriften. Katholisch-Theologische Fakultät. Dissertationen. Kanonistische Reihe

DIP

Dizionario degli Istituti di perfezione. Hrsg. v. G. Pelliccia / G. Rocca, Roma 1974 ff.

DirEccl

Il Diritto Ecclesiastico, Roma (Milano)

DMV

Deutsche Mathematiker-Vereinigung

Doc, Doc.

Document(s)

DÖW

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes

DPrBesO

Diözesane Priesterbesoldungsordnung, Diözese Augsburg

DSG

Denkmalschutzgesetz

DSp

Dictionnaire de Spiritualité, Ascétique et Mystique. Doctrine et Histoire. Hrsg. v. M. Miller, Paris 1932 ff.

DUDH

Declaración universal de los Derechos Humanos

eb.

erzbischöflich

Ebd., ebd.

Ebenda, ebenda

EF

Pius XII., Ap. Konst. „Exsul familia“, vom 1. August 1952, in: AAS 46 (1952), S. 649 – 704.

EGMR

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

EI

Apost. Pön., Enchiridion indulgentiarum

EI 1986

Apost. Pön., Enchiridion indulgentiarum. Normae et concessiones, vom 18. Mai 1986

EI 1999

Apost. Pön., Enchiridion indulgentiarum. Normae et concessiones, Typ. Vol. Vat. 1999

EIC

Ephemerides Iuris Canonici, Roma

EK

Evangelische Kommentare

Abkürzungsverzeichnis

XVII

EMCC

Instruktion „Erga migrantes caritas Christi“, in: AAS 96 (2004), S. 762 – 822

EMRK

Europäische Menschenrechtskonvention

E.N.E.L.

Ente Nazionale per l’Energia elettrica

epd

Evangelischer Pressedienst

ETCSL

The Electronic Text Corpus of Sumerian Literature

EuGH

Europäischer Gerichtshof

evang.

evangelisch

f., ff.

folgende

FAOS

Freiburger altorientalische Studien, Wiesbaden 1975

FKRG

Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, Köln 1957 ff.

Fn; Fußn.

Fußnote

fortgef.

fortgeführt

FrZPhTh

Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, Freiburg/Schw.

FVKS

Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat, Freiburg/Schw. 1931 ff.

G.A.

General Assembly

GE

Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche

GG

Grundgesetz

GL

Gotteslob

GlU

Glaser / Unger, Zivilrechtliche Entscheidungen

GRC

Grundrechtscharta der Europäischen Union

GSyn

Gemeinsame Synode

GuL

Geist und Leben, Würzburg 20 (1947) ff.

GV

Vangelo di Giovanni

HANE/S

History of the Ancient Near East (Padua), Studies 1

HdbKathKR

Handbuch des katholischen Kirchenrechts. Hrsg. v. J. Listl / H. Müller / H. Schmitz, 1. Auflage, Regensburg 1983

HdbKathKR2

Handbuch des katholischen Kirchenrechts. Hrsg. v. J. Listl / H. Schmitz, Regensburg, 2. Auflage 1999.

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

HdbStKirchR1

Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1. Aufl. Hrsg. v. E. Friesenhahn / U. Scheuner i. V. m. J. Listl, 2 Bde., Berlin 1974 / 1975

HdbStKirchR2

Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. Hrsg. v. J. Listl / D. Pirson, 2 Bde., Berlin 1994 / 1995

HDG

Handbuch der Dogmengeschichte, Freiburg/Br. 1951 ff.

HDIEO

Histoire du droit et des institutions de l’église en Occident, Paris 1955 ff.

HerKorr

Herder Korrespondenz, Freiburg/Br. 1946 ff.

HKG

Handbuch der Kirchengeschichte. Hrsg. v. H. Jedin, 7 Bde., Freiburg/Br. / Basel / Wien 1962 – 1979

HNat

E. Beck, Des heiligen Ephraem des Syrers Hymnen de Nativitate (Epiphania) (CSCO 186 – 187 [= Scriptores Syri, 82 – 83]), Louvain 1959

HOK

Handbuch der Ostkirchenkunde. Hrsg. v. Endre Ivánka, Düsseldorf

HRG

Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte

IusCan

Ius Canonicum, Pamplona 1961 ff.

ICMC

International Catholic Migration Commission

ID

Ap. Konst., „Indulgentiarum doctrina“, vom 1. Januar 1967, in: AAS 59 (1967), S. 5 – 24

i.d.R.

in der Regel

IE

Ius Ecclesiae. Rivista internazionale di diritto canonico, Rom / Mailand 1989 ff.

IM

Johannes Paul II., Bulle „Incarnationis mysterium“, vom 29. November 1998, in: AAS 91 (1999), S. 129 – 143

I.L.M.

International Legal Materials

InterKonfG

Gesetz vom 25. Mai 1868, wodurch die interkonfessionellen Verhältnisse der Staatsbürger in den darin angegebenen Beziehungen geregelt werden. Österreich

i.S.v.

im Sinne von

i.V.m.

in Verbindung mit

ICMC

International Catholic Migration Commission

ide

Informationen zur Deutschdidaktik

Abkürzungsverzeichnis

XIX

idF

in der Fassung

idgF

in der gültigen Fassung

IE

Ius Ecclesiae. Rivista internazionale di diritto canonico, Roma / Milano 1989 ff.

iSd

im Sinne des

JBl

Juristische Blätter, Wien / New York

JN

Jurisdiktionsnorm

JNES

Journal of Eastern Studies, Chicago

KAB

Katholische Arbeiterbewegung

KAS

Konsistorialarchiv der Erzdiözese Salzburg

kath.

katholisch

Keth

Kethuboth

KGB

Kirchenbeitragsgesetz

KiDWO

Kirchliche Dienstwohnungsordnung, Diözese Augsburg

KirchE

Entscheidungen in Kirchensachen, Berlin 1963 ff.

KKK

Katechismus der Katholischen Kirche

KL

siehe WWKL

KlBl.

Klerusblatt, München 1925 ff.

KNA-ÖKI

Katholische Nachrichtenagentur. Ökumenische Information

KStKR

Kirchen- und Staatskirchenrecht. Hrsg. v. I. Riedelspangenberger / M. Graulich / N. Witsch, Paderborn

KStuT

Kanonistische Studien und Texte. Hrsg. v. A. Egler / W. Rees, Berlin

KuR

Kirche und Religionsgesellschaft

KVW

Katholischer Verband der Werktätigen, Südtirol

Lc

Vangelo di Luca

LexMA

Lexikon des Mittelalters, 9. Bde., München 1980 – 1998

LKStKR

Lexikon für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht. Hrsg. v. A. v. Campenhausen / I. Riedel-Spangenberger / R. Sebott, 3 Bde., Paderborn 2000 – 2004

LM

Lutherische Monatshefte, Hamburg 1962 ff.

XX

Abkürzungsverzeichnis

LR

Landesregierung

LThK

Lexikon für Theologie und Kirche

M.A.B.

UNESCO-Programm „Man and the Biosphere“

Mc

Vangelo di Marco

MeldeG

Meldegesetz

MGH

Monumenta Germaniae Historica

MGH.Conc

Monumenta Germaniae Historica. Concilia

MGH.ES

Monumenta Germaniae Historica. Epistolae selectae

MGH.L

Monumenta Germaniae Historica. Leges

MGH.SS

Monumenta Germaniae Historica. Scriptores

MIC.C

Monumenta Iuris Canonici. Series B: Corpus Collectionum

MK CIC

Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hrsg. v. K. Lüdicke unter Mitarbeit von R. Henseler u. a., Loseblattsammlung, Essen 1985 ff.

Mörsdorf Lb.

Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici, begr. v. E. Eichmann, fortgef. v. K. Mörsdorf, 11. Aufl., 3 Bde, München / Paderborn / Wien, Bd. 1: 1964, Bd. 2: 1967, Bd. 3: 1979

MP

Motu Proprio

Mt

Evangelium nach Matthäus

MThS.K, MthStkan

Münchener Theologische Studien. Kanonistische Abteilung, München 1951 ff.

n.

Nummer

NCCCL

J. B. Peal / J. A. Coriden / Th. J. Green (Hrsg.), New Commentary on the Code of Canon Law. Commissioned by The Canon Law Society of America, New York / Mahwah 2000.

ND

Nachdruck

NE

SC Ep, Instructio „De pastorali migratorum cura – Nemo est“, in: AAS 61 (1969), S. 614 – 643

NF

Neue Folge

NLChM

Neues Lexikon der christlichen Moral. Hrsg. v. H. Rotter / G. Virt

Abkürzungsverzeichnis

XXI

NKD

Nachkonziliare Dokumentation, 58 Bde., Trier 1967 – 1977

Nor.

Normae

Nr.

Nummer

NRHDF

Nouvelle revue historique de droit francais et étranger, Paris 1877 ff.

O.A.S.

Organisation Amerikanischer Staaten

O.A.U.

Organisation of African Unity; Organisation für Afrikanische Einheit

ÖAKR

Österreichisches Archiv für Kirchenrecht, Wien 1950 ff.

ÖKB

Österreichische Bischofskonferenz

ONU

Organización de las Naciones Unidas

o. O.

ohne Ortsangabe

OP

Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights

OssRom (dt.)

L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache, Vatikanstadt 1917 ff.

p.

pagina

PastBl.

Pastoralblatt

PastBon

Johannes Paul II., Ap. Konst. „Pastor Bonus“ v. 28. Juni 1988, in: AAS 80 (1988), S. 841 – 934

PCI

Pontificia Comissio ad Codicis Canones Authentice Interpretandos; Pontificium Consilium de Legum Textibus Interpretandis

PerRMCL

Periodica de re morali canonica liturgica, Roma 1950 – 1990

PerRCan

Periodica de re canonica, Roma 1991 ff.

PGR

Pfarrgemeinderat

PKR

Pfarrkirchenrat

PPHS

Professional Promotion Hospitality Section

PrKat

Prediger und Katechet, Freiburg/Br. 1851 ff.

QDE

Quaderni di Diritto ecclesiale, Milano

RDC

Revue de droit canonique, Strasbourg 1951 ff.

XXII

Abkürzungsverzeichnis

Rdnr.

Randnummer

RE3

Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl., 24 Bde., Leipzig 1896 – 1913

REDC

Revista española de derecho canónico, Salamanca 1946 ff.

RelKErzG

Bundesgesetz über die religiöse Kindererziehung. Österreich

RelUG

Religionsunterrichtsgesetz. Österreich

res.

Resolution

RGBl

Reichsgesetzblatt

RGCR

Regolamento Gernerale della Curia Romana

RKFdV

Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums

RR

Rota Romana

RSHA

Reichssicherheitshauptamt

Rz

Randziffer

S.

Seite(n)

Sanh

Sanhedrin

SCCult

Sacra Congregatio de Culto Divino

SCEAM

Symposium des Conférences Episcopales d’Afrique et de Madagascar

SC Ep

Sacra Congregatio pro Episcopis

SGB

Südtiroler Gewerkschaftsbund

SICA

Subsidia ad ius canonicum vigens applicandum. Hrsg. v. F. Kalde, Metten 1990 ff.

S.I.D.L.R.C.

Société Internationale de Droit Canonique et de Législations

SLA

Salzburger Landesarchiv

Slg

Sammlung

Sp.

Spalte(n)

StdZ

Stimmen der Zeit, Freiburg/Br. 1915 ff.

StGBl

Staatsgesetzblatt

Abkürzungsverzeichnis

XXIII

StGG

Staatsgrundgesetz

StLex

Staatslexikon. Recht – Wirtschaft – Gesellschaft, 7. Aufl., 7 Bde., Freiburg/Br. 1995

StudCan

Studia Canonica, Ottawa 1967 ff.

StV

Staatsvertrag

Supp.

Supplement(s)

ThGl

Theologie und Glaube, Paderborn 1909 ff.

ThPh

Theologie und Philosophie, Freiburg/Br. 41 (1966) ff.

TMA

Johannes Paul II., Apost. Schreiben „Tertio millennio adveniente“, vom 10. 11. 1994, in: AAS 87 (1995), S. 5 – 41

TRE

Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. v. G. Krause / G. Müller, Berlin / New York 1977 ff.

tt

theologische trends

TUAT

Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Gütersloh 1982 ff.

u. a.

und andere

u. a. m.

und anderes mehr

u. dgl.

und dergleichen

U.N.

United Nations

U.N.T.S.

United Nations Treaty Series

UUP

Urbaniana University Press

v.

von

v. a.

vor allem

VApSt

Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls. Hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz

VatII AA

Vaticanum II, Dekret „Apostolicam actuositatem“

VatII AG

Vaticanum II, Dekret „Ad gentes“

VatII CD

Vaticanum II, Dekret „Christus Dominus“

VatII GE

Vaticanum II, Erklärung „Gravissimum educationis“

VatII GS

Vaticanum II, Pastorale Konstitution „Gaudium et spes“

VatII LG

Vaticanum II, Dogmatische Konstitution „Lumen gentium“

XXIV

Abkürzungsverzeichnis

VatII OT

Vaticanum II, Dekret „Optatam totius“

VatII PC

Vaticanum II, Dekret „Perfectae caritatis“

VatII PO

Vaticanum II, Dekret „Presbyterorum ordinis“

VELKD

Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands

VereinsG

Bundesgesetz über Vereine. Vereinsgesetz 2000. Österreich

VfGH

Verfassungsgerichtshof

VfSlg.

Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes. Österreich

vgl.

vergleiche

VwGH

Verwaltungsgerichtshof

WBCA

Weltbewegung Christlicher Arbeiter

WWKL

Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Encyclopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften, 12. Bde., Freiburg/Br. 1847 – 1860

Z

Ziffer

ZKG

Zeitschrift für Kirchengeschichte, Stuttgart

ZKTh

Zeitschrift für Katholische Theologie, Wien 1876/77 ff.

Zl

Zahl

ZP

Zusatzprotokoll

ZRG Kan.Abt.

Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung, Weimar 1911 ff.

I. Grundlegendes

Naturrecht und Gerechtigkeit Von Siegfried Battisti Über Naturrecht und Gerechtigkeit in einer kurzen Abhandlung zu schreiben, scheint ein gewagtes Unternehmen zu sein, zumal die Begriffe vieldeutig sind und die Literatur dazu fast unüberschaubar ist. Bereits die Untersuchung von E. Wolf aus dem Jahre 1964 zeigt die zahlreichen Aspekte des Naturrechts, wenn er vom Naturrecht als „Daseinsrecht“, als „Entwicklungsrecht“, als „Echtheitsrecht“, als „Intuitionsrecht“, als „Seinsgesetz“, als „Sollensgesetz“, als „Konventionsrecht“, als „Idealrecht“, als „Nächstenrecht“, als „Recht der Natur der Sache“, als „Recht des Stärkeren“ und als „Recht der Zeitgerechtigkeit“ spricht.1 Nicht minder facettenreich sind die Auffassungen und Abhandlungen über die Gerechtigkeit, vor allem seit dem Erscheinen von John Rawls’ Buch „A Theory of Justice“.2 Doch zu bedeutsam ist die Thematik über das Naturrecht und die Gerechtigkeit, als dass es sich nicht lohnen würde – in welcher Form auch immer – darüber zu schreiben, in der Hoffnung, Interesse auch bei denjenigen Lesern zu finden, die vor umfangreichen Abhandlungen zurückschrecken. Die wissenschaftliche Reflexion soll dabei aber nicht zu kurz kommen. I. Objektiv-seinsorientierte und subjektiv-rationalistische Naturrechtslehre3 Schon zu Beginn der griechischen Philosophie, bei den Vorsokratikern, findet sich der Gedanke eines obersten, den gesamten Weltprozess beherrschenden Gesetzes, man denke vor allem an den Begriff des Logos bei Heraklit; und diese Vorstellung von einem höchsten Gesetz lässt sich in der gesamten abend-

1

Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, Karlsruhe 1964.

2

John Rawls, A Theory of Justice, Harvard University Press 1971 (deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt 1979). 3 Vgl. dazu: Adolf Süsterhenn, Das Naturrecht, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus. Hrsg. v. W. Maihofer (= Wege der Forschung XVI), Darmstadt 1966, S. 11 – 15.

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Siegfried Battisti

ländischen Philosophie feststellen: bei Sokrates als einem dem menschlichen Individuum innewohnenden Gesetz als Stimme des Gewissens, bei Platon in der Form ewiger, unwandelbarer Ideen und bei Aristoteles von einem allem Seienden innewohnenden Prinzip (Entelechie). Erst recht wird die Lehre von einem allen Normen zugrunde liegenden Weltgesetz in der Stoa vertreten, dessen Auswirkungen sich auch in der römischen Rechtslehre (Cicero) zeigen: „Das wahre Gesetz ist die richtige Vernunft in Übereinstimmung mit der Natur ... Es umspannt alle Völker und Zeiten als ewiges und unveränderliches Gesetz. Es spricht zu uns gleichsam der Lehrer und Herrscher der Welt: Gott. Er hat dieses Gesetz erdacht, ausgesprochen und gegeben. Wer ihm nicht gehorcht, wird sich selbst untreu und verleugnet seine Menschennatur.“4 In der Patristik, bei Augustinus, wird dieses wahre Gesetz noch ausdrücklicher als göttliches Gesetz, als lex aeterna, interpretiert. Doch zweifelsohne am ausgereiftesten kommt die objektiv-seinsorientierte Interpretation des Naturrechts in der Hochscholastik zum Ausdruck, nach deren Lehre, vor allem bei Thomas von Aquin, Gott in die Welt die Gesetze ihres Seins und Werdens hineingelegt hat, die im Bereich der anorganischen Natur mit mechanisch – physikalischer Notwendigkeit wirken, beim Tier triebhaft und beim Menschen, der im Besitz von Vernunft und freiem Willen ist, als sittliche Forderungen. Durch seine Vernunft ist der Mensch in der Lage, die Forderungen zu erkennen, die sich ihm aus seiner Natur und seinem Wesen ergeben. Diese Auffassungen von Naturrecht sind zum tragenden Gedankengut für die folgenden Jahrhunderte geworden, speziell für die Neuscholastik und finden sich auch in den Enzykliken der letzten Päpste wieder. Die Orientierung an einer subjektiv-rationalistischen Naturrechtslehre nimmt ebenfalls von der Antike ihren Ausgang, hauptsächlich von den Sophisten, für die der Mensch zum Maß aller Dinge wird (Protagoras). Da in der Patristik und in der Scholastik der „Ordo-Gedanke“ vorherrschte, kommt das subjektiv-rationalistische Element erst im ausgehenden Mittealter, im philosophischen Nominalismus, vor allem bei Wilhelm von Ockham, zur Geltung, bei dem das Individuelle eindeutig den Primat vor dem Allgemeinen hat. In der Renaissance, die sich als große Wiedergeburt der Antike versteht, wird zwar ein Jenseits und eine absolute Weltordnung nicht geleugnet, doch wird sie hineingenommen in die unendliche menschliche Dynamik, so z. B. beim Floren-

4 Cicero, De republica III, 22. Hrsg. v. K. Ziegler, Staatstheoretische Schriften: Lateinisch und Deutsch, Darmstadt 1974.

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tiner Fürst Giovanni Pico della Mirandola, nach dem der Mensch in einem unendlichen Prozess immer Neues schaffen und sich dadurch verwirklichen soll. Des Weiteren muss man von einem subjektiv-rationalistischen Prinzip als Orientierungsmaßstab für menschliches Handeln zur Zeit des philosophischen Empirismus sprechen, in der sich ein radikaler Bruch mit der platonischaristotelischen Metaphysik vollzog und folglich auch die Vorstellung von ewigen Gesetzen ihre Glaubwürdigkeit verlor. Am ausgeprägtesten und bis in unsere Zeit am einflussreichsten jedoch kommt das subjektiv-rationalistische Denken in der Aufklärung zum Durchbruch, in der eine vollkommene Autonomie der Vernunft in Ablehnung jeglicher Autorität und vorgegebener Normen gefordert wird. Bedeutet für die Vertreter des objektivseinsorientierten Naturrechts die menschliche Vernunft lediglich Erkenntnismittel und die Natur Erkenntnisquelle, so übernimmt bei den Vertretern einer subjektivrationalistischen Naturrechtslehre die Vernunft auch die Funktion der Erkenntnisquelle.5 Was zu tun oder zu unterlassen, was richtig oder falsch ist, darüber entscheidet allein der Mensch im Gebrauch seiner Vernunft. Kritik am Naturrecht, vor allem am objektiv-seinsorientierten, wird besonders seitens des Rechtspositivismus geäußert; dieser ist der Ansicht, dass nur positiv gesetztes Recht Recht ist; von einem Recht jenseits menschlicher Satzungen zu sprechen, sei reine Spekulation. Man ist zwar nach dem Zweiten Weltkrieg (im „Nürnberger Prozess“) von dieser Auffassung, dass nur menschliche Satzung Recht sei, kurzfristig abgekommen, weil man erkannte, wie gefährlich es werden kann, wenn über Recht und Unrecht die jeweils regierende Partei entscheidet. Allerdings war der Rückgriff auf das Naturrecht nur von kurzer Dauer. Zunehmend entdeckte man darin immer mehr Unkonsequenzen und logische Fehler, die zu einer ablehnenden Haltung gegenüber der traditionellen Naturrechtslehre führten. So wird dem Naturrechtsdenken vorgeworfen, es beinhalte Grundsätze, die Leerformeln seien oder solche Leerformeln auszufüllen versuche. Ob dieser Vorwurf berechtigt ist, wird noch zu prüfen sein. II. Zum Begriff der Gerechtigkeit Der Begriff Gerechtigkeit ist uns aus der Alltagssprache mehr als vertraut oder scheint uns zumindest vertraut zu sein. Dass die Menschen ein Verlangen nach Gerechtigkeit haben, steht ohne Zweifel fest. Wer sich ungerecht behandelt fühlt, ist unglücklich und möchte diesen Zustand beseitigen. Aufgrund von gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten kam es in der Geschichte und kommt es auch

5

Vgl. Süsterhenn, Naturrecht (Anm. 3), S. 14.

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heute noch zu heftigen Auseinandersetzungen, die vielfach zu Kriegen ausarten. Jeder glaubt, die richtige Vorstellung von Gerechtigkeit zu haben, vor allem, wenn er Ungerechtigkeit erfährt. Es gibt kaum einen Tag, an dem man nicht mit dem Phänomen der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit konfrontiert wird. Umso dringlicher stellt sich die Frage nach der Bestimmung oder dem Wesen von Gerechtigkeit. Diese Frage ist nicht neu, sie hat sich seit jeher gestellt und stellt sich immer wieder aufs Neue. Wer sich in Wörterbüchern, Lexika etc. umsieht, wird unter dem Begriff der Gerechtigkeit verschiedene Bezeichnungen finden. In der philosophischen und theologischen Tradition ist Gerechtigkeit neben Klugheit, Tapferkeit und Besonnenheit eine Kardinaltugend; wer als sittlich gut gelten will, kommt an der Tugend der Gerechtigkeit nicht vorbei. Gerechtigkeit ist unter dem sittlichen Aspekt eine Tugend, unter dem sozialen Aspekt eine mögliche Eigenschaft gesellschaftlicher Ordnung; allerdings nur eine mögliche Eigenschaft, weil es leider immer noch viele Gesellschaftsordnungen gibt, die alles eher als gerecht sind. Aber wann ist eine Gesellschaftsordnung gerecht und unter welchen Bedingungen? Welche Kriterien müssen vorhanden sein, um von einer gerechten Gesellschaftsordnung sprechen zu können? Der bekannte Rechtsphilosoph H. Kelsen sieht die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft bereits durch die Natur vorgegeben, die er mit folgenden Beispielen demonstriert: „Nehmen wir an, dass zwei Männer ein und dieselbe Frau lieben und dass beide – mit Recht oder Unrecht – glauben, nicht glücklich sein zu können, ohne gerade diese Frau für sich allein zu haben. Aber nach dem Gesetz und vielleicht auch nach ihrem eigenen Gefühl kann die Frau nur einem angehören. Das Glück des einen ist unweigerlich das Unglück des anderen. Keine gesellschaftliche Ordnung kann dieses Problem in einer gerechten Weise, d. h. so lösen, dass beide Männer glücklich werden. Selbst nicht das berühmte Urteil des weisen König Salomon. Er entschied, wie bekannt, ein Kind, um dessen Besitz sich zwei Frauen stritten, in zwei Teile zu teilen, aber war willens, das Kind jener zuzusprechen, die ihren Anspruch zurückziehen würde, um das Leben des Kindes zu retten. Denn diese – so setzte der König voraus – würde damit beweisen, dass sie das Kind wahrhaft liebe. Das salomonische Urteil ist, wenn überhaupt, gerecht nur unter der Bedingung, dass bloß eine der beiden Frauen das Kind liebt. Wenn es beide lieben – was möglich und sogar wahrscheinlich ist, da beide es haben wollen – und wenn daher beide ihren Anspruch zurückziehen, bleibt der Streit unentschieden; und wenn dann das Kind schließlich doch einer der beiden Parteien zugesprochen wird, ist das Urteil sicherlich nicht gerecht, denn es macht die andere unglücklich. Unser Glück hängt häufig von der Befriedigung von Bedürfnissen ab, die keine gesellschaftliche Ordnung gewährleisten kann. Ein anderes Beispiel: Der Führer einer Armee soll ernannt werden. Zwei Männer stehen im Wettbewerb. Es scheint selbstverständlich zu sein, dass der

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für das Amt geeignetere zu berufen ist. Aber wie, wenn beide gleich geeignet sind? Dann ist eine gerechte Lösung ausgeschlossen. Nehmen wir an, dass der eine darum für geeigneter gehalten wird, weil er eine gute Figur und ein schönes Gesicht hat und so den Eindruck einer starken Persönlichkeit macht, während der andere klein ist und ein unscheinbares Äußeres hat. Wenn der erste die Stelle bekommt, wird der andere die Entscheidung keineswegs als gerecht empfinden; er wird sagen, warum sehe ich nicht so gut aus wie der andere, warum hat die Natur meinen Körper so viel weniger anziehend gestaltet? Und in der Tat, wenn wir die Natur vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus beurteilen, müssen wir zugeben, dass die Natur nicht gerecht ist: sie macht den einen gesund und den anderen krank, den einen klug und den anderen dumm: Keine gesellschaftliche Ordndung kann die Ungerechtigkeit der Natur ausgleichen.“6 Dazu ist folgendes zu bemerken: – Die Natur bringt sowohl im anorganischen als auch im organischen Bereich verschiedene Formen und Gestalten hervor; ob diese gut oder schlecht, schön oder hässlich sind, beurteilt nicht die Natur, sondern der Mensch. – Alles, was die Natur an Organischem hervorbringt, hat – wie noch zu beweisen sein wird – in abgestufter Weise ein Recht auf Leben, sofern es durch seine Daseinsweise das Leben anderer nicht bedroht und vernichtet. Mit „abgestufter Weise“ ist gemeint, dass das Leben der Tiere höher zu bewerten ist als das der Pflanzen und das der Menschen höher als das der Tiere. – Wie aus diesen beiden Prämissen zu entnehmen ist, nimmt der Mensch Wertungen an dem vor, was die Natur hervorbringt. Ob diese Wertungen richtig oder falsch sind, hängt vom jeweiligen Wertsystem ab, an dem sie sich orientieren. Man versucht z. B. in unseren westlichen Kulturkreisen die Intelligenz eines Menschen nach dem I. Q. zu bewerten; ein Eingeborener im Busch würde bei einem solchen I. Q. zweifellos miserabel abschneiden. Ist daraus zu folgern, dass wir intelligenter sind als er? Müssten wir Europäer, selbst mit einem hohen Intelligenzwert, allein einen Tropenwald durchqueren, so wäre die Wahrscheinlichkeit, von einer giftigen Schlange gebissen oder von einem Raubtier getötet zu werden, größer als beim Eingeborenen, weil er diesbezüglich umsichtiger ist als wir und die Fährten der Wildtiere besser zu lesen vermag. Der Eingeborene würde uns sicher auslachen, wenn wir so arglos durch den Tropenwald zögen. Dies zeigt, dass klug oder dumm keine absolute Größen sind, sondern in Beziehung stehen zu unserem Wertsystem, das wir erstellen. – Auch andere Wertungen, wie gesund oder krank, sind keine absoluten Maßstäbe, sondern ebenfalls auf unsere Wertungen bezogen. Es könnte z. B. im 6

Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? Wien 21975, S. 3 f.

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Weltall einen Planeten geben, auf dem alle Menschen mit Leichtigkeit dreihundert Jahre alt werden. Wie lächerlich würde sich ein Einwohner unseres Planeten ausmachen, wenn er sagen würde, dass er bis zum neunzigsten Lebensjahr immer gesund gewesen und erst dann todkrank geworden sei. – Daraus ergibt sich, dass wir vorsichtig sein müssen mit der Aussage, die Natur sei ungerecht. Auf unseren Wertmaßstab bezogen mag die Natur ungerecht erscheinen, aber es stellt sich die Frage, ob unsere Beurteilung richtig ist; keineswegs ist sie absolut, sondern von bestimmten Interessen abhängig. – Ferner dürfen wir auch nicht vergessen, dass wir durch unsere Eingriffe in die Natur diese vielfach manipulieren, so dass es zu Missbildungen und Unglücksfällen kommt, die wir aber nicht der Natur, sondern uns selbst zuzuschreiben haben. – Mit dem Hinweis, dass die Natur weder gerecht noch ungerecht ist, da sich aus Tatsachen keine Normen ableiten lassen, soll das Leid in der Welt, das nicht nur durch die Menschen, sondern auch durch Naturkatastrophen (Erdbeben, Überschwemmungen u. a.) verursacht wird, keineswegs verniedlicht werden. Es gibt zweifellos unsagbares Leid in der Welt. Warum es dieses Leid gibt, ist schwer zu beantworten. Aber mögliche Antworten darauf fallen sicher nicht in den Bereich einer Naturrechtslehre, sondern eher in den einer Theodizee. Aber darüber zu reflektieren, sprengt den Rahmen dieser Abhandlung. III. Ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit Beide Begriffe verweisen wie das Naturrecht ebenfalls auf eine lange Tradition. Die ausgleichende Gerechtigkeit versucht das Verhältnis der einzelnen untereinander zu bestimmen. Es kommt auf eine genaue Entsprechung von Leistung und Gegenleistung oder von Schaden und Wiedergutmachung an. So muss z. B. für eine Ware ein adaequater Preis bezahlt werden, der dem Wert der Ware entspricht; ferner muss das geraubte Diebesgut zurückgegeben oder ersetzt werden; wer gemordet oder getötet hat, muss dafür eine gerechte Strafe verbüßen. Der Ausgleich kann sowohl freiwillig (bei Tausch, Kauf bzw. Verkauf) oder unfreiwillig (bei Strafen für begangene Delikte) erfolgen. Was die ausgleichende Gerechtigkeit betrifft, so wird sie vielfach allegorisch dargestellt mit einer Waage in der Hand und einer Binde um die Augen. Die Binde um die Augen steht für die geforderte Unparteilichkeit, d. h. dass also unparteiisch, unangesehen der Person entschieden wird. Jeder ist vor dem Gesetz gleich. Die Waage repräsentiert den Ausgleich; wo eine moralische oder rechtliche Situation aus dem Gleichgewicht gebracht worden ist, muss sie wieder hergestellt werden. Die eine Waagschale darf sich nicht zugunsten der anderen senken; wie verhält es sich aber in der Wirklichkeit?

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Wir wissen alle aus der Erfahrung, dass es beim Kauf bzw. Verkauf einer Ware häufig zu einer Über- oder Unterbezahlung kommt. Man denke nur daran, wie so mancher Modeartikel sündhaftteuer verkauft wird und manch anderes Produkt, hinter dem sehr viel Arbeit steckt, weit unter dem Wert angeboten wird, weil es vielleicht nicht in das Schema von Angebot und Nachfrage passt oder zu wenig manipulierte Werbung dafür gemacht wurde. Schließlich muss man sich die Werbung leisten können und Großkonzerne können dafür leichter Geld ausgeben als Kleinbetriebe, die heutzutage kaum noch zu überleben haben. Dies zeigt, dass selbst bei einem freiwilligen Tausch, Kauf oder Verkauf einer Ware ein gerechter Ausgleich keineswegs gewährleistet ist. Man könnte zwar einwenden, der Tausch, Kauf oder Verkauf geschehe freiwillig, keiner sei gezwungen, diesen Handel einzugehen. Dem ist aber nicht so, wenn es um die Erfüllung der elementaren Lebensbedürfnisse geht. Man kann zwar zwischen dem einen oder anderen Geschäft, dieser oder einer anderen Ware wählen, aber prinzipiell darauf zu verzichten ist nicht möglich. Man wird in diese Maschinerie miteinbezogen, ob man will oder nicht; und in dieser Maschinerie ist keineswegs Gerechtigkeit im Sinne eines gerechten Ausgleichs von Ware und einem dafür angemessenen Preis gewährleistet. Ganz abgesehen davon, dass Waren aus den Entwicklungsländern für einen Spottpreis eingekauft und mit hohem Gewinn wiederverkauft werden. Noch schwieriger wird die Angelegenheit des gerechten Ausgleichs bei Strafen für Delikte. Kann man von einer „gerechten“ Strafe als Ausgleich und Wiedergutmachung für das begangene Delikt sprechen, wenn ein Mörder z. B. „nur“ eine Gefängnisstrafe abzubüßen hat oder soll er, wie es vielfach gefordert wird, nicht ebenfalls getötet werden? Entspräche dies nicht viel mehr dem gerechten Ausgleich nach dem Motto, Aug’ um Aug’ und Zahn um Zahn? Oder soll man dem Mörder nicht auch Gelegenheit zur Sühne geben, die bei Anwendung der Todesstrafe nicht mehr gewährleistet ist. Wie ist also in diesem Fall ein gerechter Ausgleich als Vergeltung für das begangene Unrecht zu vollziehen? Wer die Vergeltungstheorie so interpretiert, dass er glaubt, erlittenes Unrecht mit gleichem vergelten zu müssen, stellt kein Gleichgewicht her, sondern schafft neues Unrecht. Damit soll aber nicht gesagt sein, dass Strafe überflüssig ist. Strafe als Vergeltung ist insofern zu bejahen, als der Täter durch sie zur Wiedergutmachung angehalten und das Opfer entschädigt wird. Denn keiner hat das Recht, seinen Mitmenschen Schaden und Leid zuzufügen; und wo immer das geschieht, ist dem Opfer zur Wiederherstellung seines verletzten Rechts zu verhelfen. Außer der Verpflichtung zur Wiedergutmachung (zumindest in einer adäquaten Form, selbst wenn sie sich nicht vollkommen durchführen lässt) hat der Täter

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als Unrechtsfolge auch eine der Rechtsverletzung entsprechende Strafe zu verbüßen. Dies ist erforderlich, weil die Wiedergutmachung allein ein zu geringes Risiko für den Verbrecher darstellen würde und den Sinn von Strafe für das begangene Unrecht weitgehend außer Acht ließe; z. B. wenn ein Bankräuber nach einem missglückten Banküberfall nur das geraubte Geld zurückgeben müsste, so wäre das eine Einladung zur Wiederholung der Tat, bis er eines Tages „Erfolg“ mit dem Banküberfall hat und der Tat nicht mehr überführt wird. Diesbezüglich hat Strafe als Abschreckung ihren berechtigten Grund; doch ist die für eine Rechtsverletzung verhängte Strafe nur dann gerecht, wenn sie im Rahmen der Güterabwägung vertretbar ist, d. h. es darf in die Grundrechte des Täters nur in dem Maße eingegriffen werden, als gleiche oder höherrangige Rechte anderer verletzt wurden. Die Strafe muss in Relation zum begangenen Unrecht stehen. Was die Todesstrafe betrifft, so scheint sie weder unter dem Aspekt der Vergeltung noch unter dem Aspekt der Abschreckung gerechtfertigt zu sein. Denn wer die Todesstrafe als Vergeltung sieht, muss sich dessen bewusst sein, dass durch sie nichts vergolten werden kann; weder wird der Ermordete (falls dafür die Todesstrafe ausgesprochen wurde) wieder zum Leben erweckt, noch hat der Mörder die Gelegenheit, dafür Sühne zu leisten, weil er mit der Hinrichtung selbst ein für allemal ausgelöscht wird. Und was die Todesstrafe unter dem Aspekt der Abschreckung betrifft, ist folgendes anzuführen: – Todesstrafe als Exempel der Abschreckung zu statuieren, widerspricht der Bestimmung des Menschen, nicht bloß Mittel, sondern Zweck für sich zu sein (vgl. Kant: „ Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck niemals bloß als Mittel brauchst“7). Insofern man die Todesstrafe als Abschreckung im Hinblick auf andere potentielle Täter vollstreckt, macht sie den Menschen zum bloßen Mittel für einen wie immer zu beurteilenden Zweck. Der Zweck heiligt aber nicht die Mittel; dies ist ein alter Grundsatz der Ethik. – Abgesehen davon, dass der Zweck nicht das Mittel heiligt, ist die abschreckende Wirkung der Todesstrafe durch die Erfahrung keineswegs bestätigt. So zeigt sich immer wieder, dass in Staaten, in denen die Todesstrafe für bestimmte Delikte verhängt wird, die Anzahl der dafür einschlägigen Delikte keineswegs geringer ist. Es ist also zu bezweifeln, ob die Todesstrafe ein geeignetes Mittel für die Abschreckung ist. Nicht zu bezweifeln aber ist, dass mit der Todesstrafe ein 7 Immanuel Kant, Werke. Hrsg. Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. IV, Berlin 1911, S. 429.

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irreparabler Akt gesetzt wird, der für den Menschen das endgültige „Aus“ bedeutet; allerdings muss sich der Mörder oder ein Revolutionär auch fragen, was ihn berechtigt, Akte zu setzen, die das endgültige Ende für seine Mitmenschen bedeuten. Mit der Ablehnung der Todesstrafe soll die Tat des Mörders keineswegs verharmlost werden; die zu erbringende Rechtfertigung für seine Tat liegt sogar auf seiner Seite und es wird ihm kaum gelingen, ein nur annähernd plausibles Argument dafür zu finden, die seine Tat rechtfertigt, es sei denn, er hat in Notwehr gehandelt, aber dann ist auch nicht mehr von Mord die Rede. Auf jeden Fall ist die Gesellschaft gezwungen, auf Mord zu reagieren. – Ferner ist bezüglich der Todesstrafe noch darauf hinzuweisen, dass eine Strafe, die den Bestraften total vernichtet, keine Strafe mehr ist. Der Sinn von Strafe wird dadurch vollkommen aufgehoben. Ohne Hoffnung kann der Mensch nichts Sinnvolles tun, auch nicht Strafe verbüßen. Während die ausgleichende Gerechtigkeit das Verhältnis der einzelnen untereinander zu bestimmen versucht, geht es bei der austeilenden Gerechtigkeit um das Verhältnis der einzelnen zum Ganzen; jedem soll das zuteil werden, was seinen Fähigkeiten, seinen Verdiensten oder seiner Würdigkeit entspricht. Berühmt geworden ist diesbezüglich der Ausspruch „suum cuique“, jedem das Seine. Hier stellt sich die Frage, wer befindet über die Fähigkeiten, die Verdienste und Würdigkeit, bzw. über „das je Seine“ des einzelnen. Liegt Gerechtigkeit dann vor, wenn z. B. allen Bürgern innerhalb eines Staates die gleichen Güter zugeteilt und die gleichen Lasten auferlegt werden, also alle gleich behandelt werden, oder gibt es nicht berechtigte Gründe, die Egalität, d. h. das Prinzip der Gleichheit doch einzuschränken? Soll der, der mehr leistet, nicht mehr bekommen, und der, der weniger leistet, weniger? Aber warum leistet der eine mehr und der andere weniger? Kann er nicht mehr oder will er nicht mehr leisten? Wenn er nicht mehr kann, dann – so könnte man sagen – wird er gleich zweimal bestraft. Zu seinem von Natur aus bestehendem Mangel an Talenten kommt noch die gesellschaftliche Diskriminierung (weniger Lohn für seine Arbeit) dazu. Und umgekehrt wird der von Natur aus besonders Talentierte doppelt belohnt; zu seinen Fähigkeiten kommt noch die Honorierung durch die Gesellschaft hinzu. Soll man deshalb der Gerechtigkeit wegen nicht auf das Leistungsprinzip verzichten, vor allem im Hinblick auf diejenigen, die nicht mehr leisten können? So berechtigt diese Überlegungen auch sein mögen, sie übersehen wichtige Komponenten, die für eine Gerechtigkeitstheorie ebenso relevant sind. Man wird bei der austeilenden Gerechtigkeit am Kriterium der Leistung nicht vorbeikommen. Wenn von außergewöhnlichen Talenten alle profitieren, dann stellt sich die Frage, ob ein Plus an Leistungsbereitschaft und tatsächlich vollbrachter

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Leistung nicht ein Minus an Gerechtigkeit, insofern die einen mehr Lohn als die anderen erhalten, ausgleichen kann.8 Dass allen das Gleiche zu geben nicht unbedingt der Gerechtigkeit entspricht, zeigt vor allem das Bedürfnisargument. Da gilt es zu unterscheiden zwischen objektiver und subjektiver Bedürftigkeit. Eine objektive Bedürftigkeit liegt vor, wenn jemand physisch oder mental behindert ist oder unverschuldet in Not gerät. Dass ein Behinderter an sozialen Zuwendungen mehr bekommen soll als ein Nichtbehinderter, ist dadurch gerechtfertigt, dass ihm objektiv etwas fehlt. Hier wird ein Minus ausgeglichen. Hingegen wird bei rein subjektiven Bedürfnissen (Zuschüssen für Luxuswohnungen) ein zusätzliches Plus gefordert, was ungerecht ist. Zu unterschiedlichen Zuwendungen kommt es auch durch erworbene Privilegien (Rechte, Ansprüche), die vielfach sogar gesetzlich festgelegt sind. Hier stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit der Rechtsordnung selbst. So hängt es weitgehend vom Schicksal ab, wo man gerade geboren ist. Treffend hat der französische Philosoph Pascal diesen Umstand zum Ausdruck gebracht, wenn er im Fragment 294 seiner berühmten Pensées folgendes schreibt: „Drei Breitengrade näher zum Pol stellen die ganze Rechtswissenschaft auf den Kopf, ein Längengrad entscheidet über die Wahrheit; nach wenigen Jahren der Gültigkeit ändern sich grundlegende Gesetze; das Recht hat seine Epochen ... Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluss begrenzt! Diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum. Nichts kann lächerlicher sein, als dass ein Mensch das Recht hat, mich zu töten, weil er jenseits des Wassers wohnt und weil sein Fürst mit meinem Kriege führt, obgleich ich keinen Streit mit ihm habe! Fraglos gibt es Gesetze des Naturrechts ...“9 Mit dem Hinweis auf das Naturrecht will Pascal uns zu verstehen geben, dass die positiven Gesetze, die der Gesetzgeber erlässt, von Zeit und Ort abhängig sind, schon morgen können sie aufgehoben sein und andere Gesetze gelten. Und was diesseits der Pyrenäen gilt, ist noch lange keine Gewähr, dass es auch jenseits des Gebirges Gültigkeit hat. Wenn aber Gesetze gerecht sein sollen, können sie nicht der Laune des Gesetzgebers unterliegen, sondern müssen auf etwas gründen, das ihnen Wert und Sinn verleiht. Pascal hat diesbezüglich auf das Naturrecht verwiesen. Versuchen wir nun zu eruieren, was das Naturrecht diesbezüglich zu leisten vermag.

8

9

Vgl. Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik (= stw 1100), Frankfurt 21994, S. 385.

9 Blaise Pascal, Pensées. Übertragen und herausgegeben von E. Wasmuth, Gerlingen 1994.

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IV. Das Naturrecht als Kriterium der Gerechtigkeit Nach Ansicht der Rechtspositivisten, die jegliche Berufung auf ein Naturrecht strikt ablehnen, müssen Gesetze nur verfassungskonform sein, um Geltung zu beanspruchen, ob sie gerecht oder ungerecht sind, ist von sekundärer Bedeutung. Dagegen haben sich namhafte Rechtsphilosophen ausgesprochen, unter ihnen Gustav Radbruch: „Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ‚Gesetz ist Gesetz‘ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts. Dabei ist der Positivismus gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen. Er glaubt, die Geltung eines Gesetzes schon damit erwiesen zu haben, dass es die Macht besessen hat, sich durchzusetzen. Aber auf Macht lässt sich vielleicht ein Müssen, aber niemals ein Sollen und Gelten gründen. Dieses lässt sich vielmehr nur gründen auf einen Wert, der dem Gesetze innewohnt.“10 Und an einer anderen Stelle schreibt er: „Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewusst verleugnen, z. B. Menschenrechte Menschen nach Willkür gewähren und versagen, dann fehlt diesen Gesetzen die Geltung, dann schuldet das Volk ihnen keinen Gehorsam, dann müssen auch die Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen.“11 Den Rechtspositivisten ist insofern zuzustimmen, als ein Gesetz auch dann Gesetz ist, wenn es uns nicht zusagt; dass ein Gesetz den Idealvorstellungen aller Menschen in einem Staat entspricht, wird es nicht geben. Würde man die Idealvorstellung als Kriterium ansetzen, käme kein einziges Gesetz zustande und die Anarchie wäre die Folge. Dem würde auch Radbruch nicht zustimmen. Er spricht nur insofern von einer Gehorsamsverweigerung, als Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewusst verleugnen und wohlgemerkt Menschenrechte (nicht sonstige Rechte) den Menschen nach Willkür gewährt oder versagt werden. Wer aber befindet darüber, was Menschenrechte sind, wiederum der Gesetzgeber oder liegt ihnen eine andere Ordnung zugrunde? Unter Menschenrechten werden Rechte verstanden, die dem Menschen als Menschen zukommen, unabhängig davon, in welcher Zeit er lebt und an welchem Ort er wohnt. Damit ist ausgeschlossen, dass irgendein Gesetzgeber darüber befindet, was Menschenrechte sind. Weitgehend wird diesbezüglich auf das Naturrecht verwiesen.

10

Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Stuttgart 51956, S. 352.

11

Ebd., 336.

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Es wurde bereits oben (vgl. Kapitel II.) angemerkt, dass vor allem seitens des Rechtspositivismus der Naturrechtslehre vorgeworfen wird, sie beinhalte Leerformeln, aus denen sich alles und nichts ableiten lässt. Ist dieser Vorwurf berechtigt? Der Vorwurf ist dann berechtigt, wenn man die empirische, konkrete Natur des Menschen zum Ausgangspunkt einer Naturrechtslehre wählt. Wir alle wissen aus der Erfahrung, dass in der Natur des Menschen egoistische wie altruistische Triebe enthalten sind; die Frage, die sich stellt, ist die: welche entsprechen mehr der Natur, die egoistischen oder die altruistischen? In der Alltagssprache heißt es, dass man ohne eine Portion gesunden Egoismus nicht überleben kann. Wo aber hört der gesunde Egoismus auf? Gibt es diesbezüglich eindeutige Grenzen? Beim Naturrecht besteht die große Gefahr, dass man in die Natur das hineininterpretiert, was man als naturrechtliche Folgerung aus ihr wieder herausholen möchte, insofern man sagt, ich habe von Natur aus ein Recht (einen Anspruch) auf dies oder jenes. Diesbezüglich versucht man aus der Natur alles Mögliche abzuleiten, auch rein persönliche Interessen, die dem einzelnen zum Vorteil gegenüber anderen gereichen. Auf diese Weise kann man aber nicht argumentieren und das ist auch nicht der Inhalt eines Naturrechtes. Eine Naturrechtslehre hat nichts mit den persönlichen Interessen der einzelnen Menschen zu tun, sondern bezieht sich auf jene Voraussetzungen, die schlechthin zum Menschsein gehören, d. h. die das Menschsein konstituieren, unabhängig davon, wo und wann der Mensch lebt und mit welcher Kultur er konfrontiert ist. Was sind aber solche Voraussetzungen, die schlechthin das Menschsein konstituieren, ohne die man nicht Mensch sein kann? Es sind dies erstens der Anspruch (das Recht) auf Sicherheit des Lebens, zweitens der Anspruch (das Recht) auf Handlungsfreiheit und drittens der Anspruch (das Recht) auf gegenseitige Hilfe. Nun stellt sich die Frage, worauf gründen diese Ansprüche, die dem Menschen nicht durch die Gunst eines Gesetzgebers gewährt werden, sondern auf die er von Natur aus ein Recht hat. Dazu ist folgende Überlegung angebracht: Wenn immer ein Mensch lebt, so hat er auch ein Recht auf dieses Leben. Kein Mensch und nichts auf der Welt kann ihm dieses Leben streitig machen. Denn mit welchem Recht könnte ein Mensch seinem Mitmenschen das Recht auf Leben absprechen? Mit dem Argument, er sei besser, intelligenter oder stärker als er? Es gibt immer Menschen, die besser, intelligenter und stärker als die anderen sind. Solche Kriterien sind rein subjektiv, die sich nicht als allgemeingültig ausweisen lassen. Das Leben hingegen hat jeder Mensch von Natur aus mitbekommen; als religiöser Mensch wird man sagen, dass Gott dem Menschen das

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Leben geschenkt hat; aber es soll auch für die nichtreligiösen Menschen gesprochen werden, auch für sie gilt die Naturrechtslehre; auch sie haben das Leben nicht durch irgendeinen Menschen bekommen, sondern von der Natur (bzw. von Gott) und deshalb haben sie von Natur aus ein Recht auf ihr Leben; diese Forderung lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes Naturrecht nennen, das einem niemand streitig machen kann. Man könnte dieses Recht auf Leben auch den Urbesitz der Person nennen, nämlich als das Eigentümlichste, das der Mensch besitzt. Alles, was der Mensch sonst noch in seinem Leben hat, z. B. sein Eigentum, seine Stellung in der Gesellschaft usw. kann hinterfragt werden, ob er dies zu recht besitzt. Doch der Urbesitz der Person kann nicht mehr hinterfragt werden, sonst würde man das Menschssein schlechthin aufheben. Im Urbesitz der Person findet auch die austeilende Gerechtigkeit als „suum cuique“, d. h. als Anspruch auf das je meinige, ihre letzte Erfüllung, denn hier wird das Eigentümlichste des Menschseins angesprochen. Wenn aber der Mensch von Natur aus ein Recht auf Leben hat, dann sind auch die Bedingungen anzuerkennen, deren es bedarf, um dieses Recht auf Leben zu verwirklichen. Denn es wäre ein Widerspruch zu sagen, du hast ein Recht auf Leben, aber die Bedingungen zu leben spreche ich dir ab. Und zu diesen Bedingungen gehören, wie bereits erwähnt, das Recht auf Sicherheit des Lebens, das Recht auf Handlungsfreiheit und das Recht auf gegenseitige Hilfe. Diese Bedingungen sollen kurz erörtert werden. – Was das Recht auf die Sicherheit des Lebens betrifft, so ist festzustellen, dass das Recht auf Leben nur dann gewährleistet ist, wenn der Mensch nicht ständigen Angriffen auf seinen Leib und seine Psyche ausgesetzt ist. Alles, was der Mensch in seinem Leben sonst noch anstrebt, setzt als primäres Ziel die Sicherheit vor schädlichen Einwirkungen voraus; nur unter dieser Bedingung kann er leben. Daraus ergibt sich, dass mit dem von Natur aus gegebenem Recht auf Leben auch der Anspruch mitgegeben ist, nicht geschädigt zu werden. Dies ist eine naturrechtliche Forderung. – Was das Recht auf die Handlungsfreiheit betrifft, so ist sie ebenfalls eine Grundbedingung menschlichen Daseins. Sie erweist sich insofern als notwendig, als die Freiheit des Handelns Bedingung dafür ist, dass man erreichen kann, was man begehrt. Würde der Mensch ständig von anderen Menschen bestimmt werden, so könnte er sich niemals als eigenständige Person erfahren, hätte niemals das Gefühl, für etwas verantwortlich zu sein; er wäre ein manipuliertes Wesen, aber kein Mensch. So gehört zum Menschsein der Anspruch auf Handlungsfreiheit, allerdings unter Berücksichtung der Handlungsfreiheit der Mitmenschen. Dieser Anspruch ist ebenfalls eine naturrechtliche Forderung, die mit dem Recht auf Leben mitgegeben ist.

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Siegfried Battisti

– Was das Recht auf gegenseitige Hilfe betrifft, so ist dieses vielleicht die grundlegendste Forderung, die mit dem Recht auf Leben verbunden ist. Denn nur unter der Voraussetzung, dass dem Menschen geholfen wird, kann er auch die erstgenannten Forderungen nach Sicherheit des Lebens und der Handlungsfreiheit verwirklichen. Ohne gegenseitige Hilfe kann der Mensch nicht leben und überleben. Selbst ein Robinson Crusoe oder Eremit kann nur mit Hilfe der Kenntnisse, die er von seinen Mitmenschen mitbekommen hat, sein Leben fristen. Mit dem Recht auf Leben ist als Bedingung zur Erfüllung dieses Anspruchs auch das Recht auf gegenseitige Hilfe mitgegeben; auch dies ist eine naturrechtliche Forderung. Das sind zwar nur formale Bedingungen, die im Alltag noch konkretisiert werden müssen. So verwirklicht sich der Anspruch auf die Sicherheit des Lebens im täglichen Leben z. B. durch Schutzvorrichtungen am Arbeitsplatz, durch Lebensmittelgesetze, durch Vorkehrungen im Straßenbau u. dgl. Hier haben wir es mit sekundären Normen (d. h. mit positiven Gesetzen) zu tun, die sich aber an den primären Normen des Naturrechts zu orientieren haben. Die Beziehung zwischen den primären und sekundären Normen kann auf folgende Weise zum Ausdruck gebracht werden: die primären Normen des Naturrechts sind einerseits auf die sekundären Normen des positiven Rechts angewiesen, um konkretisiert zu werden, denn was nützt der naturrechtliche Anspruch auf Sicherheit des Lebens, wenn konkret im Alltagsleben nichts dafür getan wird. Die sekundären Normen andererseits (d. h. die staatlichen Gesetze und moralischen Gebote) wiederum sind auf die primären Normen des Naturrechts angewiesen, um durch sie ihren Sinn und ihre Legitimierung zu erfahren. Denn es besteht die große Gefahr, dass Gesetze mit der Zeit ihr Eigenleben führen und nicht mehr der Verwirklichung des Menschen dienen, für die sie ursprünglich erlassen werden; wobei noch hinzuzufügen ist, dass Normen den Menschen entlasten und nicht belasten sollen. Sie sollen ihm Hinweise geben, wie er sich zu verhalten hat, um menschliches Zusammenleben zu erleichtern, aber nicht zu erschweren. Der Mensch soll wissen, worauf er sich verlassen kann, um nicht in Unsicherheit und Angst verharren zu müssen. Der Zusammenhang zwischen primären und sekundären Normen lässt sich auf eine deduktive und eine reduktive Weise darstellen. Der deduktive Weg beginnt mit dem allgemeinen Ausgangspunkt des Rechts auf Leben, das der Mensch von Natur aus mitbekommen hat. Die Erfüllung der primären Normen (Recht auf Sicherheit, Recht auf Handlungsfreiheit, Recht auf gegenseitige Hilfe) erweist sich als notwendige Bedingung für die Erfüllung des Rechts auf Leben; die Erfüllung der sekundären Normen (positive Gesetze, moralische Gebote) erweist sich als notwendige Bedingung für die Erfüllung der primären Normen.

Naturrecht und Gerechtigkeit

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Der reduktive Weg nimmt seinen Ausgangspunkt bei den sekundären Normen und fragt nach deren Rechtfertigung. Sie sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie zur Erfüllung der primären Normen führen, wie diese nur dann gerechtfertigt sind, wenn sie sich als Bedingung für die Verwirklichung des Rechts auf Leben erweisen. Es stellt sich nun die weitere Frage, ob nur die vernünftige Natur ein Recht auf Leben hat und nicht auch die Pflanzen und Tiere, haben doch auch sie von niemand anderem als von der Natur das Leben erhalten. Wenn oben (vgl. Kapitel II.) von einem Recht auf Leben in „abgestufter Weise“ die Rede war, so soll damit implizit zum Ausdruck kommen, dass auch die Pflanzen- und Tierwelt zu respektieren ist und zwar nicht nur unter dem Aspekt der Nützlichkeit für den Menschen, sondern um ihrer selbst willen. Alles, was lebt, hat einen Wert für sich selbst und damit auch ein grundsätzliches Recht auf Existenz. Es muss als überhebliche Arroganz des Menschen angesehen werden, wenn er glaubt, über die Pflanzen- und Tierwelt beliebig verfügen zu können. Sich der Pflanzen und Tiere zu bemächtigen oder gegen sie vorzugehen, ist nur unter dem Aspekt der Bedrohung bzw. der Erfüllung der primären Lebensbedürfnisse gerechtfertigt. Mit dem Hinweis auf die primären Lebensbedürfnisse soll eine klare Abgrenzung gegen die exzentrischen Wünsche der Menschen gezogen werden, zu deren Erfüllung oft rücksichtslos gegen die Pflanzen – und Tierwelt vorgegangen wird. (Z. B. sind die täglichen Essgewohnheiten von Gourmets oder der gesellschaftliche Status, der mit dem Tragen von Pelzmänteln verbunden ist, nicht mehr mit der Erfüllung der primären Lebensbedürfnisse zu vereinbaren). Die „abgestufte Weise“ des Rechts auf Leben ist dadurch gegeben, dass der Mensch über Bewusstsein verfügt (er lebt nicht nur, sondern weiß auch, dass er lebt) und leidensfähig ist, während die Tiere wahrnehmungs- und leidensfähig sind, die Pflanzen hingegen nur ein vegetatives Leben haben. Das beweist aber noch nicht, dass nur die vernünftige Natur als Zweck an sich existiert. Der Mensch ist selbst ein Teil der Natur, aber nicht ein derart wichtiger, dass die übrige Natur nicht auch ohne ihn existieren könnte. Abgesehen davon bedeutet Naturverlust, z. B. wenn der Mensch seine Umwelt zerstört, auch immer ein Stück Sinnverlust.

Die religiöse Valenz der Menschenwürdekonzeption Von Karl Heinz Auer Die Zusage, einen Beitrag für die Festschrift zum 80. Geburtstag von em. o. Universitätsprofessor Dr. Johannes Mühlsteiger SJ zu verfassen, habe ich ohne Zögern gegeben, war der Jubilar doch Dekan der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Innsbruck, als ich im WS 1973/74 mit dem Studium begann, und eine meiner ersten Kontaktpersonen auf universitärem Boden sowie in der Folge mein Professor für Kirchenrecht. Es hat auch nicht lange gedauert, ein geeignetes Thema zu finden, das einerseits einen Bezug zur Kanonistik, andererseits zum säkularen Recht aufweist, aus dessen Perspektive der Beitrag geschrieben wird. Dieser transdisziplinäre Ansatz ergibt sich zum einen aus meinem wissenschaftsbiografischen Werdegang als Absolvent der philosophischen, der theologischen und der juristischen Fakultät, zum anderen aus dem Kontakt mit dem Nachfolger des Jubilars, o. Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Rees, im Zusammenhang mit meiner rechtsphilosophischen Habilitationsschrift über das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz.1 Als Schnittstelle hat sich die Menschenwürde herauskristallisiert, die in beiden Bereichen eine zentrale Rolle spielt. So stützt sich der Kodex des Kanonischen Rechts auf das rechtliche und gesetzgeberische Erbe von Offenbarung und Tradition und will die konziliare Ekklesiologie, wie sie sich vor allem in der dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen Gentium und in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes manifestiert, in die kanonistische Sprache übersetzen.2 Zu den Prinzipien des CIC gehört daher die Bedachtnahme auf Gerechtigkeit ebenso wie auf Liebe, Mäßigung, Menschlichkeit und Behutsamkeit; anstelle von zu strengen Normen soll verstärkt auf Ermahnungen und Empfehlungen zurückgegriffen werden.3 Im säkularen Recht der Gegenwart hat die Menschenwürde ebenso eine hervorragende Stellung eingenommen. Sie 1

Karl Heinz Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, Wien 2005. 2

Vgl. Apostolische Konstitution zur Promulgation des CIC, in: Codex iuris canonici, Lat.-dt. Ausgabe, Kevelaer 21984, S. XIX f. 3

Vgl. Vorrede zum CIC, S. XLI.

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Karl Heinz Auer

steht an der Spitze von Menschenrechtskodifikationen, von Grundrechtscharta und Verfassungsvertrag der Europäischen Union, des Bonner Grundgesetzes und anderen nationalen Verfassungen. Im Folgenden sollen jene aus dem Bereich des Religiösen stammenden Menschenbild-Elemente untersucht werden, die auf die Konzeption der Menschenwürde im Laufe ihrer Entwicklung Einfluss genommen haben. Dabei ist es in diesem Rahmen nicht möglich, auf alle Facetten einzugehen. Vielmehr sollen wesentliche Grundlagen und Stufen auf dem Weg zur Menschenwürdekonzeption beleuchtet werden, ohne damit einen Vollständigkeitsanspruch zu verbinden. I. Die Anfänge 1. Christlicher oder allgemein-religiöser Ursprung? In der Frage über die Herkunft der Menschenwürde gibt es aus rechtshistorischer Perspektive zwar eine große Überseinstimmung darüber, dass der Gedanke der Menschenwürde religiösen Ursprungs, nicht aber darüber, aus welcher Religion er hervorgegangen ist. Während Christoph Enders davon ausgeht, dass diese Ursprünge im christlichen Umfeld zu suchen sind,4 und Josef Isensee die Würde des Menschen als „unmittelbares Derivat des Christentums“ bezeichnet,5 betont Martin Kriele den allgemein-religiösen Ursprung des Menschenwürdegedankens und sieht diesen weder unilateral an das Christentum noch an den abendländischen Kulturkreis gebunden, denn „wo immer ein religiöser Bezug zwischen Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf, Himmel und Erde lebendig ist, ist der Gedanke der Menschenwürde zumindest ansatzweise mitgedacht“. Dass der Gedanke der Menschenwürde allgemein-religiösen Ursprungs ist, ergibt sich aber auch daraus, dass er älter ist als das Christentum. Die vielen Unterdrückten und Verfolgten in Kolonialvölkern, in verschiedenen Despotien und Totalitarismen haben sich stets in ihrer Menschenwürde verletzt erfahren, auch wenn sie dies nicht in den Vorstellungen des christlichen bzw. abendländischen Kulturkreises ausdrücken.6 „Der wie ein Wild gejagte, in Ketten 4

Vgl. Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, Tübingen 1997, S. 177. 5

Vgl. Josef Isensee, Die katholische Kritik an den Menschenrechten. Der liberale Freiheitsentwurf in der Sicht der Päpste des 19. Jahrhunderts, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde / Robert Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde. Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, Stuttgart 1987, S. 138 – 174, hier S. 165. 6 Vgl. Martin Kriele, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, Münster / Hamburg / London 2003, S. 170.

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gelegte und dann jenseits des Ozeans als Sklave verkaufte Afrikaner bedurfte keiner theologischen Traktate, um zu erfahren, dass seine Menschenwürde verletzt wurde. Solcher Traktate bedurften die Täter, die nicht wussten, was sie taten.“7 Trotz der These vom allgemein-religiösen Ursprung, der sich nicht zuletzt aus naturrechtlichen Begründungen in der griechisch-römischen Antike und zumindest implizit aus den Religionen ergibt, in denen ein Bezug zwischen Gott und Mensch lebendig ist, gibt es keine nachdrücklichere Bekräftigung des Gedankens der Menschenwürde als in der jüdisch-christlichen Lehre vom Menschen als Abbild Gottes, im christlichen Gottesbild des die Menschen liebenden Vaters und in der Lehre von der Inkarnation.8 Unter Berücksichtigung einer globalen Perspektive wird man Kriele folgen, der trotz der Nachdrücklichkeit der Menschenwürde im Christentum einen allgemein-religiösen Ursprung postuliert. Im Hinblick auf die abendländische Entwicklung ist Enders mit der Zuordnung der Ursprünge zum christlichen Umfeld ebenso zuzustimmen wie Isensee mit seiner These von der Würde des Menschen als einem unmittelbaren Derivat des Christentums.9 Jedoch gibt es auch in dieser Tradition außerchristliche Einflüsse, die auf die Entwicklung des Menschenwürdegedankens stärker eingewirkt haben können, als wir bisher vermutet haben. 2. Ägyptische Wurzeln? In diesem Zusammenhang ist die altägyptische Kultur mit dem zentralen Begriff Ma’at anzuführen. Durch die Miteinbeziehung der ägyptischen Tradition und der mit der Ma’at verbundenen Lehre verlängert sich nicht nur die Geistesgeschichte der Menschheit im Allgemeinen zumindest um zwei Jahrtausende10, sondern es verlagern sich im Besonderen auch die Ursprünge des Menschenwürdegedankens. Ma’at ist die Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit11 7

Kriele, Grundprobleme (Anm. 6), S. 170 f.

8

Vgl. Kriele, Grundprobleme (Anm. 6), 170 f.

9

Im Diskurs über Ursprung und Wertfundament verweist Ulrich Barth darauf, dass die genuin biblischen Wurzeln des europäischen Menschenwürdekonzepts ebenso wenig zu bestreiten sind, wie es unzweifelhaft ist, dass „deren Ausgestaltung zu einem expliziten Menschenwürdekonzept das Resultat einer langen Entwicklung ist, die weithin außerhalb der offiziellen Kirchenlehre und teilweise sogar in Opposition zu ihr verlief“, und zieht daraus den Schluss, dass zu einem kirchlichen Triumphalismus „keinerlei Veranlassung“ bestehe, „zu religiöser oder kultureller Selbstverleugnung allerdings ebensowenig“. Ulrich Barth, Religion in der Moderne, Tübingen 2003, S. 346. 10

Vgl. Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, München 2001, S. 9, 24. 11

Sie ist die Tochter des Sonnengottes und Weltschöpfers Re.

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und bedeutet etymologisch „so etwas wie ‚Richtungssinn‘ einer als Prozess oder Bewegung vorgestellten Wirklichkeit“12, eine Richtschnur als Voraussetzung einer Schuld- und Tugendlehre. Indes ist der Begriff Ma’at nicht einfach in andere Sprachen übersetzbar. Es ist ein kompakter Begriff, der sich in etwa mit „Wahrheit, Gerechtigkeit, Recht, Ordnung, Weisheit, Echtheit, Aufrichtigkeit“ umschreiben lässt und in Verbindung mit der Befreiung aus der Unterdrückung, die durch die Ma’at ermöglicht wird, wesentliche Elemente umfasst, die wir der Menschenwürde zuordnen können.13 Gerade der Befreiungsgedanke, der nicht nur bei den Ägyptern, sondern auch in der jüdischen Kultur im Exodusgeschehen eine zentrale Rolle einnimmt, verdeutlicht einen ganz wesentlichen Aspekt der Menschenwürde. Die Frage, die sich erhebt, wenn man einen Einfluss der Ma’at auf die Entwicklung der Menschenwürde in unserer Rechtsordnung annimmt, ist die der Rezeptionswege. Im Rahmen der Tagung Lebend(ig)e Rechtsgeschichte im Oktober 2005 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck, die dem Thema Rechtsgeschichte und Interkulturalität – zum Verhältnis des östlichen Mittelmeerraumes und ‚Europa‘ im Altertum gewidmet war14, wurde auch diese Frage erörtert und plausibel dargelegt, dass Solon (ca. 640 – 561 v. Chr.) nicht zuletzt durch seinen Aufenthalt in Ägypten mit dessen Kultur und Religion und damit mit der Ma’at vertraut war. Ein Transfer der Inhalte der Ma’at-Lehre in das Rechtsdenken Solons, vor allem eine Rezeption im Zusammenhang mit Solons Eunomia-Konzept, kann angenommen werden. Wenn aber Eunomia und Ma’at mehr oder weniger identisch sind, ist die Grundlegung unserer Rechtsordnung und ihrer obersten Werte ägyptisch.15 3. Die alttestamentliche Imago Dei-Vorstellung Das Bild vom Menschen als Abbild Gottes ist für die Entwicklung des Menschenwürdegedankens von fundamentaler Bedeutung. In beiden Schöpfungsberichten – sowohl in den zur Priesterschrift gehörigen Versen Gen 1,1 – 2,4a als auch im Text der jahwistischen Überlieferung in Gen 2,4b – 25 – nimmt der Mensch eine zentrale Stellung ein. Im zweiten Schöpfungsbericht im Kontext 12

Assmann, Ma’at (Anm. 10), S. 15.

13

Vgl. Assmann, Ma’at (Anm. 10), S. 9.

14

Die Referate dieser Tagung (ausgenommen das von Heinz Barta, Vgl. Anm. 15) erscheinen voraussichtlich 2006 in der Reihe Recht und Kultur. Hrsg. v. Heinz Barta, Lit-Verlag Wien. 15

Vgl. Heinz Barta, Rechtliche Konzeptionen und Kulturtransfers im alten Griechenland: dargestellt am Beispiel von Solons ‚Eunomia-Konzept‘. Dieser Beitrag erscheint in der Festschrift für Peter W. Haider.

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der Paradieserzählung, der Erschaffung des ersten Menschenpaares und des Sündenfalls, im ersten im Zusammenhang mit der Erschaffung der Welt: Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn. Als Mann und Frau schuf er sie. (Gen 1,27)16 Anstelle des zu Missverständnissen Anlass gebenden Begriffs „Ebenbild Gottes“ wird heute in angemessener Übersetzung des hebräischen Wortes „tselem“ der Begriff „Abbild“ verwendet im Sinne von Denkmal oder Statue, die an das Urbild erinnern soll.17 In Bezug auf das Verhältnis der Geschlechter zueinander ist von Bedeutung, dass Gen 1,27 den Menschen als Mann und Frau als schöpferische Grundgegebenheit voraussetzt. Aus der Sicht moderner Exegese lässt sich aus den Schöpfungsberichten eine Über- oder Unterordnung im Verhältnis der Geschlechter zueinander nicht ableiten: sowohl Gen 1,27 als auch Gen 2,21 – 23 (Erschaffung der Frau aus der Rippe) werden als Ausdruck der gleichen Wesenswürde von Mann und Frau verstanden, wiewohl diese Texte in ihrer Ursprungssituation zeitbedingt einen patriarchalischen Hintergrund aufweisen. Aber nicht nur im ersten, auch im zweiten Schöpfungsbericht findet sich ein aussagekräftiges Bild, das die Menschenwürde in besonderer Weise hervorzuheben vermag. Nach Gen 2,7 formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. Der anthropologische Gehalt hinter dieser Metaphorik ist der Mensch als Träger göttlichen Atems, der ebenso wie die Imago Dei als nachhaltiger Ausdruck menschlicher Würde verstanden werden kann. Während der zweite und ältere Schöpfungsbericht in Gen 2,4b – 25 der Erschaffung des ersten Menschen aber nur wenige Verse widmet, stellt die Erschaffung des Menschen in der ersten universell und kosmologisch geprägten Schöpfungsdarstellung den Höhepunkt dar, der in der Gottabbildlichkeit kulminiert. Diese begründet die Sonderstellung des Menschen ebenso wie daraus resultierende besondere Verpflichtungen.18

16

Der Gen 1,27 vorangehende und nachfolgende Vers beinhaltet den Auftrag an den Menschen, über die Welt zu herrschen und sich zu vermehren. Gen 1,26 – 28 korreliert mit dem älteren Ps 8,5 – 9, der die gleiche Thematik in lyrischer Gebetsform beinhaltet. 17

Vgl. W. Groß, Art. Gottebenbildlichkeit, in: LThK3 4, 1995, Sp. 871, sowie Norbert Lohfink, Im Schatten deiner Flügel. Große Bibeltexte neu erschlossen, Freiburg 1999, S. 31 f. Dessen ungeachtet ist der Begriff der „Gottebenbildlichkeit“ nach wie vor geläufiger. 18 Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 348 f. Unter Bezugnahme auf den aktuellen Forschungsstand weist Barth darauf hin, dass Gen 1,1 – 2,4a, obwohl in der uns vorliegenden Fassung der jüngere Text, doch auch wesentlich älteren altorientalischen Mythenstoff beinhaltet, der im Sinne aller frühen Priestertheologie die Welt als einen sinnvollen Kosmos darstellen will und sich darin mit dem Interesse der Autoren des ersten Schöpfungsberichtes trifft.

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Das Bild vom Menschen als Abbild Gottes hat vermutlich eine altorientalische Königtumstheologie als Hintergrund und ist über Persien nach Israel eingedrungen. Barth weist darauf hin, dass das Besondere am priesterschriftlichen Schöpfungsbericht in der gleichsam demokratisierten Form dieses altorientalischen Theologumenons liegt, was sich daraus erklärt, „dass mit dem endgültigen Untergang des Reiches die einstige Verheißung an David vom Königtum auf das Volk übergegangen ist“19. Dass die Priesterschrift mit einer universellen Kosmogonie20 beginnt und nicht mit einer allein auf das Volk Israel bezogenen Heilsgeschichte, veranschaulicht, dass der Gedanke der Imago Dei universalistisch konzipiert ist. Es fällt nicht schwer, im Sinne dieser Ausführungen in der Anthropologie der alttestamentlichen Schöpfungslehre, besonders im universalistischen Gedanken vom Menschen als Abbild Gottes, einen frühen „Versuch einer Theologie der Menschenwürde“ zu erkennen.21 Anders als im antiken Rom, wo dignitas gleichermaßen an die Person und an die res publica, an Macht und an Freiheit gebunden ist22, wird durch die Imago Dei jedem einzelnen Menschen „eine eigene Würde zugesprochen, die definiert wird durch den direkten Bezug des Menschen zu Gott ohne Rücksicht auf die politische und soziale Stellung, die Zugehörigkeit zu einer Nation, einer Religion oder einer sonst wie definierten Gruppe.“23 Dadurch wird die Menschenwürde jeder Diskussion entzogen, sie gehört zum Bereich des religiösen Tabus und wird damit einerseits der Sphäre des Heiligen übereignet und gleichzeitig menschlicher Manipulation entzogen und damit unantastbar.24

19

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 350.

20

Dass Mythen des Anfangs und Schöpfungsmythen auch in aufgeklärten Zeiten einen wichtigen Stellenwert einnehmen, wird nicht nur durch Beispiele der Gegenwartsliteratur deutlich, häufig in der feministischen Literatur (z. B. Christa Mulack, Im Anfang war die Weisheit, Stuttgart 1988, oder Heide Göttner-Abendroth, Das Matriarchat, Stuttgart / Berlin / Köln 1988 ff.), sondern auch im Kontext interkulturellen Lernens durch die historische Tiefendimension, die sich aus der Beschäftigung mit den Mythen der Menschheit ergibt und einen Zugang zur Idee der Gleichwertigkeit aller Menschen und allen Lebens ermöglicht. Vgl. Werner Wintersteiner, in: ide 1 (2000), S. 6 sowie Herwig Gottwald, Die Welt bewohnbar machen. Mythen des Anfangs und Schöpfungsmythen im Vergleich, in: ide 1 (2000), S. 37. 21

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 350 f.

22

Vgl. Viktor Pöschl, Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, Heidelberg 1989, S. 15 f., 22. 23

Vgl. Pöschl, Begriff der Würde (Anm. 22), S. 43 f.

24

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 367.

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4. Die Inkarnation Aus christlicher Perspektive kann die Imago-Dei-Lehre nicht losgelöst vom Sündenfall, von Gut und Böse, von der Verstrickung des Menschen in Schuld gesehen werden. Gerade aus neutestamentlicher Sicht bedarf die Imago Dei der Ergänzung durch die soteriologische Dimension. Die „Würde der menschlichen Substanz“ zeigt sich nicht nur in der Gottabbildlichkeit des Menschen, sondern auch und gerade in der Menschwerdung Gottes.25 Die Inkarnation ist zentrales Merkmal christlichen Glaubens. Was der Johannesprolog programmatisch formuliert: Und der Logos ist Fleisch geworden (Joh 1, 14)26, wird vor allem in den Konzilien von Nikaia (325), Ephesus (431), Chalkedon (451) und Konstantinopel (553, 680/81) dogmatisch entfaltet27 und zu einem Grundpfeiler christlicher Tradition. Die Sonderstellung des Menschen und die daraus resultierende Verpflichtung durch die Konzeption der Imago Dei in der jüdisch-christlichen Tradition findet für das Christentum in der Inkarnationslehre eine notwendige Ergänzung und Erweiterung. Im Spannungsfeld von Imago Dei und Inkarnation entwickelt sich ein dynamischer Würdebegriff, der sich auch und gerade in der Differenz von Gut und Böse bewähren muss. In dieser Differenz liegt die Freiheitsnatur des Menschen, seine Subjektqualität.28 Enders meint, dass es „diese Seite des Würdegedankens“ ist, „welche seit jeher die abendländische Philosophie am meisten beschäftigt hat und durch welche sie ihre Eigenständigkeit gegenüber der Theologie errungen hat“.29 Weil der Mensch weder mit der Natur noch mit dem göttlichen Geist eins ist, schöpft der Begriff der Menschenwürde die ihm eigentümliche Dynamik und Spannkraft „nicht aus einer einfachen Identität, sondern aus der Differenz“. In diesem Spannungsverhältnis ist die Teilhabe an beiden Welten für ihn Schicksal und Möglichkeit zugleich.30

25

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 177 f.

26

-CK QB NQIQL UCTZ GXIGPGVQ. Zeitlich älter ist das Bekenntnis zur Menschwerdung Gottes im Christuslied des Philipperbriefes in Phil 2, 6 – 8. 27

Vgl. Neuner-Roos, Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, Regensburg 111971, Rz 155, 178, 183 – 184, 220. 28

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 178 f.

29

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 179.

30

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 180.

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II. Entwicklungsstufen 1. Frühkirchlicher Platonismus Die Lehre von der Imago Dei hat ebenso wie der Inkarnationsgedanke vorchristliche Vorläufer. Im kulturellen Syntheseprozess der frühen Kirche mit der hellenistischen Bildungsreligion betrachten die griechischen Apologeten den mittleren Platonismus als „wahlverwandte Geistesströmung, sowohl der theologischen Doktrin als auch der allgemeinen Weltanschauung nach“.31 Cicero beschreibt diese griechische Anthropologie mit der Übereinstimmung der menschlichen und göttlichen Tugend. Diese „ist aber nichts anderes als die vollkommene und zur höchsten Stufe gebrachte Natur. Der Mensch hat also eine Ähnlichkeit mit Gott.“32 Ovid (43 v.Chr. – 17 n. Chr.) berichtet von der Schaffung des Menschen als Abbild der Götter in seinen Metamorphosen: Prometheus schuf den Menschen aus Erde und Wasser nach dem Bild der Götter.33 Im Rahmen des christlich-hellenistischen Syntheseprozesses steht die Idee der Gottähnlichkeit und der Vergöttlichung nach Platons Lehre der QBOQKYUKL SGY^  im Zentrum. Im Dialog Theaitet über die Möglichkeiten der Erkenntnis postuliert Platon, dass es eigentlich nur darauf ankomme, Gott ähnlich zu werden.34 Im Streben nach der Idee des Guten erlangt der Weise Gerechtigkeit und wird so Gott, dem Inbegriff des Guten, wesenhaft ähnlich. Die Apologeten setzen den platonischen Gedanken der QBOQKYUKL SGY^ mit der Imago Dei in Beziehung und betrachten letztere als Fundament der platonischen Idee des menschlichen Strebens, Gott ähnlich zu werden. Von daher ist es nur ein kurzer Schritt zur Identifizierung der Korrelation von Gottabbildlichkeit und Gottverähnlichung mit der Menschenwürde.35 So schreibt Theophilos von Antiochien (2. Hälfte des 2. Jhs.): „Was aber die Erschaffung des Menschen betrifft, so übersteigt sie ihre Schilderung seitens der Menschen, wenngleich die Hl. Schrift eine kurze Erzählung dersel-

31

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 352.

32

Cicero, De legibus libri VIII 25: est autem virtus nihil aliud nisi perfecta et ad summum perducta natura, est igitur homini cum deo similitudo. 33 Ovid, Metamorphosen I, 82: quam satus Iapeto, mixtam pluvialibus undis, finxit in effigiem moderantum cuncta deorum. 34

Vgl. Platon, Theaitet 176 B.

35

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 352 f.

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ben darbietet. Denn erstens zeigt Gott dadurch, dass er sagt: ‚Lasst uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis!‘ die Würde des Menschen.“36

Gregor von Nyssa (ca. 335 – 394) hebt in seiner Schrift De opificio hominis die menschliche Würde noch deutlicher hervor, indem er sie als Nachahmung der urbildlichen – göttlichen – Schönheit bezeichnet.37 Nach dem russischen Philosophen Nikolaj Berdjajew (1874 – 1948) ist Gregor von Nyssa von den Kirchenvätern derjenige, der einer christlichen Anthropologie im Sinne einer Verbindung des Göttlichen mit dem Menschlichen am nächsten kommt und die Würde und Freiheit des Menschen als Abbild Gottes am deutlichsten verteidigt.38 Aber auch bei Nemisios von Emesa (gest. ca. 400), Augustinus (354 – 430) und Laktanz (ca. 220 – 325) vereinigen sich die Elemente des biblischen und des antiken Würdebildes.39 Bei Augustinus tritt der Gedanke wegen dessen theologischer Schwerpunktsetzung auf die Erbsündenlehre in den Hintergrund. Nicht zuletzt wegen der hohen kirchlichen und theologischen Autorität Augustinus’ wird die weitere Entwicklung im lateinischen Mittelalter vom Gedanken der „Verderbnis durch Adam und die Wiederherstellung durch Christus“40 dominiert. Das Thema von Verlust und Wiederherstellung der Menschenwürde zieht sich durch die gesamte Geschichte des Christentums.41 2. Vom italienischen Renaissancechristentum zur weltlichen Würde Ein Paradigmenwechsel vom theozentrischen Weltbild des Mittelalters zum anthropozentrischen Weltbild der Neuzeit zeigt sich mit aller Deutlichkeit in der Epoche, die je nach thematischer Perspektive als Humanismus (Wissenschaften), Renaissance (Bildende Kunst, Lebensgefühl) oder Reformation (Religion) bezeichnet wird. Scholastischer Dogmatismus und mittelalterliches Miseria-hominis-Christentum werden abgelöst von einer Kultur, in deren Selbstgefühl die Würde des Menschen eine neue und wichtige Rolle einzuneh-

36 Theophilos von Antiochien, Ad Autolycum II, 18. Hervorhebung mit Kursivdruck von mir. 37

Vgl. Pöschl, Begriff der Würde (Anm. 22), S. 45.

38

Vgl. Nikolaj Berdjajew, Existentielle Dialektik des Göttlichen und Menschlichen, o. O. 1951, S. 108 f. 39 Vgl. August Buck, in: Giannozzo Manetti, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen. Hrsg. v. August Buck, Hamburg 1990, S. X. 40

Barth, Religion (Anm. 9), S. 354.

41

Vgl. Pöschl, Begriff der Würde (Anm. 22), S. 48.

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men beginnt. Im Gegensatz zur römischen Antike, wo die dignitas durch ihre Verbindung mit römischen Ehrbegriffen und Standesvorstellungen eine Privilegierungskategorie darstellt, ist es nach Wegfall dieser Konnotation möglich geworden, menschliche Würde als tragenden Begriff im Kontext der Gleichheit zu sehen.42 Schon bei Francesco Petrarca (1304 – 1374) wird mit der Betonung des eigenen Ichs und des Menschen im Allgemeinen die Frage nach der Wesenswürde des Menschen neu gestellt.43 Die Entwicklung vom italienischen Renaissancechristentum zur weltlichen Würde sollen Aussagen von vier Philosophen veranschaulichen, die die weitere Entwicklung des Menschenwürdegedankens entscheidend mitgeprägt haben. Während Giannozzo Manetti (1396 – 1459) und Giovanni Pico della Mirandola (1463 – 1494) mit ihren Traktaten über die dignitas hominis das klassische Menschenwürdekonzept der italienischen Renaissance verkörpern, postuliert Samuel Pufendorf (1632 – 1694) im Kontext eines völlig von göttlichem Recht getrennten Naturrechts die Würde des Menschen „schon aufgrund seines Menschseins“44. Mit Kant (1724 – 1804) ist dann die Durchsetzung der freiheitstheoretischen Fassung des Menschenwürdekonzepts verbunden. Demnach ist der Mensch bereits seiner Natur nach „Person“ und „von absolutem Wert“45, und eben darin liegt seine Würde46. a) Giannozzo Manetti Giannozzo Manetti, der zu den bedeutendsten italienischen Humanisten der Frührenaissance gehört und von dem berichtet wird, dass er die aristotelische Ethik, die Briefe des Apostels Paulus und Augustinus’ Gottesstaat auswendig wusste47, greift das Thema der Menschenwürde neu auf und begründet die aus der Stoa übernommene Auffassung der Menschenwürde mit der alttestamentlichen Abbildlichkeit Gottes. Insofern findet sich in dieser Argumentationsweise

42

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 354 f.

43

Vgl. Buck, in: Manetti, Über die Würde (Anm. 39), S. VIII.

44

Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 188.

45

Vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Ders., Werke in zwölf Bänden (Kant-Werke). Hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt 1977, Bd. 7, S. 60. 46

Vgl. Kant, Grundlegung, in: Kant-Werke, Bd. 7, S. 68: „Das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d. i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d. i. Würde. Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann… Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.“ 47

Vgl. Buck, in: Manetti, Über die Würde (Anm. 39), S. XIV.

Die religiöse Valenz der Menschenwürdekonzeption

29

gegenüber der Patristik kein Erkenntnisfortschritt. Wohl aber mutet seine Interpretation des dominium terrae auch aus gegenwärtiger Sicht modern an, wenn Manetti nicht mehr von Naturbeherrschung, sondern von einem umfassenden Kulturauftrag des Menschen spricht.48 Barth spricht daher von der „Idee der Gottebenbildlichkeit oder Menschenwürde“ als einem „Spiegel des für die Renaissance signifikanten neuen Kulturbewusstseins“.49 Dieses zeigt sich zudem in der Abkehr von der Miseria-hominis-Literatur. Manetti polemisiert gegen überlieferte pessimistische Menschenbilder und gegen die Abwertung des Menschen und stellt dem im vierten Buch De dignitate et excellentia hominis die Beweisführung zugunsten der Wesenswürde des Menschen gegenüber. Das schließt für ihn die Überwindung des Sexualpessimismus ein, weswegen er nicht nur eine für seine Zeit vollständige anatomische Beschreibung des menschlichen Körpers bietet, sondern darüber hinaus den menschlichen Körper als ein Abbild der göttlichen Schönheit bezeichnet.50 Den Höhepunkt des Menschenwürdegedankens in der Renaissance markiert aber nicht Giannozzo Manetti, sondern Giovanni Pico della Mirandola eine Generation später. b) Giovanni Pico della Mirandola War Manetti seiner Mentalität nach weniger Philosoph und mehr Humanist, dem es in erster Linie um eine aus antiken und christlichen Quellen gespeiste Lebenslehre ging, ist Giovanni Pico della Mirandola hauptsächlich an der Philosophie interessiert.51 Aus seiner Feder stammt der berühmteste Traktat über die Menschenwürde, der im Zusammenhang mit einer für 1487 in Rom geplanten öffentlichen Diskussion entstanden ist, die der Verteidigung seiner wichtigsten philosophischen Vorstellungen dienen sollte. Geprägt durch einen weit ausholenden philosophischen Synkretismus52, der das Bemühen um einen Zusammenschluss aller Schulen widerspiegelt, entwirft Pico della Mirandola „am Rande einer mystischen Utopie“53 ein Bild vom Menschen, das getragen ist von der Menschenwürde. Nach Pico ist es die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung und

48 Vgl. Manetti, Über die Würde (Anm. 39), S. 58 ff. (= Zweites Buch, Z. 37 – 47) sowie Barth, Religion (Anm. 9), S. 256. 49

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 256.

50

Vgl. Manetti, Über die Würde (Anm. 49), S. 32 f. (= Erstes Buch, Z. 49) und S. 98 ff. (= Viertes Buch, Z. 1 ff.) sowie Buck, in: ebd., S. XXII. 51

Vgl. Buck, ebd., S. XXIII.

52

4

Vgl. J.G.J., in: Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen, Zürich 1996, S. 94. 53

Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 185.

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Selbstbildung, die die Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung verdeutlicht. Mit dem Postulat, dass die dem Menschen von Gott verliehene Würde „in der Anlage und Bestimmung zum Gebrauch der Freiheit“ besteht, legt Pico della Mirandola jenes Verständnis von Menschenwürde vor, das für das neuzeitliche Freiheitsverständnis maßgeblich wird.54 Durch das literarische Konzept der Partizipation an der natürlichen wie an der göttlich-geistigen Sphäre ist dem Menschen ein Platz „in der Mitte der Welt“55 zugewiesen. Von daher kann Gott zum Menschen sagen: „Den übrigen Wesen ist ihre Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen freien Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorherbestimmen.“56

Und weiter: „Wir haben dich weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen, weder als einen Sterblichen noch als einen Unsterblichen geschaffen, damit du als dein eigener, vollkommen frei und ehrenhalber schaltender Bildhauer und Dichter dir selbst die Form bestimmst, in der du zu leben wünschst. Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehs zu entarten. Es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluss deines eigenen Geistes zu erheben.“57

Mit diesen eindrucksvollen Worten hat Pico das traditionelle Bild der Jakobsleiter emanzipatorisch umgedeutet. Ob er absteigt zu den Tieren oder aufsteigt zu Gott, es ist die freie Entscheidung des Menschen, deren Richtschnur allein die philosophische Wahrheitssuche und Urteilsbildung ist. Pico della Mirandola weist mit diesem Ansatz weit über seine Zeit hinaus und markiert den Beginn des neuzeitlichen Menschenbildes.58 Mit Manetti und mit Pico ist die Bandbreite abgesteckt, „innerhalb deren sich das humanistische Dignitashominis-Modell bewegte“, welches dann im 16. und 17. Jahrhundert in ganz Europa seine Verbreitung findet.59

54

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 356 f.

55

Pico della Mirandola, Über die Würde (Anm. 52), S. 10.

56

Pico della Mirandola, Über die Würde (Anm. 52), S. 10.

57

Pico della Mirandola, Über die Würde (Anm. 52), S. 10 f.

58

Vgl. J.G.J., in: Pico della Mirandola, Über die Würde (Anm. 52), S. 94.

59

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 357.

Die religiöse Valenz der Menschenwürdekonzeption

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c) Samuel Pufendorf Durch den Juristen Samuel Pufendorf findet dieser Menschenwürdegedanke Eingang in das moderne Naturrecht, das dann auch den Hintergrund der Verfassungsentwürfe Neu-Englands bildet, die sich an der Idee der „Dignity of human nature“ orientieren.60 Im Gegensatz zu Pico della Mirandola, der gerade in der mangelnden Vorherbestimmung und der damit verbundenen geistigen Omnipotenz die Würde des Menschen erblickt, geht Pufendorf stark beschreibend vor, was nicht zuletzt wegen der Beeinflussung durch Thomas Hobbes (1588 – 1679) auf eine deutlich veränderte Ausgangslage zurückzuführen ist. 61 Er korrigiert „das seit Hobbes dominierende einseitig mathematisch-kausale Denken“ und gibt „echtem Sollen“ für Freiheit und soziale Pflichten wieder Raum.62 Und im Gegensatz zu Hugo Grotius (1583 – 1645), der von der dignitas humana nur innerhalb des Bestattungsrechts spricht, erscheint bei Pufendorf der Menschenwürdegedanke an zentraler Stelle des naturrechtlichen Begründungszusammenhangs.63 Dem Menschen ist schon aufgrund seines Menschseins eine Achtung entgegenzubringen. Aus der Menschenwürde, die allen Menschen in gleichem Maß zukommt, leitet Pufendorf das Naturgesetz ab, dass jeder seinen Mitmenschen als einen ihm von Natur Gleichen achten und behandeln soll.64 Diese Symbiose des Gleichheitsgedankens mit dem universalen Achtungsgebot mündet in das Postulat der Freiheit aller Menschen: Da die Natur alle Menschen gleich geschaffen hat, müssen sie auch alle als von Natur frei angesehen werden.65 Diese Freiheit des Menschen ist aufgrund seiner Würde und ihrem Wesen nach an höheren Zwecken und Gesetzmäßigkeiten orientiert.66 Letzte Gewissheit dieser naturrechtlich konzipierten Verbindlichkeiten sieht auch Pufendorf in Gott als dem Schöpfer der Natur und des Universums67, obwohl der Trennung von Naturrecht und göttlichem Recht und damit der Auf-

60

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 358.

61

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 186.

62

Vgl. Arthur Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: Arthur Kaufmann / Winfried Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg 61994, S. 61. 63

Vgl. Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, 2. Buch, Kap. 19,2 sowie Hans Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, Berlin / New York 1958, S. 47. 64

Vgl. Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium, 3. Buch, Kap. 2, § 1 und Welzel, Naturrechtslehre (Anm. 63), S. 49. 65

Vgl. Pufendorf, De iure naturae et gentium, 3. Buch, Kap. 2, § 8.

66

Vgl. Pufendorf, De iure naturae et gentium, 2. Buch, Kap. 1, § 5.

67

Vgl. Pufendorf, De iure naturae et gentium, 2. Buch, Kap. 3, § 20.

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teilung der Pflichten gegen Gott (Religion), gegen sich selbst (Moral) und gegen die Sozietät (Recht) gerade bei Pufendorf eine entscheidende Bedeutung zukommt.68 Pufendorf entwickelt zwar den Gedanken vom Menschen als Zweck der Natur und damit als Selbstzweck ebenso wie den der Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit aus einem originär weltlichen Standpunkt, hält diese Perspektive „durch Relativierungen in Begriff und Sache und nicht zuletzt durch die Berufung auf Gott als die letztverbindliche Gewähr vernunftbegründeter menschlicher Würde“ nicht durch.69 d) Immanuel Kant Diesen Schritt, dass dem Menschen nun erstmals eine Würde zuerkannt wird, die sich nicht von Gott und nicht aus der Gottabbildlichkeit, nicht aus Quellen der Religion und nicht aus Mythen ableitet, setzt Immanuel Kant. In der Tat spielt der Gedanke der Gottabbildlichkeit in Kants praktischer Philosophie keine Rolle, dennoch nimmt Gott als höchstes Wesen zumindest den Rang eines Postulats der praktischen Vernunft ein. Eine rein immanente Begründung der Menschenwürde ist auch Kant nicht möglich, weswegen er zum „Postulat der Wirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts, nämlich der Existenz Gottes“ Zuflucht nimmt.70 Die Frage bleibt offen, ob ein bloßes „Postulat der reinen praktischen Vernunft“71 Menschenwürde zu begründen vermag. Ehrlicher und wissenschaftlich redlicher wäre es wohl gewesen, hätte Kant die Gottesfrage offen gelassen. Denn schon mit dem Offenhalten der Gottesfrage ist eine Korrelation zur Menschenwürde hergestellt. Ab dem Zeitpunkt nämlich, zu dem damit gerechnet werden kann, dass der Mensch mehr ist als ein Zufallsprodukt, ist ihm bereits Menschenwürde zuzusprechen. Kants Ansatz einer strikt rationalen Fundierung der Menschenwürde kann verstanden werden als ein „Säkularisat des anhand der Gottebenbildlichkeitsvorstellung entwickelten Ursprungskonzepts“.72 Ähnlich Pufendorf erkennt auch Kant den Kern der Menschenwürde in der Anlage und im Gebrauch der Freiheit, die er unter ein unbedingtes Achtungsgebot stellt. Doch entwickelt er eine von den theologischen Anschauungen einer historischen Religion abgekoppelte Begründung, um die Geltung des universalistischen Charakters dieses Würdemodells zu

68

Vgl. Kaufmann, Problemgeschichte (Anm. 62), S. 62.

69

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 189.

70

Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant-Werke, Bd. 7, S. 255.

71

Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kant-Werke, Bd. 7, S. 255.

72

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 359 f. unter Bezugnahme auf Wolfgang Huber.

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belegen.73 In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten definiert Kant das aus dem Prinzip der Autonomie des Willens folgende Gebot, sich selbst und alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst“ zu behandeln.74 Dieser Gedanke findet sich dann rund 200 Jahre später in der „Dürig’schen Objektformel“ zum Art. 1 Abs. 1 GG wieder: „Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“75

Nach Kant sind „die Autonomie des Willens, der freie Wille oder, gleichbedeutend, die Moralität“ grundlegend für die Würde.76 Während Würde zunächst einen rein inneren Sachverhalt bezeichnet, mit dem der Begriff der Persönlichkeit korreliert, steht sie auf einer weiteren Stufe im Zusammenhang mit einer vernünftigen Bestimmung zur Sittlichkeit, die Kant mit dem Begriff der „Menschheit“77 umschreibt, und bezeichnet schließlich einen äußeren Anspruch, nämlich „angeborne, zur Menschheit notwendig gehörende und unveräußerliche Rechte“78.79 Damit kündigt sich die neuzeitliche Idee der aus der Menschenwürde resultierenden Menschenrechte an, wie sie in der Bill of Rights 1776, in der Französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789, in der Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen 1948 sowie in darauf aufbauenden Kodifikationen und in nationalen Verfassungen proklamiert und normiert werden. III. Menschenwürde als Rechtsbegriff Der Gedanke der Menschenwürde hat, wie wir gesehen haben, eine lange und umfassende Geschichte. Als Rechtsbegriff in Gesetzeswerken und Kodifikationen ist sie jedoch eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Das hängt damit zusammen, dass die Menschenwürde im Gegensatz zu den Grundrechten, die rechtliche Ansprüche des Individuums statuieren, dem Recht voraus liegt.

73

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 359.

74

Vgl. Kant, Grundlegung, in: Kant-Werke, Bd. 7, S. 66. Kant folgert dieses Gebot zwar aus dem Prinzip der Autonomie des Willens, begründet diese aber nicht, sodass er sich in seiner Argumentation in gewisser Weise im Kreis dreht. 75

Günter Dürig, in: AöR 81 (1956), S. 117 u. 127.

76

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 195.

77 Vgl. Kant, Grundlegung, in: Kant-Werke, Bd. 7, S. 74 und Metaphysik der Sitten, in: Kant-Werke, Bd. 8, S. 347. 78

Kant, Zum ewigen Frieden, in: Kant-Werke, Bd. 11, S. 204, Fn 4.

79

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 198 – 201.

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Wenn Ernst-Wolfgang Böckenförde in seiner als „Böckenförde-Diktum“ bekannt gewordenen und viel zitierten These postuliert, der freiheitliche, säkularisierte Staat lebe von „Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“80, ist damit auch die dem Recht voraus liegende Menschenwürde umfasst. Die Explikation des rechtlichen Würdebegriffs läuft letztlich in einem vorrechtlichen In-sich-Prozess ab.81 Sie bezeichnet, was das Wesen des Menschen ausmacht.82 „Dies ist aber das letztlich Unaussprechliche, die Wahrheit selbst.“83 Die Bestimmung des Rechtsgehalts der Menschenwürde wird gerade dadurch erschwert, dass rechtlich zwangsläufig und durchaus in der Intention der Menschenwürde Abstand genommen werden muss von dem mehr bruchstückhaften Eindruck, den einzelne Rechtsansprüche vom Menschen vermitteln. Im Versuch, die Menschenwürde näher zu bestimmen, wird immer wieder auf die markanten Punkte der ideengeschichtlichen Entwicklung zurückgegriffen. So sieht Reinhold Zippelius in Kants Gebot, eines jeden Menschen Autonomie zu achten und niemanden „als bloßes Mittel zu irgendeinem Zweck“ zu gebrauchen, einen „Ursprung des Rechts auf Respektierung der Menschenwürde und der damit zusammenhängenden Ansprüche auf Gleichachtung und auf Glaubens-, Gewissens- und persönliche Entfaltungsfreiheit“.84 Und Franz Bydlinski sieht in dieser negativen Umschreibung des Grundsatzes der Personen- oder Menschenwürde „seine wohl immer noch beste Präzisierung“.85 In der Tat ist die Rechtsordnung nur von ihren Wurzeln her verstehbar. Dies trifft auf das säkulare Recht ebenso zu wie auf das kanonische. Ein Studium der Rechtswissenschaften, das auf die Auseinandersetzung mir der rechtsphilosophischen Grundlegung verzichtet, begibt sich nicht nur der eigenen Quellen, sondern schrumpft auch auf einen puren Dezisionismus, der dem Wesen des Rechts86 nicht gerecht wird. Je nach persönlichem weltanschaulichem, kulturellem und 80

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/Main 1991, S. 112. 81

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 170.

82

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 170.

83

Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 17 u. 170.

84

Vgl. Reinhold Zippelius, Rechtsphilosophie, München 42003, S. 123.

85

Vgl. Franz Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze. Zur ethischen Verfassung der Sozietät, Wien / New York 1988, S. 176. 86 Vgl. dazu Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Hrsg. v. Ralf Dreier / Stanley L. Paulson, Heidelberg 1999, S. 34, wo er vom Recht als der „Wirklichkeit“ spricht, „die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen“. Die Rechtsidee wiederum ist determiniert durch Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit. Vgl. ebd. S. 54 und 73. Vgl. dazu auch Franz Bydlinski, Themenschwerpunkte der Rechtsphilosophie bzw. Rechtstheorie, in: JBl 6 (1994), S. 369.

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religiösem Hintergrund vermag der Rückgriff auf Kant, auf die italienische Renaissance, auf den Platonismus der Patristik, auf die Wurzeln jüdischchristlicher, hellenistischer oder ägyptischer Herkunft den Rechtsbegriff der Menschenwürde mit Inhalt zu füllen. Das deutsche Bundesverfassungsgericht interpretiert die Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG87, indem es festhält, dass hier „die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst ist“, geschützt wird. „Hierzu gehört, dass der Mensch über sich selbst verfügen, sein Schicksal eigenverantwortlich gestalten kann.“88 In Bezug auf allfällige Voraussetzungen erläutert das Bundesverfassungsgericht: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist oder sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“89

Ausdrücklich betont das Bundesverfassungsgericht, dass auch das sich entwickelnde Leben am Schutz teilnimmt, den Art. 1 Abs. 1 GG der Menschenwürde gewährt. Andererseits werden durch den Hinweis darauf, dass die Menschenwürde den Menschen unabhängig davon zukommt, ob der Träger sich dieser bewusst ist oder diese zu wahren weiß, auch jene Menschen umfasst, die nicht (mehr) entscheidungsfähig sind, z.B. komatöse und demente Menschen, ebenso Apalliker.90 Die Dürig’sche Objektformel, nach der „die Menschenwürde als solche getroffen“ ist, „wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird“91, ist gleichermaßen „nur verständlich, möglicherweise dann aber auch weiter ausdeutbar“,

87

Anders als Deutschland mit Art. 1 Abs. 1 GG und die Schweiz mit Art. 7 BV ist in Österreich die Menschenwürde verfassungsrechtlich nicht positiviert. Dessen ungeachtet steht sie aber auch hier außer Diskussion. Der Verfassungsgerichtshof betont, dass der Grundsatz der Menschenwürde ein „allgemeiner Wertungsgrundsatz unserer Rechtsordnung“ ist und besagt, „dass kein Mensch jemals als bloßes Mittel für welche Zwecke immer betrachtet und behandelt werden darf“. Vgl. VfGH 10.12.1993, G 167/92 unter wörtlicher Bezugnahme auf Franz Bydlinski, Fundamentale Rechtsgrundsätze 176, der sich wiederum – siehe oben – auf Kant bezieht. 88

Vgl. BVerfGE 49, 298.

89

BVerfGE 29, 41.

90

Vgl. zu diesem Themenbereich Karl Heinz Auer, Das Selbstbestimmungsrecht im Kontext der Patientenverfügung, in: Heinz Barta / Gertrud Kalchschmid (Hrsg.), Die Patientenverfügung – Zwischen Selbstbestimmung und Paternalismus (= Band 2 der Reihe: Recht und Kultur), Wien 2005, S. 107 – 131. 91

Vgl. Dürig, in: AöR 81 (1956), S. 117, 127.

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wenn man sie vor dem Hintergrund abendländischer Geistesgeschichte wahrnimmt. Insofern sie wesentlich dazu beigetragen hat, die Bestimmung des Art. 1 Abs. 1 GG justiziabel zu machen, ist sie nun als „Definition vom Verletzungsvorgang her“ allgemein in die Interpretation der Menschenwürde integriert. Hier ist auch eine „Nahtstelle zwischen materialer und formaler Konzeption“, da sich begrifflich materiale Entfaltung und funktionale formale Aspekte im Menschenbild treffen und durch dieses zusammengehalten werden.92 Die teleologische Perspektive ist ein weiterer Bezugspunkt, um den Rechtsgehalt der Menschenwürde näher zu bestimmen. Wenn die Frage nach Sinn und Zweck der verfassungsrechtlichen Generalnorm des Art. 1 Abs. 1 GG oder vergleichbarer Normen mit dem Hinweis auf das Wesen des Menschen beantwortet wird, um daraus wieder für das Verfassungsganze zu argumentieren, ist teleologische Begrifflichkeit im Spiel. Das resultiert daraus, dass sich jede Beschäftigung mit dieser Bestimmung mit deren auf den Menschen als Menschen gerichteten WHYOR auseinandersetzen muss, um daraus den „weitesten wie gewichtigsten der möglichen Schutzzwecke“ zu umschreiben.93 Die Unbestimmtheit des Würdebegriffs ist dabei nicht nur ein spezifisches Anliegen der Teleologie der Menschenwürde, sondern sämtlicher Auseinandersetzungen mit der Menschenwürde. Der deutsche Grundgesetzgeber hat mit Art. 1 GG und seinem Bekenntnis zur Würde als dem Wesen des Menschen „die wohl allgemeinste und umfassendste aller möglichen Aussagen über den Menschen“ auf die Verfassungsebene transponiert und allem Recht zugrunde gelegt. Die begriffliche Offenheit der Menschenwürde bleibt aber dennoch bestehen. Im Spannungsverhältnis der „Diskrepanz zwischen Unbestimmtheit und normativem Anspruch der Menschenwürde“ wirkt ihr Begriff zumindest in der formalisierenden Betrachtungsweise der neueren Menschenwürdekonzeptionen „mehr als Korrektiv … denn als primäre Erkenntnisquelle“.94 Welchem Ansatz man immer sich eher nähern mag, es ist wohl Arthur Kaufmann zuzustimmen, wenn er sagt, dass die vielfache Ratlosigkeit in der Frage, was das Recht sei, „nur ein Reflex der noch tiefer liegenden Ratlosigkeit“ sei, „was denn überhaupt der Mensch ist“.95 Der negative wie der teleologische Aspekt im Kontext der Menschenwürde ist nicht nur ein Versuch, diese begrifflich näher zu bestimmen, sondern auch Ausdruck der Frage nach dem Menschen in der Sinnperspektive, die auch eine religiöse Valenz impliziert.

92

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 20 f.

93

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 23 f.

94

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 22 – 24.

95

Vgl. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, München 1997, S. 189.

Die religiöse Valenz der Menschenwürdekonzeption

37

Viel hängt davon ab, „wie fest der Konsens über den Sinngehalt der Menschenwürde in der Gesellschaft verankert bleibt“. Angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts96 und der vielfachen gegenwärtigen und sich für die Zukunft abzeichnenden Instrumentalisierungen und Reduktionen des Menschen wird das Eintreten für die Menschenwürde „eines der politischen Hauptthemen des 21. Jahrhunderts“ bleiben.97 IV. Menschenwürde als sakrales Tabu Die „Menschenwürde als heutiger Kern des rechtlichen Menschenbilds“98 ist vernunfttheoretisch begründet, und es ist nicht möglich, hinter 1789 und Kant zurückzugehen, ohne an Reflexionsniveau und Argumentationsmustern der aktuellen Menschenwürdekonzeption zu verlieren. Dennoch wäre es ein Trugschluss, die religiöse Valenz des Menschenwürdegedankens zu ignorieren oder sie auf die Entstehungsgeschichte des Menschenwürdegedankens zu beschränken. Die Generalklausel des Art. 1 Abs. 1 GG vermag ebenso die Schnittstelle zwischen dem rechtlichen und religiösen Aspekt zu verdeutlichen wie der allgemeiner formulierte Art. 1 Grundrechtscharta der Europäischen Union (GRC), mit dem Unterschied jedoch, dass Art. 1 GRC derzeit bloßen Deklarationscharakter hat.99 Dessen ungeachtet ist es gerade angesichts der desaströsen Ge96

Eine besondere Tragik des 20. Jahrhunderts liegt darin, dass es nicht nur das Jahrhundert der Deklarationen der Menschenrechte und Menschenwürde war, sondern auch das Jahrhundert der Weltkriege und der Schoah. Nicht nur ein Jahrhundert der Religionsfreiheit, sondern auch eines der größten Verfolgungen aus Glaubensgründen. Nicht nur ein Jahrhundert der Wirtschaftswunder und des technischen Fortschritts, sondern auch eines des Hungers und der Massenverelendung. 97

Vgl. Kriele, Grundprobleme (Anm. 6), S. 174 – 178.

98

Peter Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, Berlin 22001, S. 81.

99

Die unterschiedlichen Verfassungen von Nationen und Ländern beinhalten ebenso Schnittstellen zwischen religiösem und rechtlichem Aspekt in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der Menschenwürde, auf die hier einzugehen den vorgegebenen Rahmen sprengen würde. Die früheste Verfassung, die ausdrücklich von der Würde der Person spricht, ist die irische aus dem Jahr 1937. Vgl. Pöschl, Begriff der Würde (Anm. 22), S. 56: „In the name of the Most Holy Trinity, from Whom is all authority and to Whom, as our final end, all actions both of men and States must be referred, We, the people of Eire … seeking to promote the common good, with due observance of Prudence, Justice and Charity, so that the dignity and freedom of the individual may be assured, true social order attained, the unity of our country restored, and concord established with other nations, Do hereby adopt, enact, and give to ourselves this Constitution.“ (in: Pöschl, Begriff der Würde [Anm. 22], S. 56) Einen Gottesbezug hat sowohl Deutschland in das Grundgesetz als auch die Schweiz in ihre Verfassung (BV 1999) aufgenommen. Das österreichische B-VG

38

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schichte des 20. Jahrhunderts von fundamentaler Bedeutung, wenn die Grundrechtscharta schon im ersten Satz der Präambel als Ziel formuliert, „auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen“ und bekräftigt, dass sich die Union „im Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes … auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“ gründet.100 Dass diese Formulierung einen langen und diskursiven Prozess der Genese hinter sich hat, ist Resultat des gesellschaftlichen Wandels, der im Schnittbereich des Säkularen und des Religiösen durch den postmodernen Pluralismus von Religionen, Konfessionen, Bekenntnisgemeinschaften und Bekenntnislosen besonders augenfällig geworden ist.101 Die Unterschiede spiegeln sich sogar in authentischen Texten der Europäischen Union wieder. Während in der deutschen Fassung der Präambel der GRC vom „Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes“ die Rede ist, wird in der englischen und französischen Fassung und allen anderen EU-Sprachen diesen entsprechend „conscious of its spiritual and moral heritage“ bzw. „consciente de son patrimoine spirituel et moral“ verwendet.102 Ungeachtet der begrifflichen Unterschiede zwischen „religiös“ und „spirituell“ sind beide vom Aspekt der religiösen Valenz umfasst. Jürgen Habermas hat am 14.10.2001 in seiner viel beachteten Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn versucht, eine Verbindung zwischen säkularem und religiösem Bereich herzustellen und die für viele überraschende These aufgestellt, dass religiöse Sprache in eine säkularisierte übersetzt werden müsse, um Vermisstes zu retten: „Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. … Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, vollzieht sich im Modus der Übersetzung. Das ist es, was der Westen als die weltweit säkularisierende Macht aus der eigenen

1920 idF 1929 und das StGG 1867 haben weder eine Präambel noch einen Gottesbezug. Vgl. Auer, Menschenbild (Anm. 1), S. 134 ff. 100

Vgl. Präambel GRC.

101

Gustav Radbruch führt in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung aus, dass der Wandel der Geschichte sehr eng mit dem Wandel des Menschenbildes korreliert. Vgl. Gustav Radbruch, Der Mensch im Recht, in: Gustav Radbruch Gesamtausgabe. Band 2: Rechtsphilosophie II. Hrsg. und bearb. v. Arthur Kaufmann. Heidelberg 21993, S. 467 – 476. 102 Vgl. Präambel GRC. Hervorhebung mit Kursivdruck von mir. Diese Methode, begriffliche Auffassungsunterschiede im Rahmen der verschiedenen Übersetzungen zu belassen, obwohl alle gleichermaßen authentisch sind, spiegelt nicht nur die Auffassungsunterschiede wieder, sondern zeigt auch, wie schwer es ist, in pluralistischen Gesellschaften ein einheitliches und für alle bindendes Dokument zu erstellen, in dessen Präambel präpositive Grundlagen angeführt werden sollen.

Die religiöse Valenz der Menschenwürdekonzeption

39

Geschichte lernen kann.“103 In Bezug auf die gegenständliche Thematik darf die angeführte Habermas-These wohl verstanden werden als Appell, sich der religiösen Valenz der Menschenwürdekonzeption bewusst zu werden bzw. im Kontext der säkularen Sozietät neu zu buchstabieren. Der normative Gehalt des Art. 1 Abs. 1 GG besteht darin, dass dem Menschen als solchem eine unantastbare Würde zukommt, die durch nichts erworben werden kann als allein durch das Menschsein und die unter keinen Umständen verwirkt werden kann.104 Franz Kamphaus hat am 12.01.2004 anlässlich der Verleihung des Ignatz-Bubis-Preises an ihn in der geschichtsträchtigen Frankfurter Paulskirche im Hinblick auf die geschichtliche Last kirchlicher Intoleranz darauf hingewiesen, „dass der Kampf gegen Irrtum und Sünde nur dann nicht zum Kampf gegen irrende und sündige Menschen wird, wenn die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen, selbst die des Verbrechers und sogar des Terroristen das absolute Richtmaß des Handelns bleibt, für Staat und Religion gleichermaßen“. Angesichts des offensichtlichen Verlusts des Bewusstseins dieser Würde bei höchsten Repräsentanten der gegenwärtigen politischen US-Administration, wie sie sich sowohl in der Anwendung der Todesstrafe als auch im Umgang mit der Folter zeigt, erlangt die Kamphaus’sche Warnung vor einem Kultur- und Menschenrechtsimperialismus, der menschenund völkerrechtswidrige Mittel und Methoden einsetzt, besondere Aktualität.105 Das Neue am Art. 1 Abs. 1 GG ist weder ein neuartiger Grundrechtssatz noch die darin enthaltene Subjektqualität des Menschen als solche, sondern „vielmehr deren ausdrückliche rechtliche Anerkennung, die ein spezifisches Licht auf alle nachfolgende Rechtsgewährleistung werfen will“.106 Es ist die Menschenwürde, die Menschenrechte begründet und – bei entsprechend philosophisch-theologisch begründeter Sozialkonzeption – gleichermaßen auch Menschenpflichten. Die dem Menschen als Person und Subjekt inhärente Menschenwürde beinhaltet als Wesensmerkmal menschlicher Freiheit auch seine Fähigkeit zur Verantwortlichkeit. Jede Verknüpfung von Tatbestand und 103 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 239 (15.10.2001), S. 9. Die Rede ist auch zusammen mit der Laudatio von Jan Philipp Reemtsma erschienen in: Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt 2001, S. 9 – 31. In dieser Ausgabe finden sich die angeführten Zitate nur teilweise wieder: der 1. Satz des Zitats auf S. 24, der zweite auf S. 29. Der letzte Satz des Zitates scheint nicht mehr auf. Vgl. auch ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt/Main 2005, S. 119 – 154. Vgl. ebenso Paul Weß, Welche soziale Identität braucht Europa?, Wien 2002, S. 47 f. 104

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 384.

105

Vgl. Franz Kamphaus, Der Preis der Toleranz, in: StdZ 222 (2004), S. 219 – 226.

106

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 392.

40

Karl Heinz Auer

Rechtsfolgen in Bezug auf das Individuum beruht auf der Erkenntnis, dass der Mensch aufgrund seiner Würde ein verantwortlich handelndes Wesen ist.107 Ulrich Barth weist zutreffend darauf hin, dass im Kontext des Wortlauts von Art. 1 Abs. 1 GG der Prädikatterminus „unantastbar“ in der Kommentarliteratur weit weniger ausführlich behandelt wird als der Subjektterminus „Würde“.108 Für die Frage der religiösen Valenz der Menschenbildkonzeption ist der Prädikatterminus aber ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger, als der Subjektterminus. Die Unantastbarkeit führt vom status negativus im Sinne des Schutzes der individuellen Freiheitssphäre vor staatlichen und obrigkeitlichen Eingriffen zum status positivus im Sinne von Staatsleistungen als Ergebnis einer „Grundrechtssolidarität“ und wird ergänzt durch den status activus, der die individuelle Eigenverantwortung im Sinne einer „eigenberechtigten Ausübung öffentlicher Funktionen“ zum Inhalt hat.109 Diese Entwicklung ist für sich allein aber noch nicht in der Lage, die ihrem Gehalt nach grundsätzlich universalistische Menschenwürde universalistisch sicherzustellen. Vor diesem Hintergrund erfährt der Gedanke der Abbildlichkeit Gottes, der von Anfang an ein universalistisches Modell war, besondere Bedeutung. Denn mit der Gottabbildlichkeit im ersten Schöpfungsbericht ist der Gedanke der Geschwisterlichkeit aller Völker und Menschen ebenso verbunden, wie mit dem biblischen Universalismus die Ermöglichung der Überwindung von Stammesdenken, Rassismus, Nationalismus und Reichsideologie verbunden ist.110 In der Frage der religiösen Valenz des religiösen Menschenwürdekonzepts postuliert Barth in überzeugender Stringenz der Gedankenführung die Kategorie des religiösen Tabus und dessen ethischer Funktion. „Indem das religiöse Bewusstsein einen Gegenstand oder Bereich für tabu erklärt, übereignet es ihn der Sphäre des Heiligen und entzieht ihn so menschlicher Manipulation.“111 Derart erscheint der Prädikatterminus „unantastbar“ in einem ganz neuen Licht. Er ist für religiöse und für säkulare Menschen in ähnlicher Weise zugänglich, denn die Frage, „was mir heilig ist“, stellen sich Menschen dieser und jener Überzeugung. Während der Begriff der Unantastbarkeit als Rechtskategorie eine klare verfassungstheoretische Bedeutung besitzt, führen die Termini Unantastbarkeit, Unberührbarkeit, Unverletzlichkeit gleichzeitig Konnotationen mit sich, die der „Sphäre sakraler Tabuisierung“ zugehören. In der theologischen Dimension ist die jedem Menschen von Gott verliehene und unveräußerliche Subjektqua-

107

Vgl. Enders, Menschenwürde (Anm. 4), S. 502.

108

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 362.

109

Vgl. Peter Pernthaler, Allgemeine Staats- und Verfassungslehre, Wien / New York 1996, S. 264 – 269.

2

110

Vgl. Kamphaus, Preis der Toleranz (Anm. 105), S. 220.

111

Barth, Religion (Anm. 9), S. 367.

Die religiöse Valenz der Menschenwürdekonzeption

41

lität „sakrosankt im präzisen Sinne des Wortes“. Die freiheitstheoretische Begründung ist hingegen das kategoriale Fundament des Verfassungswertes der unantastbaren Menschenwürde, in der metaphysische Aspekte nicht berücksichtigt werden bzw. nicht berücksichtigt werden können.112 Die religiöse Valenz kann einen wichtigen Beitrag für die Menschenwürdekonzeption leisten, sei es als subjektives Verbindlichkeitsbewusstsein, als Anknüpfungspunkt im Dialog mit anderen Religionen und Kulturen oder als Korrektiv, wenn der Wesensgehalt der Menschenwürde in Vergessenheit zu geraten droht.

112

Vgl. Barth, Religion (Anm. 9), S. 367 f.

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit aus dem Blickwinkel des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen Von Johann Bair Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit sind in c. 748 des am 1. Adventsonntag 1983 in Kraft getretenen Gesetzbuches der Lateinischen Kirche verankert.1 Als Teil der in Gesetze gegossenen kirchlichen Lebensordnung kommt der in ihm zum Ausdruck gebrachten Freiheit innerkirchlich eine weltumspannende Dimension zu. Im weltlichen Bereich sind Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit national, regional und international in zahlreichen Gesetzen, Verträgen und Erklärungen2 verankert. Auf innerstaatlicher Ebene konkretisieren die den Grundrechten im Allgemeinen und der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit im Besonderen verpflichteten Gerichte, in Österreich insbesondere der Oberste

1 § 1. Alle Menschen sind gehalten, in den Fragen, die Gott und seine Kirche betreffen, die Wahrheit zu suchen; sie haben kraft göttlichen Gesetzes die Pflicht und das Recht, die erkannte Wahrheit anzunehmen und zu bewahren. § 2. Niemand hat jemals das Recht, Menschen zur Annahme des katholischen Glaubens gegen ihr Gewissen durch Zwang zu bewegen. 2

Die Bedeutendste ist die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommene Universal Declaration of Human Rights [G.A. res 217 A [III], U.N. Doc. A/810 at 71 (1948)]. Auch wenn diese Erklärung sich auf keine rechtliche Verbindlichkeit stützen kann, so ist durch die Übernahme der in ihr gewählten Formulierungen in eine Vielzahl nationaler, regionaler und internationaler Regelwerke doch heute, wie Peter J. Opitz, Menschenrechte und Internationaler Menschenrechtsschutz im 20. Jahrhundert (2002), S. 68 f feststellt, unübersehbar, dass sie mehr ist, als eine Empfehlung, wie ein von allen Völkern und Nationen anzustrebendes Ideal erreicht werden kann. Art 18 lautet: Everyone has the right to freedom of thought, conscience and religion; this right includes freedom to change his religion or belief, and freedom, either alone or in community with others and in public or private, to manifest his religion or belief in teaching, practice, worship and observance.

44

Johann Bair

Gerichtshof, der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshof,3 den Inhalt der Freiheiten im Rahmen ihrer Rechtsprechungstätigkeit. Diese innerstaatliche Arbeit der Gerichte wird heute auf regionaler europäischer Ebene4 durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und den Gerichtshof (EuGH), der sich in einem wirtschaftlichen und politischen Einigungsprozess

3 Als Rechtsgrundlage ihrer Judikatur sind insbesondere zu erwähnen: Die gemäß Artikel 149 Absatz 1 B-VG als Verfassungsgesetz geltenden Artikel 14 und 15 Staatsgrundgesetz (StGG) vom 21. Dezember 1867, über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder (RGBl 1867/142): Art 14 StGG bestimmt: (1) Die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit ist Jedermann gewährleistet. (2) Der Genuss der bürgerlichen und politischen Rechte ist von dem Religionsbekenntnisse unabhängig; doch darf den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen. (3) Niemand kann zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer kirchlichen Feierlichkeit gezwungen werden, insofern er nicht der nach dem Gesetz hiezu berechtigten Gewalt eines Anderen untersteht. Art 15 StGG lautet: Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, bleibt im Besitze und Genusse ihrer für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonde, ist aber, wie jede Gesellschaft den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen. Zu erwähnen ist auch Artikel 63 Staatsvertrag v. Saint-Germain-en-Laye vom 10. September 1919 (StGBl 303/1920), der allen Einwohnern Österreichs das Recht garantiert, öffentlich oder privat jede Art Glauben, Religion oder Bekenntnis frei zu üben, sofern deren Übung nicht mit der öffentlichen Ordnung oder mit den guten Sitten unvereinbar ist. 4 Vergleichbares findet sich in Ansätzen auch auf dem amerikanischen und afrikanischen Kontinent. Rechtsgrundlagen sind insbesondere: Artikel 12 (Freedom of Conscience and Religion) der am 18 Juli 1978 In-Kraft-Getretenen American Convention on Human Rights (O.A.S. Treaty Series No. 36, 1144 U.N.T.S. 123) und Artikel 8 der am 21. Oktober 1986 In-Kraft-Getretenen African (Banjul) Charter on Human and Peoples’ Rights [O.A.U. Doc. CAB/LEG/67/3 rev. 5, 21 I.L.M. 58 (1982)]. Art 12 bestimmt: 1. Everyone has the right to freedom of conscience and of religion. This right includes freedom to maintain or to change one’s religion or beliefs, and freedom to profess or disseminate one’s religion or beliefs, either individually or together with others, in public or in private. 2. No one shall be subject to restrictions that might impair his freedom to maintain or to change his religion or beliefs. 3. Freedom to manifest one’s religion and beliefs may be subject only to the limitations prescribed by law that are necessary to protect public safety, order, health, or morals, or the rights or freedoms of others. 4. Parents or guardians, as the case may be, have the right to provide for the religious and moral education of their children or wards that is in accord with their own convictions. Artikel 8 lautet: Freedom of conscience, the profession and free practice of religion shall be guaranteed. No one may, subject to law and order, be submitted to measures restricting the exercise of these freedoms.

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

45

befindlichen Europäischen Union überlagert.5 Der EGMR ist in seiner Tätigkeit an die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle gebunden.6 Er sieht in der Konvention und den Protokollen „living instruments“, die den jeweils gegenwärtigen rechtlichen, politischen oder gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen sind. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit bilden für den EGMR einen Grundpfeiler jeder demokratischen Gesellschaft. Im Vordergrund seiner Rechtsprechung steht die Religionsfreiheit.7 Im Gegensatz zum EGMR ist der EuGH als einer der „Motoren der Integration“8 an keinen geschriebenen Grund- oder Menschenrechtskatalog gebunden. Er hat vielmehr verschiedene Grund- und Menschenrechte in den allgemeinen Rechts-

5

In Artikel 46 EMRK haben sich die Vertragsparteien verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des EGMR zu befolgen. Mit der Überwachung der Durchführung eines Urteils ist das Ministerkomitee beauftragt. Gemäß Artikel 220 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (ABl 1997 C 340, 1) hat der EuGH das Recht der Europäischen Gemeinschaft zu wahren. Er sichert mit seiner in der Rechtssache Costa gegen E.N.E.L. (EuGH, Slg 1964, 1253 ff.) begründeten Rechtssprechung dem europäischen Recht die einheitliche Geltung und den Vorrang vor nationalem Recht. 6

Zu erwähnen sind insbesondere: Artikel 9 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und Artikel 2 des 1. Zusatzprotokolls (ZP) zur EMRK. Als Teil der EMRK haben die Artikel auch in nationales europäisches Recht, und zwar entweder als völkerrechtliche Verpflichtung, einfaches Gesetz oder Verfassungsbestimmung, Eingang gefunden. In Österreich steht die EMRK gemäß Artikel II Z 7 B-VGNov 1964 (BGBl 59/1964) mit dem Tag ihres In-Kraft-Tretens für Österreich am 3. September 1958 (BGBl 210/1958) im Verfassungsrang. Art 9 EMRK bestimmt: (1) Jedermann hat Anspruch auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit des einzelnen zum Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, Andachten und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben. (2) Die Religions- und Bekenntnisfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind. Nach Art 2 ZP(E)MRK hat der Staat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen Überzeugungen sicherzustellen. 7

Einen Überblick über die Judikatur des Gerichtshofes gibt Jens Meyer-Ladewig, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (2003), S. 155 ff. 8

Rudolf Streinz, Europarecht (52001), S. 206.

46

Johann Bair

grundsätzen und Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gefunden9 und in seine Rechtsprechung eingebaut.10 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit spielen in der umfangreichen Judikatur des EuGH eine sehr marginale Rolle. Ausformulierte Garantien sind nur in Ansätzen auszumachen.11 Auf internationaler Ebene überlagert die Tätigkeit des UN-Menschenrechtsausschusses die Arbeit der regionalen (afrikanischen, amerikanischen, europäischen) und nationalen Institutionen. Als „quasi-judizielles“ Überwachungsorgan12 ist er in dem im Jahr 1976 in Kraft getretenen Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte (CCPR)13 verankert. Er besteht aus 18 – nicht 9

Artikel 6 Abs 2 des Vertrags über die Europäische Union (ABl 1997 C 340, 1) sichert heute juristisch die „freie“ Rechtsfindung des EuGH im Primärrecht durch Verweis auf die EMRK und die allgemeinen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten teilweise ab. Christian Walter, Geschichte und Entwicklung der Europäischen Grundrechte- und Grundfreiheiten, in: Dirk Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2003), S. 9 ff. 10 In der am 7. Dezember 2000 in Nizza feierlich proklamierten Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl 2000 C 364 S 1 ff) haben das Europäische Parlament, der Europäische Rat und die Europäische Kommission die von der Union anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze sichtbar gemacht. Rechtlich verbindlich ist die Charta nicht. Als Teil des sich im Ratifikationsstadium befindlichen Vertrags über eine Verfassung für Europa (ABl 2004 Nr C 310 S 1 ff) könnte ihr aber – sollte der Vertrag von allen Mitgliedstaaten der Union ratifiziert werden – in der Zukunft Verbindlichkeit zukommen. Artikel 10 der Charta trägt die Überschrift Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit. Er lautet: (1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. (2) Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln. 11 Die Religionsfreiheit direkt und unmittelbar angesprochen, hat der EuGH soweit überblickbar bisher allein in der Rechtssache Prais gegen Rat der Europäischen Gemeinschaften, EuGH, Slg 1976, 1589 ff. Der Rechtssache liegt die Klage einer Person jüdischen Glaubens zu Grunde, die aufgrund einer religiösen Vorschrift einen vom Rat festgesetzten Termin zur Teilnahme an einem Auswahlverfahren nicht wahrnehmen konnte. Der EuGH entschied, dass der Rat, wenn ihm ein aus religiösen Gründen bestehendes Hindernis rechtzeitig mitgeteilt wird, verpflichtet ist, sachgerechte Maßnahmen zu treffen. 12 13

Manfred Nowak, Einführung in das internationale Menschenrechtssystem (2002), S. 95.

International Covenant on Civil and Political Rights (G.A. res 2200 A [XXI], 21 U.N. GAOR Supp. [No. 16] at 52, U.N. Doc. A/6316 [1966], 999 U.N.T.S. 171, In-KraftGetreten am 23 März 1976).

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

47

weisungsgebundenen –14 Persönlichkeiten von hohem sittlichem Ansehen und anerkannter Sachkenntnis auf dem Gebiet der Menschenrechte. Die Mitglieder des Ausschusses werden von den Vertragsstaaten vorgeschlagen und auf vier Jahre von ihnen gewählt.15 Dreimal im Jahr versammelt sich der Menschenrechtsausschuss zu jeweils 3-wöchigen Tagungen.16 Bei diesen werden „Abschließende Bemerkungen“ (Concluding Comments/Observations) im obligatorischen Staatenberichtsverfahren,17 „Allgemeine Bemerkungen“ (General Comments) zu einzelnen Bestimmungen18 des Paktes und „Auffassungen“ (Views) im Individualbeschwerdeverfahren19 nach dem im Jahr 1976 in Kraft getretenen Fakultativprotokoll (OP)20 erarbeitet. Die Staaten, die dem Pakt beigetreten sind,21 haben regelmäßig Berichte über ihre Maßnahmen zur Umsetzung der im Pakt übernommenen Verpflichtungen an den Generalsekretär der Vereinten Nationen zu übermitteln. Vom Generalsekretär werden die Berichte – bisher 355 – an den Menschenrechtsausschuss zur Prüfung weitergeleitet. Der Ausschuss lädt im Rahmen der Prüfung den vorlegenden Staat zur Stellungnahme ein und verfasst schließlich „Concluding Comments/Observations“, in denen er auf die Verbesserung der Menschenrechtssituation dringt und konkrete Maßnahmen vorschlägt, die bis zum nächsten Bericht umgesetzt werden sollen. In diesen Vorschlägen finden sich da und

14

Art 28 Abs 3 CCPR.

15

Art 29 CCPR. Dem Menschenrechtsausschuss gehören derzeit an: Amor Abdelfattah (Tunesien), Ando Nisuke (Japan), Bhagwati Prafullachandra Natwarlal (Indien), Castillero Hoyos Alfredo (Panama), Chanet Christine (Frankreich), Glele Ahanhanzo Maurice (Benin), Johnson Lopez Edwin (Ecuador), Kälin Walter (Schweiz), Lallah Rajsoomer (Mauritius), O'Flaherty Michael (Irland), Elisabeth Palm (Schweden), Rivas Posada Rafael (Colombien), Rodley Nigel (Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland), Shearer Ivan (Australien), Solari Yrigoyen Hipólito (Argentinien), Tawfik Khalil Ahmed (Ägypten), Wedgwood Ruth (Vereinigte Staaten von Amerika), Wieruszewski Roman (Polen). 16

Diese finden im März in New York am Sitz der Vereinten Nationen und im Juli und November im Büro der Vereinten Nationen in Genf statt. 17

Art 40 Abs 1 CCPR.

18

Art 40 Abs 4 CCPR.

19

Art 5 Abs 4 OP.

20

Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights (G.A. res. 2200 A [XXI], 21 U.N. GAOR Supp. [No. 16] at 59, U.N. Doc. A/6316 [1966], 999 U.N.T.S. 302, In-Kraft-Getreten am 23. März 1976). 21 Gemäß Artikel 48 CCPR sind bis zum 13. Dezember 2005 154 Staaten dem Pakt beigetreten.

48

Johann Bair

dort Hinweise darauf, welchen Inhalt der Ausschuss der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit beilegt. Eine weitere Quelle, die den Inhalt des Paktes konkretisiert, sind die „General Comments“. In ihnen interpretiert der Ausschuss einzelne Artikel des Paktes und verdeutlicht in allgemeiner Form ihren Inhalt.22 Mit dem Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit setzt sich ausführlich der am 30. Juli 1993 vom Ausschuss angenommene „General Comment“ Nr 22 auseinander.23 In diesem findet sich das Fundament, auf dem die „Views“ aufbauen, in denen Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit eine Rolle spielen. Den „Views“ liegen konkrete Fälle zu Grunde, die in Form von „Mitteilungen“ (Communications) von Einzelpersonen an den Ausschuss herangetragen werden. Die Kompetenz des Ausschusses „Communications“ entgegenzunehmen und zu prüfen, ist im Pakt nicht vorgesehen, sondern wurde ihm vielmehr in Form eines Zusatzprotokolls beigefügt. Nach diesem (ersten) Fakultativprotokoll zum Pakt räumen die dem Protokoll beigetretenen Staaten24 dem Ausschuss die Kompetenz ein, „Communications“ entgegenzunehmen und zu prüfen, ob die im Pakt verankerten Rechten verletzt wurden.25 Der Ausschuss übermittelt nach Prüfung seiner Zuständigkeit und der Einholung einer Stellungnahme des belangten Staates seine „Auffassung“ dem Mitteilenden und dem belangten Staat. Er stützt sich dabei auf den vorgetragenen Sachverhalt, die Stellungnahme des belangten Staates und das gerügte Recht. In den bisher mehr als tausend „Views“ spielen Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nur eine sehr untergeordnete Rolle. Da und dort finden sich aber Hinweise, die den Inhalt der jeweiligen Freiheit konkretisieren. Diese Hinweise ermöglichen es letztendlich, in Verbindung mit den „General Comments“ und den „Concluding Comments/Observations“, in Umrissen ein Bild des vom Menschenrechtsausschuss auf globaler Ebene konkretisierten Inhalts der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu zeichnen. Ausgangspunkt ist Artikel 18 CCPR. In seinem Abs 1 ist das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit verankert. Dieses Recht kommt jedermann zu. Es umfasst die Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch

22

General Comments wurden bisher 31 erarbeitet.

23

CCPR/C/21/Rev.1/Add.4.

24

Gemäß Artikel 8 OP sind bis zum 29. Juni 2005 105 Staaten dem Fakultativprotokoll beigetreten. 25

Art 1 OP.

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

49

Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht zu bekunden. Nach Artikel 18 Abs 2 darf niemand einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde. Artikel 18 Abs 3 führt aus, dass die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden darf, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind. Und nach Artikel 18 Abs 4 sind die Vertragsstaaten verpflichtet, die Freiheit der Eltern und gegebenenfalls des Vormunds oder Pflegers zu achten, die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen. Das in Artikel 18 CCPR verankerte Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist ein fundamentales Recht.26 Es darf, wie ausdrücklich in Artikel 4 Absatz 2 CCPR bestimmt ist, auch nicht im Falle eines öffentlichen Notstandes, der das Leben der Nation bedroht, außer Kraft gesetzt werden.27 Die Aufnahme in den Kreis der Rechte mit absoluter Bestandsgarantie28 nimmt jedoch keinem Vertragsstaat, die Möglichkeit eine Religion oder auch Weltanschauung als Staatsreligion oder Staatsideologie anzuerkennen oder als offizielle oder traditionelle Religion oder Weltanschauung in der Rechtsordnung einzurichten. Eine solche Maßnahme darf jedoch die in Artikel 18 CCPR garantierten Freiheiten nicht beeinträchtigen.29 Die Vertragsstaaten haben dafür Sorge zu tragen, dass ihre Rechtsordnungen mit dem fundamentalen Charakter des in Artikel 18 CCPR verankerten Rechts nicht in Widerspruch stehen.30 Das mit den Worten Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit umschriebene Recht umfasst die Freiheit, einen Gott-Glauben, jeden anderen Glauben oder auch irgendeine Weltanschauung nach eigener Wahl zu haben, anzunehmen, zu behalten oder abzulehnen. Eingeschlossen ist auch die Möglichkeit, die getroffene Wahl zu verändern.31 Untrennbar verbunden mit dem

26

General Comment No. 22.

27

General Comment No. 29.

28

Zu diesem Kreis zählen noch nach Artikel 4 Absatz 2 CCPR: Der Schutz des Lebens, die Freiheit von Folter, das Verbot der Sklaverei, der Schuldhaft und rückwirkender Strafgesetze sowie die Anerkennung als Person. 29

General Comment No. 22.

30

Concluding Comments on Morocco (1999) U.N. Doc. CCPR/C/79 Add.113.

31

Manfred Nowak, UN Convention on Civil and Political Rights (1993), S. 312 verweist darauf, dass bei der Entstehung des Paktes die ausdrückliche Erwähnung des Religionswechsels auf Widerstand islamischer Staaten, insbesondere Saudi Arabiens,

50

Johann Bair

Recht ist die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat zu bekunden.32 Diese Freiheit darf nicht durch eine verpflichtend vorgesehene Registrierung von Religionsgemeinschaften, die ihrerseits vielleicht wieder von der Zahl der Anhänger abhängt, eingeschränkt werden.33 Mit den Worten Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht wird in Artikel 18 Abs 1 CCPR die Bekenntnisfreiheit angesprochen. Sie ist als Freiheit ein Teil der als Recht umschriebenen Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Der Begriff Bekenntnisfreiheit lässt religiöse oder weltanschauliche Vorstellungen mit der Einzelperson oder der Gemeinschaft in das private oder öffentliche Umfeld eintreten. Ausdrücklich umfasst von ihm sind der Gottesdienst, die Beachtung religiöser Bräuche, die Ausübung und der Unterricht. Der Begriff Gottesdienst schließt den eigenen Glauben widerspiegelnde Rituale und Zeremonien, den Gebrauch von für den Gottesdienst notwendigen Gegenständen, das Herzeigen von mit dem Glauben verbundenen Symbolen, die Einhaltung von Feier- und Ruhetagen und das Bauen von für den Gottesdienst notwendigen Gebäuden ein. Die Beachtung religiöser Bräuche oder Vorschriften umfasst neben zeremoniellen Handlungen auch Ernährungsvorschriften, das Tragen bestimmter Kleidung oder Kopfbedeckung,34 die Teilnahme an an bestimmte Lebensabschnitte gebundene Rituale und den Gebrauch einer eigenen Sprache. Ausübung und Unterricht schließen die Möglichkeit der Regelung der eigenen Angelegenheiten ein. Umfasst werden neben der Auswahl der Führer, Priester oder Lehrer und der Einrichtung von Seminaren oder Schulen auch die Erstellung und Verbreitung von Texten.35 Ein Vertragsstaat verletzt Artikel 18 CCPR nicht, wenn er die Erstellung der Lehrpläne für den Religionsunterricht, die Auswahl der Lehrer und die Überwachung des Religionsunterrichts der zuständigen religionsgesellschaftlichen Autorität überträgt. 36 Nicht im Schutzbereich von Artikel 18 CCPR befinden sich religiöse oder welt-

traf. Die in Artikel 18 CCPR gewählte Formulierung ist ein Kompromiss, der auf eine Initiative Brasiliens und der Philippinen zurückgeht. 32

General Comment No. 22.

33

Concluding Comments on Armenia (1998) U.N. Doc. CCPR/C/79/Add.100.

34

Ms. Raihon Hudoyberganova v. Uzbekistan CCPR/C/82/D/931/2000: Gerügt wurde vom Ausschuss der Verweis von einer Universität, der aufgrund der Weigerung ein aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch zu entfernen ausgesprochen wurde. 35 36

General Comment No. 22.

William Eduardo Delgado Páez v. Colombia CCPR/C/39/D/195/1985: Die „Mitteilung“ bezog sich auf den Anwendungsbereich eines in der Form eines Staatsvertrages geschlossenen Konkordats.

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

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anschauliche Vorstellungen, in denen die Verehrung und Verteilung von staatlich verbotenen Rauschgiften ein wesentliches oder sogar ausschließliches Element ist.37 Die Einschränkung der Gedanken-, Gewissens-, Religions-, Weltanschauungs- oder Bekenntnisfreiheit an sich ist unzulässig. Die genannten Freiheiten sind in ihrem Kern bedingungslos garantiert. Artikel 18 Abs 3 CCPR lässt diesen Kern unberührt.38 Niemand darf daher gezwungen werden, seine Gedanken mitzuteilen oder über seine innere Verbundenheit mit einer Religion oder Weltanschauung Auskunft zu geben.39 Nicht in Frage gestellt werden können jedoch unter Berufung auf Artikel 18 CCPR vom Recht auferlegte sachlich gerechtfertigte Verpflichtungen. Steuern zu bezahlen, ist eine dieser Verpflichtungen. Diese Pflicht kann, da sie außerhalb des Schutzbereiches von Artikel 18 CCPR liegt, auch nicht unter Berufung auf Gewissensfreiheit in Zweifel gezogen werden.40 Die Gewissensfreiheit garantiert dort, wo sachlich gerechtfertigte Verpflichtungen verweigert werden, auch keine strafrechtliche Immunität. Daher wurde die Verhängung von strafrechtlichen Sanktionen gegenüber einem Wehrdienstverweigerer,41 der die staatlichen Stellen von seiner Gewissensnot nicht überzeugen konnte, als durchaus zulässig angesehen.42 Jedoch ist es möglich, dass die Verpflichtung tödliche Gewalt anwenden zu müssen, so ernsthaft mit der Gewissensfreiheit kollidiert, dass die Vertragsstaaten in ihrer Gesetzgebung die Möglichkeit der 37

M.A.B., W.A.T. and J.-A.Y.T. v. Canada CCPR/C/50/D/570/1993: In der „Mitteilung“ wurde vorgebracht, dass staatliche Strafrechtsnormen die Mitglieder der „Assembly of the Church of the Universe“ daran hinderten, ihr auch als „God’s tree of life“ bezeichnetes „Sakrament“ (Marihuana) zu kultivieren und zu verbreiten. 38

General Comment No. 29.

39

General Comment No. 22.

40

K.V. and C.V. v. Germany CCPR/C/50/D/568/1993, J.v.K. and C.M.G.v.K.-S. v. The Netherlands CCPR/C/45/D/483/1991, Dr. J. P. v. Canada CCPR/C/43/D/446/1991: In den zitierten „Communications“ wurde von den Mitteilenden die Rechtmäßigkeit der Verwendung von Steuergeldern für Militärausgaben in Zweifel gezogen. 41 Ein grundsätzliches Recht auf Wehrdienstverweigerung ist aus Artikel 18 CCPR nicht ableitbar, da Artikel 8 Abs 3 lit c (ii) CCPR den Wehrdienst, und dort, wo die Wehrdienstverweigerung zulässig ist, den gesetzlich vorgeschriebenen Alternativdienst vom Verbot jeder „Zwangs- oder Pflichtarbeit“ ausnimmt. L.T.K. v. Finland CCPR / C/25/D/185/1984. 42

Paul Westerman v. The Netherlands CCPR/C/67/D/682/1996: Vorgebracht wurde in der „Mitteilung“, dass Gerichte die auf die Unvereinbarkeit der Natur des Militärs mit der Bestimmung der Menschheit gestützte Verweigerung des Militärdienstes nicht anerkannten.

52

Johann Bair

Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen einräumen müssen, wollen sie nicht mit der sich aus Artikel 18 CCPR ergebenden Verpflichtung in Konflikt kommen. Wehrdienstverweigerern muss in diesem Fall das Recht garantiert sein, sich für einen Alternativdienst entscheiden zu können.43 Auf eine solche Situation ist auch nach Antritt des Wehrdienstes Rücksicht zu nehmen; Wehrdienstleistende dürfen daher nicht einfach von der Möglichkeit des Alternativdienstes ausgeschlossen werden.44 Die den Alternativdienstleistenden übertragenen Aufgaben, müssen mit ihren Überzeugungen vereinbar sein.45 Im Schulbereich sind mit dem in Artikel 18 CCPR verankerten Recht auf Gewissensfreiheit staatliche Anordnungen unvereinbar, die, ohne Rücksicht auf Gewissenskonflikte der Schüler zu nehmen, die Möglichkeit des Besuchs einer staatlichen Schule von der Bereitschaft der Schüler abhängig macht, die Nationalhymne zu singen und vor der Staatsflagge zu salutieren.46 Zwang, der die Freiheit eine Religion oder Weltanschauung eigener Wahl zu haben, anzunehmen, zu wechseln oder abzulehnen, einschränkt, steht in Widerspruch zu Artikel 18 Abs 2 CCPR.47 Verboten ist jeder Zwang, unabhängig davon, ob er sich in der Form von Drohung, physischer Gewalt oder strafrechtlicher Sanktion manifestiert.48 Zwang ist aber auch in Vorschriften und Verfahrensweisen zu sehen, die dieselbe Absicht verfolgen oder denselben Effekt haben, wie direkter Zwang. Als solch indirekter Zwang wurde der aufgrund des Verstoßes gegen das in einer Institutsordnung verankerte Verbot des Tragens eines Kopftuches auf dem Gelände eines Universitätsinstituts ausgesprochene Verweis von der Universität angesehen.49 Unvereinbar mit Artikel 18 Abs 2 CCPR sind aber auch staatliche Anordnungen, die den Antritt eines Amtes von

43

Concluding Comments on Colombia (2004) U.N. Doc. CCPR/CO/80/COL.

44

Concluding Comments on Spain (1996) U.N. Doc. CCPR/C79/Add.61.

45

Concluding Comments on The Russian Federation (2003) U.N. Doc. CCPR/CO/ 79/RUS. 46

Concluding Comments on Zambia (1996) U.N. Doc. CCPR/C/79/Add.62.

47

Sarah Joseph / Jenny Schultz / Melissa Castan, The International Covenant on Civil and Political Rights (2000), S. 374. 48 49

General Comment No. 22.

Ms. Raihon Hudoyberganova v. Uzbekistan CCPR/C/82/D/931/2000. Die Anmerkung des Ausschusses, dass der Stellungnahme des belangten Staates keine Rechtfertigung für eine Einschränkung der Bekenntnisfreiheit (Art 18 Abs 3 CCPR) zu entnehmen war, legt den Schluss nahe, dass bei entsprechender sachlicher Begründung ein Kopftuchverbot vor dem Ausschuss durchaus Bestand haben könnte.

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

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der Abgabe einer Erklärung mit religiöser Bezugnahme abhängig machen.50 Andererseits darf aber auch die Zugehörigkeit zu einer religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft keinesfalls der Hauptgrund sein, der eine Person unfähig macht, im öffentlichen Dienst tätig zu sein.51 Unzulässig ist es auch Gefangenen mit Anreizen, wie Vorzugsbehandlung oder in Aussicht stellen einer vorzeitigen Entlassung, religiöse oder weltanschauliche Neuorientierung nahe zu legen.52 Artikel 18 Abs 3 CCPR regelt die Einschränkung der Bekenntnisfreiheit.53 Nicht erlaubt ist es den Vertragsstaaten Schranken, die in anderen Artikeln des Paktes vorgesehen sind, wie etwa die nationale Sicherheit, auf Artikel 18 CCPR zu übertragen. Einschränkungen müssen gesetzlich vorgesehen und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sein. Keinesfalls dürfen sie in einer Art und Weise Anwendung finden, die die Bekenntnisfreiheit an sich in Frage stellen. Die Bekenntnisfreiheit darf nur für die Zwecke eingeschränkt werden, die im Artikel genannt sind. Jede Einschränkung muss sich auf das Notwendige beschränken. Das Verhältnis von Mittel und Ziel ist im Auge zu behalten. Schranken, die in diskriminierender Weise54 angewendet werden, sind mit Artikel 18 CCPR unvereinbar. Für Kriegspropaganda, die Verbreitung von nationalem, rassischem oder religiösem Hass oder zur Aufstachelung zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt darf die Bekenntnisfreiheit nicht

50 Concluding Comments on Ireland (2000) U.N. Doc. CCPR/CO/69/IRL. Der Menschenrechtsausschuss empfahl Irland die in der Verfassung verankerten Bestimmungen, die von Richtern vor oder bei Antritt ihres Amtes eine Erklärung mit religiösen Bezugnahmen („In the presence of Almighty God I, ... May God direct and sustain me.“) verlangen, in Übereinstimmung mit Artikel 18 CCPR zu bringen und abzuändern. 51

Concluding Comments on Germany (2004) U.N. Doc. CCPR/CO/80/DEU.

52

Yong-Joo Kang v. Republic of Korea CCPR/C/78/D/878/1999: Gerügt wurde vom Ausschuss ein sog. „ideology conversion system“, das, umgewandelt zum sog. „oath of law-abidance system“, versuchte, Personen, die nach dem Nationalen-SicherheitsGesetz verurteilt wurden, zur Änderung ihrer politischen Meinung zu veranlassen. 53 54

General Comment No. 29.

Diskriminierung untersagt Artikel 26 CCPR. Nach ihm sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich und haben ohne Diskriminierung Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. In dieser Hinsicht hat das Gesetz jede Diskriminierung zu verbieten und allen Menschen gegen jede Diskriminierung, wie insbesondere wegen der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status, gleichen und wirksamen Schutz zu gewährleisten.

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Johann Bair

missbraucht werden.55 Maßnahmen, die auf ein solches Verhalten in einem sensiblen Umfeld, wie etwa der Schule, oder auf einen bestimmten Zusammenhang reagieren und die Bekenntnisfreiheit begrenzen, ohne aber darüber hinaus auf die Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Weltanschauungsfreiheit unmittelbar und direkt gezielt zu sein, sind zulässig, insoweit sie zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten anderer unabdingbar erforderlich sind.56 Die Anstellung als Religionslehrer an staatlichen Schulen darf von der Zustimmung der zuständigen religionsgesellschaftlichen Autorität abhängig gemacht werden.57 Die Bekenntnisfreiheit der Religionslehrer wird dadurch nicht berührt. Sachlich gerechtfertigt fand der Menschenrechtsausschuss unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Ordnung die staatliche Regelung der Änderung der Familiennamen58 sowie die zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer bestehende Vorschrift bei der Arbeit einen Helm zu tragen.59 Der in Artikel 18 Abs 3 CCPR verwendete Begriff Sittlichkeit bezieht nach Ansicht des Menschenrechtsausschusses seinen Inhalt aus einer Vielzahl von sozialen, philosophischen und religiösen Traditionen. Daher darf eine Einschränkung der Bekennt-

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Die Vertragsstaaten sind aufgrund von Artikel 20 CCPR verpflichtet, jede Kriegspropaganda und jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Hass, wodurch zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, durch Gesetz zu verbieten. 56

Malcolm Ross v. Canada CCPR/C/70/D/736/1997: Vorgebracht wurde von einem Lehrer, dass seine aus religiösen Gründen außerhalb der Schule vorgetragene öffentliche Kritik, in der er dem Judentum die Untergrabung von Freiheit, Demokratie und christlichen Werten vorwarf und die Christen aufrief, Menschen jüdischen Glaubens mit Missachtung zu strafen, von der Schulbehörde als schädlich, ja sogar für die Schulatmosphäre vergiftend eingestuft und mit seiner Abberufung aus dem Schuldienst und Überstellung in die Verwaltung geahndet wurde. 57

William Eduardo Delgado Páez v. Colombia CCPR/C/39/D/195/1985: Der Mitteilende rügte, dass ihm als Religionslehrer, nachdem ihm aufgrund seines Eintretens für die Befreiungstheologie die kirchliche Lehrbefugnis entzogen worden war, auch staatlicherseits der Religionsunterricht entzogen wurde. 58 A.R. Coeriel and M.A.R. Aurik v. The Netherlands CCPR/C/52/D/453/1991: Vorgebracht wurde von Personen, die den Wunsch hatten, den Hinduismus zu studieren und zu praktizieren, um Hindu-Priester zu werden, dass staatliche Behörden durch die Verweigerung der Zustimmung zur Abänderung des Familiennamens sie daran hinderten, die aus religiösen Vorschriften sich ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen. 59

Karnel Singh Bhinder v. Canada CCPR/C/37/D/208/1986: In der „Mitteilung“ wurde vorgebracht, dass die Durchsetzung der Vorschrift, bei der Arbeit einen Schutzhelm zu tragen, im Widerspruch zu einem fundamentalen Glaubenssatz der Sikhs steht, nach dem Männer allein einen Turban als Kopfbedeckung tragen dürfen.

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

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nisfreiheit keinesfalls allein auf eine einzige Tradition gestützt werden.60 Personen, denen von der Rechtsordnung zulässigerweise Beschränkungen auferlegt werden, bleibt die Bekenntnisfreiheit im größtmöglichen Ausmaß gewahrt. Inhaftierten ist das gemeinschaftliche Gebet zu ermöglichen; Gebetsbücher und Gebetskleidung dürfen ihnen ohne sachliche Rechtfertigung nicht weggenommen werden. Das zwangsweise Abrasieren des aus religiöser Motivation getragenen Haares oder Bartes ist ohne sachliche Rechtfertigung ein Eingriff in die Bekenntnisfreiheit.61 Außerhalb des Schutzbereiches des Artikels 18 CCPR sah der Menschenrechtsausschuss die Verurteilung wegen Reorganisation einer aufgelösten faschistischen Partei.62 Allein den Eltern, dem Vormund oder Pfleger kommt es zu, für die religiöse und sittliche Erziehung ihrer oder der ihnen anvertrauten Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen Sorge zu tragen. Dieses in Artikel 18 Abs 4 CCPR verankerte Recht gilt vorbehaltlos. Es kann nicht unter Berufung auf Artikel 18 Abs 3 CCPR eingeschränkt werden. Kein Gesetz darf Erziehungsberechtigte, die sich zu einer bestimmten Religion bekennen, verpflichten, ihre Kinder in ihrem Glauben zu erziehen.63 Öffentliche Schulbildung, die die Unterrichtung in einer bestimmten Religion oder Weltanschauung vorsieht, ist mit Artikel 18 Abs 4 CCPR vereinbar, wenn Vorkehrungen für nicht diskriminierende Ausnahmen oder Alternativen getroffen werden, die die Wünsche der Erziehungsberechtigten berücksichtigen.64 Gesetzliche Regelungen, die bei Widerspruch an Stelle des Religionsunterrichts einen Unterricht in Religionsgeschichte und Ethik vorsehen, sind zulässig. Der Alternativunterricht muss jedoch auf eine neutrale und objektive Weise und unter Respektierung aller Überzeugungen der Erziehungsberechtigten, insbesondere auch der, die an keine Religion glauben, erteilt werden.65

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General Comment No. 22.

61

Clement Boodoo v. Trinidad and Tobago CCPR/C/74/D/721/1996.

62

M. A. v. Italy CCPR/C/21/D/117/1981: Begründet wurde dies mit dem Hinweis auf Artikel 5 Abs 1 CCPR. Diese Bestimmung verhindert, dass ein Artikel des Paktes dahin ausgelegt wird, dass er für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der im Pakt anerkannten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als im Pakt vorgesehen, hinzielt. 63

Concluding Comments on Norway (1999) U.N. Doc. CCPR/C79/Add.112.

64

General Comment No. 22.

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Erkki Hartikainen et al. v. Finland CCPR/C/12/D/40/1978: Vorgebracht wurde in der „Mitteilung“, dass die von Christen für den Unterricht in Religionsgeschichte und

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Johann Bair

Dort, wo ein Vertragsstaat Schulen von Religionsgemeinschaften mit öffentlichen Mitteln unterstützt, hat er dies ohne jede Diskriminierung zu tun.66 Er muss daher, wenn er die Schulen einer religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft unterstützt und die Unterstützung gegenüber einer anderen Gemeinschaft ablehnt, diese Ablehnung mit objektiven und nachvollziehbaren Gründen untermauern.67 Eine Verankerung der unterschiedlichen Behandlung von religiösen Gemeinschaften auf Verfassungsebene genügt nicht. Auch ist es nicht zulässig, bei der Zuteilung von Mitteln zwischen Privat- und öffentlichen Schulen zu unterscheiden, wenn es nur einer bestimmten religiösen Gemeinschaft möglich ist, ihre Privatschulen in das öffentliche Schulsystem einzugliedern.68 Gedanken-, Gewissens-, Religions-, Weltanschauungs- und Bekenntnisfreiheit sind innerhalb der im Pakt vorgezeichneten und vom Ausschuss sichtbar gemachten Grenzen als unveräußerliche und unentziehbare69 Rechte des Einzelnen und der Vereinigung Gleichgesinnter auf globaler Ebene verankert. Im Kern der Freiheiten steht das selbstbestimmte Leben. Als zentrales Element der als fundamentales Recht bezeichneten Freiheiten ist es Teil der auf Freiheit gegründeten und von den Vereinten Nationen getragenen Weltordnung. In der Ausgestaltung dieser Weltordnung kommt dem Menschenrechtsausschuss eine bedeutsame Rolle zu. Dies wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass mehr als drei Viertel der Staaten dieser Welt es auf sich genommen haben, dem Ausschuss über die Umsetzung der mit dem Beitritt zum Pakt übernommenen Verpflichtungen regelmäßig Bericht zu erstatten. Mehr als die Hälfte der Staaten dieser Welt haben darüber hinaus dem Ausschuss auch noch durch Beitritt zum Fakultativprotokoll die Kompetenz eingeräumt, „Communications“ individuell Betroffener entgegenzunehmen, zu prüfen und gegebenenfalls Verletzungen festzustellen. Mit Recht kann man daher im Ausschuss Ansätze einer im Entste-

Ethik geschriebenen und verwendeten Lehrbücher einen objektiven und neutralen Unterricht von vornherein ausschließen. 66

Art 26 CCPR.

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Concluding Comments on Liechtenstein (2004) U.N. Doc. CCPR/CO/79/LIE.

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Arieh Hollis Waldman v. Canada CCPR/C/67/D/694/1996: Gerügt wurde vom Ausschuss, dass jüdische Privatschulen keinerlei direkte staatliche Unterstützung erhielten, während römisch katholische Privatschulen, die von der in der Rechtsordnung ihnen eingeräumten Möglichkeit, sich in das staatliche Schulsystem einzugliedern, Gebrauch machten, eine solche erhielten. 69

Der Ausschuss selber steht, wie er in seinem General Comment No. 26 zum Ausdruck gebracht hat, auf dem Standpunkt, dass die Vertragsstaaten mit Unterzeichnung des zeitlich unbefristeten und keinen Widerruf vorsehenden Paktes den in ihrem Territorium sich aufhaltenden Menschen unentziehbar die im Pakt verankerten zeitlosen Rechte übertragen haben.

Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit

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hen begriffenen „Weltmenschenrechtsgerichtsbarkeit“ erkennen. Rechtsstaatliche Rechtsordnungen, in denen die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts Teil der Rechtsordnung sind,70 verpflichtet der allgemeine Rechtsgrundsatz „pacta sunt servanda“ zur Anpassung ihrer Rechtsordnungen an die im Pakt und Fakultativprotokoll übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen. Aufgrund der dem Ausschuss im Pakt und Fakultativprotokoll eingeräumten Kompetenzen sind auch die in „Concluding“ und „General Comments“ sowie „Views“ zum Ausdruck gebrachten inhaltlichen Konkretisierungen des Paktes zu beachten. Der Menschenrechtsausschuss formt das im Pakt verankerte Recht zu einem alle nationalen und kulturellen Grenzen überwindenden Recht. Er ist mit seiner verschiedenste Nationalitäten und unterschiedlichste Kulturkreise zusammenführenden Besetzung der Garant dafür, dass es sich bei dem von ihm geformten Recht, um ein wirklich globales Recht und nicht, um ein an einen bestimmten Kulturkreis gebundenes Recht handelt. Die Tätigkeit des Ausschusses lässt erste Konturen des im Entstehen begriffenen weltlichen globalen Wertesystems erkennen. Gedanken-, Gewissens-, Religions-, Weltanschaungsund Bekenntnisfreiheit sind ein Teil von ihm. Verankert im globalen weltlichen Wertesystem treffen sie sich in ihrer weltumspannenden Dimension mit der in Canon 748 des Gesetzbuchs der Lateinischen Kirche verankerten Freiheit.

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In Österreich bestimmt dies ausdrücklich Artikel 9 Abs 1 B-VG, BGBl 1930/1 idgF.

Fraktale Geometrie und Ekklesiologie – Möglichkeiten und Grenzen einer Analogie Von Georg Fischer I. Erfordernis anschaulicher Beispiele beim Studium des Kirchenrechts Lehrende der Kirchenrechtswissenschaft sind häufig mit einem Phänomen konfrontiert, das als „studentischer Antijuridismus“ bezeichnet werden könnte. Dabei handelt es sich nicht um eine Ablehnung prinzipieller Natur etwa gemäß dem Gegensatz Rechtskirche-Liebeskirche, eher um die Schwierigkeit, juristisches Denken neu kennen zu lernen und dieses in den Gesamtzusammenhang der theologischen Studien und später des kirchlichen und beruflichen Lebens einzuordnen. Von Anfang an ist daher auf den Praxisbezug des Lehrstoffes zu achten und dieser mittels begreiflicher Beispiele aus der kirchenrechtlichen Praxis zu erhellen. Ist es noch relativ leicht, praktische Beispiele etwa in den Bereichen Eherecht, Vermögensrecht und Strafrecht zu finden, so ist die anschauliche Erklärung und Darstellung etwa von theologischen Leitsätzen, die Eingang in den Gesetzestext gefunden haben, umso schwieriger. Wie kann etwa die ursprünglich aus VatII LG 23 stammende Ekklesiologie im c. 368, wonach die eine und einzige katholische Kirche in und aus (in quibus et ex quibus) Teilkirchen besteht, veranschaulicht werden? Es soll hier der Versuch unternommen werden, diese Frage, die nicht nur für die Kirchenrechtswissenschaft, sondern auch für die Dogmatik von Interesse ist, mithilfe einer Analogie aus der nichteuklidischen Geometrie zu beantworten. II. Theologische Deutungen von LG 23 Mit der fast wörtlichen Wiedergabe der Konzilsaussage über das Verhältnis der Teilkirchen1 d. h. einer bestimmten durch den Bischof geleiteten Gemein1 Zum Begriff „Teilkirche“ vgl. Arturo Cattaneo, Art. Teilkirchen, kath., in: LKStKR 3, 2004, S. 666 f.; Hubert Müller, Diözesane und quasidiözesane Teilkirchen, in: HdbKathKR1, S. 329 – 335; Klaus Mörsdorf, Die Autonomie der Teilkirchen und der

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Georg Fischer

schaft von Gläubigen zur Universalkirche d. h. das vom Papst geleitete Volk Gottes in c. 368 macht sich der kirchliche Gesetzgeber die konziliare Ekklesiologie zu eigen und überwindet damit das Kirchenverständnis des CIC/1917, das unter „Kirche“ fast ausschließlich die Universalkirche verstanden hatte.2 Teilkirche(n) und Universalkirche stehen nun auch kirchenrechtlich in einer wechselseitigen Immanenz3: Da die Universalkirche in den Teilkirchen besteht, ist sie in jeder einzelnen Teilkirche gegenwärtig. Die Teilkirche ihrerseits ist angewiesen auf die Gemeinschaft aller Teilkirchen und auf die Eingliederung in die Universalkirche als Verwirklichung der einen Kirche Christi.4 Die Art und Weise dieser Bezogenheit von Universalkirche und Teilkirche ist seither Gegenstand einer lebhaften theologischen und kirchenrechtlichen Diskussion. Es geht insbesondere darum, ob der Universalkirche ein (ontologischer und zeitlicher) Vorrang5 gegenüber den Teilkirchen einzuräumen ist, oder ob beiden eine „Gleichursprünglichkeit“ zukommt.6 Die darzustellende Analogie soll und kann diese Diskussion nicht beenden oder gar entscheiden. Sie kann und soll vielmehr das Ineinander und Miteinander von Teilkirche(n) und Universalkirche bildlich verdeutlichen.

teilkirchlichen Verbände nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: AfkKR 138 (1969), S. 388 – 405; Winfried Aymans, Die Communio Ecclesiarum als Gestaltgesetz der einen Kirche, in: AfkKR 139 (1970), S. 69 – 90; Franz Kalde, Diözesane und quasidiözesane Teilkirchen, in: HdbKathKR2, S. 420 – 425. 2

Vgl. Georg Bier, c. 368, Rdnr. 3, in: MK CIC.

3

Vgl. Cattaneo, Teilkirchen (Anm. 1), S. 667.

4

Vgl. VatII LG 8; Georg Bier, Einl. vor c. 368, Rdnr. 2, in: MK CIC.

5

So die Glaubenskongregation in ihrem Schreiben „Über einige Aspekte der Kirche als Communio“ – „Communionis notio“, in: AAS 85 (1993), S. 838 – 850. Vgl. auch Joseph Ratzinger, L’ecclesiologia della Constitutione „Lumen Gentium“, in: Rino Fisichella (Hrsg.), Il Concilio Vaticano II – Recezione e attualità alla luce di Giubileo, Cinisello Balsamo 2000, S. 66 – 81, ders., The Local Church and the Universal Church, in: America, Vol. 185, Nr. 16 vom 19. November 2001, S. 7 – 11; Markus Graulich, Unterwegs zu einer Theologie des Kirchenrechts – Die Grundlegung des Rechts bei Gottlieb Söhngen (1892 – 1971) und die Konzepte der neueren Kirchenrechtswissenschaft (= KStKR 6), Paderborn u. a. 2006, S. 172 – 175. 6 Vgl. Medard Kehl, Zum jüngsten Disput um das Verhältnis von Universalkirche und Ortskirchen, in: Peter Walter / Klaus Krämer / George Augustin (Hrsg.), Kirche in ökumenischer Perspektive (FS Walter Kasper), Freiburg 2003, S. 81 – 101; Walter Kasper, Zur Theologie und Praxis des bischöflichen Amtes, in: Werner Schreer / Georg Steins (Hrsg.), Auf neue Art Kirche sein (FS Josef Homeyer), München 1999, S. 32 – 48; ders., Das Verhältnis von Universalkirche und Ortskirche, in: StdZ 218 (2000), S. 795 – 804.

Fraktale Geometrie und Ekklesiologie

61

III. Zum philosophischen Begriff der Analogie Ursprünglich ist Analogie ein mathematischer Begriff zur Beschreibung von Zahlenverhältnissen unterschiedlicher Art, der Gleichheit von Differenzen, der Gleichheit von Teilungsverhältnissen oder eine Kombination der beiden Verhältnisse (sog. harmonische Analogie). Dieses mathematische Analogieverständnis wurde durch die Philosophie aufgenommen und weiterentwickelt.7 Auch Aristoteles geht zunächst von der Entsprechung zweier mathematischer Verhältnisse aus und bezeichnet auch das Verhältnis menschlicher Erkenntnisweisen (Leib zu Sehen wie Seele zu Vernunft) als analog. Auch vom Seienden spricht man nach Aristoteles zwar in vielfachem Sinn aber immer in Beziehung auf eines (pros hén) und auf eine Natur, und dies nicht nur als Namensgleichheit. Wie nämlich das Gesunde im Bezug auf die Gesundheit so genannt wird, so wird auch vom Seienden zwar in vielfachem Sinn gesprochen, aber immer in Beziehung auf ein Prinzip.8 Analogie bezeichnet demnach die „Eigenart eines Begriffs, der in der Anwendung auf verschiedene Seiende oder Seinsbereiche einen wesentlichen Sinnwandel erfährt, ohne jedoch die Einheit des Begriffsgehaltes zu verlieren.“9 Die Analogie nimmt folglich eine Mittelstellung zwischen Äquivozität (Mehrdeutigkeit, völlige Sinnverschiedenheit bei bloßer Wortgemeinsamkeit) und Univozität (Eindeutigkeit, keine Sinnverschiedenheit in der Wortbedeutung) ein. Die Elemente der Gemeinsamkeit und der Verschiedenheit, der Ähnlichkeit und der Unähnlichkeit der gemeinten Dinge machen im Begriffsgehalt selbst eine logisch nicht mehr trennbare Einheit aus.10 In den unterschiedlichen logischen Subjekten, den so genannten Analogaten, ist der analoge Gehalt also in je verschiedener Weise vorhanden. Die scholastische Philosophie unterscheidet darüber hinaus zwischen Attributionsanalogie, in der aufgrund einer Abhängigkeitsbeziehung mindestens die Wortbedeutung (äußere Attributionsanalogie) oder sogar der analoge Gehalt (innere Attributionsanalogie) in beiden Analogaten vorhanden ist, und der Proportionalitätsanalogie, in der aufgrund eines Verhältnisses in jedem der Analogate, diese einen in ihnen ähnlich verwirklichten Gehalt betrifft (innere Propor-

7

Vgl. Rudolf Teuwsen, Art. Analogie, Phil., in: LThK3 I, 1993, Sp. 577.

8

Vgl. Aristoteles, Metaphysik IV (ī) cap. 2, 1003 a.

9

Emmerich Coreth, Art. Analogia entis (Analogie), Begriff, in: LThK2 I, 1957, Sp. 468.

10

Vgl. ebd.

62

Georg Fischer

tionalitätsanalogie) oder lediglich eine ähnliche Wirkung beschreibt (äußere Proportionalitätsanalogie, Metapher).11 Auch im folgenden Beispiel geht es nur um die Verhältnisähnlichkeit. Die Analogie zwischen den Analogaten Ekklesiologie und fraktale Geometrie mit deren analogem Gehalt der Selbstähnlichkeit ist daher eine der Proportion, und zwar eine innere (analogia proportionalitatis interna), da der analoge Gehalt in ähnlicher Weise verwirklicht ist.12 IV. Mathematische und natürliche Selbstähnlichkeit Unter Selbstähnlichkeit ist die Eigenschaft von mathematischen (Körper, Mengen, geometrische Figuren) und natürlichen (Küstenlinien, Farne, Blutgefäße, Wolken etc.) Objekten und Phänomenen zu verstehen, die bei Vergrößerung gleiche oder dieselben Strukturen aufzuweisen, d. h. in der Feinstruktur findet sich die Grobstruktur in mindestens ähnlicher Weise wieder. Es wird daher weiters zwischen bloßer Selbstähnlichkeit (ähnliche Strukturen) und exakter bzw. strikter Selbstähnlichkeit (identische Strukturen) unterschieden. Beide Formen kommen in der Mathematik vor, in der Natur nur die normale Selbstähnlichkeit. Darüber hinaus lässt sich bei natürlichen Phänomenen die Vergrößerung nicht bis ins Unendliche fortsetzen, sondern kommt nach einer begrenzten Anzahl von Vergrößerungsschritten zum Ende.13 Einfache euklidische Bespiele für die strikte mathematische Selbstähnlichkeit stellen Würfel und Quadrat dar. In einem Würfel mit der Kantenlänge 1 lassen sich z. B. acht strikt selbstähnliche Würfel der Kantenlänge 1/2 oder 27 Würfel mit der Kantenlänge 1/3 usw., in einem Quadrat vier exakt selbstähnliche Quadrate mit der Kantenlänge 1/2, 16 Quadrate mit der Kantenlänge 1/4 usw. unterbringen. Diese Vorgänge lassen sich prinzipiell bis ins (mathematisch) Unendliche fortsetzen. Auch in der Natur finden sich Beispiele für Selbstähnlichkeit. So lässt sich die Ansicht einer Küstenlinie immer weiter vergrößern: Küstenlinie-Küstenab11

Vgl. ebd., Sp. 496 f.

12

Es geht um mehr als eine bloß bildliche Verdeutlichung, also eine uneigentliche, äußere Proportionsanalogie oder Metapher, wie dies bei den Ausdrücken „Wald von Masten“ oder „lachende Wiese“ der Fall ist. Die Selbstähnlichkeit ist in der Kirche und der Mathematik, wenn auch aufgrund anderer Ursachen in ähnlicher Weise verwirklicht. Zur analogia metaphorica und deren Bedeutung in der Theologie vgl. Graulich, Theologie des Kirchenrechts (Anm. 5), S. 53 f. 13 Vgl. Heinz-Otto Peitgen / Hartmut Jürgens / Dietmar Saupe, Chaos – Bausteine der Ordnung, Berlin / Heidelberg 1994, S. 13.

Fraktale Geometrie und Ekklesiologie

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schnitt-Bucht-Strand-Strandabschnitt. Bei jedem Schritt befindet sich auf der einen Seite das Meer, auf der anderen das Land. Auch Bäume, Berge und Blitze weisen in Aufbau und Struktur (fraktale) Selbstähnlichkeiten auf. Bei allen sind aber nur endliche Vergrößerungsschritte denkbar.14 Für die ekklesiologische Fragestellung lässt sich somit schon festhalten: Analog kommen auch in der Kirche selbstähnliche Strukturen vor. Die Teilkirche ist ähnlich aufgebaut wie die Universalkirche, die Pfarrei ähnlich wie die Teilkirche. Die Kirche in ihrer irdischen, natürlichen Größe, die nach VatII LG 8 zusammen mit dem geheimnisvollen Leib Christi, der geistlichen Gemeinschaft, die mit himmlischen Gaben beschenkt ist, eine einzige komplexe Wirklichkeit bildet, kann aber zumindest in ihrer sichtbaren, empirischen Gestalt in sich keine exakte Selbstähnlichkeit aufweisen, die obendrein noch bis ins Unendliche auffindbar wäre. V. Beispiele für Selbstähnlichkeiten in der fraktalen Geometrie Bei der fraktalen Geometrie handelt es sich um eine nichteuklidische Form der Geometrie, deren Objekte durch Selbstähnlichkeit oder sogar strikte Selbstähnlichkeit gekennzeichnet sind. Im Unterschied zur euklidischen Geometrie, deren Objekte nur ganzzahlige Dimensionen aufweisen (Linie eine Dimension, Fläche zwei, Körper drei Dimensionen, höhere Dimensionen sind berechen- wenn auch schwer für uns vorstellbar), können fraktale Gebilde auch gebrochene (reelle) Dimensionen (daher fraktal, von lat. fractus – gebrochen) annehmen. Der Dimensionsbegriff der fraktalen Geometrie ist daher allgemeiner als der der euklidischen Geometrie.15 Entwickelt wurde er von dem deutschen Mathematiker Felix Hausdorff (1868 – 1942)16, um beliebigen Punktmengen eine Dimension zuordnen zu können (Hausdorff-Dimension).17

14

„Fraktale Selbstähnlichkeit durchzieht die Körper der Organismen, aber es ist nicht die platte homunculusartige Selbstähnlichkeit, die sich die frühere Wissenschaft vorgestellt hatte. Der Körper ist eine Vernetzung von lauter selbstähnlichen Systemen wie den Lungen, den Gefäßsystemen, den Nervensystemen.“ John Briggs / F. David Peat, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaostheorie, Wien 1990, S. 157. 15

Vgl. Peitgen u. a., Chaos (Anm. 13), S. 13 f.

16

Zu Felix Hausdorff und seinem Werk vgl. George G. Lorentz, Das mathematische Werk von Felix Hausdorff. Jahresbericht der DMV 69 (1967), S. 54 (130) – 62 (138). 17

Es handelt sich hier im eigentlichen Sinne um „höhere Mathematik“, deren Einzelheiten den Rahmen dieses Beitrages sprengen würden. Ich verzichte daher bewusst auf die entsprechenden mathematischen Formeln und deren Herleitung und verweise bei weitergehendem Interesse auf die angegebene Literatur.

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Georg Fischer

Ein anschauliches und leichter verständliches Beispiel aus der fraktalen Geometrie ist die eine strikte Selbstähnlichkeit aufweisende so genannte KochKurve18, benannt nach dem schwedischen Mathematiker Helge von Koch (1870 – 1924), mit der Hausdorff-Dimension von 1,26. Sie wird wie folgt gebildet: Aus einer Strecke wird das mittlere Drittel herausgenommen und nach oben „aufgeklappt“, d. h. die Länge der neu entstandene Kurve19 beträgt genau 4/3 der ursprünglichen Kurve bzw. aus jeweils vier im Maßstab 1:3 verkleinerten Kopien der Gesamtkurve.

Dieser Vorgang wird einmal:

und ein zweites Mal wiederholt:

Diese so genannten Iterationen lassen sich unendlich oft wiederholen, was zum Ergebnis hat, dass eine (mathematisch) unendliche Linie (die Koch-Kurve 18

Vgl. Peitgen u. a., Chaos (Anm. 13), S. 518 f.

19

Auch eine gerade Linie kann mathematisch eine Kurve sein.

Fraktale Geometrie und Ekklesiologie

65

wird bei jedem Iterationsschritt um 4/3 länger als vorher)20 eine endliche Fläche begrenzt. Diese faszinierende Eigenschaft der Koch-Kurve wird noch deutlicher am Beispiel der so genannten Koch’schen Schneeflocke, die nicht aus einer Strecke, sondern aus einem gleichseitigen Dreieck gebildet wird. Sowohl die Koch-Kurve als auch die daraus abgeleitete Koch’sche Schneeflocke weisen darüber hinaus die Eigenschaften der Stetigkeit und Nichtdifferenzierbarkeit auf, d. h. es lässt sich an keinem Punkt der Kurve eine Tangente anlegen.

Abbildung 1: Koch’sche Schneeflocke

Das auch populärwissenschaftlich bekannteste Bespiel einer fraktalen Struktur, die selbstähnlich aber nicht exakt selbstähnlich ist, stellt die so genannte Mandelbrot-Menge dar, benannt nach dem Mathematiker Benoît B. Mandelbrot.21 Der mathematische Hintergrund ist buchstäblich komplex22, die graphi20

Die Koch-Kurve lässt sich also immer nur näherungsweise darstellen.

21

Mandelbrot hat seine wichtigsten Erkenntnisse zusammengefasst in: Benoît B. Mandelbrot, Die fraktale Geometrie der Natur, Basel u. a. 1987. 22

Die Mandelbrot-Menge ist eine zusammenhängende Menge von Punkten in der komplexen Ebene. Dabei handelt es sich um die Ebene zur Darstellung komplexer Zahlen. Komplexe Zahlen dienen der Berechnung von Wurzeln negativer Zahlen. Diese werden in der Form a+bi notiert, wobei a als der Realteil, b als der Imaginärteil und i als die imaginäre Einheit (eine nicht-reelle Zahl mit der Eigenschaft i2=-1) bezeichnet wird. In der komplexen Ebene wird der Realteil a auf der x-Achse, der Imaginärteil b auf der y-Achse eingetragen. – Die Mandelbrot-Menge folgt dem Bildungsgesetz zn+1:= zn2 + c (c ist eine Zahl in der komplexen Ebene) und der Anfangsbedingung z0:= 0. Es handelt sich also um eine Folge z1=z02+z0, z2=z12+z0, z3=z22+z0 … Bleibt diese rekursive Folge beginnend bei z0 innerhalb eines Radius von 2 um den Ursprung der komplexen Ebene, dann liegt der Punkt

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Georg Fischer

sche Darstellung – obwohl auf einer sehr einfachen Formel beruhend – ohne Computerhilfe praktisch nicht möglich, weshalb die Mandelbrot-Menge unabhängig von ihrer mathematischen Grundlegung erst in jüngerer Zeit in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit treten konnte. Auch mathematische Laien können zumindest der äußeren Harmonie des vom Computer errechneten und dargestellten Ergebnisses einiges abgewinnen.23

Abbildung 2: Darstellung der Mandelbrot-Menge in der komplexen Ebene

Bei Betrachtung der graphischen Darstellung der Mandelbrot-Menge, die wegen ihrer Form auch den Namen „Apfelmännchen“ trägt, fallen sofort die z0 innerhalb der Mandelbrot-Menge. Wenn die Folge mathematisch gesprochen hingegen divergiert, liegt der Punkt nicht in der Menge. Kürzer gesagt: Die Mandelbrot-Menge M ist die Menge aller komplexen Zahlen c, für welche die Beträge der Folgezahlen z1, z2, z3, … bei der Iteration z Æ z2 + c nicht gegen unendlich streben.Auch die Divergenz und deren Grad lassen sich graphisch darstellen, was meist durch Farben geschieht, Punkte innerhalb der Menge werden für gewöhnlich schwarz wiedergegeben (eine interessante Analogie zu VatII LG 8). Diese Art der Darstellung, die einem abstrakten mathematischen Gebilde ästhetische Schönheit verleiht, hat nicht unerheblich zum öffentlichen Interesse beigetragen. Vgl. Peitgen u. a., Chaos (Anm. 13), S. 355 –367, 431 – 447. Zu den mathematischen Grundlagen und die Möglichkeit von deren computergraphischen Aufarbeitung empfehle ich die Netzseite http://www.katharinen.ingolstadt.de/ chaos/mandel1.htm (25. Februar 2006). 23

„Die Mandelbrot-Menge ist sicherlich das populärste Fraktal und möglicherweise sogar das populärste Objekt der zeitgenössischen Mathematik überhaupt. Manche Leute behaupten, daß sie nicht nur das schönste, sondern auch das komplizierteste Objekt ist, das jemals gesehen wurde, beziehungsweise sichtbar gemacht wurde. … (E)rlaubt die Mandelbrot-Menge einen Einblick in das, was die Mathematiker manchmal als Ästhetik in der Mathematik bezeichnen? Die Antwort auf diese Frage ist natürlich ein eindeutiges ‚Ja‘!“ Peitgen u. a., Chaos (Anm. 13), S. 431 f.

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(nicht strikt) selbstähnlichen Strukturen ins Auge. Aus einer mathematisch sehr einfachen Formel ergibt sich ein graphisch hochkomplexes Muster. Würde man einzelne Ausschnitte vergrößern (etwa die sich am Rand der Kernfigur bildenden Blasen oder Knospen und deren „Unterknospen“), ergäbe sich – leicht verändert – immer wieder die Ursprungsfigur. Ohne die ursprüngliche Formel ist keine der Strukturen denkbar; nur alle Strukturen zusammen verweisen auf die Ursprungsformel. Alle Teilstrukturen widerspiegeln trotz ihrer unterschiedlichen Größe die Gesamtstruktur. Und schließlich ist jeder schwarze Punkt sowohl Teil einer Teilmenge als auch der gesamten Mandelbrot-Menge. VI. Mathematische Selbstähnlichkeit und Struktur der Kirche – Umfang und Grenzen der Übereinstimmung Aus den genannten fraktalgeometrischen Beispielen für Selbstähnlichkeiten lassen sich nun einige entsprechende Parallelen zur Struktur der Kirche ziehen, insbesondere auch zu der konziliaren Lehre über die wechselseitige Bezogenheit von Teil- und Universalkirche, die in c. 368 Bestandteil des kanonischen Rechtes geworden ist.24 Aus einfachsten Anfangsbedingungen (Eizelle-Samenzelle beim Menschen, H2O bei der Wolke, mathematische Folge bei der Mandelbrot-Menge, Ruf zur Nachfolge und Sendung der Apostel durch Christus im Falle der Kirche) entstehen komplexe Strukturen, die durch Selbstähnlichkeit gekennzeichnet sind (z. B. Blutgefäße, selbstähnliche Teilmengen der Mandelbrot-Menge) und wiederum auf ihren Ursprung verweisen und von diesem nicht zu trennen sind. In allen Beispielen sind die selbstähnlichen Strukturen also abhängig vom Ausgangspunkt. Dieser wiederum zieht umgekehrt ein entsprechendes Gesamtbild

24 Die konziliare Lehre wird zwar in c. 368 in das kirchliche Recht übernommen, gerät aber in Spannungen zu anderen rechtlichen Vorgaben des CIC. Zwar ist gemäß c. 113 § 1 i.V.m. c. 368 festzuhalten, dass auch die Teilkirche an sich den Charakter einer moralischen Person hat, also eine Rechtsperson aufgrund göttlicher Anordnung ist. Die Existenz einer konkreten Teilkirche gemäß c. 368 aber ist abhängig von ihrer Errichtung durch die zuständige kirchliche Autorität (vgl. cc. 372, 373), so dass man gemäß c. 113 § 2 und c. 114 § 1 eher von einer juristischen Person sprechen müsste (was c. 373 auch tut), die aufgrund einer bestehenden Rechtsvorschrift Rechtsperson ist. Am ehesten ließen sich beide Aspekte wohl so verbinden, dass der Vorgang der Errichtung einer konkreten Teilkirche kirchlichen Rechtes ist, die errichtete und bestehende Teilkirche aber vom Moment ihrer Errichtung an als moralische Person zu verstehen ist (vgl. c. 373). Zu den Begriffen vgl. Helmuth Pree, Art. Juristische Person, kirchliche, kath. LKStKR 2, 2002, S. 359 ff.; Georg Fischer, Finanzierung der kirchlichen Sendung, (= KStKR 5), Paderborn u. a. 2005, S. 30 f.

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Georg Fischer

nach sich. Insofern ist auch ekklesiologisch von einer „Gleichursprünglichkeit“ von Teilkirche(n) und Universalkirche zu sprechen. Die graphische Darstellung der Mandelbrot-Menge verdeutlicht dies in analoger Weise: Aus der mathematischen Folge entsteht das „Apfelmännchen“ und weist von selbst und gleichzeitig das selbstähnliche Miteinander und Ineinander von Teilmengen und Gesamtmenge auf. Sieht man die Punkte der Menge analog zu den Christgläubigen, die gemäß c. 205 in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen, dann gehören jene als Mitglieder des Gottesvolkes sowohl einer Teilkirche als auch der Universalkirche an, was so auch rechtlich festgelegt ist.25 Jede Teilkirche gibt in ihrem Aufbau gemäß der cc. 369 und 381 auf selbstähnliche, aber nicht strikt selbstähnliche Weise den Aufbau der Universalkirche gemäß der cc. 331, 333 und 334 wieder. Andererseits ist jede Teilkirche in ihrem Leben und ihrer Leitung26 auf das Miteinander aller Teilkirchen in der Universalkirche bezogen, wobei diese wiederum mehr ist als bloß die Summe der Teile. Es sind dies Phänomene, die in analoger Weise auch anhand der graphischen Darstellung der Mandelbrot-Menge verdeutlicht werden können, wobei hier dann das gesamte „Apfelmännchen“ für die Universalkirche und die Knospen für die Teilkirchen stehen. Die Analogie zwischen Ekklesiologie und fraktaler Geometrie hat freilich auch ihre Grenzen. Während bei der fraktalen Geometrie eine unendlich große Anzahl an Iterationen möglich ist und sich damit eine unendlich große Anzahl an selbstähnlichen Strukturen, die nur quantitativ immer kleiner werden, finden lassen kann, gibt es in der Kirche – analog gesprochen – nur eine Vergrößerungsstufe und damit zwei Strukturen, die einander selbstähnlich sind, eben Universalkirche und Teilkirche. Schon die Pfarrei verfügt gegenüber der Teilkirche nur noch über eine „Quasiselbstähnlichkeit.“ Zwar handelt es sich hier wie dort um eine grundsätzlich personal wie territorial bestimmte Anzahl von Gläubigen,27 Pfarreien haben aber nicht den Charakter einer moralischen Person, sondern sind Gegenstand des kirchlichen Rechts und in ihrer Existenz dem Diözesanbischof unterworfen.28 Der wichtigste Unterschied zur Teilkirche aber liegt in der Art und Weise ihrer Leitung. Während der Pfarrer als eigener Hirte der ihm anvertrauten Gemeinschaft von Gläubigen die cura pastoralis unter der Autorität des Diözesanbischofs und somit abhängig von diesem wahrnimmt,29 üben die Vorsteher von Teilkirchen ihren Hirtendienst (munus pastorale) mit 25

Vgl. cc. 204, 205, 209 § 2, 369.

26

Vgl. cc. 330, 336, 335 § 2.

27

Vgl. cc. 372 § 1, 518.

28

Vgl. c. 515 § 2.

29

Vgl. cc. 515 § 1, 519, 523.

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eigenberechtigter Vollmacht (potestas propria) aus.30 Diese kirchenrechtlichen Bestimmungen stehen im Einklang mit den Vorgaben des II. Vatikanischen Konzils, wonach die Pfarreien „in gewisser Weise“ (quoddammodo) die über den ganzen Erdkreis verbreitete sichtbare Kirche darstellen (repraesentant), also nicht wie die Teilkirchen an sich Kirche sind.31 Wie gezeigt ist die katholische Kirche daher ein Gebilde natürlicher und damit endlicher Selbstähnlichkeit, um in der analogen Ausdrucksweise zu verbleiben, sie lässt sich nicht wie ein mathematisches Fraktal in unendlich kleine Einheiten zerlegen. Dennoch kann ein weiterer zentraler Aspekt des Wesens der Kirche gemäß VatII LG 8 mithilfe einer Analogie zu der schon erwähnten Eigenschaft des Fraktals der Koch’schen Schneeflocke trotz deren strikten Selbstähnlichkeit erhellt werden: So, wie in der Kirche göttliche und menschliche Elemente, endliches und unendliches eine einzige komplexe Wirklichkeit eingehen, so verbindet sich in der Koch’schen Schneeflocke eine unendliche Begrenzung mit einer umschlossenen Fläche von endlicher Größe. VII. Schluss Der Begriff der (mathematischen und natürlichen) Selbstähnlichkeit erlaubt es, eine neue Betrachtungsweise in die Diskussion um die Struktur der Kirche zu bringen, bei der zunächst von einer rein theologischen Sprache abgesehen wird und der Kern der Aussage von VatII LG 23 bzw. c. 368, CIC/1983 anschaulich gemacht werden kann. Diese Anschaulichkeit dürfte dem eingangs erwähnten Wunsch nach einer fassbaren Darstellung einer theologischen Aussage und deren Übernahme durch den kirchlichen Gesetzgeber entgegenkommen. Sie soll dazu einladen, innerhalb dieses Modells weitere Analogien zu durchdenken. Freilich kann die hier gezeigte Analogie die Wirklichkeit der Kirche nur begrenzt abbilden und nicht „strikt selbstähnlich“ auf diese übertragen werden. Vielleicht kann sie aber eine Ahnung davon vermitteln, was das Geheimnis der Gestalt der Kirche ausmacht, das so schwer in Worte zu fassen und doch in vielerlei Formen und Formeln um uns längst gegenwärtig ist. Mit der Kirche ist es dann wie mit der fraktalen Geometrie: Manchmal nicht leicht zu verstehen – aber immer schön.

30 31

Vgl. c. 381; Heribert Schmitz, Der Diözesanbischof, in: HdbKathKR2, 433 f.

Vgl. VatII CD 30, SC 42, LG 26 u. 28; Heribert Hallermann, Pfarrei und pfarrliche Seelsorge (= KStKR 4), Paderborn u. a. 2004, S. 71 – 76; Graulich, Theologie des Kirchenrechts (Anm. 5), S. 97.

Der eine Bund Systematische Marginalien zur möglichen kirchenrechtlichen Bedeutung einer theologischen Grundkategorie aus dem jüngeren jüdisch-christlichen Gespräch Von Roman A. Siebenrock Der Einladung, einen Beitrag zu Ehren P. Johannes Mühlsteigers SJ verfassen zu dürfen, bin ich ebenso gern wie ängstlich gefolgt. Zugesagt habe ich ohne Vorbehalt, weil es mir gestattet war, meinen Beitrag auch in einer unausgereiften Form, also in der Überlegungsphase, vorlegen zu dürfen. Zwar mag man „sub specie aeternitatis“ durchaus mit gutem Grund der Meinung sein, dass prinzipiell alle theologischen Beiträge unausgereift sind, weil sie vorläufig und im Angesicht des je größeren Gottes wie Stroh erscheinen. Doch sollte diese allgemeine Feststellung nicht das Urteil aufheben, dass es unter den Bedingungen menschlichen Tuns sehr unterschiedliches „Stroh“ gibt. Deshalb stellt dieser Beitrag im strengen Sinne des Wortes nur eine erste Überlegung dar. Mit Bangen lege ich diese kargen Aphorismen in den reichen Strauß der anderen Beiträge, weil ich genau spüre, dass die arbeitsteilige Entwicklung der Theologie nach dem Konzil es niemandem mehr gestattet, auch nur einen annähernden Überblick über das eigene Fach zu gewinnen, und es deshalb noch viel weniger möglich ist, dass jemand wirklich theologische Kompetenz beanspruchen könnte, umfassend zu den Fragestellungen eines anderen Faches Stellung zu beziehen. Angesichts der informativen, methodischen und konzeptuellen Differenz zwischen den theologischen Fächern wäre es eigentlich nahe liegend, beim eigenen Leisten zu bleiben. Doch dadurch würde die vielbeschworene Einheit der Theologie durch die allen Skrupel fördernde Entwicklung des theologischen Betriebs mehr denn je zu einem reinen Lippenbekenntnis. Wie ist dieser Graben zu überwinden, wenn die genannten Schwierigkeiten ernst genommen werden und nicht als Freibrief für Beliebigkeit oder Selbstabschottung der Fächer missbraucht werden? Als Ausweg sehe ich einerseits das wechselseitige Gespräch in der theologischen Grundlegung des jeweiligen Faches, die nach dem Konzil mit dem Präfix „Fundamental-“ markiert worden ist, andererseits aber auch in der zurückhaltenden Weise, aus dem eigenen Fach heraus ein mögliches Verstehensangebot in

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diesem Kontext für die Grundlagenfrage einer anderen Disziplin zu entwickeln.1 Wenn sich die einzelnen theologischen Disziplinen sich ihres eigenen Grundes besinnen, dann werden sie unversehens in ein gemeinsames Gespräch über die gemeinsame Herkunft verwickelt, der ihrer theologischen Arbeit immer schon voraus liegt. Dieser gemeinsame Grund liegt nicht nur in der Bestimmung der Bezeichnung „Theo-logie“, also Gottrede zu sein, sondern auch in der gesellschaftlichen Verwurzelung in der Kirche und ihrer Sendung hier und heute. Als Gespräch zwischen den Disziplinen auf der Grundlage einer ersten Reflexionsstufe soll daher dieser kleine Beitrag zur Frage der systematischen Grundlegung des Kirchenrechts aus der Vergewisserung der gemeinsamen Herkunft und Verpflichtung verstanden werden. Mein Vorschlag, den ich hier ein wenig erläutern möchte, lässt sich kurz in folgender These zusammenfassen: Nach meiner Ansicht steht die Frage nach der Grundlegung des Kirchenrechts bis heute im Schatten des Werkes von Rudolph Sohm (1841 – 1917), der bereits vor mehr als 100 Jahren beispielhaft die heutige Rechtsverdrossenheit2 auf den Begriff brachte. In seinen Entgegensetzungen kommt nicht nur eine Unterschätzung der Bedeutung der Institution und des Rechtlichen, sondern noch tiefer eine unzulängliche Bestimmung des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium, Thora und Gnade, von Charisma und Institution zum Ausdruck.3 Dieser Gegensatz steht in der Tradition einer unzulänglichen Paulusinterpretation, die eben diesen Gegensatz

1 In dieser Grundlagenbestimmung der Theologie wäre der in Auflösung sich befindenden Fundamentaltheologie, eine Phänomen das euphemistisch Pluralisierung oder Absetzung von der traditionellen Aufgabenstellung der reinen Apologetik sonst genannt wird, eine Aufgabe in der theologischen Erkenntnislehre insofern zugewiesen, als sie nicht nur Quellen und Methoden, sondern auch Grundkategorien entwickeln müsste. 2

Reinhold Sebott, Fundamentalkanonistik. Grund und Grenzen des Kirchenrechts, Frankfurt/M. 1993, S. 11. 3

Siehe: René Pahud de Mortanges, Art. Sohm Rudolph, in: TRE 31, 2000, S. 430 – 334. Sohms These ist zunächst vom Gedanken einer tiefen Tragik durchzogen. Einerseits benötigt die Kirche um zu Überleben des Rechtes, andererseits widerspricht das Recht dem Wesen der Kirche, weil „ecclesia“ ein dogmatisches Werturteil im Blick auf die Qualität einer charismatischen Vereinigung um die Eucharistie beinhaltet. Die Notwendigkeit des Rechtes widerspricht daher der Kirche in ihrem Wesen. Dies gelte nicht nur für die Ausbildung des Katholizismus, sondern auch für die Etablierung der Reformation in den Konsistorien. In seiner späten Zeit erreicht Sohm durch seine Periodisierung der Kirchengeschichte insofern eine Aussöhnung als im ersten Jahrtausend dieser Widerspruch nicht auftrat, weil das Kirchenrecht wesentlich Sakramentenrecht war. Wenn die Fruchtbarkeit seiner Provokation darin besteht, immer wieder nach der Grundlegung des Kirchenrechts radikal zu fragen, so versteht sich auch dieser Beitrag als Tribut an seine Herausforderung.

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theologisch grundgelegt hat.4 Mein Vorschlag besteht nun im Kern darin, die im jüdisch-christlichen Gespräch wachsende Erkenntnis der Einheit des einen Bundes für die Frage nach der Grundlegung des Kirchenrechts aufzunehmen und zu erproben.5 In diesem, seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil mit großer Intensität geführten Dialog wächst die Erkenntnis, dass die Einheit von Offenbarung und Erwählung immer im Zusammenhang mit einer entsprechenden glaubenden Lebensform steht, die zu ihrer eigenen Integrität in diesem Äon der rechtlichen Bestimmung und Orientierung bedarf; – ja dass das Gottesverhältnis, das in er gesamten Heiligen Schrift als Bund ausgedrückt wird, in seiner Primärsprache ohne Rechtskategorien nicht auskommt. Diese Einsicht aber verlangt von uns, die beliebten Entgegensetzungen (die heute mehr nach innen als nach außen vorgetragen werden) hinter uns zu lassen. Ich möchte versuchen einige Hinweise aus der Sicht der systematischen Theologie hierzu in folgenden Schritten vorzulegen.6 Nach meinem kleinen Einblick in die aktuelle Diskussion um die Grundlegung des Kirchenrechts im deutschen Sprachraum möchte ich einen Aufsatz von Karl Rahner zum „Ius divinum“ aufgreifen. Die Weiterführung seines Impulses soll mit der theologischen Ortsbestimmung des Kirchenrechtes nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil versucht werden. Aus dieser Ortsbestimmung werden dann einige Konsequenzen aus der oben in aller Kürze vorgetragenen Grundthese entwickelt. Weil das Konzil von 4

Siehe: K.-H. Menke, Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre, Regensburg 2003, S. 65 – 75. 5

Ein solcher Versuch in erster Kontur hier vorzustellen, scheint mir auch darin seine Berechtigung zu haben, als eine mögliche Bedeutung für das Kirchenrecht und damit für die verbindliche Gestalt des persönlichen und gemeinschaftlichen Christenleben, in einer jüngeren Veröffentlichung, die sich jenen Konsequenzen widmete, die von den wiederentdeckten jüdisch-christlichen Gemeinsamkeiten für die Theologie ausgehen sollten, nicht zur Sprache gekommen ist. Siehe: Peter Hünermann / Thomas Söding, (Hrsg.), Methodische Erneuerungen der Theologie. Konsequenzen der wiederentdeckten jüdisch-christlichen Gemeinsamkeiten (= QD 200), Freiburg / Basel / Wien 2003. 6

Damit möchte ich auch einem lebenslangen Anliegen des Geehrten dienen. Johannes Mühlsteiger hat sich nicht nur historisch mit seinen Arbeiten über die frühkirchlichen Verfassungen, sondern auch systematisch immer wieder intensiv mit der Grundlegung des Kirchenrechts beschäftigt (siehe: Tradition – Wegweisung in die Zukunft. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 75. Geburtstag. Hrsg. Konrad Breitsching / Wilhelm Rees, Berlin 2001; zweiter Teil). Vor kurzem hat er seine langjährigen Studien zur frühchristlichen Kirchenordnung veröffentlichen können (Johannes Mühlsteiger, Kirchenordnungen. Anfänge kirchlicher Rechtsbildung [KStT 50], Berlin 2006). Meine Ausführungen möchten auf jene Rezeption jüdischer Tradition aufmerksam machen, die in allen diesen frühkirchlichen Ordnungen explizit ausgedrückt oder implizit wie selbstverständlich vorausgesetzt werden.

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uns verlangt, das Geheimnis der Kirche eifrig zu erforschen7, scheint es mir an der Zeit zu sein, die Herkunft der Kirche nicht als Gegensatz, sondern als Quelle zu verstehen.8 Daher ist nicht nur nach der Entwicklung zu einem göttlichen Recht in der grundlegenden Zeit der Kirche, sondern auch nach der Vorgabe für die Kirche aus der Bundesgeschichte Israels zu fragen. I. Sohms langer Schatten oder: Recht und Charisma als Folge des Gegensatzes von Evangelium und Gesetz Reinhold Sebott hat seine gesamte Fundamentalkanonistik als Antwort auf die Herausforderung Sohms aufgebaut. Im ersten Teil zeichnet er Weg und These des Kritikers ausführlich nach. Der zweite Teil widmet sich der historischen Auseinandersetzung mit Sohm, während der dritte Teil eine systematische Antwort entwirft, die entscheidend auf einen sakramentalen Kirchenbegriff rekurriert, das Kirchenrecht als liturgisches Recht entwickelt. Bemerkenswert an dieser Grundlegung scheint mir, dass dieser Entwurf ausschließlich auf das Neue Testament rekurriert und das Verhältnis von Jesus zum jüdischen Gesetz relativ kurz abhandelt und es im Modell der Überbietung darstellt. „Vor allem geht Jesus frei mit der Tora um. Dadurch schafft er Recht ab, bewahrt aber doch auch (teilweise) das alte Recht; ja schafft sogar neues! So zieht er etwa seine beiden Hauptgebote aus der Tora, lässt dann aber die anderen Gebote beiseite. Damit zerreißt aber Jesus die Einheit der Tora.“9 Deshalb sei es nach Jesus zur Frage gekommen, welche Normen des Alten Gesetzes auch weiterhin Verbindlichkeit für die Anhängerinnen Christi erheben können. Genüge es nicht, das Liebesgebot zu halten? In Zusammenhang mit der paulinischen Rede von der Freiheit des Christenmenschen gewinnt die unverzichtbare Ordnungsgestalt der Kirche deshalb einen vorläufigen Charakter, weil sie, insbesondere mit dem Verweis auf Röm 8,18 – 21, bleibend unter dem eschatologischen Vorbehalt stehe. Das daraus resultierende paradoxe Ordnungsgefüge der eschatologischen Zwischenzeit habe die Aufgabe, Schöpfung, Sünde und 7

„Mysterium ecclesiae perscrutans“ (VatII NA 4): Mit diesen Worten leitet das Konzil die Erklärung zum Judentum ein. 8

Peter Hünermann hat in seiner Erneuerung der traditionellen theologischen Loci das Judentum als „locus semi proprius“ bezeichnet, das für die Bestimmung der Herkünftigkeit der Kirche von bleibender Bedeutung ist. Die Herkunft der Kirche ist ja nicht so sehr eine historische Frage der Vergangenheit, sondern verweist auf eine bleibend gegenwärtige Struktur (siehe: Peter Hünermann, Dogmatische Prinzipienlehre. Glaube – Überlieferung – Theologie als Sprach- und Wahrheitsgeschehen, Münster 2003). 9

Sebott, Fundamentalkanonistik (Anm. 2), S. 163 f.

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Gnade zusammenzubinden.10 Dieser Vorbehalt stelle das Recht aber in ein kritisches Licht, weil es im Himmel weder kirchliche noch staatliche Autorität und ebenso kein Recht mehr gebe.11 Daher kann Sebott auf dem Hintergrund der exegetischen Untersuchungen von Schürmann die grundlegende These formulieren: „Das Kirchenrecht ist verbal, sakramental und ekklesiologisch verwurzelt.“12 Bei dieser These fällt auf, dass das Kirchenrecht in einer gewissen Diskontinuität zur Christologie entwickelt wird. Könnte es nicht sein, dass in Jesus Christus ein Beziehungsverhältnis zwischen Gott und Mensch zum Ausdruck kommt, das auf Dauer angelegt ist und nicht allein für diesen Äon bestimmt wird? Kann daher in der Kirche nicht auch eine Beziehungsform gelebt werden, die eschatologisch, d.h. auf Dauer hin angelegt ist. Mir scheint, um es schon hier zu sagen, dass das sakramentale Prinzip des Kirchenrechts auf einer Bundestheologie basiert, die keineswegs in jeder Hinsicht als zeitlich eingeschränkt angesehen werden kann. Wäre es nicht hilfreich, die Christologie deutlicher als geschichtliche, personale Konkretion des Bundes Gottes mit den Menschen zu formulieren und so dem neutestamentlichen Begriff der Fülle ohne in die verheerenden Überlegenheitsattitüden des Absolutheitsgedankens zu verfallen?13 Weit ausholend hat Libero Gerosa eine Grundlegung des Kirchenrechtes vorgelegt, die vor allem die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils für diese Zielsetzung zur Geltung bringen möchte. Es ist hier nicht beabsichtigt, die verschiedenen Aspekte seiner Grundlegung zu diskutieren. Insofern wollen meine Anmerkungen ihre Einseitigkeit nicht verbergen. Es scheint mir aber berechtigt zu sein, auf ein ähnliches Manko aufmerksam machen zu dürfen. Gewiss haben die verschiedenen Aspekte des Kirchenrechtes, die hier entfaltet werden, ihre Bedeutung. Doch könnten sie noch stärker auf ihre Wurzel hin

10

Ebd., S. 166.

11

Ebd., S. 166 f.

12

Ebd., S. 167.

13

Joseph Ratzinger hat dazu viele Anstöße gegeben. So vergleicht er z.B. die Form des Bundesschlusses mit Abraham (Gen 15,1 – 21) mit dem Todesschicksal Jesu. „Gott besiegelt den Bund, indem er sich mit einem unmissverständlichen Todessymbol selbst für die Treue verbürgt. … Die christliche Auslegung musste in diesem Text ein geheimnisvolles und vordem undeutbares Zeichen für das Kreuz sehen, in dem Gott mit dem Tod seines Sohnes für die Unzerstörbarkeit des Bundes einsteht und so sich radikal dem Menschen übereignet (Gen 15,1 – 21). Zu Gottes Wesen gehört die Liebe zur Kreatur, und aus diesem Wesen folge die Selbstbindung, die bis ans Kreuz geht. So entsteht in der Sichtweise der Bibel nun gerade doch aus der Unbedingtheit von Gottes Handeln eine wahre Zweiseitigkeit: das Testament wird Bund“ Joseph Ratzinger, Die Vielfalt der Religionen und der Eine Bund (= Urfelder Reihe 1), Bad Tölz, 42005, S. 75.

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befragt werden. Sowohl die Rückführung auf die Gnadenwirklichkeit bei Gottlieb Söhngen, die Eschatologie bei Karl Rahner oder die Ekklesiologie bei Barion können letztlich nicht auf sich selbst stehen. Auch die Aufnahme verschiedener Impulse des Konzils, wie die biblische Kategorie des Reiches Gottes, die Kategorie des Volkes Gottes, die Entfaltung des Inkarnationsprinzips als auch die Bedeutung von Wort und Sakrament werden nicht entschieden genug mit dem Konzil auf ihre Herkunft hin ausgelotet. Ich bestreite auch nicht die schlicht soziologische Notwendigkeit des Rechts oder rechtsphilosophische Überlegungen. Doch können diese genügen? Gerosa entwickelt seine Grundlegung wohl am deutlichsten auf dem Hintergrund der vielzitierten und beschworenen „Communio-Ekklesiologie“ des Konzils, wenn er sagt: „Folglich wird in der Kirche mit dem Begriff „Recht“ nicht das Objekt der Tugend der Gerechtigkeit, sondern das Objekt der „communio Ecclesiae et Ecclesiarum“ definiert.“14 Damit werde vor allem die Differenz zwischen Form und Inhalt überwunden und das Kirchenrecht zu einer zentralen theologischen Disziplin. In Einklang mit dieser Grundlegung hat Péter Erdö eine Theologie des kanonischen Rechts vorgelegt, die einige Facetten zusätzlich anspricht, die in meinen Beobachtungen von Bedeutung sein werden. Erdö rekurriert ausführlich auf die Rechtsvorstellungen Israels und des Alten Bundes; analysiert es aber vor allem unter seinem politischen, d. h. theokratischen und königsrechtlichen Charakter. In seiner Kritik an Sohm kann Erdö zudem herausstellen, dass gewisse jüdische Gemeindeordnungen auch in der jungen christlichen Kirche von Bedeutung, ja formgebend waren. Dies kann er sogar an den Bezeichnungen der Dienstämter in der Gemeinde festhalten.15 Auch in der Kontinuität der christlichen Gemeinde als Volk Gottes und neues Israel kann Erdö hohe Kontinuität festhalten. Dabei ist es bemerkenswert, dass er die entscheidenden Aussagen der Bundestheologie anführt; – aber dabei diese Kategorie nicht verwendet. Auch die an prominenter Stelle angeführte Kategorie der erwählenden Liebe Gottes hätte zu einem ausführlicheren Vermerk16 führen müssen. Einige

14

Libero Gerosa, Das Recht der Kirche (= AMATECA. Lehrbücher zur katholischen Theologie XII), Paderborn 1995, S. 67 (mit positivem Verweis auf E. Corecco). Insofern die „Communio ecclesiarum“ aus der Gnade in Wort, Sakrament und Charisma hervorgeht, verbleibt seine ekklesiologische Verortung des Rechts durchaus im Rahmen der Grundlegung von Sebott, sowie der Münchener Rechtsschule, die vor allem in der Grundlegung von Mörsdorf ihren wegweisenden Ausdruck gefunden hat. 15 Peter Erdö, Theologie des kanonischen Rechts. Ein systematisch-historischer Versuch (= Kirchenrechtliche Bibliothek 1), Münster 1999, S. 89 – 91. 16

Erwähnt wird der Bund nur im Zusammenhang der Rede vom neuen Bund und dem daraus abgeleiteten Begriff des neuen Volk Gottes. Erdö, Theologie (Anm. 15), S. 100.

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Aufmerksamkeit widmet Erdö dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in der werdenden jungen Kirche mit den Rechtsvorstellungen Israels. Vor allem die Didache verdeutlicht diese Struktur.17 Erst nach dem Bruch zwischen Juden und Christen gewinnt das römische Recht in den christlichen Gemeinden einen prägenden Einfluss. Dennoch hält Erdö für unsere Fragestellung fest: „Die Lebensordnung und die Organisationsprinzipien des auserwählten Volkes des Alten Bundes, des Trägers der Offenbarung und einer einzigartigen Heilsberufung, waren im Wesentlichen durch den Bund und das Gesetz festgelegt worden. Das Volk des Neuen Bundes verstand sich als das auf dem Fundament der Apostel aufgebaute neue Israels, als das wahre Israel, an dem sich die Weissagung des Alten Testaments erfüllt. … Die besondere Eigenschaft, das neue auserwählte Volk zu sein, hatte für die Christen von Anfang an eine konkrete, strukturierende Bedeutung. Christus hatte nicht eine bloß zufällige, formlose Gruppe gebildet, sondern etwas Einheitliches mit einer Ordnung, die aus einer Menschenmenge eine Gemeinschaft zu bilden vermag. Als neue, einzigartige Einheit ist diese Gemeinde Zeichen und Instrument des Heils für die Welt.“18 In diesen Ausführungen hat Erdö nicht nur die Frage von Kontinuität sowie Differenz zu Israel benannt, sondern auch eine neue Kategorie der Ekklesiologie hervorgehoben: Zeichen und Instrument des Heils für die Welt. Die Verbindung von Semiotik und Sakramentalität der Kirche ist für die Grundlegung des Kirchenrechts deshalb unverzichtbar, weil es einerseits die Sendung der Kirche und damit ihr Wesen (siehe: VatII LG 1) benennt, andererseits aber mit dem Zeichenbegriff die besondere Aufmerksamkeit auf den Kontext richtet. Ein Zeichen ist immer nur ein Zeichen als Bedeutungssignal in einem bestimmten Kontext. Als solches verlangt das Zeichen Differenz und Gemeinsamkeit, das in wechselnden Zeiten und Kontexten neu gestaltet werden muss. Der Heilsdienst der Kirche prägt damit die Ausgestaltung ihrer institutionellen Verfasstheit und ihrer wesentlichen Vollzüge; und damit auch ihr Recht als Ausgestaltung eben dieser Lebensprinzipien. In dieser Aufgabe wird die Kirche an die Person Christi zurückgebunden und ihr heilsvermittelndes Werk. Damit vergeschichtlicht und konkretisiert Erdö die traditionelle Betonung des inkarnatorischen Prinzips nicht nur, sondern bindet es mit gutem Recht an die Kontinuität der Sendung Christi, die die Kirche in der Geschichte jeweils zu verdeutlichen habe, zurück. Dabei scheint mir, dass die Betonung in diesem Ansatz etwas zu stark auf der Diskontinuität mit Israel beruht. Viele seiner Hinweise und Grundlegungen halte ich für wertvoll und weiterführend. Gerade deshalb darf und muss gefragt werden, ob Bund und Tora nicht stärker innerlich zu-

17

Siehe die Analyse des hier zu Ehrenden: Mühlsteiger, Kirchenordnungen (Anm. 6), S. 69 – 79. 18

Erdö, Theologie (Anm. 15), S. 104.

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sammengehören und die Frage nach der Erwählung und Sendung der Glaubenden nicht deutlicher in eine christologische Verpflichtung integriert werden müsste. Die Sendung Christi aber scheint mir ohne die Bundestheologie nicht zu verstehen zu sein. II. Karl Rahners These vom werdenden „ius divinum“ nach rückwärts gelesen, auf die Frage nach der Herkunft der Kirche Jede Grundlegung des Kirchenrechts widmet sich in einem hohen Maße dem geschichtlichen Werden der Kirche und der in dieser Genese sichtbar werdenden Kirchen- und Gemeindeordnungen. Das daraus resultierende historische Interesse steht nicht nur vor den Anfragen Rudolph Sohms, sondern in noch höherem Maße vor den Anfragen der historischen Wissenschaft. Wie die Einsetzung der Sakramente so hat auch die Frage nach der Grundlegung der Ekklesiologie in der Zeit Jesu mit ähnlichen Problemen zu ringen, wie die historische Vergewisserung des Kirchenrechts. Dabei treten für die kirchenrechtliche Fragestellung vor allem die Amtsfragen in den Vordergrund, d. h. Fragen, die mit der Grundlegung der Institution und ihrer amtlichen Ausgestaltung zusammenhängen. Diesen Problemknoten hat Karl Rahner kurz vor dem Konzil mit einem Zugang zu lösen versucht, der auch seiner Inspirationslehre zu Grunde liegt. Wie in der Inspirationslehre die Integrität zweier Autoren, des menschlichen und des göttlichen selbstverständlich angenommen wird, so ist es auch in der Frage nach einer Begründung des „ius divinum“ nicht notwendig, den menschlichen Faktor auszuschließen – im Gegenteil! Der Begriff des „ius divinum“ besagt nicht notwendigerweise, dass diese Norm unmittelbar durch Jesus Christus und im historischen Sinne durch die Apostel ausdrücklich geworden sein müsste. Vielmehr kann der Begriff besagen, dass darin das Wesen der Kirche als von Gott gewollt und eingerichtet zum Ausdruck komme. Wie in der Inspirationslehre werdende Kirche und Ausbildung des Kanons der Heiligen Schrift sich wechselseitig bedingen und historisch gesehen auch nach dem Tod des letzten Apostels zu verfolgen ist, so darf auch für die Entwicklung des „ius divinum“ ein ähnlicher geschichtlicher Prozess angenommen werden. Auch wenn der Abschluss dieses Prozesses nicht zeitlich genau fixiert zu werden braucht, kann diese Zeit der Grundlegung der gottgewollten Kirchengestalt als „Urkirche“ bezeichnet werden. Diese Grundlegung der Kirche unterscheidet sich von den späteren Zeiten durch ihre bleibend normative Kraft, in der sich jenes Zeugnis der Offenbarung (in Wort, Sakrament und kirchlicher Gestalt) ausbildet, das die spätere Zeit zur Weitergabe und treuen Interpretation verpflichtet. In ihr ist der maßgebliche Anfang, das Prinzip, im strengen Sinne des Wortes die „arche“ gegeben. Diese Entwicklung von freien Ereignissen kann unter allen Bedingungen der menschlichen Geschichte erfolgt sein: Konkurrenz, unausweichliche Entscheidung und Klärung, sowie Unterscheidung von irrigen und zutreffenden Meinungen und Orientierungen. Rahner

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fasst seine These vom evolutiv zu verstehenden „ius divinum“ in der Urkirche wie folgt zusammen: „Auch das göttliche Recht der Kirche ist ein gottmenschliches Recht. Das Leben auch des Rechts und darum auch des gottmenschlichen Rechtes ist eine einbahnige Geschichte, in der (ähnlich wie in der Phylogenese und Ontogenese des Lebendigen) aus einem notwendig pluripotententiellen System durch fortschreitende Determinierung des Zu-verwirklichenden aus der größeren Fülle des Potentiellen die konkrete Gestalt des Rechtes entsteht. Solange dieser Prozeß innerhalb der Urkirche in dem streng theologischen Sinn des Wortes verläuft, kann er durchaus (…) in seinen einzelnen Momenten zur offenbarungsmäßigen Konstitution der Kirche, zur Konstitution ihres Wesens selber freilich aus dem mit Christus und seiner Erlösung gegebenen Wesensgrund heraus gehören. Freiheit und Kontingenz dieser Entwicklungsschritte, die als frei (physisch und moralisch) die Pluralität anderer Möglichkeiten voraussetzen, die also eine solche Pluralität nicht nur zu sehen gestatten, sondern sie fast aufzuspüren gebieten, sind kein Argument gegen ihre Gottgewolltheit, gegen das ius divinum im Ergebnis dieser Entwicklung.“19 Karl Rahner hat mit seinem Aufsatz, das war in seiner Sicht der Dienst des Systematikers für die Fragestellung des Kirchenrechtlers, einen möglichen Begriff des werdenden Kirchenrechts entworfen, der noch nicht selbst die Entscheidung darüber fällt, was nun inhaltlich unter diesen Begriff zu zählen wäre. Dabei scheint mir wichtig zu sein, dass Karl Rahner den Offenbarungsbegriff auf mögliche rechtliche Bestimmungen hin geöffnet hat.20 Dabei ist es nicht notwendig, diesen Offenbarungsprozess mit der ausdrücklichen Offenbarung von Rechtssätzen im formellen Sinne zu in eins zu setzen. Es würde völlig genügen, wenn in diesem Prozess ein neues Leben persönlich-individueller und gemeinschaftlicher Form zum Ausdruck kommt, das sich in ihrer Selbstdeutung auch in Sätzen rechtlicher Art ausdrücken muss. Dieser Frage möchte ich hier nicht weiter nachgehen, sondern versuchen, mit der Intention des Konzils die Frage nach der Entwicklung der Kirche nicht nur in ihrer ersten geschichtlichen Phase zu verfolgen, sondern nach rückwärts zurückzufragen. Das Konzil stellte sich ja in verschiedenen Phasen und Dokumenten in besonderer Weise der Frage, das Geheimnis der Kirche in seiner Herkunft deutlich und sorgfältig zu erforschen. Auch wenn die verschiedenen

19

Karl Rahner, Über den Begriff des „ius divinum“ im katholischen Verständnis (1962), in: Ders., Sämtliche Werke. Bd. 10: Kirche in den Herausforderungen der Zeit. Studien zur Ekklesiologie und zur kirchlichen Existenz. Bearbeitet von Josef Heislbetz / Albert Raffelt, Freiburg / Basel / Wien 2003, S. 605 – 625, hier S. 622. 20

Insofern Rahner in diesem Zusammenhang ausdrücklich von „Rechtssätzen“ (ebd., S. 616) spricht, kann durchaus gefragt werden, ob er nicht für diese Fragestellung Anleihen bei der sonst zurückgewiesenen Vorstellung nimmt, Offenbarung als Offenbarung von Sätzen zu deuten.

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Aussagen des Konzils verschiedene Aspekte in besonderer Weise betonen, kann von einer allgemeinen Tendenz in der Antwort gesprochen werden.21 Es sollte nicht übersehen werden, dass die beiden in Spannung zueinander stehenden Kapitel zwei und drei der Kirchenkonstitution („Über das Volk Gottes“ und „Über die hierarchische Verfassung der Kirche und insbesondere das Bischofsamt“) zuvor im ersten Kapitel über das Mysterium der Kirche verwurzelt werden. Das Geheimnis der Kirche, das im wesentlichen in ihrer geschichtlichen Herkünftigkeit zum Ausdruck kommt, wird dabei in Artikel zwei in einem prägnanten Satz zusammengefasst: „Die aber an Christus glauben, beschloss er in der heiligen Kirche zusammenzurufen, die, schon seit dem Ursprung der Welt vorausgestaltet, in der Geschichte des Volkes Israel und im Alten Bund auf wunderbare Weise vorbereitet, in den letzten Zeiten gegründet, durch die Ausgießung des Geistes offenbart wurde und am Ende der Zeiten in Herrlichkeit vollendet werden wird“ (VatII LG 2). Es lohnt sich dieser konzentrierten Aussage im Zusammenhang des ganzen Artikels etwas nachzugehen.22 Subjekt des Satzes und damit der entscheidend Handlende ist der ewige Vater. Damit bindet das Konzil die Kirche in eine trinitarische Dynamik von vorn herein ein. Die Kirche steht im Dienst seines Heilswillens, der als Teilhabe am göttlichen Leben ausgedrückt wird. Der göttliche Heilswille wird weder durch den Fall Adams ausgelöst noch durch diesen unterbrochen; er liegt aller Sünde als vorausgehende Bestimmung der Treue Gottes zu seiner Schöpfung voraus. Vielmehr bietet Gott allen Menschen stets Hilfen zum Heil im Blick auf Christus an. Deshalb hat die Erwählung in die Kirche nicht zur Konsequenz den Ausschluss vom Heil der anderen. Vielmehr sind alle Menschen auf das Christusereignis durch ihre bleibende Berufung in verschiedener Weise zugeordnet.23 Alle Menschen können daher ihr Heil im Blick auf Christus wirken (VatII LG 16). Geschichtlicher Ausgangspunkt der Kirche in ihrer sichtbaren Gestalt aber ist das Christusereignis. Die besondere Qualität jener, die die Kirche bilden, ist

21 Auch wenn ich hier vor allem die Kirchenkonstitution heranziehe, könnten die einleitenden Artikel oder Abschnitte verschiedenster Dokumente herangezogen werden. Es wäre vor allem auf die verschiedenen Konstitutionen, und hier vorzüglich auf jene über die Offenbarung zu verweisen, aber auch auf das Missionsdekret, das in ausgereifter Form die Sendung der Kirche mit ihrem Wesen und ihrer Herkunft verknüpft. 22

Vgl. Peter Hünermann, Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Hrsg. v. Peter Hünermann / Bernd Jochen Hilberath, Bd. 2, Freiburg / Basel / Wien 2004, S. 263 – 582, hier S. 357 f. 23

Gaudium et spes wird diese Beziehung aller Menschen auf Christus mit der Verbundenheit aller Menschen mit dem Tod und der Auferstehung Christi verdeutlichen (VatII GS 22).

Bund – kirchenrechtliche Bedeutung einer theologischen Grundkategorie

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der Glaube und das durch Gott Zusammengerufensein („convocata“). Diese aber reicht über die Geschichte hinaus, weil sie vom Ursprung der Welt an („ab origine“) vorausgestaltet worden ist („praefigurata“). Mit dem Epheserbrief formuliert das Konzil die Herkunft des Mysteriums der Kirche aus der gnädigen Wahl Gottes vor Erschaffung der Welt. In Zeit und Geschichte jedoch verdankt sich die Kirche der wunderbaren Vorbereitung in der Glaubensgeschichte Israels („praeparata“). Wie sorgfältig das Konzil aber die geschichtliche Gründung der Kirche ausdrückt, kommt in der feinen Differenz zwischen Gründung (hier darf hinzugefügt werden: in der Tat Christi) und ihrer Offenbarwerdung („manifestata“) durch die Ausgießung des Heiligen Geistes zum Ausdruck. Die Kirche erstreckt sich zudem auf Ihr Ziel, auf Ihre Vollendung hin aus. Auch wenn die Kirchenkonstitution den eschatologischen Vorbehalt für alle Institutionen der Kirche in zuvor nicht gekannter Deutlichkeit formuliert (VatII LG 48), gehört nicht alles in der Kirche dem Vergänglichen zu. Vollendung bedeutet immer auch Bewahrung und Erhebung. Wie stark der universale Prozess des Heilswillen Gottes die Ekklesiologie des Konzils bestimmt zeigt sich daran, dass erst in der Vollendung beim Vater alle Gerechten seit Abel in der „universalen Kirche“ zusammengefasst sein werden. Die Kirche, so darf gesagt werden, umfasst daher den gesamten Prozess der Schöpfung von ihrer Herkunft aus Gott bis zu ihrer Vollendung in Gott. Von daher muss von einer gestuften Kirchenwerdung gesprochen werden, der allein der Komplexität der Kirche (VatII LG 8) zu entsprechen vermag. Es wäre verlockend, den verschiedenen Aspekten dieser prägnanten Bestimmung der Ekklesiogenese entfaltend nachzugehen. Doch ist dies hier nicht möglich. Für die Absicht dieses kleinen Beitrags ist es nur nötig, etwas näher der Herkunft der Kirche aus Israel nachzugehen. III. Der eine Bund: „Mysterium Ecclesiae perscrutans“ Die Herkünftigkeit der Kirche aus Gottes Heilsratschluss vor aller Zeit einerseits, und aus der Verheißung an Israel in der Geschichte andererseits hat für die Identitätsbestimmung der Kirche Folgen, die nicht deutlich genug im Kontext neuzeitlicher Identitätsbestimmung erkannt worden sind. Während auf die Frage nach unserer Herkunft die Antwort durchaus mit „ich“ beginnen kann, darf die Kirche als Antwort auf die Frage ihrer Identität nicht mit „ich – die Kirche“ antworten. Wie der erste Satz von Lumen Gentium verdeutlicht, hat die Kirche, wenn sie anfänglich von sich spricht, einen anderen zu nennen: Jesus Christus. Wenn die Kirche „ich“ sagen soll, muss sie „Er – Jesus Christus“ sagen. Wenn sie sagen soll, woher sie komme, muss sie deshalb antworten: „aus dem Heilsratschluss Gottes“. Sie ist in radikaler Weise verdankte Existenz. Diese allem kirchlichen Handeln und Tun vorausgehende, und in diesem Sinne apriorische Bestimmung, wird geschichtlich konkret in ihrem Verhältnis zu Israel. Sie hat sich

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auch geschichtlich als verdankt zu bestimmen: Sie verdankt sich der Erwählung Israels. Immer wenn die Kirche ihr Geheimnis gewissenhaft erforscht („perscrutans“) wird sie an eine andere Wirklichkeit verwiesen: geschichtlich zentral auf Jesus Christus und seine ersten Zeugen und Zeuginnen, geschichtlich herkünftig auf den Glauben und die Verheißung Israels, in ihrem Ziel wiederum auf die Vollendung im Reich des Vaters, das alle Gerechte seit Abel umfasst; – also die Grenzen der geschichtlich-sichtbaren Kirche übersteigt. Bevor ich daraus einige Konsequenzen für die Grundlegung des Kirchenrechts zu ziehen versuche, sei noch kurz an die Verortung des Kirchenrechts in der theologischen Ausbildung nach dem Konzil erinnert. Im Dekret über die priesterliche Ausbildung wird gefordert, dass „bei der Darlegung des kanonischen Rechts und bei der Vermittlung der Kirchengeschichte Rücksicht genommen werden (solle) auf das Mysterium der Kirche, gemäß der dogmatischen Konstitution „Über die Kirche“…“ (VatII OT 16,4). Mit diesem Hinweis ist aber die gesamte Weite jenes Horizontes angesprochen, den ich zuvor kurz skizzieren wollte. Die Kirche soll gewiss Sakrament des Heils der Welt in allen ihren Vollzügen und Institutionen sein und das Recht in der Kirche soll in der Geschichte dieser ihrer Sendung die angemessene Gestalt geben. Angemessen bedeutet dabei: zeit- und wesensgemäß. Das bedeutet, dass sowohl transkulturelle Faktoren und Bestimmungen die Ekklesiologie auszeichnet, als auch kontext- und zeitabhängige Bestimmungen. Kirche muss als die Kirche Jesu Christi im universalen Heilsplan Gottes als das diesem angemessene Zeichen zum Ausdruck kommen können. Kirche muss aber auch als dieses Zeichen verstanden und erkannt werden. Differenz und Kontinuität zeichnet daher die Kirche sowohl nach innen als auch nach außen hin aus. Die verschiedenen Perspektiven und Faktoren scheinen mir nur mit einem entfalteten Begriff des Bundes im Blick auf die Grundfrage dieses kleinen Beitrages so hilfreich entfaltet werden zu können, dass ich es für sinnvoll halte, dem Begriff des Bundes innerhalb der Grundlegung des Kirchenrechtes mehr Aufmerksamkeit zu widmen. IV. Aspekte des Bundes als normative Ausgestaltung des Verhältnisses von Gott und Welt Programmatisch formuliert Johannes Mühlsteiger den Gründungsakt der Kirche: „Nicht promulgatorisches Inkraftsetzen von Gesetzen oder rechtsgeschäftliches Handeln gründet die Kirche, sondern Christi Menschwerdung, die Hingabe seines Lebens und die Sendung des Hl. Geistes bilden die Konstitutivelemente der Kirche.“24 Wenn den Bestimmungen dieses Satzes eine konkrete geschichtliche Anschauung gegeben wird, dann muss der Bundeswirklichkeit 24

Mühlsteiger, Kirchenordnungen (Anm. 6), S. 8.

Bund – kirchenrechtliche Bedeutung einer theologischen Grundkategorie

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ein größeres Gewicht eingeräumt werden. Als Abschluss dieser Marginalien zum Begriff des Bundes als theologisch-systematischer Grundkategorie möchte ich mir erlauben, noch einige Hinweise zu geben, die nirgends den Anspruch erheben, vollständig sein zu wollen. Vielmehr möchte ich damit nur begründen, dass es sich lohnen könnte, den Begriff einmal kirchenrechtlich zu erproben. Die Frage des Rechts stellt sich immer als Frage der Normativität und des verpflichtenden Sollens. In der populären Diskussion wird vorgegebene Norm und Sollen als Gegensatz zu Autonomie und Freiheit gesehen und deshalb mit Berufung auf Kant als Heteronomie einem sittlichen und freien Wesen unzumutbar zurückgewiesen. In der Theologie hat sich dieses Verständnis an der Beziehung von Gesetz und Evangelium im Kontext der paulinischen Freiheitsrede festgemacht. Die jüngere Paulusforschung hat aber nun herausgearbeitet, dass dieses Verständnis unzureichend und vor allem dem theologischen Gehalt der Tora im Alten Bund nicht gerecht wird. Es wurde vor allem auf die Tiefenbeziehung zwischen Paulus und der Theologie des Deuteronomiums verwiesen.25 Die wichtigsten Ergebnisse seien hier in etwa referiert. Sowohl Dtn 7,6 – 8 als auch Röm 9,4 relativieren alle ethischen Handlungen auf die Beziehung Jahwes zu Israel, als auf den Bund, den Gott selbst in freier Gnade gestiftet hat. Wenn Paulus die Gnade allein rühmt (Röm 2,28 f.), bezieht er sich ausdrücklich auf den grandiosen Schluss des Deuteronomiums (30,6). „Der Toragehorsam ist die von der Gnade ermöglichte Antwort.“26 Nach Merklein hält Paulus ausdrücklich am soteriologischen Prinzip des Gesetzes fest, das auf dem Tun beruht.27 Deshalb kann das Tun der Tora als solches nicht als Sünde bezeichnet werden. Sie erweist sich für jeden, der sie im Sinne des Bundes erfüllt, als Gnade. Ihre Pervertierung liegt darin, dass sie nicht mehr als Ausdruck der Beziehung zum gnädigen Gott erfasst wird, sondern zur Selbstrechtfertigung dient. Wenn die peinliche Einhaltung so verwendet wird, dann richtet sich das Gesetz gegen diese und entlarvt solches als Sünde. Hier spricht Paulus vom „Fluch des Gesetzes“. Nicht das Gesetz als solches, sondern dessen Missbrauch wird gebrandmarkt. Wenn er das Wissen um die Tora rühmt, dann rühmt er darin Gott. Erst wenn er dieses zu Selbstruhm pervertiert, dann ist es zu kritisieren. Das bedeutet aber, dass die Tora in die angemessene Bundesbeziehung des Menschen zu Gott gehört und darin bleibende Bedeutung hat, weil es Ermöglichung des Glaubens ist. Der Glaube Abrahams war darin vorbildlich als sein 25

Eine Zusammenfassung bei: Menke, Kriterium des Christseins (Anm. 4), S. 65 – 75. Neben Georg Brauliks Arbeiten zum Deuteronomiums und Erich Zengers Theologie des Ersten Testaments, verweist Menke vor allem auf die Arbeiten des Neutestamentlers Helmut Merklein. 26

Menke, Kriterium des Christseins (Anm. 4), S. 68.

27

Helmut Merklein, Studien zu Jesus und Paulus, Bd. II, Tübingen 1998, S. 69.

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Glaube an die von Jahwe geschenkte Gerechtigkeit, die ihren Ausdruck in der Treue zur Tora gefunden hat. Die Gerechtigkeit, die in Christus geschenkt wird, eröffnet diesen Glauben Abrahams für alle Menschen. Von diesen, gewiss allzu kurzen Hinweisen, ergeben sich aber für unser Thema bereits einige wichtige Folgerungen. Die Erwählung Israels in der Theologie des Bundes ist unlöslich mit der Gabe der Tora und der Verpflichtung auf den Toragehorsam verbunden. Dieser Toragehorsam als solcher ist nicht Werkgerechtigkeit und Sünde, sondern geschichtlich-konkrete Gestalt der Gnade; auch in seinen rechtlichen und normierenden Aspekten.28 Da in der Tora die Welt selbst und der Mensch erschaffen worden ist, führt der Lebensgehorsam im Sinne der Tora zu einem schöpfungsgemäßen Leben, in der das eigene Tun und der Wille Gottes mit der ganzen Welt zusammengeführt wird. Erwählung und Gnade schließen Verpflichtung und Lebensgestalt mit ein, die immer auch in rechtlich verbindlichen Formen ausgedrückt werden müssen. Wenn diese grundlegende Theologie des Bundes auf die personale Verdichtung und Vollendung des Bundes in Jesus Christus übertragen wird, dann bedeutet die Rede von der Gnade und der Freiheit der Kinder Gottes immer auch die Verpflichtung zur Christusnachfolge und zu einem Leben in und mit Christus. Daher wäre als zentrale Aufgabe des Kirchenrechts nicht ein Institutionenrecht herauszuarbeiten, sondern die Qualität der Beziehungen, wie sie sich in den grundlegenden kirchlichen Vollzügen von Wort und Sakrament abzeichnet, herauszustellen.29 Wie ist aber das Phänomen „verdankter Existenz“ rechtlich zu gestalten, dass es auch in den Vollzügen einer sich entwickelnden, lebendigen Gemeinschaft zum Ausdruck zu kommen vermag? Sohms Gegensatz siedelt die Frage innerhalb neuzeitlicher Identitätsbestimmung an, wenn er die pneumatische Anarchie und die Rechtskirche in Gegensatz bringt. Das erscheint mir aber als unzureichend. In Unterscheidung dazu ist vielmehr die Aufgabe gestellt: Sein vom anderen her, als geschöpfliche und erlöste Existenz zu formulieren und zu gestalten. Das bedeutet aber unter den Bedingungen

28

Zu den verschiedenen Aspekten dieser Ausführungen in der jüdischen Tradition siehe. J. Maier, Judentum von A bis Z. Glauben, Geschichte, Kultur, Freiburg / Basel / Wien 2001. 29

In dieser Weise könnte die Differenz zwischen einer „Communio-Ekklesiologie“ und ihrer rechtlichen Ausgestaltung überbrückt werden (siehe hierzu: Medard Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie. Würzburg 31994, S. 376; Bernd Jochen Hilberath, Katholische Communio-Einheit der Kirche(n) – Vision ohne Modell?, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Hrsg. v. Peter Hünermann / Bernd Jochen Hilberath, Bd. 5: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils: Theologische Zusammenschau und Perspektiven, Freiburg / Basel / Wien 2005, S. 210 – 228).

Bund – kirchenrechtliche Bedeutung einer theologischen Grundkategorie

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dieser Geschichte, eine verbindliche Lebensgestalt auszuformen, die als Zeichen wirklich erkannt zu werden vermag. Insofern ist die Entgegensetzung einer Rechts- und einer Liebeskirche, bzw. eine pneumatisch spontanen Kirchenausbildung von Sohm eine typische Illusion des 19. Jahrhunderts. Auch der Gebrauch des Pneumatischen und Charismatischen kann pervertiert werden, so wie das Evangelium als schlechtes Gesetz missbraucht werden kann. Dem Kirchenrecht wäre daher die Ausarbeitung eines Rahmens aufgegeben, in dem eine heute zeitgemäße Gestalt des Zeugnisses des Evangeliums zum Ausdruck kommen könnte. Vielleicht wären dabei die Anstöße des Konzils in jenem Sinne weiterzuführen, als sich in einer solchen Ausbildung eines Rechtes einer universalen Kirche, auch zukunftsfähige Formen globalen Zusammenlebens abzeichnen könnten. In der Berufung Abrahams liegt eine Verheißung für alle Völker, weil die Kinder Abrahams ein Segen für alle sein sollen (Gen 12,3). Im Unterschied zur Rechtstradition Israels, die das Verhältnis nach außen auch aus der Erfahrung einer leidvollen Geschichte immer restriktiv im Sinne der Abwehr der Bedrohung herausgearbeitet hat, müsste eine Weltkirche sich durch die derzeitige Situation zum Versuch inspirieren lassen, globale Lebensformen innerhalb der Kirche als Zeichen für die Welt zu entwickeln. Gerade die aktuelle Globalisierungskritik beruht wesentlich darauf, dass faktisch kein Weltrecht entwickelt worden ist, in der Gerechtigkeit und Frieden Leitwerte darstellen. Andererseits ist dabei zu beachten, dass die Bundestheologie nicht mit einer Theokratie politischer Art in notwendigem Zusammenhang stehen muss. Die Unterscheidung zwischen Kaiser und Gott, bzw. geistlicher und weltlicher Herrschaft, die sich der Differenzziehung Jesu verdankt, und in der paulinischen Unterscheidung wirksam wird, darf nicht unterlaufen werden. Deshalb stellt sich die Frage nach der Wirkungsweise der Lebensnorm immer als Anruf an die vorausgehende Freiheit des Menschen.30 Kirchliches Recht setzt einen umfassenden Glaubensbegriff voraus, der nicht nur mit Pluralität nach außen (und in anderer Weise nach innen) rechnet, sondern auch diesen fordert und fördert.31 Nach außen fordert der Glaubensbegriff des Konzils Pluralität, weil

30 Gerosa (Das Recht der Kirche [Anm. 14], S. 45 – 50) hat die Religionsfreiheit als Legitimationsprinzip des kirchlichen Rechts mit Blick auf die konziliare Erklärung zur Religionsfreiheit („Dignitatis humanae“) ausgearbeitet. 31 In dieser Hinsicht, nämlich in der Überwindung einer Landtheologie, dürfte soziologisch und politisch die entscheidende Differenz zum traditionellen Verständnis der Tora angesiedelt werden. Das Landkonzept des alten Bundes beinhaltete, die vollständige Einhaltung der Tora im heiligen Land. Das aber implizierte den Ausschluss des Fremdkultes. Wie stark diese Landtheologie auf die Schwierigkeiten der Kirche mit der Religionsfreiheit einwirkte, sollte nicht außer Acht bleiben (siehe: Roman Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit Dignitatis hmanae, in: Herders Theologi-

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Glaube auf freier Entscheidung basiert und nur in Freiheit vollzogen werden kann. Nach innen fördert er Pluralität, weil die verschiedenen Glaubensbiographien immer unterschiedliche Aspekte der gemeinsamen Gottesgeschichte artikulieren und verdeutlichen. Mit dem Blick auf die Tora stellt sich auch rechtsphilosophisch die Frage, ob Recht immer nur infralapsarisch verstanden werden müsse. Buchstabiert Recht immer nur das Vorläufige, zu Überwindende, das Unerlöste? Es soll nicht bestritten werden, dass Recht immer mit Gefährdung des Lebens zu tun hat. Wäre es nicht auch möglich, Recht als Ausdruck des eschatologisch bleibenden Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen anzusehen; z. B. in der „Pflicht“ Gott zu loben und zu preisen? Ist die Toraauslegung Jesus nur von vorübergehenden Bedeutung mit seinem Ruf: Liebe Gott und Deinen Nächsten wie Dich selbst? Könnte darin auch eine Beziehung zum Ausdruck kommen, die es wert wäre, ewig zu währen? Wenn das Kirchenrecht sich stark aus der liturgischen und sakramentalen Tradition nährt, dann kommt in ihm auch ein bleibendes Verhältnis zu Gott zum Ausdruck. Zum Schluss noch eine kleine Erinnerung: Mit der Kategorie des Bundes soll hier nicht eine einfache Kontinuitätsthese im Verhältnis der Testamente behauptet werden, oder die verschiedenen Aspekte des Rechts in der Kirche ausgeblendet werden. Aber mir scheint dass die vorherrschende Differenzhermeneutik sehr oft zu Abwertungen des einen Bundes geführt hat. Es wäre sicherlich an der Zeit, die tiefe Gemeinsamkeit zu erkunden; – für das Kirchenrecht, wie es mir scheint, mit einigem Gewinn, nicht nur in der theologischen Theoriebildung. Warum sollte die „Romana rota“ nicht zu einem Zentrum des jüdisch-christlichen Dialogs werden, das für beide Seiten kritisch-fruchtbar zu werden vermag?

scher Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Hrsg. v. Peter Hünermann / Bernd Jochen Hilberath, Bd. 4, Freiburg / Basel / Wien 2005, S. 125 – 218.

Kirchenrecht und Pastoraltheologie „unter einem Dach“ Überlegungen zur Zusammenarbeit beider Fächer unter praktisch-theologischer Perspektive Von Thomas H. Böhm I. Was es aufzugreifen gilt – Ausgangslage und Fragestellung Das ehemalige Institut für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck, dessen Lehrstuhl Pater Johannes Mühlsteiger vom 1. September 1970 bis zum 30. September 1994 innehatte,1 ist seit 24. Juni 1999 – zunächst als Abteilung, inzwischen als Fach bzw. Fachbereich – Teil des Instituts für Praktische Theologie. Im Zuge der Umsetzung des österreichischen Universitätsorganisationsgesetzes aus dem Jahr 1993 entschied sich der neue Lehrstuhlinhaber Wilhelm Rees, sich mit den Fächern Pastoraltheologie und Katechetik/Religionspädagogik und Fachdidaktik zu einem gemeinsamen Institut zusammenzuschließen.2 1. Vom Gestern zum Heute – Rückblick und aktuelle Situation Das Zusammengehen der drei Fächer an der theologischen Fakultät Innsbruck kann an historische Gegebenheiten anschließen. Etwa zeigt sich, dass die Fächer Kirchenrecht und Pastoraltheologie in den vergangenen Jahrhunderten gelegentlich von Lehrenden gemeinsam betreut wurden. So war „in den Jahren 1882 und 1890 [...] Josef Biederlack als Dozent für Kirchenrecht sowie für

1

Vgl. Wilhelm Rees, Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Innsbruck. Kirchenrechtler und Selbstverständnis des Faches in Vergangenheit und Gegenwart, in: Konrad Breitsching / Wilhelm Rees (Hrsg.), Tradition – Wegweisung für die Zukunft – FS Johannes Mühlsteiger (KStT ), Berlin 2001, S. 317 – 341, hier S. 317. 2

Vgl. Rees, Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Innsbruck (Anm. 1), S. 317; ders., Karl Rahner und das Kirchenrecht, in: Ulrich Kaiser / Ronny Raith / Peter Stockmann (Hrsg.), Salus animarum suprema lex – FS Max Hopfner (Adnotationes in ius canonicum 38), Frankfurt a. M. 2006, S. 359 – 398, hier S. 361.

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Moral- und Pastoraltheologie an der Fakultät tätig, im Jahre 1910 Max Führich als Dozent für Moral- und Pastoraltheologie, philosophische Einleitungswissenschaften und kanonisches Recht sowie in den Jahren 1916 bis 1920 als Extraordinarius für kanonisches Recht“3. Zudem führte der Umstand, dass in Innsbruck Kirchenrecht sowohl an der Juristischen als auch an der Theologischen Fakultät gelehrt wurde, dazu, dass sich das Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät – bis zur Berufung von P. Johannes Mühlsteiger, der „die praktische Seite des Kirchenrechts mit der Rechtsgeschichte“4 verband – v. a. den praktischen Aspekten des Faches zuwendete. Damit ergaben sich auch hier Berührungspunkte des Kirchenrechts an der Theologischen Fakultät zu einer – damals sicherlich anders, nämlich eher als Lehre von den Aufgaben des geweihten Seelsorgers verstandenen – Pastoraltheologie. Und diese waren – so kann man vermuten, wenn man Pastoraltheologie eben im genannten älteren Sinne versteht – u. U. sogar relativ eng. Der eigene Lehrstuhl für Katechetik/Religionspädagogik und Fachdidaktik entstand erst durch „Trennung“ von der Pastoraltheologie in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Blickt man in der Zeit seit der Zusammenlegung der alten einzelnen Institute auf das neue Institut für Praktische Theologie, so kann man – meiner Wahrnehmung nach – feststellen, dass sich die Kommunikation zwischen den drei Fächern auf unterschiedlichem Niveau bewegt. Während der Hauptfokus der Forschung – auch verstärkt durch zentrale universitäre Vorgaben – sich in der Zusammenarbeit von Pastoraltheologie und Katechetik/Religionspädagogik und Fachdidaktik unter dem Dach der „Kommunikativen Theologie“ zeigt, gibt es zwar Berührungspunkte der anderen beiden Fächer bzw. Fachbereiche zum Kirchenrecht – etwa durch gemeinsame Lehrveranstaltungen oder durch die gemeinsame Mitarbeit am Forschungsprojekt „Kirche und Synagoge“. Die kontinuierliche und selbstverständliche Kooperation in Forschung und Lehre ist aber nicht im gleichen Maße selbstverständlich wie zwischen den anderen beiden Fächern bzw. Fachbereichen. Selbstkritisch muss ich hier auch anmerken, dass die eine Zeit lang gemeinsam mit Konrad Breitsching – Assistent im Fach Kirchenrecht – geleitete Lehrveranstaltung „Wissenschaftliches Arbeiten in der Praktischen Theologie“ für Diplomandinnen und Diplomanden in den fachmethodischen Teilen mehr oder weniger aus einem losen Nebeneinander der Ansätze des Kirchenrechts und der beiden anderen am Institut vertretenen Fächer bestand.5

3

Rees, Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Innsbruck (Anm. 1), S. 322.

4

Rees, Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Innsbruck (Anm. 1), S. 323 f.

5

Hier ist anzumerken, dass Konrad Breitsching die Lehrveranstaltung inzwischen allein leitet und sich in umfassender und beeindruckender Weise in pastoraltheologische

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2. Impulse für eine weiterführende Diskussion – Aufgabenstellung und Grenzen des vorliegenden Beitrags Der hier vorliegende Beitrag für die Festschrift zum 80. Geburtstag von P. Johannes Mühlsteiger will sich der Herausforderung stellen, die sich in Innsbruck aus der Präsenz des Kirchenrechts am Institut für Praktische Theologie ergibt. Er greift dazu einerseits auf, was Wilhelm Rees aus kirchenrechtlicher Perspektive anlässlich des 75. Geburtstags von P. Johannes Mühlsteiger und im Umfeld der Zusammenlegung der Institute zum Verhältnis von Kanonistik und Praktischer Theologie festhält. Er nimmt andererseits das aus der kirchenrechtlichen Sicht zum Verständnis der Kanonistik als praktisch-theologisches Fach Gesagte auf und ergänzt und erweitert es um die pastoraltheologische6 Perspektive auf das Kirchenrecht. Diese Zusammenschau der beiden Fächer unter dem Dach der Praktischen Theologie aus pastoraltheologischer Perspektive kann dabei nicht aufarbeiten, was – meinem Eindruck nach – in den vergangenen Jahren zu wenig geschehen ist. So kann dieser Artikel in seiner Kürze und in seiner beschränkten Wahrnehmung nur ein Impuls sein, eine wichtige Diskussion und Standortbestimmung zur Klärung des grundsätzlichen Verhältnisses der beiden Fächer zueinander fortzusetzen. Ich gehe nun in folgenden Schritten vor: Nach einer Charakterisierung der beiden Fächer Kirchenrecht und Pastoraltheologie (II.), beleuchte ich das Zueinander der beiden theologischen Disziplinen unter dem Dach der Praktischen Theologie (III.). Abschließend deute ich kurz an, an welchen konkreten Themen und Aufgabenfeldern sich diese Zusammenarbeit u. a. bewähren könnte (IV.).

sowie katechetisch-religionspädagogische Methoden und Ansätze eingearbeitet hat. Das von Konrad Breitsching erarbeitete umfangreiche Skriptum zur Lehrveranstaltung findet sich unter: http://praktheol.uibk.ac.at/breitsching/mlehre/waidprakth.pdf (3.3.2006). 6

Die Bezeichnung des Faches Pastoraltheologie ist umstritten. Zum Beispiel verwendet das in den Jahren 1999 und 2000 von Herbert Haslinger herausgegebene Handbuch durchgehend die Bezeichnung „Praktische Theologie“. Ich verwendet in diesem, hier vorliegenden Beitrag bewusst die Bezeichnung „Pastoraltheologie“, um Verwechslungen mit der hier als Überbegriff verwendeten Bezeichnung „Praktische Theologie“ zu vermeiden. Die grundsätzliche Unschärfe, die sich aus den Begriffen und ihrer Verwendung ergibt, lässt sich in der Kürze des hier vorliegenden Beitrags nicht auflösen.

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II. Die beiden Fächer „nebeneinander“ – Konturen des jeweiligen Selbstverständnisses Ich entwerfe im folgenden Abschnitt kurze Charakteristiken der beiden Fächer Kirchenrecht und Pastoraltheologie, wie sie sich für mich in einer groben Kontur aufgrund des Blickes in einschlägige Einführungen und Handbücher darstellen. Dabei geht es nicht um jeweils vollständige Beschreibungen der beiden Fächer, sondern um eine knappe Darstellung wesentlicher Elemente des aktuellen Selbstverständnisses. 1. Eine Art „Schnittstellen-Fach“ – der Blick auf das Kirchenrecht a) Das Kirchenrecht zwischen Recht und Theologie Wie sich bereits oben im kurzen Rückblick auf die Entwicklung des Faches andeutet, muss das Kirchenrecht sowohl von seiner juristischen als auch von seiner theologischen Seite betrachtet und definiert werden. Es ist – wie Sabine Demel pointiert anmerkt – „im Schnittfeld von Theologie und Recht angesiedelt“7. Auf der einen Seite ist demnach wichtig, dass die Kanonistik „zugleich Rechtswissenschaft, wie die weltliche Rechtswissenschaft“8 ist. Sie bedient sich – in ihren einzelnen Zweigen Rechtsgeschichte, Rechtsdogmatik und Rechtstheorie – nicht nur theologischer Methoden, sondern verwendet Fragestellungen und Ansätze, die sie aus der Rechtswissenschaft (mit ihren einzelnen Fächern) übernimmt. Das Kirchenrecht hat – hier zeigt sich die gemeinsame geschichtliche Entwicklung der beiden Disziplinen – in der Rechtswissenschaft „die Formen des juristischen Denkens gesucht und im kirchlichen Bereich zu fruchtbarer Entfaltung gebracht“9. Geht es im Kirchenrecht – zunächst in allgemeiner Form – um den Aufbau und das Leben der Kirche, dann „hat das Kirchenrecht die Aufgabe, dadurch dem Aufbau und dem Leben der Kirche zu dienen, daß es für Frieden und Freiheit in der Kirche sorgt. Friede und Freiheit

7

Sabine Demel, Kirchenrecht für Frieden und Freiheit der und in der kirchlichen Gemeinschaft, in: Georg Kraus (Hrsg.), Theologie in der Universität. Wissenschaft – Kirche – Gesellschaft (Bamberger Theologische Studien 10), Frankfurt a. M. 1998, S. 209 – 224, hier S. 211. 8

Richard Puza, Katholisches Kirchenrecht, 2., überarbeitete Auflage, Heidelberg 1993, S. 24. 9

Puza, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 8), S. 24.

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zu gewährleisten, ist eine typisch rechtliche Aufgabe.“10 Unter dem Aspekt des Kirchenrechts als Rechtswissenschaft kommen dabei der Kanonistik spezifisch rechtliche Aufgaben zu. Demnach muss es „die Lebenswirklichkeit der Kirche auf ihre Rechtserheblichkeit hin untersuchen, entsprechende allgemeingültige Normen festlegen und diese wiederum an der Lebenswirklichkeit überprüfen und entsprechend abändern bzw. ergänzen“11. Auf der anderen Seite ist die Kanonistik trotzdem keine reine Rechtswissenschaft, sondern – wenn man zunächst grundsätzlich berücksichtigt, dass bei ihr der rechtliche Ansatz wichtig ist12 – „eine theologische Disziplin mit juristischer Methode“13. Das Kirchenrecht kommt an der Fragestellung nach dem Wesen der Kirche, der es letztlich dient, nicht vorbei. Es braucht – denn es setzt, wie Klaus Mörsdorf festhält, „das theologische Verständnis vom Wesen der Kirche voraus, baut darauf auf und ist, wenn man es in seiner ekklesiologischen Funktion richtig begreift, in den Grundfragen der kirchlichen Verfassung nicht weniger theologisch als eine Aussage, die sich als lehrhafte Darlegung des Glaubens versteht“14 – die Orientierung an der Theologie insgesamt bzw. insbesondere an den theologischen Nachbardisziplinen. 15 Eben so gewährt es mit seiner Achtsamkeit für die rechtliche Verfasstheit des Volkes Gottes dessen konkretes Ausgerichtet-Sein auf das Heil Gottes, das die Kirche vermittelt. „Das Kirchenrecht ist die rechtliche Struktur des Heilsgeheimnisses Kirche“16, es hat damit keinen rein juristischen Charakter. Es hat seine wesentliche theologische Aufgabe in der Heilsvermittlung der Kirche, die auch vom Kirchenrecht gewährleistet werden soll. „Das Kirchenrecht steht im Dienste der Verbindung des Menschen mit Gott und der Kirche; es partizipiert zu seinem Teil an dem Ziel der Kirche, Zeichen der Gottesherrschaft und Werkzeug des Heils für die gesamte Menschheit zu sein.“17 So – „im Dienste des Heilsauftrages der Kirche in der Welt“18 – strukturiert es das Leben der Kirche und hat dabei – im 10

Demel, Kirchenrecht für Frieden und Freiheit (Anm. 7), S. 211.

11

Demel, Kirchenrecht für Frieden und Freiheit (Anm. 7), S. 211.

12

Vgl. Puza, Katholisches Kirchenrecht (Anm.), S. 64.

13 Puza, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 8), S. 64 (im Original gesamter Text hervorgehoben). 14

Klaus Mörsdorf, Kommentar zu „Christus Dominus“, in: LThK.E 2 (= LThK2 13), S. 148 – 247, hier S. 148. 15

Vgl. Richard Puza, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 8), S. 64.

16

Georg May / Anna Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, Regensburg 1986, S. 19. 17

May / Egler, Einführung (Anm. 16), S. 19.

18

Demel, Kirchenrecht für Frieden und Freiheit (Anm. 7), S. 210.

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Gegensatz zur Rechtswissenschaft – nicht nur die Gegenwart, sondern auch noch die von Gott verheißene Zukunft im Blick. Es dient demnach „dem Heil der Menschen in seiner doppelten Perspektive, in der Gegenwart und in der (eschatologischen) Zukunft“19. Die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Lumen Gentium hält fest: „Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft und der geheimnisvolle Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei verschiedene Größen zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8). Nimmt man diese Aussage ernst, dann ist das Kirchenrecht das Recht „einer die irdische Wirklichkeit zwar erfassenden, sie aber zugleich transzendierenden und von daher in ihrer Wesensart bestimmten Gemeinschaft“20. Die Kanonistik hat so zwar Anteil an der Rechtswissenschaft, kann jedoch umgekehrt nicht auf diese reduziert werden. Sie ist zugleich Fach der Theologie und hat damit – wie die Theologie insgesamt – die Aufgabe, „unter verschiedenen Aspekten die Wahrheit der göttlichen Offenbarung nicht nur im Glauben anzunehmen, sondern mit den Mitteln der Vernunft stets tiefer zu erkennen, zu durchdringen und für das Leben der Kirche wie auch in der Kirche entsprechend zu konkretisieren“21. Diese theologische Dimension des Kirchenrechts wird wohl Papst Paul VI. im Jahr 1970 vor Augen gehabt haben, wenn er mit Blick auf das Zweite Vatikanische Konzil die Kanonisten auffordert, „tiefer in der Heiligen Schrift und in der Theologie die Gründe [...] der eigenen Lehre zu suchen“22. Das Ineinander von Rechtswissenschaft und Theologie, das im Kirchenrecht anzutreffen ist, hat auch Konsequenzen für das methodische Vorgehen des Faches, das nicht einfach die Methoden beider Disziplinen nebeneinander stellen darf. Vielmehr ist „die theologische Methode [...] mit der rechtswissenschaftlichen Methode zu verbinden, wobei zugleich die theologische Methode durch die juristische spezifiziert, die juristische Methode durch die theologische modifiziert wird“23. Fragt man genauer nach, was diese Modifikation der juris-

19

May / Egler, Einführung (Anm. 16), S. 19.

20

Bruno Primetshofer, Art. Recht, in: Hans Rotter / Günter Virt (Hrsg.), Neues Lexikon der christlichen Moral, Innsbruck 1990, S. 634 – 641, hier S. 640. 21

Demel, Kirchenrecht für Frieden und Freiheit (Anm. 7), S. 210.

22

Zit. n.: May / Egler, Einführung (Anm. 16), S. 18.

23

May / Egler, Einführung (Anm. 16), S. 21.

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tischen Methode bedeutet, dann kann man vor allem festhalten: „Eine weltliche bzw. staatliche Rechtsordnung muß Menschen jedweder Weltanschauung entsprechen; daher kann und darf sie sich nur um eine äußere Friedensordnung bemühen, die dementsprechend auch aus einer Art Basiskompromiss entwickelt und auf die Minimalforderung zur Sicherstellung des friedlichen Zusammenlebens beschränkt wird. Kirchliches Recht dagegen will und darf nur die Menschen im Blick haben, die an das Heilsgeschehen in, mit und seit Jesus Christus glauben, deren existentieller Situation es gerecht werden muß; daher kann sich kirchliches Recht nicht nur um die Garantie einer äußeren Friedensordnung bemühen.“24 Kirchenrecht muss darüber hinaus versuchen, der kirchlichen Gemeinschaft „eine Ordnung zu geben, die der Liebe, der Gnade und den Charismen Vorrang einräumt und gleichzeitig deren geordneten Fortschritt im Leben der kirchlichen Gesellschaft wie auch der einzelnen Menschen, die ihr angehören, erleichtert“25. b) „In die Dogmatik eingebunden und pastoral ausgerichtet“ – das Kirchenrecht als praktisch- und systematisch-theologisches Fach Neben seiner Zugehörigkeit zur Rechtswissenschaft und zur Theologie hat das Kirchenrecht auch innerhalb der Theologie eine doppelte Zuordnung. Es ist „zugleich [...] eine praktische wie systhematische Disziplin“26, es ist – wie Sabine Demel formuliert – „in die Dogmatik eingebunden und pastoral ausgerichtet“27. Das Kirchenrecht ist systematische Disziplin, insofern es die geltenden Rechtsvorschriften nicht nur zur Kenntnis nimmt, auslegt und anwendet, sondern diese auch theologisch reflektiert – das bedeutet, „die Rechtsnormen auf ihre theologische Legitimität hin zu überprüfen, d. h. ihre theologischen Grundlagen wie auch Grenzen aufzuweisen“28. Die Kanonistik fragt nach den dogmatischen Voraussetzungen der konkreten Rechtsnormen und überprüft deren konkrete Umsetzung in den rechtlichen Bestimmungen. Gegebenenfalls mahnt 24

Demel, Kirchenrecht für Frieden und Freiheit (Anm. 7), S. 211 f.

25

Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Sacrae disciplinae leges“ vom 25. Januar 1983, lat.-dt., in: Codex Iuris Canonici – Copdex des kanonischen Rechts 1983 (= CIC, Gesetzbuch der katholischen Kirche des lateinischen Rechtskreises aus dem Jahr 1983), S. VII–XXVII, hier S. XIX. 26 Rees, Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Innsbruck (Anm. 1), S. 336 (Druckfehler im Original). 27

Demel, Kirchenrecht für Frieden und Freiheit (Anm. 7), S. 213.

28

Demel, Kirchenrecht für Frieden und Freiheit (Anm. 7), S. 212.

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es auch Änderungen der Rechtsnormen ein. So „fragt das Kirchenrecht danach, welches theologische Anliegen hinter den Rechtsbestimmungen steht und ob dieses theologische Anliegen durch die konkreten Rechtsnormen hinreichend zum Tragen kommt oder ob diese oder jene Rechtsnorm im Interesse der Theologie verändert werden muß“29. Hier deutet sich – neben der systematischen Ausrichtung – zugleich eine Ausrichtung des Kirchenrechts an, die in der Verbindung von dogmatischer Theorie und theologisch relevanter Praxis liegt. Es wird gleichsam „zu einem offenen System, dessen Grundfrage lautet: Ist das überkommene Gesetz geeignet, und zwar am besten geeignet, zu einem freiheitlichen und friedlichen Leben der kirchlichen Gemeinschaft wie auch des/der einzelnen in der kirchlichen Gemeinschaft zu verhelfen?“30 Genau an dieser Stelle setzt denn auch die Sichtweise des Kirchenrechts als praktische Disziplin an. „Durch die Aufgabe, für Frieden und Freiheit und damit auch für Ordnung und Sicherheit zu sorgen, ist das Kirchenrecht zweifelsohne eine praktische Wissenschaft, also eine auf Handlung ausgerichtete Wissenschaft. Das ist jedem klar und selbstverständlich.“31 Deshalb zählt man – so Wilhelm Rees – das Kirchenrecht (neben der Pastoraltheologie, der Liturgiewissenschaft, der Homiletik, der Religionspädagogik und der Katechetik) zur Praktischen Theologie.32 Diese Orientierung des Kirchenrechts ist dabei nicht bloß eine praktische, sondern eine praktisch-theologische, insofern die Kanonistik in ihrer Handlungsperspektive die Sendung der Kirche vor Augen hat und berücksichtigt. „Die Kanonistik ist eine praktische Wissenschaft. Das besagt, daß sie eine besondere Nähe zum Leben, genauer zum kirchlichen Leben besitzt. Sie ist dazu berufen, dieses Leben zu ihrem Teil zu ordnen und zu

29

Demel, Kirchenrecht für Frieden und Freiheit (Anm. 7), S. 212.

30

Demel, Kirchenrecht für Frieden und Freiheit (Anm. 7), S., 213.

31

Demel, Kirchenrecht für Frieden und Freiheit (Anm. 7), S., 212. Ganz so selbstverständlich scheint mir die hier vorgenommene Ableitung nicht. Wegen der Ausrichtung auf Handlung allein das Kirchenrecht als praktisch-theologisches Fach zu bezeichnen, erscheint mir als nicht ausreichend. Damit erscheinen tendenziell die Fächer der Praktischen Theologie zu sehr als reine „Anwendungswissenschaften“ der zuvor liegenden und von der praktisch-theologischen Analyse und Reflexion dann unabhängigen dogmatischen Festlegungen. Hier ist zumindest zu berücksichtigen, dass sich – wie von Sabine Demel an anderer Stelle auch festgestellt – eine Wechselwirkung zwischen praktischtheologischen und systematisch-theologischen Fächern ergibt. 32

Vgl. Rees, Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Innsbruck (Anm. 1), S. 336.

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gestalten. Sie dient auf ihre Weise der Sendung der Kirche, vor allem indem sie Ordnung, Frieden und Sicherheit in der Kirche zu ihrem Teil garantiert.“33 2. Eine Art „Lebenswissenschaft“? – der Blick auf die Pastoraltheologie Nach dem Blick auf das Kirchenrecht wende ich mich nun der Pastoraltheologie zu. Dabei wähle ich aus den zur Verfügung stehenden Fachbeschreibungen jene Elemente aus, die mir für ein aktuelles Verständnis von Pastoraltheologie wesentlich sind und die zugleich meiner Meinung nach für die in diesem Artikel zu leistende Beantwortung der Frage nach der Zuordnung von Kirchenrecht und Pastoraltheologie im Rahmen der Praktischen Theologie dienlich erscheinen. Ich leiste damit hier bewusst keine umfassende Beschreibung des Faches Pastoraltheologie! a) Beschäftigung mit der Kirche im Selbstvollzug – die zentrale pastoraltheologische Aufgabe Im Aufgreifen des Ansatzes von Karl Rahner im Hinblick auf das von ihm später mitherausgegebene „Handbuch der Praktischen Theologie“ ist davon auszugehen, dass „in der Pastoraltheologie grundsätzlich das Leben der Kirche thematisch werden soll“34. Diese Fokussierung der Pastoraltheologie auf das kirchliche Leben setzt voraus, dass die Pastoraltheologie „diese Kirche in ihrer Vollgestalt (F. X. Arnold: in ihrer ‚ganzheitlichen Gestalt‘) reflektiert“35. Damit ist „Gegenstand“ der Pastoraltheologie die Kirche, um die es auch dem Kirchenrecht – im Zur-Verfügung-Stellen einer ordnenden Struktur – geht. Diese Kirche ist – dies wurde ebenfalls schon angedeutet – keine statische und „vorgeformte“ Größe, sondern sie hat sich (wie in der Frage des Kirchenrechts nach der Angemessenheit von Gesetzen schon unter einer bestimmten Perspektive bereits kurz thematisiert) an konkreten Orten und in der jeweiligen Zeit zu aktualisieren. Sie ereignet sich dabei immer wieder neu in ihren unterschiedlichen Betätigungsfeldern sowie getragen von den verschiedenen Gliedern des Volkes Gottes. „Ihr Ereignis ist [...] nicht einfach die dauernde Präsenz ihres Wesens in einer ihr äußerlich bleibenden Zeitlichkeit und Räumlichkeit, sondern die je einmalige geschichtliche Gestalt dieses Wesens, die ihr vom 33

May / Egler, Einführung (Anm. 16), S. 16.

34

Karl Rahner, Pastoraltheologie – Ein Überblick, in: ders., Selbstvollzug der Kirche. Ekklesiologische Grundlegung praktischer Theologie (Sämtliche Werke 19), Düsseldorf / Freiburg i. Br. 1995, S. 3 – 29, hier S. 6. 35

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 6.

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Geist der Kirche durch ihre je einmalige geschichtliche Situation hindurch zugedacht ist.“36 So ist Voraussetzung für ein aktuelles Verständnis der Pastoraltheologie einerseits „das Verständnis der Kirche [...] als eine Größe, die sie selbst wird, indem sie sich vollzieht“ und andererseits die Realisierung dieses Selbstvollzugs „in den verschiedensten Dimensionen (Kult, Verkündigung, Katechese, Disziplin, kirchliches Leben des einzelnen usw.) und [...] getragen von den verschiedensten Faktoren (Amt, Laie, Gemeinde, Gesamtkirche, kirchliche Gruppe usw.)“37. Kirche kann grundsätzlich aus der ihr verbindlich gegebenen Zusage, Kirche Jesu Christi zu sein, nicht gänzlich herausfallen. Trotzdem gehört es zu ihren Aufgaben, die Ausrichtung ihrer selbst auf ihren Auftrag hin zu überprüfen und ihre Gestalt auf dem Weg durch die Zeit den konkreten Erfordernissen entsprechend zu modifizieren. Die „ihr ereignishafte, jeweilige Gestalt ihres Wesensvollzugs kann die Kirche zwar wegen der eschatologisch siegreichen Gnade ihres Geistes nicht so verfehlen, daß sie einfach aufhören würde, die Kirche Christi zu sein; aber diese Gestalt hört darum nicht auf, ihre Aufgabe, die Verantwortung ihrer Freiheit, der Gegenstand ihrer Entscheidung zu sein und bleibt somit etwas, was sie auch weithin verfehlen kann“38. Deshalb braucht es eine je neue Reflexion der Kirche auf die konkrete Ausgestaltung ihres aktuellen Selbstvollzugs hin. Das Dynamische, das in diesem Kirchenverständnis zum Ausdruck kommt, drückt die Aufgabe der Kirche aus, sich im je Gegenwärtigen (in all seinen Dimensionen) und in das je Gegenwärtige hinein neu zu aktualisieren. An dieser Aufgabe beteiligt sich die Pastoraltheologie – als „wissenschaftliche Organisation dieser Reflexion“39 –, indem sie die tatsächliche Situation der Kirche analysiert und die möglichen Antworten darauf theologisch reflektiert und auf die Zukunft hin mit entfaltet. Pastoraltheologie ist demnach „jene theologische Disziplin, die sich mit dem tatsächlichen und seinsollenden, je hier und jetzt sich ereignenden Selbstvollzug der Kirche beschäftigt mittels der theologischen Erhellung der jeweils gegebenen Situation, in der die Kirche sich selbst in allen ihren Dimensionen vollziehen muß“40. Dabei ist sie aber nicht (nur) auf sich allein gestellt, sondern diese Aufgabe „geschieht in Zukunft vielleicht mit Not36

Karl Rahner, Die praktische Theologie im Ganzen der theologischen Disziplinen, in: ders., Selbstvollzug der Kirche. Ekklesiologische Grundlegung praktischer Theologie (Sämtliche Werke 19), Düsseldorf / Freiburg i. Br. 1995, S. 503 – 515, hier S. 505. 37

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 6.

38

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 505.

39

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 505.

40

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 504.

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wendigkeit nicht nur ‚universitär‘, sondern auch im unmittelbaren Kontakt mit dem kirchlichen Amt“41. Die Pastoraltheologie leistet demnach zum einen die theologische Analyse der konkreten Situation der Kirche – die in dieser Weise von keinem anderen theologischen Fach und auch nicht allein von der Kirche selbst bewerkstelligt werden kann – und entwickelt zum anderen Prinzipien, wie sich die Kirche heute konkret „vergegenwärtigen“ kann. „Somit wird Pastoraltheologie [...] verstanden als diejenige theologische (d. h. aus den Quellen der Offenbarung schöpfende, lehramtlich normierte, methodisch vorangehende, systematisch aufbauende, die profanen Erkenntnisse wie jede andere theologische Disziplin verwendende) Wissenschaft, die unter der wissenschaftlichen, und zwar theologischen Analyse der konkreten (und rechtlich noch nicht adäquat eingefangenen) jeweiligen Situation der Kirche die Prinzipien entwickelt (und soweit möglich in Imperative hineinkonkretisiert), nach denen die Kirche in dieser bestimmten (d. h. je gegenwärtigen) Situation ihr eigenes Wesen aktualisiert und so ihre Heilstätigkeit vollzieht“42. Die Analyse der Situation unter theologischer Rücksicht – die wiederum die anderen theologischen Fächer beeinflusst – kann nicht von einem „unantastbar“ vorgegebenen Verständnis der Kirche ausgehen. Die Kirche entwirft sich vielmehr in einer Art hermeneutischem Kreislauf zwischen Theorie und Praxis je neu. „Aus einer richtigen Würdigung des Verhältnisses von Theorie und Praxis, aus einem existentialontologisch zutreffenden Verständnis des Wesens der Freiheit, aus einer richtigen Theologie der Unverfügbarkeit des heiligen Geistes als des Prinzips der Geschichte der Kirche, aus dem rechtverstandenen Wesen der Hoffnung ergibt sich, daß die Entscheidung zur je aufgegebenen Vollzugsgestalt der Kirche nicht adäquat aus ihrem Wesen abgeleitet werden kann.“43 Diese ist eben nicht allein „bloße Konsequenz dessen, was eine − mögliche und notwendige – ‚essentiale‘ Theologie des Wesens der Kirche, des Wortes Gottes und des Kerygma, des Wesens der Sakramente, des Dienstes der Liebe usw. zu sagen hat“44, sondern ergibt sich auch im konkreten Selbstvollzug der an Kirche Beteiligten. Die Reflexion darüber kann in einem dynamischen Kirchenverständnis nur bedeuten, dass sie „Reflexion auf Entscheidung hin“45 ist, also aktiv und bewusst zur notwendigen Vergegenwärtigung der Kirche hier und jetzt beiträgt. 41

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 515.

42

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 6 f.

43

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 505.

44

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 505.

45

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 505.

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Mit der eben genannten Aufgabe der Pastoraltheologie, sich mit dem Selbstvollzug der Kirche zu beschäftigen, ist schon Wesentliches genannt. Ich greife in den folgenden zwei Punkten bereits Angedeutetes bzw. implizit Gesagtes auf und verdeutliche so wichtige Anliegen. b) Erfahrungen und Praxis der Menschen – ein wesentlicher Ausgangspunkt pastoraltheologischen Arbeitens Eben habe ich in Anlehnung an Karl Rahner schon festgehalten, dass die Kirche in ihrem Selbstvollzug von verschiedensten Faktoren geprägt ist. Wenn Pastoraltheologie als Praktische Theologie hier v. a. die „Praxis“ einzubringen hat – nicht weil diese allein wichtig wäre, sondern weil sie im Zusammenspiel der theologischen Fächer und ihrer Perspektiven zu berücksichtigen ist –, dann hat sie in einer theologischen Analyse der Gegenwart vor Ort den Blick auf die Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen der Menschen zu richten. Die Definition im neueren „Handbuch der Praktischen Theologie“ hält unter anderem fest – nur auf wenige, hier besonders relevante Aspekte dieser Fachbeschreibung kann ich mich hier beziehen –, dass Praktische Theologie (verstanden v. a. als Pastoraltheologie) „kontextuell von den Erfahrungen der jeweils betroffenen Menschen als ihrem hermeneutischen Horizont“ ausgeht, „durch eine realitätsgerechte Wahrnehmung der individuellen wie auch der sozial-strukturellen Lebenswirklichkeit“ fundiert ist und – „nach einer induktiven und kontinuierlich zu adaptierenden Methodik strukturiert“ – „die Praxis der Menschen reflektiert“.46 Dieses Einfordern der „Lebensbezogenheit“ der Pastoraltheologie führt den Hinweis Karl Rahners auf deren Bezogenheit auf die Gegenwart, auf das „Jetzt dieser Kirche“47 weiter, das Thema pastoraltheologischer Analyse und Reflexion sein muss. Er versteht die Gegenwart „als die von Gott gewollte und der Kirche aufgegebene Situation der Kirche selbst“48. Und deshalb setzt „eine richtige Analyse des Lebens der Kirche und vor allem die Aufstellung von Prinzipien und Imperativen für den heutigen Vollzug dieses Lebens [...] eine Analyse der Gegenwart voraus“49. Deutlicher als die Autorinnen und Autoren

46

Herbert Haslinger u. a., Praktische Theologie – eine Begriffsbestimmung in Thesen, in: ders. (Hrsg.), Praktische Theologie 1. Grundlegungen, Mainz 1999, S. 386 – 397, hier S. 386. 47

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 6.

48

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 6.

49

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 6.

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des entsprechenden, eben zitierten Beitrags aus dem „Handbuch der Praktischen Theologie“ mahnt Karl Rahner hier aber auch die Besonderheit dieser pastoraltheologischen, d. h. auch theologischen Analyse ein. So kann die Gegenwart eben „nicht einfachhin nur einer profansoziologischen Analyse unterworfen werden; insofern sie als Datum der gegenwärtigen Heilsgeschichte der Kirche selbst verstanden werden muß, muß sie vielmehr einer echten theologischen Analyse unterworfen werden“50. Ein solches Fachverständnis bedeutet in jedem Fall, dass Pastoraltheologie unter dem Anspruch steht, Theologie aus konkreten Kontexten heraus zu betreiben. Sie muss sich „mit ihrem Reflexionsprozeß in jene Kontexte einbinden lassen, aus denen die Erfahrungen der jeweils betroffenen Menschen erwachsen“51. Dies ist nur möglich, wenn pastoraltheologisches Arbeiten nicht nur gleichsam „am Schreibtisch“ geschieht, sondern wenn sich „die wissenschaftlich arbeitenden Praktischen Theologinnen und Theologen auf die kommunikative Begegnung mit den jeweils betroffenen Menschen einlassen und wenn diese als Subjekte eines vom wissenschaftlichen Diskurs unterschiedenen, aber eigenständigen und eigenwertigen Reflexionsprozesses ernstgenommen werden“52. Daraus ergibt sich eine Gewichtung des pastoraltheologischen Arbeitens, die wesentlich zur Pastoraltheologie gehört und die so von keiner anderen theologischen Disziplin in diesem Umfang eingeholt werden kann. Denn „das Faktum der Kontextualität bzw. das Postulat der Kontextualisierung impliziert für die Praktische Theologie die Behauptung eines hermeneutischen Primats der Lebenswirklichkeit vor der Theorie“53. Die Pastoraltheologie übernimmt dabei eine wichtige und notwendige Aufgabe innerhalb des Gesamts der Theologie, denn „es gibt keine Theorie vom Null-Punkt aus, sondern alle Theorie steht in einem Lebenszusammenhang“54. Diesen wahrzunehmen, anzusprechen und und in die theoretische theologische Reflexion einzubringen, ist v. a. Aufgabe der Pastoraltheologie. Das Erfassen der Wirklichkeit, zu dem sich die Pastoraltheologie verpflichtet weiß, unterliegt Rahmenbedingungen und Anforderungen, die bei der pastoraltheologischen Arbeit im Auge behalten werden müssen. Es geht zum einen darum, die Abhängigkeit der Wahrnehmung von Bedingungen und Interessen des Wahrnehmenden zu reflektieren und so in den Wahrnehmungsprozess einzubeziehen. Andererseits muss gerade deswegen auch darauf geachtet werden, 50

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 6.

51

Haslinger, Praktische Theologie (Anm. 46), S. 389.

52

Haslinger, Praktische Theologie (Anm. 46), S. 389.

53

Haslinger, Praktische Theologie (Anm. 46), S. 389.

54

Haslinger, Praktische Theologie (Anm. 46), S. 389.

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dass die Wahrnehmung der Situation den konkreten Umständen und Rahmenbedingungen entsprechend und realitätsgerecht erfolgt. Deshalb ist insgesamt wichtig, „daß die Wirklichkeit als eine jeweils gewollte oder abgelehnte, konstruierte oder vordefinierte, gestaltete oder erlittene, neuartige oder routinierte Wirklichkeit wahrgenommen und in ihren jeweiligen Aus-Wirkungen, also als ‚wirkliche Wirklichkeit‘ bedacht wird“55. Der Ausgang von der Praxis zeigt sich auch darin, dass Pastoraltheologie sich zunächst induktiv vollzieht. Sie geht von der Praxis in ihrer theologischen Bedeutsamkeit aus, bildet daraus – in Zusammenarbeit mit anderen theologischen Disziplinen – ihre Theorie, die wiederum in die Praxis „zurückfließt“. Die praktisch-theologische, pastoraltheologische Theoriebildung „geschieht im Ausgang von bestehender Praxis und nimmt diese in Form von Erfahrung und Wirklichkeitswahrnehmung als konstitutives Element in sich selber auf. Praktisch-theologisches Reflektieren gestaltet sich so als ein Wechselspiel zwischen bestehender Praxis, Theorie und erneuerter Praxis.“56 Nur in diesem Ineinander von Praxis und Theorie in ihrer gegenseitigen Verwiesenheit kann verantwortetes theologisches Arbeiten in seiner Gesamtheit geschehen. „Die real bestehende Praxis birgt in sich, ohne daß deshalb ihr prinzipieller Revisionsbedarf übersehen wäre, eine konzeptionell orientierende Kraft; Normativität erwächst zum Teil gerade auch aus der Praxis bzw. aus deren Verschmelzung mit Theorie. Umgekehrt ist jede Theorie, ohne daß dadurch ihre normative Funktion negiert wäre, mit dem Vorbehalt der nur partikularen Gültigkeit, der immer nur annähernden Abbildung von Wirklichkeit oder des möglicherweise generellen Verfehltseins belegt.“57 Nimmt man diese grundsätzliche Verschränktheit ernst, dann ergeben sich als Grundmuster pastoraltheologischer Reflexion verschiedene Einzelschritte, die notwendigerweise ineinander gehen. Sie setzt sich grundsätzlich zusammen „aus realitätsgerechter Wahrnehmung, kritischer Beurteilung, kriteriengerechter Normierung und orientierender Konzeption“58. Zugleich bedarf „dieses methodische Grundmuster [...] der kontinuierlichen situationsadäquaten Adaptierung in Form von Differenzierungen oder Ergänzungen etwa in bezug auf die der Wahrnehmung vorausgehenden erkenntnisleitenden Interessen und Prägungen,

55

Haslinger, Praktische Theologie (Anm. 46), S. 390.

56

Haslinger, Praktische Theologie (Anm. 46), S. 391.

57

Haslinger, Praktische Theologie (Anm. 46), S. 391.

58

Haslinger, Praktische Theologie (Anm. 46), S. 391.

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auf den Modus, wie es zur Definition von theologischen Kriterien kommt, oder auf die begleitende Evaluation des Reflexionsprozesses“59. In ihrer Arbeit beruft sich Pastoraltheologie als Praktische Theologie auf den Gott, den Jesus Christus verkündet. Wie dieser selbst hat sie demnach im Leben der Menschen zu stehen und in dieses Leben hinein die Frohe Botschaft in ihren bestätigenden und kritischen Elementen zur Sprache zu bringen. So „wird für sie virulent, daß die Praxis aller Menschen eine Praxis ‚unter den Augen Gottes‘ ist, also vor Gott relevant ist“60. Sie darf dabei nicht unterscheiden zwischen dem Grad der Kirchenzugehörigkeit und der Teilnahme am kirchlichen Leben. Sie muss die Menschen – das Leben und die Praxis (nicht vereinnahmend, aber grundsätzlich) aller Menschen – in ihre Arbeit einbeziehen. „Ihr steht es nicht zu, eine relativierende Unterscheidung zwischen Menschen hinsichtlich ihrer Wertigkeit vorzunehmen. So kann sich die Praktische Theologie bei der Bestimmung ihres Reflexionsgegenstandes nicht einen nach pragmatischen Gesichtspunkten definierten kontingenten Ausschnitt auswählen. Sie kann nicht Theorie nur der Praxis kirchlicher Funktionsträgerinnen oder der Mitglieder einer verfaßten Kirche, nicht einmal nur der an den christlichen Gott Glaubenden sein.“61 In welchem Maße und mit welcher Intention die Nichtgetauften relevante Subjekte pastoraltheologischer Analyse und Reflexion sind, wäre nochmals eigens zu diskutieren und zu bestimmen. Festzuhalten ist aber auf jeden Fall in einer notwendigen weiten Perspektive, dass Gegenstand der Pastoraltheologie als Praktischer Theologie – mit Karl Rahner – „alle und alles in der Kirche [sind], d. h. alle, die den Selbstvollzug der Kirche tragen, also nicht nur die Inhaber des Amtes in der Kirche und deren kirchenamtliche Seelsorge, so daß also nicht nur deren ‚Pastoration‘ im engeren Sinne, sondern das ganze je jetzt geforderte Tun aller Glieder der Kirche, insofern es ein Moment des Lebens der Kirche als solcher ist, Gegenstand der Praktischen Theologie ist“62. Deshalb verbietet sich jedes Verständnis der Pastoraltheologie als Lehre von den Aufgaben der „Pastoren“ und „Pastorinnen“, u. U. nochmals verengt auf die Tätigkeit der geweihten Seelsorger.

59

Haslinger, Praktische Theologie (Anm. 46), S. 391.

60

Haslinger, Praktische Theologie (Anm. 46), S. 392.

61

Haslinger, Praktische Theologie (Anm. 46), S. 392.

62

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 506.

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c) „Auf das Drängen des Geistes achten …“ – Pastoraltheologie als kritische und prophetische Wissenschaft Aus dem eben Gesagten ergibt sich ein weiteres Element für ein aktuelles und in diesem Zusammenhang hier wichtiges Element der Beschreibung von Pastoraltheologie. Denn der „besondere Bezug zur geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit und die Dignität der Praxis [...] fordern die Praktische Theologie in einzigartiger Weise heraus. Impliziert ist ein prophetisch-politisches Element des Theologietreibens in der Praktischen Theologie, das die Glaubenstradition und -lehre konfrontiert und korreliert mit der konkreten Gegenwartssituation“63. Aus der – wie Karl Rahner sagt – „Prüfung der Geister auf die Tat der Entscheidung hin“64 (die besondere Aufgabe der Pastoraltheologie als Praktische Theologie ist, welche die anderen theologischen Fächer einerseits „herausfordert“ und andererseits deren je neuer Reflexion bedarf) ergibt sich als Charakteristikum der Pastoraltheologie „ein prophetisches, ein (wenn man so sagen darf) ‚politisches‘ Element, da sie auf das Drängen des Geistes der Kirche zu achten hat“65. Dieser Geist ist – so Karl Rahner weiter – „nicht einfach identisch [...] mit der immer gültigen Wahrheit der Kirche“66, sondern es braucht zu seinem je neuen Erkennen auch die Pastoraltheologie. Diese „übersetzt in den aktuellen Anruf, der je in der einzelnen Stunde gilt“67. Pastoraltheologie nimmt ihre wesentlich prophetisch-kritische und politische Funktion auf mehreren Ebenen wahr. „So ist sie ‚kritisch‘ gegenüber der Kirche, wenn sie ihr auch die Entscheidungen nicht abnehmen kann; sie versucht mitzuhelfen, den gegebenen defizienten Selbstvollzug der Kirche immer in den aufgegebenen, ja neu fälligen hinein zu überwinden“68. Nimmt man das oben kurz angedeutete weite Verständnis von Kirche hinzu – das mir in diesem Zusammenhang geradezu notwendig erscheint –, dann ist Pastoraltheologie (in Ergänzung und Weiterführung des von Karl Rahner Festgehaltenen) auch „kritisch“ gegenüber der „Welt“, denn auch diese steht nach katholischem Verständnis unter dem allgemeinen Ruf Gottes zur „Volkwerdung“, ist also (wieder ohne vereinnahmen zu wollen) für Kirche von Bedeutung und auf Kirche hingeordnet.

63

Martina Blasberg-Kuhnke, Theologie, in: Herbert Haslinger (Hrsg.), Praktische Theologie 1. Grundlegungen, Mainz 1999, S. 376–385, S. 377. 64

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 505.

65

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 505.

66

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 506.

67

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 506.

68

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 506.

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Pastoraltheologie „hat eine kritische Funktion gegenüber den anderen theologischen Disziplinen, weil sie diese immer daraufhin befragt, ob sie den ihnen aufgegebenen und möglichen Beitrag zu dem Selbstvollzug der Kirche in Entscheidung je jetzt auch wirklich genügend erbringen“69. Sie ist damit gleichsam eine „prophetische“ immanente „Innovationskraft“ der Theologie, die kritisch zur Neureflektion auffordert und motiviert. Pastoraltheologie ist nicht zuletzt und vor allem auch „kritisch“ gegenüber sich selbst. Dies betrifft die Frage ihrer situationsadäquaten Wahrnehmungsfähigkeit, aber auch ihre Fähigkeit, die Reflexion anderer theologischer Disziplinen in konstruktiv-kritischer und dialogischer Weise mit der wahrgenommen Praxis in Beziehung zu setzen. Hier bedarf es immer wieder der hinterfragenden Selbstwahrnehmung, ebenso wie des Ernstnehmens der von „außen“ kommenden Anfragen verschiedenster Art. Insbesondere hat sich Pastoraltheologie jeweils neu zu vergewissern, dass sie in ihrer Arbeit dem je neuen Selbstvollzug der Kirche dient. Denn sie ist „wesentlich kirchliche Wissenschaft zugleich, weil sie sich nicht nur mit der Kirche, bezogen auf deren Handeln, beschäftigt, sondern sich selbst begreift als das Moment der Reflexion, das diesem Handeln notwendig innewohnt und nicht bloß von außen an es herangetragen wird. Sie ist somit abhängig von allem, was diese Kirche dauernd konstituiert.“70 III. Gemeinsame Perspektive und unterschiedliche konkrete Aufgaben – eine Zusammenschau von Kirchenrecht und Pastoraltheologie Im Folgenden versuche ich eine Zusammenschau der beiden Fächer Kirchenrecht und Pastoraltheologie in mir wesentlich erscheinenden Punkten. Ich greife dabei sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Differenzen und unterschiedliche Schwerpunktsetzungen auf und zeige damit wichtige Perspektiven für das Zueinander und die Zusammenarbeit der beiden Fächer auf. Ich wende mich dabei zunächst allgemeineren Gesichtspunkten zu, um anschließend die konkreten „Schnittstellen“ der beiden Fächer zu beschreiben und die sich daraus ergebenden unterschiedlichen Aufgaben zu benennen.

69

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 506.

70

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 506.

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1. Das Volk Gottes vor Augen – die gemeinsame Perspektive von Kirchenrecht und Pastoraltheologie Zunächst ist in der Zusammenschau von Kirchenrecht und Pastoraltheologie festzuhalten, dass zentrales – wenn auch unterschiedlich akzentuiertes, so doch gemeinsames – Thema beider Fächer der Selbstvollzug der Kirche ist. Nimmt man die Pastoraltheologie als Ausgangspunkt, dann kann man zum einen mit Karl Rahner festhalten, dass letztlich alle theologischen Fächer daran zu messen sind, wie sie einem angemessenen Selbstvollzug der Kirche dienen. Sie sind damit selbst in einem letzten Sinn – wenn ich es sehr pointiert formuliere – als „pastoraltheologische“ bzw. (besser allgemeiner) als „praktisch-theologische“ Fächer zu verstehen. In diesem Zusammenhang steht zunächst auch die „praktisch-theologische“ Bezogenheit des Kirchenrechts. Es hat – wie die anderen theologischen Disziplinen – „dem Selbstvollzug der Kirche zu dienen“, es muss zumindest „ein Moment der Praktischen Theologie in sich selbst tragen“.71 Zum anderen ist beim Kirchenrecht aber auch schnell einsichtig, dass es aus formalen Gründen eine Nähe zur Pastoraltheologie und Praktischen Theologie aufweist. Wenn das Kirchenrecht – wie oben beschrieben – die Aufgabe hat, für Frieden und Freiheit und damit für Ordnung und Sicherheit im Volk Gottes zu sorgen, dann erweist es sich damit deutlich bezogen auf die Kirche und ihre konkrete Verfasstheit. Es liegt damit dem kirchlichen Leben näher als andere theologische Fächer, die zwar auch im Dienst am Selbstvollzug der Kirche stehen, die aber jenen deutlichen Bezugspunkt zum und jene konkrete Auswirkungen auf das Leben der Kirche in diesem Maße (und so direkt) nicht haben. Dieser Bezug auf das kirchliche Leben und den kirchlichen Selbstvollzug ist nicht nebensächlich, sondern gehört zum innersten Wesensmoment des Faches – so wie ich es aus einer Außenperspektive verstehe –, weil sich das Kirchenrecht (auch) an der Angemessenheit dieses jeweiligen, durch die Kanonistik rechtlich strukturierten Lebens messen lassen muss. In diesem „Naheverhältnis“ zum Selbstvollzug der Kirche (hier zunächst unter eher formalem Gesichtspunkt betrachtet) ist das Kirchenrecht – auch wenn es sich einer rechtlichen Sprache bedient und auch wenn es dogmatische Vorgaben gleichsam in Rechtsnormen „gießt“ – ein praktisch-theologisches Fach und hat eine enge Verwandtschaft mit der Pastoraltheologie. Umgekehrt muss auch die Pastoraltheologie ihre Beziehung zum Kirchenrecht unter dem Dach der Praktischen Theologie ernst nehmen. Was dies konkreter bedeutet, erläutere ich an passender Stelle weiter unten. 71

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 508.

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2. „Gemeinsam stark“ – gegenseitiges Geben und Nehmen zwischen Kirchenrecht und Pastoraltheologie In ihrem Dienst am Selbstvollzug der Kirche – die ich eben mit Bezug auf die vorausgehende Beschreibung der Disziplinen festgehalten habe – kennzeichnet die Zusammenarbeit der beiden Fächer Kirchenrecht und Pastoraltheologie ein „gegenseitige[s] Geben und Nehmen“72. Zum einen ist das Kirchenrecht gleichsam die Voraussetzung für das pastoraltheologische Arbeiten. Hier „zeigt sich die Kanonistik als eine Grundlagenwissenschaft für die praktische Theologie, insofern in der Kanonistik die rechtliche, geschichtliche und gesellschaftliche Verfaßtheit der Kirche, soweit sie in Gesetze und Vorschriften gefaßt ist, reflektiert wird“73. Zugleich hat sie – setzt man ein dynamisches Verständnis von Kirchenrecht voraus – „die bestehenden Normen des konkreten Vollzugs der Kirche mit ihren eigenen (der Gegenwartsanalyse entnommenen) Ergebnissen zu konfrontieren“74. Gerade hier erhält sie deutliche „Hilfe“ durch die Pastoraltheologie. a) Kritische Anfragen, „Vorfeldarbeit“ und Verteidigung von Freiräumen – das „Geben“ der Pastoraltheologie für das Kirchenrecht Genau an der eben beschrieben Stelle setzt die Pastoraltheologie an. Sie erforscht im Näheren „jene strukturellen Veränderungen, die im Vorfeld der Rechtssetzung der Kirche geschehen, irgendwann einmal die Neufassung eines Gesetzes notwendig machen können und insofern von der Kanonistik vorausgesetzt werden, wenn sie sich mit dem ‚ius condendum‘ befasst“75. Die im Kirchenrecht geregelten Normen, die ja auch schon eine Reaktion auf die Welt und das Handeln der Kirche in ihr sind, bedürfen weiterer und neuerer Reflexionen und Ergänzungen, die allein vom Kirchenrecht nicht zu leisten sind. Denn es gibt „darüber hinaus eine Situation [...], die im geschriebenen Gesetz der Kirche noch keine adäquate Antwort (Reaktion) gefunden hat“ und „diese Situation gebietet, in einer Pastoraltheologie darüber nachzudenken, wie sie – teilweise in einem noch zu schaffenden Kirchenrecht – gemeistert werden soll“.76 72

Rees, Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Innsbruck (Anm. 1), S. 337.

73

Heinz Schuster, Wesen und Aufgabe der Pastoraltheologie als praktischer Theologie, in: Franz Xaver Arnold / Karl Rahner / Viktor Schurr / Leonhard M. Weber (Hrsg.), Handbuch der Pastoraltheologie 1, Freiburg 1964, S. 93 – 114, hier S. 112. 74

Schuster, Wesen und Aufgabe der Pastoraltheologie (Anm. 73), S. 113 f.

75

Schuster, Wesen und Aufgabe der Pastoraltheologie (Anm. 73), S. 114.

76

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 7.

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Eben deshalb ist „die Pastoraltheologie nicht nur die Darstellung der seelsorgerlichen Prinzipien des CIC und deren Entfaltung und Anwendung“77, sondern sie liefert in ihrer theologischen Analyse und Reflexion der Situation Impulse für ein zu modifizierendes und neu zu gestaltendes Kirchenrecht. Unter dem Dach der Praktischen Theologie ist dabei diese Vorgehensweise dem Kirchenrecht grundsätzlich nicht fremd, sondern sie ergibt sich auch aus Beschreibungen der kirchlichen Rechtsordnung, wie sie kirchenrechtliche Werke selbst vorstellen. Richard Puza skizziert diese Ordnung – grundlegend ausgehend vom göttlichen Recht – in der wechselseitigen Beziehung zwischen Gesetzgebung, Rechtsprechung, Kanonistik und öffentlicher Meinung, die sowohl die Meinung der Kirchenglieder wie auch die Gewohnheit umfasst.78 Diesem letzten Element der kirchlichen Rechtsordnung wendet sich insbesondere die Pastoraltheologie zu. Es geht sozusagen um das „Vorfeld“ kirchlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung, dem sich vor allem pastoraltheologisches Arbeiten widmet und die wiederum in Modifizierungen des Kirchenrechts hineinfließen. „Vor einer [...] rechtskräftigen und endgültigen Änderung eines kirchlichen Gesetzes [...] liegt doch offensichtlich ein Bereich, in dem die Notwendigkeit einer solchen Veränderung entsteht und wächst. Es ist jenes Vorfeld, in dem die Kirche faktisch lebt, in dem sie ständig mit der konkreten und veränderlichen Welt konfrontiert wird und in dem sie auf die veränderten gesellschaftlichen, ethischen, religiösen, machtpolitischen u. a. Strukturen ihrer Umwelt (oft zwar unbewußt, aber dennoch nicht ungeschickt) mit Versuchen und der Entwicklung neuer Gewohnheiten reagiert.“79 Das Kirchenrecht als (auch) praktisch-theologisches Fach hat dieses „Vorfeld“ ebenfalls zu berücksichtigen. Denn „auch im Bereich der Gesetzgebung müssen Formen der Mitverantwortung gefunden werden. Der Gedanke des Konsenses fordert eine verstärkte, breitere Konsultation bei Gesetzwerdung, der Gedanke der Rezeption mahnt den Gesetzgeber, solche Normen zu erlassen, die sich das Volk Gottes gestaltend zu eigen machen kann.“80 Vor allem aber die Pastoraltheologie – als Wissenschaft, die insbesondere auch die Erfahrungen der Menschen ernst nimmt und gegebenenfalls prophetisch-kritisch auftritt – hat diese Mitgestaltung des Volkes Gottes am Recht der Kirche gegenüber der Kanonistik in Erinnerung zu rufen. Sie kann eben „nicht nur die Situation berücksichtigen, die

77

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 7.

78

Vgl. Puza, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 8), S. 6.

79

Schuster, Wesen und Aufgabe der Pastoraltheologie (Anm. 73), S. 113.

80

Puza, Katholisches Kirchenrecht (Anm. 8), S. 10.

Kirchenrecht und Pastoraltheologie „unter einem Dach“

107

schon im Kirchenrecht der Kirche eingefangen ist, wenn sie nicht einfachhin Kirchenrecht sein will anstatt Pastoraltheologie“81. Die Pastoraltheologie verhilft dem Kirchenrecht durch ihre Anfragen zu der ihm eigenen Dynamik. „Wenn und insoweit das Kirchenrecht nicht nur ‚de lege condita‘ (historisch, interpretierend, kasuistisch) zu handeln hat, sondern auch nach dem richtigen, seinsollenden, aber noch nicht existierenden Recht, nach der ‚lex condenda‘ fragt, und dieses Recht der Zukunft nicht nur das Recht ist, das aus der immanenten Dynamik des geltenden Rechtes entwickelt wird“82, dann kommt es ohne sein Verständnis als (auch) praktisch-theologisches Fach und ohne Zusammenarbeit mit der Pastoraltheologie nicht aus. Es ist dann Aufgabe der Pastoraltheologie als praktisch-theologische Disziplin im speziellen „Ziele und Horizonte für das Kirchenrecht hinsichtlich dieser ‚lex condenda‘ aufzudecken. Denn dies kann heute nur geschehen in einer wissenschaftlich-kritischen und gleichzeitig theologischen Analyse der Gegenwartssituation. Diese aber kann nicht Aufgabe des Kirchenrechts sein. Denn sie ist keine Gesetzesmaterie und bildet doch eine so schwierige und umfangreiche, eine eigene Methodik ihrer Erforschung fordernde Wirklichkeit, daß sie nicht nebenbei vom Kirchenrecht untersucht werden kann, bloß weil dieses als Wissenschaft ‚de lege condenda‘ davon etwas wissen muß.“83 Zugleich überlässt die Pastoraltheologie der Kanonistik die konkrete Ausgestaltung des kirchlichen Rechts. Sie „wird die genauere Gesetzesformulierung [...] des ‚ius condendum‘ dem Kirchenrecht überlassen, auch wenn sie selbst von ihrem Wesen her für eine je jetzt der Situation der Kirche entsprechende Orientierung auf ein neues ‚ius condendum‘ einzutreten hat“84. Pastoraltheologie weist damit – dies scheint mir auch sehr wichtig – auf notwendig erscheinende Änderungen rechtlicher Normen und auf rechtlichen Klärungsbedarf hin, leistet aber (was rechtliche Belange betrifft) nicht selbst die dafür notwendigen Umsetzungen. Zugleich ist die Pastoraltheologie konkrete Anwältin des nicht juristisch normierten Raums in der Kirche. Sie fragt danach, inwieweit Situationen und dogmatische Vorgaben einer kirchenrechtlichen Präzisierung bedürfen und ob die notwendigen Freiräume für das Leben und den Glaubenssinn der Christinnen und Christen gewahr bleiben. Nur wenn Pastoraltheologie auch diese Aufgabe übernimmt, ist sie kein „Anhängsel“ des Kirchenrechts. „Die Praktische

81

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 7.

82

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 513.

83

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 513.

84

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 508 f.

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Theologie muß [...] ihre Eigenständigkeit gegenüber dem Kirchenrecht wahren. Sie ist nicht identisch mit der Summe der Anweisungen für die konkretere Handhabung des Kirchenrechtes. Nur ein kleiner Teil des Lebens der Kirche ist einer rechtlichen Regelung zugänglich. Die Praktische Theologie müßte gerade die Verteidigerin des weiteren, nicht legalistisch manipulierten Raumes in der Kirche sein.“85 Damit ist das „Geben“ von der Pastoraltheologie in Richtung Kirchenrecht eindeutig charakterisiert. „Kritik am geltenden Recht und grundsätzliche Erörterung des seinsollenden Rechtes sind also Aufgabe der Praktischen Theologie und bedeuten ebensoviele Forderungen der Praktischen Theologie an das Kirchenrecht.“86 Zugleich fragt die Pastoraltheologie das Kirchenrecht an, inwieweit notwendige Freiräume zur verantwortlichen Gestaltung kirchlichen Lebens bewahrt bleiben. b) Nahe „vorausgesetzte Grundwissenschaft“ – das „Geben“ des Kirchenrechts für die Pastoraltheologie Im Blick auf die andere Richtung des Verhältnisses beider Fächer stellt sich auch die deutliche Frage: Was „gibt“ das Kirchenrecht der Pastoraltheologie unter dem Dach der Praktischen Theologie? Eine Antwort liegt für mich zunächst darin begründet, dass das Kirchenrecht – wie oben beschrieben – zwischen Systematischer und Praktischer Theologie sowie zwischen Recht und Theologie angesiedelt ist. Trotzdem ist das Kirchenrecht – zumindest an der theologischen Fakultät in Innsbruck, wo es zum Institut für Praktischen Theologie gehört – letztlich ein praktisch-theologisches Fach. Konkret bedeutet dies, dass das „Geben“ des Kirchenrechts für – die beiden in Innsbruck mit ihm gemeinsam in einem Institut angesiedelten Fächer bzw. Fachbereiche – Pastoraltheologie und Katechetik/Religionspädagogik und Fachdidaktik eine (positive!) immanente Herausforderung darstellt. Das Kirchenrecht greift dabei dogmatische Vorgaben auf, formuliert sie in klaren rechtlichen Bestimmungen und positioniert sie zugleich in der Praktischen Theologie. Es bietet damit den anderen praktisch-theologischen Fächern bzw. Fachbereichen – also insbesondere auch der Pastoraltheologie – einen Standpunkt, an dem diese zunächst nicht ohne weiteres „vorbeikönnen“. Es ist damit teilweise „schwierig“ und „sperrig“, bietet so aber gerade auch die „Rei-

85

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 513.

86

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 513 f.

Kirchenrecht und Pastoraltheologie „unter einem Dach“

109

bungsfläche“, an der sich die anderen Fächer bzw. Fachbereiche „reiben“ und abarbeiten können und müssen. Der Kanonistik zugute kommt dabei – wie schon angedeutet – ihr Verhältnis zur Systematischen Theologie, aus der sie die v. a. dogmatischen Vorgaben ihrer Normen ableitet. Sie belässt diese Vorgaben aber nicht als „Außen“ in der Systematischen Theologie, sondern führt diese als konkrete und damit in ihren Konsequenzen „greifbare“ Normen in die Praktische Theologie über. Zugleich erreicht die klare juristische Sprache, welche die Kanonistik auszeichnet, ein hohes Maß an Konkretion und Verbindlichkeit. „Im eigenen Haus“ können die anderen praktisch-theologischen Fächer bzw. Fachbereiche die kirchenrechtlichen Vorgaben nicht ignorieren oder gar „schönreden“, sie sind vielmehr zur konstruktiven Auseinandersetzung mit diesen aufgerufen. Wie in einer Familie bewirkt das „enge Zusammenleben“, dass sich die einzelnen Mitglieder des Instituts für Praktische Theologie nicht „aus dem Weg gehen“ können. Die vertretenen Fächer und Fachgruppen müssen das jeweilig andere Fach in seiner Eigenart ernst nehmen und – gegebenenfalls über Konflikte – enger und vertieft zueinander finden. Wenn die Prinzipien des „ganzen Selbstvollzugs der Kirche [...] Gegenstand der Pastoraltheologie [sind], insofern sich diese Prinzipien ergeben [...] aus Dogmatik, Moraltheologie und Kirchenrecht“87, dann kommt den Ausformulierungen und Konkretionen dieser Prinzipien im Kirchenrecht besondere Bedeutung zu, weil die Kanonistik der Pastoraltheologie besonders „nahe steht“. Das Kirchenrecht ist damit eine der – neben Dogmatik und Moraltheologie, aber gegenüber diesen der Pastoraltheologie näher – „vorausgesetzte[n] Grundwissenschaften der Pastoraltheologie“88. Damit ist nicht nur die Pastoraltheologie ein „treibender“ Impuls für das Kirchenrecht, sondern umgekehrt das Kirchenrecht eine Herausforderung für die Pastoraltheologie, die es wahrzunehmen und zu berücksichtigen gilt. Aus dem u. U. konflikt- und schmerzhaften Präsenthalten seiner Vorschriften und Normen gibt es einen positiven Impuls, der pastoraltheologische Problemlösungen nicht in vorschnellen und inoffiziellen Lösungen sucht, sondern die fruchtbare Auseinandersetzung wagt und gerade so die Kirche in ihrem Selbstvollzug nachhaltig zu verändern mag. Gerade auch deshalb ist mit Karl Rahner pointiert festzuhalten: „Die Beziehungen zwischen Kirchenrecht und Praktischer Theologie sind sehr eng oder müßten es sein.“89 Gerade in diesem engen Miteinander 87

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 8.

88

Rahner, Pastoraltheologie – ein Überblick (Anm. 34), S. 13.

89

Rahner, Die praktische Theologie (Anm. 36), S. 513.

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können beide wachsen und so Gott, der sich der Welt offenbart, durch die Kirche verstärkt und neu zum Durchbruch verhelfen. IV. Leitung und Predigt – beispielhafte Aufgaben und erste Konsequenzen Aus der eben vorgestellten Verhältnisbestimmung von Kirchenrecht und Pastoraltheologie ergeben sich Konsequenzen, die hier nur beispielhaft angedacht werden können. Etwa zeigen die Diskussionen bezüglich des c. 517 § 2 und der konkrete Umgang mit dieser – etwa „Kuratoren-Moderatoren-Modell“ genannten – Form der Gemeindeleitung in den verschiedenen Diözesen und Erzdiözesen des deutschen Sprachraums, wie kirchenrechtlich mögliche Lösungen unter pastoraltheologischer Reflexion90 aussehen können. Dabei werden die konkreten Vorgaben des CIC genutzt, um angesichts der abnehmenden Zahl geweihter Gemeindeleiter Lösungen zu finden, die der wichtigen personellen Präsenz der Kirche vor Ort sowie der priesterlichen Letztverantwortung gerecht werden. Gerade aber diese praktisch-theologisch diskutierten und reflektierten konkreten Lösungen in den Gemeinden können (aus pastoraltheologischer Sicht erwünschte wie nicht erwünschte) Rückwirkungen für die Gestaltung der entsprechenden kirchenrechtlichen Norm und ihrer Interpretation haben. Ziel muss es hier aus pastoraltheologischer Perspektive sein, die Anliegen und Erfahrungen der Gemeinden – konkreter: der Menschen in den Gemeinden – wahrzunehmen und zur Sprache zu bringen und so Lösungen – in der Interpretation der entsprechenden Norm oder im Blick auf eine Modifizierung der entsprechenden kirchenrechtlichen Bestimmung – zu finden, die sowohl der dogmatischen „Theorie“ wie der gelebten gemeindlichen „Praxis“ gerecht werden. Hier stellen sich aus pastoraltheologischer Perspektive u. a. auch (grundsätzlichere) Fragen nach dem Einbeziehen der Gemeinden in Umstellungs- und Veränderungsprozesse und nach der kompetenten Auswahl von Leitungspersonen.91 In der Frage der so genannten „Laienpredigt“ gilt es ebenfalls, die einschlägigen Bestimmungen des CIC 1983 ernst zu nehmen und die konkreten pasto-

90 Johannes Panhofer, Hören, was der Geist den Gemeinden sagt. Gemeindeleitung durch Nichtpriester als Anstoß zur Gemeindeentwicklung. Eine empirisch-theologische Studie zu can. 517 § 2 (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 58), Würzburg 2003. Siehe auch den Beitrag von Panhofer in dieser FS: S. 113 – 147. 91

Panhofer, Hören, was der Geist den Gemeinden sagt (Anm. 90), S. 266 – 273.

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raltheologisch reflektierten Lösungsansätze innerhalb der Grenzen der Norm und ihrer möglichen Interpretation zu suchen. Nur wenn dieses geschieht, nimmt die Pastoraltheologie das Kirchenrecht und ihre eigenes enges Verhältnis zur Kanonistik ernst. Sicherlich ein „Reibungspunkt“ im oben beschriebenen Sinn ist die Vorschrift des c. 787 § 1, von der auch der zuständige Ortsbischof nicht dispensieren kann.92 Diese Norm wirft aus pastoraltheologischer Perspektive sowohl in der homiletischen Ausbildung von angehenden Theologinnen und Theologen wie auch in der Predigtpraxis der Gemeinden Probleme auf. Wenn die Homilie als Predigt in der Eucharistiefeier dem geweihten Amtsträger vorbehalten ist, gibt es zum einen bei der gängigen Gottesdienstpraxis kaum praktische Übungsfelder für Studierende der Theologie. Zum anderen beachtet diese Vorschrift nicht die in vielen Gemeinden des deutschen Sprachraums vorhandene Kompetenz (meist hauptberuflich angestellter) theologisch ausgebildeter Laien. Auf der Ebene der homiletischen Ausbildung gibt es – gerade auch wegen des engen Miteinanders von Kirchenrecht und Pastoraltheologie als praktischtheologische Fächer – verantwortlich wohl nur die Möglichkeit, die homiletische Ausbildung, die meist Aufgabe der Pastoraltheologie ist, in Formen zu absolvieren, die den kirchenrechtlichen Bestimmungen nicht zuwiderlaufen. Zugleich ist in der homiletischen Ausbildung aus pastoraltheologischer Perspektive zu thematisieren, welche konkreten Schwierigkeiten sich aus der kirchenrechtlichen Norm ergeben. Nur so können das Gemeinsame, aber auch die unterschiedlichen Ansätze und Perspektiven der Fächer zum Tragen kommen und können unproduktive Irritationen der Studierenden – etwa durch die Kenntnis der kirchenrechtlichen Norm und das Kennenlernen einer dem entgegenlaufenden Praxis in der Predigtausbildung – vermieden werden. In der auf die Praxis in den Gemeinden ausgerichteten Diskussion – v. a. zwischen den Fächern Pastoraltheologie und Kirchenrecht – ist es ebenso wichtig, die sich aus der momentanen Regelung ergebenden Probleme zu benennen. Hier stellt sich aus pastoraltheologischer Sicht etwa die Frage nach dem u. U. nicht genutzten Reichtum homiletischer Kompetenz, die in den Gemeinden vorhanden ist. Es ist zu thematisieren, inwieweit geweihte Amtsträger bei tendenziell abnehmender Priesterzahl und zunehmender Verantwortung für mehr als eine Gemeinde nicht Entlastung im Predigtdienst brauchen. Genauso kann und muss die kirchenrechtlich als selbstverständlich vorausgesetzte Verbindung von Weihe und Predigtkompetenz in Frage gestellt werden. Theologisch ist zu diskutieren, wer letztlich Träger der Eucharistiefeier ist und ob von daher eine 92 Oskar Stoffel, Die Predigt des Wort Gottes, in: HdbkathKR2, S. 670 – 677, hier S. 671.

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Fixierung auf den geweihten Amtsträger als Prediger in der Messe sinnvoll ist. (Inwieweit in der momentanen kirchenrechtlichen „Logik“ der Diakon, der ja nicht der Eucharistie vorstehen kann, sinnvollerweise die Homilie übernehmen darf, wäre ebenso zu reflektieren.) Aus pastoraltheologischer Perspektive ist aber auch positiv zu sehen, dass der CIC 1983 das strikte Predigtverbot für Laien im CIC 1917 – ausgenommen die Homilie – aufgehoben hat. Es sind jene Möglichkeiten zu benennen, die eine Beteiligung von Laien an der Homilie gestatten. So erlauben etwa die „Richtlinien für Meßfeiern kleiner Gruppen“ der Deutschen Bischofskonferenz aus dem Jahr 1970, an der Stelle der Homilie einen „Dialog [...], zu dem unter Leitung des Priesters alle beitragen können“93, oder das „Direktorium für Kindermessen“ der Kongregation für den Gottesdienst aus dem Jahr 1973 gestattet Laien, „nach dem Evangelium einige Worte an die Kinder zu richten“94. Grundsätzlicher ist aus pastoraltheologischer Sicht darauf hinzuweisen, dass der CIC 1917 zwar das generelle Predigtverbot für Laien kannte, das Predigtamt aber eben nicht an die Weihe, sondern an eine Missio canonica band (c. 1328 CIC 1917).95 In einem solchen Modell könnte man Möglichkeiten sehen, wie das Predigtamt (mit Beauftragung zur Homilie) einerseits klar geregelt werden könnte (dies ist ja auch ein wichtiges und nicht zu vernachlässigendes Anliegen) und wie andererseits eine pastoraltheologisch anfragbare bisherige Praxis positiv weiterentwickelt werden könnte. Diese beiden Beispiele mögen an dieser Stelle genügen, um aufzuzeigen, dass eine sinnvolle Zusammenarbeit der Fächer Pastoraltheologie und Kirchenrecht möglich und notwendig ist. Nehmen beide Partner diese Möglichkeit der Kooperation ernst, dann wird es u. U. eben auch zu Lösungen kommen, die hier allein – aus pastoraltheologischer Sicht – nicht angedeutet werden konnten, sondern die eben eine „Frucht“ dieses Dialogs – und des Geistes Gottes, der in der Kirche wirkt – sind. Vielleicht kann auch die hier vorliegende Festschrift für P. Johannes Mühlsteiger, an der verschiedene theologische Fächer sich beteiligen, den gemeinsamen Dienst eben dieser Disziplinen am Selbstvollzug der Kirche unterstützen.

93

Stoffel, Predigt (Anm. 92), S. 674.

94

Stoffel, Predigt (Anm. 92), S. 674.

95

Vgl. Stoffel, Predigt (Anm. 92), S. 670.

Kanon 517 § 2 – der „Kirchenentwicklungsparagraph“ Das Kirchenrecht zwischen Beständigkeit und Weiterentwicklung Von Johannes Panhofer Das Kirchenrecht wird von vielen Menschen als veraltet oder als für die kirchliche Entwicklung hinderlich gesehen (I.). Entgegen dieser Meinung will dieser Beitrag am Beispiel des c. 517 § 2 (II.) aufzeigen, wie das Kirchenrecht eine Kirchenentwicklung ermöglicht. Im Zentrum des Beitrags steht eine zu dieser Rechtsfigur erstmals durchgeführte empirisch-theologische Studie, die in Auszügen vorgestellt (III.) und praktisch-theologisch reflektiert wird (IV). In Sorge um eine zukunftsfähige und zugleich evangeliumsgemäße Kirche werden einige dringliche Anfragen zum Charakter des kirchlichen Rechts und zum Selbstverständnis des/der Kirchenrechtlers/in (V.) gestellt. I. Der Charakter des Kirchenrechts – bewahrend und zugleich Entwicklung fördernd? 1. Der „Ruf“ des Kirchenrechts – situationsblind, unmenschlich und unzeitgemäß? Das Kirchenrecht hat in der – auch kirchlichen – Öffentlichkeit oft keinen guten Ruf. Das mag zum einen daran liegen, dass viele Menschen mit dem Kirchenrecht erst dann zu tun bekommen, wenn sie als Betroffene seine Grenzziehungen und Normen – zumeist schmerzlich – erfahren. Sei es, dass sie als Geschiedene keine zweite Ehe eingehen, als wiederverheiratete Geschiedene nicht mehr zur Kommunion gehen, Laien in der Eucharistiefeier nicht Predigen, die Gläubigen zwar punktuell mitreden dürfen, aber kaum Strukturen synodaler oder echter Mitentscheidung vorhanden sind, usw. Die erlebte Unzeitgemäßheit betrifft zum einen konkrete Einzelpersonen in ihrer – etwa moralischen – Lebensweise, zum anderen ordnet und bestimmt sie die Gestaltung von kirchlichen Gemeinschaften (inklusive ihrer Ämter und Dienste), Pfarrgemeinden, das Zueinander von Ortsund Weltkirche und vieles mehr. Auch auf der Ebene des pastoral-praktischen Vollzugs wird das Kirchenrecht immer wieder in seiner be- und verhindernden

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Wirkung erlebt. Manche Regelungen wirken selbst in den Augen kirchentreuer Katholiken kleinlich und unverständlich, ja mit einer Verkündigung eines barmherzigen Gottes unvereinbar. Das Kirchenrecht wird als eng, als nicht mehr zeitgemäß, als unmenschlich oder übertrieben hart erlebt. Sabine Demel fasst die Empfindung vieler Christen zusammen: „Wo man geht und steht, ständig stößt man in der katholischen Kirche auf irgendwelche Vorschriften“.1 Leo Karrer diagnostiziert in der Folge ganz grundsätzlich, dass sich „die Entfremdung der katholischen Kirchenbasis von den vorgegebenen kirchlichen Strukturen“2 verschärft. Mit dieser Einschätzung steht der Pastoraltheologe nicht alleine da. Selbst namhafte, in theologischer Lehre und praktischer Pastoral erfahrene Bischöfe – wie der heutige Kurienkardinal Walter Kasper – sprechen von der Erfahrung eines „immer größeren Auseinanderdriftens von universalkirchlichen Normen und der Praxis vor Ort. In manchen Fällen möchte man fast von einem mentalen und praktischen Schisma sprechen. Viele Gläubige und Priester können manche universalkirchliche Regelungen nicht mehr verstehen und setzen sich darüber hinweg.“3 Gilt diese beschneidende Wirkung des Kirchenrechts bereits für die aktuelle, im Hier und Heute existierende Kirche, so ist zu befürchten, dass dies wohl für die Kirche, die sich auf ein Morgen vorbereitet, in noch viel größerem Ausmaß zutreffen wird. Es stellt sich die Frage, wie das Kirchenrecht nicht nur die Ordnung der gegenwärtigen Kirche zu schützen vermag, sondern zugleich auch eine Weiterentwicklung ermöglichen kann. Eine Kirche aber, die sich nicht mehr weiterentwickelt, ist nicht mehr eine lebendige Glaubensgemeinschaft, sondern ein zur Konserve erstarrter, lebloser Traditionsverein. Ist die Kirche mit ihrer Rechtsgestalt eine „unbewegliche Riesin in der mobilen Gesellschaft“4 geworden, die mit den Entwicklungen schon lange nicht mehr Schritt hält? Hemmt das geltende Recht – nicht willentlich, sondern allein durch seinen bewahrenden Charakter – eine substantielle Weiterentwicklung in der Kirche? An dieser Stelle gilt es, sich die Aufgabe des Kirchenrechts in Erinnerung zu rufen.

1

Sabine Demel, Schutzmantel der Freiheit oder Zwangsjacke der Mächtigen? Anspruch und Wirklichkeit, Chance und Gefahren des kirchlichen Rechts, in: ThPQ 149 (2001), S. 361 – 374, hier S. 361. 2

Leo Karrer, Ius sequitur vitam. Pastoral in der Spannung zwischen Realität und Kirchenrecht, in: ThPQ 149 (2001), S. 339 – 349, hier S. 339. 3 Walter Kasper, in: StdZ 218 (2000), S. 795. Zitiert im Vorwort der ThPQ 149 (2001) S. 337 – 338, hier S. 337. 4

Eva Drechsler, Zwischen gesellschaftlichem Anspruch und privater Religiosität. Zur Wahrnehmung kirchlicher Ordnung in der Gegenwart, in: ThPQ 149 (2001), S. 350 – 360, hier S. 358.

Kanon 517 § 2 – der „Kirchenentwicklungsparagraph“

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2. Die Funktion des Rechts in der Kirche Seit dem 2. Vatikanum hat sich mit dem für die Kirche grundlegenden communio-Gedanken auch ein Wandel in der Funktion des Kirchenrechts durchgesetzt: „Das neue Kirchenrecht steht nicht mehr primär im Dienste der Lehre und des Amtes, es steht auch und gerade im Dienste der einzelnen Christgläubigen, deren Rechte es schützen soll. Kirchenrecht hat ja die Gemeinschaft zu unterstützen bei der Erreichung ihrer Ziele. Es hat gute, befolgbare Gebote und Verbote zu beinhalten, es hat für den Konfliktfall geeignete Prozesse zu ermöglichen, es hat Stabilität zu garantieren.“5

Diese neue Akzentsetzung ist in Erinnerung zu rufen, wenn es darum geht, bestehende Gesetze auszulegen bzw. auf neue pastorale Situationen hin zu formulieren. Mit der Betonung der Kirche als Volk Gottes, als Mysterium geht es in erster Linie um den Schutz der einzelnen Christen und dem Aufbau und der Entwicklung der Gemeinschaft der Gläubigen. Die Funktion des Kirchenrechts ist daher eine diakonische und pastorale zugleich, auch wenn es stellenweise – so Puza – hinter seinem Anspruch zurückbleibt: „Das Kirchenrecht hat in seiner diakonischen pastoralen Funktion es dem Gläubigen zu ermöglichen und ihm zu helfen, in der Gemeinschaft des Volkes Gottes seinen Weg zum Heil in eigener Verantwortung und in freier Entscheidung zu gehen. Dass diese diakonische Funktion des Kirchenrechts im neuen Codex noch nicht befriedigend und ausreichend geregelt ist, kann das Neue des Ansatzes nicht schmälern.“6

Recht ist um Kontinuität bemüht und es hat von seinem Charakter her eine gewisse bewahrende Funktion. Es reagiert im Normalfall immer verspätet auf Veränderungen, die sich im Kontext schon längst ereignet haben. Ist es in all diesen Fällen die tragische Rolle des Rechts neue Entwicklungen zu be- oder verhindern, weil Recht eben kein Instrument der Kirchenentwicklung, sondern im Dienst der Kirchenbewahrung steht? Kann das Recht in seiner „Behäbigkeit“ gar nicht anders als Neues zu verhindern? Das Kirchenrecht verfolgt im Konkreten ein Nahziel, nämlich Gemeinschaft in Freiheit für den einzelnen zu stiften und ein Fernziel, das die letzte Bestimmung des Menschen betrifft. Das Kirchenrecht hat also „wie jedes Recht das Nahziel, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit im Zusammenleben der Kirchenmitglieder zu gewährleisten. Allerdings ist dieses Nahziel kein Selbstzweck,

5

Richard Puza, Katholisches Kirchenrecht (UTB 1395), Heidelberg 21993, S. 76.

6

Puza, Kirchenrecht (Anm. 5), S. 76.

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sondern stets Mittel zum Zweck beziehungsweise immer auf das letzte Ziel hingeordnet, nämlich dem Heil der Seelen zu dienen.“7 Zum friedlichen, Freiheit ermöglichenden Recht gehört es auch, dass dem „Recht“ des Stärkeren nicht Tür und Tor geöffnet wird, sondern dass die Schwachen geschützt und ihnen Stimme und Rechte eingeräumt werden. Der Frage, wer in der Kirche die Stärkeren und wer die Schwächeren sind, soll hier nicht weiter nachgegangen werden.8 Angesichts der Fragestellung dieses Beitrags soll nicht nach starken und schwachen Gruppen in der Kirche gefragt, sondern vielmehr unter einer Entwicklungsperspektive gefragt werden, was denn in der Kirche stark und kräftig und was schwach und schützenswürdig ist. Ohne dass man das explizit begründen müsste, darf man wohl – aus der Sicht des Rechts gesprochen – die Tradition als das vorherrschend starke Element, die noch unsicheren alternativen, oft aus der Not geborene Neuaufbrüche und Versuche als das Schwache in der Kirche sehen. Letztere müssen sich nicht nur gegen eine z. T. jahrhundertealte Tradition, sondern manchmal auch contra legem oder zumindest praeter legem durchsetzen.9 Es stellt sich die Frage, welchen Raum das kirchliche Recht solchen neuen Wegen bietet, ob es Neuaufbrüche schützt oder sie verhindert. Den Sinn des Kirchenrechts im Auge resümiert Sabine Demel: „Nur wenn die kirchlichen Gesetze kontinuierlich im größeren Zusammenhang der Sendung der Kirche gestellt und auf ihre Sinnhaftigkeit hin überprüft werden, ist Recht nicht primär ein rekonstruierendes, sondern auch ein gestaltendes Element, hinkt Recht nicht der Wirklichkeit hinterher, sondern kann auch den Lebensprozess der Kirche aktiv mitvollziehen und Entwicklungen in der Kirche aktiv mittragen.“10

3. Das Kirchenrecht zwischen Beständigkeit und Entwicklung Muss das Kirchenrecht aufgrund seines bewahrenden Charakters quasi notgedrungen kirchliche Entwicklungen erschweren, verzögern oder gar verhindern? Oder kann es Entwicklungen zu lassen und in rechtlich geschützten Bahnen fördern? Wie lassen sich Beständigkeit der Offenbarung einerseits und geistgewirkte Erneuerung und äußere Reform andererseits theologisch vereinbaren?

7

Demel, Schutzmantel (Anm. 1), S. 363.

8

Vgl. dazu das Vorwort in: ThPQ 149 (2001), S. 337 – 338, hier S. 338.

9

Vgl. Peter Stockmann, Außerordentliche Gemeindeleitung. Historischer Befund – Dogmatische Grundlegung – Kirchenrechtliche Analyse – Offene Positionen (AIC 10), Frankfurt 1999, S. 206. 10

Demel, Schutzmantel (Anm. 1), S. 366.

Kanon 517 § 2 – der „Kirchenentwicklungsparagraph“

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Das Kanonist Ladislaus Örsy hat sich mit dem Spannungsverhältnis von Beständigkeit und Entwicklung in der Kirche und damit auch im kanonischen Recht genauer beschäftigt.11 Die Geschichte der Menschheit zeigt – ebenso wie die Philosophiegeschichte –, dass sich das menschliche Leben insgesamt in der Grundspannung zwischen Beständigkeit und Veränderung bzw. Entwicklung abspielt. Für die Kirche hat Henry Newman einen denkmöglichen Weg aufgezeigt, die Beständigkeit der göttlichen Offenbarung mit der – auch faktisch nicht zu leugnenden – Entwicklung der Kirche in Einklang zu bringen. Sie hat sich in der Offenbarungskonstitution Dei Verbum des 2. Vatikanischen Konzils niedergeschlagen: „Es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen, die sie in ihrem Herzen erwägen ..., durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt“ (VatII DV 8).

Diese polare Sichtweise gehört heute – so Örsy – zur allgemein verbreiteten katholischen Überzeugung.12 Was für Glaubensfragen gilt, gilt im Bereich des kanonischen Rechtes mit noch größerem Gewicht.13 Beides, Beständigkeit und Entwicklung ist hier besonders wichtig, da rechtliche Normen direkt das tägliche Leben der Menschen betreffen, denn: „Wenn die Gesetze keine Beständigkeit haben, kann man ihnen kein Vertrauen schenken. Wenn sie jedoch keine Veränderung ermöglichen, dann schließen sie die Menschen gewissermaßen wie in einem Gefängnis ein. Darin liegt das Dilemma.“14

Damit ist – so Örsy – das kanonische Recht in mitten einer sich entwickelnden Gesellschaft und Kirche notwendig „einer ständigen Fortentwicklung unterworfen“15 damit es nicht zum „Gefängnis“ mutiert. Soll diese Spannung nicht zugunsten einer Seite aufgelöst werden, so kommt Örsy zu folgender Bestimmung des kanonischen Rechts. In Anlehnung an Thomas von Aquin versteht er das kirchliche Recht als „ein Gesamt von Handlungsnormen, die von der Kirche als dem Volk Gottes hervorgebracht werden, gefordert und gestaltet von Vernunft und Glaube, um für die in der Gemeinschaft lebenden Menschen ein hilfreiches Umfeld zu schaffen, in dem sie Got11

Vgl. zum Folgenden: Ladislaus Örsy, Das Spannungsverhältnis zwischen Beständigkeit und Entwicklung im kanonischen Recht, in: DPM 8 (2001), S. 299 – 312. 12

Vgl. Örsy, Entwicklung (Anm. 11), S. 300.

13

Vgl. Örsy, Entwicklung (Anm. 11), S. 300.

14

Örsy, Entwicklung (Anm. 11), S. 300 – 301.

15

Örsy, Entwicklung (Anm. 11), S. 301. Im Gegensatz zu einem destruktiven, die Fundamente der Gemeinschaft zerstörenden Entwicklungskonzept baut eine positive Entwicklung die Identität eines Subjekts auf, vertieft und entfaltet den inneren Reichtum.

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Johannes Panhofer

tes Gaben in Freiheit empfangen können“16. Das kanonische Recht soll so ausgerichtet werden, dass es seiner Zielsetzung, nämlich ein Klima für das Wirken des Geistes Gottes zu schaffen, dient.17 Sind die kirchlichen Gesetze so formuliert, dass sie Entwicklungen fördern und unterstützen? Gibt es Kanones, die die Entwicklung der Kirche eigens im Auge haben? Ein solcher – und das will der Autor in Rückgriff auf eine empirisch-theologische Studie aufweisen – liegt mit dem c. 517 § 2 vor. II. Der Kanon 517 § 2 CIC/1983 als Sonderform der Gemeindeleitung Die ausführliche kirchenrechtliche Diskussion zu c. 517 § 2 soll an dieser Stelle nicht wiedergeben werden.18 Die Rechtsfigur des c. 517 § 2 wird im Folgenden nur in Umrissen skizziert, soweit das zum Verständnis der anschließend dargestellten Ergebnisse einer empirischen Untersuchung nötig erscheint. Der c. 517 § 2 stellt eine Sonderform der Gemeindeleitung dar und lautet: „Wenn der Diözesanbischof wegen Priestermangels glaubt, einen Diakon oder eine andere Person, die nicht die Priesterweihe empfangen hat, oder eine Gemeinschaft von Personen an der Wahrnehmung der Hirtensorge („cura pastoralis“) einer Pfarrei beteiligen zu müssen, hat er einen Priester zu bestimmen, der, mit (den) Vollmachten und Befugnissen eines Pfarrers ausgestattet, die Hirtensorge moderiert (leitet).“

Konkrete pastorale Notsituationen in Afrika, Amerika und Asien (Stichwort Priestermangel), in denen die Hirtensorge sowohl durch Einzelpersonen als auch durch kleine Gemeinschaften (v. a. von Ordensfrauen) wahrgenommen 16

Örsy, Entwicklung (Anm. 11), S. 302.

17

Freilich stellt sich die Frage, an welchen Zeichen man eine authentische und geistgewirkte Entwicklung von einer Fehlentwicklung unterscheiden kann. Örsy greift hier auf J. H. Newman zurück, der folgende Kriterien aufstellt: 1. Dauer der Fundamente: Prinzipien und Fundamente einer verfassten Gemeinschaft bleiben aufrecht vs. Destabilisierung. 2. Es gibt eine historische Kontinuität, einen organischen Fortschritt vom Alten zum Neuen und keine radikalen Brüche; verborgene Potentiale werden im veränderten Kontext neu entfaltet. 3. Schenkt der Gemeinschaft neue Lebenskraft und innere Energie und führt nicht zu Verfall, Stagnation und Entfremdung. Vgl. Örsy, Entwicklung (Anm. 11), S. 305 – 306. 18 Vgl. Michael Böhnke, Pastoral in den Gemeinden ohne Pfarrer. Interpretation von c. 517 § 2 CIC/1983 (MKCIC Beihefte 12), Essen 1994; Karl-Heinz Selge, Das seelsorgerische Amt im neuen Codex iuris canonici: die Pfarrei als Ort neuer kirchlicher Ämter? Frankfurt, 1991; Heribert Hallermann, Pfarrei und pfarrliche Seelsorge. Ein kirchenrechtliches Handbuch für Studium und Praxis (KStKR 4), Paderborn u. a. 2004, S. 125 – 141.

Kanon 517 § 2 – der „Kirchenentwicklungsparagraph“

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wurde, waren Modell und Vorbild für den c. 517 § 2. Die Norm ist zwar auf eine außerordentliche, aber auf Dauer angelegte Form pastoraler Verantwortung in der Pfarrei abgestellt und kann zur Anwendung kommen, wenn Priestermangel vorliegt.19 Obwohl für den leitenden Priester in c. 517 § 2 die Verbform „moderari“ verwendet wird, bezeichnet man den moderierende Priester meist als (Pfarr-) Moderator. Die an ihn gebundenen Aufgaben sind nicht vorweg festgelegt.20 Der moderierende Priester ist nicht Pfarrer im Sinne des c. 519. Die Pfarre gilt kirchenrechtlich als vakant. Der Priester ist in diesem Fall Stellvertreter des Bischofs, der pastor proprius für die vakante Pfarrei ist. Bei den genannten Vollmachten des Priesters handelt es sich in der Folge auch nicht um eigenberechtigte Vollmachten bzw. um ordentliche stellvertretende Gewalt, sondern um eine vom Bischof delegierte. Für Karl Lehmann scheint dieser Aspekt – aus der Sicht eines Bischofs sprechend – wichtig zu sein: Der Priester „hat nicht alle Kompetenzen eines Pfarrers, sondern diejenigen, die er zur leitenden Aufgabe braucht.“21 Die Vollmachten sind also je individuell zu regeln.22 Die rechtliche Stellung des Priesters basiert theologisch auf seiner Bedeutung für die eucharistische Gemeinde. Der geweihte Priester repräsentiert in seiner moderierenden Tätigkeit und als Vorsteher der Eucharistiefeier Christus. Ihm kommt daher die Letztverantwortung für die Hirtensorge zu. Das „moderari“ beinhaltet sowohl die Aufgabe der sakramental begründeten Christusrepräsentation als auch Koordinations- und Leitungsaufgaben.23

19

Die Entscheidung, ob nun ein Priestermangel vorliegt liegt allein beim zuständigen Diözesanbischof. Vgl. Hallermann, Pfarrei (Anm. 18), S. 130 – 132. 20

Vgl. Hermann Schmitz, „Gemeindeleitung“ durch „Nichtpfarrer-Priester“ oder „Nichtpriester-Pfarrer“. Kanonistische Skizze zu dem neuen Modell pfarrlicher Gemeindeleitung des c. 517 § 2 CIC, in: AfkKR 161 (1992), S. 329 – 361, hier S. 335. 21

Karl Lehmann, Die Sorge der Kirche für die Pfarrgemeinde. Die Bedeutung von Can. 517 § 2 für die Planung der künftigen Seelsorge, in: Ders., Die Zukunft der Seelsorge in den Gemeinden. Zur Planung einer kooperativen Pastoral im Bistum Mainz (Mainzer Perspektiven 1), Mainz 1995, S. 121 – 129, hier S. 123. 22

Vgl. Schmitz, Gemeindeleitung (Anm. 20), S. 331; Hallermann, Pfarrei (Anm. 18), S. 130.132 f. 23

Vgl. Böhnke, Pastoral (Anm. 18), S. 39 f. Böhnke betont ausdrücklich, dass sich der Priester daher nicht nur auf die Wahrnehmung der Aufsichtrechte beschränken könne, sondern auch seelsorgliche Aufgaben erfüllen müsse. Dass genau diese Vorgaben in der Praxis oft nicht erfüllt werden können, wird die anschließende Studie zeigen.

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Die nichtpriesterliche Person hat teil an „der Ausübung der Hirtensorge“ (participationem „in exercitio curae pastoralis“).24 Der bedeutsame Begriff „Hirtensorge“ gilt als „Synonym für den Ausdruck Gemeindeleitung“25 und meint das umfassende Hirtenamt wie es einem Pfarrer übertragen ist (vgl. c. 515 § 1). Wenn also der kirchliche Gesetzgeber im c. 517 § 2 mit Absicht diesen für den Pfarrer vorgesehenen Begriff zur Aufgabenbeschreibung verwendet, so bezieht sich die Teilhabe (participatio) der beauftragten nichtpriesterlichen Person auf die klassischen Pfarreraufgaben: Lehren, Heiligen und Leiten. Es stellt sich freilich die Frage, wie das eine nichtpriesterliche Person tun kann, wenn sie nicht die sakramentale Weihe empfangen hat. Die Verwendung des Ausdrucks „participatio“ bezeichnet ein qualitativ höheres Maß an Verantwortlichkeit der nichtpriesterlichen Person als es „cooperari“ (vgl. c. 129 § 2) oder auch das „operam conferre“ (offizielle deutsche Übersetzung: „mithelfen“) zum Ausdruck bringen. Letztere meinen „funktional verstandene einzelne Beauftragungen im Sinne der Wahrnehmung einzelner Seelsorgeaufgaben“26. Kardinal Lehmann bringt dieses Faktum auf den Punkt: „‚Teilhabe‘ spricht eben doch dafür, dass im Zuge der Beauftragung eines Nichtpriesters eine Teilgabe und Teilhabe an der Leitungsvollmacht zustande kommt.“27 Die in c. 517 § 2 genannte nichtpriesterliche Person kann also nicht als Mitarbeiterin oder Stellvertreterin des Priesters bezeichnet werden, sondern erhält einen spezifischen Sendungsauftrag. Durch die Beauftragung des Bischofs hat die nichtpriesterliche Person öffentlich teil an der Heilssendung der Kirche. So wie der Priester im Namen des Bischofs seine moderierende Funktion ausübt, so macht die bischöfliche Beauftragung der nichtpriesterlichen Per-

24

Vgl. Schmitz, Gemeindeleitung (Anm. 20), S. 339. Fälschlicherweise wurde bei den ersten beiden Übersetzungen des Kodex vom Lateinischen ins Deutsche der Begriff „cura pastoralis“ mit Seelsorge übersetzt. Für „Seelsorge“ wird jedoch im Lateinischen der Begriff „cura animarum“ verwendet. Dieser Begriff ist inhaltlich enger bestimmt als „cura pastoralis“. „Cura animarum“ ist nur eine Dimension bzw. ein Teilbereich der „cura pastoralis“. 25

Sabine Demel, „Priesterlose“ Gemeindeleitung. Zur Interpretation von c. 517 § 2 CIC/1983, in: MThZ 47 (1996), S. 65 – 76, hier S. 67. 26

Thomas Schüller, Hirtensorge in Pfarreien ohne Pfarrer. Der c. 517 § 2 CIC/1983 – eine kirchenrechtliche Norm für neue Formen der Gemeindeleitung, in: Kirchliches Recht als Freiheitsordnung. Gedenkschrift für Hubert Müller (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 27), Würzburg 1997, S. 169 – 195, hier S. 179. Vgl. auch Hallermann, Pfarrei (Anm. 18), S. 139 f. 27

Lehmann, Sorge (Anm. 21), S. 126.

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son deutlich, dass sie „am Hirtenauftrag des Bischofs und nicht an dem des Priesters partizipiert“28. Der Gesetzgeber wollte dem Ortsbischof einen großen Spielraum offen halten, um die Aufgabenverteilung für die Leitungspersonen dieser Rechtsfigur individuell regeln zu können. Der konkrete Umfang der Teilhabe an der Hirtensorge ist vom Diözesanbischof partikularrechtlich bzw. durch ein Dekret festzulegen. Wenn nun Laien in beachtlichem Umfang seelsorgliche und leitende Tätigkeiten eines Pfarrers ausüben, stellt sich die Frage, ob hier nicht faktisch ein Amt vorliegt.29 Durch den einheitlichen Amtsbegriff des CIC/1983 (vgl. c. 145 § 1) „wird klargestellt, dass amtliches, d. h. repräsentatives und verbindliches Handeln im Namen der Kirche prinzipiell nicht nur auf die sakramtental geweihten Amtsträger beschränkt ist“30. Mit der Einführung eines kirchlichen Amtes auf partikularrechtlicher Ebene, gewinnt die Funktion in der Diözese, aber auch gegenüber den Gemeindemitgliedern an Profil und Autorität, was die Ausübung dieser Aufgabe erleichtern kann. Dass der ekklesiologische Ort der beiden Leitungspersonen, v. a. der nichtpriesterlichen unklar bleibt schlägt sich auch in der Hilflosigkeit nieder, eine adäquate, überregional gültige Bezeichnung zu finden: So wird der moderierende Priester beispielsweise als Nichtpfarrer-Priester oder als Priester-Animateur bezeichnet. Die nichtpriesterliche Person wird Bezugsperson, Ersatzpfarrer, Laienpfarrer, Pfarrkonsultor, Nichtpriester-Pfarrer, Pfarrassistent, Pfarrkurator etc. genannt. Die meisten österreichischen Diözesen benützen den Begriff „Pfarrassistent“. Die Diözese Innsbruck verwendet die Bezeichnung „Pfarrkurator“. „Kurator“ – vom Lateinischen „curare“: heilen, behandeln, pflegen, sorgen – lässt auch für die Nichtlateiner Assoziationen zum deutschen Wort „kurieren“ anklingen. Der Begriff „Pfarrkurator“ weckt durchaus Assoziationen zum Bild des „guten Hirten“ und ist ohne viel Erklärungen verständlich. Ein zufrieden stellender Begriff kann wohl erst dann gefunden werden, wenn die dahinter liegenden amtstheologischen Fragen eine kongruente Antwort erfahren.

28

Böhnke, Pastoral (Anm. 18), S. 42.

29

So z. B. Karl Rahner, in: Paul M. Zulehner, „Denn du kommst unserem Tun mit deiner Gnade zuvor …“ Zur Theologie der Seelsorge heute. Paul M. Zulehner im Gespräch mit Karl Rahner, Düsseldorf 1984, S. 96: „Wo eine Partizipation am Amt vorliegt, so handelt es sich nicht mehr um einen Laien, sondern um einen Amtsträger.“ 30

Severin Lederhilger, Die kirchenrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten von kooperativer Seelsorge in pastoralen „Notsituationen“, in: Gnade und Recht. Beiträge aus Ethik, Moraltheologie und Kirchenrecht. Festschrift für Gerhard Holotik zur Vollendung des 60. Lebensjahres. Hrsg. v. Stephan Haering, u. a., Frankfurt, S. 405 – 437, hier S. 420.

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III. Hören, was der Geist den Gemeinden sagt – Auszüge aus einer empirisch-theologischen Studie zum Leitungsmodell nach c. 517 § 2 1. Den Glaubenssinn der Gläubigen als unverzichtbare Stimme ins theologische Gespräch einbringen Die Leitungsfigur nach c. 517 § 2 ist – zumindest in Europa – neu. Es liegen keine Erfahrungen vor, sodass das Modell oft zunächst „ad experimentum“ eingesetzt wird. Auch wenn die Absicht einer Evaluierung dieses Modells da und dort bekundet wurde,31 so sind bis dato keine systematischen Untersuchungen oder wissenschaftliche Studien darüber durchgeführt worden. Es liegen zwar einige sehr lesenswerte und reflektierte Erfahrungsberichte vor, diese sind aber leider großteils aus der Perspektive von Leitungspersonen (auf Pfarr- oder Diözesanebene) oder von Fachexperten geschrieben. 32 Der Autor dieses Beitrags – zugleich Leiter der Studie – geht aber davon aus, dass für eine Evaluierung die Betroffenen selbst die Experten sind, die mit ihren Erfahrungen zu Wort kommen müssen. Dass sich die existentielle Wahrheit der konkreten Situation nur über die primär Betroffenen erschließt, ist nicht nur eine sozialwissenschaftliche Überzeugung. Die Kirche hat den „sensus fidelium“, den Glaubenssinn der Gläubigen immer als einen Ort theologischer Erkenntnis hochgehalten – wenn auch nicht immer berücksichtigt. Die Erfahrungen der betroffenen Gläubigen, ihr gläubiger Sinn, der ein „Gespür für das Wesentliche an Gottes Offenbarung“33 bezeichnet, darf deshalb im theologischen und kirchlichen Gespräch auf der Suche nach neuen Formen der Gemeindeleitung nicht übergangen werden. Eine wissenschaftliche, sowohl die Anforderungen einer empirischen Sozialforschung erfüllende und zugleich theologisch begründete und ausgewertete Studie wurde – meines Wissens – erstmals in der Diözese Innsbruck um die

31

Solches liest man auch in der Rahmenordnung der Diözese Innsbruck: Rahmenordnung der Bistums Innsbruck vom 16. September 1996 für Pfarrkuratoren/-innen und Pfarrmoderatoren: AfkKR 165 (1996), S. 510 – 514, hier S. 514. 32

Vgl. Heribert Hallermann (Hrsg.), Die Verantwortung gemeinsam tragen. Erfahrungen mit der kooperativen Pastoral im Bistum Mainz im Hinblick auf c. 517 § 2 CIC (Mainzer Perspektiven 13), Mainz, 1999. Norbert Schuster / Martin Wittmann (Hrsg.), Die Platzhalter. Erfahrungen von Gemeindeleiterinnen und Gemeindeleiter, Mainz 1997. 33

Herbert Vorgrimler, Überlegungen zum Glaubenssinn der Gläubigen, in: Diak 28 (1997), S. 366 – 375, hier S. 367 (Hervorhebung von J.P.).

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Jahrtausendwende unter meiner Leitung durchgeführt. Das umfassende Projekt kann in diesem Rahmen freilich nur in einzelnen Auszügen dargestellt werden.34 2. Eine qualitative Studie zu c. 517 § 2 in der Diözese Innsbruck Unter Bischof Reinhold Stecher wurde das Leitungsmodell nach c. 517 § 2 in der Diözese 1994 offiziell eingeführt. Nach 5 Jahren, also zum Zeitpunkt der Untersuchung gab es in der Diözese Innsbruck 12 Pfarren, die nach diesem Modell geleitet wurden. Für die Studie musste eine gute Streuung hinsichtlich der Kuratoren-Profile und des „Erstberufs“ des moderierenden Priesters sowie der Gemeinden gefunden werden. In der Ergebnisdarstellung beziehe ich mich im Folgenden auf drei Pfarrgemeinden: Landpfarre Aufeld mit einem verheirateten Diakon als Kurator und einem Moderator, der im „Erstberuf“ Pfarrer in der Nachbargemeinde ist; Pfarre Ehrendorf in der Nähe einer größeren Stadt mit einem ehrenamtlichen Kurator, der im Hauptberuf höherer Beamter ist und dessen Moderator gerade an einer Dissertation arbeitet (diese Pfarre hat noch eine hauptamtliche Pfarrsekretärin) und die Stadtrandpfarre Franzenberg mit einer hauptamtlich angestellten Ordensschwester als Kuratorin und einem Ordensmann (Provinzial) als Moderator. Mit den 32 repräsentativ ausgewählten Personen wurden umfangreiche qualitative Interviews durchgeführt. 3. Auszüge aus der gemeindeübergreifenden Gesamtauswertung Die Fragestellung der Studie lautete: Wie wird die „Doppelleitung“ durch c. 517 § 2 in den Gemeinden wahrgenommen und welche Auswirkungen hat dieses Modell auf das konkrete Leben der Gemeinde? In einem Leitfaden wurden fünf thematische Bereiche angesprochen: Fragen zu Art und Weise des Umstellungsprozesses, zum Erleben der neuen Leitungsfigur und der neuen

34

Vgl. Johannes Panhofer, Hören, was der Geist den Gemeinden sagt. Gemeindeleitung durch Nichtpriester als Anstoß zur Gemeindeentwicklung – Eine empirisch-theologische Studie zu can. 517 § 2 (Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge 58), Würzburg 2003. Das Buch bietet eine statistische Bestandsaufnahme zum Priestermangel (weltweit und regional zusammengestellt), eine Zusammenfassung des kirchlichen und theologischen Stimmungsbildes zur Amts- und Gemeindefrage, eine Zusammenfassung der kirchenrechtlichen Diskussion zum c. 517 § 2, eine umfassende theologische Begründung für die Studie („Sensus fidelium“), die Darstellung der verwendeten qualitativen Methodik und des Projektverlaufes, eine umfangreiche systematische Darstellung der Befragungsergebnisse (große Abschnitte im Originalton) und eine pastoralpraktische (Wie kann das Modell gelingen?) sowie praktisch-theologische Reflexion dieses Leitungsmodells.

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Leitungsrollen, zu den konkreten (nachweisbaren) Veränderungen in der Gemeinde, zum persönlichen Standort der interviewten Person in Kirche und Pfarrgemeinde und zur Gesamteinschätzung und Zukunftsperspektive dieses Leitungsmodells. Ich gebe den empirischen Befund bereits gemeindeübergreifend, aber in Auszügen wieder. a) Der Umstellungs- und Installationsvorgang Wird den Mitgliedern einer Pfarrgemeinde deutlich, dass nach dem Weggang des letzten Pfarrers kein neuer, eigener Pfarrer mehr zu erwarten ist, so führt das bei vielen Menschen zunächst zu einer großen Irritation im verinnerlichten Bild einer katholischen Pfarrgemeinde – zu dem ein Pfarrer einfach dazugehört. Hilflosigkeit und Ratlosigkeit machen sich breit. Obwohl die Umstellung auf das Kuratoren-Moderatoren-Modell (ich verwende die in der Diözese Innsbruck gebräuchliche Bezeichnung und kürze sie in der Folge mit „K-M-Modell“ ab) in den einzelnen Gemeinden sehr unterschiedlich gelaufen war, lassen sich für die Neuorientierungsphase folgende verallgemeinerbare Schlussfolgerung ablesen: Dort, wo die Bevölkerung gut informiert worden ist, man sich mit den Alternativen ausführlich beschäftigen konnte und eine Mitentscheidung über das zukünftige Leitungsmodell möglich war, wurde der Umstieg sowohl emotional als auch praktisch besser bewältigt als in jener Gemeinde, wo die Bevölkerung nicht eingebunden wurde. In letzterem Fall hatte die Bevölkerung eher das Gefühl, dass sie dem Umstellungsprozess hilflos ausgeliefert ist. Angestaute Ressentiments treffen in der Folge vor allem die neu installierten, aber daran „unschuldigen“ Leitungspersonen. Diese negativen Gefühle können den Neuanfang eines solchen Modells enorm erschweren. Als günstig hat sich auch ein gleitender Übergang vom alten klassischen zum neuen Modell erwiesen. b) Die Leitungsstruktur und die Rollen der Leitungspersonen Alle untersuchten Gemeinden sind von starker Fluktuation und steigender Mobilität, von starkem Zuzug und Abwanderung geprägt. In einer solchen Situation ist eine klare Leitung erforderlich. An dieser Stelle seien ein paar Anmerkungen zu den Dimensionen von Gemeindeleitung angebracht: Im K-M-Modell sind die traditionell an den Pfarrer gebundenen Aufgaben der Hirtensorge von Rechts wegen auf zwei oder mehrere Leitungspersonen aufgeteilt. Zur empirischen Überprüfung musste das Gesamtprofil des Hirten bzw. die Gesamtgestalt des Pfarreramtes operationalisiert, d. h. in seine Dimensionen ausgefaltet werden. Der Pfarrer vereinigt vier Dimensionen in seinem Hirtendienst: Er ist Seelsorger, Gemeindeleiter, kirchli-

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cher Amtsträger und geweihter Priester.35 Die folgende Grafik symbolisiert die vier Dimensionen hirtlicher Leitung durch Kreise, die sich auf verschiedene Personen – je nach Leitungsfigur – aufteilen können:

Amt Verbindliches Sprechen und Handeln (Jurisdiktionsvollmacht)

Leitung im organisatorischen Sinn

Weihe (sakramentale Dimension)

Vielfältige Seelsorge

Der empirische Befund ergab, dass das Modell dann gut angenommen wird, wenn die Dimensionen – d. h. die Zuständigkeit und der jeweilige Aufgabenumfang – zwischen KuratorIn und Moderator gut aufgeteilt sind. In der Pfarre Ehrendorf mit dem ehrenamtlichen Kurator entstand eine für die Menschen schmerzliche Lücke. Der Moderator war zwar für die Sakramentenspendung da, der Kurator organisierte perfekt die Pfarre – gemeinsam mit der hauptamtlichen Sekretärin –, aber die Menschen vermissten einen Seelsorger, der für sie erlebbar und greifbar war. Diese seelsorgliche Präsenz kristallisierte sich überraschend deutlich als Herz der Gemeindeleitung heraus. „Für die Jugend oder wenn jemand stirbt ... , und dann ist kein Pfarrer da“, beschweren sich die Menschen.36 Neben der menschlich-seelsorglichen Präsenz erwarten sich die Menschen darüber hinaus bestimmte Zeichen der „Professionalität, wie eine theologische und praktische Kompetenz sowie eine amtliche Bestätigung durch die Diözesanleitung. In der Gemeinde, in der eine Frau leitet, wird selbst von Fernstehenden betont, dass die Gemeinde durch die Kuratorin ein „freundliches Gesicht“ be35

Zur Begründung und inhaltlichen Füllung dieser Dimensionen vgl. Panhofer, Hören (Anm. 34), S. 281 – 287. 36

Vgl. Panhofer, Hören (Anm. 34), S. 219.

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kommen habe. Die Ordensschwester ist als Leiterin selbstverständlich akzeptiert, wobei bei eher älteren Menschen auch die Zeichen der „Professionalität“ (zölibatäre Ordensfrau, Spiritualität, Kommunikationsfreudigkeit, pädagogische Ausbildung) eine wichtige Rolle spielen. Für Frauen mittleren und jüngeren Alters ist auch eine verheiratete Frau als Kuratorin vorstellbar – wobei sie die Schwierigkeiten, die sich familiär einstellen können, durchaus sehen. Die gute Zusammenarbeit zwischen Kurator und Moderator wird von den Leitungspersonen in allen Pfarren, aber auch von Seiten der Gemeinden als Angelpunkt des Funktionierens bewertet. Es geht dabei nicht nur um die viel zitierte „stimmende Chemie“ bzw. die gleiche „Wellenlänge“. Entscheidend ist offensichtlich, wie gut sich die beiden Leitungspersonen in ihrer Andersheit als Person, mit ihrem pastoralen Stil und ihren persönlichen Optionen, in ihrer je eigenen Spiritualität und mit einem anders akzentuierten Kirchen- und Gemeindebild akzeptieren können. Es geht um das Zulassen, ja mehr noch um eine aufrichtige Befürwortung eines im katholischen Raum legitimen Pluralismus hinsichtlich persönlicher Einstellungen und pastoraler Stile. Hermann Stenger hat das psychische Vermögen, die Andersartigkeit von Personen annehmen und akzeptieren zu können, als „Pluralitätstoleranz“ bezeichnet. Er meint damit die Fähigkeit, eine „Vielfalt in der Kirche nicht nur relativ angstfrei ertragen, sondern in ihr auch das Wirken des Geistes sehen zu können“37. Die Pluralitätstoleranz scheint in besonderem Ausmaß vom Moderator gefragt zu sein, der ja die letzte Kontrollfunktion innehat. Manche Moderatoren sprechen daher auch von einer bewussten Zurückhaltung (einer Art Askese) in der ständigen Bewertung v. a. pastoral-praktischer Dinge (vgl. Ministranteneinteilungen, ...), um nicht in eine Bervormundungs-, Besserwisser- oder Nörglerrolle zu geraten. Dass die Einheit von Leben und Glauben in ihrer personifizierten und symbolischen Aufteilung und in den Sakramente spendenden Priester und in den seelsorgenden Kurator zerbrochen scheint, wird nicht nur von den Leitungspersonen, sondern auch von den Gläubigen so erlebt. Einmal feiert der eher unbekannte Moderator, der kaum Seelsorge und Leitung ausübt, die sonntägliche Eucharistie mit der Gemeinde. Ein andermal leitet der Diakon den sonntäglichen Wortgottesdienst mit Kommunionfeier, da der Moderator zu gleicher Zeit in „seiner“ Pfarre sein muss. Die Eucharistie wird am Sonntagabend gefeiert, wo die Familien nicht mehr teilnehmen können. In der dritten Gemeinde löst die Tatsache, dass die leitende Kuratorin mit den Menschen ihr Leben teilt und

37

Hermann Stenger, Kompetenz und Identität. Ein pastoralanthropologischer Entwurf, in: ders. (Hrsg.), Eignung für die Berufe der Kirche. Klärung – Beratung – Begleitung, Freiburg 1988, S. 31 – 133, hier S. 57.

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die Gottesdienste mitvorbereitet, bei der sonntäglichen Eucharistie aber dem Priester den Vorsitz überlassen muss, bei ihr selbst ein Gefühl der Unstimmigkeit und der Unzufriedenheit aus. Am stärksten erlebt die Kuratorin diese „Unstimmigkeit“ bei der Begleitung Sterbender, wenn sie einen Menschen monatelang persönlich begleitet und dann ein für den Betroffenen unbekannter Priester zur Krankensalbung kommt. Diese Aufteilung wird auch vom Moderator als unsinnig erlebt. Darin wird vielmehr der Zerfall der Einheit von konkretem Leben und liturgisch-sakramentalem Feiern des Glaubens sichtbar. Angesichts dieser Aufspaltung plädieren die Menschen überraschend eindeutig für die Einheit von Seelsorge und sakramentalen Feiern und damit für eine(n) geweihte(n) GemeindeleiterIn. Die Menschen erleben, dass auch ein verheirateter Mann, eine Frau ein/e gute/r SeelsorgerIn sein kann. Überraschend ist, dass sich keine (!) der befragten Personen angesichts der aktuellen Knappheit an Priestern für die Beibehaltung des Pflichtzölibats ausgesprochen hat, sondern für die Freistellung optiert. Die mögliche Vereinbarkeit von Ehe bzw. Familie und seelsorglichem Amt wurde mit großem Realismus und aller Nüchternheit mit Pro und Kontra diskutiert. Trotz möglicher Schwierigkeiten akzeptieren die Menschen eher die Priesterweihe für verheiratete Männer als die durch den Priestermangel – auch ohne diesem Modell – hervorgerufene Trennung von Seelsorge und Sakramentenspendung bzw. Eucharistiefeier.38 c) Die Veränderungen im Leben der Gemeinden Die Installierung des K-M-Modells löst in den Gemeinden ein größeres Engagement bei den Menschen aus und führt in der Folge zu einer Verlebendigung der Gemeinde: Es herrscht das Motto: „Jetzt müssen wir auf eigenen Füssen stehen“. Das Modell provoziert zumindest bei einem bestimmten Kreis in der Gemeinde das Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung und führt zu stärkerer Identifizierung mit der „Sache“ der Gemeinde. Bei genauerem Hinsehen hängt dieser Aktivierungsschub zunächst nicht mit dem Leitungsmodell als solchem zusammen, sondern mit dem (partizipativen) Leitungsstil, der wiederum mit Selbstverständnis, Alter, dem „Zugang zur Jugend“ und dem kommunikativen Kirchen- und Gemeindebild der Leitungspersonen zu tun hat. Trotzdem gibt es auch einen modellspezifischen Effekt, der dem Modell als solchem zuzurechnen ist. Beim traditionellen Gemeindemodell sieht man den eigenen Pfarrer als einen seelsorgenden Gemeinde-Vater, der 38

Beim geweihten Diakon ist die Vereinbarkeit von „Pfarramt“ und Ehe am meisten fortgeschritten. Für viele der Befragten ist auch eine Weihe der Frau denkbar, aber erst als zweiter Schritt.

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sich um die Menschen und das Gemeindeleben selbst kümmert und dafür auch allein verantwortlich ist. Damit war den Laien im Gegenzug viel an seelsorglicher Arbeit, Verantwortung und Mitbestimmung abgenommen. Der Leitungsstil konnte als ein „leiten für“ die Gemeinde bezeichnet werden.39 Die Anwesenheit eines eigenen Pfarrers fördert offensichtlich bei den Gemeindemitgliedern eine Haltung nach dem Motto: „Wir haben ja einen Pfarrer, der dafür zuständig ist und das besser machen kann als wir!“ Mit dem neuen Modell wird diese selbstverständliche Erwartung (heilsam) irritiert, eine Offenheit für neue Rollenerwartungen wird provoziert und führt bei sorgsamer Begleitung zu einer Neuordnung der Rollen von gemeindlichen Leitungspersonen und Gemeindemitgliedern und der Übernahme neuer Verantwortung. Ein Kurator – so die Einsicht der Gemeinde – braucht Mitarbeiter. Übereinstimmend registriert die Bevölkerung, dass mit der Installation des K-M-Modells mehr Familien mit Kindern bei den Gottesdiensten anwesend sind. Sie führen dies darauf zurück, dass Familien und Kinder besser angesprochen werden. Gerade die zeitintensive Kinder- und Jugendpastoral erfährt durch einen präsenten Kurator eine besondere Aufmerksamkeit. Die geringere Präsenz der Priester in den Gemeinden hat zur Folge, dass sich in allen drei Gemeinden mehr Gemeindemitglieder an der Vorbereitung und Mitgestaltung der Gottesdienste beteiligen. Die Menschen lernen nun neben der vertrauten Eucharistiefeier auch andere Formen der Liturgie kennen, v. a. den Wortgottesdienst. Nach anfänglicher Skepsis einzelner Gläubige finden diese Gottesdienstformen – meist sorgfältig vorbereitet – begeisterte „Anhänger“. Ein neues Betätigungsfeld v. a. für Frauen tut sich auf. d) Die Gesamtbeurteilung des K-M-Modells durch die Gemeindemitglieder Die Gesamtbeurteilung des K-M-Modells durch die Bevölkerung fällt überwiegend positiv aus. Nach einer ersten Phase des skeptischen Abwartens in allen Gemeinden stellt sich eine überraschend deutliche Akzeptanz des Modells ein. Manche beteuern sogar, mit der Situation wie sie vor dem Wechsel bestand, nicht mehr tauschen zu wollen. Im selben Atemzug betonen sie jedoch – und das scheint im Widerspruch dazu zu stehen –, dass sie lieber einen eigenen Pfarrer hätten, wenn diese Möglichkeit bestünde. Dies liegt vermutlich in jenen Unstimmigkeiten – Aufspaltung und Inkongruenz von Leitungs- und sakramentaler Funktion – begründet, die dieses Modell mit sich bringt. Die Menschen wünschen sich die verschiedenen Dimensionen der Leitung (v. a. Seelsorge und 39

Vgl. Bernd-Jochen Hilberath / Matthias Scharer / Herbert Haslinger, Konkretion: Leitung, in: HPTh 2, S. 494 – 510, hier S. 499.

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Weihe) in Personalunion wie bei einem Pfarrer. In diesem Sinn empfinden die Gläubigen „gut katholisch“. Die Menschen ziehen dieses Modell anderen Alternativen – wie ein Priester aus dem Ausland oder eine Mitprovision durch einen auswärtigen Priester – eindeutig vor. Es ist äußerst fraglich, ob eine so markante Verlebendigung der verschiedenen Gruppen und Aktivierung von Einzelpersonen eintreten würde, wenn kein(e) KuratorIn als Gemeindeleiter präsent wäre (sondern „nur“ eine Ansprechperson), der die Menschen ermutigt sowie die aufbrechenden Aktivitäten koordiniert, begleitet und in das Gesamtleben der Gemeinde integriert. IV. Pastoraltheologischer Ertrag: das Modell als Chance zur Gemeindeentwicklung und als Quellort einer neuen Gestalt des Amtes 1. Im Dienste der „Lebendigkeit christlicher Gemeinden“ – eine praktisch-theologische Reflexion In der pastoraltheologischen Reflexion des empirischen Befundes müssen zwei Ebenen unterschieden werden: Zum einen ergeben sich in sehr klarer Weise wichtige pastoral-praktische Impulse, deren Beachtung zu einem guten „Gelingen“ des Modells, d. h. im Sinne eines konstruktiven Aufbaus der Gemeinde und eines guten Zusammenspiels aller Beteiligten relevant sind. Dazu zählen: Die Art und Weise der Einbeziehung der betroffenen Gemeinde in den Umstellungsprozess, die gut überlegte Auswahl der beiden Leitungspersonen, eine sorgfältige Aufteilung und Wahrnehmung der verschiedenen Dimensionen von Leitung (s. o.), die Einübung in die vielfach unbekannten Rollen der neuen Leitungspersonen und eine mögliche „Probezeit“. Die Erstellung eines Charismen- und Kompetenzprofils der Gemeinde und einer Gemeindebegleitung von außen in dieser Phase wird dringend empfohlen. Da diese Impulse v. a. für Gemeindeberater und Seelsorgeplaner, weniger für Kirchenrechtler interessant sind, wird hier darauf nicht eingegangen.40 Zum anderen geht es um eine praktisch-theologische Reflexion, die zwar in diesem Rahmen nicht umfassend geleistet,41 aber zumindest angedeutet werden kann. Daraus soll ersichtlich werden, dass der c. 517 § 2 nicht nur einen Anstoß zur Gemeindeentwicklung darstellt, sondern sich – da er reflektierte Rollenveränderungen mit sich bringt und Fragen zum Amt zuspitzt, die nach Klärung drängen – zum Kirchenentwicklungsparagraphen entpuppen kann.

40

Vgl. dazu näher: Panhofer, Hören (Anm. 34), S. 267 – 273.

41

Vgl. Panhofer, Hören (Anm. 34), S. 273 – 302.

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Soll der empirische Befund „im Licht des Evangeliums“ (GS 4) gedeutet werden, braucht es eine theologische Folie, die Kriterien bietet. Wir erinnern uns an die Worte Papst Paul VI., der in Evangelii nuntiandi zu einer neuen Gestalt des Amtes ermutigt und dazu vier Kriterien als Orientierung nennt. Eine neue Gestalt des Amtes hat sich zu allererst am Ursprung der Kirche auszurichten.42 Das uns in den biblischen Schriften begegnende Wort Gottes ist die Quelle jeglicher Weiterentwicklung von Kirche, die „norma normans non normata“. Als weiteren Orientierungspunkt nennt Paul VI. „die heutigen Nöte der Menschheit und der Kirche“43 und erinnert damit an eine Orientierungsmarke, die das Evangelium selbst für unser Handeln und Gestalten vorgibt: Die Nöte, die Bedürftigkeit des Menschen, – seien diese geistlich oder materiell. Als drittes Kriterium beschreibt Paul VI. den für die Kirche fundamentalen Vorgang der Rezeption: Es geht um Grundentscheidungen und „Grundgestalten“ der Kirche, die „von zahlreichen ihrer Mitglieder gern aufgenommen werden“44. Wenn das Volk Gottes, begabt mit dem Glaubenssinn, eine neue Sozialform „gerne aufnimmt“, so lässt sich darin der Wille Gottes erkennen, eine geschichtliche Entfaltung der Offenbarung, ein Voranschreiten der Kirche der Wahrheit entgegen (vgl. DV 8). Schließlich fasst Paul VI. das pastorale Ziel ins Auge, nämlich, dass „die kirchliche Gemeinschaft möglichst große Lebendigkeit gewinnt“45. Bereits auf den ersten Blick ist man überrascht, wie sehr die von Paul VI. vorgegebenen Kriterien durch den oben dargestellten empirischen Befund erfüllt sind. Das Modell fördert die „Lebendigkeit der Gemeinde“, es wird „gerne aufgenommen“ und antwortet auf eine Not der Gläubigen – den Priestermangel. Insofern es in der Ursprungszeit der christlichen Gemeinden unterschiedliche Formen der Gemeindeleitung gab, widerspricht das Modell nicht den Ursprüngen der Kirche, sondern weist gerade auf eine christlich legitime Vielfalt an Leitungsformen hin.46 Zwei Aspekte der praktisch-theologischen Reflexion möchte ich herausgreifen und in der gebotenen Kürze ansprechen: zum einen, ob sich aus der Unter42

Vgl. Paul VI., Evangelii nuntiandi (hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn 1975, Nr. 73 (Hervorhebung von J.P.). 43

Paul VI., Evangelii nuntiandi, Nr. 73. (Hervorhebung von J.P).

44

Paul VI., Evangelii nuntiandi, Nr. 73. (Hervorhebung von J.P).

45

Paul VI., Evangelii nuntiandi, Nr. 73. (Hervorhebung von J.P).

46

Man denke beispielsweise an die presbyterale Gemeindeleitung in den judenchristlichen Gemeinden. Vgl. Hubert Frankemölle, Gemeindeleitung in Zeugnissen der neutestamentlichen Urgemeinde und der frühen Kirche, in: E. Garhammer / U. Zelinka (Hrsg.), Gemeindeleitung heute - und morgen?, Paderborn 1998, S. 19 – 43.

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suchung Hinweise für eine neue Gestalt des Amtes ergeben und zum anderen, wie durch die Installation des Leitungsmodells nach c. 517 § 2 ein Impuls für das Verständnis von Gemeinde und ihres Mysteriums erfolgt. 2. Das „geteilte Hirtenamt“ und die Wiederentdeckung der Sakramentalität der Gemeinde a) Der gute Hirte – Urbild des Seelsorgers Der empirische Befund, dass sich Seelsorge in der Gemeindeleitung als zentrale Dimension bewahrheitet, korreliert mit der Bedeutsamkeit des biblischen Motivs des Hirten. Im Bild des guten Hirten ist die Sehnsucht des Menschen und die Gabe Gottes an die Menschen zugleich enthalten. Gott will – so erzählt das Erste Testament – sich durch einen von ihm eingesetzten Hirten um die Menschen kümmern. Da die Hirten nachlässig sind (vgl. Ez 34,2 – 4) beschließt Gott einen Knecht nach seinem Gefallen einzusetzen: „Denn so spricht Gott der Herr: Jetzt will ich meine Schafe selber suchen und mich selber um sie kümmern ... Ich setze für sie einen einzigen Hirten ein, der sie auf die Weide führt, meinen Knecht David. Er wird sie weiden, und er wird ihr Hirte sein. Ich selbst, der Herr, werde ihr Gott sein“ (Ez 34,10 – 12.23 f.).

Die (Hirten-)Sorge Gottes um den Menschen wird letztgültig im Sprechen und Handeln Jesu Christi sichtbar und greifbar. An ihm wird erkennbar, was den wahrhaft guten Hirten charakterisiert: „Die Schafe hören auf seine Stimme; er ruft die Schafe, die ihm gehören, einzeln beim Namen und führt sie hinaus. Wenn er alle seine Schafe hinausgetrieben hat, geht er ihnen voraus, und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern sie werden vor ihm fliehen. [...] Ich bin der gute Hirt; ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich der Vater kennt und ich den Vater kenne; und ich gebe mein Leben hin für meine Schafe“ (Joh 10,2 – 5.14 f.).

Das „Profil“ des biblischen Hirten ist durch eine große – beinahe intime – gegenseitige Vertrautheit zwischen Hirten und Schafen gekennzeichnet und er ist ganz für seine Herde da. Hirte-Sein lässt sich zusammenfassen als „Für-dieHerde-Dasein!“47.

47

Hermann Stenger, Im Zeichen des Hirten und des Lammes. Mitgift und Gift biblischer Bilder, Innsbruck 2000, S. 73. (Hervorhebung im Original). Heute wird gerne kritisch das Oben-Unten-Gefälle und der Aspekt der Bevormundung betont. Beides ist im biblischen Bild so nicht intendiert.

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Der gute Hirte wurde damit zum Urbild des Leiters einer christlichen Gemeinde. An ihm richten sich die Hirtenaufgaben des Bischofs (vgl. VatII LG 21) und des Priester aus. Betreffend der Hirtensorge des Priesters hält das „Dekret über Dienst und Leben der Priester“ des II. Vatikanums fest: „Ihr Dienst verlangt in ganz besonderer Weise, dass sie sich dieser Welt nicht gleichförmig machen; er erfordert aber zugleich, dass sie in dieser Welt mitten unter den Menschen leben, dass sie wie gute Hirten ihre Herde kennen und auch die heimzuholen suchen, die außerhalb stehen, damit sie Christi Stimme hören und eine Herde und ein Hirt sei“ (VatII PO 3).

Der grundlegende Hirtenauftrag eines Pfarrers fließt daher auch in die „kanonische Aufgabenbeschreibung“ eines Pfarrers ein (vgl. c. 529 § 1). Es stellt sich die Frage, wie weit ein Pfarrmoderator, der außerhalb der Gemeinde wohnt und tätig ist, dies erfüllen kann? Mit der sakramentalen Weihe ist der Priester mit einer speziellen Zeichenfunktion auf Christus hin, dem einzig „guten Hirten“ versehen. Sakramente müssen aber das, was sie bezeichnen, auch zumindest ansatzhaft (sinnlich) erfahrbar machen, Deshalb ist diese Verweiskraft oder „Durchlässigkeit“ auf Christus hin am konkreten Hirtenamt immer wieder (amts-)kritisch zu überprüfen – so Medard Kehl: „Je mehr in der Struktur und in der Praxis des Leitungsamtes Christus selbst in seiner Suche nach den Verlorenen, in seinem Dienst an den Kranken, den Kleinen und den Sündern zur Geltung kommt; je transparenter das Amt auf in hin ist und dabei (gerade in seinem formalen Charakter) hinter ihm zurücktritt, umso eher leuchtet den Menschen sein Zusammenhang mit dem Wirken des irdischen Jesus und des auferstandenen Herrn ein.“48

Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt. Wo diese Hirtengestalt nur mehr rudimentär und stark verkürzt sichtbar wird oder auf verschiedene Menschen aufgeteilt wird, hat dies Konsequenzen für die sakramentale Zeichenhaftigkeit auf den wahren Hirten hin. Diesen Wirkungen gehe ich nun im vorliegenden Gemeindeleitungsmodell auf dem Hintergrund der „biblische Interpretationsfolie“ nach. Im K-M-Modell ist die Hirtensorge von Rechts wegen auf zwei oder mehrere Leitungspersonen aufgeteilt. Auch der faktische Befund in den untersuchten Gemeinden ergibt, dass der Kurator Aufgaben und hirtliche Funktionen wahrnimmt, die über Jahrhunderte hinweg in der Person und im Amt des Pfarrers vereint gewesen waren. In zwei Gemeinden wird der Kurator bzw. die Kuratorin klar als Seelsorger erlebt und bezeichnet. Der Priester vollzieht jene Aufgaben, „die ihm aufgrund seiner Weihe vorbehalten bleiben“, also die sakramentalen.

48

Medard Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie, Würzburg 21993, S. 318 f.

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Die Verteilung der Hirtensorge in den drei Gemeinden ist äußerst unterschiedlich: In der Gemeinde Aufeld liegt die Leitung der Gemeinde und die Seelsorge in Händen des Kurators, der auch Diakon ist, der Moderator steht der abendlichen Eucharistiefeier vor. Die sakramentale Dimension kann der zum Diakon geweihte Kurator bei der Taufe und der Eheassistenz bezeugen, jedoch nicht in seiner Funktion als Gemeindeleiter bzw. Vorsteher der Eucharistie. Die faktische Konstellation stellt somit ein amts- und sakramententheologisches Kuriosum dar: Ein Teil der hirtlichen Amtsausübung des geweihten Diakons ist sakramental bestätigt (wie Karl Rahner sagen würde) – nämlich die diakonischen Tätigkeiten (biblisch: das Verbinden, das Stärken, das Heilen ...), die leitungsbezogenen (biblisch: führen, sammeln, leiten ...) jedoch nicht. Letztere bleiben dem Priester vorbehalten. Da der geweihte Diakon auch dem sonntäglichen Wortgottesdienst mit Kommunionfeier vorsteht, ist es hier nur mehr ein kleiner Schritt zu einem vollwertigen Pfarrer, der die Eucharistie feiern darf. Glaubensästhetisch (Hermann Stenger) ist es daher verständlich, wenn die Gläubigen ihn als Pfarrer sehen und manche ihn als „geweihten Gemeindeleiter“ bezeichnen. Es wäre in diesem Fall zu fragen, ob der Kurator nicht sinnvoller Weise zu dem gemacht (geweiht) werden kann, was er faktisch schon längst ist: zum Pfarrer! In der Gemeinde Ehrendorf sind die hirtlichen Dimensionen auf mehrere Menschen aufgeteilt. Der moderierende Priester repräsentiert die sakramentale Dimension. Der Kurator übt seine Leitungsfunktion vorwiegend in einem koordinierenden Sinn aus und setzt Entscheidungen durch. Der seelsorgliche Bereich scheint – soweit er vorkommt – auf verschiedene Personen und Gruppen verteilt, wird aber bezogen auf den Priester und den Kurator schmerzlich vermisst. Eine Hirtensorge, die über eine koordinierende, verwaltende Ebene nicht hinausgeht und nicht mit menschlicher Zuwendung verknüpft ist, mag formal und kirchenrechtlich genügen, entspricht aber dem biblischen Hirten nicht. b) Hirtenzeichen ohne Hirtensorge und Hirtensorge ohne „sakramentales Hirtenzeichen“ – Amtstheologische Anfragen Das „Dasein für“ und „Dasein mit“ machen die Kernidentität des Hirten aus. Kardinal Karl Lehmann ruft dies in Erinnerung: „Alle pastoralen Planungen dürfen nicht vergessen lassen, dass eine wirkliche Gemeindebildung ohne stabile Präsenz eines Pfarrers als konkreter Bezugsperson faktisch auf Dauer problematisch wird ... Nur wer dasselbe Leben teilt und am selben Ort wohnt, kann so ein wirklich von den Menschen akzeptierter Seelsorger werden.“49

49

Karl Lehmann, Chancen und Grenzen der neuen Gemeindetheologie, in: IKZ 6 (1977), S. 125.

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Trotz persönlicher Ambitionen wird dieses Seelsorgersein für Priester aus bekanntem Grund heute immer schwerer möglich. Stattdessen übernehmen Laien Leitungs- und Seelsorgeaufgaben – nicht nur in diesem Modell.50 In jüngster Zeit hat die Kleruskongregation darauf hingewiesen, dass die Bezeichnung Hirte allein dem Priester vorbehalten ist. Mit Blick auf vorbildliche Priester stellt sie fest: „Diese Hirten, verzehrt von der Liebe zu Christus und der daraus folgenden Hirtenliebe, stellen ein gelebtes Evangelium dar.“51 Bezogen auf die Moderatorengemeinde wird diese Aussage genauso oder sogar in größerem Ausmaß auf den Kurator, die Kuratorin zutreffen. Dieses Schreiben geht von pastoralen Verhältnissen aus, wie sie jahrhundertelang bestanden haben. Heute hat sich die Realität verschoben. Im Extremfall wird der Moderator, Träger des sakramentalen Hirtenzeichens nicht als Hirteund Seelsorger erlebt, er bleibt den Menschen am Ort fremd, während der Kurator als Hirte erlebt wird, aber das Hirtenzeichen nicht tragen darf. Beim Priester geht aber ein wichtiges Moment des Hirteseins verloren – wie Medard Kehl betont: „Was dabei aber vor allem auf der Strecke bleibt, scheint mir gerade das wichtigste Moment des Hirtendienstes zu sein: nämlich in der Lebenswelt der ‚normalen‘ Gemeindemitglieder (wenigstens partiell) zu Hause zu sein, sie in ihren alltäglichen Lebenssituationen zu begleiten, sie in ihren Häusern aufzusuchen, Zeit für sie zu haben und ihnen zuzuhören, ihnen nachzugehen, wo sie sich zu ‚zerstreuen‘ drohen, ihnen in den vielen großen und kleinen Nöten aus dem Glauben heraus beizustehen, die Gaben des Hl. Geistes unter ihnen zu entdecken und sie für den Dienst in der Gemeinde aus ihrer Reserve herauszulocken usw.; also das, was die Menschen mit Recht von einem ‚Seelsorger‘ erwarten .... Gerade heute, wo der Zusammenhalt einer Gemeinde immer mehr über persönliche Kontakte und immer weniger über institutionell selbstverständliche Vorgaben gelingt, bedarf es dieser menschlich-geistlichen Verwurzelung des Priesters unter den Menschen. So kann er am ehesten noch unter ihnen Christus als den ‚guten Hirten‘ leibhaftig und glaubwürdig ‚repräsentieren‘ ... so werden die von ihm gespendeten sakramentalen Heilszeichen von den Menschen viel leichter als heilend und befreiend erfahren (und nicht nur als routiniertes oder auch ästhetisch gepflegtes Kultritual).“52

50

Zur Frage, ob Laien den Titel Seelsorger tragen dürfen vgl. Matthias Kaiser, Sakrament des Ordo und kirchliches Amt, in: M. Kessler (Hrsg.), Ordination – Sendung – Beauftragung. Anfragen und Beobachtungen zur rechtlichen, liturgischen und theologischen Struktur, Tübingen 1996, S. 113 – 139, hier S. 136. 51

Kleruskongregation, Priester, Nr. 11, in: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cclergy/documents/rc_con_cclergy_doc_20020804_istruzione-presbitero_ge.html (25.10.02). 52

Kehl, Kirche (Anm. 48), S. 444 f.

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Angesicht dieser Situation wird man grundsätzlich überlegen müssen, ob man die Richtung, in die sich das Priesterbild entwickelt, haben will. Dem Versuch, den seelsorglich-hirtlichen Charakter des Priesters festzuhalten, indem man möglichst viele seelsorgliche und organisatorische Leitungsaufgaben an Laien abgibt, sind Grenzen gesetzt. Der Dogmatiker Gisbert Greshake hat Kardinäle mit administrativen Tätigkeiten oder Priester, die ohne Gemeinde „nur“ ein (kirchliches) Finanzamt verwalten vor Augen, wenn er fragt: „Wie kann ... eine Weihe dort sinnvoll sein, wo jemand weder Willens ist noch Fähigkeit noch Gelegenheit besitzt, die ‚Gestalthaftigkeit‘ des Amtes zu verwirklichen?“53

Die Frage darf – in dieser Logik – auch umgekehrt gestellt werden: Wie kann eine Weihe dort verweigert werden, wo jemand willens und fähig ist und bereits faktisch das Hirtenamt ausübt? Die gegenwärtige Situation – der Moderator als „nichthirtlicher“ Priester und der Kurator als nicht geweihter Seelsorger – enthält viele praktische und amtstheologische Aporien, sodass eine dogmatische Klärung und in der Folge kirchenrechtliche und kirchenstrukturelle Konsequenzen überfällig sind. Die Zunahme eucharistieloser Gemeinden erinnert die Kirchenleitung an ihre Verantwortung. In der oft beklagte Kluft zwischen den Symbolen der Welt und den Symbolen der Kirche tritt im K-M-Modell personalisiert bzw. über die Rollenzuteilung nochmals hervor: Der Priester ist für die Sakramente, der Laie für alles Organisatorische, Praktische, Seelsorgliche zuständig. Wenn die Gläubigen sich für die Priesterweihe des Kurators aussprechen, so lehnen sie damit nicht den (konkreten) moderierenden Priester ab. Darin kommt vielmehr die Sehnsucht nach der Einheit von Leben und Glauben zum Ausdruck. Der, der als Hirte erlebt wird, sollte auch das sakramentale Hirtenzeichen tragen. Der brasilianische Priester Antonio José de Almeida optiert mit Blick auf die Situation seiner Heimat: „Nach der ältesten Tradition der Kirche hat der, der der Gemeinde vorsteht, auch ihrem Gottesdienst, vor allem der Eucharistiefeier vorzustehen und nicht umgekehrt. Da die nicht geweihten Gemeindeleiter jedoch der Eucharistiefeier nicht vorstehen können, müssen sich die Gemeinden in diesem Fall an einen geweihten Amtsträger wenden, dem ... das tägliche Leben der Versammlung fremd bleibt.“54

53 54

Vgl. Gisbert Greshake, Priestersein, Freiburg 51991, S. 80.

Zitiert bei Franz Weber, Praktizierte Modelle – ihre Chancen, ihre Grenzen. Zum Beispiel: Lateinamerika, in: Garhammer / Zelinka, Gemeindeleitung (Anm. 46), S. 81 – 94, hier S. 88. Der Lösungsansatz Karl Rahners liegt also durchaus auf einer historischen, urkirchlich verbürgten Tradition.

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Was die Kirchenleitung schützen will, nämlich die Zuordnung von Gemeindeleitung und Eucharistiefeier ist – mit und ohne dieses Modell – faktisch oft nicht mehr gegeben. Die Zuordnung wird quasi pro forma auf dem Papier „gerettet“.55 Es überraschte, dass unter den Befragten, nicht eine Person war, die angesichts des Priestermangels und des Zerfalls der Einheit von Leitung und sakramentalem Amt am Pflichtzölibat festhielt. Die positiven Erfahrungen mit einem verheirateten Gemeindeleiter oder einer Frau als Gemeindeleiterin machen Mut, neue Wege zu beschreiten. Kehl plädiert dafür, „das Institut des Zölibats (vergleichbar der Regelung beim ständigen Diakon) insofern flexibel zu gestalten, dass verheiratete Christen, die sich über mehrere Jahre in der Familie, in der Gemeinde und im Dienst an den Armen bewährt haben, zu Priestern geweiht werden können“56.

Diese Option für eine flexible Gestaltung des Zölibats von Kehl wird durch die Befragung voll gestützt. c) Das allgemeine Hirtentum und die Sakramentalität der Gemeinde So berechtigt die Thematisierung der Zulassungsbedingungen zur Priesterweihe ist, so wäre eine Fokussierung darauf und eine einseitige Beschäftigung mit der Leitungsrolle fatal. Die Fixierung auf die Leitungsfrage führt leider oft allzu leicht zu einer Gemeindevergessenheit. Was in den Erfahrungen dieses Modells aber aufscheint, fasst der Pastoralanthropologe Hermann Stenger so zusammen: „Vom allgemeinen Priestertum ist seit dem II. Vatikanischen Konzil viel die Rede, vom allgemeinen Hirtentum so gut wie nie. Aber es gibt diese gemeinsame hirtliche Kompetenz, die allen Ämtern vorausliegt. Ohne Bild gesprochen heißt das: Alle, die ein Glaubensbewußtsein haben, tragen Verantwortung in der Kirche und für die Kirche. Sie sind alle Hirtinnen und Hirten zu generativer Fürsorge ermächtigt und verpflichtet. Alle … haben eine Hirtenauftrag, den es mit der Gnade Gottes und entspre-

55 Das Thema muss im weltkirchlichen Kontext gesehen werden. In manchen Ländern sind Gemeinden ohne regelmäßige Eucharistiefeier und ohne sakramentales Leitungsamt schon zum Normalfall geworden. Franz Weber schreibt mit Blick auf Brasilien, das dort, wo Gemeindeleitung faktisch umfassend von einem Nichtpriester ausgeübt wird – und in Lateinamerika ist das bereits der Normalfall –, er „im Grunde genommen außerhalb der katholischen Ekklesiologie, Sakramenten- und Ämtertheologie“ (Weber, Modelle [Anm. 54], S. 92) steht. Das zeigt an, in welche Richtung sich die pastorale Situation auch in Europa bewegen wird. 56

Kehl, Kirche (Anm. 48), S. 449.

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chend dem Maß der eigenen Kräfte zugunsten der Gemeinde und der Kirche und zugunsten des Reiches Gottes zu aktualisieren gilt.“57

Dieses Bewusstsein ist – wie oben belegt wurde – durch den Umstieg auf das Leitungsmodell angestoßen und gewachsen. Es weckt eindeutig eine stärkere gemeinsame Verantwortung der Gläubigen und eine größere Identitfikation mit der Gemeinde. Die inspirierenden Impulse wie die stärkere Übernahme von Aufgaben aus den Bereichen Liturgie, Katechetik (Firmvorbereitung, ...), diakonale Seelsorge (Vinzenzverein) und Communio wurden schon angeführt. Wenn Laien in der Liturgie plötzlich „vorne stehen“ so kommt gerade darin symbolisch eine Rollenveränderung zum Ausdruck. Das Modell eröffnet eine verstärkte Möglichkeit, ihre Charismen und Berufungen in den Dienst der Gemeinde zu stellen, sodass ihre Teilhabe am „priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Christi“ (vgl. VatII LG 31) sichtbar wird. Wenn ich die Ergebnisse der Befragung richtig interpretiere, so macht die Untersuchung zugleich eine andere Dramatik sichtbar: Offensichtlich ist das Bewusstsein für das, was Sakramentalität meint, sehr schwach bzw. einseitig – nämlich auf den Priester hin – ausgebildet. Wird der Ausfall der Priester mit dem Niedergang der Gemeinde oder gar des christlichen Lebens am Ort gleichgesetzt, so spiegelt sich darin eine sehr klerikale Sichtweise von Kirche und die Bedeutungslosigkeit der Gemeinde wieder. Im Bewusstsein mancher Gläubiger „haftet“ die sakramentale Dimension allein am Priester. Hier gilt es, Maßstäbe zu verschieben und die sakramentale Kraft der Gemeinde wieder zu entdecken. Die Verweisfunktion auf Christus gilt nämlich nicht nur für den Ordinierten, sondern grundsätzlich für alle Getaufte und die Gemeinde. Der Gemeinde als solcher kommt, indem sie Zeugnis gibt (martyria), das Geheimnis der Zuwendung Gottes zu den Menschen feiert (liturgia) und sich um die Armen und Notleidenden kümmert (diakonia) und in all dem Gemeinschaft (koinonia) lebt, eine sakramentale Kraft und Dimension zu. Kirche ist Communio, „indem sie als Volk Gottes, Leib Christi und Sakrament des Geistes existiert“58. Die Rede von der „Repräsentation Jesu Christi“ muss deshalb von ihrem Grund her gesehen werden: „Gegenüber der Tendenz einer exklusiven Verwendung für das kirchliche Amt ist festzuhalten, dass es zuerst einmal die ganze geisterfüllte Gemeinde ist, die als ‚Leib Christi‘ die leibhafte und zeichenhafte Gegenwartsgestalt des Auferstandenen ist, ihn

57

Hermann Stenger, Sind wir nicht alle Hirtinnen und Hirten? Homilie der Eucharistiefeier im Rahmen des Symposions „Gemeindeleitung heute – und morgen?“, in: Garhammer / Zelinka , Gemeindeleitung (Anm. 46), S. 115 – 116, hier S. 116. 58

Bernd-Jochen Hilberath, Zwischen Vision und Wirklichkeit. Fragen nach dem Weg der Kirche, Würzburg 1999, S. 53.

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also in der Welt ‚repräsentiert‘. Erst innerhalb dieser Christus-Repräsentation der Gemeinde gibt es das besondere Zeichen des sakramentalen kirchlichen Amtes als eigenständiges Zeichen der Rückbindung dieser Glaubensgemeinschaft an ihren historischen und sachlichen Ursprung in der Geschichte Jesu Christi und seinen apostolischen Erstbezeugung.“59

Dieses Selbstbewusstsein der Gemeinden, das in biblischer und patristischer Zeit noch wach war, gilt es neu zu beleben, die sakramentale Dimension der Gemeinde neu in Erinnerung zu rufen. d) Das Modell als Anstoß zur Ekklesiogenese Durch die Einführung des K-M-Modells kommt es nicht nur zu einer besseren Aufgabenverteilung auf mehrere Personen im rational-effektiven Sinn. Die Irritation gewohnter Gemeindebilder und äußere Strukturveränderungen (nach dem Motto: Wer übernimmt welche Aufgaben?) führen die Gemeinde vor die Frage: Wer sind wir eigentlich als Pfarrgemeinde, wer sind wir eigentlich als Gemeinde Jesu Christi? So wird die äußere Strukturveränderung – bei theologisch-geistlich kompetenter Begleitung – zu einem mystagogischen Vorgang für die Gemeinde. Das Modell verhilft nicht nur dazu, dass Gemeinden am Leben bleiben können, sondern gibt darüber hinaus Anstöße, das Geheimnis der Kirche, ihre Sakramentalität und die Berufung der christlichen Gemeinde vor Ort neu und tiefer zu verstehen. Strukturelle und geistliche Erneuerung gehen somit Hand in Hand und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Für Walter Kasper ergibt sich daraus, „dass alle noch so gute und notwendige strukturelle, administrative und organisatorische Maßnahmen nur dann Erfolg haben können, wenn es dabei um mehr als Umverteilung und Umstrukturierung geht, wenn es vielmehr um Umkehr und Erneuerung aus der Mitte und Tiefe des Christseins geht ... Die Realisierung der Communio-Ekklesiologie ist also zuerst und zuletzt die Aufgabe einer geistlichen Erneuerung unserer Gemeinden und der Kirche insgesamt. Erst sie schenkt wahre Leidenschaft, aber auch Gelassenheit, weil sie die Einsicht vermittelt, dass die künftige Gestalt der Kirche und der Gemeinden letztlich nicht unsere Sache, auch nicht Sache unserer Pastoralpläne ist.“60

Bei allem menschlichen Bemühen um Erneuerung darf nicht vergessen werden, dass die Kirche nicht Produkt des Menschen ist. Die Neugeburt des

59

Siegfried Wiedenhofer, Amt und Gemeinde zwischen Hierarchie und Demokratie, in: H.-G. Ziebertz (Hrsg.), Christliche Gemeinde vor einem neuen Jahrtausend. Strukturen – Subjekte – Kontexte, Weinheim 1997, S. 35 – 48, hier S. 41. (Hervorhebung von J.P.). 60

Walter Kasper, Der Leitungsdienst in der Gemeinde. Referat beim Studientag der Deutschen Bischofskonferenz in Reute (Arbeitshilfen 118), Bonn 1994, S. 6.

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einzelnen Christen als auch der christlichen Gemeinschaft der Kirche geschieht aus dem Geist, der sie permanent verjüngt und erneuert. (vgl. Joh 3,5). Dass der Aufbruch zu neuen Ufern immer auch das Aufgeben liebgewordener Bilder, Gewohnheiten und Traditionen mit sich bringt, ist nicht zu vermeiden. „Wir stehen ... am Ende einer bestimmten historisch gewordenen und über Jahrhunderte auch ‚erfolgreichen‘ Gestalt des priesterlichen Leitungsdienstes. Ein solcher Sterbeprozess ist etwas Schmerzliches. Der dadurch entstehende Leidensdruck bringt freilich auch die Chance, dass etwas Neues heranreifen kann. Doch auch Neugeburt geht nicht ohne Schmerzen vonstatten.“61

Mit diesen Worten bringt Kasper den ekklesiologischen Verwandlungs- und Erneuerungsprozess auf den Punkt. Wir stehen gegenwärtig mitten in einem tief greifenden Umgestaltungsprozess der Kirche, der Ekklesiogenese in der Erwartung einer neuen Gestalt von Kirche. Die notwendigen Veränderungen werden in den (kleinräumigen) Gemeinden – vergleichsweise überschau- und berechenbar – beispielhaft für die (große) Weltkirche vollzogen. Die Veränderungsprozesse, die sich gesamtkirchlich über Jahrzehnte hin erstrecken, müssen sich auf der Gemeindeebene – durch die Installation des Modells angestoßen – innerhalb weniger Monate (quasi „über Nacht“) ereignen. Der so oft abstrakt erscheinende Wandlungsprozess spielt sich nicht über den Köpfen, nicht außerhalb der Herzen der Gläubigen ab, sondern schmerzlich konkret in den betroffenen Gemeinden. Der Verwandlungsprozess bekommt ein menschliches und gemeindliches Gesicht, einen Namen: Aufeld, Ehrendorf und Franzenberg und noch viele weitere Gemeinden. Wollen wir uns dieser Neugeburt widersetzen oder wollen wir – wie Abraham – dieses unbekannte Land im Vertrauen auf Gottes Begleitung aufsuchen? Die Not des Priestermangels gebiert da und dort einen Neuanfang. Sie weckt einen „Frühling in der Gemeinde“ (so die Aussage eines österreichischen Bischofs). Ist die Kirche nicht eine Gemeinschaft von zuversichtlich Hoffenden, die ihre Augen zuallererst auf die Hoffnungszeichen richten sollte? V. Das Kirchenrecht ermöglicht Kirchen- und Gemeindeentwicklung 1. Der Kanon 517 § 2 als Beispiel für Kirchen- und Gemeindeentwicklung Wir kehren zur Ausgangsfrage zurück, ob das Kirchenrecht auch Rechtsfiguren kennt, die Kirchenentwicklung zulassen. Wie in der Studie nachgewiesen

61

Kasper, Leitungsdienst (Anm. 60), S. 4.

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werden konnte, ist dies beim c. 517 § 2 eindeutig der Fall.62 Man könnte sagen: Was im Großen auf weltkirchlicher Ebene ansteht – eine strukturelle und geistliche Erneuerung der Kirche –, wird im Kleinen auf Gemeindeebene modellhaft vollzogen. Das Modell nach c. 517 § 2 kann wohl am besten als „heilsamer Unsinn“63 beschrieben werden. „Heilsam“ ist v. a. die Überlebensmöglichkeit der Pfarrgemeinde, ja der Impuls, der für eine Vertiefung der Berufung einzelner Christen und der christlichen Gemeinde ausgeht. Aus pastoraler Sicht ist das Modell daher zu begrüßen: Es ermöglicht – im oben beschriebenen Sinn –, dass die Gemeinden am Leben bleiben, ja dass es sogar zu einer Verlebendigung der Gemeinden kommt. Der heilsamen Seite stehen die amts- und sakramententheologischen „Unsinnigkeiten“ gegenüber. Das Modell kann daher nicht als Lösung, wohl aber als momentane Notlösung und als ein Übergangsmodell zu einer neuen Form der Gemeinde und des kirchlichen Amtes bezeichnet werden. Neben den amtstheologischen Aporien stellen sich Fragen nach dem kirchlichen Amt und dem Priesterbild. Diese Entwicklung führt auch zur „Reinigung“ des kirchlichen Leitungsdienstes und des Priesteramtes. Walter Kasper erkennt die Chancen für eine neue Gestalt des Priesteramtes. Der Veränderungsprozess schenkt nämlich auch „die Hoffnung auf eine erneuerte Gestalt des priesterlichen Dienstes, die vielleicht authentischer dem Evangelium Jesu Christi verpflichtet ist, als es die uns aus der jüngeren Vergangenheit vertraute Gestalt sein konnte ... Es gilt also, die überkommenen Gestalten kirchlichen Leitungsdienstes zu reinigen und zu entflechten und sie ‚salva illorum substantia‘ (DS 1728) sowohl ursprünglicher als auch heutiger zu machen. Diese Aufgabe verlangt über rein pragmatische Überlegungen hinaus vor allem theologische Grundlagenarbeit und eine neue zukunftsträchtige Vision von Kirche und geistlichem Amt in der Kirche.“64

Wie oben beschrieben geht es bei einer zukünftigen Gestalt des kirchlichsakramentalen Amtes um mehr als „nur“ um die vielgeforderte Freistellung des Pflichtzölibats. Es geht um das Entdecken verschiedenster Formen von Ämtern, die in Zukunft möglich sein müssen. Die meisten Erneuerungen in der Kirche wurden „am Rande“ und aus der Not geboren.

62

Freilich kann dieses Modell auch scheitern, was aber meist nicht am Modell als solchem liegt, sondern an der unprofessionellen Handhabung der Akteure. 63

Dieser Begriff findet sich bei: Paul Michael Zulehner, Pastoraltheologie Bd. 2. Gemeindepastoral: Orte christlicher Praxis, Düsseldorf 1989, S. 199. 64

Kasper, Leitungsdienst (Anm. 60), S. 4 f.

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141

2. Das Kirchenrecht muss Kirchenentwicklung ermöglichen und schützen Übergänge brauchen geregelte Bahnen, damit eine gestaltbare Entwicklung möglich ist. Das Kirchenrecht hat einen Rahmen geschaffen, der in großer Offenheit unterschiedliche Varianten eines Leitungsmodells zulässt und in dem Laien und Priester auf neue Weise im Hirtendienst zusammenarbeiten. In den Dekreten für die Leitungspersonen wird dies für die jeweilige Situation konkretisiert. Das Partikularrecht ist notwendig, um Aufgaben- und Rollenklarheit zu gewährleisten und damit ein geregeltes und gedeihliches Miteinander zu unterstützen. Durch die flexible und gleichzeitig partikularrechtlich geordnete Anwendung des c. 517 § 2 wird eine Entwicklung hin zu einem neuen Gesicht der (Gemeinde-)Kirche möglich. Dem Kirchenrecht, das manchen als Hindernis für eine kirchliche Weiterentwicklung erscheint, kommt mit dem c. 517 § 2 die Rolle einer Geburtshelferin zu. Es ermöglicht, dass in einem geregelten Rahmen etwas Neues (also noch Ungeregeltes) entstehen kann. Welches „Neue“ sich in diesem Rahmen entwickeln wird, ist tatsächlich offen. Wir dürfen aber darauf vertrauen, dass der Geist Gottes vielleicht gerade auch mit diesem Modell seinen Fuß in den Türspalt der Kirchenentwicklung gestellt hat. Diese Vision gilt es bei der Anwendung im Auge zu behalten und es nicht nur mit der Intention einzusetzen, das alte Versorgungsmodell weiterzutradieren, den Mangel zu verwalten. Der Kanon besitzt möglicherweise also jene „Sprengkraft“, die mithilft, kirchliche Strukturen auf das Morgen hin vorzubereiten und den seit Jahrzehnten geforderten „Strukturwandel der Kirche“65 einzuleiten. Örsy hat (vgl. I. 3) darauf hingewiesen, dass kirchliche Gesetze Beständigkeit gewährleisten müssen und eine Weiterentwicklung nicht verhindern dürfen. Der c. 517 § 2 leistet beides: Er verbürgt Beständigkeit, indem er die theologischen Prinzipien des sakramentalen Amtes und der eucharistischen Pfarre festhält, deren Mitte der Auferstandene ist. Und er ermöglicht gleichzeitig Kirchenentwicklung, indem Laien, die bisher „nur“ Mitarbeiter (cooperari) des Priesters waren, an der Ausübung der Hirtensorge beteiligt werden. Das ist ein Novum, das ein neues Rollenverständnis für Kleriker und Laien, ein neues Miteinander einleitet und das Gesicht einer neuen Kirche ankündigt.

65

1972.

Vgl. Karl Rahner, Strukturwandel der Kirche als Aufgabe und Chance, Freiburg

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3. Das Kirchenrecht orientiert sich an dogmatischen Vorgaben und an einer geistgewirkten Kirchenentwicklung a) Das Rechtssystem muss Raum für das Wirken des Geistes schaffen Das Kirchenrecht muss eine Ordnung vorgeben – so Papst Johannes Paul II. –, die „der Liebe, der Gnade und dem Charisma Vorrang einräumt und gleichzeitig deren geordneten Fortschritt im Leben der kirchlichen Gemeinschaft wie auch der einzelnen Menschen, die ihr angehören, erleichtert“66. Der Papst spricht von „geordnetem Fortschritt“. Vor dem Hintergrund einer sich entwickelnden Kirche ergibt sich eine zentrale Aufgabe für die Kanonisten, nämlich „sich um den sozialen Leib Christi zu kümmern und ein gesundes Gleichgewicht zwischen Stabilität und Entwicklung zu bewahren und zu fördern.“67 Das kirchliche Recht muss also dahingehend immer wieder überprüft werden, ob es dem Wirken des Geistes Rechnung tragen kann. „Wir versuchen, Entwicklung im Rechtssystem so zu verstehen, dass sie dazu dient, einen Raum für das Wirken des Geistes Gottes zu schaffen, um der Kirche immer mehr die ihr ihrem Wesen entsprechende Gestalt zu geben und sie durch die Fährnisse der Menschheitsgeschichte zu führen ... Genau darin besteht die ekklesiale Verantwortung und Aufgabe von uns Kirchenrechtlern.“68

Wird diese Perspektive ausreichend von den Kirchenrechtlern wahrgenommen und wie kann sie umgesetzt werden? b) Das Kirchenrecht bedarf der interdisziplinären Auseinandersetzung Das Kirchenrecht muss oft „als Sündenbock und Prügelknabe für das dahinterstehende Glaubens- und Lehrgebäude der katholischen Kirche“69 herhalten. Dabei ist der CIC „nur“ die in Recht umgesetzte Dogmatik:

66

Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Sacrae disciplinae leges“ vom 25. Januar 1983, in: CIC/1983, S. IX – XXVII, hier S. XIX. 67

Örsy, Entwicklung (Anm. 11), S. 312.

68

Örsy, Entwicklung (Anm. 11), S. 303. Örsy sieht heute in folgenden Bereichen des Kirchenrechts – beispielhaft – eine Weiterentwicklungen erforderlich: 1. Im Bereich des bischöflichen Kollegiums (vgl. VatII LG 22); es fehlt offensichtlich an den notwendigen verfassungsrechtlichen Strukturen, die eine kollegiale Einheit lebendig werden lassen. 2. Die vergebende und heilende Kirche bedarf neuer Formen für das Bußsakrament und 3. in der Ökumenischen Bewegung. 69

Demel, Schutzmantel (Anm. 1), S. 364.

Kanon 517 § 2 – der „Kirchenentwicklungsparagraph“

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„Vieles, was am Erscheinungsbild der Kirche Anstoß erregt, [wird] nicht der Dogmatik und dem darauf gründenden hierarchischen System [angelastet], sondern dem Kirchenrecht.“70

Man schlägt also den Sack und nicht den Esel. Dies ist mit ein Grund, warum das Kirchenrecht nicht so beliebt ist: Die Sachproblematik wird auf die rechtliche Ebene verschoben. Die (pastoral- und gemeindevergessene) Dogmatik bekommt somit das pastorale Ringen noch weniger mit als das Kirchenrecht. Damit wird eine grundsätzliche Problematik sichtbar, die durch die Spezialisierung der einzelnen theologischen Disziplinen entstanden ist. Das eine theologische Fach weiß zu wenig über Inhalte und Arbeitsweise des anderen Bescheid. Bewegt man sich nur im Binnenbereich des eigenen Faches, so führt das zu mangelnder theologischer Innovationskraft und praktisch zu einer Stagnation neuer theologischer Entwicklungen. Konkretes Beispiel: Wenn der Kirchenrechtler nicht über die Vorzüge (Chancen) und Probleme (Gefahren) des Modells c. 517 § 2 aus der Praxis Bescheid weiß, kann er auch die drängenden, ungelösten Fragen, ja die Aporien dieses Entwicklungsmodells in einem tieferen Umfang nicht erkennen – auf praktischer sowie theoretischer Ebene. Freilich kann er das Gespräch über ein Amtsverständnis, das die Kirche in die Zukunft führt, nicht ohne die Dogmatik führen. Es müssen also – ist man an einer Weiterentwicklung wirklich interessiert – zumindest drei Fächer zusammenarbeiten: Die Praktische Theologie, die aus der Praxis heraus pastoral-praktische wie praktisch-theologische Fragen, Aporien und Perspektiven formuliert, die Dogmatik, die die Grundintention von kirchlichem Amt und Sakramentalität einfordert und das Kirchenrecht, das unter Berücksichtigung beider Seiten eine für eine geistgelenkte Kirche passende Rechtsfigur vorlegt. Das Kirchenrecht orientiert sich an dogmatischen Vorgaben. Was die Beziehungen zur Praktischen Theologie angeht, ortet Leo Karrer jedoch „eine gewisse Funkstille und gesonderte Wege“71. Karl Rahner hingegen fordert: „Die Beziehungen zwischen Kirchenrecht und Praktischer Theologie sind sehr eng 72 oder müssten es sein.“

Trotz der Eigenständigkeit beider Disziplinen resultiert aus der pastoralen Aufgabe des Kirchenrechts eine besondere Beziehung zur Praktischen Theologie.

70

Johannes Neumann, Vorwort zu seinem Lehrbuch: Grundriss des katholischen Kirchenrechts, Darmstadt 1981. 71 72

Karrer, Ius (Anm. 2), S. 339.

Karl Rahner, Die praktische Theologie im Ganzen der theologischen Disziplinen, in: Ders., Selbstvollzug der Kirche. Ekklesiologische Grundlegung praktischer Theologie (Sämtliche Werke 19), Düsseldorf / Freiburg i. Br. 1995, S. 503 – 515, hier S. 513.

144

Johannes Panhofer

„Wenn und insoweit das Kirchenrecht nicht nur ‚de lege condita‘ (historisch, interpretierend, kasuistisch) zu handeln hat, sondern auch nach dem richtigen, seinsollenden, aber noch nicht existierenden Recht, nach der ‚lex condenda‘ fragt, und dieses Recht der Zukunft nicht nur das Recht ist, das aus der immanenten Dynamik des geltenden Rechtes entwickelt wird, dann ist es die Aufgabe der Praktischen Theologie, Ziele und Horizonte für das Kirchenrecht hinsichtlich dieser ‚lex condenda‘ aufzudecken.“73

Gerade aus der Perspektive geistgewirkter Kirchenentwicklung darf sich die Kanonistik nicht damit begnügen, das Universalkirchenrecht auszulegen oder auch – wie im Falle des c. 517 § 2 – verabschiedetes Partikularrecht kritisch zu hinterfragen. Ihre Aufgabe ist es ebenso nach dem „richtigen, seinsollenden, aber noch nicht existierenden Recht, nach der ‚lex condenda‘“ auf welt- und teilkirchlicher Ebene zu Fragen. Diese Aufgabe kann ein Kirchenrechtler nur erfüllen, wenn er mit dem Leben von Gemeinden in Kontakt steht, nach dem Wirken des Geistes Gottes Ausschau hält und in kreativer Weise um die Balance zwischen Beständigkeit und Entwicklung in einer voranschreitenden Kirche bemüht ist. Es ist also eine zutiefst theologisch motivierte und sich als solche verstehende Kanonistik gefragt.74 Kirchliches Recht darf nicht wie jedes andere Recht verstanden und ausgelegt werden. Bei der Anwendung sind sowohl die theologischen Grundlagen in Erinnerung zu rufen als auch die theologischen Grenzen der kirchlichen Rechtsnormen aufzuzeigen. Die Eigenart des Kirchenrechts verlangt es, dass „stets danach gefragt wird, welches theologische Anliegen hinter den Rechtsbestimmungen steht und ob dieses theologische Anliegen durch die konkreten Rechtsnormen hinreichend zum Tagen kommt oder ob diese oder jene Rechtsnorm im Interesse der Theologie verändert werden müsse.“75

c) Das Kirchenrecht hört auf den sensus fidelium Im Ringen um eine Kirche für Morgen spielt der Glaubenssinn der Gläubigen eine entscheidende Rolle: Während Tradition und Lehramt den in der Geschichte „geronnenen“ Glaubenssinn und zentrale Lehrinhalte festhalten, ver-

73 Rahner, Theologie (Anm. 72), S. 513. Vgl. auch den Beitrag von Thomas Böhm, Kirchenrecht und Pastoraltheologie „unter einem Dach“ – Überlegungen zur Zusammenarbeit beider Fächer unter praktisch-theologischer Perspektive in dieser FS: S. 87 – 112. 74

Vgl. der Beitrag von Matthias Scharer, Kirchenrecht und Kommunikative Theologie – Anfragen an eine mögliche Annäherung im Theologietreiben in dieser FS: S. 149 168. 75

Demel, Schutzmantel (Anm. 1), S. 366.

Kanon 517 § 2 – der „Kirchenentwicklungsparagraph“

145

sucht der Glaubenssinn des Gottesvolkes die Botschaft Jesu in der Gegenwart zu leben und ins Morgen zu transportieren. Der aktuell gelebte Glaube rezipiert die befreiende Botschaft hinein in die jeweilige Zeit und ihre Herausforderungen. Der heute gelebte sensus fidelium kann daher nicht nur die gesicherten Wege der Vergangenheit beschreiten, sondern muss mutig nach neuen Formen gelebten Glaubens suchen. Der sensus fidelium ist daher naturgemäß angreifbarer, aber auch prophetischer. Diese aggiornamento-Prozesse sind für die Wahrheitsfindung unverzichtbar, weil das Volk den Glauben unter Bedingungen lebt, die Theologie oder Lehramt womöglich noch gar nicht wahrgenommen haben. Der Kirchenrechtler steht also zwischen den dogmatischen Vorgaben und den konkreten Herausforderungen einer sich entfaltenden Offenbarung im Laufe der Kirchen- und Menschheitsgeschichte: „Wenn es überhaupt eine Geschichte nicht nur der Theologie, sondern auch des Glaubens und der in ihm gegebenen Offenbarung gibt, ... dann kann und muss gefragt werden, welchen Beitrag das Volk in der Kirche durch sich, sein Leben und seine Geschichte zu dieser Geschichte des Glaubens und der Offenbarung leistete und leistet. Dabei kann es durchaus geschehen, dass die wissenschaftliche Theologie in einer bestimmten Zeit diese Beiträge nicht wahrnimmt, Entwicklungen in der Glaubensgeschichte des Volkes übersieht und hinter diesen Entwicklungen zurückbleibt.“76

Viele Aufbrüche aus dem Geist des Evangeliums sind nicht Echo auf das Lehramt. Die Praktische Theologie hat (auch) die Aufgabe, dem Wirken des Geistes in der Gemeinschaft der Kirche, dem sensus fidelium Gehör zu verschaffen.77 Entwicklungen und Aufbrüche zeigen also an, in welche Richtung die Zukunft der Kirche liegt. Ein Indikator für geistgewirkte Aufbrüche sind Rezeptionsvorgänge in der Kirche. Joseph Ratzinger formulierte mit Blick auf die Bedeutung des Volkes Gottes für die Gestaltung der Kirche: „Was nicht rezipiert wird, wird nicht wirksam, sondern bleibt wirkungslos und somit unwirklich. Erst durch die Rezeption geschieht Aneignung, Einverleibung, Umwandlung.“78

76

Karl Rahner (Hrsg.), Volksreligion – Religion des Volkes, Stuttgart 1979, S. 15 f.

77

Vgl. Panhofer, Hören (Anm. 34), S. 123 – 130.

78

Josef Ratzinger, Zur Theologie des Konzils, in: Ders., Das neue Volk Gottes. Entwürfe zur Ekklesiologie, Düsseldorf, 21970, S. 150.

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Johannes Panhofer

Unter rechtlicher Perspektive ist die Ablehnung oder Annahme (Rezeption) eines Gesetzes und dessen Anwendung „als eine Art gelebter Rechtsakt zu verstehen“79. Die Akzeptanz eines Gesetzes bringt „wirksam die gemeinsame Überzeugung der kirchlichen Gemeinschaft zum Ausdruck, dass die erlassene Vorschrift ihrer Zielsetzung entspricht. Umgekehrt ist aber auch die Ablehnung eines Gesetzes als Ausdruck der geistlichen Kompetenz des vom Charisma belebten Zeugnisses der kirchlichen Gemeinschaft zu werten, als Ausdruck dafür, dass die disziplinäre Weisung, die ergangen ist, nicht mit den Lebensgewohnheiten und Vorstellungen des christlichen Volkes übereinstimmt, dass sie nicht eine Hilfe zur Verwirklichung der kirchlichen Zielsetzung darstellt.“80

Nimmt man die theologische Bedeutung von Rezeptionsvorgängen ernst, so „legt sich indes nahe, ... den Beitrag der Gläubigen nicht erst bei der nachträglichen Rezeption zu begrüßen. Je mehr die Erfahrungen und Einsichten der Gläubigen schon in die Entscheidungsvorbereitung einbezogen werden, desto mehr steht zu erwarten, dass auch die Rezeption besser gelingt.“81 Die Gläubigen werden somit zu aktiven Mitgestaltern der kirchlichen Gemeinschaft, was auch im Prozess der Gesetzgebung zum Ausdruck kommen müsste: „Auch im Bereich der Gesetzgebung müssen Formen der Mitverantwortung gefunden werden. Der Gedanke des Konsenses fordert eine verstärkte, breitere Konsultation bei Gesetzwerdung, der Gedanke der Rezeption mahnt den Gesetzgeber, solche Normen zu erlassen, die sich das Volk Gottes gestaltend zu eigen machen kann.“82

Es ist kaum sichtbar, wie diese grundlegenden Forderungen, die aus den Lehren des 2. Vatikanums „fließen“ 40 Jahre danach umgesetzt wurden. Gesetze sind folglich umso hilfreicher, je genauer sie auf die zu regelnde Realität abgestimmt sind. Deshalb – so der Kirchenrechtler Ochmann – muss 79

Vgl. Demel, Schutzmantel (Anm. 1), S. 368.

80

Hubert Müller, Das Gesetz in der Kirche ‚zwischen‘ amtlichem Anspruch und konkretem Vollzug – Annahme und Ablehnung universalkirchlicher Gesetze als Anfrage an die Kirchenrechtswissenschaft, München 1978, S. 9 f. 81

Hermann Josef Pottmeyer, Rezeption und Gehorsam – Aktuelle Aspekte der wiederentdeckten Realität „Rezeption“, in: Wolfgang Beinert (Hrsg.), Glaube als Zustimmung. Zur Interpretation kirchlicher Rezeptionsvorgänge (QD 131), Freiburg 1991, S. 51 – 91, S. 73. Das dies keineswegs zu Lasten des Ansehens der Lehramtes geht, zeigen die tastenden Versuche nordamerikanischer und österreichischer Bischöfe (z. B. Sozialhirtenbriefe), die die Entwürfe von Hirtenschreiben den Gläubigen vorgelegt und um Stellungnahme gebeten hatten. Der veröffentlichte Endtext fand nicht nur breitere Zustimmung, sondern auch größere Beachtung, da die Auseinandersetzung der Menschen den Sinn für diese Anliegen geschärft hat. Ein Beispiel gelungener Ausübung des Hirtenamtes. 82

Puza, Kirchenrecht (Anm. 5), S. 237.

Kanon 517 § 2 – der „Kirchenentwicklungsparagraph“

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dafür gesorgt werden, dass sich möglichst viele am Prozess der gemeinsamen Konsensbildung beteiligen können. Der Gesetzgeber muss um die Situationen und die Anliegen der Gläubigen vor Ort wissen. Denn „je ‚einsamer‘ eine Entscheidung getroffen wird, desto größer wird die Gefahr, dass sie tatsächlich isoliert und spaltet, nicht aber die Bindungen einer Gemeinschaft verstärkt“83. Wir können also abschließend festhalten: Der c. 517 § 2 stellt einen Entwicklungsparagraphen für die Kirche dar. Er bezeichnet eine Rechtsfigur, die zum einen theologisch Sakramentalität und Amtlichkeit für die einzelne Pfarrgemeinde festhält – und damit sagt, dass das Heil von Christus her kommt und nicht selbst geschaffen wird – und zum anderen auf den Priestermangel und die gewachsene theologische und pastorale Kompetenz der Nichtpriester kreativ reagiert, indem sie letztere zur Ausübung der Gemeindeleitung heranzieht. Was in der Kirche seit Jahrzehnten bereits im Gang ist – nämlich die Rollenveränderung von Klerikern und Laien – wird durch diese Rechtsfigur nochmals ausdrücklicher und bewusster gemacht. Gleichzeitig verändert sich aber durch diese gemeinsame Leitungsausübung das Gesicht der Kirche: Es verringert das oft vorherrschende hierarchische Bild der katholischen Kirche und leitet über in ein stärker kooperatives Verhältnis von Kleriker und Laien, das neu eingeübt werden muss. Wie das Beispiel des c. 517 § 2 zeigt, kann das Kirchenrecht sowohl seine bewahrend-sichernde Funktion wahrnehmen und zugleich durch die Formulierung einer offenen Rechtsfigur Räume schaffen, die eine Entwicklung der Kirche für das Morgen ermöglicht und unterstützt. Was für diesen Kanon gilt, lässt sich leider nicht für viele andere drängende Fragen konstatieren. Deshalb sei abschließend nochmals – Örsy folgend – eine für die Kirchenentwicklung so entscheidende Frage an Kirchenrechtler und Gesetzgeber gestellt: „Ist die Kirche in ihren Gesetzen (leges ecclesiasticae) ausreichend ausgerüstet um Entwicklung zu fördern und sie anzugehen? Mit anderen Worten: Haben wir die notwendigen gesetzlichen Strukturen und Normen, um kreative Gedanken und Inspirationen, die vom Volk Gottes ... herkommen, aufzunehmen und zu lenken?“84

Der Geist Gottes ist auf geheimnisvolle Weise in der Kirche und ihren Gliedern (nicht nur einem Glied) am Werk. So lange die eben gestellte Frage nicht zufrieden stellend beantwortet werden kann, muss sie immer wieder vorgetragen werden, bis eine immer stärker geistgewirkte Gestalt von Kirche realisiert werden kann.

83

F. Ochmann, Kirchliches Recht in und aus dem Leben der Communio – Zur „Rezeption“ aus kanonistischer Sicht, in: Beinert, Glaube (Anm. 81), S. 123 – 163, hier S. 155. 84

Örsy, Entwicklung (Anm. 11), S. 310.

Kirchenrecht und Kommunikative Theologie Anfragen an eine mögliche Annäherung im Theologietreiben1 Von Matthias Scharer Der durch die Festschrift geehrte O. Univ.-Prof. em. Dr. Johannes Mühlsteiger SJ hat über Jahre das Fach Kirchenrecht an einem eigenständigen Institut der Universität Innsbruck betrieben und das Institut geleitet. Im Zuge der Umstrukturierung der Theologischen Fakultät – zunächst von elf auf fünf2 und nunmehr auf vier3 Institute – wurde das Kirchenrecht auf eigenen Wunsch der Praktischen Theologie zugeordnet. Dies hat zur Folge, dass die enge Kooperation der Fächer Kirchenrecht, Pastoraltheologie, Religionsdidaktik und Katechetik/Religionspädagogik an einem gemeinsamen Institut angestrebt wird. Die MitarbeiterInnen am neu geschaffenen Institut für Praktische Theologie arbeiteten in den letzten Jahren intensiv an einem gemeinsamen Institutsprofil, das die Profilierung der Fächer ebenso vorsieht, wie die intensive Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und Verwaltung. Im Bereich der Forschung beteiligt sich das Institut für Praktische Theologie schwerpunktmäßig am fakultären Forschungsschwerpunkt „Religion – Gewalt – Kommunikation – Weltordnung (RGKW)“4. Das RGKW ist einer der beiden von

1

Kommunikative Theologie versteht sich nicht als systematisch ausgearbeitete Theologie wie etwa die Befreiungstheologie, die Feministische oder die Politische Theologie; sie bezieht sich primär auf die Art und Weise wie Theologie betrieben wird. Bei Kommunikativer Theologie kann man daher von einer spezifischen Kultur oder einem spezifischen Stil des Theologietreibens sprechen. Vgl. zu dieser Debatte u. a. Robert L. Kinast, What Are They Saying About Theological Reflection?, New York 2000; Patricia O’Connel Killen / John de Beer, The Art of Theological Reflection, New York 1994; Gerhard Marcel Martin, Was es heißt: Theologie treiben, Stuttgart 2005. 2

Diese Strukturreform geschah im Zuge der Universitätsreform nach UOG 1993.

3

Im Zuge der Strukturreform nach UG 2002 hat das Rektorat der Universität Innsbruck Eckdaten für die Institutsgröße festgelegt und an der Theologischen Fakultät nur mehr vier Institute genehmigt. 4

Siehe: http://theol.uibk.ac.at/rgkw/.

150

Matthias Scharer

der Universitätsleitung genehmigten Forschungsschwerpunkte der Theologischen Fakultät. Die Dramatische und die Kommunikative Theologie bilden tragende Säulen des fakultären Forschungsschwerpunktes. Kommunikatives Theologietreiben ist in Innsbruck schwerpunktmäßig an der Praktischen Theologie angesiedelt5. Es wird in einem eigenen postgradualen Master- und Lizentiatslehrgang gelehrt6. Bisher ist das Fach Kirchenrecht weder am interdisziplinären7 und interuniversitären Forschungskreis Kommunikative Theologie noch am Universitätslehrgang beteiligt. Ziel dieses Beitrages ist es, nach möglichen Annäherungen von Kirchenrecht und Kommunikativer Theologie im Hinblick auf eine neue Kultur des Theologisierens zu fragen. Dass dies in der Festschrift von Univ.-Prof. Dr. Mühlsteiger als ehemaligem Leiter des Kirchenrechtsinstitutes durch den derzeitigen Leiter des Instituts für Praktische Theologie geschieht, bringt die strukturelle Spannung zwischen Kontinuität und Weiterentwicklung zum Ausdruck, in die das traditionsreiche Fach hineingestellt ist. Die Anfrage an das Kirchenrecht erfolgt durch den Vertreter eines anderen praktisch-theologischen Faches, nämlich einen Religionspädagogen. Das bringt mit sich, dass die fachinternen Debatten um das wissenschaftstheoretische Grundverständnis des Kirchenrechts, und darum geht es in diesem Beitrag vor allem, nur rudimentär gewürdigt werden können. Die Anfrage eines Religionspädagogen „von außen“ muss daher in kirchenrechtskompetenten Diskursen nochmals kritisch überprüft und mit dem eigenen wissenschaftstheoretischen Fachdiskurs abgeklärt werden. I. Die (praktische) Theologie zwischen den Humanwissenschaften und der Theologie Wenn nach einer möglichen Annäherung von Kirchenrecht und Kommunikativer Theologie im Hinblick auf die Kultur des Theologisierens gefragt wird, dann kann das nicht geschehen, ohne das Theologieverständnis der Kanonistik im Kontext der Bedeutung, die diese anderen Wissenschaften – speziell der Rechtswissenschaft – beimisst, in den Blick zu nehmen. Kommunikatives

5

Das ist nicht notwendigerweise so: An der Theologischen Fakultät der Universität Tübingen wurde Kommunikatives Theologisieren zunächst nur am Institut für Systematische Theologie durch Bernd Jochen Hilberath betrieben; inzwischen gehört auch Ottmar Fuchs (Pastoraltheologie, Tübingen) dem Forschungskreis Kommunikative Theologie an. Die Kooperation mit den USA geschieht ebenfalls über SytematikerInnen (Bradford Hinze, Fordham University/New York; Mary Ann Hinsdale, Boston College) 6 7

Siehe: http://praktheol.uibk.ac.at/komtheo/lehrgang/.

Am Forschungskreis sind bisher vor allem VetreterInnen systematisch- und praktisch-theologischer Fächer vertreten; am Universitätslehrgang sind darüber hinaus auch Bibliker und Philosophen beteiligt.

Kirchenrecht und Kommunikative Theologie

151

Theologisieren ist nämlich, wie später noch ausgeführt wird, mit dem Grundverständnis verbunden, dass sich „das Theologische“ an den Fächern der Theologie nicht in erster Linie an deren Materialobjekt – im Falle des Kirchenrechtes also am CIC – zeigt, sondern am Formalobjekt, also an der Rücksicht, die das Fach zu einem theologischen Fach macht. Das Formalobjekt der Theologie ist durch die Frage nach möglichem Heil angesichts faktischen Unheils und Scheiterns charakterisiert. Diese Frage stellt sich im theologischen Forschungszusammenhang aber nicht nur in formaler Hinsicht im Blick auf den Forschungsgegenstand. Da Theologie nicht durch weltanschaulich neutrale Subjekte geschieht, sondern durch Menschen, die auch persönlich von der Heilssehnsucht getragen sind, können diese ihr existentielles Interesse im Prozess des Theologisierens nicht einfach ausblenden. Insofern zeigt sich im „Blick“ theologischer ForscherInnen – über die Habermas’sche Einsicht hinaus, dass jede Erkenntnis interessengeleitet ist8 – eine tiefe Wertorientierung, aus der heraus Forschung betrieben wird. Das zieht Konsequenzen für die Forschung nach sich, die bis zu Entscheidungen über die Verwendung oder Nichtverwendung von Forschungsmethoden gehen können. Grundsätzlich müssen die verwendeten wissenschaftlichen Methoden – speziell die aus anderen Wissensgebieten – auf ihre Theologie-Angemessenheit im Hinblick auf das Formalobjekt der Theologie befragt werden können. In der Positionierung zwischen der Rechtswissenschaft und der Theologie befindet sich das Kirchenrecht mit den anderen Fächern der Praktischen Theologie in guter Gesellschaft; geht es doch auch dort um die Frage des Verhältnisses von so genannten „Menschenwissenschaften“ und der Theologie im Hinblick auf das eigene Fach. 1. Rechtswissenschaft und Theologie – mögliche Positionierungen Im Kontext von (praktischer) Theologie kommt also die Frage ins Spiel, wie sich das Kirchenrecht selbst im Konzert der theologischen Fächer versteht und wie es die theologische und die rechtswissenschaftliche Positionierung jeweils gewichtet. Diese Frage wurde nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Profilerstellung des Instituts Praktische Theologie diskutiert. Winfried Aymans gibt in einem erhellenden Aufsatz zur wissenschaftlichen Methode der Kanonistik einen generellen Überblick zu den unterschiedlichen Positionen, die das Verhältnis von Kirchenrecht und Theologie bestimmen kön-

8 Vgl. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: Merkur 213 (1965), S. 1139 – 1153.

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Matthias Scharer

nen. Dem modernen Wissenschaftsverständnis entsprechend wird die Verhältnisbestimmung auf das jeweilige Methodenproblem hin ausdifferenziert. Kirchenrechtswissenschaft kann sich als eine „juristische Disziplin mit juristischer Methode“9 verstehen. Konträr zu dieser Position kann Kanonistik als eine „theologische Disziplin mit theologischer Methode“10 verstanden werden. Den pointierten Positionierungen gegenüber gibt es auch die Möglichkeit der Kirchenrechtswissenschaft als „theologische Disziplin mit juristischer Methode“11. Schließlich ist auch die Positionierung „theologische und juristische Disziplin mit theologischer und juristischer Methode“12 möglich. W. Aymans argumentiert die Vor- und Nachteile der jeweiligen Positionierungen zwischen theologischer und juristischer Disziplin bzw. Methode durch. Dabei kommt der Unterscheidung zwischen Kirchenrechtstheorie und Kirchenrechtsdogmatik im Hinblick auf die Positionierung zwischen Theologie und Rechtswissenschaften eine gewisse Bedeutung zu. Tendenziell könnte nach Ansicht von Ralf Dreier die Kirchenrechtstheorie eher das theologische und die Kirchenrechtsdogmatik eher das juristische Element widerspiegeln. W. Aymans entscheidet sich schließlich für folgende Verhältnisbestimmung: „Die Kanonistik ist eine theologische Disziplin, die gemäß den Bedingungen ihrer theologischen Erkenntnisse mit juristischer Methode arbeitet.“13 In allen Positionierungen fällt auf, dass die Frage einer rechtswissenschaftlichen Methodenkritik aus der theologischen Perspektive heraus kaum berührt wird. Für die Kanonistik scheint die „juristischen Methode“ so klar und unhinterfragt zu sein, dass ihr die theologische Disziplin des Kirchenrechtes ohne weiteres darin vertraut, zu sachgerechten Einsichten mit theologischer Relevanz zu kommen. 2. Der Methodenstreit als Katalysator für die Positionierung des Faches – das Beispiel der Katechetik/Religionspädagogik Die Debatte um die Positionierung des Faches zwischen Theologie und anderen Wissenschaften und deren jeweiliger Methodik beschäftigt die Exegeten oder die Kirchenhistoriker ebenso wie die Pastoraltheologen und Katecheti-

9

Winfried Aymans, Die wissenschaftliche Methode der Kanonistik, in: Fides et ius. Festschrift für Georg May zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Winfried Aymans / Anna Egler / Joseph Listl, Regensburg 1991, S. 60. 10

Aymans, Die wissenschaftliche Methode der Kanonistik (Anm. 9), S. 60.

11

Aymans, Die wissenschaftliche Methode der Kanonistik (Anm. 9), S. 60.

12

Aymans, Die wissenschaftliche Methode der Kanonistik (Anm. 9), S. 60.

13

Aymans, Die wissenschaftliche Methode der Kanonistik (Anm. 9), S. 74.

Kirchenrecht und Kommunikative Theologie

153

ker/Religionspädagogen. Hier soll am Beispiel der Katechetik/Religionspädagogik, als einer sehr jungen Disziplin, die Problematik der wissenschaftlichen Methodologie im Hinblick auf die Positionierung des Faches zwischen Theologie und Humanwissenschaft kurz erörtert werden. Seit der so genannten empirischen Wende der Katechetik/Religionspädagogik in den Siebzigerjahren ist die Debatte über die Frage, welches Fach die Religionspädagogik im Hinblick auf den theologischen Fächerkanon darstelle, nicht abgerissen. Aus der eindeutig theologisch positionierten Katechetik kommend, forciert die empirische Wende primär soziologische und psychologische Methoden zur Erforschung religionspädagogischer Phänomene in der religiösen Entwicklung und Sozialisation einzelner Menschen wie auch von religiösen Gemeinschaften. Im Gefolge der empirisch orientierten Erziehungswissenschaften wird die Religionspädagogik zu einem Fach, das ohne empirische Forschungen kaum mehr auskommen kann. Dabei kommen primär die Fragestellungen zum Zuge, die nach den Bedingungen religiösen Lernens fragen; eine Auseinandersetzung mit den Inhalten religiöser Lernprozesse wird tendenziell tabuisiert. Vom Trauma der Katechetik als einer bloßen „Anwendungswissenschaft“ der systematischen Theologie befreit, wird in der Religionspädagogik primär dem humanwissenschaftlichen Erkenntnisbereich zugeordnete Methoden wissenschaftliche Erkenntnisqualität eingeräumt. Mit erziehungswissenschaftlichen, psychologischen und religionssoziologischen Methoden scheint auch die Anerkennung auf dem Parkett der modernen Wissenschaften viel eher möglich zu sein als durch eine theologische Perspektive des Faches. Von manchen FachvertreterInnen wird gerade in der Verwendung des Wortes „Katechetik“ die Gefahr des Rückfalles in die alte Anwendungswissenschaft befürchtet. Die Relativierung der Katechetik geht so weit, dass eine Reihe von Instituten und Fachbereichen den Katechetikbegriff ausdrücklich aus ihrer Instituts- bzw. Fachbezeichnung gestrichen haben. Vor einigen Jahren wurde auch die deutschsprachige „Arbeitsgemeinschaft Katholischer Katechetikdozenten (AKK)“ in „Arbeitsgemeinschaft Katholischer Religionspädagogik und Katechetik (AKRK)“ umbenannt, was das Unbehagen am Katechetikbegriff in der ganzen deutschsprachigen ReligionspädagogInnenszene deutlich macht. Von den meisten FachkollegInnen wird Religionspädagogik als eine typische „Mischdisziplin“ zwischen Theologie und Erziehungswissenschaft bzw. weiteren Humanwissenschaften gesehen. So fordert Anton Bucher: „Endgültig Schluss mit dem ‚entweder-oder‘: Theologie und Pädagogik“14. Ferdinand Angel forciert den Begriff der „Schnittstelle“ zwischen Theologie und Human14 Anton Bucher, Überlegungen zu einer Metatheorie der Religionspädagogik, in: RPäB 51 (2003), S. 21 – 36, hier S. 34.

154

Matthias Scharer

wissenschaften; einer Schnittstelle (vergleichbar mit der Funktion von Schnittstellen am PC), die für die Religionspädagogik die Aufgabe des „Komplexitätsmanagements“ nach sich ziehe15. Ohne die Debatte um die Positionierung der Katechetik/Religionspädagogik zwischen Humanwissenschaften/Pädagogik und Theologie in diesem Rahmen umfassend würdigen zu können16, ergeben sich daraus Anfragen, die möglicherweise auch die Positionierung der Kanonistik berühren: –

Ergibt sich „das Theologische“ am Fach bereits aus dessen Gegenstand, im Falle einer empirischen Religionspädagogik also aus der wissenschaftlichen Erforschung der religiösen bzw. kirchlichen Erziehungs- und Bildungswirklichkeit?



Sind die wissenschaftlichen Methoden zur Erforschung der religiösen/kirchlichen Lebenswelt von Menschen in theologischer Hinsicht „unschuldig“? Spiegeln sich nicht gerade in methodischen Forschungszusammenhängen Fragen des Menschenbildes, die für eine theologische Anthropologie von zentraler Bedeutung sind, wie etwa die Behandlung von Menschen als Subjekte oder als Objekte der Forschung?



Führt das Bemühen um die Profilierung des Faches jenseits der traumatisch erlebten Anwendungswissenschaft der Dogmatik möglicherweise zu einer (durchaus verständlichen) Gegenreaktion in Richtung humanwissenschaftlicher Positionierung, welche die weltkirchliche Verständigung in der „Scientific community“ der KatechetikerInnen zugunsten einer mitteleuropäischen Zentrierung abschneidet?



Welche Probleme ergeben sich für den theologischen Erkenntniszusammenhang insgesamt, wenn sich die einzelnen theologischen Fächer über ihre nichttheologische Methodik so sehr ausdifferenzieren, dass eine Verständigung im Hinblick auf die Lösung grundlegender theologischer Fragestellungen, die kaum nur ein einzelnes Fach betreffen, immer schwieriger erscheint?

15

Vgl. Hans-Ferdinand Angel, Komplexitätsmanagement. Ein spezifischer Beitrag der Religionspädagogik zur Profildiskussion, in: Tragfähigkeit der Religionspädagogik. Hrsg. von Hans-Ferdinand Angel, Graz u. a. 2000, S. 255 – 280. 16

Vgl. zur aktuellen Debatte die Beiträge in: RPäB 51 (2003).

Kirchenrecht und Kommunikative Theologie

155

3. Codex iuris canonici und/oder „Text des Lebens“? Beim Vergleich der Debatten um die Positionierung von Fächern in oder zwischen Theologie und nicht-theologischer Methodik darf im Hinblick auf Katechetik/Religionspädagogik und Kirchenrecht selbstverständlich die Differenz nicht übersehen werden, die durch das jeweilige „Materialobjekt“ vorgegeben ist. Während die Kirchenrechtswissenschaft einen geschriebenen Text zum Gegenstand ihrer Forschung hat, insbesondere den Codex iuris canonici, bezieht sich die Katechetik/Religionspädagogik auf die religiöse bzw. kirchliche Erziehungs- und Bildungswirklichkeit mit ihren empirischen Voraussetzungen. Erst die Positionierung der Religionspädagogik als theologische Wissenschaft benennt das eindeutig Theologische des Faches, nämlich den auf das Leben und Heil von Menschen ausgerichteten Blick auf die empirische Wirklichkeit angesichts gegebenen Unheils. Trotz der Differenz zwischen dem Gegenstand des Kirchenrechtes und dem der Katechetik/Religionspädagogik, ist eine Ausrichtung der Forschung auf das jeweilige Materialobjekt als Begründung für theologische Erkenntnisse in beiden Fächern kritisch zu befragen: –

Muss sich die Katechetik/Religionspädagogik nicht auch auf einschlägige kirchliche Texte im Hinblick auf das Menschen-, Gottes- und Kirchenverständnis beziehen, um den ihrer Erkenntnis gemäßen, theologischen Blick auf die empirische Wirklichkeit und auf die Methoden der Erforschung dieser Wirklichkeit überhaupt entfalten zu können?



Wird nicht auch die Kanonistik durch die Bestimmung ihres erkenntnisleitenden Interesses, also ihres spezifischen „Blickes“ auf die Kirchenrechtstexte, zu einer kritischen Würdigung rechtswissenschaftlicher Methoden kommen?



Kann dies nicht umso deutlicher geschehen, je umfassender die „loci“ theologischen Erkennens ins Spiel kommen? Hier geht es vor allem um die Frage, welcher Stellenwert den Kirchenrechtssubjekten und der Glaubensgemeinschaft im Hinblick auf das theologische Erkennen eingeräumt wird. Traditionell kommen die Subjekte im Kirchenrecht zumindest zweifach ins Spiel: Einmal als durch das Recht zu schützende Personen; ein zweites Mal als jene Subjekte des Sensus fidelium, die das positive Recht auf die pastorale Praxis und den gesellschaftlich-kirchlichen Horizont anpassen17.

17

Vgl. zur Frage des Sensus Fidelium u.a.: Johannes Panhofer, Hören, was der Geist den Gemeinden sagt. Gemeindeleitung durch Nichtpriester als Anstoß zur Gemeinde-

156



Matthias Scharer

Wäre nicht zu prüfen, ob und inwiefern das Erleben und die Erfahrung der Kirchenrechtssubjekte, wie auch der kirchlichen Gemeinschaften im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext, mit ihrem jeweiligen Kirchenrechtsverständnis, zu einer Quelle kanonistischer Einsicht werden könnte? II. Doing Communicative Theology

Es war bereits davon die Rede, dass „Kommunikative Theologie“ die Tätigkeit des Theologisierens in einer bestimmten Art und Weise und unter bestimmten Optionen in den Mittelpunkt ihres Interesses stellt. Kommunikatives Theologisieren ist ein Theologisieren im Prozess und aus Kommunikationsprozessen heraus. Der Ansatz ist nicht primär am Schreibtisch entstanden, sondern aus der konkreten Arbeit mit Gruppen an zentralen theologisch-existentiellen Fragen. Dabei war gerade die Erfahrung der Unwirksamkeit theologischer Diskurse für die Praxis von Kirche in Gemeinden und Bildungsprozessen ein wichtiger Ausgangspunkt für Kommunikative Theologie18. Im Gegensatz zu einer Theologie, die in das Leben hinein übersetzt und angewendet wird, ermöglichten Kommunikationsprozesse nach dem Ansatz der Themenzentrierten Interaktion nach Ruth C. Cohn ein lebendiges theologisches Lernen, an dem grundsätzlich alle beteiligt sind. 1. Die Themenzentrierte Interaktion nach Ruth C. Cohn und die Dimensionen kommunikativen Theologisierens19 Die Jüdin Ruth C. Cohn, die als junge Frau vor dem Naziregime zunächst in die Schweiz und später in die USA emigrieren musste, arbeitete zeitlebens an einem Kommunikationskonzept, das Gewalt eindämmen und menschliches entwicklung – Eine empirisch-theologische Studie zu ca. 517 § 2 (= Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge, Bd. 58), Würzburg 2003, S. 108 – 130. 18

Vgl. Matthias Scharer / Bernd-Jochen Hilberath, Kommunikative Theologie. Eine Grundlegung, Mainz 22003. 19

Die Ausführungen zur Kommunikativen Theologie beziehen sich vor allem auf die beiden Buchreihen: Kommunikative Theologie (bisher 7 Bde.), hrsg. v. Bernd-Jochen Hilberath / Matthias Scharer; Kommunikative Theologie – interdisziplinär / Communicative Theology – Interdisciplinary Studies (bisher 6 Bände) hrsg. v. Bradford Hinze / Bernd Jochen Hilberath / Matthias Scharer; weiters auf den Grundlagentext der ForscherInnengruppe Kommunikative Theologie: Forschungskreis Kommunikative Theologie: Kommunikative Theologie. Selbstvergewisserung unserer Kultur des Theologietreibens, Kommunikative Theologie – interdisziplinär Bd. 1/1, hrsg. von Bradford Hinze u. a. (deutsch und englisch).

Kirchenrecht und Kommunikative Theologie

157

Wachstum fördern sollte. Als Psychoanalytikerin ausgebildet kam sie in Amerika mit Bildungskonzepten in Berührung und entwickelte den Ansatz „Lebendigen Lernens“ als eine „Themenzentrierte Interaktion (TZI)“20. Orientiert an einem humanistisch-ethischen Konzept, das u. a. in einem anthropologischen21, einem ethischen22 und einem politischen Axiom23 Gestalt gewinnt, ging sie einen konsequent eigenständigen Weg zwischen Autoritarismus und Liberalismus, um den Gewalttendenzen in der Gesellschaft und in jedem einzelnen Menschen eine konstruktiv-humane Alternative entgegenzusetzen24. R. Cohn geht es um das Anteilnehmen an allen Belangen des Menschseins25. In diesem Zusammenhang wird ihr „Traum“ verständlich, der ihr das Bild für ein Lernund Kommunikationsmodell vor Augen führt, in dem alle wesentlichen Bereiche der menschlichen Interaktion/Kommunikation miteinander vernetzt sind:

20

Vgl. u. a. Ruth C. Cohn, Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu einer Pädagogik für alle, Stuttgart 131997; Ruth C. Cohn / Alfred Farau, Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspektiven, Stuttgart 32001. 21

Das anthropologische Axiom R. Cohns lautet: „Der Mensch ist eine psychobiologische Einheit und ein Teil des Universums. Er ist darum gleicherweise autonom und interdependent. Die Autonomie des einzelnen ist umso größer, je mehr er sich seiner Interdependenz mit allen und allem bewusst wird.“ In: Cohn / Farau, Gelebte Geschichte der Psychotherapie (Anm. 20), S. 356. 22

Das ethische Axiom R. Cohns lautet: „Ehrfurcht gebührt allem Lebendigem und seinem Wachstum. Respekt vor dem Wachstum bedingt bewertende Entscheidung. Das Humane ist wertvoll, Inhumanes ist wertbedrohend.“ Cohn / Farau, Gelebte Geschichte der Psychotherapie (Anm. 20), S. 357. In der Formulierung dieses Axioms spiegeln sich Erfahrungen von R. Cohn, die sie zur Zeit des Nationalsozialismus machen musste. Eine bisher zu wenig erforschte Thematik liegt im Zusammenhang von TZI und den jüdischen Wurzeln der Gründerin dieses Ansatzes. 23

Das politisch-pragmatische Axiom R. Cohns lautet: „Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen; Erweiterung dieser Grenzen ist möglich. Unser Maß an Freiheit ist, wenn wir gesund, intelligent, materiell gesichert und geistig gereift sind, größer, als wenn wir krank, beschränkt oder arm sind und unter Gewalt und mangelnder Reife leiden. Bewusstsein unserer universellen Interdependenz ist die Grundlage humaner Verantwortung.“ In: Cohn, Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion (Anm. 20), S. 120. 24

Das drückt sich u. a. im Titel eines frühen Aufsatzes aus: Ruth C. Cohn, Zu wenig geben ist Diebstahl, zuviel geben ist Mord, in: betrifft: erziehung 14 (1981), S. 23 – 27. 25 Ruth C. Cohn, Es geht ums Anteilnehmen. Perspektiven der Persönlichkeitsentfaltung in der Gesellschaft der Jahrtausendwende, Freiburg i. Br. 21993.

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Matthias Scharer



jede einzelne Person in ihrer Würde und mit ihrer Geschichte (Ich),



die Dynamik in Gruppen, Gemeinschaften und in der Gesellschaft (Wir),



die wesentlichen Anliegen und Inhalte, um die es jeweils geht, in ihrer geschichtlichen und aktuellen Bedeutung (Es),



der räumliche, zeitliche und gesellschaftliche Kontext, in der die jeweilige Kommunikation geschieht (Globe).

Aus diesen Faktoren bildet sich das typische Schema für die Themenzentrierte Interaktion, das gleichseitige Dreieck im Kreis oder in der Kugel; der Kreis bzw. die Kugel deshalb, weil der „Globe“ alle Faktoren im Dreieck umfängt und verändert. In einer weiteren Ausdifferenzierung des Modells wird das Thema, das Ruth Cohn ursprünglich dem „Es“ zugeordnet hatte, nunmehr in die Mitte des Dreiecks in der Kugel geschrieben; das Thema kann schwerpunktmäßig aus jedem der vier Faktoren kommen und ist jeweils mit den anderen Faktoren vernetzt. Er ergibt sich also folgendes Bild: Es

Globe Thema

Ich

Wir

Angelehnt an das Vier-Faktoren-Modell der Themenzentrierten Interaktion von R. C. Cohn werden in kommunikativ-theologischen Prozessen vier Dimensionen als theologische Erkenntnisorte unterschieden und wechselseitig kritisch in Beziehung gesetzt: –

die Dimension der Lebens- / Glaubenserfahrung,



die Dimension der Gemeinschafts- / Kirchenerfahrung,



die Dimension der biblischen Zeugnisse in lebendiger Vermittlung und anderer religiöser Traditionen,



die Dimension des gesellschaftlichen Kontextes / der Welterfahrung.

Kirchenrecht und Kommunikative Theologie

159

Es würde im Zusammenhang dieses Beitrages zu weit führen, die vier Dimensionen als Orte theologischer Erkenntnisgewinnung im Einzelnen genau zu beschreiben; wichtig ist, dass alle vier Dimensionen und nicht nur die Dimension der biblischen Zeugnisse in lebendiger Vermittlung als theologische Erkenntnisorte (loci theologici) gesehen werden26. 2. Drei Ebenen kommunikativen Theologisierens Die genannten Dimensionen sind im theologischen Prozess auf drei unterschiedlichen Ebenen wirksam: –

auf der Ebene unmittelbarer Beteiligung von Menschen,



auf der Ebene der Erfahrungs- und Deutungsebene und schließlich



auf der wissenschaftlichen Reflexionsebene.

Diese drei Ebenen greifen ständig in einander und müssen in ihrer Wirksamkeit im wechselseitigen Zusammenhang gesehen werden. Konkret bedeutet das, dass sich kommunikatives Theologisieren nicht unabhängig und nicht außerhalb des Lebens und Zusammenlebens, der Beziehungen und Konflikte konkreter Menschen, Gruppen, Gemeinden und schließlich der Weltkirche abspielen kann. Auch jene, die wissenschaftliche Theologie betreiben, sind unmittelbar Beteiligte an solchen Prozessen, und die Prozesse selbst werden zu einer Quelle von theologischer Erkenntnis. Dabei ist auf die Erfahrungen und Deutungen der jeweils betroffenen Menschen als Subjekte der Theologie wie auch der Wissenschaft treibenden TheologInnen selbst aufmerksam zu achten.

26 Die Dimensionen Kommunikativer Theologie wurden in Auseinandersetzung mit dem so genannten „Kompassmodell“ von Roman Siebenrock entwickelt, das nach den Zusammenhängen theologischer Erkenntnismöglichkeit fragt. Vgl. im Zusammenhang mit einer Ausweitung der loci theologici u. a. auch: Peter Hünermann, Dogmatische Prinzipienlehre. Glaube – Überlieferung – Theologien als Sprach- und Wahrheitsgeschehen, Münster 2003, S. 207 – 251; Max Seckler, Die schiefen Wände des Lehrhauses. Katholizität als Herausforderung, Freibugr i. Br. 1988, S. 79 – 104. Bereits 1937 nennt der Theologe M.-Dominique Chenu folgende „loci theologoci in actu“: „Die Beziehung zu den nichtchristlichen Religionen nach dem Ende des Kolonialismus, der säkulare, gesellschaftliche Pluralismus in Europa, die Bedeutung der osteuropäischen Traditionen und des Islam, die kirchlichen Basisbewegungen, die Vielfalt der menschlichen Kulturen und das Drängen der marginalisierten Bevölkerungsmehrheiten nach ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Partizipation“. (Nikolaus Klein, Theologie der offenen Augen, in: Orientierung 70 [2006], S. 26.)

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Matthias Scharer

Die Ebene der wissenschaftlichen Theologie unterscheidet sich von den anderen Ebenen durch ihre methodische Geleitetheit; sie kommt u. a. in den diskursfähigen Kategorisierungen und in einer permanenten Kritik der jeweiligen Forschungsmethoden zum Ausdruck, die zum wissenschaftlichen Erkennen führen sollen. Dabei zeigt sich das Methodische Kommunikativer Theologie in einer generellen und in einer speziellen Hinsicht. In genereller Hinsicht stellt die wechselseitig-kritische Vernetzung der beschriebenen Dimensionen und Ebenen Kommunikativer Theologie die spezifische Methode dar, mit der kommunikatives Theologisieren geschieht. Erst in der Vernetzung der Dimensionen und Ebenen wird die Problematik von Forschungsmethoden sichtbar, die ohne eine solche Vernetzung kaum erkennbar wäre: wenn etwa die ForscherInnen und die Betroffenen als Subjekte des Forschungsprozesses in ihren Interaktionen, mit ihrem Erleben und mit ihren subjektiven Deutungen ans Licht kommen, dann stehen Entscheidungen an, die in einer theologischen Wissenschaft nur im Horizont des theologischen Erkenntnisinteresses gelöst werden können, auf das auch der aktuelle Forschungsprozess auszurichten ist. In spezieller Hinsicht gelten für jede Dimension jene Methoden, welche die jeweilige Wissenschaft, mit der die Dimension erforscht werden kann, zur Verfügung stellt. Da theologische Fragestellungen, die sich auf das Lebensbedeutsame beziehen, in der Regel sehr komplex sind und sich nicht allein aus einer Fachperspektive her aus überzeugend bearbeiten lassen, zielt kommunikatives Theologisieren auf die enge Kooperation unterschiedlicher theologischer Fächer ab. Grundsätzlich kann alles Lebensbedeutsame im Hinblick auf Heil angesichts faktischen Unheils zum Thema kommunikativen Theologisierens werden. Auf der Ebene wissenschaftlicher Reflexion konkretisieren sich die vier Dimensionen kommunikativen Theologisierens in der Weise, wie es im nachfolgenden Schema dargestellt ist.27

27 Das folgende Schema muss man sich wie ein Dreieck in einer Kugel vorstellen. Die drei Ecken des gleichseitigen Dreieckes bezeichnen je eine Dimension kommunikativen Theologisierens; die Kugel, die alle drei Ecken tangiert, bezeichnet die vierte Dimension. Die kleinen Dreiecke an den jeweiligen Ecken des großen Dreieckes machen bewusst, dass die einzelnen theologischen Dimensionen als loci theologici immer auch schon die anderen Dimensionen enthalten.

Kirchenrecht und Kommunikative Theologie

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Biblische Zeugnisse in deren lebendiger Vermittlung und andere religiöse Traditionen als Orte theologischer Erkenntnis; theologischwissenschaftliche Reflexion von Weltanschauungen und religiösen/biblischenTraditionen und Entwicklung entsprechender Methoden

Alles Lebensbedeutsame im Hinblick auf Heil angesichts faktischen Unheils

Persönliche Lebens- und Glaubenserfahrung als Ort theologischer Erkenntnis; theologischwissenschaftliche Reflexion der Lebens- und Selbstmitteilung Gottes in Glaubenserfahrung und Schöpfung, Geschichte und Entwicklung entspreMenschwerdung; Gott als chender Methoden nicht verfügbares Geheimnis

Gesellschaftlicher Kontext/Welterfahrung als Ort theologischer Erkenntnis; theologisch-wissenschaftliche Reflexion des gesellschaftlich-kirchlichen Kontextes und Entwicklung entsprechender Methoden Gemeinschaftserfahrungen/ Kirchlichkeit als Ort theologischer Erkenntnis; theologischwissenschaftliche Reflexion von Gemeinschaftserfahrungen und Entwicklung entsprechender Methoden

3. Axiomatisches und optionenbezogenes Theologisieren Das bisher beschriebene methodische Verfahren kommunikativen Theologisierens wäre – um ein Diktum Ruth C. Cohns im Hinblick auf eine rein methodische Verwendung der Themenzentrierten Interaktion zu gebrauchen – „wie ein Zündholz im Heuschober“, wenn es nicht auf den theologisch rezipierten Axiomen der TZI und den spezifischen theologischen Optionen basieren würde. Die theologisch rezipierten TZI-Axiome beziehen sich auf das Menschenbild, den Freiheitsspielraum und die Handlungsfähigkeit des Menschen, von denen kommunikatives Theologisieren ausgeht. Die „Option für die Gelassenheit aus Gnade angesichts aller Machbarkeitsphantasien“ stellt eine klare Gegenpositionierung zur herrschenden gesellschaftlichen Kommunikationslogik dar, die universale und globale Erlösungsphantasien durch Kommunikation weckt. Diese werden in der „Option für das ‚Dableiben‘, auch wenn nichts mehr geht“ radikal unterbrochen. In der „Option für die Armen“ ergreift Kom-

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munikative Theologie Partei für die Marginalisierten aller Art und bekennt sich zum prophetisch-politischen Handeln. Dem ist die „Option für die Contemplatio und das Mystisch-Mystagogische“ zugeordnet. III. Das Kirchenrecht unter dem Aspekt kommunikativen Theologisierens Dass es nicht völlig absurd ist, den Zusammenhang von Kirchenrecht und Kommunikation zu bedenken, zeigt ein Beitrag von Ludger Müller zu „Kirchenrecht als kommunikative Ordnung“28. In dem Beitrag wird deutlich, dass das Kirchenrecht – entgegen einer Sichtweise, die es als System von „Befehlen“ versteht – durchaus in seinem prozessualen Charakter wissenschaftlich wahrgenommen werden kann; als ein Prozess der auf Gerechtigkeit ausgerichtet ist. 1. Der Beitrag der Kanonistik zur Bearbeitung theologischer Themen Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass theologische Themen in der Regel nicht getrennt nach Fachbereichen auftreten. Ihre Isolierung in fachspezifische Problemstellungen ist ein Akt der Differenzierung mit dem Vorteil einer hoch entwickelten fach- bzw. fächerspezifischen Methodologie, die gerade dann, wenn sie auch im humanwissenschaftlichen Bereich angewendet wird, hohe wissenschaftliche Anerkennung findet. Ohne diese Differenzierung ist ernst zu nehmende Wissenschaft in der modernen Gesellschaft wohl nicht zu betreiben. Für die Bearbeitung von Kirchenrechtstexten werden es demnach rechtswissenschaftliche Methoden sein, die allerdings nicht kritik- und kriterienlos zu übernehmen und anzuwenden sind, sondern unter der Herausforderung stehen, inwiefern sie dem theologischen „Blick“ standhalten und dienen, der auf das Heil der Menschen angesichts faktischen Unheils ausgerichtet ist. Das Konzert der Methoden kommt im Kirchenrecht vor allem dann in Bewegung, wenn nicht nur der Kirchenrechtstext, sondern auch die betroffenen Subjekte und Gemeinschaften in ihrem jeweiligen Kontext in wechselseitig-kritischer Interaktion mit den Erkenntnissen aus dem hermeneutisch erschlossenen Codex zum locus kanonistischer Einsicht werden. Es versteht sich von selbst, dass in einem aktuellen Forschungsprojekt nicht immer alle Ebenen und Dimensionen gleichgewichtig beachtet und in Verbindung gebracht werden können. Aber schon der Anstoß dazu, die jeweils notwen-

28 Ludger Müller, Kirchenrecht als kommunikative Ordnung, in: AfkKR 172 (2003), S. 353 – 379.

Kirchenrecht und Kommunikative Theologie

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digen methodischen Ausblendungen zu begründen, bringt einen Forschungsprozess derart in Bewegung, dass er dazu angehalten ist, aus dem Kreislauf der sich oftmals wiederholenden Wiedergabe immer wieder rezipierter Forschungsergebnisse auszusteigen und kreativ neue Forschungswege zu wagen.29 2. Leiten in der Kirche als Beispiel Richtet man etwa die Aufmerksamkeit auf einen kirchenrechtlich nicht unbedeutsamen Fragenkomplex, nämlich den von Amt und Leitung in der Kirche, dann wird sofort die Komplexität der Fragestellungen bewusst, die nicht zuletzt die Kanonistik betrifft. Wenn man etwa Leitungskonzepte im Sinne subjektiver Theorien vom Leiten unterschiedlicher LeitungsträgerInnen in der Kirche theologisch zu analysieren versucht, dann wird deutlich, wie biblische, historische, systematische, kirchenrechtliche und praktisch-theologische Fragestellungen ungetrennt in einander greifen. Im Sinne der wissenschaftlichen „Arbeitsteilung“ könnte sich die Kanonistik selbstverständlich auf die wissenschaftliche Interpretation des Codex zurückziehen; sie würde aber damit den prozessualkommunikativen Charakter der Rechtsentstehung und Rechtsinterpretation hintanstellen; vor allem aber käme der theologische Sinn der Kirchenrechtsinterpretation, der auf das Heil des Menschen angesichts faktischen Unheils ausgerichtet ist, aus dem Blick; dieser wird oft erst in der Zusammenschau mit den Ergebnissen aus anderen theologischen Fachbereichen sichtbar. 3. Kommunikative Kanonistik – eine Anfrage Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass es für einen Fachaußenstehenden unmöglich erscheint, kommunikatives Theologisieren im Rahmen des Kirchenrechts differenziert zu beschreiben. Hierzu bedürfte es einer intensiven Zusammenarbeit mit KirchenrechtlerInnen an konkreten Problemstellungen im Forschungskreis Kommunikative Theologie. Ein für die Belange der Kanonistik abgewandeltes Schema kommunikativen Theologisierens könnte konkrete Anregungen für ein solches Gespräch bieten.

29

Ein gelungenes Beispiel für einen solchen Prozess, der auch in seiner Vorgangsweise immer wieder reflektiert wird, stellt u. a. die Dissertation von Markus Schwaigkofler dar: Markus Schwaigkofler, Das Drama der Missverständnisse. Zur Grammatik kirchlichen Begegnungshandelns im Kontext der Katholischen Kirche Vorarlbergs (= Kommunikative Theologie – interdisziplinär, Bd. 4), Wien 2005.

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a) Ein mögliches Schema für kanonistische Forschung? Die Anwendung des Schemas kommunikativen Theologisierens auf die Kanonistik macht deutlich, dass weder die ausschließliche Texthermeneutik noch die „Hermeneutik des Lebens“ im Sinne empirisch-theologischer Kirchenrechtsforschung isoliert voneinander gesehen werden können, sondern wechselseitig kritisch aufeinander bezogen werden müssten30. Empirisch-theologische Kirchenrechtsforschung, die vermutlich noch ein weitgehend unbearbeitetes Feld der Kanonistik darstellt, dürfte auch nicht nur im Sinne einer Wirkungsforschung im Hinblick auf das Kirchenrecht betrieben werden. Als kirchenrechtlich-theologische Erkenntnisquelle würde eine theologisch geleitete Kirchenrechtsempirie zu lebens- und heilsrelevanten Einsichten führen, die durch die ausschließliche oder primäre Konzentration der Kanonistik auf die Texte des Kirchenrechtes nicht zu erreichen sind. Kirchenrecht als Ort theologischer Erkenntnis; theologisch-wissenschaftliche Reflexion des Kirchenrechtstextes und Entwicklung/Pflege entsprechender kanonistischer Methoden

Alles Lebensbedeutsame im Hinblick auf Heil angesichts faktischen Unheils

Persönliche (Kirchen-) rechtserfahrung als Ort kirchenrechtlich-theologischer Erkenntnis; theologisch-wissenschaftliche Reflexion der Kirchenrechtserfahrung und Entwicklung entsprechender Methoden

Selbstmitteilung Gottes in Schöpfung, Geschichte und Menschwerdung; Gott als nicht verfügbares Geheimnis

Gesellschaftlicher Kontext/Welterfahrung als Ort kirchenrechtlich-theologischer Erkenntnis; kanonistische Reflexion des gesellschaftlich-kirchlichen Kontextes und Entwicklung entsprechender Methoden Gemeinschaftserfahrungen/Kirchlichkeit als Ort kirchenrechtlichtheologischer Erkenntnis; kanonistische Reflexion von Gemeinschaftserfahrungen und Entwicklung entsprechender Methoden

30 Vgl. als gelungenes Beispiel einer solchen Kooperation: Panhofer, Hören, was der Geist den Gemeinden sagt (Anm. 17).

Kirchenrecht und Kommunikative Theologie

165

b) Wie sollte, wie möchte, wie will ich handeln? Eine besondere Brisanz und damit auch Produktivität im theologischen Erkenntnisprozess und auch in der Ausbildung von TheologInnen scheint mir ein „Postulat“ zu haben, das aus dem Konzept der Themenzentrierten Interaktion in die Kommunikative Theologie übernommen wurde: das Chairpersonpostulat. In R. Cohns Themenzentrierter Interaktion, auf die sich Kommunikative Theologie kritisch bezieht, heißt eines der beiden Postulate „Be your own chairperson.“ Mit Chairpersonship ist die entschiedene Verantwortung jeder einzelnen Person innerhalb einer Vielfalt von Möglichkeiten angesprochen. Die Vielfalt an Wahlmöglichkeiten weitet sich in einer pluralen Gesellschaft ständig aus. Sie betrifft sowohl äußere als auch innere Gegebenheiten. Pluralitätsfähigkeit wird als eine wesentliche Qualifikation von TheologInnen erkannt31. In der Transaktionsanalyse32, einem der Themenzentrierten Interaktion verwandten humanistisch-psychologischen Konzept, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die innere Entscheidungsfähigkeit des Menschen zwischen einem „Eltern-“, „Kindheits-„ und „Erwachsenen-Ich“ geschieht. Das ElternIch sagt dem Menschen, was er sollte; das Kindheits-Ich verlockt ihn zu dem, was er möchte; die entschiedene Verantwortung einer Chairperson geschieht aus dem Erwachsenen-Ich heraus. In seinem Innern erfährt der Mensch – gleich wie in einer Gruppe mit vielen unterschiedlichen „Stimmen“ – die Herausforderung zur authentischen Entscheidung, die er zu treffen und „selektivauthentisch“ zu kommunizieren hat. LeiterInnen von Gruppenprozessen – und das sind TheologInnen häufig – stellen sozusagen modellhaft ihre Chairpersonship zur Verfügung und ermöglichen auf diese Weise, dass auch andere Menschen zu ihrer Selbstleitung finden. Die Kommunikative Theologie übernimmt das Chairpersonpostulat aus der TZI insofern, als sie Theologie nicht auf personenunabhängige theoretische Einsichten reduziert, sondern sowohl ihre Entstehung als auch ihre Weitergabe an konkrete Menschen gebunden sieht, die mehr oder minder authentisch und verantwortlich handeln. Insofern besteht in der Kommunikativen Theologie ein Bewusstsein dafür, dass Theologie so erforscht, gelehrt und gelernt werden muss, dass die theologische Aufmerksamkeit, die Echtheit und Urteilskraft von konkreten Personen gefördert wird.

31

Vgl. u. a. Friedrich Schweitzer / Rudolf Englert / Ulrich Schwab / Hans-Georg Ziebertz, Entwurf einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik, Freiburg 2002. 32 Vgl. als Kurzeinführung: Jürgen Gündel, Transaktionsanalyse. Was sie kann, wie sie wirkt und wem sie hilft, Mannheim 21991.

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Eine aktivierte Chairperson macht den Menschen fähig, in sensibler Achtsamkeit nach innen und nach außen klare Entscheidungen zu treffen; diese sind weder unfehlbar noch unrevidierbar; sie helfen aber im Moment jenen Freiheitsspielraum des Menschen zu realisieren, der ihm zwischen den Ohnmachtsfantasien, nichts tun zu können, und den Allmachtsfantasien, alles verändern zu können, als realer Handlungsspielraum gegeben ist. In der Kommunikativen Theologie können wir analog zur TZI-Chairperson auch von einer theologischen Chairperson sprechen. Sie zeigt sich in der (selektiven) Authentizität von TheologInnen und in deren eigenständiger theologischer Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit; geschult an der theologischen Wahrnehmungs- und Urteilstradition können sie immer fähiger werden, den Spielraum einer eigenständigen Theologie auszuloten und zu erweitern. Im Zusammenhang mit dem Kirchenrechtsbewusstsein dürfte der Ausbildung und Aktivierung einer theologischen Chairperson eine besondere Bedeutung zukommen. Steht nicht gerade kirchenrechtsgerechtes Handeln in der Regel zwischen dem Sollensanspruch einer Norm von Außen, wie sie das so genannte Eltern-Ich darstellt, und dem kindlich-regressiven Verlangen, alles Tun und Lassen zu können wie es gerade beliebt? Kirchenrechtsbewusstsein in der Haltung einer erwachsenen Chairperson, die zwischen Über-IchAnsprüchen und kindlichen Wünschen, das „Ich-Sagen“ im Sinne entschiedener Verantwortlichkeit als Kirchenrechtssubjekt in einer vom Kirchenrecht betroffenen Kirchengemeinschaft gelernt hat, wäre ein anzustrebendes Bildungsziel einer Kirchenrechtsdidaktik, die auf einer kommunikativ-theologisch betriebenen Kanonistik aufbauen könnte. c) Kirchenrecht unter Störungspriorität Das zweite Postulat, das die Kommunikative Theologie aus der Themenzentrierten Interaktion übernimmt, ist das Störungsprioritätspostulat. In diesem Fall ist der englische Originalton des Postulates bedeutsam, weil die bekannte Übersetzung „Störungen haben Vorrang“ auf eine problematische Fährte führen kann: „Disturbances and passionate involvements take precedence“ behauptet Ruth Cohn in ihrem Postulat von der Priorität der Störungen und Betroffenheiten, die sich Vorrang nehmen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Neben der Wertschätzung des Widerstandes für das Wachstum des Menschen, die Ruth Cohn aus der Psychoanalyse übernommen hat, kann die Störungspriorität auch mit der Wertschätzung des Konfliktiven im Menschen und zwischen den Menschen in Zusammenhang gebracht werden; Konflikte können zu einem „Ort der Gnade“ werden.33

33

Christoph Drexler greift diese Thematik auf und fragt auf dem Hintergrund der Kommunikativen Theologie nach dem theologischen Stellenwert von Konflikten: Vgl.

Kirchenrecht und Kommunikative Theologie

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Die Störungspriorität erteilt allen Versuchungen nach harmonistischen Gruppen-, Gemeinde- und Kirchenmodellen eine klare Absage. Theologisch geht das Störungs- und Konfliktverständnis aber noch viel tiefer: In den vielfältigen Rollen und Beziehungen, in den oft schmerzvollen Wandlungen, wie sie in kommunikativ-theologischen Prozessen erfahren werden können, liegt die prozesshaft erfahrbare Wahrheit des einen und dreieinen Gottes, der in sich selbst Beziehung ist.34 Solange dieser (heils-)geschichtliche Prozess noch andauert, bleibt der prophetische Widerspruch als Korrektiv aller harmonistischen Einheitsbestrebungen eine unverzichtbare Herausforderung. Dies wird insbesondere im prophetischen Eintreten für Arme, Marginalisierte und Fremde konkret. Theologisch orientierte TZI-Gruppen ermöglichen die Entwicklung einer hohen Konfliktfähigkeit und einer besonderen Sensibilität für die Anderen und (auch TZI-)Fremden, für die Ausschluss- und Opferstrategien, vor denen kein Gruppenprozess gefeit ist, und schließlich für das nichtherstellbare Geschenk, das eine lebendige Gruppe/Gemeinde darstellt. In der Störungs- und Konfliktpriorität besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen der Dramatischen und Kommunikativen Theologie, der noch weiter zu erforschen ist. Im Hinblick auf das Kirchenrecht könnte die Störungspriorität noch in einem spezifischeren Sinn verstanden werden: Dort wo das kirchliche Leben in seiner geistbewegten Dynamik Lebensformen erzeugt, die dem gegebenen Kirchenrecht noch fremd sind – wie das etwa in der Leitungs- und Amtsfrage innerhalb der katholischen Kirche derzeit der Fall zu sein scheint – könnte die kommunikativ-kirchenrechtliche Bearbeitung der Störung, die sich Vorrang nimmt, ob man will oder nicht, die ganze Kirche zu neuen Einsichten führen. Doch zur Leitungsproblematik findet sich in dieser Festschrift ein eigener Beitrag von Johannes Panhofer.35

Christoph Drexler, Konflikt als Ort der Gnade? Eine Reflexion der theologischen Bedeutung von Konflikten in praktischer Absicht, unveröffentlichte Dissertation, Universität Innsbruck 2005. 34 Zu dieser praktisch-theologischen Verhältnisbestimmung zwischen Trinitätsbeziehungen und menschlichen Erfahrungen vgl. Ottmar Fuchs, Gottes trinitarischer „Offenbarungseid“ vor dem „Tribunal“ menschlicher Klage und Anklage, in: Markus Striet (Hrsg.), Monotheismus Israels und christlicher Trinitätsglaube, Freiburg/Br. 2004, S. 271 – 295. 35

S. 113 – 147 in dieser FS.

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4. Zusammenfassung und Ausblick Ausgelöst durch die Situierung des Kirchenrechtes am Institut für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät Innsbruck, an welcher der Geehrte lange Zeit Kirchenrecht gelehrt hat, ergibt sich eine Anfrage im Hinblick auf eine mögliche Kooperation im Rahmen des Forschungsschwerpunktes Kommunikative Theologie. Als Anstoß für eine mögliche Kooperation im Theologietreiben, wird das Konzept Kommunikativer Theologie kurz vorgestellt. Der Anschlussdiskurs zur Kanonistik scheint aus der Außenperspektive einerseits in der Positionierung des Kirchenrechtes zwischen Theologie und Rechtswissenschaften und andererseits in der Beachtung weiterer loci theologici für kanonistische Erkenntnisse möglich zu sein; dafür spielt die Subjekt- und Gemeinschaftsorientierung der Kirchenrechtsforschung – nicht zuletzt im Rahmen empirischer Zugänge – eine bedeutende Rolle. Auf dieser Basis könnten einerseits Impulse für die Kirchenrechtsausbildung im Sinne der Qualifikation zu entschiedener Verantwortlichkeit (Chairpersonship) und andererseits weiterführende Fragestellungen in der Kanonistik kommen.

II. Orientalistik und Neues Testament

ina njmƯ ullûti, innjmƯšu – „In jenen Tagen“, „am Tag, als“ In illo tempore als Indikator für normative Ursprünglichkeit in altorientalischen literarischen Werken und in Rechtstexten* Von Martin Lang I. Einführung „Altes Recht ist gutes Recht.“ Die Unvordenklichkeit der Ursprünge von Recht, von Bräuchen und Riten ist der Grund für ihre Autorität und Verbindlichkeit. Das gilt nicht bloß für die Rechtsauffassung in der germanischen Welt,1 sondern, wenngleich mit anderer kultureller Ausprägung, auch ganz sicher für die bekanntermaßen konservative mesopotamische Kultur. Der Vergangenheit kommt dort große Bedeutung für die Ausprägung der Gegenwart und ihrer Gestaltung zu.2 Die folgenden Überlegungen wollen sich mit einigen *

Diesen kleinen Beitrag widme ich meinem früheren Lehrer P. Johannes Mühlsteiger SJ. Als treuer Arbeiter im Garten der Rechtsgeschichte, vertraut mit Quellen früher kirchlicher Gesetzgebung, möge er mir den Ausflug in das Keilschriftrecht, und damit die älteste Zeit ‚aufgeschriebener‘ Rechtsgeschichte, nachsehen. Es ist dies eine – auch im Sinne besserer Kommunizierbarkeit innerhalb dieser Festgabe – verkürzte und vereinfachte Version eines Artikels, der zu späterer Stunde in einer orientalistischen Fachzeitschrift erscheinen wird. Für diese Studie hier habe ich v. a. eine Mehrzahl an (entlegeneren) Textbeispielen und die damit gesteigerte Zahl an grammatikalischen Einzelfragen weggelassen. Meinen Lehrern Manfred Schretter (Sumerologie), Reinhard Messner (Liturgiewissenschaft), und Robert Rollinger (Akkadistik, Alte Geschichte) bin ich für correctio fraterna und ihre geduldige Hilfsbereitschaft von Herzen zu Dank verpflichtet. 1

Das Zitat „Altes Recht ist gutes Recht“ verdanke ich einem meiner früheren Lehrer, Prof. Louis Morsac, der es in seiner Vorlesung über die Deutsche Rechtsgeschichte geprägt hat. 2

Jüngst hat Hannes Galter (in: ders., Sargon der Zweite. Über die Wiederinszenierung der Geschichte, in: Robert Rollinger / Brigitte Truschnegg [Hrsg.], Altertum und Mittelmeerraum: Die antike Welt diesseits und jenseits der Levante. Festschrift für Peter W. Haider zum 60. Geburtstag, Stuttgart [Oriens et Occidens], 2006 [in Vorbereitung], in seinen einleitenden Bemerkungen) zu diesem Thema Stellung genommen.

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repräsentativen Texten und ihren Aussagerichtungen aus der Perspektive ihrer Zeitangaben auseinandersetzen. Ausgehen möchte ich von sumerisch-akkadischen mythologischen Texten, die – wie ich meine und hier auch zu erhärten suche – die mythisch-epische Basis dafür bilden, die gerade bei Gesetzen, v. a. bei jenen, deren Prologe Reformcharakter beanspruchen, bemüht wird, um an das All-Ursprüngliche, „Embryonale“3 anzuknüpfen. Die Satzung von Recht dient in diesem Plausibilitätssystem dazu, den mythischen, ‚heileren‘, Urzustand wiederherzustellen. II. Die Zeitangaben in den Einleitungen altorientalischer Texte mit Schöpfungsthematik Traditionsbildend ist hier die sumerische Epik, die des öfteren Einleitungen wie u 4 - … - a (am … Tag, „damals“) verwendet, um dem in der Narration Folgenden Gewicht zu verleihen. Was seinen Ursprung in der stiftenden Urzeit hat, hat Gewicht und ist nicht hinterfragbar, weil es dem Zugriff aus der JetztPerspektive entzogen und damit unveränderbar und verbindlich geworden ist. Oft strotzen diese Einleitungen geradezu vor Zeitangaben, und trotzdem sagen sie nichts aus über den Zeitpunkt; vielmehr ist, vor allem bei Texten, an denen der chronologische Dreischritt von u 4 (Tag), g i 6 (Nacht) und m u (Jahr) das Datum des Gründungsgeschehens umreißt, an einen Zeitraum zu denken; niemand kann und soll diese Unvordenklichkeit genauer spezifizieren, ja es scheint vielmehr, als wollten die Autoren gerade dadurch die Geschehnisse der Urzeit als zeitenthoben, eben als ‚prä-existent‘ darstellen und damit jeglicher menschlichen Verfügbarkeit entziehen. Dies wird in dem sumerischen Gilgamešzyklus zugehörigen Kurzepos „Gilgameš, Enkidu und die Unterwelt“ deutlich. Sein Beginn ist richtungsweisend und programmatisch:4 ud re-a ud sù-ra2 re-a

in jenen Tagen, in jenen fernen Tagen,

JѺi6 re-a JѺi6 ba9-ra2 re-a

in jenen Nächten, in jenen fernen Nächten,

3

Vgl. Jan van Dijk, Le motif cosmique dans la pensée Sumérienne, in: Acta Orientalia 28 (1964), S. 1 – 59, hier S. 20. 4

Die monographische Bearbeitung erfolgte durch Aaron Shaffer, Sumerian Sources of the Tablet XII of the Epic of Gilgamesh, Philadelphia 1963. Der hier präsentierte Text folgt der Edition im ETCSL auf der Homepage http://etcsl.orinst.ox.ac.uk/cgibin/etcsl.cgi?text=c.1.8.1.4&display=Crit&charenc=gcirc#, unter der Nummer c.1.8.1.4, datiert vom 2006-01-27.

ina njmƯ ullûti, innjmƯšu – „In jenen Tagen“, „am Tag, als“

173

mu re-a mu sù-rá re-a

in jenen Jahren, in jenen fernen Jahren,

ud ul níJѺ-du7-e pa éd-a-ba

den weit entfernten5 Tagen, in denen die angemessenen Dinge hervorkamen

ud ul níJѺ-du7-e mí zid dug4ga-a-ba

den weit entfernten Tagen, in denen die angemessenen Dinge geziemend geordnet wurden, …

Es folgen Ausführungen über die Trennung von Himmel und Erde und die Ausbildung jener räumlichen u. v. a. kultischen Strukturen, in denen sich Menschsein, näherhin das Leben des mesopotamischen Menschen, entfalten kann. Ganz ähnlich verhält es sich bei der mythologischen Komposition „Enki und Ninmah“. Die Einganszeilen lauten: 1. ud re-a-ta ud an ki-bi-ta ba-an-[dim2-ma-ba]

Von jenem Tag an, als der Himmel zusammen mit der Erde erschaffen wurde

2. JѺi6 re-a-ta JѺi6 an ki-bi-ta ňbaʼn-[an-dím-ma-ba]

Von jener Nacht an, als der Himmel zusammen mit der Erde erschaffen wurde

3. [mu re]-a-ňtaʼn mu nam ba-[tar-ra-ba]

Von jenem Jahr an, als das Schicksal bestimmt wurde

Diese hier vorgestellte, von besonderer Feierlichkeit geprägte Formel erscheint in ihrer extensivsten Gestalt mit den drei Stufen Tag – Nacht – Jahr. Für den modernen, westlichen Menschen beinahe schwerfällig, überladen und umständlich, ballt sich im Modus der gebundenen Sprache der Ursprung, quasi das Embryonale einer erst im Entstehen begriffenen Jetzt-Welt.6 Diese Formel hat allem Anschein nach traditionsbildende Kraft; sie prägt die sumeroakkadische Literatur über einen Zeitraum von fast 2000 Jahren.7 Freilich unterliegt sie 5

u l i. Sinne von „zeitlich weit entfernt“ vgl. akk. s̞iƗtu.

6

Jan van Dijk, Le motif (vgl. Anm. 3), hier S. 20.

7

Manfried Dietrich, ina umi ullûti „An jenen (fernen) Tagen“. Ein sumerisches kosmogonisches Mythologem in babylonischer Tradition, in: Ders. / Oswald Loretz (Hrsg.), Vom Alten Orient zum Alten Testament. Festschrift für Wolfram Freiherr von Soden

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einem kreativen Wandel, tritt in Wechselwirkung mit anderen Überlieferungen, wird überformt, doch kann man bei genauerem Hinschauen auch in zeitlich entschieden späteren Literaturstücken immer wieder ihren alten Glanz entdecken. In vielen Texten tritt sie uns in abgewandelter, verkürzter, manchmal abgeschliffener und tieferer Bedeutung entkleideter Form entgegen, also nicht in ihrer feierlichen, dreigliedrigen Gestalt mit der Abfolge der fernen Tage, Nächte, Jahre, sondern als lapidares „an jenem Tag“, vielfach einfach als Zeitadverb „damals“ oder – je nach Syntax – als Konjunktion „als“ zu lesen. Das lässt sich am besten am feierlichen Initium des akkadischen Epos Ennjma Eliš zeigen. ennjma eliš lƗ nabû šamƗmnj šapliš ammatum šuma la zakrat Als oben der Himmel noch nicht gerufen, unten die Erde noch nicht beim Namen genannt war, …8 Vom All-Ursprung ist nach wie vor die Rede, aber die poetische Entfaltung des schon erwähnten Dreischritts gerinnt in dem umso gewichtiger klingenden ennjma – „als“. Bei näherem Hinsehen hat diese ‚Kurzform’ „an jenem Tag“, oder sogar „als“ in einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Fällen eine dem zuvor Dargelegten analoge Funktion: Sie hebt den Urzustand ins Heute und bringt die jeweils Heutigen vermittels des Textes mit dem stiftenden Urzustand in Kontakt. Was in dieser mythischen Urzeit begonnen hat, ist begründend für das Heute. Was heute geschieht, hat seinen letzten Grund in jener stiftenden Urzeit dort. Und umgekehrt: Was an Defizienz im Heute wahrgenommen wird, wird literarisch als Aberration vom Urzustand interpretiert und festgehalten. Was diesem Denken zugrunde liegt, ist das „Konzept eines zyklischen Neubeginns der Geschichte als Rückkehr zum ursprünglichen Idealzustand“9.

zum 85. Geburtstag am 19. Juni 1993 hat im Gefolge der prägenden Arbeit von Jan van Dijk, Le motif (vgl. Anm. 3), anhand von mehreren Textbeispielen überzeugend nachweisen können, daß diese Theologie ursprünglich in Nippur beheimatet und gestaltgebend für diese lange Tradition ist. 8

Text: Enuma Eliš, The Babylonian Epic of Creation. The Cuneiform Text. Text established by W. G. Lambert and copied out by Simon B. Parker, Oxford 1969. 9

Galter, Sargon (Anm. 2).

ina njmƯ ullûti, innjmƯšu – „In jenen Tagen“, „am Tag, als“

175

III. Restitution eines Idealzustandes Ein Rückgriff auf „jene Zeit“ lässt sich schon in den altsumerischen so genannten Reformtexten des IriKAgina10 von Lagaš ausmachen. Der Stadtfürst lässt in diesen Texten eindrucksvoll dokumentieren, dass er grobe und vielfältige Missstände erkannt und beseitigt hat. Am Ende der langen, sehr detaillierten Liste von Missständen und Unrechtssituationen hält Ukg 4,7,26 – 4,8,9 Folgendes fest:11 p i - l u 5- d a u 4 - b i - t a e - m e - a (Var: a m 6 ) u 4 d n i n - g í r - s u u r - s a JѺ den-líl-lá-ke4 iri-KA-gi-na-ra nam-lugal lagaški e-na-summa-a šà lú 36000-ta šu-ni e-ma-ta-dab5-ba-a nam-tar-ra u4 bi-ta e-šè-gar „Der Brauch / Ritus von jenem Tag (‚weg‘)12 war es. (An dem) Tag, (als) Ningirsu, der Held Enlils, dem IriKAgina das Königtum von Lagaš gegeben hatte, indem er ihn mitten aus 36000 Menschen bei seiner Hand ergriffen hatte, hat er das entschiedene Schicksal von jenem Tag gesetzt(?)13“ Die Phrase vom „Brauch / Ritus von jenem Tag an (wtl.: von jenem Tag ‚weg‘)“ p i - l u 5- d a u 4 - b i - t a e - m e - a (Var: a m 6 ) schließt die lange Liste der Missstände ab. Die literarische Funktion der Wendung an dieser Stelle ist aber nicht ganz klar und der Text lässt nicht deutlich erkennen, ob „der Brauch / Ritus von jenem Tag an (‚weg‘)“ resümierend die Liste des Unrechts

10

Zur umstrittenen Lesung dieses Herrschernamens vgl. Dietz Otto Edzard, Irikagina (Urukagina), in: Piotr Michalowski / Piotr Steinkeller et al (Edd.), Velles Paraules. Ancient Near Eastern Studies in Honor of Miguel Civil (AuOr 9 [1991]), S. 77 – 79. 11

Text: Horst Steible, Die altsumerischen Bau- und Weihinschriften, Teil 1. Inschriften aus Lagaš (FAOS 5), Wiesbaden 1982, S. 298. Zur wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Einordnung siehe Blahoslav Hruška, Die innere Struktur der Reformtexte Urukaginas von Lagaš, in: ArOr 41 (1973), S. 104 – 132, hier S. 126 – 127. 12

Wie die hier mit der Dimension des Ablativs versehene Wendung u4-bi-ta „von jenem Tag (‚weg‘)“ zu beurteilen ist, stellt ein Problem sui generis dar. u4-bi-ta ist nach Jacobsen eine Nominalisierung einer ursprünglichen Satzkonstruktion: „ud-bi-ta ‚in/since those days‘ has been nominalized and has become a word, meaning ‚yore‘, ‚the past‘.“ Thorkild Jakobsen, Notes on the Sumerian Genetive, in: JNES 32 (1973) S. 161 – 166, hier S. 162, Anm. 20. 13

Die Übersetzung hier gestaltet sich als schwierig. Nach Gene Gragg, Sumerian dimensional infixes (Alter Orient und Altes Testament / Sonderreihe 5), Kevelear 1973, S. 19, ist g a r + š e (dimensionales Infix) gar nicht möglich. Marie-Louise Thomsen, The Sumerian Language (Mesopotamia 10), Copenhagen 1984, S. 105, übersetzt mit „re-establish“.

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abschließt. Damit wäre der „Brauch / Ritus“ pejorativ besetzt und würde auf eine „nach dem göttlichen Urbild geschaffene Wirklichkeit“14 verweisen, die kritisiert und als reformbedürftig dargestellt wird, und sachlich eigentlich „Missstand“ oder „Zustand des Unrechts“ meint.15 Das ist allerdings keineswegs zwingend und scheint mir nicht das Richtige zu treffen. Vielmehr beginnt mit eben dieser Wendung – das lässt die Grammatik ohne weiteres zu – die neue, durch den Stadtfürsten herbeigeführte Sphäre des Rechts. Letzteres legt nämlich das auf u 4 - b i - t a bezogene u 4 – hier am besten einfach als („von dem Tag an), „als“ übersetzt – nahe.16 Aufgrund dieser Überlegungen ist p i - l u 5- d a weiterhin als die „nach dem göttlichen Urbild geschaffene Wirklichkeit“ aufzufassen. Diese ist als jene vom Stadtfürsten durch seine Rechts-Reform veranlasste Wiederkehr eines positiven Urzustandes zu interpretieren. IV. Das Mythologem in den Rechtstexten Ein prominentes, weil frühes Beispiel in der Rechtsentwicklung innerhalb der mesopotamischen Tradition ist der so genannte Codex Urnamma (CU).17 Bewusst sei hier der Begriff ‚Tradition’ verwendet, da selbst das hohe Alter eines CU Exponent einer Tradition ist, die noch ältere, bedeutsame Hinweise aufzuweisen hat. CU steht also nicht isoliert, sondern ist ein Aspekt einer langen Überlieferung. Jerrold Cooper hat eindrucksvoll dargelegt, dass Babylonien

14

Blahoslav Hruška, Die innere Struktur der Reformtexte Urukaginas von Lagaš (Fs.), in: ArOR 41 (1973) S. 104–132, hier S. 105. Zu p i - l u 5- d a siehe pars̞u – „rite“, „ritual“, „(temple) office“, „decision“, „command“, „decree“, „custom“, „practice“ (CAD 12, 196) und pilludû – „ritual“ (CAD 12, 377). 15 So etwa auch Gertrud Farber-Flügge, Der Mythos „Inanna und Enki“ unter besonderer Berücksichtigung der Liste der me (Studia Pohl, Dissertationes Scientificae de Rebus Orientis Antiqui 10), Rome 1973, S. 176. 16 Vgl. zur altbabylonischen Konstruktion innjma … innj. Tikva Zadok, The use of the subordinating particles inumi/inu/inuma „when“ in Old Babylonian royal inscriptions. In: Izre'el Shlomo – Itamar Singer – Ran Zadok (Hrsg.), Past links. Studies in the languages and cultures of the ancient Near East. [FS Anson F. Rainey], (Israel oriental studies 18), Winona Lake 1998, S. 19 – 32. 17

In der Folge berufe ich mich auf die Edition und die Bearbeitung von Claus Wilcke, Der Codex Urnamma (CU). Versuch einer Rekonstruktion, in: Tzvi Abusch (Hrsg.), Riches Hidden in Secret Places. Ancient Near Eastern Studies in Memory of Thorkild Jacobsen, Winona Lake 2002, S. 291 – 333.

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als „Überlieferungsgemeinschaft“ („textual community“)18 zu begreifen ist.19 Das ist freilich im Sinne einer diachronen Kommunikation vermittels schriftlicher Überlieferung zu verstehen. Durch die textliche Überlieferung scheint eine „moral and spiritual unity“ gewahrt zu bleiben, selbst wenn etwa die politische Einheit beeinträchtigt ist. Gemeinsam mit seinem ältesten greifbaren Vorgänger, den schon erwähnten so genannten Reformtexten des IriKAgina von Lagaš, kann sich der Urheber von CU a)

auf göttliche Ernennung berufen,

b) bestehende Missstände illustrativ darstellen und c)

deren Beseitigung und die Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit (hier: n í JѺ g e n 6 - n a 20 und n í JѺ s i - s á 21) verfügen. Inszenierung eines geordneten Urzustandes

Neben der Tatsache, dass die zeitadverbielle Bestimmung u 4 … b a – „an jenem Tag / damals“ geradezu Merkmal einer literarischen Gliederung wird, rekurriert die Wendung „an jenem Tag“ nicht nur auf Zustände in denen es nicht so war, sondern hat auch einen realen Bezugspunkt in der – zumindest im Text selbst genannten – rekordierbaren Geschichte, nämlich „an jenem Tag“, –

an dem Opfer an den Ufern des Euphrat und Tigris dargebracht werden (CU 150 – 154),



an dem, wie es heißt, Gärten angelegt werden und ein Obergärtner eingesetzt wird (CU 159 – 161), mithin ein Tag, an dem das ganze Land vom Freudentaumel des Fests ergriffen wird.

18

Jerrold Cooper, Paradigm und Propaganda. in: Mario Liverani (Hrsg.), Akkad. The first World Empire. Structure, Ideology, Traditions (HANE/S 5), Padua 1993, S. 11 – 24, hier S. 13. 19

Vgl. dazu auch den Aufsatz von Gebhard Selz, Vom „vergangenen Geschehen“ zur „Zukunftsbewältigung“. Überlegungen zur Rolle der Schrift in Ökonomie und Geschichte, in: Barbara Böck / Eva Cancik-Kirschbaum / Thomas Richter (Hrsg.), Munuscula Mesopotamica. Festschrift für Johannes Renger (Alter Orient und Altes Testament 267), Münster 1999, S. 465 – 412. 20

Akk. kƯttu, „Treue, Wahrheit, Konstanz“.

21

Akk. mƯšarum, „Gerechtigkeit“.

178

Martin Lang

Beides – der durch den König errichtete Garten und das Fest – weist in den Bereich dessen, was – freilich verkürzt und defizient – mit „Inszenierung eines Urzustandes“ wiedergegeben werden kann. Hier sei nur ein kurzer Blick auf jene zwei zunächst unscheinbaren Parameter inmitten eines Rechtstextes geworfen, die aber ihrerseits anzeigen, worin dieses Recht gründet und worauf es zurückzuführen ist: Es sind der König als Gärtner und das Fest! Das königliche Wirken als Gärtner ist im Alten Orient breit bezeugt und weist den Herrscher als den von den Gottheiten beauftragten Bändiger des Chaos aus. Der König, der für die Fruchtbarkeit des Landes Verantwortung trägt, inszeniert diese abundante Üppigkeit als geordneten Mikrokosmos bildlich und real in der Gründung eines Gartens.22 Das Fest – hier in sträflicher Kürze – ist jener menschlich-gesellschaftliche Vollzug, in dem der Mensch die Schwelle der Alltagszeit überschreitet und in der Festzeit eines Ursprungsgeschehens („Mythos“) gedenkt, an dem er im Ritual partizipiert.23

22

Zum orientalischen Garten und den mit ihm verbundenen Ideologemen siehe jüngst: Jean-Jacques Glassner, À propos des Jardins Mésopotamiens, in: Rika Gyselen (Hrsg.), Jardins d’Orient (Res Orientales 3), Paris 1991, S. 9 – 17; Reinhold Bichler / Robert Rollinger, Die Hängenden Gärten zu Ninive – Die Lösung eines Rätsels?, in: Robert Rollinger, (Hrsg.), Von Sumer bis Homer. Festschrift Manfred Schretter zur Vollendung des 60. Lebensjahres (AOAT 205), Münster 2004, S. 153 – 217; Martin Lang, Ägypten durch die babylonische Brille. Dtn 11,10 und eine merkwürdige Parallele aus dem sumerischen Teilepos Gilgameš, Enkidu und die Unterwelt, in: Jahrbuch des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes 9 (2003/04), S. 57 – 65; Pierre Briant, À propos du roi-jardinier: remarques sur l’histoire d’un dossier documentaire, in: Wouter Henkelman / Amelie Kuhrt (Edd.), A Persian perspective. Essays in memory of Heleen Sancisi-Weerdenburg (AchHist XIII), Leiden (2003), S. 33 – 49. Udo Rüterswörden, Erwägungen zur alttestamentlichen Paradiesvorstellung, in: ThLZ 123 (1998), S. 1153 – 1162; David Stronach, The Garden as a political statement, in: Bulletin of the Asia Institute 4 (1990), S. 171 – 180. 23

Zu Fest und Ritual im Alten Orient: Christian Cannuyer (Hrsg.) La fête dans les civilisations orientales (Acta orientalia Belgica 10 [1995/96]), Bruxelles 1997; Beate PongratzLeisten, ina šulmi Ưrub. Die kulttopographische und ideologische Programmatik der AkƯtuProzession in Babylonien und Assyrien im 1. Jahrtausend v. Chr (Baghdader Forschungen 16), Mainz 1994. Jan Assmann, Der zweidimensionale Mensch. Das Fest als Medium des kollektiven Gedächtnisses, in: Ders. (Hrsg.), Das Fest und das Heilige (Studien zum Verstehen fremder Religionen 1), Gütersloh 1991, S. 13 – 30. Beachtenswert und für die Altorientalistik durchaus fruchtbar zu machen sind auch die Versuche Georg Brauliks, die Theorie vom Fest mit der Alttestamentlichen Bibelwissenschaft in Verbindung zu bringen, z. B.: Georg Braulik, Von der Lust Israels vor seinem Gott. Warum Kirche aus dem Fest

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Somit ist das u 4 … b a – „an jenem Tag / damals“ oszillierend und paradox. Es bezieht sich einerseits auf das Wirken des Königs, indem er seinen Gesetzen durch Aufstellung der Statue Rechtskraft (CU 4) verleiht, andererseits nimmt es Bezug auf die Zeit der Gründung der Welt zu einer Zeit, die menschlicher Verfügbarkeit entzogen ist, und – ein ganz wesentlicher Punkt – bekräftigt, dass im Ritual, also im inszenierten Mythos, diese Zeit des Ursprungs sich quasi wieder ereignet. Mit u 4 … b a soll angezeigt sein, dass mythische Urzeit und das Jetzt des ordnungsstiftenden Wirkens des Königs durch seinen Gesetzeserlass gewissermaßen in eins fallen. Reform ist demnach innerhalb dieser Logik die Wiederherstellung eines Urzustandes, die Rückführung der Gegenwart in die ursprünglich ihr eigene Gestalt – eben: Re-form. Der Übergang vom Prolog zum eigentlichen Gesetzescorpus weist genau jene Strukturelemente auf, die Form und Re-form identifizieren: Der letzte Teil des Prologes schildert die wiederhergestellten Zustände und endet mit einer summarischen Feststellung: CU 47 – 49

níJѺ-érim, níJѺ á-zi-ga, i-dUtu hé-ni-dé

CU 50 – 51

CU 52

ň

*ú ʼn-gu

Feindschaft und Gewalt, die Klage nach göttlicher Gerechtigkeit beseitigte ich.

níJѺsi-sá kalam-ma

Gerechtigkeit im Land

hu-mu-ni-gar

etablierte ich wahrlich.

u4-ba lú-ù

An jenem Tag (galt): Wenn ein Mann …

tukum-bi

Was in CU 52 – u 4 - b a – „an jenem Tag / damals“ – grammatikalisch als Zeitadverb zur Einleitung eines Temporalsatzes erscheint, fungiert literarisch als Überleitung zu den Protaseis der einzelnen Rechtssätze, die da beginnen mit t u k u m - b i l ú - ù … (= akk. šumma awƯlum „wenn ein Mann“). Das ist hier in CU erstmals greifbar, wird uns aber wieder im populärsten Dokument der Rechtsgeschichte des Zweistromlandes, dem Codex Hammurapi, begegnen.

lebt, in: Studien zum Deuteronomium und seiner Nachgeschichte (Stuttgarter biblische Aufsatzbände 33), Stuttgart 1999/2001, S. 91 – 112.

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V. innjmišu: Gründung und Be-Gründung im Codex Hammurapi Als ganz in dieser Tradition stehend und das „an jenem Tag, damals“ (u4 … bi) weiterführend, lässt sich der Prolog des berühmten Codex Hammurapi (CH) verstehen. Eine auch nur grobe literarische Gliederung des Prologes führt zu einem Beginn, den R. Borger als „Prolog im Himmel“24 bezeichnet hat (CH I,1 – 26). Dieser „Prolog im Himmel“ gestaltet sich aus grammatikalisch-syntaktischer Sicht als ein unsäglich langer Temporalsatz:25 „Als …“, oder angemessener „Damals, als …“. Unmittelbar auf diesen folgt in einem Hauptsatz die Schilderung der Einsetzung des Königs (CH I,27 – 49). Vermittels der Gleichsetzung „Damals“ (CH I,1) „… als“ (CH I,27) fällt die Befestigung der vier Weltecken mit der Gründung Babylons in eins, und diese beides wird zeitlich und auch sachlich mit der Erwählung und Berufung des Königs identifiziert. Das heißt: Die Gründung der Welt mit ihrem Mittelpunkt – Babylon –, die Etablierung eines ewigen Königtums, dessen „Grundfesten wie Himmel und Erde so fest gegründet sind“ (CH I,20 – 26) und das Nennen des Namens des Königs durch die Götter, also seine Investitur, sind letztlich ein und dasselbe Ereignis. Die Gründung der Welt und die Setzung des Rechts, die metaphorisch u. a. mit der „Erleuchtung des Landes“ (CH I,43 – 44) ausgedrückt wird, werden durch die zeitadverbialen Bestimmungen nicht nur zeitlich gleichgeschaltet, sondern geradezu identifiziert. M. a. W.: Die Einsetzung des Königs, die gemäß CH I,32 – 34 ihr an erster Stelle genanntes Ziel hat, mƯšaram ina mƗtim ana šupîm „die Gerechtigkeit im Land sichtbar zu machen“, hängt gemäß den Aussagen von CH engstens mit dem Gründungsgeschehen der Welt selbst zusammen. Nebenbei bemerkt: Eine gänzlich durch das Wirken der Gottheit gestaltete, formative, urzeitliche Periode kennt auch das Alte Testament. Sie wird u. a. mit dem Begriff ʭʓʣʷʓ (qædæm) umschrieben. Aus komparatistischer Perspektive zeichnet der Alttestamentler Klaus Koch in seinem grundlegenden Aufsatz über die stiftende Urzeit folgendes Bild: „Wie das Alte Testament, so kennen die altorientalischen Nachbarsprachen je eine grundlegende Vorzeit mit herausragenden göttlichen Aktivitäten, von der alles Gedeihliche in Gesellschaft und Natur herkommt. Ein bezeichnendes babylonisches Beispiel liefert der Codex Hammurapi; dort beruft sich der babylonische König für seine göttliche Beauftragung, gerechte Verhältnisse einzuführen, prädestinatianisch auf das ‚Damals‘, als Marduk und Babel von den 24

Rykle Borger, Der Codex Hammurapi, in: TUAT I/1, Gütersloh 1982, S. 39 – 80, hier S. 39. 25

Vgl. dazu Tikva Zadok (Anm. 16), S. 20, 22.

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schicksalsetzenden Urgöttern in ihren kosmischen Rang eingesetzt wurden. Aus dem gleichen »Damals« (inumišu) stammen die Gesetze, die er nunmehr veröffentlicht. Hammurapis Selbstbewußtsein gründet in dem Anspruch, nach langem Zeitraum den Menschen endlich das zu schenken, was die Götter der Vorzeit schon beschlossen hatten.“26 Doch gehen wir noch einen Schritt weiter: Das Ende des Prologs von CH dient zugleich als Ein- und Überleitung zum Gesetzescorpus. Das klingt noch nicht sehr spektakulär. Das Wörtchen aber, das die Überleitung bewerkstelligt, ist ein kleines Zeitadverb und heißt – innjmišu – „damals“. Damit ergibt sich eine gegenüber CU vollkommen analoge Struktur: CH V,1–25:27 zƝrum darium ša šarrnjtim šarrum dannum

Ewiger Same des Königtums, starker König,

šamšu babƯlim mušƝs̞î nnjrim ana mƗt šumerim u akkadim šarrum muštešmî kibrƗt arba’im migir Ištar anƗku.

Sonne Babylons, Herausbringer des Lichts in das Land Sumer und Akkad, der König, der Gehorsam-Macher der vier Weltgegenden, Bestätigter der Ištar bin ich.

innjma Marduk ana šutƝšur nišƯ mƗtim njsim šnjhuzim uwa’’eranni kittam u mƯšaram ina pƯ mƗtim aškun šir nišƯ ut́Ưb

Als Marduk die Menschen zu lenken, und das Land gute Sitte annehmen zu lassen, mich beauftragte, legte ich Recht und Gerechtigkeit in den Mund des Landes und trug Sorge für das Wohlergehen der Menschen.

innjmišu

Damals [ordnete ich an]:

šumma …

§1 Wenn …

Damit kann als Ergebnis festgehalten werden: Das unscheinbare, ja eigentlich nur zeitadverbial gebrauchte „damals“ hat die Funktion, das Handeln des Königs, konkret die Satzung des Rechts mit dem Gründungsgeschehen der Welt in Verbindung zu setzen, ja zu identifizieren und es in ihm zu verankern.

26 Klaus Koch, Qädäm. Heilsgeschichte als mythische Urzeit im Alten (und Neuen) Testament, in: Ders., Spuren des hebräischen Denkens. Beiträge zur alttestamentlichen Theologie. Gesammelte Aufsätze Band 1. Herausgegeben von Bernd Janowski und Martin Krause. Neukirchen-Vluyn 1991, S. 248 – 280, hier: S. 275 – 276. (Erstveröffentlichung: Jan Rohls [Hrsg.], Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfhart Pannenberg, Göttingen 1988, S. 253 – 288). 27 Transliterierter Text: Emile Szlechter, Codex Hammurapi (Pontificium Institutum Utriusque Iuris Studia et Documenta 3), Romae 1977, S. 17 – 18.

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VI. Zusammenfassung Ein kurzer Streifzug durch einige markante Texte ergibt folgendes, freilich im Einzelnen korrigier- und justierbare Bild. Motivlicher (etwa der Garten und das Fest in CU) und philologischer Befund (u 4 – b a , innjmƯšu) weisen auf: Die Rechtssetzung durch Herrscherpersönlichkeiten entspringt niemals eigenem Erneuerungswillen oder gar Willkür, sondern der Absicht, das Alte zu erneuern; es ist – gemäß mesopotamischem Denken – ein durch die Götter ermöglichter und gewollter Akt, der – zumindest rhetorisch – zum Ziel hat, die „Jetztzeit“ vermittels der Gesetzgebung / Gesetzesreform einem idealeren, stiftenden, „mythischen“ Urzustand anzugleichen.

Diritto ebraico e condanna a morte di Gesù Di Corrado Marucci SJ Premessa Il fedele cristiano è giustamente abituato ad accostarsi ai racconti della condanna a morte e passione di Gesù in atteggiamento di profonda e commossa meditazione. Dato tuttavia che tutto ciò fa parte del vangelo rivolto a tutta l’umanità, è stato ed è inevitabile e legittimo che gli storici in generale e soprattutto gli storici del diritto esaminino dal loro punto di vista tali racconti, che traggono la loro forza ultimamente dalla pretesa di essere veritieri, pur non essendo tecnici, e avendo di mira, più che il convincimento dello scettico, l’illuminazione del credente (cf. ad esempio Lc 1,4). Quanto segue è una sintesi di ciò che gli studiosi, credenti e non, hanno appurato sulle coordinate giuridiche giudaiche dei racconti evangelici concernenti la condanna di Gesù1. I. Il comportamento di Gesù Già fin da Mc 3,6//Mt 12,14, dopo la guarigione dell’uomo dalla mano rinsecchita in giorno di sabato, apprendiamo che “i farisei e gli erodiani” decidono di eliminare Gesù. Più di un commentatore ritiene troppo presto: la Mišna tuttavia determina che “chiunque, dopo avvertimento, profana il sabato, è con1

La bibliografia su questa materia è davvero ingente, ragion per cui è necessario ricordare solo gli studi a nostro parere più rilevanti. Lo studio a tutt’oggi più ampio e approfondito (e che noi qui ampiamente sfruttiamo) resta quello di J. Blinzler, Der Prozeß Jesu, Regensburg 41969; cf. anche P. Benoit, “Jésus devant le Sanhédrin” in Angelicum 20 (1943), p. 143 – 165; A. N. Sherwin-White, Roman Society and Roman Law in the New Testament, Grand Rapids 1978; A. Strobel, Die Stunde der Wahrheit, Tübingen 1980; K. Kertelge (Hrsg.), Der Prozeß gegen Jesus (= QD 112), Freiburg 1988; R. E. Brown, The Death of the Messiah: from Gethsemane to the Grave, New York 1994; C. Marucci, “Romani e diritto romano nel Nuovo Testamento”, in: Diritto e religione da Roma a Costantinopoli a Mosca, a cura di M. P. Baccari, Roma 1994, p. 37 – 74; P. Pajardi, Il processo di Gesù, Milano 1994; H. K. Bond, Pontius Pilate in history and interpretation, Cambridge 1998; G. Jossa, Il processo di Gesù, Brescia 2002.

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dannabile alla pena di morte, per lapidazione.” (Sanh VII,6 – 8). Anche nelle interpretazioni più restrittive è naturalmente lecito di sabato curare chi è in pericolo di morte, ma non malattie croniche, come quella di cui qui si tratta (probabilmente una atrofia muscolare), che, a parere dei farisei, deve essere “guarita” o il giorno prima o quello dopo il sabato. Anche a motivo delle parole di Gesù che accompagnano il miracolo non ci sono dunque dubbi che la sua azione è una provocazione didattica2. Altrove Gesù viene accusato di bestemmiare (cf. ad esempio Mc 2,7 par) e di nuovo di non rispettare il riposo sabbatico, perlomeno come lo interpretavano i farisei. L’ingresso trionfale in Gerusalemme suscita reazioni scandalizzate a motivo delle sottolineature profetiche e messianiche e la purificazione del Tempio con la conseguente disputa sull’autorità di Gesù3 colmano, per così dire, la misura. Per quanto ne sappiamo non era proibito, neanche nell’area del Tempio, a “laici” insegnare o discutere questioni relative alla Torà. Tuttavia, pur non essendo del tutto sicuro che già prima del 70 i rabbi venissero “ordinati” in senso vero e proprio con imposizione delle mani (VsPNk), è praticamente certo che la continua prassi magisteriale di Gesù (che non fu un rabbi in senso tecnico) suscitò necessariamente stupore e sconcerto non solo nel popolo, ma soprattutto tra i dòtti e i farisei. Ciò che invece fu di certo percepito dai responsabili del Tempio come scandaloso e come grave disturbo dell’ordine costituito fu la cosiddetta “purificazione” del Tempio da parte di Gesù riportata, con leggere variazioni, da tutti e quattro i vangeli4. Infatti la “tassa per il Tempio” (£HTHO KDTT¡GH£), che, a differenza del tributo romano di cui si parla nella notissima disputa Mc 12,13 – 17e par, il giudeo devoto paga più che volentieri5, e le altre offerte dovevano essere versate non già mediante le innumerevoli monete che soprattutto i pellegrini portavano con sé dai vari paesi della diaspora (denarii e assarii romani, dracme, stateri e ECNMQK greci, £eqel ebraici o delle altre città aventi diritto di battere moneta), ma solo sottoforma dello £eqel di Tiro, città che aveva fama di essere la migliore zecca del tempo (cf. i trattati mišnici Šsqalim I,7 e Bskorot VIII,7)6. Da questa variopinta situazione deriva la 2

Cf. ad esempio W. Grundmann, Das Evangelium nach Markus, Berlin 71977, p. 96.

3

Su questa importantissima pericope cf. C. Marucci, Die implizite Christologie der sogenannten Vollmachtsfrage (Mk 11,27-33)” in: ZkTh 108 (1986), p. 292 – 300. 4

L’unica differenza rilevante è il fatto che Gv 2 la collochi all’inizio della vita pubblica di Gesù, mentre i tre sinottici nei giorni immediatamente prima della Passione. 5

Anche per la tassa annuale del Tempio tuttavia si tenga presente la pericope solo matteana Mt 17,24 – 27. 6 La base biblica di tutta questa prassi è Es 30,13ss (cf. anche Ne 33s); erano tenuti a pagare tutti gli israeliti maschi (liberi) che avessero compiuto i vent’anni; tutti dovevano pagare la stessa cifra (mezzo šeqel, al tempo di Gesù uguale ad una didracma o due

Diritto ebraico e condanna a morte di Gesù

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pratica necessità dei cambiavalute (MQNNWDKUVCK secondo Mc 11,15par), una congrega approvata dal personale del Tempio (che avrebbe dovuto garantirne anche l’onestà nell’imporre il cambio), presente su tutto il territorio giudaico, ma soprattutto nell’areale del Tempio, e che aveva il diritto di esigere una soprattassa (cf. Šsqalim I,1)7 . Anche i venditori di animali da offrire in sacrifico erano praticamente necessari per i semplici fedeli, a motivo delle numerose restrizioni cultuali (solo alcuni animali, per di più senza difetti potevano essere offerti8), del fatto cioè che solo essi potevano garantire che gli animali acquistati non sarebbero poi stati rifiutati dai leviti del Tempio. D’altronde, in riferimento a JHWH l’AT stabilisce che “non è lecito apparire al mio cospetto a mani vuote” (Es 23,15; 34,20), principio che valeva anche per i poveri. Anche prescindendo per ora dal comportamento di Gesù nel futuro processo, è innegabile che il suo comportamento, nell’ambito delle coordinate giuridiche vigenti nella prima metà del I secolo d.C., offrì ampie motivazioni di accusa da parte delle autorità religiose. II. Il Sinedrio L’ordine esterno dell’areale del Tempio era garantito da personale a ciò deputato, al capo del quale stava una specie di “capitano” aiutato da altri funzionari. E da un corpo di guardie. In ultima analisi comunque l’ultima responsabilità spettava al Gran Sinedrio (EHWGLQKDJJnG{O), che, secondo la maggior parte degli studiosi giudaici, fino al 70 circa si radunava in una sala del monte del Tempio chiamata nella Mišna OL£NDWKDJJn]W, cioè all’incirca “sala delle pietre squadrate”. Così spiega il trattato mišnico Middot (V,4), che è tutto dedicato alla descrizione del Tempio, in accordo con Sanh XI,2; Pea II,6; Tamid II,5 ecc. Lo Schürer (II4, 263ss) e altri, seguendo Flavio Giuseppe (BJ V,4,2), traducono tale nome con “sala del sisto”, intendendo cioè, sulla scia dei LXX in 1Cr 22,2 e Am 5,11, l’ebraico Jn]t come equivalente del greco ZWUVQL (cioè

denari). Lo scopo era il mantenimento del Tempio e di tutte le sue attività. Impossibile valutare con qualche precisione a quanto corrispondeva tale somma; Mt 20,2 pare presupporre che il compenso per una giornata di lavoro di un lavoratore a giornata fosse di un denaro; senza argomentazioni Billerbeck (I,761), che scrive nel 1922, dà come equivalente 1,30 Reichsmark. 7

Per tutta questa materia vedi E. Lambert, Les changeurs et la monnaie en Palestine du Ier au IIIe siècle de l’ère vulgaire d’après les textes talmudiques, in: Revue des Études juives 51 (1906), p. 217 – 244 e 52 (1907), p. 24 – 42. 8

Cf. ad esempio Lev 5,15.18; Num 28,3.19; Ez 46,4.6.13 ecc.

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porticato, camminatoio, colonnato o simili9) e quindi posizionandola fuori dell’area del Tempio10. Questa incertezza può essere sfruttata per spiegare le poche parole sul luogo del processo giudaico di Gesù, o meglio la loro assenza, specialmente in quello di Giovanni (vedi oltre). Ancora in relazione al testo giovanneo sia lo Schürer che Strack-Billerbeck si dilungano sulla possibilità che si tenessero sedute del Gran Sinedrio nella casa del Sommo Sacerdote. La loro conclusione è che “in tutta la letteratura rabbinica non si parla mai di sessioni del sinedrio tenute nella casa del Sommo Sacerdote”11. La nota “tradizione”, legata al nome di Rabbi Jose b. Ðalafta (attivo intorno al 150 circa), e ripetuta in almeno quattro testi talmudici, secondo la quale 40 anni prima della distruzione del Tempio (cioè nel 30 d.C.) il Sinedrio avrebbe trasferito la propria sede dalla “sala dalle pietre squadrate” (situata nella parte meridionale dell’areale del Tempio) ad una ÜDQ€W (= sala del mercato), viene dichiarata dallo Schürer (II4, 265) ungeschichtlich. Dato per scontato che in ambito giudaico il numero 40 è simbolico ed è espressione di sciagure, è probabile che tale “tradizione” sia un’errata deduzione dall’altra notizia talmudica secondo la quale 40 anni prima della distruzione del Tempio al Sinedrio sarebbe stata tolta la capacità di trattare autonomamente i casi comportanti la pena capitale (cosa che con ogni probabilità avvenne subito dopo la creazione della provincia romana di Giudea, cioè nel 6 d.C.). Va detto comunque che in nessuno dei quattro racconti evangelici si trova alcun accenno sicuro che i vari interrogatori di Gesù conseguenti al suo arresto avvengano all’interno del Tempio. Sia Mc 14,54 che Mt 26,58 parlano anzi di “cortile del Sommo Sacerdote” e, senza dar l’impressione di cambiar luogo, della presenza dell’“intero sinedrio” quale istanza inquirente. Secondo Lc 22,54 invece Gesù viene subito condotto alla “casa del Sommo Sacerdote”, nell’ambito della quale si riferisce solo di dileggi e percosse, ma non di interrogatorio formale di Gesù. Al v. 66 poi si dice che all’alba questi viene “trascinato nel loro sinedrio” e viene interrogato, ma anche in questo caso non si danno indicazione sul luogo

9

Cf. la gamma di significati e le relative citazioni in Liddel / Scott, A Greek-English Lexicon, Oxford 1976, a. v. 10 Tutta questa materia relativa alla collocazione, alla composizione e alla giurisdizione del Gran Sinedrio è complicata da diverse incertezze a volte ampliate da proposte e controproposte degli storici. Nel testo, oltre a semplificare, ridiamo i dati ammessi dalla maggior parte di essi. Tra la abbondante letteratura sull’argomento ricordiamo E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Leipzig II4 (1907), p. 237 – 267; l’articolo di J. Nelis in: Bibel-Lexikon. Hrsg. von H. Haag, Einsiedeln 21968, p. 751 – 753 e G. Jossa, Il sinedrio di Gerusalemme nei processi di Erode e di Giacomo, in: Id., Il processo di Gesù, cit., p. 123 – 139. 11

Billerbeck, I, 1000s (traduzione nostra).

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(cosa d’altronde non sorprendente essendo noto il disinteresse del terzo evangelista per le determinazioni geografiche12). Riassumendo, i racconti evangeli sembrerebbero essere gli unici testi di estrazione giudaica, nei quali si parla di riunioni del Gran Sinedrio nell’abitazione del Sommo Sacerdote, in un certo contrasto con il resto delle testimonianze extrabibliche sull’argomento. Essi sono invece del tutto del tutto congruenti con l’usanza di chiudere, durante la notte, le porte d’accesso al Tempio, anche se forse nei giorni di festa (come è nel caso della cattura di Gesù) esse venivano riaperte già a partire dalla mezzanotte. L’aggettivo Gran Sinedrio si riferisce al fatto che ne esistevano altri minori di 23 persone, con minori ambiti di giurisdizione, sparsi nel paese, e nei villaggi o, per questioni minori, anche di tre soli membri (cf. ad esempio Sanh I,1; IV,1 ecc). Il primo invece era composto di settanta membri appartenenti ai tre gruppi di maggiorenti (sacerdoti, scribi prevalentemente di estrazione farisaica e anziani) oltre al Sommo Sacerdote pro tempore existens che ne era anche il presidente13 e, in conformità alle coordinate giuridiche dell’epoca, era al tempo stesso la massima autorità legislativa, giuridica ed esecutiva. Quanto alla competenza Sanh IV,1 dispone che casi comportanti la pena capitale, come è di certo quello di Gesù, debbano essere giudicati almeno di fronte a 23 giudici. Si dispone inoltre che per l’assoluzione è sufficiente la maggioranza di un voto, mentre per la condanna è necessaria la maggioranza di due voti. Stando al testo dei primi due sinottici alla domanda del Sommo Sacerdote (“Avete sentito la bestemmia: che ve ne pare?”) “tutti sentenziarono che egli (scl. Gesù) era reo di morte” (Mc 14,63; Mt 26,66). Luca non ha una vera e propria formula di condanna, ma riteniamo veramente fuori luogo pensare, come fanno alcuni commentatori recenti, che la frase “Che bisogno abbiamo ancora di testimonianze? Noi stessi l’abbiamo sentito dalla bocca di lui” (Lc 22,71) lasci adito a dubbi. Per ciò che concerne i racconti evangelici, mentre Mc 14,1, seguito da Lc 22,2, attribuisce la decisione di eliminare fisicamente Gesù ai “sommi sacerdoti e agli scribi”, Mt 26,3 aggiunge ai primi “gli anziani del popolo” e il testo koinè di questo vangelo anche “gli scribi”.Il solo Luca inserisce qui e in 22,52 anche gli UVTCVJIQK VQW KBGTQW, come anche, al singolare, in At 4,1; 5,24.2614. Secon-

12

Cf. ad esempio A. Wikenhauser / J. Schmid, Einleitung in das Neue Testament, Freiburg 61973, p. 267. 13 Le fonti giudaiche parlano perciò di solito del “consesso dei 71”. Il fatto che il Sinedrio fosse presieduto dal Sommo Sacerdote è stato contestato da alcuni studiosi, ma le testimonianze per l’epoca romana sono univoche (cf. ad esempio AntJ 20, 10 fin.). 14 Nel cap. 16 degli Atti invece il termine si riferisce, come anche in diverse iscrizioni, ai duumviri della colonia romana di Filippi.

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do (Strack-)Bill.15 non è del tutto chiaro quale o quali funzionari del Tempio descritti dalla Mišna intende indicare il terzo evangelista. Probabilmente si tratta del funzionario, pure appartenente alla classe sacerdotale, ivi chiamato VsJDQ KDNNRKiQP . Non c’è comunque dubbio trattarsi del Gran Sinedrio o perlomeno dei suoi gruppi fondamentali, in funzione esecutiva. III. Legislazione giudaica Più di una determinazione del trattato Sanhedrin16 riguarda il comportamento di Gesù, come descritto dai vangeli. Le più rilevanti sono I,5: “una tribù (che pratichi l’idolatria), i falsi profeti e un Sommo sacerdote possono essere giudicati solo dal consesso dei 71” (= il Gran Sinedrio); X,117: “le seguenti classi di persone vanno giustiziate mediante strangolamento: chi percuote padre o madre;… il dotto che si ribella al [Gran] Sinedrio, il falso profeta, colui che profetizza a nome di un idolo …” e X,5: “un falso profeta è colui che predice cose che non ha percepito né gli sono state comunicate: egli morirà per mano d’uomo18 …”. In proposito è importante ricordare che nella mentalità giudaica del tempo (ma anche in generale) il termine “profeta” non identifica solo chi predice il futuro, come nel linguaggio popolare odierno, bensì anche chi pretende di parlare o insegnare a nome di Dio. In questo senso Mosè e Giosuè sono eminentemente “profeti” come si dichiara solennemente ad esempio in Dt 18,15 – 22, passo nel quale si determina anche con chiarezza che “il profeta che avrà la presunzione di dire in mio nome una cosa che io non gli ho comandato di dire …quel profeta dovrà morire” (V. 20). D’altronde gran parte degli esegeti contemporanei concorda in proposito

15

Cf. Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, München 1922, II, p. 628ss. Si veda anche Schürer, II4 , p. 320 – 322; ThWNT VII, p. 701 – 713 e Flavio Giuseppe, Bell. 6,294 e Ant. 20,131. 16

Il termine usato, in grafie leggermente diverse, sia nell’ebraico mišnico che nell’aramaico è un imprestito dal greco UWPGFTKQP; è presente 22 volte anche nel NT, solo in vangeli e Atti, quasi sempre nel significato di “collegio giudicante” in Gerusalemme. È anche il titolo di un trattato della Mišna (precisamente il quarto del quarto seder o ordine, detto 1s]LTQ = [leggi riguardanti] danni). 17 Seguiamo qui la numerazione del Talmud babilonese; altre tradizioni invertono il decimo capitolo con l’undicesimo (cf. ad esempio H. Danby, The Mishnah, Oxford 1933, p. 397 – 400). 18 Cioè non direttamente da Dio, il che avviene ad esempio per colpe equivalenti ma nascoste (cf. Dt 18,19).

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che una delle prime, se non la prima in assoluto qualificazione popolare di Gesù fu il suo essere profeta19. Quanto alla pena di morte è noto che in molti casi l’AT prima e le norme rabbiniche poi non lasciano alcuna discrezionalità al giudice. Le fattispecie da noi elencate sopra impongono, una volta che l’imputato sia convinto di colpevolezza, la pena di morte. In proposito il diritto mišnico determina con esattezza quali sono le modalità di esecuzione giudaiche: “alla corte sono stati tramandati quattro tipi di esecuzione capitale: (in ordine decrescente di severità20) lapidazione, rogo, decapitazione e strangolamento” (Sanh VII,1). Il seguito di questa mišna descrive dettagliatamente come eseguire tali quattro modalità di pena capitale e i delitti che vanno puniti con questa o quella pena. Laddove l’AT non determini la modalità di esecuzione la norma rabbinica interpretativa è che si intenda la lapidazione. Dal momento che tutta la tradizione cristiana e non parla della crocifissione di Gesù, modalità di esecuzione questa non giudaica, ma prettamente romana, è giocoforza dedurre che nel processo di Gesù si sia inserita in modo decisivo l’autorità romana. IV. Problemi di giurisdizione Erode il Grande, che era rex socius et amicus populi Romani, dal 37 al 4 a.C. riunì nelle sue mani tutta la Palestina con una autorità almeno teoricamente completa sui suoi sudditi, avendo solo obblighi di difesa dei confini e di obbedienza alla politica del senato romano e dell’imperatore. Alla sua morte il suo regno (previo consenso dell’imperatore) fu diviso tra i suoi figli: ad Archelao toccò la parte migliore (Idumea, Giudea e Samaria) con il titolo di etnarca; a Erode Antipa la Galilea e la Perea con il titolo di tetrarca e altre parti più piccole o meno importanti ad altri figli. Nel 6 d.C. Archelao fu deposto e il suo territorio fu trasformato in provincia romana dipendente dall’imperatore e sottoposta ad un procuratore di rango equestre (che, stando all’iscrizione ritrovata nel 19

Ad esempio, alla domanda “chi dice la gente che sia il Figlio dell’uomo? ”, i discepoli rispondono “alcuni Giovanni il Battista, altri Elia, altri Geremia o qualcuno dei profeti” (Mt 16,13ss e par) e in Lc 7,16 la folla esclama: “un grande profeta è sorto tra di noi”; ancor più chiaramente i cosiddetti discepoli di Emmaus affermano che “Gesù Nazareno fu profeta potente in opere e in parole” (24,19). Una buona sintesi di tutto questo materiale si trova nella terza parte di E. Schillebeecks, Jezus, het verhaal van een levende, Bloemendaal 1974. 20

Il criterio secondo il quale si opera tale classificazione (ai nostri occhi alquanto macabra) pare di matrice farisaica e precisamente proporzionale alla decrescente distruzione del corpo destinato a risorgere. Mentre cioè lapidazione e rogo distruggono quasi del tutto la forma corporea, lo strangolamento lo farebbe in modo minimo.

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1961 nel teatro romano di Cesarea Marittima, portava il titolo di praefectus21). Al tempo dell’attività pubblica e della condanna di Gesù tale procuratore era notoriamente Ponzio Pilato, che rivestì tale funzione dal 26 al 36 d.C.22. Gesù, essendo di Nazaret di Galilea (cf. ad esempio Mt 2,23 e Gv 1,45), non era suddito di Ponzio Pilato. Non essendo ovviamente cittadino romano (come invece furono Paolo e Sila) né provincialis, egli, per il diritto romano, fu semplicemente uno straniero (cioè un peregrinus) e, dandosi l’occasione, per l’autorità romana egli sarà oggetto dello ius gentium. Il princeps di Gesù fu Erode Antipa, tetrarca della Galilea dal 4 a.C. al 39 d.C., pittorescamente definito da Gesù una “volpe” (Lc 13,32): questa circostanza fu sfruttata da Pilato durante il processo romano, quando, secondo il solo Lc 23,6 – 12, egli cercò di liberarsi delle sue responsabilità inviandolo ad Antipa, ma, come sappiamo, senza ottenere lo scopo. La terminologia usata dal terzo vangelo è GXMVJLGXZQWUKCLVQWB+TY^FQW; va notata anche in questa scena la presenza in funzione accusatoria dei “gran sacerdoti e degli scribi” (V. 10). Che poi di fatto Pilato abbia accettato di giudicare Gesù, che fu galileo, dice che egli in termini giuridici agì secondo il principio del forum delicti e non di quello del forum domicilii, cui era di fatto ricorso per un momento23. Quanto alla giurisdizione del Sinedrio, è ovvio che la sua concreta esecutività dipese in modo praticamente essenziale dalla costellazione politica che variò nel tempo. Ad esempio durante il regno di Erode il Grande (che, stando a Flavio Giuseppe, iniziò il suo governo “facendo giustiziare tutti i membri del sinedrio”24) essa fu quasi inesistente, mentre negli anni in cui ci fu in Giudea un procuratore romano il Gran Sinedrio fu di fatto la massima autorità amministrativa e giuridica giudaica, sempre tenendo presente tuttavia che il Sommo Sacerdote veniva nominato dal procuratore stesso. In quest’epoca cioè si può pensare che ogni causa giuridica di carattere religioso non coinvolgente cittadini romani fosse trattata davanti ai vari sinedri, le cause capitali perciò da un sinedrio di almeno 23 membri. L’autorità giudaica aveva naturalmente il diritto e la reale capacità di operare arresti in Giudea e quindi aveva una propria forza di polizia, come risulta

21

Cf testo e commento in L. Boffo, Iscrizioni greche e latine per lo studio della Bibbia, Brescia 1994, p. 217 – 233. 22

Nei vangeli è soprattutto il cosiddetto “sincronismo” lucano (3,1) che ne registra coscientemente la presenza. Stranamente nessun testo antico ce ne ha trasmesso il praenomen. 23

Un interessante precedente è stato tuttavia visto nel caso descritto da Flavio Giuseppe in: BJ 1,474, per cui Erode il Grande ebbe il privilegio di ottenere estradati e di poter giudicare propri sudditi che si fossero rifugiati in altre province dell’impero. 24

AntJ 14,9,4.

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da tutti racconti evangelici (Mc 14,43//Mt 26,47 e Gv 18,325) così come da At 4,3; 5,17s. È ovvio che procedura e leggi di tali processi furono quelli prescritti dal diritto giudaico, che, anche prima della distruzione del Tempio, in generale saranno state quelle da noi sopra descritte. L’estensione spaziale della giurisdizione del Gran Sinedrio, che è unico, per sé era limitata alle 11 toparchie della provincia romana di Giudea e dunque, finché Gesù agì in Galilea, esso eventualmente ebbe nei suoi confronti solo una funzione di deterrente morale. Egli infatti venne catturato, da un punto di vista puramente storico un po’ casualmente, durante il suo soggiorno a Gerusalemme e dintorni in occasione della Pasqua. Le determinazioni e quindi anche l’autorità di tale organo tuttavia pretendevano di essere valide e operative nei confronti dei giudei di tutto il mondo e di fatto, a motivo del loro fondamento religioso, venivano riconosciute dalle comunità ortodosse anche fuori della Giudea, a meno di restrizioni caso per caso imposte dall’autorità romana. Gli Atti degli apostoli riflettono tale prassi ai nostri occhi alquanto strana quando riferiscono che Saulo, preso da sacro zelo, aveva ottenuto dal Sommo Sacerdote l’autorizzazione scritta per arrestare e tradurre da Damasco a Gerusalemme tutti e quanti, uomini e donne, che ivi aderissero alla religione cristiana (cf. At 9,2; 22,4s; 26,12). A questo proposito l’inserimento degli “erodiani” tra coloro che complottano assieme ai farisei contro Gesù in Mc 3,6//Mt 12,14, inserzione che stupisce assai, sia perché un partito o una setta con tale nome non risulta al di fuori dei vangeli sia perché in ogni caso si tratterebbe di persone del tutto avverse ai farisei, potrebbe indicare che questi ultimi ben sanno che fuori di Giudea l’appoggio del princeps, cioè di Erode Antipa, è necessario per catturare lo scomodo profeta e che quindi un’alleanza pratica con essi è inevitabile. L’unico punto sul quale verte una querelle accademica praticamente senza fine è se il Gran Sinedrio, oltre ad emettere sentenze di morte, le potesse anche far eseguire26. In realtà questa difficoltà procedurale è già presente e risolta nel vangelo di Giovanni. Tutti e quattro i racconti evangelici, con leggere variazioni, concordano sul fatto che dopo la condanna giudaica Gesù viene condotto nel pretorio e qui sottoposto ad interrogatorio da parte di Ponzio Pilato. Immediatamente tali resoconti non danno la motivazione giuridica di tale trasferimento. Ma in seguito, nel solo quarto vangelo, quando il procuratore romano tenta di

25

Alcuni studiosi pensano che Gv 18,3.12. implichino una partecipazione romana all’arresto di Gesù, dato che si parla di una URGKTC (che da Polibio in poi traduce il latino cohors) e di un EKNKCTEQL (che potrebbe essere traduzione del latino tribunus) oltre che delle “guardie dei giudei”. 26 Bibliografia su questo punto fino al 1907 in Schürer, op. cit., II, 260, n. 77; per il resto Blinzler, op. cit., excursus X = pp. 229ss.

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scaricare il problema sull’autorità giudaica, che vuole la morte di Gesù, con le parole “prendetelo voi e giudicatelo (cioè condannatelo) secondo la vostra legge!”, si sente rispondere: “A noi non è consentito uccidere alcuno!” (Gv 18,30s). Secondo gran parte degli esegeti questa frase si riferisce alla circostanza nota anche da diversi altri testi non biblici e valida in tutte le province romane, per cui, anche nel caso in cui il Sinedrio o altra autorità locale avevano il potere di emettere condanne capitali, essi tuttavia non le potevano eseguire se non previo assenso del procuratore romano. Non ci sono d’altronde prove che dopo l’erezione della provincia Iudaea nel 6 d.C. sia stato tolto al Gran Sinedrio la capacità di giudicare cause implicanti la pena capitale. D’altronde Flavio Giuseppe, venendo a parlare del passaggio dall’etnarchia di Archelao alla erezione a provincia, afferma che il primo procuratore, Coponio, fu inviato in Giudea dall’imperatore “dotato della massima autorità” (AntJ 18,2) o altrove “con il potere di mettere a morte” (BJ 2,117: OGETK VQW MVGKPGKP). Né qui néqui né altrove si accenna che tale estremo potere (detto di solito, con un termine fissato nei secoli seguenti, ius gladii) fosse condiviso da altre istanze e tale situazione è coerente con quello che si sa delle altre province27 e con i capisaldi del diritto romano in materia di pena capitale. Ancora, non c’è alcun motivo per supporre che per il quinto dei procuratori inviati da Roma in Giudea, cioè per Ponzio Pilato, valessero altre regole, pur essendo vero che i poteri dei vari legati e procuratori imperiali venivano esplicitamente specificati nei singoli documenti di nomina. Quanto al rapporto teorico tra l’importante legatus Syriae (che è di rango senatorio e di fatto deporrà Pilato nel 36) e il praefectus Iudaeae, che è di rango equestre, non esistono notizie sicure, anche se è probabile che il primo potesse esercitare una funzione di controllo sulla piccola e inquieta provincia di Giudea, che tra l’altro, fino a dopo la guerra giudaica, fu priva di legioni (inermis). Nei confronti della soluzione suggerita dai vangeli e riassunta da Gv 18,31 sono stati addotti come “controesempi”: a) il diritto di mettere immediatamente a morte i non giudei (anche se cittadini romani!) che, oltrepassando il recinto ben segnalato28, entrassero nella parte del Tempio riservata ai circoncisi; b) la lapidazione di Stefano descritta in At 7,57ss; c) l’esecuzione di Giacomo di Zebedeo in At 12,2; d) l’uccisione mediante rogo di una figlia di sacerdote adultera (cf. Lev 21,9) in un racconto di R. Eleazar ben Zadok, trasmesso da almeno tre fonti rabbiniche e e) la lapidazione di Giacomo detto il fratello del Signore con altri cristiani ad opera del Sommo Sacerdote Annas II, riportata 27

Le uniche eccezioni note sono quelle che valsero per alcune città autonome resesi benemerite nei confronti dell’impero romano, il che di certo non valse per gli ebrei di Palestina. 28

Esemplare dell’epigrafe e discussione in Boffo, Iscrizioni (cf. n. 21), p. 283 – 290.

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nelle AntJ 20,200 – 203. Si tratta di obiezioni senz’altro solubili: il diritto a vendicare le violazioni della sacralità del Tempio vien dato sempre come una eccezione assoluta (vedi ad esempio le parole di Tito agli assediati di Gerusalemme in BJ 6,2,4); la morte di Stefano viene chiaramente presentata come caso di linciaggio (i fatti possono sempre essere contro il diritto); l’esecuzione di Giacomo Maggiore e dell’adultera figlia di sacerdote cadono nel breve periodo tra il 41 e il 44 d.C. in cui i romani cercarono daccapo per la Giudea la soluzione del regno associato mettendovi sul trono Erode Agrippa I, periodo dunque nel quale i giudei riebbero la loro piena sovranità, di cui fece parte anche la capacità di eseguire sentenze capitali; nel caso di Giacomo “fratello del Signore” il Sommo Sacerdote sfruttò il vuoto di potere tra la morte del procuratore Festo e l’arrivo del suo successore Albino per far condannare dal Sinedrio e giustiziare Giacomo, fatto per cui fu rimproverato da Albino e poi deposto dal re (della Calcide, della Iturea, Traconitide e Abilene) Agrippa II, che era stato fatto custode del Tempio e nominava il Sommo Sacerdote29. Accettata questa soluzione per il necessario ricorso dei sinedristi a Pilato, ci si può chiedere perché questi, invece di semplicemente approvare o negare l’esecuzione di Gesù, in tutti e quattro i resoconti evangelici esegua un vero e proprio interrogatorio del condannato, nel racconto evangelico anche più dettagliato di quello giudaico. In realtà ciò è più che razionale: se la presa di posizione del procuratore non deve essere ridotta a puro arbitrio, egli deve potersi fare un’idea del merito giuridico della sentenza, anche se poi naturalmente gli evangelisti, soprattutto Giovanni, privilegiano proprie sottolineature. Non consta che in quest’epoca il procuratore fosse vincolato a regole nel caso di dover approvare o meno condanne a morte emesse dal Sinedrio. È chiaro che una volta che egli agisse come giudice, egli poteva farlo solo in conformità al diritto romano, anche solo per il fatto che questo era l’unico nel quale egli avesse una competenza. Il processo che ne segue, essendo Gesù un peregrinus, viene detto dal diritto romano extra ordinem. Alla fine di questo procedimento può stupire che Pilato approvi la condanna, ma non la pena giudaica (probabilmente la lapidazione) e faccia crocifiggere Gesù, cioè infligga una pena tradizionalmente riservata dai romani principalmente, anche se non solo, a stranieri ribelli, sediziosi, plebei e schiavi, cosicché Tacito, in Hist. II,72, lo definisce supplicium in servilem modum. Anche la letteratura rabbinica riferisca la crocifissione di Gesù e sostiene che il suo vero motivo fu quello religioso in senso ampio, cioè un rifiuto della sua predicazione da parte di un settore del giudaismo ufficiale del tempo (cf. bSanh 107b; bSota 47b; pHag II,2; Sif. Dt. 221; TosHҙul II, 22,24 ecc). 29

La nostra fonte è ancora una volta Flavio Giuseppe in AntJ 20,200 – 203. Per una analisi dettagliata dei cinque casi cf. D. R. Catchpole, The Trial of Jesus, Diss. Cambridge 1968.

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V. Difficoltà generiche Su tutta questa materia relativa al diritto rabbinico vigente in Giudea intorno al 30 d.C. è in corso da decenni una accesa discussione tra gli studiosi che riguarda in primo luogo l’estensibilità o meno delle determinazioni mišniche agli anni precedenti la (prima) guerra giudaica (66 – 70). Dopo una fase dell’esegesi neotestamentaria indubbiamente caratterizzata da un uso generalizzato del Talmud per commentare o spiegare i vangeli, soprattutto mediante i classici del Billerbeck e del Bonsirven, molti si dichiarano oggi contrari o perlomeno scettici nei confronti di tale tecnica, soprattutto a motivo del fatto che i testi (ebraici) della Mišna, nella stesura che costituisce la parte giuridica del Talmud, risalgono al 200 d.C. circa, mentre, secondo l’apologetica giudaica, il commento aramaico (gsmara), che costituisce il Talmud vero e proprio, è stato “chiuso” nel 386 (versione palestinese) e addirittura nel 476 (versione babilonese). Strettamente parlando dunque è evidente che, più si scende nel dettaglio, meno c’è totale certezza che le disposizioni della Mišna, che normalmente riflettono le concezioni, di solito più liberali, dei farisei posteriori alla distruzione del Tempio (70 d.C.), fossero già valide al tempo di Gesù. Si ritiene comunemente che prima di tale drammatico evento fosse normativo un codice penale di impostazione sadducea, che non ci è pervenuto, detto comunemente V»IHUJs]rUnWn, di solito più severo di quello stratificato nella Mišna, soprattutto nel settore della purità cultuale e in quello delle pene30. Il tutto è affetto da una certa dose di incertezza sia quanto ai contenuti che quanto alle date. Per ciò che concerne tuttavia il processo di Gesù ciò non pare molto importante, dato che diritto e prassi furono eventualmente più severi di quelli riportati nel trattato Sanhedrin della Mišna. Va anche ricordato che, per motivi derivanti dall’impostazione teocratica di tutta la società giudaica e comuni a tutte le sette, Mišna e relativa gsmara si presentano non come fonti del tutto indipendenti di diritto e di morale, ma come ripetizione, precisazione, integrazione ed interpretazione delle norme del Pentateuco, la cui validità resta assolutamente inalterata. Dunque, dato che la sostanza delle accuse portate a Gesù secondo i vangeli (falsa profezia, blasfemia, violazione del riposo sabbatico, disturbo dell’ordine del Tempio) si rifà a delitti chiaramente condannati nella Torà, le differenze tra le varie sette e l’eventuale probabile diversità nel dettaglio processuale prima e dopo il 70 d.C. passano nettamente in secondo piano.

30

Nello scritto MegTa!anit 331 l’abolizione di questo codice viene interpretata come vittoria dei farisei e festeggiata per il futuro il 14 tammuz. La composizione di tale “rotolo dei digiuni” ha avuto una lunga storia che inizia probabilmente già prima del 70 e continua per diversi secoli.

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È opportuno ricordare qui una seconda difficoltà che praticamente tutti gli studiosi del processo di Gesù considerano, anche se con differenti sottolineature. Mentre infatti i tre sinottici, con leggere sfumature, sono concordi nel riportare un vero e proprio procedimento del Gran Sinedrio contro Gesù, il vangelo di Giovanni contiene solo una scena in cui Gesù viene trascinato di fronte al exSommo Sacerdote Anna (Ananos), secondo Gv 18,13 suocero di Caifa31, che fu Sommo Sacerdote circa dal 18 al 37 d.C. Non ci sono motivi cogenti per mettere in dubbio questo incontro, data la grande autorità del primo personaggio, nominato Sommo Sacerdote da Quirinio per il periodo dal 6 – 15 e i cui cinque figli dopo di lui ebbero pure tale carica (cf. Ant.J. 20, 9,1). Pur essendo alquanto strano che anche su questo punto il quarto vangelo differisca dai sinottici, sono stati proposti diversi tentativi di soluzione al quesito come mai Gv non riporti alcuna riunione del Sinedrio, ma si limiti a dire che “Anna lo mandò legato a Caifa” (18,24) e, in seguito, che “Gesù fu condotto dalla casa di Caifa al pretorio” (18,28)32. Come nella stragrande maggioranza delle difficoltà che l’esegesi autodefinentesi “critica” ha formulato nei confronti dell’affidabilità storica dei racconti evangelici, si tratta non già di una contraddizione, bensì di una differenza seppur importante tra i vari racconti. Su questo concreto soggetto un gruppo di esegeti spiega l’assenza di un processo giudaico nel vangelo di Giovanni facendo notare che tutta la narrazione precedente in tale vangelo sarebbe una forma di processo a Gesù da parte dei “giudei”. In proposito va detto che, anche se tale dimensione narrativa del vangelo di Giovanni può essere accettata, essa tuttavia difficilmente può spiegare adeguatamente l’assenza del benché minimo accenno di un procedimento formale contro Gesù. A meno che non se ne voglia vedere un’allusione nel fatto che “Anna lo (scl. Gesù) mandò legato da Caifa, Sommo Sacerdote” (Gv 18,24). Accettando la sostanziale affidabilità dei sinottici su questo punto, ci pare di dover concludere che non sappiamo perché il quarto vangelo tralasci il resoconto del processo giudaico di Gesù. Abbiamo già riferito sopra che un così profondo conoscitore della letteratura rabbinica come il Billerbeck non ha reperito in essa alcun riferimento a sessioni del Sinedrio nella casa del Sommo Sacerdote. È ugualmente pensabile che nel caso concreto di Gesù, data l’urgenza di procedere, a motivo del fatto che di notte l’areale del Tempio era chiuso e che, come riferiscono Mc 14,2,//Mt 26,5, i maggiorenti giudaici volevano a tutti i costi concludere la 31

In realtà Giuseppe detto Caifa; nominato dal procuratore romano Valerio Grato (cf. Ant.J. 18, 2,2) e deposto dal legato imperiale di Siria Vitellio (ib. 4,3), dunque in carica tra il 18 e il 37 d.C. Ulteriori notizie su di lui in Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes, Leipzig 1907, p. 271. 32

Nel testo RTCKVYTKQP: si tratta di uno dei 27 latinismi presenti nel NT; su tutta questa materia cf. C. Marucci, Influssi latini sul greco del Nuovo Testamento, in: Filología Neotestamentaria VI (1993), p. 3 – 30.

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pratica prima del convergere della folla per la festa, si sia fatta un’eccezione in tal punto non essenziale? I Sinottici, d’altronde, non precisano dove si sia radunato il Gran Sinedrio; in Mc 14,53//Mt 26,58 si parla anzi del “cortile del Sommo Sacerdote” (CWXNJ VQW CXTEKGTGYL). A nostro parere è difficile poter escludere con assoluta certezza tale evenienza, anche se la difficoltà rimane33. Del tutto congruente con questa difficoltà è una serie di obiezioni la cui scaturigine è in realtà extra-biblica, quella cioè detta anche della “teologia dopo Auschwitz”. Si tratta di una corrente di pensiero non ben definita, il cui forse unico collante è la convinzione che il cosiddetto “antisemitismo” del NT abbia facilitato, pur assieme a molti altri fattori, l’olocausto. Da questa convinzione deriva un’ampia rilettura di tutta la teologia e soprattutto degli scritti neotestamentari, segnatamente dei vangeli e delle lettere paoline. Nel settore più limitato che qui ci interessa si ipotizza che Marco, il cui Sitz im Leben più ampio sembra esser stato la predicazione romana di Pietro, abbia aumentato in generale le coloriture antigiudaiche ritenute intrinseche al messaggio gesuanico e parallelamente attenuato quelle che avrebbero potuto risultare spiacevoli ad orecchie romane. Concretamente, nel caso della condanna a morte di Gesù, il primo vangelo avrebbe dilatato al massimo la responsabilità dei circoli giudaici fino a farne un vero e proprio processo e presentando un procuratore romano convinto dell’innocenza di Gesù e che solo a malincuore, pro bono pacis diremmo noi, lascia fare i giudei. In realtà, si insinua, non ci sarebbe stato alcun processo giudaico di Gesù bensì (dopo una “audizione”) solo uno romano, come riferito da Giovanni. I racconti paralleli a Marco di Matteo e di Luca si sarebbero adeguati poi alla loro fonte con qualche lieve cambiamento. Come si vede agisce in queste teorie la cosiddetta “logica del sospetto”, alla quale è praticamente impossibile opporre motivazioni razionali o appoggi storiografici. Ci limitiamo qui a notare solo che l’evoluzione della tradizione evangelica, normalmente accettata dagli studiosi moderni, non corrobora affatto i dubbi sopra formulati contro l’affidabilità storica del racconto marciano. Infatti il vangelo a giudizio unanime più “antigiudaico”, quello di Giovanni34, probabilmente anche il più lontano sia localmente che temporalmente dai fatti, in realtà è quello che omette ogni riferimento ad un processo da parte del Sinedrio e

33

Più che altro come curiosità ricordiamo la soluzione di D. A. Chwolson, il quale, cucendo insieme diverse frasi del Talmud, identifica la “sala del mercato”, di cui abbiamo detto sopra, con i locali dedicati al mercato, appartenenti alla famiglia di Anna e posizionati sul monte degli ulivi. Secondo lui intorno al 30 d.C. il Sinedrio vi avrebbe trasferito la propria sede (cf. Das letzte Passamahl Christi, Leipzig 1908, p. 123). 34

È in questo vangelo che Gesù, tra l’altro, dice ai giudei la famosa frase “voi avete per padre il diavolo e volete compiere i desideri del padre vostro… per questo non ascoltate le mie parole, perché non siete da Dio” (8,44.47).

Diritto ebraico e condanna a morte di Gesù

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quello di Matteo, unanimemente giudicato come il più vicino all’ambiente palestinese, non attenua minimamente la parte del giudei nella condanna di Gesù, anzi aggiunge alla fonte marciana, il breve episodio Mt 28,11 – 15 (cf. anche 27,62 – 66 e 28,4), a riprova della malafede dei maggiorenti giudaici. A parte il fatto che anche ad orecchie romane non doveva fare buona impressione l’immagine di un pro-magistrato romano che lascia condannare a morte un innocente! Concludendo su questo punto, pare di dover negare che interessi di predicazione e captatio benevolentiae siano responsabili delle diversità secondarie dei sinottici, giudicati in generale affidabili su questo punto anche dagli esegeti più critici, così come resta oscuro il motivo dell’assenza del processo giudaico in Gv. VI. Difficoltà procedurali Le uniche vere difficoltà giuridiche che a nostro parere si possono avanzare nei confronti del racconto sinottico concernente il processo giudaico di Gesù derivano dalle norme procedurali del trattato Sanhedrin relative all’ora, alla necessità di un congruo intervallo tra escussione dei testimoni e sentenza del tribunale e all’intervento diretto del Sommo Sacerdote. Non stupisce infatti più di tanto la mancanza di un difensore di Gesù non previsto dal diritto rabbinico; nel racconto evangelico si parla di testimoni, a quanto pare tutti contro l’accusato, anche se non del tutto concordanti nei dettagli. La Mišna presuppone che il collegio giudicante abbia la necessaria abilità ed equanimità per dirigere il processo fino ad appurare la verità dei fatti. Ancora, il racconto presuppone ovviamente il principio fissato da Dt 19,15ss per cui “(per qualsiasi peccato…) il fatto sarà stabilito sulla parola di due o tre testimoni”. In realtà Sanh IV,1 prevede anche l’escussione di testimoni che scagionino l’imputato, anzi essi devono essere ascoltati per primi. È ovvio però che tale circostanza, che pare assente nel processo di Gesù35, non può essere creata ad arte, dato che i testimoni sono obbligati a dire la verità. Va tuttavia notato che praticamente tutti e quattro gli evangelisti sottintendono che la condanna di Gesù è già decisa prima del processo e che quindi il problema dei testimoni è secondario. L’apologetica giudaica qualifica di solito tale modo di esporre i

35

Giuseppe d’Arimatea, secondo Mc 15,43//Lc 23,50s ricco membro del Gran Sinedrio, sembra essere un’eccezione: il quarto vangelo lo definisce “discepolo di Gesù, ma in segreto per timore dei giudei” (Gv 19,38; cf. Mt 27,57) e Lc 23,51 ci svela che egli aveva dissentito dalla condanna di Gesù.

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fatti come “tendenzioso” e i racconti evangelici relativi al processo giudaico come “troppo contraddittori”36. Nettamente contrario al procedimento fissato in Sanh IV,1 (fine); Keth I,1; Jom Tob V,2 è il fatto che il Sinedrio tenga riunioni di notte, ma ancor di più che, essendo l’esito del processo a Gesù la condanna, non si aspetti il giorno dopo per la dichiarazione ufficiale di morte. Di conseguenza sembra disattesa in tutti e quattro i vangeli la norma di non tenere riunioni né di sabato o giorno di festa (\{PW{E né nelle loro vigilie, come invece è nel nostro caso. Infatti i tre sinottici concordano chiaramente sul fatto che Gesù, dopo aver mangiato la Pasqua viene arrestato nella notte stessa e conseguentemente interrogato, condannato e messo a morte sempre nell’ambito del 15 di nisan, che per loro càpita di venerdì (cf. Mc 14,12//Mt 26,17ss//Lc 22,7.15). Il quarto vangelo ha anche qui alcune differenze: è del tutto chiaro che qui la condanna di Gesù e la sua crocifissione avvengono la vigilia di Pasqua, cioè il 14 di nisan del computo giudaico (cf. Gv 18,28; 19,14: RCTCUMGWJ VQW RCUEC), ma c’è tuttavia accordo con i sinottici sul fatto che il giorno della settimana è il venerdì! Non è qui neanche lontanamente possibile accennare a tutti gli ingegnosi tentativi fatti nel corso della storia dell’esegesi per risolvere le differenze tra i sinottici e Giovanni37. Qui è sufficiente sottolineare che in entrambi i casi attività giudiziarie sarebbero contro le determinazioni mišniche. Da questo punto di vista il vangelo di Giovanni, che non ha un processo giudaico esplicito, è più conciliabile con il diritto formale. Si parla effettivamente in Mc 15,1//Mt 27,1 – 2, ma non in Luca, di una (seconda?) seduta “di primo mattino” per decidere, ma ciò, nella maniera giudaica di calcolare la durata del giorno (che va dal tramonto del giorno precedente al successivo tramonto), non è sufficiente per poter dire di 36

Così fa ad esempio Schalom Ben-Chorim, Bruder Jesus – Der Nazarener in jüdischer Sicht, München 1977, p. 156. Questo famoso libretto è interessante solo per chi voglia conoscere il pensiero di un dotto ebreo contemporaneo, ma è viziato da palesi errori e precomprensioni. Infatti, oltre alla tendenza ad assumere dai vangeli come vero solo ciò che serve alle proprie tesi, egli ignora o stravolge altri dati innegabili: ad esempio [p. 163 e passim] che Gesù non abbia mai preteso di essere il Messia (cf. ad esempio Mt 16,16ss) o che davanti ai suoi giudici egli risponda sempre con la formula “Tu lo dici! ”, che Ben-Chorin giudica ambigua, mentre non lo è [p. 161] (cf. invece Mc 14,62, dove Gesù, alla domanda solenne e diretta concernente la propria messianità, risponde: GXIY GKXOK!) o ancora che l’unica decisione del Sinedrio sia stata quella di mandare Gesù da Pilato [p.163], mentre invece sia in Mc 14,64 che in Mt 26,66 viene pronunciata una chiara condanna a morte per blasfemia ecc. Abbiamo l’impressione che Ben-Chorin, nelle sue affermazioni, sia quasi del tutto dipendente dal noto libro “On the Trial of Jesus” (Berlin 1961) dello studioso giudaico P. Winter. 37 Si vedano sintesi e bibliografia fondamentale ad esempio in R. Brown, The Gospel According to John, Garden City, NY, 1970, p. 555ss.

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aver lasciato passare un giorno. In campo extrabiblico non c’è dubbio che la norma di non tenere sessioni del Sinedrio, anzi in generale ogni processo il giorno di sabato sia stata in generale osservata, come testimoniano gli editti di Augusto, che esentavano i giudei dal dovere di comparire in giudizio in tal giorno38. Passando al merito del processo, nonostante la molteplicità dei possibili capi d’accusa contro Gesù, che abbiamo sopra esposto, è evidente che, secondo i sinottici, egli viene condannato per la sua dichiarazione provocata dalla domanda solenne del Sommo Sacerdote relativa alla sua messianità. Dato che la pretesa di essere il Messia non pare considerata tra i delitti previsti dal diritto giudaico e a motivo della reazione rituale dello stesso capo del Sinedrio, lo stracciarsi le vesti prevista in Sanh VII,5, è necessario concludere che la risposta di Gesù (assenso e applicazione a sé di Dan 7,13) fu considerata dallo stesso e da tutto il consesso come bestemmia. Anche questo però pare contrastare con Sanh VII,5 che, precisando Es 22,27 e Lev 24,10ss, prescrive che “il bestemmiatore non è colpevole se non quando pronuncia il Nome stesso (scl. di Dio) ” cioè il cosiddetto tetragramma, cosa che nel caso di Gesù materialmente non avviene. Inoltre ciò non avviene sulla base di testimonianze di terzi nel corso del processo, bensì sulla base di una dichiarazione dello stesso accusato, mentre il Sommo Sacerdote si trasforma da giudice in accusatore e praticamente dichiara l’intero sinedrio come testimone. Date tutte queste infrazioni procedurali, per tacere delle oscurità, differenze e smagliature tra i quattro resoconti, alcuni si sono chiesti se il processo e la condanna giudaica di Gesù siano stati giuridicamente validi. Ben-Chorin, nel suo testo sopra citato, riferisce delle numerose richieste fatte (soprattutto da cristiani) al ricostituito stato di Israele per una revisione e annullamento di tale sentenza. Per molti ovvi motivi, sui quali qui dobbiamo sorvolare, ciò non è stato possibile né sarà possibile in futuro. Qui ci limitiamo a ribadire solo due elementi del problema: in primo luogo la nostra relativa ignoranza in merito al regime giudiziario vigente prima della distruzione del Tempio (che ci deve rendere cauti nel dichiarare un evento come impossibile) e poi il fatto che spesso anche le migliori strutture vengono stravolte nel concreto da eventi straordinari, dalla fretta, dalle passioni e dagli interessi. Personalmente, chi scrive è propenso a credere che, anche se la condanna di Gesù da parte dei capi del suo popolo fosse stata nella sostanza giuridicamente corretta, non solo non ci sarebbe per il cristiano motivo di scandalo o di sorpresa, ma semmai, paolinamente, il contrario: la croce rivela “una sapienza che nessuno dei principi di questo mondo conobbe, dato che, se l’avessero conosciuta, non avrebbero crocifisso il Signore della gloria”. 38

Cf. Flavio Giuseppe, AntJ 16,6, 2.4 e Filone Al., de migratione Abr., § 16.

III. Theologiegeschichte, Dogmatik und Moral

Amt und Eucharistie bei Theodor von Mopsuestia Von Lothar Lies SJ I. Einleitung Die Theologie des Theodor von Mopsuestia (um 350 – 428) zu Amt und Eucharistie ist der griechisch-nestorianisch-antiochenischen Tradition verpflichtet. Die Schriften des in Antiochien geborenen Jugendfreundes des Johannes Chrysostomus wurden schon früh ins Syrische übersetzt und sind so trotz der Ausrottung der griechischen Originale im Drei-Kapitel-Streit auf uns gekommen. Untersuchungsmaterial bieten die nur in syrischer Übersetzung vorliegenden Katechetischen Homilien.1 Sie sind in der Zeit nach 379 und noch vor der Weihe Theodors zum Bischof von Mopsuestia (392/393) anzusetzen. II. Das theologische Koordinatensystem 1. Welt-Gott-Verhältnis Wenngleich bei Theodor Ansätze einer Analogielehre vorhanden sind, so gilt doch prinzipiell das Axiom antiochenischer Theologie: finitum non est capax infiniti.2 Daher wird für Theodor die Frage der Teilhabe (metousia) und der Gemeinschaft des Geschöpfes am Göttlichen Sein zur entscheidenden Frage in den unterschiedlichen Bereichen der Christologie, der Sakramententheologie und der Ekklesiologie.3 Da es keine „natürliche“, „seinsmäßige“ Einheit von Schöpfer und Schöpfung geben kann, kann es nur die Einheit der Gnade (kat’ 1

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien. Erster und zweiter Teilband übersetzt und eingeleitet von Peter Bruns (= FC 17,1 u. 2), Freiburg i. Br. 1994 u. 1995. – Peter Bruns in der Einleitung (FC 17,1), S. 23: „Die Homilien zerfallen, wie die handschriftliche Überlieferung zeigt, in zwei Teile: Die Homilien 1 – 10 umfassen die Auslegung des nizänischen Glaubensbekenntnisses in jener erweiterten Form, wie sie Theodor vorlag, während der zweite Teil das Herrengebet und die Sakramente (11 das Vaterunser, 12 – 14 die Taufe, 15 – 16 die Eucharistie) zum Inhalt hat.“ 2

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 40.

3

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 40.

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eudokian) geben, sodass Theodors Theologie im Grunde Gnaden- und Offenbarungstheologie ist. Der Mensch ist nicht Hörer des Wortes, sondern Betrachter der offenbarten Geheimnisse Gottes.4 Es geht um die „Theoria tes aletheias“, wobei der Glaube, der der Offenbarung in Christus5 entspricht, sehend macht.6 Daher gehören Häretiker, Ungläubige und Heiden nicht zum Neuen Bund in Christus.7 2. Christologie und Pneumatologie a) Christologie Auch die Christologie kennt keine naturhafte Einheit (kata physin) zwischen Gott und Mensch, sondern nur die der Gnade des Logos (kat’ eudokian). Inkarnation geht einseitig vom annehmenden und erwählenden Logos aus. Er gibt der Menschheit Jesu die Ehre, die Herrlichkeit, die Sündelosigkeit und nach der Auferstehung die Unsterblichkeit, während die Menschheit Jesu den Logos nicht tangiert (Leiden, Sterblichkeit, Veränderlichkeit). Der Begriff Prosopon sagt dabei eher (nestorianisch) das Resultat der Einigung, weniger eine ontologisch bestimmte Realität.8 Die Menschwerdung Christi ermöglicht es uns, im Glauben die in Christus grundgelegte Typologie als Angebot unseres Heils zu erkennen und darin die himmlische Herrlichkeit des dreifaltigen Gottes zu sehen und so daran teilzuhaben.9 Sünde kommt aus der Freiheit und nicht aus der Natur des Menschen.10 b) Pneumatologie Wenngleich der Heilige Geist anfanghaft im Alten Bund im Vorausblick auf die Himmlische Herrlichkeit wirksam war, so wird diese Herrlichkeit erst in 4

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 39: „Der Mensch ist bei Theodor – wie bei den griechischen Vätern überhaupt – nicht Hörer des Wortes, sondern Betrachter göttlicher Geheimnisse.“ 5

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 1, 2 u. 3 (FC 17, 1), S. 75 – 77.

6

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 39; Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 1, 4 (FC 17, 1), S. 77 f. 7

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 1, 2 u. 3 (FC 17,1), S. 75 – 77, bes. S. 77. 8

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 58.

9

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 1, 4 (FC 17,1), S. 77 f.; ebd. 1,8, S. 81. 10

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 45 – 47.

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205

Christus als dem Mensch gewordenen Gottes-Sohn und so in seiner Typologie deutlich.11 Auch die Einigung von göttlicher Natur und geschaffener Wirklichkeit als „Einigung aufgrund göttlichen Wohlgefallens“ (henosis kat’ eudokian)12 wird durch den Gott wesensgleichen Heiligen Geist bewirkt.13 Wenngleich eine gewisse – letztlich ungelöste – auch innertrinitarische Spannung zwischen Geistwirksamkeit und Logoswirksamkeit14 entsteht, ist der aus dem Vater hervorgehende, ihm wesensgleiche Heilige Geist aktiv und gnadenhaft am Handeln der menschlichen Natur Christi beteiligt.15 3. Sakramententheologie a) Typologie Das antiochenische Axiom „finitum non est capax infiniti“16, die dichotomische Christologie und die ursprüngliche Unvermitteltheit von Gott und der „katastasis“ der Schöpfung bestimmt auch Theodors Sakramententheologie. Sakramentale Heilsgüter sind ob der Sterblichkeit und Wandelbarkeit dieses Äons eschatologischer Natur und können nur typologisch-sakramental von oben her uns zukommen.17 Der Heilige Geist befähigt den Getauften, im irdischen Christus den Typos der himmlischen Herrlichkeit ebenso zu erkennen wie seine geistgewirkte typische Voraus-Offenbarung in Personen und Ereignissen des Alten Testamentes.18 Wir haben also drei Verwirklichungsweisen des einen Typos oder drei unterschiedliche Bereiche der Typologie zu beachten: erstens den vollendeten und ursprünglichen Ur-Typos, das offenbarte Urbild des handelnden Logos im Himmel; zweitens den sich offenbarenden Typos im Werden und Handeln Jesu, 11

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 1, 3 (FC 17,1), S. 76 f.

12

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 58 f.

13

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 60 f.

14

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 62 f.

15

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 63.

16

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 40.

17

Wenngleich der Heilige Geist anfanghaft im Alten Bund wirksam war im Vorausblick auf die Himmlische Herrlichkeit, so wird diese Herrlichkeit erst in Christus als dem Mensch gewordenen Gottes-Sohn deutlich offenbar. Die Menschwerdung Christi ermöglicht es uns, im Glauben die mit Christus verbundene Typologie aufzuschließen und die himmlische Herrlichkeit des dreifaltigen Gottes zu sehen und in sie schon jetzt anfanghaft als neue Schöpfung hineingenommen zu sein. Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 64 f. 18

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,1), S. 63 f.

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in dem die vom Geist gewirkte Oikonomia des Logos zur Wirksamkeit kommt und einen Blick auf die himmlischen Mysterien werfen lässt; schließlich den die beiden genannten Verwirklichungsweisen vorausverkündenden geistgestalteten Typos im Alten Testament. Weil die Typologie ihren Ausgang in der Offenbarung nimmt und auch ihre eschatologische Vollgestalt bestimmt, gehören die Urbilder immer in den Bereich der Mysterien, so etwa der Logos in Christus oder der auferstandene Christus, der ja eigentlich der Sieg des Logos und des Heiligen Geistes in der Menschennatur ist. Der Auferstandene ist damit Urbild der Erlösung der Menschen.19 Sakraments-typologisch aufschlussreich ist für Theodor vor allem das Heilshandeln Christi, also jene im Leben Jesu sich darstellende aktive Heilsökonomie des Logos im Blick auf die Rettung des Menschen. Auch die Liturgie ist durch die dichotomische Logos-Sarx-Christologie geprägt. Daher typisiert sie mehr die himmlische Liturgie als das historische Heilshandeln des Mensch gewordenen Logos: „Das Opfer der Kirche ist zwar Vergegenwärtigung des Heilstodes Christi, aber noch viel mehr Abbild der himmlischen Liturgie.“20 b) Ekklesiologie Als „Versammlung der Gläubigen“ (ho ton piston syllogos) ist die Kirche durch den geistgewirkten, dem einzelnen Mitglied vorgegebenen und übersteigenden Glauben von allen sonstigen Gemeinschaften unterschieden. Ihre Glieder bilden durch den Taufempfang den geistdurchwirkten Leib Christi21, der eschatologisch-typologisch den verklärt-vollendeten himmlischen Leib Christi darstellt.22 Die Kirche ist der durch die Anwesenheit des himmlischen LogosChristus der räumliche Typos, der Leib seiner Gegenwart und Ort der uns von oben geschenkten Teilhabe an der Transzendenz Gottes.23 Im heiligen Geist ist dieser Leib die eine, heilige, katholische Kirche. Juden und Heiden gehören

19

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,43 (FC 17, 2), S. 419: „Denn die Lebenden halten Ausschau nach der künftigen Hoffnung, und die Verstorbenen sind nicht im Tod, sondern in Schlaf gesunken und harren auf jene Hoffnung, um deretwillen unser Herr Jesus Christus den Tod auf sich nahm.“ 20

P. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 245; vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,3 (FC 17,2), S. 424 f. 21

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 10,16 f., S. 232 f.; vgl. ders., Katechetische Homilien 15,39 f. (FC 17,2), S. 416 f. 22

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 10,16 f. (FC 17,1), S. 232 f.

23

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 248 f.

Amt und Eucharistie bei Theodor von Mopsuestia

207

nicht zu ihr.24 Nur in ihr gibt es Taufe, Buße und Eucharistie.25 Das Bildwort von der Kirche als „Haus Gottes“ verdeutlicht die Grundtypologie, dass in der kirchlichen Gemeinschaft die Heilsökonomie des dreifaltigen Gottes im typischen Leib Christi wirksam ist. Weil die Kirche so „homoioma“ (homoioma, hypodeigma, paradeigma)26 unverdiente Gnaden-Wirklichkeit ist,27 gibt sie am vollendeten Christus teil (metoche).28 c) Sakramentsverständnis Theodor betont zwei Grundsakramente: Taufe und Eucharistie. Die Taufe gewährt nicht unmittelbar Gemeinschaft mit dem göttlichen Logos. Wir nehmen nur über seine verklärte Menschheit an unserer ewigen Wiedergeburt teil.29 Unsere Taufe ist aber dennoch Gottes Werk, wie das „passivum divinum“ bestätigt: Es wird getauft NN. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.30 Der Taufglaube offenbart uns durch den Heiligen Geist31 die Menschwerdung Christi und damit die in Christus konzentrierte Typologie, in der wir an Christi Vollendung teilnehmen und den dreifaltigen Gott sehen32 und tiefer erkennen.33 Denn die Taufe gliedert in die sichtbare Kirche und so in die Darstellung und Teilhabe am verherrlichten Christus ein.34 Das Heil der Gläubigen 24

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 248 f.; vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 10 (FC 17,1), S. 220 – 238. 25

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 250 f., bes. S. 250: „Die volle eschatologische Realität steht sowohl im Hinblick auf die Sakramente der Taufe und Eucharistie sowie auf das Mysterium der Kirche selbst noch aus.“ 26

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 12,13 (FC 17,2), S. 328 f.

27

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 12,11 (FC 17,2), S. 327.

28

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 250 f., bes. S. 250.

29

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 267 zu Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 14,3 (FC 17,2), S. 361 f. 30

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 14,15 (FC 17,2), S. 373 f.

31

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 1,3 (FC 17,1), S. 76 f.

32

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 1,4 (FC 17,1), S. 77 f.; ebd. 1,8 (FC 17,1), S. 81. 33

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 272; vgl. dazu Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 14, 22.24 f. (FC 17,2), S. 379 f.; S. 381 – 383. 34 Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 10,15.17 (FC 17,1), S. 232 – 234, wobei Theodor genau zwischen der „exakten“ Verbindung von Logos und Fleisch in Christus und zwischen der bloßen Verbindung zwischen Christus und den Gläubigen unterscheidet etwa in Katechetische Homilien 10,18 (FC 17,1), S. 234 f.

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besteht in der Teilhabe an der Verbindung von göttlicher und menschlicher Natur, wie sie der Heilige Geist in der einen Person des Sohn Gottes erwirkt und für den kommenden Äon anbietet.35 „Die durch den Logos angenommene Menschennatur Christi ist gleichsam das Demonstrationsobjekt jener Erlösung, zu der auch die Gläubigen berufen sind.“36 III. Eucharistie- und Amtsverständnis 1. Herausragende Stellung des kirchlichen Amtes: „eikon Christou“ Zwischen Himmel und Kirche, zwischen dem vollendet-auferstandenen Christus und dem kirchlichen Leib gibt es eine typologische Verbindung und Verbindlichkeit: den kirchlichen Amtsträgers als „typos“ und „eikon Christi“: „Und da unser Herr Jesus Christus sich selber für uns als Opfer darbringt und so für uns tatsächlich zum Hohenpriester geworden ist, gibt es das Bild (eikon) jenes Priesters, das der, der jetzt am Altar steht, abbildet, wie wir es uns vorzustellen haben. Es ist nicht sein eigenes Opfer, das er darbringt, wie er ja auch nicht wirklich der Hohepriester ist, sondern er vollzieht gleichsam im Bild jenen unaussprechlichen Opferdienst, wodurch einer ein Abbild jener unaussprechlichen himmlischen Wirklichkeiten und auch jener geistigen, unkörperlichen Mächte dir gleichsam in der Vorstellungskraft einprägt.“37 Ein ähnlich typologisches Beispiel sind die Diakonen, die jene dem Hohenpriester Christus bei seinem ewigen himmlischen Opfer dienstbaren Engel darstellen: „Notwendigerweise müssen wir auch jetzt, da dieser schaudererregende Dienst vollzogen wird, denken, dass es sich dabei um ein gewisses Bild (eikon) für den Dienst jener unsichtbaren Mächte handelt, den die Diakone (diakonoi) darstellen, die durch die Gnade des Heiligen Geistes, die ihnen zuteil wurde, bestimmt wurden, diesen schaudererregenden Dienst zu vollziehen.“38 Der Dienst der Priester und Diakone besteht in der bildlichen Darstellung der himmlischen Liturgie, die Christus dort begeht. Deshalb ruft der Priester auch der Gemeinde zu: „Empor eure Sinne“: „Damit soll er anzeigen, dass wir, obgleich wir auf Erden diesen furchtgebietenden, unaussprechlichen Gottesdienst (leiturgia) zu vollziehen meinen, doch nach oben zum Himmel schauen und den

35

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 12,6.10 (FC 17,2), S. 323 f.; S. 326 f. Es kommen die Begriffe Semeion und Koinonia im Begriff Mysterion zusammen. 36

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 273 zu Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 14,1 (FC 17,2), S. 359 f. 37

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,21 (FC 17,2), S. 405.

38

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,21 (FC 17,2), S. 405.

Amt und Eucharistie bei Theodor von Mopsuestia

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Blick unserer Seelen zu Gott hin lenken müssen, da wir das Gedächtnis des Opfers und des Todes unseres Herrn Christus vollziehen, der unseretwegen gelitten hat und auferstanden und mit der göttlichen Natur (theia physis) verbunden ist und zur Rechten Gottes thront und im Himmel ist. Auch wir müssen also dorthin den Blick unserer Seele lenken und unseren Sinn von diesen (hiesigen) Denkwürdigkeiten dorthin richten.“39 Diese Abbildfunktion des Priesters in Taufe und Eucharistie gegenüber der ewigen Herrlichkeit des Hohenpriesters Christi besagt durch sein Tun, dass unsere Welt vergeht, die himmlische bleibt.40 In Eucharistie-Feier und Kommunion verbinden wir uns mit der vollendeten Welt.41 Wir erhalten aufgrund der Heilswirksamkeit Christi (oikonomia), dargestellt durch das Handeln des Priesters, die Nahrung der Ewigkeit in der Kraft des Heiligen Geistes als göttliches Geschenk.42 Dieses Amt fordert eine besondere Weihe durch den Heiligen Geist: Gleich den glühenden Kohlen des Seraph – ihre Glut ist Kraft des Heiligen Geistes – tilgt diese Speise unsere todbringenden Sünden, schenkt uns die Lebenskraft des Heiligen Geistes und spornt uns zu guten Werken an.43 Und wie der Seraph aus Scheu vor dem Heiligen nicht mit bloßen Händen, sondern mit einer Zange die Kohle zu den Lippen des Propheten führt, so ist bei der Austeilung auch der Priester von heiliger Scheu ergriffen. Dennoch gilt von ihm: „Der Priester gibt dir nun die Geheimnisse (mysteria) eigenhändig und sagt: ‚Der Leib Christi‘. Dabei hält auch er sich nicht für würdig, solches zu nehmen und weiterzureichen; aber anstelle der Zange ist es die geistliche Gnade, welche er empfing, Priester zu sein. Daraus bezieht er seinen Freimut (parresia) solches weiter zu schenken. Er nimmt sie (sc. die heiligen Geheimnisse) in seine Hände, die auch

39

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,3 (FC 17,2), S. 425.

40

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 265 zu Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 14,9 (FC 17,2), S. 367 f. 41 Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,33 (FC 17,2) S. 447: “Da nun diese ganze Welt zum schlichten Schein (schema) existiert – ein Schein, der nach dem Wort des Apostels vergeht und auf jeden Fall aufgelöst wird, wohingegen wir die kommende Welt erwarten, die auf ewig Bestand haben soll –, müssen wir allesamt unser Leben so auf die Wirklichkeit jener Welt hinordnen.Denn so ziemt es sich und so sollen wir sein, die wir mit der Speise dieses Sakramentes (mysterion) genährt werden und im Hinblick auf die Hoffnung jener Güter am heiligen Geheimnis teilhaben.“ 42 43

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,33 (FC 17,2), S. 447 f.

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,36 u. 37 (FC 17,2), S. 449 f.

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er vertrauensvoll mit seinen Händen empfangen soll, aber nicht nur mit Ehrfurcht wegen der Majestät, sondern auch vertrauensvoll wegen der Gnade.“44 Dem Priester kommt eine Zeichenfunktion gegenüber kommunizierenden Gemeindemitglieder zu: „Wenn nämlich die Kohle, die mit einer Zange vom Engel herbeigeschafft worden war, beim Berühren der Lippen vollkommen die Sünden beseitigt und keineswegs gemäß der Natur (physis) des Sichtbaren verbrennt oder versengt, um wie viel mehr musst du, wenn du den Priester siehst, wie er aufgrund der Gnade des Geistes, welcher in ihm ist zu solchem Dienst (leiturgia), mit großem Freimut (parresia) eigenhändig dir diese Gabe gibt, dann Vertrauen fassen und sie mit großer Hoffnung empfangen. Und aufgrund der Größe dessen, was dir gegeben worden ist, hast du Ehrfurcht, und sobald du nimmst, fasst du Vertrauen in die Barmherzigkeit dessen, der den Menschen solchen Freimut (parresia) gibt, wie er ihn auch dem Priester verliehen hat, nicht nur um seiner selbst willen, sondern wegen all derer, die der Barmherzigkeit Gottes bedürfen.“45 Kapitale Sünden unterliegen jedoch der kirchlichen Busse, und hier in besonderer Weise den Priestern.46 Die besondere Geistbegabung des Priesters durch Weihe befähigt ihn zum Arzt und Heiler von Sündenwunden: „Da ihr dies wisst ... müssen wir uns mit großem Vertrauen den Priestern nahen und ihnen unsere Sünden eröffnen, ihnen, die mit allem Eifer, mit Einfühlung und Liebe gemäß den oben festgesetzten Bestimmungen die Heilung der Sünder darbieten, ohne das auszubreiten, was nicht offengelegt werden darf, sondern das Geschehene für sich behalten, wie es recht ist, wie die wahren und freundlichen Väter verpflichtet sind, die Schande ihrer Söhne richtig einzuschätzen und auf ihrem Leib das Heilmittel zu legen.“47 Durch sein vom Geist zur Darstellung Christi gegebenes Amt hilft der Priester mit, die Einheit, Heiligkeit und Katholizität der Kirche sakramental (kata typon) und asketisch (kata mimesin) im Blick auf die Vollendung zu bewahren.48 Der bildhafte Dienst des Priesters weist auf Ewige Liturgie voraus: „Dabei lassen wir uns durch diesen Dienst (sc. der Diakone) zu dem anleiten, was kommen soll, gleichsam als ein gewisses Bild (eikon) vom unaussprechlichen 44

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,38 (FC 17,2), S. 451.

45

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,38 (FC 17,2), S. 451.

46

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,39 (FC 17,2), S. 452: „Die Bestimmungen darüber sind von Anfang an festgelegt. Die Priester und die Sachverständigen, die die Sünder heilen und für sie sorgen, verordnen nach Maßgabe der kirchlichen Zucht und Weisheit für das Ausmaß der Sünden dem Gewissen der Büßer die Arznei, die sie brauchen.“ 47

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,44 (FC 17,2), S. 455.

48

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 254 f.

Amt und Eucharistie bei Theodor von Mopsuestia

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Heilswalten (oikonomia) in Christus, unserem Herrn, wodurch wir Schau und Schatten jener Geschehnisse erhalten. Deshalb bilden wir durch den Priester gleichsam in einem gewissen Bildnis (eikon) Christus, unseren Herrn, in unserem Sinn ab, den wir als den ansehen, der uns im Selbstopfer erlöst und errettet hat. Durch die Diakone (diakonoi) aber, die den Dienst am Geschehen vollziehen, prägen wir unserem Verstand die unsichtbaren, dienenden Mächte (vgl. Hebr 1,14) ein, die sich in jenen unaussprechlichen Dienst gestellt haben. Sie sind es, die dieses Opfer und die Sinnbilder (Typoi) für das Opfer herbeibringen, ordnen und auf den furchtgebietenden Tisch leben. Dies ist beim Anblick dessen, was sich unserem Verstand darbietet, für den Betrachter eine furchtgebietende Angelegenheit.“49 Auch die vielen Segnungen während der Opferfeier zeigen die hervorgehobene Stellung des Priesters.50 Sie ist Hinweis (Typos, semeion etc.) auf den umfassenden und einzigen, von Menschen nicht einklagbaren Heilsdienst Christi durch die Kraft des Heiligen Geistes51, zugleich aber auch der Hinweis und die Garantie dafür, dass die jetzige liturgische Feier mit dem Evangelium der Schrift übereinstimmt.52 Der Ritus des Brotbrechens innerhalb der Eucharistiefeier ist Symbol für die Weisen der nachösterlichen Erscheinungen Christi, die ihrerseits Selbstmitteilung Christi an die Seinen sind: „Deswegen bricht der Priester nun ... nach der Überlieferung unseres Herrn und als Gedächtnis des Todes und der Auferstehung das Brot, wie jener (sc. Christus) es getan, indem er sich in seinen Offenbarungen austeilte; bisweilen erschien er jenem, bisweilen diesem.“53 Und noch deutlicher: „Weil dies nun zum Ende geführt werden soll, muss der Priester, der dieses heilige, unsagbare Opfer darbringt, auch damit beginnen. Sobald also der Priester den ganzen heiligen Dienst vollzogen hat, beginnt er in geziemender Weise das Brot zu brechen. Dabei müssen wir unseren Herrn Christus in unserem Sinn vorstellen, der sich in jedem einzelnen Stückchen dem naht, der ihn empfängt.“54 Der Priester tritt bei der Kommunion als erster heran und empfängt die heilige Speise. „Dadurch soll deutlich werden, dass er das Opfer nach der Ordnung (taxis) des festgelegten Gottesdienstes (leiturgia) für alle darbringt, dass er es aber gleichermaßen wie alle anderen empfangen muss.“55

49

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,24 (FC 17, 2), S. 407.

50

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,2 (FC 17, 2), S. 423.

51

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,2 (FC 17,2), S. 424.

52

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,2 (FC 17, 2), S. 423.

53

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,18 (FC 17, 2), S. 434.

54

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,20 (FC 17, 2), S. 435.

55

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,25 (FC 17,2), S. 440.

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2. Der Priester als Auge und Zunge Theodor wählt die Funktion von Auge und Zunge, um die Stellung (taxis) des Priesters bzw. des Bischofs in und gegenüber der Gemeinde einerseits und gegenüber Gott andererseits zu verdeutlichen. „Der Priester erfüllt also den Rang (taxis) eines Gliedes, das allerdings geehrter als die übrigen Glieder des Leibes ist wie zum Beispiel Auge oder Zunge, möchte ich sagen. In Gestalt des Auges sieht er auch die Taten eines jeden Menschen, und in priesterlicher Sorge weist er einen jeden von ihnen zurecht, wie es dem priesterlichen Gesetz geziemt. Und im Rang (taxis) der Zunge bringt er die Gebete aller dar.“56 Mit P. Bruns lässt sich sagen: „Das Auge symbolisiert die Lehr- und Hirtengewalt des Bischofs in Fragen der rechten Lehre und der allgemeinen Kirchenzucht, besonders aber in der Bußdisziplin. Die sazerdotalen Funktionen des Bischofs beschreibt Theodor mit dem Bild der Zunge.“57 Auge und Zunge haben ihre Funktion in der kirchlichen Darstellung der himmlischen Wirklichkeit, die in Christus offenbart ist.58 a) Der Priester als Auge des Leibes Christi Mit der „Taxis“ Auge ist nicht ein Ehrenprimat, sondern eine rechtliche und heilsökonomisch relevante Stellung der Episkope markiert.59 Bischöfe bzw. Priester (hieratreia) sind für Theodor v. M. nach 1 Tim 3,15 die sichtbaren Hausverwalter des gegenwärtigen, aber unsichtbaren Hausherrn.60 „Niemand darf es wagen, auf eigene Verantwortung Gemeinschaft mit dem göttlichen Hausherrn herzustellen, ohne die Vermittlungsdienste der Kirche und ihrer Priester in Anspruch zu nehmen. Die Priester sind mit der Repräsentation des unsichtbaren Gottes in der Welt der sichtbaren Dinge betraut und stehen damit in Ausübung der ihnen von Christus verliehenen Schlüsselgewalt (hom. 12,11).“61 Verantwortlich für die „eutaxia“, d. h. die Kirchenzucht, leiten Bischöfe/Priester gleich Engeln zur Tugend an.62 Dem Abbild Christi kommt eine Episkope zu, die der Heilige Geist zum Dienste Christi in der Weihe mitgeteilt hat.

56

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,36 (FC 17,2), S. 414.

57

Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 257 f.

58

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 258 f.

59

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 257.

60

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 12,27 (FC 17,2), S. 339 f.

61

Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 257.

62

Vgl. Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 256 mit Stellenverweisen und Literatur.

Amt und Eucharistie bei Theodor von Mopsuestia

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Denn der Heilige Geist63 verbindet zwischen dem hier handelnden sichtbaren Priester und dem himmlischen unsichtbaren Liturgen Christus: „Danach sagt er Dank für sich selber, dass er (sc. Gott) ihn zum Diener dieses furchtgebietenden Sakramentes (mysterion) gemacht hat. Dabei bringt er die Bitte vor, dass er der Gnade des Heiligen Geistes, in der er sich dem Priestertum genaht hat, auch jetzt gewürdigt werde, dass er der Erhabenheit dieses Dienstes genüge, dass er dabei frei sei von aller bösen Absicht, dass er durch die göttliche Gnade diesen Dienst vollziehe und ohne Furcht vor irgendeiner Strafe, da er unendlich weit von seiner (sc. Gottes) Erhabenheit entfernt sei und an Gebete herantrete, die viel erhabener als er selber sind.“64 Dennoch ist der Priester in das liturgische Geschehen eingebettet und stellt mit seinem Tun eine, wenn auch qualifizierte Funktion innerhalb der ganzen Feier dar. Das kommt deutlich im Friedensgruß des Priesters zum Ausdruck: „Dabei betet er für uns, denen durch das Heilswalten (oikonomia) Christi, unseres Herrn, dies zu unser aller Freude gegeben worden ist. Durch sein Kommen hat er alle Kriege abgeschafft, allen Hass und Streit gegen uns vollkommen ausgerottet, sei es Tod, sei es Verwesung, sei es Sünde, sei es Leiden, sei es Peinigung durch die Dämonen, was es auch immer sei, das uns Kummer bereitet, denn durch seine Auferstehung sind wir dem entronnen. Er macht uns vollkommen unsterblich und auch unwandelbar, versetzt uns in den Himmel und lässt uns viel Freiheit (parresia) bei sich haben. Und er hat uns verliehen, dass wir großes Erbarmen und Gemeinschaft (Koinonia) mit den unsichtbaren Mächten und Getreuen Gottes haben. Deshalb hat auch der selige Paulus dem Wort ‚Frieden‘ das der Gnade vorangestellt, denn nicht wir sind es ja, die begonnen haben, noch haben wir etwas aus uns selbst hervorgebracht, dass wir ein solches Geschenk empfangen könnten, vielmehr ist es Gott, der uns dies in seiner Gnade verliehen hat.“65 Die liturgische Handlung ist also dem Priester vorgeordnet.66 Er dient ihr und hat in diesem Dienst eine der Typologie entsprechende Offenbarungsfunktion gegenüber der Gemeinde: “Der Priester betet also: ‚Der Friede sei mit allen.‘ Dies ist eine Enthüllung dieser großen Güter, deren Zeichen (semeion) und Sinnbild (typos) dieser Gottesdienst ist, der ein Gedächtnis des Todes des Herrn ist, durch den uns die Größe solcher Güter verheißen ist. Darauf antworten alle Anwesenden: ‚Und mit deinem Geiste‘.“67 Wenn die Gemeinde den Friedensgruß an den Priester zurückgibt mit „Und mit deinem Geiste“, dann will sie damit ihr Gebet zum Ausdruck bringen, der 63

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,21 (FC 17,2), S. 405.

64

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,32 (FC 17,2), S. 413.

65

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,34 (FC 17,2), S. 413 f.

66

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,35 (FC 17, 2), S. 413.

67

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,35 (FC 17, 2), S. 413.

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Heilige Geist, den der Priester ja in seiner Weihe empfangen hat, möge kraftvoll in diesem Priester wirken: „Alle beten, dass ihm im Friedensgruß die Gnade des Heiligen Geistes zuteil werde, damit er für das Nötige Sorge trage und in der rechten Weise den Dienst für die Allgemeinheit versehe. Denn dem Priester wird vor allem Friede zuteil aus der Fülle der Gnade des Heiligen Geistes, da er vor dort Hilfe empfängt für jenes erforderliche Tun, weil sowohl bei anderen Gelegenheiten als auch beim Gottesdienst sichtbar wird, dass er die rechte Gesinnung hat.“68 Besonders in der Beantwortung des Friedensgrußes bestätigt die Gemeinde, dass der Priester indirekt auch Zeichen des Willens zu Frieden und Eintracht unter den Gliedern des Leibes Christi ist und so die Einheit der Kirche darstellt. Theodor entfaltet dies jedoch nicht ausdrücklich.69 Die Bedeutung des Priesters als Auge, d. h. als Erzieher zum Sehen, finden wir auch in seinen mystagogischen Funktionen, etwa wenn er das Heilige den Heiligen austeilen will: „Und er leitet den Sinn aller an, auf die dort vorgestellte Erhabenheit zu achten, das heißt so viel wie: Ihr müsst aufmerksam auf das dargestellte Opfer blicken. Ihr müsst wissen, dass ihr eine Speise empfangt, deren ihr von eurer Natur (physis) her nicht würdig seid, die unsterblich und in jeder Hinsicht unwandelbar ist, die nicht jeder empfängt, sondern nur die, die heilig geworden sind.“70 b) Der Priester als Zunge des Leibes Christi Bei der eucharistischen Darbringung kommt dem Priester ebenfalls eine besondere Stellung zu.71 „Obwohl er nämlich allein dasteht zur Opferung, bringt er in Gestalt einer Zunge aber dennoch für den ganzen Leib das Opfer dar. So ist es auch ein gemeinsames Opfer von uns allen, das dargebracht wird, wo ja auch der innewohnende Nutzen allgemein ist und ebenso die Annahme vor unser aller Augen gleichermaßen dargestellt wird. So hat auch der selige Paulus über den Hohenpriester gesagt, er sei verpflichtet, wie für sich selbst, so auch für die Sünden des Volkes zu opfern (Hebr 5,3). Er wollte damit andeuten, dass der Priester ein allgemeines Opfer darbringt und für alle übrigen zu opfern bestellt ist.“72 Die Händewaschung, in der es nicht um Hygiene geht, verdeutlicht die Funktion. „Vielmehr rufen die bestellten Priester, weil sie für die ganze Allgemeinheit das Opfer darbringen, uns allen dadurch deutlich in Erinnerung, dass wir uns mit reinem Gewissen nahen sollen, wenn das Opfer darge-

68

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,38 (FC 17,2), S. 416.

69

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,39 (FC 17,2), S. 416.

70

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,22 (FC 17,2), S. 437.

71

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,40 (FC 17,2), S. 417.

72

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,42 (FC 17,2), S. 417 f.

Amt und Eucharistie bei Theodor von Mopsuestia

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bracht wird.“73 Dieses Opfer ist im Blick auf die Lebenden und Verstorbenen das Gedächtnis der Heilsökonomie und beiden Gruppen zum Nutzen.74 Der Priester bringt ein gemeinsames Opfer dar in einem „prosphoran prospherein“.75 Die Feier vollzieht sich unter seiner typischen Leitung als Gleichnis des Selbst-Opfers Christi (Hebr 7,27): „Weil wir aber nun sozusagen ein Gleichnis (homoioma) dieses Opfers vollziehen, nennen wir es ‚Opfer‘ oder ‚Darbringung eines Opfers‘. Darum sagt auch der Diakon (diakonos) zu Recht von der Darbringung des Opfers: ‚Blicket auf das Opfer!‘76 Der Priester steht in der Opferhandlung für die ganze Kirche, denn “der Priester beginnt mit der Darbringung des Opfers und opfert das gemeinsame Opfer. Allgemeine Ehrfurcht, sowohl für sich als auch für uns alle, ruht auf ihm wegen des Geschehens: Christus nimmt für uns alle den Tod auf sich, dessen Gedächtnis sich in diesem Opfer vollziehen soll. Wie nun dieser Priester in diesem Augenblick die allgemeine Kirche ist, soll er bei diesem großen Dienst (leiturgia) in dieser Weise die passenden Worte gebrauchen – das ist der Lobpreis Gottes –, indem er alle Preisungen und geziemenden Verherrlichungen hervorbringt. Ihm gebührt nämlich Anbetung und Dienst von uns allen. Und vor allem ist dies jetzt das Gedächtnis jener Gnade, die uns zuteil wurde, deren erzählende Wiedergabe für das Geschöpf unerreichbar ist.“77 Die Funktion des Priesters beim Gottesdienst, besonders bei „Heilig, Heilig, Heilig“ ist der Lobpreis der ganzen Schöpfung gegenüber dem dreifaltigen Gott. Der Priester schließt sich in den Lobpreis der Seraphim ein: „...wir Anwesenden stimmen allesamt laut rufen in den göttlichen Lobpreis ein, um mit allen unsichtbaren Mächten betend Gott zu dienen. Dabei sollen wir dieselbe Absicht wie diese haben und zugleich ein ihnen ebenbürtiges Bekenntnis ablegen. Denn auch dies hat uns die Erlösung in Christus, unserem Herrn, verliehen, dass wir unsterblich und unverweslich werden und mit den unsichtbaren Mächten Gott dienen, ...“78 Während das Volk aus Ehrfurcht schweigt, gilt vom Priester: „Auch der Priester vereinigt nun bei alledem seine Stimme mit den unsichtbaren Mächten. Auch er betet und preist die Gottheit, auch er steht in der Furcht des Geschehens, denn es ist nur recht, dass er nicht weniger ehrfürchtig ist als die übrigen. Vielmehr ist er verpflichtet, noch mehr als jeder andere in der Furcht und Erschüterung dazustehen, ob dieser Geschehnisse, da er einen solchen Dienst (leiturgia), einen solch furchtgebietenden Dienst für alle erfüllt.“79 Daher gilt: „Es ist also unbe73

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,42 (FC 17,2), S. 419.

74

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,43 (FC 17,2), S. 419.

75

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,44 (FC 17,2), S. 419 f.

76

Vgl. Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,44 (FC 17,2), S. 420.

77

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,6 (FC 17,2), S. 426.

78

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,7 (FC 17,2), S. 427.

79

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,9 (FC 17,2), S. 428 f.

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dingt notwendig, dass der Priester, einem priesterlichen Gesetz (nomos tes hierateias) folgend, Bitten und Flehen vor Gott bringt, damit das Kommen des Heiligen Geistes stattfinden kann, und die Gnade kommt von dort über die Gaben von Brot und Wein, die bereitet sind, damit wahrhaft sichtbar wird, dass Leib und Blut unseres Herrn das Gedächtnis der Unsterblichkeit sind... Wenn also der Priester sagt, sie (sc. Brot und Wein) seien Leib und Blut Christi, dann macht er überaus klar, dass sie es durch Ankunft des Heiligen Geistes geworden sind, da ja auch der Leib unseres Herrn, der gesalbt worden ist und den Geist empfangen hat, derart deutlich sichtbar geworden ist. In derselben Weise geschieht auch jetzt, wenn der Geist kommt, eine Art von Salbung mit der angekommenen Gnade, die, so meinen wir, Brot und Wein nach ihrer Bereitung empfangen haben. Wir halten sie nun für Leib und Blut Christi, unsterblich und unverweslich, leidensunfähig und unwandelbar von Natur (physei) aus, wie es der Leib unseres Herrn durch die Auferstehung geworden ist.“80 Am Ende der liturgischen Darbringung zeigt sich nochmals die Stellung des Priesters im Dienst der Gemeinde: „Damit beendet der Priester das Gebet, indem er betet, dieses Opfer möge Gott wohlgefällig sein und über alle möge die Gnade des Heiligen Geistes kommen, damit wir der Teilhabe (Koinonia) ohne Strafe gewürdigt werden, da sie (sc. die Gnade) so sehr und ganz unendlich über uns erhaben und erhöht ist.“81 IV. Ergebnis: Thesen zu Amt und Eucharistie 1. Thesen zum theologischen Koordinatensystem 1. These: Ämter und Sakramentenlehre stehen in einem dichotomischen Koordinatensystem, das von antiochenischer Theologie geprägt ist: „finitum (naturaliter) non est capax infiniti“. Daher gibt es keine naturhafte Teilhabe (metousia) von Welt und Transzendenz, von Geschöpf und göttlichem Sein. Wenn es eine Teilhabe gibt, geht sie von oben, von der Transzendenz, dem Schöpfer aus und ist gegenüber der Schöpfung ungeschuldet, gnadenhaft (kat’ eudokian) und frei. Alle Theologie des Theodor ist im Grunde Gnadentheologie. 2. These: In Jesus Christus hat der ewige Logos als einer aus der Dreifaltigkeit sich freiwillig als das Urbild aller Schöpfung offenbart, sodass Jesus Christus und sein Handeln in dieser Welt das Abbild (eikon) und der Typos dieses Logos und seines Himmlischen Handelns ist. Die Einheit von Logos und Menschheit in Jesus Christus ist, wie gesagt, gnadenhaft und Werk des gottgleichen Heiligen Geistes.

80

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,12 (FC 17,2), S. 431.

81

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,21 (FC 17,2), S. 436.

Amt und Eucharistie bei Theodor von Mopsuestia

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3. These: Weil Jesus Christus das Abbild des ewigen Logos ist, ist er der Ort der Offenbarung himmlischer Wirklichkeit in dieser Welt und Prophet der Heilszukunft der Menschen, beim und im dreifaltigen Gott wohnen zu dürfen. Der Mensch ist nicht Hörer des Wortes, sondern Betrachter der in Christus offenbarten Geheimnisse Gottes. Es geht um die „theoria tes aletheias“, wobei der Glaube der Offenbarung in Christus entspricht und im Heiligen Geist sehend macht. Daher gehören Häretiker, Ungläubige und Heiden nicht zum Neuen Bund, weil sie Christus nicht als den Typos der Logos- Offenbarung erkennen. 4. These: Die Initiative zur Inkarnation und damit zur Offenbarung göttlichhimmlischer Herrlichkeit und zur Prophezeiung des menschlichen Heils geht vom göttlichen Logos aus, unterstützt vom Heiligen Geist. Diese Initiative ist gewissermaßen in der Typologie einbahnig, d. h. gemäß der Gnade (kat’ eudokian) von oben nach unten orientiert, vom Logos zur Menschheit Jesu, von dem Mensch gewordenen Gottessohn zu den Amtsträgern, dann zu den Menschen, und nicht umgekehrt. Der Logos gibt der Menschheit Jesu die Ehre, die Herrlichkeit, die Sündelosigkeit und in der Auferstehung die Unsterblichkeit, während die Menschheit Jesu den Logos eigentlich nicht tangiert (Leiden, Sterblichkeit, Veränderlichkeit). Der Begriff Prosopon sagt dabei eher (nestorianisch) das Resultat der Einigung, weniger eine ontologisch bestimmte Realität. 5. These: Damit ist alles das, was Typos Christi und sein Abbild bedeutet, zugleich mit dem Offenbarungs- und Erlösungsgeschehen in Christus verbunden und von Christus her gestaltet. Daraus folgt allgemein für die Typologie: Die Typologie setzt ein Urbild, ein Abbild, evtl. sogar mehrere und verschiedene Abbilder in diesem Äon und ein weniger wichtiges Vorausbild in der Zeit des AT voraus. Nach der dichotomischen Vorstellung des Theodor sind jedoch Urbild und Abbild entscheidend. Daraus folgt für die Ekklesiologie, dass die Kirche der symbolisch-typische, mit homoioma, hypodeigma, paradeigma bezeichnete Raum (Haus) ist, in dem der gestorbene und auferstanden-vollendete Leib Christi in Einheit, Heiligkeit und Katholizität typisch dargestellt wird und Teilhabe an sich gewährt. Die Kirche in ihrer Katholizität ist z. B. der abbildhafte Typos für die in der verklärten Menschheit im Himmel erwirkte Erlösung aller Menschen. Daraus folgt für die Sakramententheologie, dass Sakramente innerhalb dieses Hauses Kirche, also innerhalb des typischen Leibes Christi besondere, wiederum typologisch orientierte Weisen der Mitteilung der Herrlichkeit des Logos sind, ein christologisch-inkarnatorisches und so auch geistgewirktes TypenZentrum darstellen, in denen die Gnade Christi sich den Menschen anbietet. Sakramente können wegen der Heilsökonomie „kat’ eudokian“ nur vom Logos im Heiligen Geist über das Menschsein Jesu in der Kirche geschenkt und nicht vom Menschen gemacht oder verdient werden.

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6. These: Neben der Eucharistie ist die Taufe Grundsakrament. Sie ist Eingliederung in die Kirche, also Eingliederung in eine typologische Darstellung des vollendeten Leibes Christi und so selbst typologisch. Die Taufe gewährt keine unmittelbare Gemeinschaft mit dem göttlichen Logos, sondern vermittelt über seine verklärte Menschheit unsere Teilhabe an der ewigen Wiedergeburt. Wir haben es mit einer typologischen Vermittlung in mehreren AufstiegsStufen zu tun. Der Taufglaube offenbart uns durch den Heiligen Geist die Menschwerdung Christi und damit die in Christus konzentrierte Typologie, in der wir an Christi Vollendung teilnehmen und den dreifaltigen Gott sehen. Das Heil der Gläubigen besteht in der Teilhabe an der Verbindung von göttlicher und menschlicher Natur, wie sie der Heilige Geist in der einen Person des Sohnes Gottes erwirkt und für den kommenden Äon anbietet. Die durch den Logos angenommene Menschennatur Christi ist gleichsam das Demonstrationsobjekt der Erlösung der Gläubigen. 2. Thesen zum Eucharistie- und Amtsverständnis 7. These: Zwischen Himmel und Kirche, zwischen dem vollendetauferstandenen Christus und dem kirchlich-typologischen Leib, zwischen der himmlischen Liturgie und den Sakramenten gibt es eine typologische Verbindung und Verbindlichkeit: nämlich den kirchlich-handelnden Amtsträger als „typos“ und „eikon Christi“. Zitat: „Und da unser Herr Jesus Christus sich selber für uns als Opfer darbringt und so für uns tatsächlich zum Hohenpriester geworden ist, gibt es das Bild (eikon) jenes Priesters, das der, der jetzt am Altar steht, abbildet, wie wir es uns vorzustellen haben. Es ist nicht sein eigenes Opfer, das er darbringt, wie er ja auch nicht wirklich der Hohepriester ist, sondern er vollzieht gleichsam im Bild jenen unaussprechlichen Opferdienst, wodurch einer ein Abbild jener unaussprechlichen himmlischen Wirklichkeiten und auch jener geistigen, unkörperlichen Mächte dir gleichsam in der Vorstellungskraft einprägt.“82 8. These: Als Abbild des himmlischen Hohenpriesters und als typischer Liturge himmlischer Liturgie hat er die Aufgabe, uns, die wir in „katastasis“ leben, auf die bleibende Welt auszurichten, und dies in Verkündigung, in Taufe, Eucharistie und Buße. So erhalten wir gnadenhaft und im Typos, d. h. sakramental, die Weisung des Logoschristus, sein Leben, ihn als die Nahrung, in seiner Verzeihung die Heilung von Sünden und werden vierfach fähig zur künftigen Herrlichkeit. Dies setzt im Priester als Abbild Christi eine besondere, in einer Weihe durch den Heiligen Geist gnadenhaft mitgeteilte Kompetenz voraus; betont sind Verkündigung, Taufe, Eucharistie und Buße. Die Weihe

82

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,21 (FC 17, 2), S. 405.

Amt und Eucharistie bei Theodor von Mopsuestia

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schenkt den Freimut, zu den Mysterien und so zu Gottes Gegenwart hinzutreten, sie zu feiern und im Typos auszuteilen. In all dem, besonders in bestimmten rituellen Handlungen, Gebeten und Zurufen erkennen wir den Priester als Typos und Bild des ewigen Hohenpriesters. Diese typologische Kompetenz des Priesters hebt ihn aus den Gläubigen heraus, macht aber auch deutlich, wie sehr er selbst des in diesem Typ angedeuteten Heilandes und Retters bedarf. Der Priester bringt wohl das Opfer für alle dar, aber auch er selbst muss von diesem Opfer essen: Der Priester tritt bei der Kommunion als erster heran und empfängt die heilige Speise. Zitat: „Dadurch soll deutlich werden, dass er das Opfer nach der Ordnung (taxis) des festgelegten Gottesdienstes (leiturgia) für alle darbringt, dass er es aber gleichermaßen wie alle anderen empfangen muss.“83 9. These: Die besondere Stellung des Priesters innerhalb und gegenüber dem typologischen Leib Christi, der Kirche, charakterisiert Theodor mit Auge und Zunge. Zitat: „Der Priester erfüllt also den Rang (taxis) eines Gliedes, das allerdings geehrter als die übrigen Glieder des Leibes ist wie zum Beispiel Auge oder Zunge, möchte ich sagen. In Gestalt des Auges sieht er auf die Taten eines jeden Menschen, und in priesterlicher Sorge weist er einen jeden von ihnen zurecht, wie es dem priesterlichen Gesetz geziemt. Und im Rang (taxis) der Zunge bringt er die Gebete aller dar.“84 Das Auge symbolisiert „episkopisch“ die Lehr- und Hirtengewalt des Bischofs in Fragen des rechten Glaubens und der allgemeinen Kirchenzucht, besonders aber auch in der Bußdisziplin. Die sazerdotalen Funktionen des Bischofs beschreibt Theodor mit dem Bild der Zunge. Auge und Zunge haben ihre Funktion in der kirchlichen Darstellung der himmlischen Wirklichkeit, die in Christus offenbart ist. 10. These: Bischof und Priester sind in ihrer Taxis, in ihrer Hieratreia sichtbar die einzigen und ausschließlichen Hausverwalter und so die Augen des „unsichtbaren Hausherrn“. Zitat: „Niemand darf es wagen, auf eigene Verantwortung Gemeinschaft mit dem göttlichen Hausherrn herzustellen, ohne die Vermittlungsdienste der Kirche und ihrer Priester in Anspruch zu nehmen. Die Priester sind mit der Repräsentation des unsichtbaren Gottes in der Welt der sichtbaren Dinge betraut und stehen damit in Ausübung der ihnen von Christus verliehenen Schlüsselgewalt (hom. 12,11).“85 Verantwortlich für die „eutaxia“, d. h. die Kirchenzucht, leiten Bischöfe/Priester zur Tugend an. Dem Bischof/Priester als Abbild Christi kommt eine in Christus begründete Episkope zu, die der Heilige Geist zum Dienste Christi in der Priester-Weihe mitgeteilt hat. So zeigt sich im Priester die aktive Gegenwart (kat’ eudokian) des erhöhten und vollendeten Christus-Logos.

83

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,25 (FC 17,2), S. 440.

84

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,36 (FC 17,2), S. 414.

85

Bruns, Einleitung (FC 17,2), S. 257.

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11. These: Dem Inkarnationsereignis des Logos in Christus kommt eine Offenbarungsfunktion zu, die sich auch im Abbild und Typos Christi, d. h. im Priester birgt und sich in seinem Tun verwirklichen muss. Daher sind Bischöfe und Priester über ihre Weihe als Mitteilung des Heiligen Geistes im Zeichen (Semeion) und im Sinnbild (typos) wirksame Offenbarer (etwa im Friedensgruß der Messe) der erlösten Friedenszukunft des Menschen im Himmel und Erzieher der Menschen. Offenbarungsfunktion, Lehramt, Episkope und Verwaltung der Geheimnisse Christi in den Sakramenten, vor allem in der Eucharistie sind im Auge-Sein des Priesters verbunden. 12. These: Den Begriff der „Zunge“ verwendet Theodor, um den (Lob-)Opferdienst der Gemeinde durch den Priester auszudrücken. Zitat: „Obwohl er nämlich allein dasteht zur Opferung, bringt er in Gestalt einer Zunge, aber dennoch für den ganzen Leib das Opfer dar. So ist es auch ein gemeinsames Opfer von uns allen, das dargebracht wird, wo ja auch der innewohnende Nutzen allgemein ist und ebenso die Annahme vor unser aller Augen gleichermaßen dargestellt wird. So hat auch der selige Paulus über den Hohenpriester gesagt, er sei verpflichtet, wie für sich selbst, so auch für die Sünden des Volkes zu opfern (Hebr 5,3). Er wollte damit andeuten, dass der Priester ein allgemeines Opfer darbringt und für alle übrigen zu opfern bestellt ist.“86 Auge und Zunge sind wie die katabatische und die anabatische Dimension des typologischen Christus-Amtes. 13. These: Die besondere Stellung des Priesters unter dem Bild „Zunge“ lässt sich auch daran erkennen, dass der Priester das Lobopfer der ganzen Gemeinde darbringt, auf diese Weise in seinen liturgischen Funktionen das Opfer Christi darstellt und zugleich das Lobopfer der Kirche mit dem Lob der Engel vereinen kann: Die Feier vollzieht sich unter seiner typischen Leitung als Gleichnis (Homoioma) des Selbst-Opfers Christi (Hebr 7,27). Zitat: „...der Priester beginnt mit der Darbringung des Opfers und opfert das gemeinsame Opfer. Allgemeine Ehrfurcht, sowohl für sich als auch für uns alle, ruht auf ihm wegen des Geschehens: Christus nimmt für uns alle den Tod auf sich, dessen Gedächtnis sich in diesem Opfer vollziehen soll. Wie nun dieser Priester in diesem Augenblick die allgemeine Kirche ist, soll er bei diesem großen Dienst (leiturgia) in dieser Weise die passenden Worte gebrauchen – das ist der Lobpreis Gottes –, indem er alle Preisungen und geziemenden Verherrlichungen hervorbringt. Ihm (sc. Gott) gebührt nämlich Anbetung und Dienst von uns allen. Und vor allem ist dies jetzt das Gedächtnis jener Gnade, die uns zuteil wurde, deren erzählende Wiedergabe für das Geschöpf unerreichbar ist.“87 Die

86

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 15,42 (FC 17,2), S. 417 f.

87

Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien 16,6 (FC 17,2), S. 426.

Amt und Eucharistie bei Theodor von Mopsuestia

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Aspekte des Priestertums wären zu vermehren; letztlich sind sie immer Aspekte und Hinweise, die in den Logos-Christus-Tätigkeiten begründet sind. 14. These: Das Amtsverständnis des Theodor ist – so fassen wir zusammen – bestimmt durch die Dichotomie von Schöpfer und gefallener Schöpfung, von Logos und Menschheit Jesu, von Urbild und Abbild, von verherrlichtem Leib und kirchlichem Leib Christi. Nur von oben nach unten, gnadenhaft (kat’ eudokian) ist eine Brücke zur „katastasis“ der Welt möglich: Gnadenhaftes Heil und Logos-Offenbarung im Heiligen Geist haben katabatisches Übergewicht und bestimmen auch das Amt von oben als Auge des Logos-Christus, als Stimme seines in Taufe erworbenen und in Eucharistie genährten Volkes. Seine Autorität erhält das Amt durch die typische Teilhabe an der im Heiligen Geist ermöglichten Verbindung von Logos und Menschsein Jesu, ist daher Propheten- und Lehramt, ebenso in eins Hirtenamt der Episkope und Priesteramt.

Ein Franziskaner Traktat aus dem 13. Jahrhundert über die Wunder der Eucharistie Von Jozef Hendrik Anne van Banning SJ Diese Zeilen mögen Pater Mühlsteiger gewidmet sein, wegen seiner Herkunft aus (Süd-)Tirol, seiner gelebten Treue zum priesterlichen Amt und seiner Freundschaft zum Verfasser, der mit ihm ein gemeinschaftliches Interesse an alten Quellen teilt. Vielleicht die bekannteste Handschrift des Nord-Tiroler Klosters Stams ist die Hs. 1, mit ihrem „Stamser Katalog“. Es geht hier um eine Schriftstellerliste von Dominikanern aus dem ersten Jahrhundert des Bestehens ihres Ordens, die sich als sehr wichtig herausgestellt hat, z. B. um die Werke von Albertus Magnus und Thomas von Aquin zu rekonstruieren. Die Existenz dieses Kataloges wurde zuerst von einem Dominikaner – gebürtig aus Imst in Tirol –, Heinrich Denifle (1844 – 1905), bekannt gemacht. Die Kopie in Stams ist von ihm „kurz nach 1304“ datiert worden.1 Die Zisterzienser-Abtei Stams ist von Elisabeth von Wittelsbach, der Frau des Gründers von Tirol, Graf Meinrad II., im Jahre 1272 gegründet worden. Sie war in erster Ehe mit dem unglücklichen Sohn von Friedrich II., dem letzten Stauferkönig Konrad, verheiratet gewesen und hatte vergeblich versucht ihren Sohn Konradin, der gleich nach seinem Geburt von bayerischen Adligen geraubt und erzogen worden war, vom Tode auf dem Schafott in Neapel zu retten. Vor allem mit dem Geld, das für den Freikauf bestimmt gewesen war, wurde die Stiftung unternommen.2 Das Kloster wurde von Zisterziensern aus der Abtei Kaisheim, an der Donau im bayerischen Schwaben, bevölkert und Anfang des 14. Jhs. erlebte die Abtei unter dem 4. Abt (bei Lebersorg fälschlich: 5. Abt) Konrad Walder aus Füssen 1

Heinrich Denifle, Quellen zur Gelehrtengeschichte des Predigerordens im 13. und 14. Jahrhundert, in: Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 2 (1886), S. 165 – 248, hier S. 194. 2

Vgl. Wolfgang Lebersorg, Chronik des Klosters Stams (kurz nach 1637 geschrieben). Hrsg. v. Christoph Haidacher, Innsbruck 2000, S. 4 – 9.

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(1299 – 1315) einen großen Aufschwung. Es konnte eine wichtige Reliquie vom hl. Blut erworben werden – damit war damals wahrscheinlich eine Hostie gemeint, die geblutet hatte, oder konsekrierter Wein, der sich in echtes Blut verwandelt hatte. Der Chronist des Klosters ist sich unsicher, in welchem Jahr unter Abt Konrad dies geschah, und daher behandelte er dieses Faktum am Ende der Regierungszeit des Abtes.3 Auf Grund des Faktums, dass die Kapelle, die sich gleich beim Betreten der Abteikirche rechts befindet, im Jahre 1306 von einer bloßen Kapelle für die Beerdigung der Nachfahren eines gewissen Rupert Milser umgewidmet wurde zu einer Kapelle „zur Ehre des heiligsten Altarsakrements“, ist zu schließen, dass die Überbringung der Reliquie vor dem Jahre 1306 geschah.4 Auf Grund der Tatsache, dass die beiden Werke von Albertus Magnus über die Eucharistie in Hs.1 im Jahre 1304 kopiert wurden, ist zu folgern, dass Abt Konrad in den ersten Jahren seines Amtes (1299 – 1304) die Reliquie erwarb. In der Hs.1 der Klosterbibliothek trifft man auf Fol.1ra bis 52rb auf „De mysterio Missae“, eine theologische Erklärung der einzelnen Teile der hl. Messe von Albert dem Grossen, und auf Fol.52va bis 132vb auf „De corpore Domini“ vom gleichen Verfasser, ein eher theoretisches Werk über die Eucharistie. Diese beiden Werke werden in den meisten Hss. zusammen überliefert. Adolf Kolping, ein Theologe aus Münster, der im 20. Jh. eine kritische Edition beider Werke vorbereitete, die noch immer nicht erschienen ist, meinte, dass CD („De corpore Domini“) früher als SM („Super Missam“, ein anderer Titel in den Hss.) entstanden war5, aber beide Werke stammten seines Erachtens entweder aus der Würzburger (Oktober 1264 bis Sommer 1267) oder Straßburger Zeit (Oktober 1267 bis November 1270) Alberts. Ein Kolophon auf Fol.132vb erklärt genau wo, wann, von wem und in wessen Auftrag diese beiden Schriften kopiert wurden: ein gewisser Mönch und Priester Rudger ist von Stams im Auftrag seines Abtes nach Kaisheim gegangen, um sie dort zu kopieren, wobei er diese Schreibarbeit im Jahre 1304 vollendet hat.6 Nun gibt es noch eine Kopie aus Kaisheim von den beiden Werken 3

Vgl. ebd., S. 96 – 102.

4

Vgl. ebd., S. 24.

5

Adolf Kolping, Zur Entstehungsgeschichte der Meßerklärung Alberts des Großen, in: MThZ 9 (1958), S. 1 – 16, hier S. 1 – 5. 6 Das Kolophon ist u. a. von Fauser transskribiert worden: Winfried Fauser, Die Werke des Albertus Magnus in ihrer handschriftlichen Überlieferung. Teil 1: Die echten Werke, (Albertus Magnus, Opera Omnia, Tomus subsidiarius I), Münster 1982, S. 331 (bei Fauser geht es um die 38. Hs.). Leider erwähnt Lebersorg diesen Mönch Rudger nirgendwo.

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in München, und die Untersuchungen von Kolping haben ausgewiesen, dass die Stamser Hs. tatsächlich von der Hs. Clm 28180 der bayerischen Staatsbibliothek in München abgeschrieben worden ist. Die letztgenannte Kopie wurde, laut eines ähnlichen Kolophons, im Jahre 1281 unter dem Abt Truitwin aus Esslingen fertig gestellt, wo sich ein wichtiger Dominikanerkonvent befand.7 Es geht hier um Texte, die kurz nach dem Tode von Albert abgeschrieben wurden. Nach Fol. 132vb befinden sich noch zwei kleinere Schriften in der Hs.1 der Abtei Stams. Auf Fol. 133ra bis 134ra (d. h. einschließlich der ersten fünf Zeilen der ersten Spalte der recto-Seite von Fol.134) trifft man auf ein Werk unter dem Titel „De sacramento altaris in quatuor miracula“. Auf Fol. 134ra (d. h. ab der siebten Zeile der erste Spalte) bis 135vb trifft man auf den berühmten „Stamser Katalog“. Es steht fest, dass beide Ergänzungen als Blattfüllung betrachtet werden sollten, denn beide Kopien sind auf den letzten leeren Seiten der letzten Lage der Hs. realisiert. In meiner Habilitationsschrift, die hoffentlich innerhalb dieses Jahres noch erscheinen wird, werde ich eine Analyse oder Kollation der Hs.1 von Stams bringen. Daraus geht hervor, dass die letzte Quaterne aus den Fol. 127 – 135 besteht, von denen die Folien 127 – 132 noch vollständig gebraucht werden mussten, um sie doppelseitig mit dem Text von „De corpore Domini“ zu beschreiben. Zählt man die Folien zusammen, dann sind es 9 Folien: Es ist außerordentlich, dass eine Lage einer Hs. aus einer ungeraden Zahl von Folien besteht, aber dies wird dadurch verursacht, dass zwischen Fol. 127 – 128 eine Folio herausgeschnitten wurde, wovon nur noch ein schmaler Streifen übrig blieb. Die Ursache der merkwürdigen Komposition der letzten Lage ist darin zu suchen, dass ursprünglich die Fol. 128 (mit seinem Gegenstück Fol. 134a, jetzt Fol. 127a) vergessen wurde. Dadurch sah man sich offensichtlich genötigt, die Fol. 128 nachher im schon zusammengestellten Quaternion Fol. 127 + 129 – 135 einzubinden, und dadurch sind heutzutage zwei Fäden zu konstatieren: ein Faden

7 Vgl. A. Kolping, Die handschriftliche Verbreitung der Messerklärung Alberts des Grossen. Ein Beitrag zum Einfluß Alberts auf das mittelalterliche Geistesleben, in: ZKTh 82 (1960), S. 1 – 39, hier S. 3 – 6. Laut diesem Artikel bestehen noch zwei andere Hss., die von der Münchener Hs. abstammen: München, Bay. Staatsbibl., Clm 7590 (Aug. Chorherrenstift Indersdorf 190; s. XV); Erlangen, Universitätsbibl., 264 (Zisterzienserstift Heilsbronn bei Ansbach in Bayern; Ende s. XIII). Allerdings befinden sich in der Hs. Clm 28180 Korrekturen in der Handschrift eines Schreibers, den Kolping „M1“ nennt. Die Hs. in Erlangen ist abgeschrieben worden, bevor dieser Korrektor seine Arbeit tat, während die beiden andere Hss. nachher kopiert worden sind: ebd., S. 6.

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zwischen Fol. 127 – 128 (Fol. 128 ist etwas kleiner als die anderen Folien) und ein Faden zwischen Fol. 131 – 132. Wie dem auch sein mag, es blieben noch immer drei leere Folien nach dem Kopieren der beiden Schriften Alberts übrig. Nun habe ich in der Publikation meines Beitrages zu einem Festakt, der vergangenen Jahres an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck anlässlich des 100. Todestages von Denifle abgehalten wurde, nachgewiesen, dass der Text auf Fol. 134ra, ab der siebten Zeile bis zum Ende von Fol. 135vb, d. h. der berühmte Stamser Katalog, wahrscheinlich erst nach dem Jahre 1317 – somit nach dem Tode des Abtes Konrad –, in die Hs. Stams, Stiftsbibl., 1 eingetragen wurde.8 Gilt dies nun auch für den Traktat über die Eucharistie auf Fol. 133ra – 134ra? Die Antwort darauf gibt die Hs. München, Bay. Staatsbibliothek, Clm 28180, Fol. 163vb – 164vb. Auf diesen Seiten findet man nämlich den gleichen Text wie in Stams auf den genannten Folien. Die Folgerung muss sein, dass der Mönch Rudger, als er im Jahre 1304 oder 1305 nach Stams zurückkehrte, nicht nur die Fol. 127 – 132, sondern auch die Fol. 133 – 134ra (d. h. die ersten fünf Zeilen dieser Spalte) schon beschrieben hatte. Daher konnte der Fehler beim Binden auch nur mit der Fol. 128 passieren, denn, wenn die Fol. 127 und 135 weglassen worden wären, wäre dies gleich aufgefallen (Fol. 127 würde nicht mehr direkt an Fol. 126v anschließen). Dass sich auch in der Münchener Hs. der Text über die Eucharistie von Stams befand, hat man schon aus dem Artikel von Kolping in der Insbrucker Zeitschrift für Katholische Theologie vom Jahre 1960 schließen können. Jedoch gab Kolping damals einen falschen Titel an, denn er schrieb „XXIV“, statt „LIV“ (in der Hs.: LIIII). Die richtige Aufschrift des Textes, die so verstümmelt in der Stamser Hs. übernommen worden ist, lautet, gemäß der Münchener Version des Traktates: „De sacramento altaris LIIII miracela 9 compilata a quodam magistro fratrum minorum Parisius.“

8

Joop van Banning, Ein großer Tiroler: Heinrich Denifle († 1905) – Geistlicher Autor und Erforscher des Mittelalters, in: P. Heinrich Denifle O.P. (1844 – 1905). Herkunft und geistiges Umfeld eines profilierten Mittelalterforschers aus Tirol. Hrsg. v. Helmut Gritsch, Innsbruck 2005, S. 31 – 68, hier Anm. 57, S. 57 f. 9 Kolping, Handschriftliche Verbreitung (Anm. 7), S. 5, Anm. 10 gab die folgende Information: „darin noch weiter f. 163 vb: De sacramento altaris XXIV miracula compilata a quodam magistro fratrum minorum Parisius. (Inc.:) Domine, sustinuimus te. Expl. f. 164 vb: et reliquae cogitationes festum agent tibi. Anschließend f. 164 vb: Sermo Bonaventurae de arbore ligni vitae. (Inc.:) Christo confixus sum cruci.“ Die Hs. Erlangen, UB, 264, hat, nach dem Katalog des Universitätsbibliothek, den Text auf Fol. 145 –

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Durch diesen Titel wird nun einiges klar, das man auf Grund der Stamser Hs. alleine nicht oder nicht gleich gewusst hätte. Es scheint nicht um vier (Stams), auch nicht um 24 (Kolping), sondern um 54 Wunder der Feier der hl. Eucharistie zu gehen. Der Traktat wurde geschrieben von einem Franziskaner, der in Paris „magister“ geworden war, was nicht notwendigerweise bedeutet, dass er dort auch Professor wurde, denn das hieß damals ein „magister regens“, aber es ist wohl wahrscheinlich. Meines Erachtens kommen alle Franziskaner in Frage, die im 13. Jh. in Paris doziert haben, denn die Kompilation erwähnt viel mehr Wunder, als Albert in seinen beiden Schriften berührt, und somit dürfte sie unabhängig von den zwei großen Werken, die in der Stamser Hs. vorkommen, entstanden sein. Auch mit Hilfe der Münchener Hs. bleibt vieles unklar. Es könnte sein, dass wir hier es nur mit Kopien von Kopien zu tun haben. Es ist dennoch wünschenswert, diesen Text erscheinen zu lassen. In der nun folgenden Edition ist alles, was zwischen rechteckigen Klammern steht, vom Herausgeber hinzugefügt. Schriftstellen und abweichende Varianten in den Hss. stehen zwischen runden Klammern. Die Stamser Hs.1 wird mit „S“ angedeutet, die Münchener Hs. Clm 28180 mit „M“. Die Einteilung in Paragraphen weicht nicht von der in den Hss ab, in dem Sinne, dass nur dort ein Sternchen bei den Nummern zwischen Klammern steht, wo von den Hss. ein neuer Absatz suggeriert wird. Wo ein neuer Absatz nicht übernommen wurde, steht einfach ein Sternchen zwischen rechteckigen Klammern. Es ist versucht worden, die Orthographie der Hss. zu erhalten, aber wo „e“ steht und „ae“ gemeint ist, oder „t“ und „c“ gemeint ist (oder das Umgekehrte der Fall ist), oder „i“ und „ii“ nach heutigen Ansichten gelesen werden sollte, wird die heutige Orthographie benützt. Wenn eine der beiden Hss. nur orthographisch abweicht, wird dies nicht angegeben. Die Interpunktion und Großschreibung der Hss. ist nicht immer nachgeahmt worden. De sacramento altaris LIIII miracula (S: De sacramento altaris in quatuor miracula), compilata a quodam magistro fratrum minorum Parisius. (S: om.)

[I.1.1*] Domine, sustinuimus te, nomen tuum et memoriale tuum in desiderio animae. Ysa 26 (= Jes 26, 8). Felices oculi ecclesiae cristianae, quibus videre divinitus est concessum, quod speculatio prophetica aestuanti desiderio dandum cernere cupiebat! Praestolabatur siquidem divinae condescensionem maiestatis. Unde dicit: Sustinuimus te. Et alibi inflammatis clamat praecordiis

146 mit der Aufschrift: „Sermo de sacramento altaris, complectens miracula de novo et vetere testamento sumpta“.

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(S: praecordiis clamat), dicens 64 (= Jes 63, 19b): Utinam dirumperes (S: diruperes) caelos et descenderes. [I.1.2*] Exspectabat et eius in carne notificationem, quae nominis vocabulo intelligitur. Unde adiicit supradictis: nomen tuum (cfr. Jes 26, 8). Nomen utique, pro quo dicit superius 7 (= Jes 7, 14): Vocabitur nomen eius Emanuel, quod interpretatur nobiscum Deus. Hoc est enim Nomen tuum, quod os Domini nominavit, sicut idem dicit 62 (= Jes 62, 2). Et Ysa 9 (= Jes 9, 5b): Vocabitur Ammirabilis consiliarius, Deus fortis, Pater futuri saeculi, Princeps pacis. [I.1.3*] Exspectavit insuper unici et singularis sacrificii institutionem, quod est etiam amoris pabulum, purgandi seu inflammandi desiderii nutrimentum, memoriale et veritas Redemptoris. Pro quo dicit: memoriale tuum in desiderio animae (cfr. Jes 26, 8). Hoc est enim Emanuelis aedulium, de quo Ysa 7 (= Jes 7, 22): Butyrum et mel manducabit omnis qui relictus fuerit in medio terrae. Butyrum enim, quia terrenae alimoniae sumit originem, carnem Cristi significat; mel autem, quia de caelesti rore colligitur, significat Cristi divinitatem: quae in una persona Domini, in uno sacramenti velamine veraciter continentur. [I.2.1] De quo sacrificio Johel 2 (= Joel 2, 14) praedixit: Sacrificium et libamen Domino Deo nostro. De cuius usu sequitur eodem capitulo (= Joel 2, 27): Comedetis vescentes et saturabimini, et laudabitis nomen Domini Dei nostri, qui fecit nobiscum mirabilia. In hoc enim unico et singulari sacrificio omnia sunt Testamenti Veteris mirabilia quodammodo instaurata, ut propter hoc dicat Psalmus (S: Psalmo) (= Ps 111, 4 – 5): Memoriam fecit mirabilium suorum, misericors et miserator Dominus. Escam dedit timentibus se. Quod verbum de hoc sacramento exponit Glosa. [I.2.2.1] In hoc siquidem sacramento concurrunt mirabilia divinitatis, dum hic Deus creditur non tantum essentialiter, sicut ubique, sed contineri, nec concludi, Verbum personaliter incarnatum. [*] Hic concurrunt mirabilia assumptae humanitatis, dum hic non ambigimus Cristum, Mariae filium, integrum in duplici natura et in triplici substantia vere essentialiter – sed sacramentaliter, non visibiliter – sub sacramenti velamine praesentari. [I.2.2.2*] Hoc compendium existit divinae et gratuitae benivolentiae, dum hic quodammodo bonum omne gloriae, gratiae et naturae mistice, sed verissime continetur. [* in M p.corr.] Sed in istis quia partim angelorum, partim perspicativorum intellectuum contemplatio exercetur, [* in S + M a.corr.] ad sacramentalium mirabilium aliqualem elucidationem, instantis amici exactus violentia, sermo tenuis ingenii et rudis eloquii deflectatur. [II.*] In hoc igitur divinissimo sacrificio et sacramento cerno mirabilia infinitae potentiae, inexplicabilis sapientiae, et mellifluae pietatis. [II.1*] Mirabilia quidem potentiae elucescunt, si attendatur sacramentalis existentiae inchoatio, continuatio et terminatio, sed et sacramentalis operatio.

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[II.1.1*] Inchoatio quidem consistit in transsubstantiatione mirabili et singulari. In transsubstantiatione autem tria considero: terminum a quo, qui est panis esse desinens; terminum ad quid, scilicet corpus Cristi, non simpliciter esse, sed hic sacramentaliter esse incipiens; et medium, mutationem scilicet, qua panis veraciter in corpus Domini transmutatur. [II.1.1.1*] Circa terminum a quo et video, quia [1] transit panis nulla remanente materia, et [2] illaesis accidentibus mutatur substantia et panis esse totaliter [3] sine annichilatione. 4 (= Quarto) quia mutatur in alterum sine seminali ratione. 5 (= Quinto) quia pars substantialis et integralis mundo subtrahitur sine universitatis laesione. [II.1.1.2*] Item a parte termini ad quem sunt alia mirabilia. Primo [6] quia ipsum est ens in actu, et non in naturali potentia; secundo [7] quia est diversum penitus ab alio extremo in forma et materia; tertio [8] quia illa substantiali mutatione nichil ei essentiale acquiritur; quarto [9] quia alterius materiae transitione in ipsum non augetur nec alteratur; quinto [10] quia cum sit localiter in caelo, incipit esse alibi nec movetur. [II.1.1.3*] Item a parte mutationis mirabilia sunt primo [11] quia hic est mutatio subiecta sine alteratione; secundo (M: et) [12] hic est corruptio sine generatione; tertio [13] hic est (M: est] om.) mutatio sine subiecto materiale; quarto [14] hic est transitus ad esse incorruptibile, ab esse corruptibili; quinto [15] hic est mutatio inter extrema distantia maxima, distantia locali; sexto [16] hic est fortissima mutatio modo summo, fragili instrumento, verbo scilicet sacerdotali.

[II.1.2*] Circa ipsius sacramentalis existentiae permanentiam vel (S: et) continuationem mirabilia sunt haec: Quomodo [17] ibi maius clauditur in minori; secundo [18] quia totum corpus Cristi est in qualibet parte sacramenti (S: sacramentali); tertio [19] quia quaelibet pars est cum alia inconfuse; quarto [20] quia dimensionatum est hic non dimensive et, per quendam modum, simpliciori modo quam sint incorporeae substantiae illud continentes; quinto [21] quia corpus modicum et verum est ibi, non circumscriptive; sexto [22] quia essentia finita est ibi non diffinitive; septimo (M: quarto) [23] quia corpus in diversis locis existens a se non dividitur. [II.1.2.1*] Octavo sunt hic mirabilia iuxta singula decem genera: primo [24] quia substantia nobilis, quae in caelo est, tantum occasione extrinsecorum accidentium inferius detinetur; secundo [25] quia praeter morem et supra naturam proprius hic naturae ordine substantia quam dimensio corporis exhibetur; tertio [26] quia corpus verum a quantitate, cum qua intime ubique est, non tangitur; quarto [27] quia dimensio panis sine fundamento propriae substantiae sustentatur; quinto [28] quia propria qualitas clarissimi corporis est insensibilis; sexto [29] quia aequalitas est hic incommensurabilis et omnis relatio incompa-

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rabilis; septimo [30] quia nulla est hic actio in extrinsecum substantiae naturalis; octavo [31] quia substantia corporis etiam quando passibilis erat, in se erat, prout ibi est, penitus impassibilis; nono [32] quia in caelo immotum movetur inferius in manibus sacerdotis; decimo [33] quia quandoque temporis continet eviternum (?); undecimo [34] quia hoc est, ubi ab omni naturali localitate corporum omnino extraneum; 12 (M + S: 21) [= 35] quia manet ordo partium corporis invicem et posito in toto, praeter ordinem ad locum; 13 [= 36] quia substantia nobilis habet quasi pro habitu (S: habitum) velamen corruptibilium accidentium; 14 [= 37] quia generaliter nullum hoc ostendit accidentium propriorum. [II.1.3*] Amplius sunt alia mirabilia circa praesentia dominicae sacramentalem subtractionem, cum scilicet esse desinit sacramentum. [*] Primo [38] quomodo corpus Cristi, destructis accidentibus, sine omni motu subito absens efficitur. Secundo [39] quia substantia panis, ut dicit Innocentius, miraculose revertitur, et materia de novo creatur, quia aliter per experimentum deprehendi posset secretum sacramenti, si substantia non rediret.10 Nichil enim nutrit nisi substantia, cum nutrimentum sit restaurativum substantiae deperditae. Quod si quis contendat, substantiam panis minime redire, dico, quod aliud ibidem est non minus miraculum, quia sine miraculo accidentia reparare non possunt humanum substantialiter deperditum. [II.1.4.1*] Amplius circa huius cibi effectum sunt alia mirabilia. Quia [40] manducatur nec tangitur; secundo [41] quia iste cibus continue sumitur nec minuitur; tertio [42] quia nutrit sacramentaliter nec convertitur; quarto [43] quia reficit mentem, cum sit quid corporale; quinto [44] quia cum sit nobilissima medicinarum, letaliter sumitur a criminoso peccatore. [II.1.4.2*] Amplius dicunt [45], quod Cristus nullo hic sensu utitur, quod sine miraculo esse non potest, si nobilissimum sentiens sic contra libertatem sensuum carceretur. [*] Quod si ponatur, quod sub sacramento sensibus utatur, hoc sine miraculo esse non potest: Qualiter enim sine contactu (S: contractu) medii sensus immutabitur, ita quod quacumque huius auxiomatis teneamus partem, quintupartitum ibi miraculum iuxta sensum quinarium reperitur.

10

Vgl. Lothar von Segni (später Papst Innozenz III. [1198 – 1216]), De sacro altaris mysterio: PL 217, Sp. 763 – 946. Hier ist aus Lib.VI, Cap.XI zitiert: „Si vero quaeratur quid a mure comeditur, cum sacramentum corroditur, vel quid incineratur cum sacramen[t]um crematur? respondetur quod, sicut miraculose substantia panis convertitur, cum corpus Dominicum incipit esse sub sacramento, sic quodammodo miraculose revertitur, cum ipsum ibi desinit esse[.] [N]on quod illa panis substantia revertatur quod transivit in carnem, sed quod ejus loco miraculose creatus, quamvis hujus accidentia sine subjecto possunt sic corrodi, sicut edi.“ (PL 217, Sp. 863A – B).

Ein Franziskaner Traktat über die Wunder der Eucharistie

231

[II.1.4.3] Amplius [46] cum solum corpus Cristi sit hic per se sacramentali efficatia, est etiam simul virtute divina alia necessaria committantia, in quam tamen nichil convertitur, nec de loco suo in caelo movetur. Quam cum omnibus accidentibus et aliis, quae (S: quam) hic per commutandam (S: commutanda) praesentiam efficiuntur, enumeres cum praedictis 20 miracula11 reperiens sicut credo. [II.1.4.4*] Quod si quis plura ibi existimet esse, non contradico. Si pauciora esse contendat, credo quod sint potius longe plura, quam praedicta omnia, licet ex quibusdam sequantur alia, sunt tamen absque dubio inter se ex aliqua parte diversa. [II.2.1* ] Amplius secundo mirabilia sapientiae consistunt in dictorum explicatione mirabilium. In aperiendo etiam [47] qualiter hoc sit sacrificium et sacramentum, et [48] quomodo ut sacrificium prodest vivis et defunctis; ut sacramentum prodest illis a quibus sumitur per modum manducationis. Item explicando [49] qualiter in isto sacramento corpus ecclesiae invicem sociatur, qualiter etiam militans ecclesia triumphanti iungitur, dum quod illa habet pro sacrificio, ista se habere pro bravio gratulatur. [II.2.2*] Item [50] qualiter suo capiti et spiritualiter et corporaliter iungitur, et inter mundi angustias defensa. Quod etiam [51] hoc solum omnibus legalibus sacrificiis subrogatur. [II.3.1*] Mirabilia pietatis sunt, quod [52] Rex gloriae in hominibus miseris hospitari dignatur. [II.3.2*] Quod [53] ab immundissimis peccatoribus se contrectari et percipi patitur. [II.3.3*] Quod [54] fideles suos hoc singulari sacrificio consolatur, et similia. Quae cum diligenti corde cogitando revolveris, consolabitur te Deus tuus, et reliquae cogitationes (S: reliquiae cogitationis) diem festum agent tibi (cfr. Ps 76, 11). Dieser Traktat beginnt mit einem Text aus dem Prophet Jesaja, der über die Sehnsüchte des Volkes Israel spricht: „Herr, auf das Kommen deines Gerichts vertrauen wir. Deinen Namen anzurufen und an dich zu denken ist unser Verlangen“ (Jes 26, 8) Die drei Elemente dieser Hoffnung (dich, deinen Namen, ein Gedenken deiner) werden als im Kommen Jesu erfüllt gesehen, in seiner Fleischwerdung und in der Feier der hl. Eucharistie (I.1). Die drei Aspekte der Eucharistie (Opfer, Mahlzeit und Gedächtnis) werden mit Hilfe von Texten aus

11

Wahrscheinlich wird hier erinnert an die Wunder 17 bis 37.

232

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dem Buch Joel und dem Buch der Psalmen mit dem Begriff Wunder (lat. mirabilia) in Verbindung gebracht (I.2.1). Diese Wunder, die einerseits mit der Gottheit Christi und andererseits mit der Menschheit Christi zu tun haben, will der Verfasser in seinem Traktat erläutern. Dabei sagt er, dass es zwar ein Sakrament ist, in dem sich die Engel vertiefen, aber er, mit seiner schwachen und ungebildeten Sprache hofft, zu erreichen, dass auch Menschen darüber nachsinnen, wobei er anscheinend von einem Freund zu dieser Schrift veranlasst worden ist. Er sieht in der Eucharistie Wunder von Gottes Kraft (II.1: 46 Wunder, die alle etwas mit der Transsubstantiation zu tun haben), von Gottes Weisheit (II.2: 5 Wunder) und von Gottes Liebe (II.3: 3 Wunder). Der Text von Ps 111 spielt in dem sehr systematisch aufgebauten Werkchen eine Hauptrolle, aber er wird dabei auf eine Weise interpretiert, die, zu einem gewissen Teil, nur mit der lateinischen Version möglich ist: „Er hat ein Gedächtnis an seine Wunder gestiftet, der Herr ist gnädig und barmherzig. Er gibt denen Speise, die ihn fürchten“ (Ps 111, 4 – 5). Auf Lateinisch lauten die letzten Worte: „Escam dedit timentibus se“. Man kann ‚se‘ auf ‚timentibus‘ beziehen, aber auch auf ‚dedit‘: „Er gab denen Speise, die fürchten“ oder „Er gab sich zur Speise denen, die ihn fürchten“. Es würde zu weit führen, hier alle Wunder aufzuzählen, und zum Teil ist es wohl noch zu früh, eine definitive Interpretation des Textes zu geben. Jedenfalls bleibt es möglich, die letzten 8 Wunder aufzuzählen. Nach dem Franziskaner gibt es fünf Wunder der Weisheit Gottes zu konstatieren. Für ihn ist die Eucharistie zu gleicher Zeit ein Sakrament und ein Opfer. Zweitens ist sie als Opfer fruchtbar für Lebende und Tote, als Sakrament nur für die Lebenden. Drittens kann man entdecken, dass in diesem Sakrament der Leib der Kirche zusammengeführt wird, und dabei soll man auch an jenen Teil denken, der schon im Himmel ist, d. h. an die triumphierende, nicht mehr die kämpfende Kirche. Viertens wird die Kirche durch dieses Sakrament mit ihrem Haupt Christus körperlich und seelisch oder geistlich verbunden. Fünftens konnten nur durch dieses Sakrament alle Opfer, die nach dem alttestamentlichen Gesetz vorgeschrieben waren, abgeschafft werden. Wenn es um die Wunder der Liebe oder ‚Frömmigkeit‘ (pietas) Gottes geht, weist der Verfasser darauf hin, dass der König der Ehre bei uns seine Bleibe nehmen will, dass Er es zulässt, dass Er von Sündern gegessen wird, und dass Er uns in diesem Sakrament seinen Trost gibt. Am Ende seiner Betrachtungen über die Wunder der Kraft Gottes zeigt der Autor sich kämpferisch: „Wenn jemand nun erachtet, dass es dort noch mehr Wunder gibt, widersprechen ich ihm nicht. Wenn er behaupten würde, dass es da weniger gibt, glaube ich, dass es im Gegenteil wahrscheinlich viel mehr gibt

Ein Franziskaner Traktat über die Wunder der Eucharistie

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als jene, die ich aufgezählt habe. Denn aus einigen kann man wieder andere ableiten, die zweifellos wieder in irgendeinem Sinne etwas Neues sind“ (II.1.4.4). Im Titel des Werkes wird über „miracula“ gesprochen, aber im Text selber wird, in Übereinstimmung mit dem Wortlaut der Zitate aus Joel und dem Psalmbuch, immer wieder von „mirabilia“ geredet, mit Ausnahme von einem Absatz, in dem sich der Wortlaut des Werkes von Kardinal Lothar von Segni über die Eucharistie spüren lässt (II.1.3) und zwei Absätzen, die etwas aus dem Rahmen fallen (II.1.4.2 + II.1.4.3). Ist dies ein Zufall? Es hängt eher mit einer Unterscheidung zusammen, die auch für Albert den Großen sehr wichtig war. Der Ordensmann Albert Fries hat im 20. Jahrhundert die Authentizität der zwei großen albertinischen Werke über die Eucharistie bestritten, aber ihm ist in dieser Hinsicht von vielen Gelehrten widersprochen worden, namentlich von Adolf Kolping und Hans Jorissen. Dies schmälert jedoch keineswegs seinen Verdienst, dass er in seiner Monographie, die diesen beiden Schriften gewidmet ist, viel Wertvolles über die Eucharistielehre von Albert dem Großen mitgeteilt hat. So beweist er mit vielen Stellen, dass die Wandlung für Albert wohl ein ‚mirabile‘, aber nicht ein ‚miraculum‘ war, etwa im Gegensatz zu der Menschwerdung des Sohnes Gottes.12 Fries schrieb: „Während z. B. Ambrosius die Menschwerdung und die eucharistische Wandlung bezüglich des Wundercharakters nahe aneinander rückt, sofern beide Geheimnisse nicht der Ordnung der Natur unterliegen, erblickt Albert in der Menschwerdung das Wunder der Wunder, in der Wandlung jedoch – anders als Bonaventura und Thomas – ein ‚mirabile super omnia mirabilia‘, das er vom ‚miraculum‘ deutlich unter13 scheidet...“

Albert ging hier von einer Wunderdefinition von Augustinus aus, die beim ‚miraculum‘ das Außergewöhnliche und das Unerwartete („supra spem“) betonte.14 Vor allem ein Text aus dem erhalten gebliebenen Sentenzenkommentar ist hier vielsagend.15 Dagegen meint Fries, dass diese Lehre in den beiden eucha12

Albert Fries, Der Doppeltraktat über die Eucharistie unter dem Namen des Albertus Magnus (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N.F. 25), Münster 1984, S. 134 – 137. 13

Ebd., S. 137.

14

Vgl. Augustinus, De utilitate credendi, c.16, n.34 (PL 42, Sp. 90; CSEL 25, 1, p. 43), zitiert von Fries (ebd., S. 135, Anm. 61): „Miraculum voco quicquid arduum aut insolitum supra spem vel facultatem mirantis adparet.“ 15 Vgl. Albert, Super IV Sent. dist.11, art.4, quaestiuncula (Ed. Borgnet, Bd. 29, S. 276a-b): „Ut mihi videtur, non oportet hic multum immorari, quia ego concedo, quod

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ristischen Traktaten nicht aufrechterhalten wird, und das ist für ihn einer der Gründe, ihre Echtheit zu bezweifeln. Wie dem auch sei, Fries meint, es handle „sich hier (mirab[i]le-miraculum) um eine Eigentümlichkeit der Lehre Alberts“.16 Nun scheint diese Lehre gerade das Rückgrat des oben gebrachten Textes zu sein, und so könnte man seine Anwesenheit nach Werken von Albert (oder Pseudo-Albert) erklären. Der ganze erste Teil des Traktates, der oben zum ersten Mal publiziert wurde, beschäftigt sich eigentlich mit nichts anderem, als zu beweisen, dass man sich im Alten Testament nicht nur nach der Eucharistie gesehnt (I.1), sondern dass man auch ihr Wesen schon verstanden hatte (I.2.1). Im Sinne von Augustinus war also für den geheimnisvollen Autor die Eucharistie zwar ein Wunder, sogar ein sehr großes Wunder, aber kein Mirakel.

illa transmutatio non est naturalis nec miraculosa, sed mirabilis. Quia miraculum est, quod fit praeter spem, et hoc est arduum, insolitum. Istud autem non fit praeter spem, immo fit cum spei certitudine, quia certificatur spes ex verbis Domini. Et ideo etiam non est insolitum, eo quod vi verbi Domini habetur usus et cursus illius operationis, sicut vi naturae certificatur et frequentatur cursus naturae. Relinquitur ergo, quod sit opus mirabile, eo quod nos cognoscendo et operando non possumus in illud, cum tamen speremus illud solitum nobis ex vi sermonis Domini.“ (zitiert ebd., S. 135). 16

Ebd., S. 137.

Die kirchliche Sündenlehre als Heuristik einer theologischen Anthropologie Impulse aus der Theologie Karl Rahners und Raymund Schwagers Von Nikolaus Wandinger I. Das Kirchenrecht, der Jubilar und die Wahl des Themas Im Stichwortverzeichnis des CIC findet sich etwa eine halbe Spalte mit Einträgen um den Begriff Sünde, von „Sünde – Absolution“ über „Sünde, lässliche“ und „Sünde, schwere“ bis zu „Sünder, öffentlicher – Verweigerung des kirchlichen Begräbnisses“. Der Jubilar, Prof. Mühlsteiger, hat, als ich noch im Grundstudium bei ihm mein Pflichtprogramm in kirchlichem Recht absolvierte, besonderen Wert darauf gelegt, dass die Regeln des Codex nicht nur gekannt und in ihrer Anwendung verstanden, sondern auch in ihrer Intention und ihrem theologischen Anliegen wahrgenommen werden. Seine Lehrveranstaltungen waren nicht in erster Linie Juravorlesungen, sondern oft Vorträge in einer Mischung aus Rechtsphilosophie und theologischer Grundlegung kirchlichen Rechts. Aus diesem Grund freut es mich, dass auch Mitglieder unserer Fakultät, deren Hauptbetätigungsfeld nicht die Kanonistik ist, eingeladen wurden zu dieser Festschrift etwas beizusteuern, und erlaube mir, zu diesem Zweck meine systematisch-dogmatische Durchdringung der Sündenlehre bei K. Rahner und R. Schwager in Kurzform vorzustellen,1 in der Hoffnung, dass P. Mühlsteiger sie als theologischen Hintergrund der mit der Sünde befassten kirchlichen Rechtsnormen lesen wird. Die Verbindung zwischen meinen systematischen Überlegungen und einzelnen Rechtsnormen herzustellen, sehe ich dabei nicht als meine Aufgabe an, sondern vielmehr zusammenfassend aufzuzeigen, welcher theologische Hintergrund – hoffentlich – hinter dem geltenden Recht steht.

1

Es handelt sich bei diesem Beitrag um eine Zusammenfassung meiner Dissertation, veröffentlicht als: Nikolaus Wandinger, Die Sündenlehre als Schlüssel zum Menschen. Impulse K. Rahners und R. Schwagers zu einer Heuristik theologischer Anthropologie (= BMT 16), Münster / Thaur 2003.

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Es geht mir dabei vor allem um die Funktion der Sündenlehre für eine theologische Anthropologie. Die Theologen Karl Rahner und Raymund Schwager lasse ich darin nicht in erster Linie zu Wort kommen, um ihre Theologie der Sünde erschöpfend darzustellen oder gar eine verbindliche Deutung vorzulegen. Vielmehr sollten Impulse aus ihrer Darstellung der Sünde gewonnen werden, die für das Thema unter systematischer Rücksicht von Bedeutung sind. Allerdings sollten diese Impulse nicht willkürlich herausgegriffen werden – das würde die Äußerungen der beiden Theologen zu Steinbrüchen meiner Impulssuche degradieren –, sondern die Grundlinien ihrer Theologie der Sünde sollten nachgezeichnet und aus ihnen Impulse für die systematische Fragestellung entwickelt werden. Schließlich möchte ich beide Theologien miteinander ins Gespräch bringen, um so mit Rahner und Schwager den Blick auf die Sache selber zu schärfen. Meine Suche wird geleitet von der Hypothese, dass der Sündenbegriff ein Grundbegriff in einer Heuristik für eine theologische Anthropologie ist. Ich bekenne gerne, dass ich bereits diese Hypothese K. Rahner verdanke, nämlich einer Randbemerkung in seinem Aufsatz über den theologischen Begriff der Konkupiszenz. Er schreibt dort in einer Fußnote im Kontext der Unterscheidung von schwerer und lässlicher Sünde: „Nebenbei sei nur noch angemerkt, wie verwunderlich es ist, dass … [eine] Ontologie der freien Akte (wenn überhaupt) in der Theologie nur berührt wird, wo von den schlechten Akten, von Sünde geredet wird. Es muss doch den ontologischen und existenziellen Unterschied, den es zwischen lässlichen und schweren Sünden gibt, auch geben aufseiten der sittlich guten Akte. Für diesen Sachverhalt gibt es noch nicht einmal eine Terminologie.“2 Was Rahner hier bemängelt, habe ich versucht als Quelle einer Heuristik für eine theologische Anthropologie zu nutzen. Wenn es stimmt, dass die Terminologie der Sünde in der katholischen Theologie einen Bereich der Anthropologie – nämlich die Ontologie der freien Akte, insofern diese schlecht sind – tiefer erfasst hat, als die theologische Anthropologie insgesamt die Ontologie der freien Akte erarbeitete, dann kann man die hamartiologische Terminologie daraufhin untersuchen, und erhält so einen heuristischen Schlüssel für eine theologische Anthropologie. Dabei setze ich auch voraus, dass sich im Begriff „Sünde“, bzw. in der ihn auslegenden Lehre, tatsächlich der theoretische Niederschlag der Selbst- und Fremderfahrung der Gläubigen findet, dass also dieser Begriff und sein Umfeld relevante Erfahrungen des menschlichen Selbstvoll-

2

Karl Rahner, Zum theologischen Begriff der Konkupiszenz, in: Schriften zur Theologie 1, Einsiedeln / Zürich / Köln 1954, 81967, S. 377 – 414, hier S. 401, Anm. 1.

Die kirchliche Sündenlehre als Heuristik einer theologischen Anthropologie

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zugs im Licht der Offenbarung zum Ausdruck bringen und daher auf diese Erfahrungen hin befragt werden können. II. Karl Rahner: Sünde im Kontext von Gnade und Freiheit 1. Rahners Gnadenlehre als unverzichtbarer Bestandteil seiner Freiheits- und Sündenlehre K. Rahners Gnadentheologie erwies sich als zentral für sein Verständnis von Sünde und Freiheit, und musste deshalb genauer dargestellt werden. Für diese kurze Zusammenfassung muss ich mich dabei auf einige zentrale Gehalte beschränken. Mit der Entwicklung des Begriffs der ungeschaffenen Gnade als quasiformaler Ursächlichkeit Gottes für den menschlichen Geistvollzug kann Rahner die Konzeption einer Selbstmitteilung Gottes an die Menschen in scholastischer Begrifflichkeit einholen. Rahner gelingt dies, indem er die Vorstellung der ungeschaffenen Gnade aus der Patristik neu belebt und diese als quasi-formale Ursache in das (neu-) scholastische System der Interaktion von Gott und Welt einpasst.3 Auf diese Weise unterscheidet er auf einer theoretischen Ebene klar zwischen der Schöpfungsund der Erlösungsordnung, bzw. zwischen Natur und Gnade. Der Unterschied liegt gerade in der Art der kausalen Einwirkung Gottes begründet: „Durch die schöpferische effiziente Ursächlichkeit (natürlich absolut einmaliger und göttlicher Art) konstituiert Gott das absolut andere von sich. In dem, was wir Inkarnation, Gnade und Glorie nennen, … teilt [Gott] sich selbst der geschaffenen Kreatur mit.“4 Die Reflexionen Rahners über das Verhältnis von Natur und Gnade sind ebenso von zentraler Bedeutung. Sie können aber nur im rechten Licht gesehen werden, wenn Rahners Grundanliegen der Erfahrbarkeit der Gnade einerseits und der speziellen Eigenart dieser Erfahrung andererseits entsprechend aufge3

Vgl.: Karl Rahner, Zur scholastischen Begrifflichkeit der ungeschaffenen Gnade, in: Schriften zur Theologie 1, Einsiedeln / Zürich / Köln 1954, 81967, S. 347 – 375. Zur Würdigung der theologiegeschichtlichen Bedeutung dieses Vorgehens vgl. auch Roman Siebenrock, Gnade als Herz der Welt. Der Beitrag Karl Rahners zu einer zeitgemäßen Gnadentheologie, in: Mariano Delgado / Matthias Lutz-Bachmann, (Hrsg.), Theologie aus Erfahrung der Gnade. Annäherungen an Karl Rahner, Hildesheim 1994, S. 34 – 71, hier S. 64 f., Anm. 41. 4

Karl Rahner, Über den Begriff des Geheimnisses in der katholischen Theologie, in: Schriften 4, S. 51 – 99, hier S. 90.

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nommen wird. Dann wird auch verständlich, wieso Rahner von einer transzendentalen Erfahrung der Gnade sprechen kann. Mit Thomas von Aquin geht er davon aus, „dass mit der übernatürlichen Gnade ‚ein Formalobjekt gegeben ist, welches als Formalobjekt von keiner rein natürlichen Erkenntnis oder Freiheitsfähigkeit erreicht werden kann‘“5. Das Formalobjekt bildet einen „apriorischen Horizont aller Erkenntnis (und Freiheit)“6. Ein solcher apriorischer Horizont bestimmt naturgemäß das Gesamt der menschlichen „Erfahrung“ in einem weiten Sinne. Er geht bestimmend in die Erfahrung ein und ist deshalb selbst Element dieser Erfahrung. Er ist aber nicht selbst Erfahrungsgegenstand (Materialobjekt). Aus diesem Grund ist die Erfahrung eines solchen Horizontes anders geartet als die Erfahrung der in ihm erfahrenen Gegenstände; u. a. kann der Horizont erfahren werden, ohne dass man sich dessen reflex bewusst ist. Ist nun dieser Horizont ein Horizont der Gnade, so ist die Gnade bestimmend für das Bewusstsein und die Erfahrung der Menschen, da dann die Gnade das Apriori der Lebens- und Welterfahrung der Menschen abgibt. Die Gnade ist dadurch aber nicht reflex bewusst. Rahner besteht darauf, dass „Erfahrbarkeit der Gnade und Erfahrbarkeit der Gnade als Gnade nicht dasselbe sind“7. Wie aber, so stellt sich nun die Frage, weist man einen solchen apriorischen Horizont, so er vorhanden ist, nach? Wenn dieses Apriori Bedingung der Möglichkeit eines menschlichen Vollzugs wäre, wäre es ein transzendentales Apriori und könnte durch eine transzendentale Analyse dieses Vollzuges aufgewiesen werden. Schon in dem Artikel über die ungeschaffene Gnade sieht Rahner die als Quasi-Formalursache den Menschen innerliche, ungeschaffene Gnade als „ontologische Voraussetzung der visio“8 beatifica an. Aus dem faktisch vorliegenden Vollzug der visio beatifica ließen sich nun durch eine transzendentale Reduktion ihre apriorischen Möglichkeitsbedingungen im Subjekt aufweisen. Die Existenz einer visio

5

Siebenrock, Herz der Welt (Anm. 3), S. 36 mit Zitat aus Karl Rahner, Zur Rezeption des Thomas von Aquin, in: Paul Imhof / Hubert Biallowons (Hrsg.), Glaube in winterlicher Zeit. Gespräche mit Karl Rahner aus den letzten Lebensjahren, Düsseldorf 1986, S. 49 – 71, hier S. 58. 6

Siebenrock, Herz der Welt (Anm. 3), S. 36. Siebenrock weist darauf hin, dass Rahner dies bereits in der ersten Auflage seiner Gnadenvorlesung so ausdrückte: „Sed objectum formale est quasi ‚horizon‘ ‚ambitus‘ et ‚medium‘, in et sub quo positum objectum adventicium est cognoscibile“. Karl Rahner, De gratia Christi. Summa praelectionum in usum privatum auditorum ordinata, Innsbruck 11937/38, S. 299. Zitiert nach Siebenrock, Herz der Welt (Anm. 3), S. 62, Anm. 34. 7

Schriften 1, S. 326.

8

Schriften 1, S. 363.

Die kirchliche Sündenlehre als Heuristik einer theologischen Anthropologie

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beatifica darf innerhalb der katholischen Dogmatik vorausgesetzt werden, was Rahner auch unbefangen tut. Man könnte also argumentieren: Wenn es den Vollzug der visio beatifica real gibt (was theologisch als sicher vorausgesetzt werden kann) und ein durch Gnade erwirktes Formalobjekt geistiger Erkenntnis dafür als Bedingung der Möglichkeit transzendental nachgewiesen werden kann, so hat man damit die Erfahrungsrelevanz dieser Begnadung transzendental nachgewiesen. Nimmt man nun noch mit Rahner an, dass alle Menschen wegen des allgemeinen Heilswillens Gottes auf die Erlangung der visio beatifica hingeordnet sind (was noch nichts darüber aussagt, ob sie sie auch tatsächlich erlangen), so ist dieses transzendentale Apriori der Gnade in einem gewissen Sinn immer und überall gegeben, und es ist damit ein transzendentaler Aufweis des apriorischen Horizonts der Gnade möglich.9 Man mag dagegen einwenden, dass die visio beatifica keine Erfahrung ist, die jemand schon gemacht hat, der oder die heute noch Theologie treibt, um aus ihrer Erfahrung transzendental abzuleiten, was deren Möglichkeitsbedingungen seien. Und so kann man hier nicht im strengen Sinn von einer transzendentalen Ableitung der Gnade bei Rahner sprechen. Dennoch sollte durch die Nähe zu einer solchen deutlich geworden sein, warum Rahners Redeweise von einer transzendentalen Erfahrung der Gnade auch von der transzendentalen Methode her sinnvoll ist. Wenn nun aber Gnade ein transzendentales Apriori des menschlichen Selbstvollzugs ist, dann ist auch das Verhältnis dieser Gnade zum menschlichen Wesen neu zu bestimmen. Denn wenn der Mensch immer und unabhängig von seinem Heilsstand die Gnade als Angebot hat, was Folge des allgemeinen Heilswillens Gottes ist, so ist in der Selbstbeobachtung und -reflexion der Menschen eine unbegnadete menschliche Natur gar nicht näher bestimmbar. Die Natur, die der Mensch konkret vorfindet, ist immer bereits seine von Gott im Modus des Angebots begnadete Natur. Dennoch folgert nun Rahner zunächst nicht, dass der Begriff einer unbegnadeten Natur sinnlos sei oder aufgegeben werden müsse. Vielmehr kommt er zu einer Unterscheidung zwischen der „faktischen Natur dieser konkreten Ordnung“10 und einer „‚reinen‘ Natur“, deren Grundbestand das Menschsein so be-

9 Vgl. auch Karl Rahner, Die enthusiastische und die gnadenhafte Erfahrung, in: Schriften 12, S. 54 – 75, hier S. 60: „Ich verstehe unter dieser Gnade die Selbstmitteilung Gottes an die Transzendentalität des Menschen, insofern durch diese Selbstmitteilung diese Transzendentalität des Menschen notwendig und immer … auf die Unmittelbarkeit Gottes hingeordnet und so diese geistige, immer transzendentale Verwiesenheit des Menschen auf Gott in der Weise dynamisiert ist, dass die Vollendung dieser geistig transzendentalen Bewegung die visio beatifica … ist“. 10

Schriften 1, S. 327.

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stimmt, dass, wenn davon etwas „fehlte, der Mensch aufhören würde, Mensch zu sein“11. Daraus folgt aber dann: „Wenn man zu einer transzendentalen Deduktion greift, um das unaufhebbare Wesen des Menschen festzustellen, d. h. wenn man dasjenige als rein naturales Wesen des Menschen fasst, was im ersten Ansatz der Frage selbst von diesem Wesen schon mitgesetzt ist, dann weiß man auch so nicht, ob man nicht zu wenig in diesen Begriff vom Menschen hineingebracht hat oder ob nicht eben doch schon bei dieser Frage selbst faktisch, aber für uns selbst immer unvermeidbar (Hervorhebung von mir), ein übernatürliches Element im Fragenden am Werk war, das faktisch nie ausklammerbar sein könnte und so verhindern würde, das naturale Wesen des Menschen rein (Hervorhebung im Original) in den Begriff zu bekommen.“12

Anders gesagt: weil Menschen immer schon in dem, was sie konkret sind, von der Gnade mitkonstituiert sind, kann auch eine zunächst rein philosophische Fragestellung zu einem Ergebnis kommen, bei dem nicht klar entscheidbar ist, ob es ein rein philosophisches ist oder ob es auch schon theologische Gehalte enthält.13 Rahner führt so seine Unterscheidung von „reiner Natur“ und „konkrete Natur“ ein. Er hält in diesem frühen Aufsatz den Begriff der reinen Natur für bedeutsam, weil dieser sicherstelle, „dass die Gnade für den existierenden Menschen ungeschuldet sei“14. „Diese Ungeschuldetheit ist religiös bedeutsam: als realer Partner Gottes muss ich seine Gnade (anders als meine Existenz) als unerwartetes Wunder seiner Liebe entgegennehmen können, ...“15 Ich möchte Rahners Betonung der Notwendigkeit des Restbegriffs einer natura pura so verstehen: dieser stellt den ontologischen Ausdruck dafür dar, dass der Mensch überhaupt fähig ist, auch mit dem Schöpfer freie, ihm ungeschuldete, Beziehungen nach dem Modell der Liebe einzugehen. Die weitere Entwicklung bei Rahner zeigt dann allerdings, dass er den Begriff der natura pura im-

11

Schriften 1, S. 327.

12

Schriften 1, S. 327.

13

Damit ist in diesem Punkt Nikolaus Knoepffler, Der Begriff „transzendental“ bei Karl Rahner. Zur Frage seiner Kantischen Herkunft (= ITS 39), Innsbruck 1993 zu widersprechen, der meint, dass in den Artikeln der 50er Jahre „die transzendentale Methode ausschließlich über die natura pura Aussagen macht“ (S. 76). Das Rahnerzitat aus Schriften 1, S. 327, und in gleichem Sinne (wenn auch schon 1960) Schriften 4, S. 230, steht dem direkt entgegen und auch die von Knoepffler als stützend angeführten Texte (vgl. S. 73 f. u. S. 73, Anm. 127) legen das Gegenteil nahe. Dies ergibt sich auch einfach schon daraus, dass die transzendentale Methode einen konkreten Vollzug als Ausgangspunkt hat und ein solcher immer von der konkreten Natur getragen sein muss. 14

Schriften 1, S. 330.

15

Schriften 1, S. 331.

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mer weniger betont und ihn später sogar weglässt. Die damit gemeinte Sache der Ungeschuldetheit der Gnade, bleibt aber von Bedeutung.16 Es sei jedoch auf die weitreichende Bedeutung hingewiesen, die Rahners Erkenntnis, dass die „‚reine‘ Natur … nicht eine eindeutig abgrenzbare, definierbare Größe [ist]“17, für eine theologische Anthropologie im Allgemeinen und für unser Thema des Sündenbegriffs im Speziellen hat: „Es lässt sich (…) keine saubere Horizontale zwischen dieser Natur und dem Übernatürlichen (…) ziehen. Wir haben diese postulierte reine Natur ja nie für sich allein, um überall genau sagen zu können, was in unserer existenziellen Erfahrung auf ihr Konto, was auf das des Übernatürlichen kommt.“18 Durch diese Einsicht lassen sich extreme geistesgeschichtliche Gegensätze im Verständnis des Menschen systematisch verständlich machen: extrem pessimistische (die Menschheit als massa damnata bei Augustinus oder als bösartige Tierhorde in modernen evolutionistischen Entwürfen), utopisch optimistische (der Mensch als Wesen, das alles Gute bereits in sich hat und nur von dem es verschüttenden Ballast befreit werden muss)19 und naturalistische Entwürfe, die sich einer Bewertung völlig enthalten und die Menschheit eben als eine Tiersorte neben anderen betrachten, stehen in Konkurrenz zueinander. Diese Gegensätze werden verständlich, wenn man beachtet, dass die menschliche Natur, so wie sie vorliegt, zwischen einer neutralen reinen Natur, einer gnadenhaft erhobenen und einer sündhaft erniedrigten schillert. Jede dieser extremen Deutungen sieht immer nur einen Aspekt des konkreten menschlichen Wesens, und hat darin Recht. Durch ihre Einseitigkeit wird sie aber falsch. Dies erscheint mir ein erster wichtiger Ertrag von Rahners Gnadentheologie für die Entwicklung einer theologischen Anthropologie zu sein: Was uns in philosophischer Reflexion auf den Menschen zugänglich ist, ist die konkrete Natur des Menschen, von der die Theologie – und nur sie – zu sagen vermag, dass diese schon im Angebot begnadet ist.

16

Für eine genaue Untersuchung dieser Entwicklung vgl. Paul Rulands, Menschsein unter dem Anspruch der Gnade. Das übernatürliche Existential und der Begriff der natura pura bei Karl Rahner (= ITS 55), Innsbruck 2000, S. 283 – 290; für eine einfache Erläuterung und weiterführende Anwendung siehe: Nikolaus Wandinger, Gnade, Person und Beziehung. Der Mensch als DialogpartnerIn Gottes, in: Konrad Breitsching / Wilhelm Guggenberger (Hrsg.), Der Mensch – Ebenbild Gottes. Vorträge der dritten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2002 (= tt 12), Thaur 2003, S. 107 – 143. 17

Schriften 1, S. 340.

18

Schriften 1, S. 340 f.

19

Wohl erstmals und exemplarisch in der Neuzeit vertreten durch Jean-Jacques Rousseau, Emile oder über die Erziehung (Frz.: Emile ou de l’éducation) übers. Eleonore Sckommodau. Hrsg. v. Martin Rang, Stuttgart 1990.

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Ein zweiter wichtiger Beitrag ist Rahners eigenwilliger Gebrauch des Adjektivs „bewusst“. Was in seiner Terminologie „nicht reflex bewusst“, „bewusst, aber nicht gewusst“20, „bewusstseinsgegeben, aber nicht bewusstseinsgegenständlich“21 heißt, das würde in der heutigen Alltagssprache „unbewusst“ genannt. Rahner bietet hier eine Möglichkeit an, genauer zu differenzieren. Und schließlich ist festzuhalten, dass Rahners Aufweis des übernatürlichen Existenzials, der immer als Angebot gegebenen Begnadung des Menschen, als Vorzeichen vor allen weiteren Themen seiner theologischen Anthropologie steht. Menschliche Freiheit ist für ihn nur mit diesem Vorzeichen denkbar. Auch was „Sünde“ und „Konkupiszenz“ bedeuten, wird nur auf diesem Hintergrund, dem Hintergrund unserer konkreten Heilsordnung, nachvollziehbar. 2. Rahners Analyse von Freiheit und Sünde22 Soweit ich sehe, geht Rahner im Aufweis der Existenz menschlicher Freiheit und in der Erarbeitung der leib-geistigen Verfasstheit des Menschen hauptsäch20

Vgl. Karl Rahner, Sämtliche Werke, Band 4, Hörer des Wortes, Schriften zur Religionsphilosophie und zur Grundlegung der Theologie, bearb. v. Albert Raffelt, Freiburg 1997, S. 156; Schriften 3, S. 127 – 154, 130 f., Anm. 1.; Schriften 5, S. 222 – 245, v. a. S. 228 f. u. a.; vgl. auch P. Eicher, Die anthropologische Wende. Karl Rahners philosophischer Weg vom Wesen des Menschen zur personalen Existenz (= Dokimion 1), Fribourg 1970, S. 61. 21

Vgl. Schriften 1, S. 409. Über die gute Meinung, in: Schriften 3, S. 127 – 154, hier S. 130, Anm. 10. 22 Vgl. insgesamt zu dieser Thematik v. a.: Theologie der Freiheit, in: Schriften 6, S. 215 – 237. Zur Theologie des Symbols, in: Schriften 4, S. 275 – 311. Der Leib in der Heilsordnung, in: Schriften 12, 407 – 427. Die Sünde Adams, in: Schriften 9, 259 – 275; Kleine theologische Bemerkungen zum «Status naturae lapsae», in: Schriften 14, S. 91 – 109; Einheit der Menschheit, in: LThK2 3, 1959, Sp. 756 f.; Erbsünde, in: SM 1, 1967, Sp. 1104 – 1117; Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg Br. 3. Auflage der Sonderausgabe 1984, S. 113 – 121, sowie Auszüge über die Erbsünde aus Rahners Innsbrucker Schöpfungsvorlesung, in: Sämtliche Werke 8: Der Mensch in der Schöpfung. Bearbeitet von Karl-Heinz Neufeld, Solothurn / Düsseldorf / Freiburg 1998, S. 343 – 414; 466 – 511. Zum theologischen Begriff der Konkupiszenz, in: Schriften 1, S. 377 – 414 / Sämtliche Werke 8, S. 3 –32; sowie Erbsünde und Geschlechtlichkeit, in: Sämtliche Werke 8, S. 33 – 37. Sünde V. Dogmatisch, in: LThK2 9, 1964, Sp. 1177 – 1181. Zur Theologie des Todes (= QD 2), Freiburg i. Br. 1958. Vom Gewissen, in: Schriften 16, S. 11 – 25, v. a. S. 13 – 17. Vom Geheimnis menschlicher Schuld und göttlicher Vergebung, in: GuL 55 (1982), S. 39 – 54. Einübung priesterlicher Existenz. Freiburg / Basel / Wien 1970, S. 54. Karl Rahner / Hugo Rahner, Worte ins Schweigen – Gebete der Einkehr (= Herderbücherei 437), Freiburg i. Br. 41977.

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lich philosophisch vor, das Wesen und die weiteren Bestimmungen dieser Freiheit bestimmt er aber theologisch, – teils ausdrücklich, zum Teil aber auch ohne dies ausdrücklich zu sagen – von der christlichen Soteriologie und Hamartiologie her. Er benützt also selbst die kirchliche Lehre als anthropologische Hermeneutik. Dabei liefert die so gefundene Anthropologie die Sachgründe, welche nun ihrerseits die kirchliche Lehre als zutreffend erweisen und dadurch verdeutlichen. Rahner macht dabei allerdings eine – dezidiert katholische – Vorraussetzung, nämlich: Das letzte Heil oder Unheil des Menschen wird diesem nicht äußerlich von Gott zugeteilt, sondern ist das unmittelbare Resultat der – durch die Gnade getragenen und ermöglichten – endgültigen Selbstbestimmung in Freiheit. Rahner scheut sich nicht, in diesem Sinne von einer recht verstandenen „Selbsterlösung“23 des Menschen zu sprechen. Akzeptiert man diese Voraussetzung Rahners, so ergeben sich viele Elemente seiner Freiheitsanalyse von selbst: Freiheit ist Vermögen der endgültigen Selbstbestimmung, sonst könnte sie nicht das ewige Leben bestimmen; sie ist Freiheit gegenüber Gott, sonst könnte sie nicht für das letzte Heil des Menschen ausschlaggebend sein; sie ist Freiheit durch Gott, sonst wäre sie Konkurrentin zur Gnade Gottes; sie ist dialogische Freiheit, sonst wäre unser Verhältnis zum Mitmenschen und zur Schöpfung soteriologisch irrelevant. Diese soteriologischen Aspekte betreffen vor allem das Wesen menschlicher Freiheit. Die konkreten Bedingungen, unter denen diese Freiheit sich vollzieht, werden jedoch durch die Hamartiologie deutlicher. So ist Sünde – anthropologisch beschrieben – die falsche und missbräuchliche, weil letztlich gegen sich selbst gerichtete, Betätigung der Freiheit. Theologisch beschrieben ist Sünde Verlust der Gnade. Sie ist ihrem Wesen nach die endgültige negative Selbstbestimmung vor Gott. Da es zu Lebzeiten aber die Möglichkeit der Umkehr gibt, kann nicht jede Entscheidung den Menschen schon letztbestimmen. Es muss also Grade der Freiheitsbetätigung geben, was nur möglich ist, wenn die Freiheit den Menschen nicht immer ganz durchprägen kann; dies wird verständlich, wenn die leib-seelische Verfasstheit des Menschen berücksichtigt und zwischen Kern und Peripherie der Person unterschieden wird. Die Unterscheidung von lässlicher und schwerer Sünde führt zu dieser Differenzierung und wird durch sie 23

Vgl. Soteriologie, in: SM 4, 1969, Sp. 590 – 596, hier Sp. 594 f.; Das christliche Verständnis der Erlösung, in: Schriften 15, S. 236 – 250, hier S. 237 f.; Versöhnung und Stellvertretung, in: Schriften 15, S. 251 – 264, hier S. 261 f. u. a. Rahner weist aber darauf hin, dass der Begriff der Selbsterlösung im oben dargestellten Sinn verstanden werden muss, und kennt durchaus ein abzulehnendes, einem Pelagianismus gleichkommendes, Verständnis dieses Begriffs. Vgl. Soteriologie, in: LThK2 9, 1964, Sp. 894 – 897, hier Sp. 896; ebenso: Der eine Jesus Christus und die Universalität des Heils, in: Schriften 12, S. 251 – 282, hier S. 260 f.

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verständlich. Die Erkenntnis, dass menschliche Freiheit sich immer nur innerhalb eines begrenzten Raumes und an einem konkreten Material vollziehen kann, erklärt gleichermaßen, was Endlichkeit und Verfügtheit dieser Freiheit konkret bedeuten und zeigt innere Grenzen solcher endlichen Freiheit auf. Die kirchliche Lehre von der Erbsünde und ihrer Folge, der Konkupiszenz, führt dann zu einer vertieften Einsicht in die Distinktionen des Sündenbegriffs und zeigt auf: Der Mensch kann seine Freiheit nicht immer so einsetzen, wie er es gerne möchte. Menschliche Freiheit ist durch die Konkupiszenz gebrochen. Diese Konkupiszenz ist für Rahner durch zwei Faktoren bedingt: durch die leib-seelische, symbolhafte Konstitution des Menschen und durch die Folge des Gnadenverlusts aufgrund der Erbsünde. Diese wiederum wird nur verständlich auf dem Hintergrund der Situationsbedingtheit menschlicher Freiheit: die Ursünde hat die Situation der Menschheit bleibend verändert. Allerdings ist die Feststellung, dass Konkupiszenz etwas Nicht-seinSollendes ist, für Rahner nur möglich, weil gleichzeitig die Gnade den Raum der Freiheit bleibend verändert hat. Konkupiszenz ist in einem gewissen Sinn natürlich, in unserer Heilsordnung aber unnatürlich und nicht-sein-sollend. Es zeigt sich hier erneut Rahners klare Unterscheidung von allgemein philosophischem und spezifisch theologischem Vorgehen. Eine philosophische Anthropologie könnte wohl das Phänomen, das die katholische Tradition „Konkupiszenz“ nennt, feststellen. Sie könnte aber nicht eruieren, wie dieses mit der menschlichen Natur verbunden ist. Rahner tut dies anhand von Daten der kirchlichen Dogmatik: der Ungeschuldetheit der Integrität für die Menschen der supralapsarischen Ordnung24 und der Zugehörigkeit der Konkupiszenz zu unserer konkreten Natur.25 Wenn etwas in der konkreten Natur vorhanden ist, aber nicht aufgrund der angebotenen Gnade dort vorhanden ist, und in der supralapsarischen Natur nur aufgrund der Gnade nicht vorhanden war, so ergibt sich, dass es zur reinen Natur des Menschen gehören muss. Freiheit von der Konkupiszenz ist immer, supralapsarisch und infralapsarisch, Geschenk der Gnade. Folge der Konkupiszenz ist die mangelnde Fähigkeit der menschlichen Freiheit, den Menschen wirklich ganz zu durchprägen: die einschlägigen Phänomene sind bekannt. Rahner betont aber, dass dies im Guten wie im Bösen gelte. Konkupiszenz kann auch dazu führen, dass menschliche Entscheidungen zum Bösen die Person nicht ganz durchwirken, und kann so durchaus positive Auswirkung haben. Nur weil der Mensch ein konkupiszentes Lebewesen ist, kann 24 Vgl. DH 1926, 1978; 2616 f., auf die sich Rahner Sämtliche Werke 8, S. 35 beruft, dazu noch DH 1515 f. nach Schriften 1, S. 378 = Sämtliche Werke 8, S. 4. 25

Vgl. DH 1515, 1511; auf letztere Stelle verweist Rahner Schriften 1, S. 401, Anm. 2 = Sämtliche Werke 8, S. 22, Anm. 23.

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es bei ihm eine lässliche Sünde – oder eine schwache Heilstat (um eine Terminologie für das Positive anzubieten) – geben. Andernfalls wäre jede Sünde eine schwere Sünde und jede Heilstat eine endgültig erlösende. Sodann ist menschliche Freiheit für Rahner verhüllt. Das erschließt sich ihm v. a. aus zwei theologischen Daten: Der Mensch entscheidet selbst in seiner Freiheit über sein letztes Heil und zugleich kann er doch kein sicheres Wissen über seinen Heilsstand haben.26 Rahner verweist auch auf die schon von Augustinus formulierte Gebetsbitte, „dass Gott uns die verborgenen Sünden wegnehmen und vergeben solle“27. Dieser Aspekt der Verborgenheit menschlicher Freiheit tritt am deutlichsten in Veröffentlichungen Rahners mit eher spirituellem Inhalt zutage: „Die Sünden, die wir nicht eingestehen und doch begehen, diese sind die radikale Gefährdung unseres Daseins. Die Moraltheologen sind im Grunde in ihrem Traktat ‚De Principiis‘ rührend gute und harmlose Christen. Man erfährt dort nur, dass eine schwere Sünde mit klarem Bewusstsein dieser Sündigkeit begangen werden muss. Natürlich ist das in einem letzten metaphysischen Verstande durchaus richtig; aber dieses klare Bewusstsein ist das Bewusstsein im Kern der Person. Der konkrete Mensch kann dort sündigen, wo er sich vormacht, er sündige nicht, dort, wo er mit dem ganzen dialektischen Scharfsinn seines Daseins, das sich verteidigt und wehrt und gegenüber Gott eine apologia pro vita sua hält, leugnet, dass er wahrhaft sündigt.“28

Wiederum geht Rahner also von einer Bewusstheit aus, die nicht reflex ist, die die Alltagssprache als Unbewusstheit bezeichnen würde, bei der er aber gute Gründe hat, von einer besonderen Art der Bewusstheit zu sprechen. 3. Analogizität des Sündenbegriffs Bei all dem hält Rahner daran fest, dass persönliche Sünde und Erbsünde zwei verschiedene Dinge seien. Es liegt ihm sehr daran, die christliche Erbsündenlehre von jedem Verdacht, hier würde eine Kollektivschuld verteilt, frei zu halten. Erbsünde ist wie die persönliche Sünde Gnadenverlust, aber dieser Verlust ist doch ganz anderer Art als bei der persönlichen Sünde. Die Erbsündigkeit ist zwar etwas Nicht-Seinsollendes, aber sie richtet sich „nicht gegen ein Sollen, das sich … an die freie Entscheidungsfähigkeit und

26

Vgl. Schriften 6, S. 230.

27

Vom Geheimnis menschlicher Schuld und göttlicher Vergebung, in: GuL 55 (1982), S. 39 – 54, hier S. 45. Vgl. Augustinus, Confessiones I. V. 6. 28

Einübung priesterlicher Existenz. Freiburg / Basel / Wien 1970, S. 54.

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Pflicht des Einzelnen … wendet, sondern gegen ein Sollen, das vom Willen des Schöpfers als solchen konstituiert wird, der eine begnadete Menschheit will“29. Und: die Erbsündigkeit bewirkt nicht etwa wirklich das Fehlen der heiligmachende Gnade. „Sie bewirkt vielmehr nur, dass die … Menschheit nicht als herkünftige“30, schon begnadet ist, sondern erst aufgrund der Heilstat Christi. Der Erbsündenbegriff ist also analysierend und interpretierend, nicht moralisierend. Deshalb betont Rahner, die Erbsünde sei nur in einem analogen Sinn Sünde, und er gebraucht „analog“ in diesem Kontext in einer sehr weiten Bedeutung, ja fast als synonym mit „metaphorisch“. Er stellt sogar fest, dass die kirchliche Sprachregelung es auch hätte verbieten können, das mit „Erbsünde“ Gemeinte „Sünde“ zu nennen, ohne seinen Sinngehalt aufzugeben.31 Hier nun setze ich mit einem kritischen Einwand an. Dieser richtet sich selbstverständlich nicht gegen den Ausschluss einer Kollektivschuldannahme aus der Erbsündenlehre und die Feststellung ihrer interpretierenden Funktion. Meine Kritik richtet sich aber dagegen, die Analogizität von Erbsünde und persönlicher Sünde so lose aufzufassen. Ich plädiere dafür, hier eine echte, innere Analogie zu sehen, und möchte nun kurz erläutern, was ich dadurch zu gewinnen hoffe. Rahners eigene Beschreibungen menschlicher Freiheit in actu betonen sehr stark, dass es in statu viatoris nicht möglich ist, klar zu unterscheiden, was wirklich dem Personkern zuzuordnen ist und was nur die Peripherie betrifft; wie stark der Anteil eigener Verantwortung und wie stark der Anteil konkupiszenter Verstrickung ist. Rahner selbst stellt fest, dass er für bestimmte Fragestellungen die „Unterscheidung zwischen schwerer und lässlicher Sünde irgendwie überspringen [muss], sosehr sie sachlich und objektiv richtig ist, weil sie in der konkreten Reflexion auf unser eigenes Dasein nicht restlos durchgeführt werden kann“32. Diese Einsicht müsste auch für die Unterscheidung von persönlicher und Erbsünde gelten. Es ergäbe sich dann folgendes Bild: Ausgangspunkt für die Einführung eines echt analogen Begriffs der Sünde wäre die Bestimmung der Sünde als Gnadenverlust, die aber selbst schon analog ist, weil eben der Gnadenverlust sich in der vorher erarbeiteten Verhülltheit und Vermischung der menschlichen Freiheit vollzieht. Man kann nun den Unterschied zwischen Erbsünde und persönlicher Sünde als analoge Abstufung, als Grad der Beteiligung des Personkerns beim negativem Freiheitsvollzug betrachten, wobei Erbsünde und schwere persönliche Sünde die jeweiligen hypothetisch anzu-

29

Schriften 9, S. 270.

30

Schriften 9, S. 270.

31

Vgl. Schriften 9, S. 263 f.

32

Gerecht und Sünder zugleich, in: Schriften 6, S. 262 – 276, hier S. 273.

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nehmenden extremen Randphänomene der Skala darstellen, die lässliche Sünde einen gewissen „Mittelwert“. Der hier vorgeschlagene echt analoge Sündenbegriff liegt, obwohl er von Rahners Terminologie abweicht, ganz in der Zielrichtung von dessen Theologie. Er rückt Rahners eigenen Begriff von der Sünde als Gnadenverlust wieder mehr in den Vordergrund,33 und bestimmt den allgemeinen Sündenbegriff im Ausgang von ihm, und nicht von der schweren persönlichen Sünde her. Es ließe sich dann sagen: Immer wenn der Mensch sündigt, tut er das in einer für uns unentwirrbaren Mischung aus eigener, persönlicher Selbstbestimmung und fremder, konkupiszenter Vorbestimmtheit. Dabei kann natürlich der Anteil der beiden Aspekte verschieden sein, doch ist das in statu viatoris nicht sicher zu entscheiden. Wir hätten dann eine Beschreibung des Verhältnisses von Erbsünde und persönlicher Sünde, die strukturell stark der des Verhältnisses von Gnade und Natur gleicht, das für Rahner Anlass war, die in der jesuitischen Neuscholastik vorherrschende Trennung dieser Größen zu überwinden und davon auszugehen, dass unsere konkrete Natur immer schon auch eine begnadete sei. Ebenso wie Rahner in seiner Gnadentheologie daraus aber nicht die Überflüssigkeit der Unterscheidung von Natur und Gnade folgerte, müssen wir auch hier feststellen: Die Unterscheidung zwischen Erbsünde und persönlicher Sünde wird dadurch nicht hinfällig, sie bleibt aber eine theoretische, und die beiden Begriffe sind damit nur sinnvoll als „Restbegriffe“34, bei deren Verwendung man sich bewusst sein muss, dass sie realiter kein Referenzobjekt haben, sondern menschliches Sündigen sich immer in einer unentwirrbaren Mischung aus beiden vollzieht. Die weitere Entwicklung des natura-pura-Begriffs bei Rahner (vgl. oben S. 241 f.), in der dieser Restbegriff an Bedeutung verlor zugunsten des Begriffs der konkreten Natur, würde nahe legen, dass auch die Restbegriffe Erbsünde und persönliche Sünde zugunsten des zugrunde liegenden analogen Sündenbegriffs in den Hintergrund treten müssten. Eine solche Beschreibung käme der menschlichen Selbsterfahrung wesentlich näher, hätte bei zu Skrupeln neigenden Menschen entlastende Wirkung, ohne den letzten Ernst in der Frage nach der Sünde zu verharmlosen, und könnte trotzdem noch das Wissen der Tradition in einer theoretischen Terminologie nutzbar machen.

33

Sünde als Gnadenverlust in der frühkirchlichen Literatur, in: Schriften 11, Zürich / Einsiedeln / Köln 1973, S. 46 – 93. 34

Schriften 1, S. 340.

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III. Raymund Schwager: Sünde im Kontext von Mimesis und Natur 1. Schwagers dramatische Analyse der Sündenverstrickung Raymund Schwager analysiert die menschliche Verstrickung in die Sünde zunächst anhand des Lebens- und Leidenswegs Jesu, wie ihn die neutestamentlichen Schriften schildern und deuten. Diese interpretiert Schwager selbst mithilfe der mimetischen Theorie René Girards35 und seines eigenen, auch aus der Auseinandersetzung mit von Balthasar gewonnenen, dramatischen Methode.36 Ich kann hier diese methodischen Eigenheiten nicht im Detail darstellen. Dennoch ist es unverzichtbar, auf die besondere Rolle einzugehen, die für Schwager das wirksame Gottesbild und die Mimesis spielen. Mit wirksamem Gottesbild ist nicht eine rein intellektuelle Gottesvorstellung gemeint – deren Wirksamkeit ist nämlich äußerst begrenzt. Vielmehr meint es die tiefere, ganzheitliche, den Menschen meist nicht reflex bewusste Haltung gegenüber Gott. Schwager entnimmt dem neutestamentlichen Drama, dass diese Haltung gegen Gott oftmals von Misstrauen, Angst oder sogar Feindseligkeit gekennzeichnet ist.37 Eine solche Haltung ist für Schwager in dem Sinn wirksam, dass sie tatsächlich den Blick auf Gott verstellt und so faktisch zur Abwendung von Gott führt. Daher sei es gerade ein wesentlicher Aspekt in der Sendung Jesu gewesen, das Gottesbild der Menschen zu transformieren und zu reinigen, um jene so zu Gott zu führen. Man beachte: Bei Schwager wie bei Rahner ist etwas nicht reflex Bewusstes von zentraler Bedeutung für die Gottesbeziehung. Ein Grund für die Unfähigkeit der Menschen, das in ihnen wirksame Gottesbild in Einklang mit dem wahren Gott zu bringen, ist ihre Verstrickung in eine falsche Form der Nachahmung. Das belegen für Schwager sowohl die Evangelien als auch die biblische Erzählung vom Sündenfall: „Die Sünde entspringt … der Nachahmung. An ihrem eigentlichen Ursprung steht … die Nachahmung … jenes Gottesbildes, das die Stimme des Misstrauens geschaffen hat. … Diese Nach-

35

Für eine Gesamtdarstellung vgl. Wolfgang Palaver, René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen (= BMT 6), Münster / Thaur 2003. 36

Vgl. Raymund Schwager, Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre (= ITS 29), Innsbruck 21996. 37

Vgl. Schwager, Jesus im Heilsdrama (Anm. 35), S. 89 – 93, sowie ders., Brauchen wir einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften, Thaur 31994, v. a. 201 – 204.

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ahmung ist … untrennbar verbunden mit einem Geist des Misstrauens, durch den die Wahrnehmung Gottes zu einem Bild göttlicher Begierde verengt wird.“38 Schwager sieht das theologische Wesen der Sünde als Ablehnung Gottes aufgrund der Selbstverstrickung der Menschen im Teufelskreis von falscher Nachahmung und falschem Gottesbild. So wird insbesondere der Weg Jesu ans Kreuz und auf ihm das Verhalten seiner Gegner und Jünger einerseits, sowie das Verhalten Jesu andererseits zum Schlüssel für das Verständnis von Sünde und Erlösung. Jesu Kreuz darf dabei für Schwager nicht vom Gesamt seines Lebens und Lehrens isoliert gesehen werden, denn es bekommt seinen Sinn nur aus der auch in der Situation der gewaltsamen Ablehnung durchgehaltenen Treue Jesu zur Basileia-Botschaft. Eine staurologische Soteriologie steht für Schwager nicht im Gegensatz zu einer eschatologischen, sondern ist die Erscheinungsform der Letzteren unter der Voraussetzung der von Menschen gesetzten Ablehnung der Frohen Botschaft.39 Die biblische Darstellung des Verhaltens der beteiligten Akteure sei dabei theologisch vor allem deshalb bedeutsam, weil sie nicht in erster Linie persönlich-individuelle Merkmale der Akteure zum Ausdruck bringe, sondern die Akteure in heils- bzw. offenbarungsgeschichtlichen Rollen agierten und so sündiges oder erlösendes Verhalten exemplarisch zur Darstellung bringen. Christus bringt dabei in jeder Situation, auch in Gethsemane und auf Golgotha, das Verhalten Gottes zur Darstellung. Die anderen stellen exemplarisch den Menschen in der Sünde dar. Sie erliegen dabei typischen menschlichen Verhaltensweisen, die in einen Teufelskreis der Sünde führen, aus dem es für die Menschen selbst kein Entrinnen mehr gibt, da sich diese Struktur selbst verschleiert und sie von den Menschen gar nicht aus eigener Kraft als sündige erkannt werden kann. Dazu braucht es den erneuten Offenbarungsimpuls des Auferstandenen. Für Schwager ergibt sich daher: Gerade im Sündigen ist die menschliche Freiheit besonders verhüllt, da die Sünde sich selbst verschleiert. Den Vorwurf der Lüge, den Jesus an seine Gegner richtet, nimmt Schwager sehr ernst, versteht ihn jedoch nicht auf der Ebene der reflex bewussten, absichtlich nach außen gemachten Wahrheitsverdrehung, sondern auf einer Ebene innerlicher, nicht reflex bewusster Selbsttäuschung, die dann auch nach außen andere täuscht. Von besonderer Bedeutung für Schwagers Sündenverständnis ist die Vergebungsbitte Christi am Kreuz (Lk 23,33 f.). Der Zusatz „denn sie wissen nicht,

38

Raymund Schwager, Mimesis und Freiheit, in: ZKTh 107 (1985), S. 365 – 376, hier S. 368. 39

Vgl. Schwager, Jesus im Heilsdrama (Anm. 35), S. 128.

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was sie tun“ offenbart etwas über die Situation der sündigenden Menschen. Er zeigt: „Ihr Handeln entsprang nicht wacher eigener Entscheidung, sondern es fiel ihnen so zu, dass sie dabei mehr Opfer als Täter waren.“40 „Die Verblendung der Gegner Jesu macht offenkundig, dass die Menschen im entscheidenden Augenblick ihrem eigenen Tun eher erliegen, dass sie weit mehr Opfer ihrer Taten als deren verantwortliche Urheber sind.“41 Die Sünde zeigt sich also als Entfremdung der Menschen von sich selbst. Eben weil dies so ist, weil die Menschen – auch die Täter – auf einer tieferen Ebene Opfer der Sünde sind und ihre Individualität sich im Kollektiv der Verfolger verliert, darum gilt: „denn sie wissen nicht, was sie tun“. Man könnte fast sagen, dass Menschen gerade dann die größten Sünder sind, wenn auf sie zutrifft: sie wissen nicht, was sie tun. Dem Anschein, dass damit jede persönliche Verantwortung aufgehoben würde, tritt Schwager aber sogleich entgegen, indem er einen „unreduzierbaren Kern eigener Verantwortung“42 festhält. Um diesem Aspekt argumentativ näher zu kommen, ist ein Element der Deutung Schwagers näher zu bedenken. Nach diesem identifizierte sich Jesus mit allen Menschen, auch und gerade mit seinen Henkern, aber nur unter einer ganz bestimmten Rücksicht, nämlich insofern sie Opfer der Sünde, nicht aber insofern sie deren Täter sind. Was bei allen übrigen Menschen eine Unterscheidung von Aspekten ist (sie sind zugleich Täter und Opfer der Sünde), ist bei Jesus eine echte Verschiedenheit: er ist nie Täter der Sünde, und daher kann er sich unter dieser Rücksicht auch nicht mit den Menschen identifizieren. Dies hat für Schwager weitreichende Konsequenzen, denn es bedeutet „eine Eigenverantwortung aller Menschen …, bei der es keine Stellvertretung mehr gibt und geben kann und die für jeden Einzelnen gerade wegen der stellvertretenden Tat Christi die eigene Umkehr notwendig macht“43. „Im Tun des Menschen sind deshalb immer zwei Dimensionen zu unterscheiden, Selbstentfremdung und Verantwortung, die sich nie ganz trennen, ja im Konkreten nicht einmal mit voller Klarheit unterscheiden lassen und dennoch auf grundsätzlicher Ebene eindeutig voneinander abzuheben sind.“44

40

Schwager, Jesus im Heilsdrama (Anm. 35), S. 218. Ebd., Anm. 26 gibt Schwager weitere stützende NT-Stellen: Joh 16,3; Apg 3,17; 13,27; Röm 10,2. 41

Schwager, Jesus im Heilsdrama (Anm. 35), S. 219.

42

Schwager, Jesus im Heilsdrama (Anm. 35), S. 220.

43

Schwager, Jesus im Heilsdrama (Anm. 35), S. 244.

44

Schwager, Jesus im Heilsdrama (Anm. 35), S. 220.

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Schwager entwickelt also die innerweltliche Ununterscheidbarkeit von Selbst- und Fremdbestimmung ganz aus einem Stellvertretungsverständnis, das davon ausgeht, dass Stellvertretung eine ihr wesensimmanente Grenze hat, nämlich den letzten Personkern jedes Menschen. Es zeigt sich eine große Übereinstimmung mit Rahner, allerdings mit verschiedenen Akzentsetzungen: Während Rahner das Wesen der Freiheit als endgültige Selbstbestimmung vor Gott betonte und dann die Modifikationen und Einschränkungen dieses Begriffs teilweise als nachgereicht erschienen, sieht Schwager die Verstricktheit der menschlichen Freiheit in den Gesamtzusammenhang menschlicher Interaktion ganz im Vordergrund, hält zwar eine letzte Unvertretbarkeit fest, kann sie aber nur schwer anthropologisch verankern. Hier schien mir eine klare Ergänzungsfähigkeit und -bedürftigkeit jedes der beiden Entwürfe durch den jeweils anderen gegeben. Schwager verfolgt den Aspekt der Verstrickung weiter in einem eigenen Buch über die Erbsünde, in dem er diese Lehre mit neueren paläontologischen, naturwissenschaftlichen, aber auch philosophischen Erkenntnissen und Ansätzen zu vermitteln sucht. Es muss hier genügen, das Anliegen Schwagers und ein wichtiges Ergebnis festzuhalten. Das Anliegen verortet Schwager klar in der geistesgeschichtlichen Diskussion der Neuzeit: „Das ganze moderne Denken gründet … in der Trennung zwischen zwei großen Bereichen der Wirklichkeit, … zwischen Natur und Freiheit (Kant). Angesichts dieser Trennung … sehen viele im Begriff ‚Erb-Sünde‘ eine Vermengung von Fragestellungen und Kategorien. Ein Begriff, der zur Natur gehöre (vererben), würde mit einem, der dem Bereich der Freiheit zuzuordnen sei (Sünde), mythisch vermengt, …“45 Gegen diesen Vorwurf will Schwager die christliche Erbsündenlehre verteidigen. Er stellt fest: „Gerade … die Trennung zwischen Natur und Freiheit … wird heute durch die Entwicklung innerhalb der Wissenschaften … selber wieder in Frage gestellt.“46 Es sei daher „mindestens möglich, dass die Dinge genau umgekehrt liegen und dass der Begriff Erbsünde … eine tiefere und kritische Zusammenschau dessen bewahrt, was das Dogma der Moderne … künstlich getrennt hat.“47 Um dies zu belegen, verfolgt Schwager phylogenetisch die evolutive Entwicklung des Menschen und stellt fest, dass einmal getroffene „Entscheidungen“ die weitere Entwicklung maßgeblich mitprägen, und zwar bis in die genetische oder anderweitige physische Ausstattung, also sehr wohl in die „Natur“ 45

Raymund Schwager, Erbsünde und Heilsdrama. Im Kontext von Evolution, Gentechnologie und Apokalyptik (= Beiträge zur mimetischen Theorie 4), Münster 22004, 12. 46

Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 13.

47

Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 15.

252

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des Menschen hinein. Ähnliches gelte ontogenetisch für die prä- und postnatale Prägung des Menschen: auch hier werden neuronale Verknüpfungen hergestellt oder eben nicht hergestellt, die für die weiteren Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen, also auch für seine Freiheitsbetätigung, Vorbedingungen schaffen. Dabei kann natürlich nicht jede Vorprägung unter den Begriff der Erbsünde gebracht werden, sondern nur solche, die zwei Bedingungen erfüllen: sie müssen ihre – direkte oder indirekte – Ursache im Handeln von Menschen haben; und sie müssen im geprägten Menschen eine Wirkung entfalten, die seine Freiheit innerlich negativ bestimmt. Das freie Verhalten früherer Generationen präge also ganz physisch die Natur späterer und diese Natur habe Einfluss auf deren freies Verhalten. Die christliche Erbsündenlehre finde so in den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften Bestätigung. Es ist klar, dass hier manche Behauptungen äußerst gewagt sind, einige Rezensenten warfen Schwager sogar vor, er würde die Erbsündenlehre naturalisieren.48 Ich werde mich diesem Problem unten (siehe S. 253) zuwenden. 2. Schwagers Freiheitsanalyse: Freiheit als menschheitliche Zunächst stellt sich aber in aller Schärfe die Frage, was in diesem Kontext Freiheit und Eigenverantwortung noch bedeuten können. Schwager greift diese Problematik selbst im Rückbezug zu Rahner auf, referiert das Zentrum dessen Theologie der Freiheit, das er in der Definition der Freiheit als totaler Selbstverfügung des Subjekts erblickt, und weist dann darauf hin, dass bereits Rahner diese Selbstverfügung mit den Möglichkeiten der genetischen Selbstmanipulation des Menschen in Beziehung gesetzt hat.49 Mit Rahner sieht Schwager, dass die moderne Genetik „der Rede von der totalen [menschlichen] Selbstbestimmung auch einen empirischen Sinn“50 gibt. Je mehr der Mensch selbst seine Welt gestaltet, je mehr vom Vorgefundenen er selbst umformt, desto mehr vermittelt er seine transzendentale Freiheit mit deren kategorialer Objektivation. Eine „volle Selbstvermittlung dürfte dann erahnbar werden, wenn die Men-

48

Vgl. Helmut Hoping, Rezension zu R. Schwager, Erbsünde und Heilsdrama, in: Theologie und Glaube 87 (1997), S. 662 – 664, hier S. 664. Vgl. ebenso Barbara Hallensleben, Rezension zu R. Schwager, Erbsünde und Heilsdrama, in: FrZPhTh 45 (1998), S. 610 – 613, v. a. S. 612; Josef Römelt, Rezension zu R. Schwager, Erbsünde und Heilsdrama, in: Theologie der Gegenwart 44 (2001), S. 70 – 72, v. a. S. 71 f. 49 Vgl. Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 131 – 133 mit Bezügen zu Rahner, Schriften 6, 215 – 237, Grundkurs (Anm. 22), S. 46.49; Sämtliche Werke 19, S. 266. 50

Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 133.

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schen zu ihrer ganzen früheren Geschichte Stellung beziehen können“51. Wieder in Übereinstimmung mit Rahner stellt Schwager fest: „So zeichnet sich eine innerweltliche Möglichkeit der totalen Selbstbestimmung ab. Auch wenn damit immense Gefahren verbunden sind, entsprechen doch die neuen Möglichkeiten und Aufgaben dem christlichen Verständnis der Freiheit als totaler Selbstverfügung auf Endgültigkeit hin.“52 Und ebenso wie Rahner sieht auch Schwager, dass es sich hier nicht um ein individuelles Selbst handelt, sondern gerade um die Menschheit als gesamte: „Der lange und komplexe Prozess des Selbstaufbaus der menschlichen Natur und … Gesellschaft, der bisher weitgehend unbewusst verlaufen ist, wird heute selbstreflexiv.“53 Anders als Rahner leitet Schwager daraus aber Folgerungen für den Freiheitsbegriff selber ab. Es werde „offenkundig, dass die Freiheit weder vom isolierten Subjekt noch von der Ich-Du-Beziehung her umfassend verstanden werden kann, sondern im Kontext der ganzen menschlichen Gesellschaft und Geschichte zu sehen ist“54. „Die individuelle Selbstreflexion, wie sie früher dem einzelnen Menschen innerhalb bestimmter Grenzen zugänglich war, entwickelt sich zu einem umfassenden Selbstreflexionsprozess, der nur noch von der Menschheit als ganzer und im Blick auf das Ende vollzogen werden kann. … Damit wird einsichtig, dass die Freiheit in ihrer radikalen Form als totale Selbstverfügung keine Sache des Individuums oder einer Gruppe sein kann, sondern eine Aufgabe der ganzen Menschheit ist.“55 Gleichzeitig fordert Schwager, „Analogate“ von Freiheit in der untermenschlichen Schöpfung anzuerkennen, denn nur so sei das Auftreten von Freiheit im menschlichen Bereich verstehbar.56 3. Problematik des Naturbegriffs Kehren wir zurück zur Problematik des Naturbegriffs und dem Vorwurf der Naturalisierung von Sünde: Ich bin der Meinung, dass der Vorwurf des Naturalismus gegen Schwager letztlich nicht trifft, obwohl ich gut verstehen kann, dass er erhoben wird.

51

Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 133.

52

Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 133.

53

Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 135.

54

Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 134.

55

Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 135.

56

Vgl. Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 141.

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Nikolaus Wandinger

Er trifft deshalb nicht, weil er die von Schwager kritisierte Trennung von Natur und Freiheit selbst voraussetzt und dann unter dieser Voraussetzung Schwagers Argument gegen diese Trennung nicht prüft, sondern ex supposito verwirft. Dadurch vermeiden es die Kritiker, auf Schwagers Argumentation einzugehen und immunisieren sich durch eine petitio principii. Schwagers Anliegen ist es gerade aufzuzeigen, dass Natur und Freiheit nicht getrennt werden können, weil eine solche Trennung letztlich nur die Wahl zwischen Naturalismus und Idealismus lässt. Dieses Dilemma will Schwager durchbrechen, indem er dafür argumentiert, dass weder das eine noch das andere dem Phänomen gerecht wird, und damit faktisch für einen philosophischen Realismus eintritt. Wer diese Argumentation als Naturalismus missversteht, entlarvt sich letztlich selber als Idealisten. Ich gestehe jedoch zu, dass ein solches Missverständnis Schwagers – auch für Realisten – durchaus nahe liegt und durch seine Terminologie begünstigt wird: Zum einen hat Schwager seinen Naturbegriff nie richtig geklärt: ist Natur das, was die Naturwissenschaften erforschen, was Gott geschaffen hat, was als Gegenbegriff zu Freiheit verwendet wird, eine empirische oder eine ontologische Größe? Diese Fragen lässt er unbeantwortet und so ist es nicht verwunderlich, wenn ihm falsche Antworten darauf, nämlich ein naiver und unkritischer Realismus, der letztlich auf einen Naturalismus hinauslauft, unterstellt werden. Zum anderen macht Schwager nicht immer deutlich, dass es sich bei seinen genetisch-evolutionstheoretischen Überlegungen nur um Teilaspekte der Erbsündenlehre handelt, und erweckt so stellenweise den Eindruck, er wolle die ganze Erbsündenlehre auf Genetik reduzieren. Beachtet man aber die Gesamtheit seiner Aussagen zur Thematik, kann man diese Verengung für ihn ausschließen. IV. Zusammenschau: Gefundene Elemente einer Heuristik für eine theologische Anthropologie Abschließend möchte ich einen methodischen und zwei inhaltliche Erträge aus meiner Beschäftigung mit den Sündentheologien Rahners und Schwagers andeuten. 1. Theologische Termini als heuristische Begriffe Im Verlauf der Darstellung von Schwagers Gebrauch des Naturbegriffs wurde dessen Problematik deutlich und es wurde bemängelt, dass Schwager selbst diesen Begriff nicht wirklich klärt. Dies stellt vor allem eine Gefahr dar, wenn theologische Begriffe eigentlich als ontologische zu behandeln wären, aber stattdessen auf andere, nicht-ontologische Begriffe reduziert werden; etwa

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wenn Fälle genetischer Vererbung nicht nur einen Aspekt der Erbsünde verdeutlichen sollen, sondern mit ihr identifiziert werden; oder wenn das, was die Naturwissenschaften erforschen, und das, was theologisch „Natur“ genannt wird, miteinander ident gesetzt wird. Eine Lösung kann nur erreicht werden durch eine Interpretation ontologischer Termini als heuristische Begriffe, die selbst keine inhaltlichen Antworten geben, sondern Fragerichtungen aufzeigen. Diese Art der Deutung ontologischer Begriffe verdanke ich Otto Muck.57 Der ontologische verwendete Ausdruck „Natur“, der in unserem Kontext relevant ist, meint das dynamische Entwicklungsprinzip des Menschen. Die Frage, was zur Natur des Menschen gehöre, entspricht also der Frage, welche Aspekte zu berücksichtigen sind, wenn die dynamische Entwicklung des Menschen betrachtet werden soll. Historisch, psychologisch, soziologisch, biologisch, paläontologisch etc. arbeitende Anthropologen können in ihrem jeweiligen Forschungsbereich und mit ihren jeweiligen Methoden nach Prinzipien dynamischer Entwicklung des Menschen suchen und, insoweit sie dabei erfolgreich sind, können sie mit Recht sagen: das ist die Natur des Menschen, soweit ich sie mit meinen Mitteln erforschen kann. Sie benützen damit den ontologischen Naturbegriff als heuristischen Begriff, indem sie die durch ihn bezeichnete Fragerichtung je in ihrem Bereich verfolgen. Die so gewonnenen Ergebnisse sind eine der jeweiligen Wissenschaft entsprechende Beschreibung der menschlichen Natur – oder anders gesagt: eine Beschreibung der der jeweiligen Wissenschaft von ihrer Methode her zugänglichen Aspekte der menschlichen Natur. Würde man nun aber einen oder auch die Summe all dieser Aspekte mit dem ontologischen Naturbegriff identifizieren, beginge man methodisch einen Fehler. Wenn man den heuristischen Begriff durch eine konkrete Beschreibung eines seiner Aspekte ersetzt, identifiziert man das Ganze mit einem Aspekt, und man verwechselt einen formalen Begriff mit einem deskriptiven.58

57

Vgl.: Otto Muck, Zwei Weisen der Erklärung?, in: Paul Weingartner, Evolution als Schöpfung? Ein Streitgespräch zwischen Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftlern, Stuttgart 2001, S. 1 – 19. Ders., Wahrheit und Verifikation, in: Ders., Rationalität und Weltanschauung. Philosophische Untersuchungen. Hrsg. v. Winfried Löffler, Innsbruck / Wien 1999, S. 81 – 100; ders., Rationale Strukturen des Dialogs über Glaubensfragen, in: Rationalität und Weltanschauung, S. 106 – 151, v. a. S. 115 – 135; ders., Metaphysische Erklärung als ganzheitliches Verfahren, in: Rationalität und Weltanschauung, S. 225 – 231; ders., Philosophische Gotteslehre (= Leitfaden Theologie 7), Düsseldorf 21990, S. 141 – 148. 58

Für die inhaltliche Leere und vielfältige Anwendbarkeit formaler, heuristischer Begriffe vgl. auch Edmund Runggaldier, Einheit und Identität als „formale Begriffe“ in der Metaphysik des Aristoteles, in: ThPh 64 (1989), S. 557 – 566. David Walter Ham-

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Da nun aber metaphysische und empirische Anthropologie dasselbe Materialobjekt, eben den Menschen, untersuchen, müssen ihre Ergebnisse, sofern sie korrekt sind, auch miteinander zu tun haben. Nur ist ihr Verhältnis zueinander nicht das der Identität, sondern eben das von heuristischem Begriff und antwortender Beschreibung unter Beachtung des jeweils verschiedenen Formalobjekts. Wir können also das Verhältnis der Naturbegriffe von Rahner und Schwager präzisieren: Schwagers Begriff der empirischen, historischen Natur des Menschen ist eine mögliche inhaltliche Konkretisierung von Rahners Begriff der konkreten Natur des Menschen unter dem jeweiligen Formalobjekt, das Schwager anwendet: dies ist manchmal ein biologisch-genetisches, manchmal ein soziologisches. Die Analysen Schwagers sind daher geeignet, die konkrete Natur der Menschen, die Rahner formal abgrenzte, inhaltlich beschreibend zu spezifizieren. Wegen der Eigenart ontologischer Konzepte als heuristischer Begriffe kann aber keine solche Beschreibung oder ihre Summe mit dem ontologischen Begriff identifiziert werden und ihn daher auch nicht ersetzen. Die bleibende Bedeutung des ontologischen Naturbegriffs besteht gerade darin, auf die verschiedenen Formalobjekte der Einzelwissenschaften hinzuweisen und dadurch die prinzipielle methodische Begrenzung einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse festzuhalten, und gleichzeitig den Zusammenhang dieser Erkenntnisse durch die Explizierung des gemeinsamen Erkenntnisinteresses integrativ verständlich zu machen. Beachtet man diese wichtige Unterscheidung zwischen heuristischen und deskriptiven Begriffen, so zeigt sich die Wichtigkeit beider Begrifflichkeiten und das Defizit, das entsteht, wenn man auf eine davon verzichtet: Verzichtet man auf die ontologische Begrifflichkeit, zerfällt die Theologie in eine Sammlung verschiedener Erkenntnisse aus verschiedenen Wissensbereichen, deren Zusammenhang untereinander und mit der theologischen Tradition nur noch schwer deutlich wird. Darüber hinaus verliert man den Wegweiser dafür, in welchen Richtungen nach Antworten gesucht werden muss. Verzichtet man darauf, diese ontologischen, heuristischen Begriffe mit deskriptivem Gehalt aus einzelnen Wissens- und Erfahrungsbereichen zu füllen, bleibt die Theologie zu theoretisch und erfahrungsfern und es fällt sehr schwer, ihre Relevanz für das Leben der Menschen deutlich zu machen. Gerade am Beispiel des Begriffs „Erbsünde“ ist dies überdeutlich.

lyn, Metaphysics, Cambridge 1984, S. 55. Nikolaus Wandinger, Masses of Stuff and Identity, in: Erkenntnis 48 (1998), S. 303 – 307.

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2. Analogie von Freiheit und Bewusstheit Beide, Rahner wie Schwager, kommen – zwar von verschiedenen Enden her, aber letztlich doch – darin überein, dass ein einfacher und eindeutiger Begriff von Freiheit oder von Bewusstheit nicht ausreicht, um die Komplexität des kirchlichen Sprechens von der Sünde einzufangen. Ist dieses kirchliche Sprechen aber geprägt von einer tiefen Einsicht in die Eigenart menschlichen Handelns, dann bietet diese Terminologie wertvolle Einsichten für eine theologische Anthropologie. „Freiheit“ und „Bewusstheit“ müssen daher differenziert gebraucht werden, sowohl, was ihr Vorhandensein und ihren Grad im Einzelnen betrifft (synchron), als auch was ihre Extension innerhalb der Menschheitsgeschichte und evtl. darüber hinaus angeht (diachron). Soll aber dabei nicht nur eine Sammlung verschiedener Verwendungsweisen dieser Wörter, ein äquivokes Potpourri, entstehen, so scheint es unausweichlich, diese verschiedenen Verwendungsweisen einander im Sinne einer echten Analogie zuzuordnen. Aus der von mir geforderten Analogizität des Sündenbegriffs folgt also eine solche des Freiheits- und des Bewusstseinsbegriffs. Wenn Schwager etwa ein Analogat von Freiheit in der untermenschlichen Schöpfung fordert, so scheint mir dies durchaus strukturgleich zu sein mit Rahners an Thomas von Aquin angelehnter Argumentation für eine Analogie des Bei-sich-Seins auch in der untermenschlichen Schöpfung, wie sie sich etwa in »Hörer des Wortes« findet.59 Die thomistische Analogie des Seins ist für ein Analogat der Freiheit in der untermenschlichen Schöpfung durchaus offen, indem sie z. B. (mit Aristoteles) allen Lebewesen eine Seele zuspricht, die diesen immanentes Wirken ermöglicht. Nur wurde dies nicht Freiheit, sondern Wille genannt. Dies wäre neu aufzugreifen, zu vertiefen und in die moderne Debatte einzubringen. Desweiteren müssten die Beachtung der Analogie von Freiheit und Bewusstheit und die gesamtgeschichtliche Sicht der Freiheit, wie sie Schwager vertritt, Auswirkungen in der Eschatologie haben. Müsste nicht gerade das Endgericht verstanden werden als der von Schwager postulierte Ort des „umfassenden Selbstreflexionsprozesses, der nur noch von der Menschheit als ganzer und im Blick auf das Ende vollzogen werden kann“60? Sind also nicht Modifikationen angebracht, die die Selbstverständlichkeit von der endgültigen Heilsentscheidung vor dem Tod noch einmal in Frage stellen – und geht dies ohne die Bedeutung dieses Lebens zu gering einzuschätzen? Rahner hat am Ende seines Schaffens in seinem Fegefeuerartikel vorsichtig in eine solche Rich-

59

Vgl. Sämtliche Werke 4, S. 62 – 94; 148 – 154 jeweils die geraden Seiten.

60

Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 135.

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tung gedacht.61 J. Niewiadomski hat im Gefolge Schwagers eine etwas mutige Dramaturgie des Endgerichts vorgelegt,62 die es wert wäre, auch systematisch ernst genommen und diskutiert zu werden. 3. Natur, Gnade und Person Auch „Natur“ und „Gnade“ können in dem oben genannten Sinn als heuristische Begriffe verstanden werden. Rahners frühe Unterscheidung von reiner und konkreter Natur ist dann eine weiter gehende Differenzierung dieser Begriffe, die auf theoretischer Ebene durchaus bleibende Bedeutung hat. Der Begriff der konkreten Natur mit seinen Strukturelementen – reine Natur, übernatürliches Existenzial (Gnade im Modus des Angebots), Erbsünde und Konkupiszenz – ist geradezu ein heuristischer Zentralbegriff, weil er andeutet, in welchen Richtungen zu suchen ist, wenn eine theologische Anthropologie entworfen werden soll. Dass in concreto selten klar entschieden werden kann, welchem Aspekt dieser konkreten Natur ein bestimmtes Wesensmerkmal zuzuordnen ist, tut dem keinen Abbruch. In letzter Zeit scheint jedoch vor allem im englischsprachigen Raum, aber auch in der deutschsprachigen Theologie, wieder ein Bedürfnis zu entstehen, die Gnade als eigenständige Größe wahrzunehmen, die dem Menschen nicht immer schon konveniert, sondern auch als von außen gegenübertretend und fremd empfunden wird. Eine solche Tendenz ist auch bei Schwager greifbar.63 Dazu könnte man an Rahner die Frage richten, ob denn eine unthematische, nicht reflexe, Erfahrung der Gnade ausreicht für die Zwecke, um derentwillen er einst die Konzeption einer Erfahrung der Gnade einforderte. Würde die Gnade wieder als eigenständige Größe und nicht als Teil der konkreten Natur des Menschen gesehen, so schiene dies leichter möglich. Mir scheinen beide Argumente gegen Rahners Konzeption des übernatürlichen Existenzials nicht durchschlagend. Beginnen wir mit dem Letzteren. Was

61

Vgl. in: Schriften 14, S. 435 – 449.

62

Vgl. Józef Niewiadomski, Hoffnung im Gericht. Soteriologische Impulse für eine dogmatische Eschatologie, in: Ders. Herbergsuche. Auf dem Weg zu einer christlichen Identität in der modernen Kultur (= BMT 7), Münster / Thaur 1999, S. 167 – 186. 63

Vgl.: Schwager, Erbsünde und Heilsdrama (Anm. 44), S. 120 f. Desweiteren Hansjürgen Verweyen, Gottes letztes Wort. Grundriss der Fundamentaltheologie, Regensburg 3 2000, S. 122 – 126. James Alison, The joy of being wrong. Original sin through Easter eyes. New York, New York 1997, S. 45 – 47. Donald Gelpi, Experiencing God. A theology of human experience. New York 1978, 363. Ders., Grace as transmuted experience and social process. London 1988, v. a. S. 67 – 95.

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hier gewünscht wird, ist eine thematische, als solche erkannte Erfahrung der Gnade. Rahner selbst hatte von Anfang an zwischen Erfahrung der Gnade, die auch unthematisch sein kann, und einer Erfahrung der Gnade als Gnade64, die per definitionem nicht mehr unthematisch sein kann, unterschieden. Er hat diese thematische Erfahrung der Gnade in seiner Sakramententheologie und in der Deutung enthusiastischer Phänomene behandelt und tief durchdrungen. Man könnte ihm lediglich vorwerfen, dass er terminologisch nicht deutlich genug darauf hinwies, dass es sich bei diesen Ausführungen um Betrachtungen der Erfahrung der Gnade als Gnade handelte und sie nicht deutlich genug mit seiner Gnadentheologie in Beziehung setzte. Das erste Argument, dass die Gnade auch als fremd und von außen herantretend empfunden werden kann, ist nur dann ein Argument gegen Rahners übernatürliches Existenzial, wenn man diesen Begriff missversteht. Er besagt ja nur, dass die Gnade im Modus des Angebots zur konkreten Natur des Menschen gehört. Die Möglichkeit der Ablehnung dieses Angebots wird von Rahner klar gesehen. Gnade wird durch das übernatürliche Existenzial nicht zu etwas, das ganz unproblematisch im Bewusstsein des Menschen vorkommt, wie gerade sein Artikel über die Erfahrung der Gnade ausweist.65 Außerdem sollte deutlich geworden sein, dass etwas dem Menschen nicht zwangsläufig konvenieren muss, nur weil es Teil seiner konkreten Natur ist; sind doch Erbsünde bzw. Konkupiszenz auch Teil dieser konkreten Natur. Wenn argumentiert wird, dass der Anruf Gottes durchaus auch als fremder, vielleicht sogar bedrohlich scheinender, in das Leben der Menschen eintreten kann, so ist das kein Argument gegen die Begnadetheit der konkreten Natur des Menschen durch das übernatürliche Existenzial. Es beweist nur, dass die Menschen das ihre Natur mitbestimmende Gnadenangebot noch nicht voll angenommen haben und deshalb die konkret gegebene Gnade zwar erfahren, aber oft nicht als Gnade, sondern als ganz etwas anderes, evtl. auch als fremd und bedrohlich.66

64

Vgl. Schriften 1, S. 326.

65

In: Schriften 3, S. 105 – 109.

66

Für die Analyse einer praktischen Auswirkung dieses Gegensatzes vgl.: Roman Siebenrock, Dramatische Korrelation als Methode der Theologie. Ein Versuch zu einer noch unbedachten Möglichkeit im Blick auf das Werk Raymund Schwagers, in: Józef Niewiadomski / Nikolaus Wandinger (Hrsg.), Dramatische Theologie im Gespräch. Symposion / Gastmahl zum 65. Geburtstag Raymund Schwagers (= BMT 14), Münster / Thaur 2003, S. 41 – 60. Für einen konkreten Entwurf einer von Schwager her konzipierten, dramatischen Gnadenlehre, die diese Aspekte klarer berücksichtigt, vgl. Petra Steinmair-Pösel, In einem neuen Licht … – Konturen einer dramatischen Gnadenlehre. Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Theologie an der katholischtheologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Innsbruck 2005.

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Dass dies im Gefolge von Rahners Gnadentheologie manchmal unterbelichtet wurde, sei ruhig zugegeben. Man könnte allerdings fragen, ob das in der theologiegeschichtlichen Situation, in der Rahner stand, nicht sogar angemessen war. Mir scheint die notwendige Konsequenz daraus zu sein, dass die Funktion, welche in Rahners früher Terminologie von natura pura erfüllt wurde und später etwas unter den Tisch fiel, in neuer Terminologie wieder besser ausgedrückt werden muss. D. h., es muss neu deutlich gemacht werden, dass die Gnade, auch im Modus des Angebots, nur deshalb zu unserer konkreten Natur gehört, weil Gott uns nicht nur als Schöpfer uns gegenübertritt, sondern als jemand, der personale und persönliche Beziehung mit uns aufnehmen will. Es müsste sich hieraus also eine Theologie der Person (anthropologisch und trinitarisch) und des Heiligen Geistes entwickeln. Der Mensch als begnadete Person, oder besser: der durch Gnade zur Person erhobene Mensch, ist auf personale Vervollkommnung hingeordnet – zwischenmenschlich und durch Gott. Nur weil dies so ist, besteht Sünde im Letzten in der Weigerung, sich der Maßlosigkeit der Liebe anzuvertrauen, sie „ist die geringere Liebe, die darum, weil sie sich weigert, die größere werden zu wollen, keine mehr ist“67.

67

Rahner, Schriften 6, S. 227.

Krankenseelsorge Von Hans Rotter SJ Univ.-Prof. P. Dr. Johannes Mühlsteiger hat neben seiner Tätigkeit in der Wissenschaft immer auch Seelsorge ausgeübt. Er hat in einem Altersheim regelmäßig Gottesdienst gefeiert, hat die Krankensalbung gespendet und auf vielerlei Weise Krankenseelsorge ausgeübt. Deshalb sollen ihm in dieser Festschrift auch einige Überlegungen zu dieser Thematik gewidmet werden. Es ist nicht die Absicht dieses Beitrags, eine systematische Behandlung des Themas des Krankseins, der Krankenseelsorge, des Sakramentes der Krankensalbung o. ä. zu bieten. Es soll vielmehr einigen aktuellen Fragen nachgegangen werden, die den Seelsorger in Bezug auf diesen Bereich heute beschäftigen. Dabei ist zu bedenken, dass die Situation des Kranken schon von den äußeren Gegebenheiten her sehr unterschiedlich sein kann. Denken wir an die moderne Klinik, an die Intensivstation, eine Rehabilitationsanstalt, an Langzeitpatienten im Gegensatz zu den Patienten, die nur für wenige Tage zu einer Operation in das Krankenhaus kommen, an ein Hospiz mit seiner Palliativmedizin.1 Entsprechend diesen Gegebenheiten werden sich auch die Aufgaben der Seelsorge unterschiedlich gestalten. Krankenseelsorge wird von verschiedenen Personen in unterschiedlichen Rollen ausgeübt: Vom Priester, von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, von Angehörigen und nahestehenden Besuchern, aber auch vom Pflegepersonal und von manchen Ärzten. Daraus ergibt sich eine Vielfalt von Aspekten, auf die hier ebenfalls nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Zunächst ist über die Situation des schwer erkrankten Patienten nachzudenken. Er erfährt, wie seine Gesundheit in Frage gestellt ist. Oft wird die Ungewissheit über die Zukunft und über weitere Lebensaussichten als große Last empfunden. Manchmal muss man mit schwerwiegenden Folgen für das weitere Leben rechnen. Vielleicht ist die körperliche Integrität beeinträchtigt. Bestimm-

1

Vgl. Michael Klessmann, Einleitung: Vorwort, in: Ders. Handbuch der Krankenhausseelsorge, Göttingen 22001, S. 9.

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te körperliche Funktionen fallen auf Dauer aus, ein Organ funktioniert nicht mehr, es wird etwa ein Bein amputiert. Man denke gar an Querschnittlähmung oder andere Beeinträchtigungen, die einen für alle Zukunft an den Rollstuhl fesseln und zu einem Pflegefall machen. Der schwer kranke Patient muss von manchen Hoffnungen und Erwartungen an sein Leben Abschied nehmen. Ein solcher Patient befindet sich oft in einer tiefen Krise: Es geht vielleicht auf das Sterben zu. Der oder die Kranke stellt grundlegende Fragen an das bisherige Leben, ob das Dasein sinnvoll war. Zweifel und bedrückende Schuldgefühle können sich einstellen. Besonders Konflikte mit Angehörigen quälen und drängen auf eine Lösung. Sind Kinder und sonstige Angehörige versorgt und auf gutem Weg? – Als schwer belastend kann es erlebt werden, wenn man sich allein gelassen fühlt. Dann werden auch körperliche Schmerzen quälender empfunden. In einer solchen Situation verlangt man verständlicher Weise nach mehr menschlicher Zuwendung. Zu diesen Problemen kann der oft recht unpersönliche Betrieb in einem modernen Krankenhaus beitragen: Eine Krebspatientin berichtet, dass sich gegen 30 Personen um sie gekümmert hätten, angefangen bei den Ärzten über das Pflegepersonal, das Personal bei den verschiedenen Untersuchungen, den Labors usw. bis zum Küchen- und Reinigungspersonal. „Aber ich hatte niemand für mich!“ Das heißt, die Patientin hatte in all dem Betrieb niemanden, der sich Zeit genommen hätte, sich an ihr Bett zu setzen, über ihre Ängste und Befürchtungen zu sprechen und an ihrem Schicksal wirklich Anteil zu nehmen. So wird es dem Patienten, der Patientin schwer fallen, sich im Krankenhaus daheim zu fühlen. Oft drängen sie sehr darauf, zum frühest möglichen Zeitpunkt entlassen zu werden, obwohl vom medizinischen Standpunkt vielleicht ein längerer Aufenthalt wünschenswert wäre. Eine ganz wichtige Rolle können natürlich die Angehörigen spielen, wenn sie vorhanden sind, auf Besuch kommen und sich Zeit nehmen. Die Sorge um den Kranken, speziell um den Unheilbaren hat in der Geschichte des Christentums gegenüber der Antike eine neue Qualität angenommen.2 Bei den alten Griechen gab man den unheilbaren, hoffnungslosen Kranken auf. Man sorgte sich dort ohnehin nur um den Freund und Vertrauten, nicht um alle Kranken. Auf der Basis zentraler Aussagen des NT und des Beispiels Jesu selbst in seiner Zuwendung zu den Kranken und Leidenden (Mk 1,34; 6,5 u. ö.) bringt das christliche Verständnis von der Würde des Menschen und die Hinwendung zu den Armen und Not Leidenden eine neue Einstellung und ein 2

Vgl. Michael Klessmann, Von der Krankenseelsorge zur Krankenhausseelsorge – historische Streiflichter, in: Ders. Handbuch der Krankenhausseelsorge, Göttingen 2 2001, S. 40 – 48; sowie ders. Art. Krankenseelsorge, in: TRE 19, 1990, S. 669 – 675.

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Startsignal für eine großartige Geschichte der Sorge um den Kranken. Dieser Aufgaben nehmen sich vor allem die Orden an, in ihren Infirmerien und Hospizen, aber auch im Dienst in den Bürgerhäusern. Speziell ist an die verschiedenen Krankenpflegeorden (Barmherzige Brüder, Barmherzige Schwestern, Lazaristen, Camillianer, usw.) zu denken; an die Bürgerspitäler, Aussätzigenhäuser usw. Zu erwähnen sind hier auch die Missionsorden, die in ihren abgelegenen Stationen neben Kirche und Schule gewöhnlich auch ein Spital führen, das damit als ein wesentliches Moment christlichen Lebens erscheint. Heute ist die Organisation der Caritas eine der wichtigsten Formen kirchlicher Liebestätigkeit – zusammen mit den großen Sammlungen für Arme und Notleidende. In der Geschichte der Krankenbetreuung kommt es in neuerer Zeit zu einer Differenzierung zwischen einer vorwiegend naturwissenschaftlich verstandenen medizinischen Versorgung auf der einen und einer religiös verstandenen Krankenseelsorge auf der anderen Seite. Dabei verändert sich schließlich auch das Verständnis des theologischen Auftrags. Bis ins 19. und 20. Jahrhundert interpretiert man die Krankheit vielfach als Folge persönlicher oder gesellschaftlicher Schuld und Sünde, denen die Seelsorge vor allem durch Aufforderung zur Sühne, Reue und Bekehrung sowie durch sakramentale Sündenvergebung begegnet. Heute geht es nicht zuletzt darum, die beiden Äste der Geschichte der Krankenbetreuung, den naturwissenschaftlichen Zugang und die seelsorgliche Bemühung wieder zu vereinigen und von Einseitigkeiten zu befreien. Dringend wünschenswert ist, dass Krankenseelsorger heute auch über eine entsprechende Ausbildung besonders in der Gesprächsführung verfügen. Das wird natürlich vor allem dann wünschenswert bzw. erforderlich sein, wenn der entsprechende Seelsorger vom Krankenhaus angestellt werden soll und seine Fähigkeiten ähnlich ausweisen muss wie jeder, der sonst hauptamtlich im Dienst der Kranken steht. Hilfreich kann auch eine Supervision sein, die dem Seelsorger, der Seelsorgerin eine gewisse Reflexion und Kontrolle im Umgang mit den Patienten anbietet. Dem Patienten in den mannigfaltigen Krisensituationen seines Lebens steht der Krankenseelsorger, die Krankenseelsorgerin gegenüber, bei denen nun menschliche Qualitäten gefragt sind, die dazu befähigen, den oft schwierigen Gegebenheiten nicht auszuweichen, sondern sie mit Mut und Gelassenheit anzugehen. Besonders wichtig wird es sein, sich in Gesprächen nicht vorzudrängen, sondern den Patienten sprechen zu lassen, ruhig zuzuhören und gemeinsam mit ihm nach Antworten auf seine Fragen zu suchen. Es wird darum gehen, dem Patienten nicht etwas einzureden, sondern sein Vertrauen zu gewinnen und ihm gerade auch im religiösen Bereich Hilfe und Begleitung zu bieten.

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Eine besondere Verdichtung und symbolische Darstellung erreicht die Krankenseelsorge im Sakrament der Krankensalbung3. Die heutige Diskussion betrifft nicht zuletzt die Person des Spenders. Laien können gemäß SC 79 des letzten Konzils zwar in verschiedener Weise den Kranken segnen, z. B. auch innerhalb eines Wortgottesdienstes. Aber der Spender des Sakraments der Krankensalbung muss nach dem CIC ein Priester sein (c. 1003 § 1). Daraus ergeben sich bei dem heutigen Priestermangel gravierende Schwierigkeiten. Gerade bei diesem Sakrament kann es wichtig sein, dass sehr rasch jemand verfügbar ist, der die Krankensalbung spenden kann. Zwar gibt es Bestrebungen, dieses Sakrament, das ja nicht als „letzte Ölung“ betrachtet werden soll, rechtzeitig, d. h. frühzeitig (CIC c. 1001) anzubieten, etwa wenn ein Patient schwerer erkrankt, vielleicht deshalb auch ins Krankenhaus eingeliefert wird. Nicht selten wird die Krankensalbung dann für eine größere Zahl von Patienten gemeinsam (vgl. CIC c. 1002) gespendet, etwa auch im Rahmen einer Eucharistiefeier. Besonders bei älteren Personen wird derartiges sehr angebracht sein. – Aber es kommt immer wieder auch vor, dass ein Patient etwa nach einem schweren Unfall, nach einem Schlaganfall etc. in ein Krankenhaus eingeliefert wird, so dass es dann mit der Spendung des Sakramentes, wenn es gewünscht wird, sehr eilt. In solchen Fällen kann es – gerade auch für die Angehörigen – äußerst schmerzlich sein, wenn es nicht mehr möglich war, einen Priester zu bekommen. Es sei hier darauf hingewiesen, dass die Art des Sterbens ja auch in hohem Maße die Angehörigen betrifft. Sie müssen von den Sterbenden Abschied nehmen. Sie erwarten und verlangen deshalb auch von der Kirche, dass sie ihren Beitrag zu einem guten Hinscheiden des Patienten, der Patientin leistet. Die Angehörigen können deshalb zu Recht enttäuscht und auch verletzt sein, wenn von Seiten der Kirche nicht alles geschieht, was sie zu einem guten Sterben des Patienten beitragen kann. Der seelsorgliche Dienst der Kirche an den Kranken und den Sterbenden ist insofern immer auch ein Dienst an den Angehörigen, die in dem Prozess des Loslassens und in der Verarbeitung der Trauer über den erlittenen Verlust nach Trost und Hilfe verlangen. Das Hinscheiden eines Menschen ist nicht nur seine private Angelegenheit, sondern in hohem Maße ein soziales Ereignis, dem sich die Kirche auch als solchem zuzuwenden hat. Oft wird es als Problem empfunden, wenn Laienseelsorger oder Seelsorgerinnen einen Patienten über längere Zeit betreuen und dieser dann den Wunsch

3

Eine kurze Darstellung der biblischen Grundlagen und der weiteren geschichtlichen Entwicklung bietet Herbert Vorgrimler, Art. Krankensalbung, in: TRE 19, 1990, S. 664 – 669; eine ausführliche systematische Darstellung gibt Johannes Feiner, Die Krankheit und das Sakrament des Salbungsgebetes, in: Mysterium Salutis 5, 1976, S. 494 – 550 (Lit.).

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nach einer Krankensalbung äußert, dazu aber nur ein Priester verfügbar und befugt ist, der dem Patienten vielleicht völlig fremd ist. Hier besteht dann oft der Wunsch, dass die Kompetenz zur Spendung dieses Sakramentes auch Diakonen und LaienseelsorgerInnen erteilt werden könnte, die ja auch sonst geistlichen Beistand geleistet und dem Patienten vielleicht die Hl. Kommunion gereicht haben. – Zwar wird die erste Hl. Kommunion oder die Firmung oft auch von Personen gespendet, die den Empfängern persönlich nicht vertraut sind und auch die Vorbereitung auf den Empfang des Sakramentes nicht selbst geleitet haben. Aber bei der Krankensalbung verhält es sich doch anders, insofern hier die personale Beziehung eine größere Bedeutung hat und die vertraute Person einer Seelsorgerin oder eines Laienseelsorgers dem Patienten eher Angst und Unruhe nehmen und Geborgenheit vermitteln kann. Gelegentlich hört man von Fällen, wo die Spendung der Krankensalbung durch Laien eigenmächtig geschieht. Man argumentiert, dass es hier ja oft um Notfälle geht, wo sich Menschen zwischen Leben und Tod befinden und wo sich die Beschränkung der Kompetenz auf geweihte Priester kaum von der Heiligen Schrift und der Geschichte des Sakramentes der Krankensalbung her plausibel machen ließe.4 Die Spendung durch Nichtpriester ist bei der derzeitigen rechtlichen Lage sicher keine wünschenswerte „Lösung“ des Problems. Es sollte in dieser Frage eine Regelung geben, die allgemein gilt und anerkannt ist. Die Ermächtigung, bzw. Zustimmung zur Spendung des Sakramentes sollte von den maßgeblichen Stellen her gegeben sein. Schon die Befähigung und Beauftragung von Diakonen, die Krankensalbung zu spenden, könnte eine große Hilfe sein, zumal wenn damit gerechnet werden muss, dass in wenigen Jahren wegen des wachsenden Klerusmangels in unseren Krankenhäusern kaum noch ein Priester als hauptamtlicher Krankenseelsorger tätig sein wird.5 Eine Folge der derzeitigen Situation ist auch eine gewisse Abwertung des Sakraments, wenn – ähnlich wie beim „Ersatz“ der Eucharistiefeier durch einen Wortgottesdienst – an die Stelle der Krankensalbung durch einen Priester analoge Gebete durch LaienseelsorgerInnen treten. Dadurch kann dann beim Patienten und seinen Angehörigen das Bewusstsein entstehen, dass nun die sakramentale Krankensalbung überflüssig geworden sei. 4 „Erst seit der karolinigschen Renaissance wird die Salbung mehr und mehr dem Amtsträger vorbehalten...“ Gisbert Greshake, Art. Krankensalbung, II. Historischtheologisch u. III. Systematisch-theologisch, in: LThK 6, 1997, Sp. 419 – 423, hier S. 420. 5 Diese Kalkulation legt sich im Blick auf die Altersstruktur der derzeit noch aktiven Priester nahe, aber auch im Blick auf die Kinderzahlen in unserer Bevölkerung und die dafür maßgeblichen Gründe. Man braucht zwar Wunder in der Frage des Priesternachwuchses nicht auszuschließen, man sollte aber in der Planung der Diözesen nicht mit ihnen rechnen.

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Eine auch heute noch aktuelle Frage betrifft den Zeitpunkt der Krankensalbung. Leider wird nicht selten dieser Zeitpunkt von den Angehörigen oft ungebührlich hinaus gezögert. Man hat vielleicht die Sorge, der Patient könnte erschreckt werden. Auch der Kranke selbst zögert oft in diesem Sinne und meint, „es sei bei ihm noch nicht so weit“. Nicht selten herrscht dabei die Vorstellung, dass das Sakrament ja auch wirksam sei, wenn der Patient vielleicht bereits ins Koma verfallen ist, so dass man ihm dann die Angst vor dem Sakrament ersparen kann. Eine Erneuerungsbewegung in der Dogmatik zu Beginn des 20. Jh. wollte weg von einer „Bewusstlosigkeitssalbung“ und verstand dieses Sakrament als „Todesweihe“, später auch als „Sakrament der Auferstehung“ oder „Weihe des Auferstehungsleibes“ vor allem seit Herman Schell6. Es muss beachtet werden, dass auch bei der Krankensalbung eine gewisse Disposition vorauszusetzen ist. C. 1007 erlaubt die Spendung nur, wenn der Empfänger nicht offenkundig in einer schweren Sünde hartnäckig verharrt. Dabei ist doch wohl Bewusstsein vorausgesetzt. Und die Liturgie des Sakramentes umfasst ja auch das Schuldbekenntnis und die Bitte um Vergebung. Der Grundsatz, dass die Sakramente für die Lebenden seien, gilt natürlich auch hier und sollte so beachtet werde, dass der Patient nach Möglichkeit das Geschehen auch personal, d. h. mit Bewusstsein mit vollziehen kann. Wenn man den Gedanken des „ex opere operato“, der Wirksamkeit des Sakramentes unabhängig von der subjektiven Verfassung des Empfängers zu einseitig betont, verstärkt man damit die Tendenz zu einer möglichst späten Spendung des Sakramentes – möglichst bis zu einem Zeitpunkt, wo der Patient nichts mehr wahrnimmt und deshalb auch das Sakrament nicht mehr im Bewusstsein mit feiern kann. Sicher wird man in dieser Frage besonders auch im Blick auf die Angehörigen nicht zu eng sein dürfen. Aber man sollte doch den Tendenzen zu einer „Bewusstlosigkeitssalbung“ entgegen wirken. Es ist sehr wünschenswert, wenn bei einer Krankensalbung auch die Angehörigen anwesend sind. In einem Krankenhaus ist nicht zuletzt das Pflegepersonal dafür verantwortlich, die Angehörigen rechtzeitig zu verständigen. Der Patient oder die Patientin sollten bei diesem Sakrament spüren, dass sie nicht allein gelassen sind, dass die Menschen, die ihnen nahe stehen, für sie beten und sie begleiten. Den Angehörigen sollte eine geistliche Hilfe angeboten werden, dass sie bereit sind, den Patienten oder die Patientin in die ewige Ruhe eingehen zu lassen. Als besonders schön wird man es auch empfinden, wenn Ärzte und Pflegepersonal sich die Zeit nehmen, an diesem Geschehen mit teilnehmen. Sie bringen dadurch zum Ausdruck, dass auch für sie der Kranke nicht bloß ein Fall

6

Vorgrimler, Krankensalbung (Anm. 3), S. 668.

Krankenseelsorge

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medizinischer Technik ist, für den man sich nicht mehr zu sorgen braucht, wenn der Tod eingetreten ist, sondern ein Mensch mit allen seinen Dimensionen. Oft erkundigen sich dann auch die Angehörigen, wie der Patient, die Patientin verstorben ist, und erwarten einen Trost durch die Art des Todes und gerade auch das Geleit durch das gemeinsame Gebet. Einer besonderen seelsorgerlichen Betreuung bedürfen oft auch Personen, die dem schwer kranken Patienten nahe stehen. Besonders qualvoll kann es für eine Mutter sein, wenn sie ihr Kind verliert bei einer Totgeburt, einem Unfall oder einen tödlichen Krankheit. Das kann die Mutter sehr aufwühlen, so dass sie nach geistlichem Beistand verlangt. Oder man denke z. B. an jemanden, der einen Unfall verursacht hat, bei dem andere ums Leben gekommen sind oder schwere Verletzungen erlitten haben. Hier kann es sehr hilfreich sein, wenn der Betreffende bei Personen der Krisenintervention oder speziell mit einem Seelsorger den Kontakt aufnehmen, über den Unfall sprechen und seine Probleme ausdrücken kann. Es ist hier nicht notwendig eine Psychotherapie gefragt. Die heilende Kraft etwa einer Psychoanalyse ist ja bereits in jedem verständnisvollen Gespräch ansatzweise wirksam, wird freilich dann in der Psychotherapie systematisch und methodisch kontrolliert angewendet. Aber schon ein mitfühlendes, Anteil nehmendes Gespräch kann ein wahrer Trost sein. In der Krankenseelsorge muss sich die Sorge der Kirche um den Menschen in ganz besonderer Weise bewähren. Da geht es nicht um theoretische Probleme oder liturgische Experimente. Hier muss die Sorge um den Patienten glaubwürdig sein und zeigen, dass sie gerade auch dort zum Menschen steht, wo es um Leben und Tod geht, oder auch einfach um Dinge, die den Menschen zutiefst beschäftigen, die ihm vielleicht Angst machen oder sonst beschäftigen. Hier muss kirchliche Sorge um den Menschen zeigen, dass sie Freude und Leid des Menschen teilt und dass ihre Verkündigung und ihr Einsatz für den Menschen hilfreich sind. Man wird freilich immer wieder nachdenken müssen, wie man diesem Anliegen mehr entsprechen kann und wie man mehr tun kann, um dem Leben zu dienen.

Moral und Politik: Thomas Morus als Vorbild für die politischen Eliten Europas Von Wolfgang Palaver Während meines Grundstudiums an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck war ich so wie viele Kollegen meines Alters von einem tiefen Misstrauen gegenüber rechtlichen Aspekten der Kirche und der Theologie geprägt. Intuitiv sympathisierte ich mit Rudolf Sohms These, wonach alles Recht mit dem Wesen der Kirche unvereinbar sei. Als Befürworter einer „prophetischen“ Kirche und Theologie sah ich beispielsweise in Carl Schmitts Betonung, dass die katholische Kirche als „etwas wesentlich Juridisches“ zu verstehen sei, die genaue Gegenposition zu meiner eigenen Einstellung.1 Obwohl ich Schmitts Sicht nach wie vor für zu einseitig halte, glaube ich heute, dass eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Recht zwangsläufig auf einen apolitischen Moralismus hinauslaufen muss, der bedenkliche gesellschaftliche Konsequenzen nach sich zieht. Im folgenden Beitrag möchte ich diese Gefahr vor allem am Beispiel von Thomas Morus anschaulich machen. Ein langer Weg liegt zwischen meiner Haltung zu Beginn meines Studiums und meiner heutigen Position. Langsam und allmählich begann ich zu verstehen, worin die positive Bedeutung des Rechts liegt. Hilfreich war dabei auch ein Seminar, das ich bei Johannes Mühlsteiger über Fragen der Demokratie in der Kirche belegte. Obwohl damals unsere Kirchenbilder und theologischen Einstellungen recht weit auseinander lagen, lernte ich dabei einen Professor kennen, der mit großer Geduld und Toleranz meine mit Eifer vorgetragenen „radikalen“ Thesen ernst nahm und mir so indirekt half, selbst mit der Zeit eine solidere Einsicht zu entwickeln. Gerne beteilige ich mich daher mit diesem Beitrag an der vorliegenden Festschrift. Im Herbst 2000 wurde Thomas Morus (1478 – 1535) von Papst Johannes Paul II. zum Heiligen der Regierenden und Politiker erklärt.2 Mittels des Beispiels

1 Carl Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, München 21925 (= Neuausgabe: Stuttgart 1984), S. 23 f. und 49 f. 2

Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben zur Ausrufung des heiligen Thomas Morus zum Patron der Regierenden und der Politiker, in: AAS 93 (2001), S. 76 ff. Vgl. dazu auch Kongregation für die Glaubenslehre, Lehrmäßige Note zu einigen Fragen

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Wolfgang Palaver

dieses großen Humanisten, Politikers, Märtyrers und katholischen Heiligen möchte ich in diesem Beitrag das Verhältnis von Moral und Politik beleuchten und nach möglichen Konsequenzen für das gegenwärtige Europa fragen. Dabei werde ich vor allem auf zwei Gefahren hinweisen, die dem Verhältnis von Moral und Politik innewohnen: einerseits auf den antipolitischen Moralismus und andererseits auf den realpolitischen Zynismus. Thomas Morus’ Leben antwortet auf beide Versuchungen. Sein tiefes – kirchlich vermitteltes – Gottvertrauen und seine damit verbundene Ausrichtung auf eine transzendente Wahrheit gaben ihm die notwendige geistige Kraft, weder alle Politik moralistisch zu verdammen noch dem Zynismus reiner Realpolitik zu verfallen. In einem letzen Abschnitt soll im Anschluss an Thomas Morus gefragt werden, wie dessen Orientierung an einer transzendenten Wahrheit auch für die Politik unserer demokratischen Gegenwart fruchtbar werden könnte. Bleibt auch das Ethos gegenwärtiger politischer Eliten Europas auf eine transzendente Wahrheit angewiesen? Am Beginn des 19. Jahrhunderts betonte der französische Soziologe und Historiker Alexis de Tocqueville (1805 – 1859), dass gerade eine humane Demokratie von der Ausrichtung der Menschen auf eine religiöse Wahrheit abhängig bleibe. Politikern riet er, zumindest so zu handeln, als ob sie an die Unsterblichkeit der Seele glauben würden, um dadurch den Bürgern ein gutes moralisches Vorbild zu geben. In unserer eigenen Gegenwart mahnte der ehemalige tschechische Präsident Václav Havel immer wieder die Notwendigkeit der Transzendenz ein, um Moral und Politik miteinander verbinden zu können. I. Die Gefahr des antipolitischen Moralismus Am Beginn soll jene Gefahr stehen, die zu den zentralen Versuchungen meines Berufes – des Moraltheologen bzw. Sozialethikers – gehört und in einer einseitigen Entlastung des Spannungsverhältnisses von Moral und Politik in Richtung des Moralismus besteht. Die Politik wird dann sehr leicht als ein bloß schmutziges Geschäft angesehen, von dem sich jeder ehrliche Mensch möglichst weit fern halten sollte. Alle politische Macht sei letztlich mit dem Wesen des Satans selbst identisch und „an sich böse“. Diese moralistische Sicht der Politik ist heute weit verbreitet und erklärt unter anderem das zunehmende Fehlen engagierter Christen in der europäischen Politik. Das Beispiel des Thomas Morus steht gegen diese moralistische Versuchung, ohne dass er die harte Realität der Politik verleugnet hätte. Wie am Beginn des 20. Jahrhunderts Max Weber und Helmuth Plessner deutlich ge-

über den Einsatz und das Verhalten der Katholiken im politischen Leben vom 24. November 2002 (= VApSt 158), Bonn 2002, S. 3 (Nr. 1).

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macht haben, gehört zum politischen Geschäft der Mut, mit dem Teufel zu rechnen und ihn zu verstehen.3 Thomas Morus hatte diesen Mut. Morus rang – wie ein Hinweis in seinem berühmten Werk Utopia zeigt – mit der Frage, ob ein Mensch wie er überhaupt politisch tätig werden dürfe.4 Er überwand seine Zweifel und stieg bis zum Lordkanzler von König Heinrich VIII. auf. Für Morus stellte sich die politische Welt tatsächlich als eine große Bühne dar, in der man auch den Umgang mit dem Teufel lernen musste. Eine literarische Darstellung seines Lebens hat dieses Problem deutlich herausgearbeitet. Robert Bolts berühmtes und erfolgreich verfilmtes Theaterstück Ein Mann für jede Jahreszeit enthält eine Szene, die zeigt, wie Morus für die Vorherrschaft des Rechts – the rule of law, d. h. die Vorformen unseres heutigen Rechtsstaates – Partei ergriff und nicht vorschnell jener oft theologisch motivierten Versuchung nachgab, alles menschliche Recht in Frage zu stellen, nur weil es auch dem Teufel den Schutz des Gesetzes gewährt und damit gewisse Schlupfwinkel offen hält. William Roper, Morus’ junger und theologisch radikalisierter Schwiegersohn protestiert gegen ein solches Rechtsverständnis: „Dann dürfte jetzt also auch der Teufel seinen Vorteil aus den Gesetzen ziehen?“5 Morus bejaht diese Frage und warnt vor Ropers Ansinnen, eine Schneise in den Wald der Gesetze zu schlagen, nur um dadurch den Teufel besser dingfest machen zu können. Morus weiß, dass das Recht von Menschen gemacht ist und sich vom Gesetz Gottes unterscheidet, aber jede vorschnelle Verabschiedung des menschlichen Rechts, würde nur ein Chaos der Gewalt heraufbeschwören: „Und wenn das letzte Gesetz gefällt wäre und der Teufel sich gegen Dich wenden würde – wo würdest Du Zuflucht nehmen, Roper, wenn es kein Gesetz mehr gibt? Dieses Land ist von Küste zu Küste dicht mit Gesetzen bepflanzt – menschlichen Gesetzen, nicht göttlichen – und wenn Du diese fällst – und Du wärest gerade der richtige Mann dies zu tun – denkst Du wirklich, Du könntest in jenen Stürmen aufrecht stehen, die dann losbrechen würden? Ja, ich würde den Teufel Nutzen aus den Gesetzen ziehen lassen, zu meiner eigenen Sicherheit.“6 Diese Überlegungen 3

Vgl. Wolfgang Palaver, Die antike Polis im Lichte biblischer Gewaltanschauung. Die mimetische Theorie René Girards zum Problem des Politischen, in: Die Aktualität der Antike. Das ethische Gedächtnis des Abendlandes. Hrsg. v. Christof Gestrich (= Beiheft 2002 zur Berliner Theologischen Zeitschrift), Berlin 2002, S. 65 – 85, hier S. 69. 4 Vgl. Thomas Morus, Utopia. Übertragen von G. Ritter. Mit einem Nachwort von E. Jäckel, Stuttgart 1979, S. 20 – 23. 5

Robert Bolt, A Man for All Seasons: A Play in Two Acts, New York 1990, S. 66: „So now you’d give the Devil benefit of law!“ 6

Bolt, Man (Anm. 5), S. 66: „And when the last law was down, and the Devil turned round on you – where would you hide, Roper, the laws all being flat? This country’s planted thick with laws from coast to coast – man’s laws, not God’s – and if you cut them down – and you’re just the man to do it – d’you really think you could stand up-

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von Morus sind bis heute wichtig geblieben. Auch wenn wir wissen, dass der Rechtsstaat nicht schon die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden ist, darf alle moralische Kritik an Recht und Politik nicht vergessen, dass es hier um Institutionen geht, die für das friedliche Zusammenleben der Menschen auch dann wesentlich sind, wenn sie grundsätzlich und immer unvollkommen bleiben werden. Die Versuchung des Moralismus gibt es nicht nur als politische Enthaltsamkeit oder als Flucht aus der Politik. Sie zeigt sich auch in der Gefahr des politischen Moralismus, der mit bloß menschlichen Mitteln eine absolute Gerechtigkeit hier auf Erden durchsetzen will.7 Wir erkennen diese Gefahr, wo in einer Kreuzzugsmentalität auf absolut böse Feinde Jagd gemacht wird oder Menschenrechte relativiert werden, um den Krieg gegen den Terrorismus uneingeschränkt führen zu können. Auch der politische Moralismus wird der Aufgabe einer moralischen Politik nicht gerecht. Theologisch gesehen sind alle Formen des Moralismus von einem gefährlichen Dualismus geprägt, der ein absolut widergöttliches Prinzip des Bösen annimmt, das man entweder ausrotten oder von dem man sich unbedingt fernhalten müsse. In Wirklichkeit ist aber alles Böse nur ein gefallenes Gutes, ein Teil jener grundsätzlich guten Schöpfung, die genau so erlösungsfähig bleibt, so wie wir alle nicht frei vom Bösen sind und als Pilger auf Erden auf die endgültige Erlösung warten.8 Wo das Vertrauen in Gott groß genug ist, verliert der right in the winds that would blow then? Yes, I’d give the Devil benefit of law, for my own safety’s sake.“ 7

Vgl. Hermann Lübbe, Politischer Moralismus. Der Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft, Berlin 21987. – Ulrich H. J. Körtner, Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen 1999, S. 191 – 196, betont am Beispiel der Friedensethik gegen eine solche Haltung des politischen Moralismus ausdrücklich die theologisch notwendige Distanz gegen jeden menschlichen Machbarkeitsglauben und alle Formen einer menschlichen Globalverantwortung: „Aus der theologischen Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Verantwortung folgt eine humane Selbstbegrenzung ... auf dem Gebiet der Friedenspolitik. Ebenso problematisch wie ein prinzipieller Pazifismus sind militärpolitische Allmachtsphantasien. ... Zum christlichen Glauben gehört allemal eine gute Portion Skepsis, sowohl gegenüber jedem moralischen Enthusiasmus, als auch gegenüber einem übersteigerten Sicherheitsdenken, welche beide in einer Art von Omnipotenz- und Ubiquitätswahn für alles und jedes Verantwortung übernehmen wollen. Jeder Utopie einer neuen Weltordnung wie auch jeder Form von Friedensrhetorik ist aus christlicher Sicht kritisch zu begegnen. ... Im umfassenden Sinne des Wortes ist Frieden von Menschen nicht zu schaffen und weder zu erzwingen noch zu garantieren. Er bleibt eine die Grenzen des Machbaren transzendierende Gabe.“ (S. 195). 8 Vgl. Wolfgang Palaver, Biblisches Ethos und Politik, in: Theologische Ethik heute. Antworten für eine humane Zukunft. Hans Halter zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. A. Bon-

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Teufel seinen faszinierenden Schrecken. Wir brauchen ihn nicht mehr als einen Götzen im Himmel verehren, sondern können ihm viel gelassener hier auf Erden widerstehen (Eph 4,27), wo seine Macht bereits gebrochen (Lk 10,18; 1 Joh 3,8) und seine Tage schon gezählt sind (Offb 12,12). II. Die Gefahr des realpolitischen Zynismus Die Kritik am antipolitischen Moralismus darf aber nicht in den anderen Graben führen, der in der völligen Trennung von Moral und Politik besteht. Auch diese Gefahr ist heute unübersehbar und zeigt sich beispielsweise in einer weitgehenden Ziellosigkeit gegenwärtiger Politik. Nur sehr selten wird heute in der Politik noch von Idealen, Visionen und Utopien gesprochen. Auch wenn kein österreichischer Bundeskanzler tatsächlich gesagt haben sollte, dass Men-

dolfi / H. J. Münk, Zürich 1999, S. 353 – 370, hier S. 362 – 366. Vgl. dazu auch ein bei Carl Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber. Gespräch über den Neuen Raum, Berlin 1994, S. 24, erwähntes Zitat von Gregor dem Großen: „Gott ist die höchste Macht und höchstes Sein. Alle Macht ist von ihm und ist und bleibt in ihrem Wesen göttlich und gut. Sollte der Teufel Macht haben, so ist auch diese Macht, insofern sie eben Macht ist, göttlich und gut. Nur der Wille des Teufels ist böse. Aber auch trotz dieses immer bösen, teuflischen Willens bleibt die Macht an sich göttlich und gut.“ Schmitt, Gespräch S. 26, stellt dieses Zitat der Behauptung Jakob Burckhardts, dass alle Macht an sich böse sei, entgegen und erkennt darin eine direkte Folge des Immanentismus: „Gerade seit dem Zeitalter, in dem diese Vermenschlichung der Macht sich zu vollenden scheint – seit der französischen Revolution –, verbreitet sich nun unwiderstehlich die Überzeugung, daß die Macht an sich böse ist. Der Ausspruch Gott ist tot und der andere Ausspruch Die Macht ist an sich böse stammen beide aus derselben Zeit und derselben Situation. Im Grunde besagen beide dasselbe.“ Vgl. dazu auch Nr. 395 im Katechismus der katholischen Kirche: „Die Macht Satans ist jedoch nicht unendlich. Er ist bloß ein Geschöpf; zwar mächtig, weil er reiner Geist ist, aber doch nur ein Geschöpf: er kann den Aufbau des Reiches Gottes nicht verhindern. Satan ist auf der Welt aus Haß gegen Gott und gegen dessen in Jesus Christus grundgelegtes Reich tätig. Sein Tun bringt schlimme geistige und mittelbar selbst physische Schäden über jeden Menschen und jede Gesellschaft. Und doch wird dieses sein Tun durch die göttliche Vorsehung zugelassen, welche die Geschichte des Menschen und der Welt kraftvoll und milde zugleich lenkt. Daß Gott das Tun des Teufels zuläßt, ist ein großes Geheimnis, aber ‚wir wissen, daß Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt‘ (Röm 8,28).“ In Nr. 2852 des Katechismus findet sich dazu auch ein interessantes Zitat von Ambrosius: „Der Herr, der eure Sünden weggenommen und eure Verfehlungen vergeben hat, ist imstande, euch vor den Listen des Teufels, der gegen euch kämpft, zu schützen und zu behüten, damit der Feind, der gewohnt ist, Sünde zu erzeugen, euch nicht überrasche. Wer sich Gott anvertraut, fürchtet den Teufel nicht. ‚Ist Gott für uns, wer ist dann gegen uns?‘ (Röm 8,31)“ (Ambrosius, sacr. 5,30).

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schen mit Visionen zum Arzt gehörten, beschreibt dieser angebliche Ausspruch dennoch treffend unsere politische Gegenwart. Visionäre Politiker sind kaum noch zu finden. Politiker mutierten zu Managern, die immer mehr den Vorstandsvorsitzenden großer Aktiengesellschaften gleichen. Waren auf bürgerlicher Seite Ideologien, Utopien und Visionen nie besonders hoch im Kurs, haben sich heute die Spuren einer solchen Ausrichtung auch auf linker Seite verflüchtigt. Politiker wie Tony Blair oder Gerhard Schröder stehen für keine ideologische Politik mehr. Nach Blairs New Labour geht es nicht mehr um linke Ideen, sondern nur noch um „gute Ideen“, d. h. um Ideen, die funktionieren. Wo aber Politik sich auf das bloße Funktionieren beschränkt, hat sie sich selbst schon aufgegeben.9 Sie gleicht dann ganz der vorherrschenden Logik des kapitalistischen Marktes. Die Autofirma Volkswagen bietet in ihrer Selbstdeutung des eigenen Firmenlogos ein markantes Beispiel für die grundsätzliche Ziellosigkeit des gegenwärtigen Kapitalismus: Der „Kreis ist das Symbol von Volkswagen. Hier zeigt sich der Mythos der Marke: ,Spirit of evolution‘ ... Wie in einem Kreislauf wird der stetige Wandel der Marke ... symbolisch sichtbar. Das Endziel ist Fiktion – die immer währende Verbesserung der Weg.“10 Dieses Selbstverständnis von Volkswagen ist heute vielfach auch als ein politisches Grundmuster zu beobachten. Innovation, Informatik und Internet sind gebetsmühlenartig verwendete politische Zauberbegriffe unserer Gegenwart, die bloße Mittel zum scheinbaren Ziel erheben.11 Die Modernisierung ohne jede Ausrichtung auf substantielle Ziele gilt schon als politisches Programm. Eine solche ziellose Politik scheitert aber schon an der politischen Aufgabe, der Wirtschaft einen ordnenden Rahmen zu bieten, weil sie mit der ökonomistischen Logik identisch geworden ist. Diese Utopielosigkeit heutiger Politik hat allerdings ihre tieferen und berechtigten Gründe. Sie ist vor allem eine Reaktion auf ein ideologisches Jahrhundert, das so viel Gewalt über die Welt gebracht hat, dass heute utopische Ziele in der Politik grundsätzlich als verdächtig gelten. Ist aber nicht gerade Thomas Morus der Vorvater aller modernen Utopien, die ja von seinem Buch Utopia ihren Namen herleiten? Tatsächlich zeigen sich

9

Vgl. Slavoj Zizek, Ein Plädoyer für die Intoleranz. Aus dem Englischen von A. L. Hofbauer, Wien 1998, S. 39. 10

Zit. nach Martin Mosebach, Mythos der Marke. Die Autoindustrie verkauft keine Autos, sondern religiöse Offenbarungen. Notizen zum Weltbild der Werbung, in: Die Zeit, Nr. 11 (8. März 2001), S. 49. 11

Vgl. Jürgen Kaube, Die Bildungsmaschinistin: Edelgard Bulmahns ideologiefreie Ideologie. Welt als Wille ohne Vorstellung: Edelgard Bulmahns Politik, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 42 (19. Februar 2002), S. 47.

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in Morus’ Werk bereits deutliche Spuren jener moralistischen Politik, die aus einer absoluten Selbstgerechtigkeit heraus radikal alle jene Menschen zu beseitigen versucht, die der Errichtung des Himmels auf Erden entgegenstehen. Die mörderischen Utopien des 20. Jahrhunderts haben die hier angelegten Spuren nur konsequent zu Ende gedacht.12 Ein solcher Vorwurf gegen Morus wäre aber nicht nur ungerecht, sondern insofern falsch, weil er die ironische Distanz des englischen Staatsmannes seinem eigenen Werk gegenüber verkennt.13 Schon der Name Utopia muss wörtlich als ein Nirgendland verstanden werden, also als eine Gesellschaft, die niemals so existieren kann. Der Hauptfluss von Utopia Anydrus, meint ebenso ironisch einen wasserlosen Fluss. Der Name der Hauptstadt der Utopier Amaurotum bezeichnet eine Nebelstadt und mit Ademos, dem Titel des Staatsoberhauptes der Utopier, wird ironisch auf einen Herrscher ohne Volk hingewiesen. Auf einer tieferen Ebene korrespondiert damit der Hinweis, dass die Utopier in ihrem Staat den Stolz ausrotten konnten und damit eine Welt außerhalb der Erbsünde darstellen. Für den Christen Morus war eine solche Gesellschaft letztlich nicht wirklich möglich. Morus war kein Utopist im modernen Sinne dieses Begriffs, sondern steht in der Tradition von Augustinus und dessen Unterscheidung eines irdischen und eines himmlischen Staates.14 Der irdische Staat ist nach Augustinus von der Erbsünde geprägt und nur durch die Wirkung der Gnade können die Menschen Mitglieder des himmlischen Staates werden, der teilweise noch auf Erden pilgert, bis er schließlich an sein ewiges Ziel gelangen wird. Als Pilger wirkte Morus im Bereich der irdischen Politik, die für ihn kein letztes Ziel bedeutete. Seine Kritik der herrschenden Zustände, die er in seiner Utopia zum Ausdruck bringt, speist sich aus der grundsätzlichen Distanz des himmlischen zum irdischen Staat. Eine letzte vollkommene Gerechtigkeit kann damit nicht durch den Menschen selbst hergestellt werden, sondern bleibt ein Geschenk Gottes. Wo Morus also ein ideale Gesellschaft beschreibt, distanziert er sich gleichzeitig wieder ironisch von diesem Entwurf, weil er dessen Verwirklichung nicht ernsthaft anstrebt.15 Sein Werk unterscheidet sich damit wesentlich von jenen

12

Vgl. Eric Voegelin, „Die spielerische Grausamkeit der Humanisten“. Eric Voegelins Studien zu Niccolò Machiavelli und Thomas Morus. Aus dem Englischen und mit einem Vorwort von D. Herz, Nachwort von P. J. Opitz, München 1995, S. 97 – 121. 13

Vgl. Peter Ackroyd, The Life of Thomas More, New York 1999, S. 165 – 179.

14

Vgl. ebd., S. 104 – 106.

15

Antiutopisten wie Eric Voegelin und Carl Schmitt haben das Werk des Thomas Morus von späteren modernen Utopien unterschieden. Voegelin, Studien (Anm. 12), S. 108 f: „Das ‚Ideal‘ von Morus ist ein Instrument der Sozialkritik. Dieses Instrument

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modernen Utopien, die keine ironische Distanz mehr zu ihren Zukunftsvisionen kannten und ohne alle Hoffnung auf die göttliche Gnade die Vollendung der Welt in eigener Regie vornehmen wollten. Die heutige Distanz zu allen Formen des visionären Denkens ist der Preis, den wir für die gewaltsamen Durchsetzungsversuche moderner Utopien bezahlen müssen. Thomas Morus ist nicht nur ein Beispiel gegen den antipolitischen Moralismus, sondern er steht gleichzeitig auch gegen die Trennung von Moral und Politik. Deutlich zeigt sich das an seinem Lebensweg, der im Martyrium mündete, als er sich weigerte, der Auflösung der Ehe seines Königs Heinrich VIII. zuzustimmen und er vor allem auch den Eid auf die Überordnung des englischen Staates über die Kirche (Suprematseid von 1534) verweigerte. Sein durchaus pragmatisches Verständnis von Politik kam dort an eine Grenze, wo die Politik von der tradierten Moral und der kirchlich überlieferten Wahrheit abgetrennt werden sollte. Für Morus war hier eine Grenze erreicht, die nicht überschritten werden durfte. Vorsichtig wollte er durch seinen Rücktritt als Lordkanzler und sein beharrliches Schweigen über seine persönliche Haltung zu diesen umstrittenen Fragen den tödlichen Gefahren einer amoralisch gewordenen Politik entkommen. Doch der König und die mit ihm herrschenden Personen versperrten ihm diesen Ausweg und wollten ihn zu einer öffentlichen Unterstützung der neuen Ordnung zwingen. Morus’ konsequentes Festhalten an einer Wahrheit, die für ihn im Übernatürlichen, im himmlischen Staat, ihr eigentliches Fundament hatte, kostete ihn das Leben. Er wurde 1535 enthauptet. Die Verbindung von Moral und Politik bei Thomas Morus wurzelt in seiner Ausrichtung auf den transzendenten Gott und dessen ewige Güter. Dieses Ziel hat seinen historischen Platz auf halbem Weg zwischen christlichem Spiritualismus und der späteren massiven Eschatologie der sozialen Revolution. Das ‚Ideal‘ ist insoweit ernst gemeint, als es die sozialen Übel der Zeit angreift; es ist im Prinzip nicht ernst gemeint als ein tatsächliches Reformprogramm.“ – Vgl. Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen der Jahre 1947 – 1951. Hrsg. v. E. Freiherr von Medem, Berlin 1991, S. 76: „Die Civitas Dei des Augustinus ist bestimmt keine Utopie. Warum nicht? Das entschiedene Jenseits schließt die Utopie aus. Also Diesseits-Charakter der Utopie? Wo bleibt ihr satirischer Charakter? Ironie nur gegenüber der zu widerlegenden Gegenwart, nicht gegenüber dem Idealzustand.“ – S. 112 f: „Das spezifisch Utopische: die humorlose Planung. Ironie und Humor bei Morus, Butler, Huxley, sind englische Zutat, nicht Wesen der Ironie. Utopie ist für sie ein Vehikel der Zeitkritik, der Ironie etc. Den französischen Utopisten ist es bitter ernst polemische. ... Das Wesen der Utopie ist humorlose Planung. Ortlos = humorlos. Thomas Morus: ein durch humanistische Bildung und englischen Humor gemilderter Architekt sozialrationalistischer Konstrukturen. Humor ist das Nasse, das Maritime. Man muß alle Utopien daraufhin prüfen, wie sie die Gräber und Friedhöfe behandeln. Die meisten werden nicht davon sprechen. In einer echten Utopie sind nur Krematorien zulässig. Die Utopie höhlt den Himmel aus.“

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stand für ihn an oberster Stelle, dem alle anderen Ziele, auch sein Wirken als Politiker untergeordnet blieben. Robert Bolts Theaterstück bringt auch diese Dimension anschaulich zur Sprache, als Morus jenem Richard Rich gegenübersteht, dessen Meineid seine Hinrichtung möglich machte. Rich war – gemäß dem Theaterstück – ein junger Ehrgeizling, der lange Zeit mittels der Hilfe von Morus zu einem einflussreichen Posten zu kommen versuchte. Um seine Person ging auch der Streit zwischen Morus und Roper, als sie auf den Teufel und dessen Verhältnis zum Recht zu sprechen kamen. Als Rich zu den Gegnern von Morus überlief, riet Roper seinem Schwiegervater, diesen verhaften zu lassen. Doch Morus verweigerte sich diesem Ansinnen, weil auch die offenkundige Bosheit eines Menschen noch keine rechtliche Grundlage zu dessen Verhaftung gebe. Rich wechselte das Lager und lieferte Morus durch einen Meineid dem Scharfrichter aus. Als sie im Gerichtssaal einander gegenüberstanden, sah Morus, dass Rich inzwischen zum Staatsanwalt von Wales aufgestiegen war. Sogleich sprach er diesen auf den Preis seines gesellschaftlichen Aufstiegs an: „Für Wales? Warum, Richard, es nützt doch einem Mann nichts, seine Seele für die ganze Welt zu geben ... Aber für Wales!“16 Mit dieser ironischen Bemerkung spielt Morus auf Mt 16,26 („Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, aber an seiner Seele Schaden leidet?“), eine bekannte Bibelstelle an, die sowohl für ein tieferes Verständnis der Persönlichkeit von Thomas Morus bedeutsam ist, als auch ein zentrales Element jeder christlichen Betrachtung des Verhältnisses von Moral und Politik darstellt. Diese Bibelstelle, die seit Rerum novarum wie ein theologisches Wasserzeichen beinahe alle Sozialenzykliken der katholischen Kirche prägt, zielt auf den prinzipiellen Vorrang der Ausrichtung auf das Reich Gottes vor allen anderen weltlichen Tätigkeiten. Unser weltliches Tun ist durch dieses vorrangige Ziel nicht entwertet, sondern erfährt dadurch seinen entsprechenden Platz in einer umfassenden Wertordnung.17 Diese Ausrichtung des Lebens ermöglicht es den Menschen,

16 Bolt, Man (Anm. 5), S. 158: „For Wales? Why, Richard, it profits a man nothing to give his soul for the whole world ... But for Wales!“ 17

Leo XIII., Enzyklika Immortale Dei Nr. 1, in: ASS 18 (1885/86), S. 186: „Wenngleich die heilige Kirche, dieses unsterbliche Werk des barmherzigen Gottes, an sich und ihrer Natur nach das Heil der Seelen und die einstige Glückseligkeit im Himmel zur Aufgabe hat, so gehen doch von ihr so große und reiche Segnungen aus auch über das, was der Vergänglichkeit angehört, daß, wäre sie zunächst und vorzugsweise für die Wohlfahrt dieses irdischen Lebens gegründet worden, diese zahlreicher und größer nicht sein könnten.“ Zit. nach Päpstliche Verlautbarungen zu Staat und Gesellschaft. Originaldokumente mit deutscher Übersetzung. Hrsg. v. Helmut Schnatz, Darmstadt 1973, S. 99. – Vgl. II. Vat. Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et spes Nr. 42: „Die ihr eigene Sendung, die Christus der Kirche übertragen hat, bezieht sich zwar nicht auf den politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Bereich: das Ziel, das Christus ihr gesetzt hat,

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sowohl der Sackgasse des Moralismus zu entgehen als auch die Trennung von Moral und Politik zu überwinden. Weil Morus’ Persönlichkeit – wie Johannes Paul II. richtig bemerkt – von einer „Harmonie zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen“18 bestimmt war, konnte er in seinem Leben sowohl der Versuchung des antipolitischen Moralismus als auch der Gefahr einer reinen Realpolitik entkommen. III. Der Transzendenzglaube als Voraussetzung für ein Ethos der politischen Eliten im gegenwärtigen Europa Für Morus lässt sich problemlos zeigen, dass der Transzendenzglaube seine persönliche Verbindung von Moral und Politik ermöglichte. Kann aber dieser an der Schwelle zwischen katholischem Mittelalter und moderner Welt stehende Staatsmann auch ein Vorbild für unsere Gegenwart sein? Selbst Papst Johannes Paul II. kommt nicht umhin, von den „Grenzen der Kultur seiner Zeit“19 zu sprechen, wenn er vorsichtig darauf hinweist, dass Morus aktiv an der Verfolgung protestantischer Häretiker beteiligt war. Sollen wir also diesen Verteidiger eines untergehenden katholischen Mittelalters zu einem politischen Vorbild eines modernen Europas erheben, das – wenn es sich überhaupt für die Frage der Religion interessiert – sicher kein römisch-katholisches Europa sein kann, sondern einen ökumenischen Geist benötigt, der noch weit über die Grenzen der christlichen Konfessionen hinausgehen muss? Ich glaube, dass sich Morus als politisches Vorbild für unser modernes Europa eignet, wenn wir ihn nicht als Vorkämpfer eines engen Katholizismus verstehen, sondern in ihm einen Staatsmann erkennen, dessen politisches Wirken in der Welt von einer tieferen Ausrichtung auf die Transzendenz Gottes, das ewige Ziel des menschlichen Lebens, getragen war. Diese grundsätzliche Offenheit des Thomas Morus auf ein über unser Leben und unsere Welt hinausgehendes Ziel bleibt auch für unsere Welt von zentraler Bedeutung. Sie bildet den Kern jeder echten und dauerhaften Verbindung von Moral und Poli-

gehört ja der religiösen Ordnung an. Doch fließen aus eben dieser religiösen Sendung Auftrag, Licht und Kraft, um der menschlichen Gemeinschaft zu Aufbau und Festigung nach göttlichem Gesetz behilflich zu sein. Ja wo es nötig ist, kann und muß sie selbst je nach den Umständen von Zeit und Ort Werke zum Dienst an allen, besonders an den Armen, in Gang bringen, wie z. B. Werke der Barmherzigkeit oder andere dieser Art.“ 18

Johannes Paul II., Schreiben (Anm. 2), Nr. 4, AAS 93 (2001), S. 79.

19

Ebd.

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tik und ist die einzige Möglichkeit, dem sich zunehmend ausbreitenden Kult eines religiösen Kapitalismus zu widersetzen.20 Thomas Morus’ politische Vorbildwirkung als eines von der Tugend der Hoffnung geprägten christlichen Politikers beschränkt sich nicht auf das Modell der Monarchie, sondern ist in unserer demokratischen Welt sogar noch wichtiger geworden.21 Der heute vielfach wiederentdeckte französische Soziologe und Historiker Alexis de Tocqueville hat bereits im 19. Jahrhundert die Angewiesenheit jeder humanen Demokratie auf ein transzendentes, religiöses Ziel betont.22 Nach Tocqueville benötigt die Demokratie mehr die Religion als alle monarchischen oder despotischen Regime. „Der Despotismus kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht. Der Republik ... ist die Religion viel notwendiger als der Monarchie ... und den demokratischen Staatswesen mehr als allen anderen. Wie könnte die Gesellschaft dem Untergang entrinnen, wenn sich das sittliche Band nicht festigt, derweil das politische sich lockert? Und was soll man tun mit einem Volk, das als Herr seiner selbst nicht Gott untertan ist?“23 Für Tocqueville wäre der sich heute vor allem in Europa ausbreitende Rechtspopulismus ein deutliches Beispiel einer demokratischen Verfallsform, die kein transzendentes Ziel mehr über sich anerkennt. Erst durch die Religion erhält die Demokratie eine sittliche Grundlage. Ähnlich wie für das Leben von Morus der Vorrang des himmlischen Staates vor dem irdischen Staat bestimmend war, betont auch Tocqueville die notwendige Ausrichtung auf ein überirdisches Ziel: „Die Gesetzgeber der Demokratien und alle in ihr lebenden ehrbaren und gebildeten Menschen müssen ... beständig darauf aus sein, die Seelen zu heben und sie auf den Himmel gerichtet zu halten. Alle, denen die Zukunft der demokratischen Gesellschaft am Herzen liegt, müssen sich zusammentun und einhellig und fortwährend dahin wirken, in diesen Gesellschaften den Sinn für das Unendliche, das Gefühl für Größe und die Liebe zu geistigen Freuden zu verbrei-

20

Vgl. Wolfgang Palaver, Kapitalismus als Religion, in: Quart Nr. 3+4 (2001), S. 18 – 25. 21

Vgl. Stanley Hauerwas, Hope Faces Power: Thomas More and the King of England, in: Ders., Christian Existence Today: Essays on Church, World and Living in Between, Durham 1988, S. 199 – 219. 22

Vgl. Wolfgang Palaver, Die ethischen Grenzen des Mehrheitsprinzips. Zur politischen Theologie der Demokratie, in: Ethik und Demokratie. 28. Fachkongress für Moraltheologie und Sozialethik (Sept. 1997/Münster). Hrsg. v. A. Autiero, Münster 1998, S. 85 – 111, hier S. 88 – 90. 23

Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Erster Teil von 1835. Aus dem Französischen neu übertragen von H. Zbinden, Zürich 1987, S. 444.

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Wolfgang Palaver

ten.“24 Wenn Tocqueville vom notwendigen religiösen Fundament der Demokratie spricht, beschränkt er diese Einsicht keineswegs auf den Katholizismus seiner eigenen Jugend. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts betonte er, dass der östliche Reinkarnationsglaube einen besseren Partner für die Demokratie bildet als der atheistische Materialismus: „Sicherlich ist der Seelenwanderungsglaube nicht vernünftiger als der Materialismus; wenn indessen eine Demokratie unbedingt zwischen beiden zu wählen hätte, so zögere ich nicht und wäre der Meinung, daß die Bürger weniger Gefahr laufen zu verrohen, wenn sie denken, ihre Seele werde in ein Schwein eingehen, als wenn sie glauben, sie sei nicht vorhanden.“25 Am Beispiel von Tocqueville zeigen sich also schon erste Spuren jener notwendig gewordenen ökumenischen Offenheit über die Grenzen christlicher Religiosität hinaus. Der französische Soziologe hilft uns aber auch dort wichtige Antworten für unsere Welt zu finden, wo er das Problem einer zu engen Bindung der Kirche an den Staat ansprach und wusste, dass in einer Welt, in der viele Menschen nicht mehr an Gott glauben können, das religiöse Fundament der Demokratie nur schwer zu bewahren sein wird. Er selbst wird heute oft als Agnostiker bezeichnet, der allerdings unbedingt am politischen Wert der Religion festhalten wollte: „Läßt sich leicht erkennen, daß es vor allem in Zeiten der Demokratie darauf ankommt, den Lehren des Übersinnlichen zur Herrschaft zu verhelfen, so ist es nicht einfach zu sagen, wie die Regierenden in demokratischen Völkern diese Herrschaft verwirklichen sollen.“26 Klar sprach sich Tocqueville gegen das Modell der Staatsreligion aus, weil er darin eine Gefährdung der Kirche sah, und entschieden trat er auch gegen politisch aktive Priester auf. Für ihn war das Festhalten am traditionellen Christentum in den sich neu entwickelnden Demokratien so wichtig, dass er die „Priester lieber im Heiligtum einsperren als sie aus ihm herausgehen lassen möchte“.27 Tocquevilles Rat an die Politiker verlangt ihre religiöse Vorbildwirkung, selbst wenn sie nicht mehr an ein transzendentes Ziel des Lebens glauben können: „Ich glaube, das einzige Mittel, dessen sich die Regierenden bedienen können, um dem Dogma von der Unsterblichkeit der Seele Geltung zu verschaffen, besteht darin, täglich so zu handeln, als glaubten sie selbst daran; und ich denke, nur indem sie in den großen Angelegenheiten gewissenhaft der religiösen Moral folgen, können sie

24 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Zweiter Teil von 1840. Aus dem Französischen neu übertragen von H. Zbinden, mit einem Nachwort von Th. Eschenburg, Zürich 1987, S. 213 f. 25

Ebd., S. 215.

26

Ebd., S. 217.

27

Ebd.

Thomas Morus als Vorbild für die politischen Eliten Europas

281

hoffen, die Bürger zu lehren, sie in den kleinen Dingen zu kennen, zu lieben und zu achten.“28 Dieser Rat Tocquevilles scheint aber heute nicht mehr relevant zu sein. Ist es in unserer Gegenwart überhaupt noch vorstellbar, dass Politiker in religiöser Hinsicht als Vorbilder wirken? Vorschnell sollten wir allerdings eine solche Möglichkeit nicht ausschließen. Das überzeugendste positive Vorbild in dieser Richtung ist wohl der ehemalige tschechische Präsident Václav Havel.29 Obwohl Havel immer wieder aufgrund bitterer eigener Erfahrungen vor dem moralistischen Utopismus warnte,30 hat er niemals der Versuchung nachgegeben, deshalb Moral und Politik voneinander zu trennen. In seiner 1998 unter dem Titel Moral in Zeiten der Globalisierung veröffentlichten Redensammlung bezeichnet er es als Unsinn, „Politik und Moral voneinander trennen oder behaupten zu wollen, sie hätten nichts miteinander zu tun. ... Das Moralische ist schlicht allgegenwärtig, ähnlich wie die Politik. Und eine Politik, die sich von der Moral löst, ist einfach schlechte Politik.“31 Obwohl sich Havel selbst immer wieder als Agnostiker bezeichnete, hat er schon in seiner Zeit als Dissident auf ein letztlich transzendentes Wahrheitsfundament jeder moralischen Haltung hingewiesen. Sprach er in seinem 1978 veröffentlichten berühmten Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben bloß von der Angewiesenheit unserer Zivilisation auf einen „höheren Sinn“, so hat er später seine von ihm betonte Ausrichtung auf die Transzendenz direkt mit dem Glauben der Christen an Gott in Verbindung gebracht.32 Seine jüngste Aufsatzsammlung Moral in Zeiten der Globalisierung lässt seine Betonung der Transzendenz noch deutlicher hervortreten. Moral und Transzendenz hängen für ihn aufs engste zusammen. Ähnlich wie für Thomas Morus die Ausrichtung auf die transzendente Wahrheit in Gott zum Anker eines von der Tugend der Hoffnung geprägten Lebens wurde, kann sich auch Havel ein hoffnungsvolles Leben nur vorstellen, wenn es von der Erfahrung der Transzendenz getragen ist: „Ohne die Erfahrung der Transzendenz hat weder die Hoffnung noch die menschliche 28

Ebd., S. 217 f.

29

Vgl. Wolfgang Palaver, Das biblische Menschenbild und seine Konsequenzen für die Politik, in: Ethica 4 (1996), S. 227 – 244, hier S. 237 – 239. 30

Václav Havel, Am Anfang war das Wort. Texte von 1969 bis 1990. Aus dem Tschechischen von J. Bruss, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 129 – 137; Václav Havel, Moral in Zeiten der Globalisierung. Aus dem Tschechischen von J. Bruss / E. Profousová, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 108 f, 115. 31

Havel, Moral (Anm. 30), S. 168. Vgl. Václav Havel, Sommermeditationen. Aus dem Tschechischen von J. Bruss, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 125 – 154. 32

Václav Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Aus dem Tschechischen von G. Laub, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 26; Havel, Sommermeditationen (Anm. 31), S. 131.

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Wolfgang Palaver

Verantwortung selbst einen Sinn.“33 In einer 1996 in Dublin gehaltenen Rede über die Seele Europas hat Havel die Wichtigkeit der Transzendenz auch für die künftige Architektur Europas hervorgehoben: „Die bewundernswerte Unternehmung der Vereinigung Europas auf der Grundlage von friedlicher Zusammenarbeit und Gerechtigkeit – das heißt von Gleichheit aller, der Großen wie der Kleinen –, deren Zeugen wir heute sind, gleicht der Errichtung eines großen und komplizierten Baus ... Hat denn wenigstens einer unter den Tausenden von Architekten und Bauherren dieses grandiosen Gebäudes an eine Öffnung gedacht, die diesen Bau verbinden würde mit dem, was ihn unendlich übergreift, um ihm einen echten Sinn zu verleihen? Der tschechische Dichter Vladimír Holan hat einmal geschrieben, ohne das Streben nach Transzendenz könne kein einziger Bau vollendet werden. Anders gesagt: Verfügt denn dieser wunderbare europäische Bau über seine transzendentale Idee?“34 Havel ist sich nicht sicher, ob eine solche Idee vorhanden ist. Umso sicherer weiß er aber um die Notwendigkeit einer transzendenten Verankerung der moralischen Grundlagen unseres Europas: „Einer juristischen Beziehung oder Ordnung muß eine moralische Beziehung oder Ordnung vorangehen, die ihr als einziges Sinn und echte Verbindlichkeit verleiht. Diese moralische Ordnung ist jedoch keineswegs auf einen ‚moralischen Vertrag‘ zu reduzieren. Letztendlich weisen ihre Wurzeln immer ins Metaphysische. Hinter jedem Vertrag muß etwas existieren, was als Gewissen und Verantwortung bezeichnet werden kann. Und Gewissen und Verantwortung sind nichts anderes als eine bestimmte Beziehung des Menschen zu dem, was ihn übergreift, das heißt zur Unendlichkeit und Ewigkeit, zur Transzendenz oder zum Geheimnis der Welt, zur Ordnung des Seins oder zum Allmächtigen.“35 Wir stehen heute in Europa vor der spannenden Aufgabe, diesem politischen Bauwerk auch eine transzendente Ausrichtung zu geben. Das bedeutet nicht, dass deshalb der Name Gottes in einer Verfassung Europas unbedingt erwähnt werden muss. Es geht vielmehr darum, dass möglichst viele Menschen in Europa ihr Leben so gestalten, dass sie sich in all ihrem Tun von einem höheren Sein getragen wissen. Mit Tocqueville bin ich der Überzeugung, dass Politikerinnen und Politiker in dieser Beziehung eine besondere Verantwortung haben. Mit Havel müssen wir uns bewusst bleiben, dass die bevorstehenden gesellschaftlichen und politischen Weichenstellungen darüber bestimmen werden, ob unser künftiges Haus Europa eher einer gotischen Kathedrale oder bloß einem Haufen von Steinen gleichen wird: „Das Zurückweichen vor dem transzendentalen Aspekt der eigenen Bemühungen ist sehr gefährlich. Es ist, als ob die Erbauer einer gotischen Kathedrale vergessen hätten, daß sie eine 33

Havel, Moral (Anm. 30), S. 177.

34

Ebd., S. 187.

35

Ebd., S. 188.

Thomas Morus als Vorbild für die politischen Eliten Europas

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Kathedrale bauen, und sich nichts mehr und nichts weniger vorgestellt hätten als ein Haus, das hoch, fest und geräumig sein sollte. Bei einer solchen Gesinnung hätte ihr Werk jedoch aufgehört, eine Kathedrale zu sein, und sich langsam – wie in einem Märchen – in einen Haufen Steine verwandelt.“36

36

Ebd., S. 189.

IV. Kirchliche Rechtsgeschichte

Einige Grundfragen kirchlicher Rechtsgeschichte* Von Richard Potz und Eva M. Synek

I. Die Etablierung kirchlicher Rechtsgeschichte als eigenständige historische Disziplin Die Wissenschaft von der kirchlichen Rechtsgeschichte wurde als eine eigenständige rechtshistorische Disziplin im eigentlichen Sinne durch Ulrich Stutz erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet1. Wissenschaftsgeschichtlich stellte sie sich als späte Frucht der Historischen Rechtsschule dar, die im Wesentlichen durch die Arbeiten Rudolf Sohms angeregt worden war. Sohm stellte der historischen Kanonistik die Aufgabe, „das Verständnis des heute geltenden Kirchenrechts zu vermitteln, die geschichtlichen Grundlagen herauszustellen, aus welchen das ganze kirchenrechtliche Leben der Gegenwart entsprungen ist“2. Damit war – durchaus im Sinne der Historischen Rechtsschule – ein zentrales Erkenntnis leitendes Interesse bestimmt. Der durch das Werk von Stutz bestimmte Fortschritt bestand vor allem darin, dass die kirchliche Rechtsgeschichte insoweit als historische Disziplin etabliert wurde, als sie von einer ahistorisch quer durch die Jahrhunderte argumentierenden Rechtsdogmatik abgekoppelt wurde. Bezeichnend ist ferner für den Ansatz von Stutz, dass er die spezifische Differenz zwischen der Arbeit des Historikers und des Rechtshistorikers darin sah, dass der Historiker „immer mehr den Einfluss äußerer Ereignisse oder einzelner Persönlichkeiten auch auf Verfassung

* Am Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien wurde mit Beginn WS 2004/2005 ein postgradualer Lehrgang „Kanonisches Recht für Juristen“ eingerichtet. Vorliegendes Manuskript entstand im Zusammenhang mit der innerhalb des Lehrgangs als Fernstudium zu absolvierenden „Einführung in die historische Kanonistik“. Vgl. näherhin zum Lehrgang und seinen Statuten öarr (2004), S. 341 – 345. 1

Vgl. U. Stutz, Die kirchliche Rechtsgeschichte. Rede zur Feier des 27. Januar 1905 gehalten in der Aula der Universität zu Bonn, Stuttgart 1905. 2

R. Sohm, Vorwort, in: Kirchenrecht. Bd.1, Leipzig 1892, S. VII.

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Richard Potz und Eva M. Synek

und Recht betonen (wird), indes der Rechtshistoriker die Triebkräfte bloßzulegen bestrebt ist, die Recht und Rechtsleben in sich selbst bergen“3. Als das Kanonische Recht der Lateinischen Kirche mit dem Inkrafttreten des Codex Iuris Canonici 1917 in den Kreis der kodifizierten Rechtsordnungen trat, kam es unverkennbar zu einer gewissen Verschiebung der Interessen der historischen Kanonistik. Der Grundriss des Kirchenrechts von Ulrich Stutz harrte daher in seinen historischen Teilen4 einer Neubearbeitung5, die schließlich 1950 von Hans Erich Feine mit dem Hinweis übernommen wurde, dass „eine kirchliche Rechtsgeschichte [...] heute neu geschrieben werden“ muss6. Das Erkenntnis leitende Interesse blieb dem Ansatz von Ulrich Stutz verhaftet. Aber es wurde auch die ökumenische Ausrichtung deutlich, wenn Feine mit seiner Arbeit seiner „Überzeugung von der inneren Verbundenheit der beiden christlichen Kirchen“ – gemeint sind die katholische und die evangelische Kirche unter Ausblendung der orthodoxen Kirchen – „und von ihrer geschichtlichen Schicksalsgemeinschaft Ausdruck verleihen“ möchte7. Zur gleichen Zeit begann Willibald M. Plöchl seine schließlich auf fünf Bände anwachsende „Geschichte des Kirchenrechts“8. Etwa parallel entstand das breit angelegte Oeuvre der französischen Annales-Schule – die von Jean Gaudemet und Gabriel Le Bras initiierte „Histoire du Droit et des Institutions de l’Église en Occident“9. In ihren von Munier und Gaudemet verantworteten Teilen zur Frühgeschichte kirchlichen Rechts10 leistete sie durchwegs mehr als der Reihentitel verspricht, der Osten blieb – den insbesondere hier greifbaren Rechtsquellen angemessen – keineswegs ausgeklammert11. Derzeit entsteht unter der Ägide von Kenneth

3

Stutz, Bonner Universitätsrede (Anm. 1), S. 29.

4

U. Stutz, Kirchenrecht I. Teil, in: Hotzendorff-Kohlers Enzyklopädie der Rechtswissenschaft Bd. V, 2. Aufl., 1913/1914. 5

U. Stutz, Der Geist des Codex iuris canonici, Stuttgart 1918 (Nachdruck: 1961), S. 172, Anm. 1. 6

H. E. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte. Die Katholische Kirche. Vorwort zur 1. Auflage (1950), hier zit. n. d. 5. Aufl., Köln 1972, S. VII. 7

Ebd., S. IX.

8

1. Aufl.: Wien 1953 ff.; 2. erweiterte Aufl.: Wien 1960 ff.

9

Paris 1955 ff.

10

J. Dauvillier, Les temps apostoliques. 1er siècle (= HDIEO 2), Paris 1970; J. Gaudemet, L’Église dans l’Empire romain (IVe – Ve siècles) (= HDIEO 3), Paris 1958; ergänzte 2. Aufl. 1989. 11

Dasselbe gilt in einem gewissen Ausmaß auch wieder für die Quellengeschichte von J. Gaudemet, Les sources du droit de l’Église en occident du IIe au VIIe siècle (= ICA), Paris 1985.

Einige Grundfragen kirchlicher Rechtsgeschichte

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Pennington und Winfried Hartmann eine groß angelegte englischsprachige „History of Medieval Canon Law“, die nun auch einen eigenen Band zur byzantinischen bzw. generell östlichen Kirchenrechtsgeschichte enthalten soll12. Vor allem zum mittelalterlichen Kirchenrecht sind während der letzten Jahre wiederholt auch knappere Überblickswerke erschienen13. Dagegen sind entsprechende auf die Frühgeschichte kirchlichen Rechts akzentuierte Darstellungen trotz eines vor allem in der deutschsprachigen Forschung durchaus vorhandenen Interesses an den alten Quellen, wie sie gerade auch das Oeuvre des Jubilars Johannes Mühlsteiger prägt, rar geblieben14. Bislang fehlt ein Übersichtswerk, das den aktuellen bibelwissenschaftlichen Forschungsstand angemessen berücksichtigen würde. Der letzte monographische Versuch einer Gesamtdarstellung des frühen Kirchenrechts von Othmar Heggelbacher aus den 1970er Jahren ist aber nicht nur in exegetischen Fragen überholt; er liegt auch lange vor den vor allem in den 1990er Jahren entstandenen neueren Einzeluntersuchungen zu den (spät)antiken Kirchenordnungen (insbes. Didache, Didaskalia, Traditio Apostolica und Apostolischen Konstitutionen)15. Erst recht problematisch erweist sich die oft nur sehr mangelhafte Rezeption des aktuellen 12

Bislang erschienen sind Bd. 1 und 2: L. Kéry, Canonical Collections of the Early Middle Ages (ca. 400 – 1140): A Bibliographical Guide to the Manuscripts and Literature, Washington 1999; D. Jasper / H. Fuhrmann, Papal Letters in the Early Middle Ages, Washington 2001. Für die weiteren geplanten Bände siehe W. Hartmann / K. Pennington, History of Medieval Canon Law: http://faculty.cua.edu/pennington/ djhftit.htm (18.8.2005). 13

Vgl. z. B. J. Brundage, Medieval Canon Law. An Introduction, London / New York 1995. 14 Vgl. insbes. seine Beiträge „Zum Verfassungsrecht der Frühkirche“ (erstmals erschienen 1977, wiederabgedruckt in: K. Breitsching / W. Rees (Hrsg.), Tradition – Wegweisung in die Zukunft. FS J. Mühlsteiger zum 75. Geburtstag, Berlin 2001, S. 741 – 810) und „Die sogenannten Canones Apostolorum“ (Erstveröffentlichung ebd., S. 615 – 680). 15

Vgl. zum älteren Forschungsstand zusammenfassend B. Steimer, Vertex Traditionis. Die Gattung der altchristlichen Kirchenordnungen (= BZNW 63), Berlin 1992; seither an Monographien vor allem: A. Keller, Entwicklungstendenzen kirchlichen Lebens in den „Apostolischen Konstitutionen“, Augsburg 1997 (Habilitationsschrift; maschinschr.); G. Schöllgen, Die Anfänge der Professionalisierung des Klerus und das kirchliche Amt in der Syrischen Didaskalie (= JAC.E. 26), Münster 1998; E. M. Synek, „Dieses Gesetz ist gut, heilig, es zwingt nicht ...“. Zum Gesetzesbegriff der Apostolischen Konstitutionen (= KuR 21), Wien 1997; dies., ȅǿȀȅȈ. Zum Ehe- und Familienrecht der Apostolischen Konstitutionen (= KuR 22), Wien 1999; zuletzt: J. G. Mueller, L’Ancien Testament dans l’ecclésiologie des Pères: une lecture des „Constitutions apostoliques“ (= Instrumenta patristica et mediaevalia 41), Turnhout 2004.

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Richard Potz und Eva M. Synek

Forschungsstandes zur kirchenrechtlichen Frühgeschichte in die neueren, didaktisch ausgerichteten Gesamtdarstellungen16. So finden sich etwa im Internetskriptum des renommierten historischen Kanonisten der Catholic University in Washington, Kenneth Pennington nach wie vor Sätze wie „christian communities lived without a comprehensive body of written law for more than five centuries“17, die jedenfalls eine Fehleinschätzung der Tora in der frühkirchlichen Rechtsentwicklung signalisieren, aber wohl auch frühen kirchenrechtlichen Sammlungen wie insbesondere den Apostolischen Konstitutionen nicht wirklich gerecht werden18. Diese Diskrepanz zwischen aktueller Forschung und ihrer Popularisierung im Rahmen von Lehrbüchern und Nachschlagewerken ist umso bedauerlicher, als sich an der Frühzeit noch deutlicher als an den nachfolgenden Perioden zeigt, wie sehr sich die Ansprüche an eine Geschichte des Kirchenrechts seit den großen Standardwerken des 20. Jh.s verändert haben. Es gehört zwar weiterhin zweifelsohne zu den wichtigsten Aufgaben der kirchlichen Rechtsgeschichte in historisch-kritischer Arbeit die gegenwärtigen Strukturen zu durchleuchten und historische Bedingtheiten aufzudecken. Aber dieses durch den Gegenwartsbezug bestimmte Erkenntnis leitende Interesse schließt heute aus, die historische Kanonistik auf eine – wenn auch umfassende – Einleitungshistorie für das geltende Kirchenrecht zu reduzieren. Kirchliche Rechtsgeschichte darf sich genauso wenig unreflektiert zum Instrument für die Durchsetzung des gerade geltenden Rechtes machen lassen wie Kirchengeschichte insgesamt zur Legitimation kirchlicher Gegenwart. II. Zu den Konsequenzen des Selbstverständnisses des Christentums als einer Offenbarungsreligion Das wohl fundamentalste Problem kanonistischer Rechtsgeschichte, das in allen Arbeiten implizit mitschwingt, aber nur selten ausdrücklich thematisiert wird, ergibt sich aus dem Selbstverständnis des Christentums als einer Offenbarungsreligion. Die Ausrichtung auf den Ursprung kann in der Darstellung des

16

Vgl. z. B. C. van de Wiel, History of Canon Law, Louvain 1991; J. Gaudemet, Église et cité. Histoire du droit canonique, Paris 1998; P. Erdö, Die Quellen des Kirchenrechts. Eine geschichtliche Einführung, Frankfurt am Main 2002; K. Pennington, A Short History of Canon Law from Apostolic Times to 1917: http://faculty.cua.edu/ pennington/Canon%20Law/ShortHistoryCanonLaw.htm [18.8.2005]. 17 18

Pennington, ebd.

Vgl. näherhin E. M. Synek, Die Apostolischen Konstitutionen – ein „christlicher Talmud“ aus dem 4. Jh., in: Biblica 79 (1998), S. 27 – 56.

Einige Grundfragen kirchlicher Rechtsgeschichte

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Kirchenrechts nicht ausgeblendet werden. Art und Umfang – bis hin zur Frage nach der prinzipiellen Legitimität – der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem „heiligen“ Geschehen der formativen Phase stehen auf diese Weise in einem steten Rückkoppelungsprozess zur historischen Dimension sowohl des jeweils zeitgenössischen Kirchenbildes als auch der Erzeugung und Fortbildung von rechtlichen Normen. Von dieser Problematik ist auch der entscheidende Impuls für die kirchliche Rechtsgeschichte des letzten Jahrhunderts, die Auseinandersetzung mit Rudolf Sohm, geprägt: Wenn die Geschichte des Kirchenrechts die Aufgabe hat, „das Verständnis des heute geltenden Kirchenrechts zu vermitteln, die geschichtlichen Grundlagen herauszustellen, aus welchen das ganze kirchenrechtliche Leben der Gegenwart entsprungen ist“, folgt, dass „unter diesem Gesichtspunkt [...] selbstverständlich das größte Gewicht auf die erste christliche Zeit (fällt)“19. Im allgemeinen sahen und sehen sich alle christlichen Traditionen durch die in der Offenbarung grundgelegte heteronome Bindung an göttliches Recht oder biblische Weisungen für ihre Verfasstheit in der Welt grundsätzlich zu einer Verengung des historisch Kontingenten verpflichtet. Für eine theologisch verantwortete Kanonistik geht es daher um nicht weniger als die Beantwortung der von Josef Blank aufgeworfenen Frage: „Wie ernst ist der Anspruch vom Charakter der Heiligen Schrift als Grundnorm christlich-kirchlichen Handelns, des theologischen Denkens, aber auch der kirchlichen Institutionen (als norma normans non normata) denn gemeint?“20 Damit erhält die historische Kanonistik aber keinen Verweis auf eine statische Vorgabe. Sie wird vielmehr auf die Hermeneutik des jeweiligen Verständnisses vom Ursprung der Kirche verwiesen, denn „christlicher Glaube und christliche Theologie bleiben an das Grundzeugnis ihres offenbarungsgeschichtlichen Ursprunges zurückgebunden und müssen sich an diesem Grundzeugnis immer neu orientieren, aber auch an ihm messen lassen“21. Diese Aufgabe stellt sich in besonderem Maße gerade hinsichtlich der kirchlichen Institutionen. Dass dies noch in den 1970er Jahren keine Selbstverständlichkeit war, zeigt die vorsichtige Annäherung Blanks.

19

Sohm, Vorrede, S. VII f.

20

J. Blank, Probleme einer „Geschichte des Urchristentums“, in: Una Sancta 30 (1975), S. 261 – 286; wiederabgedruckt in: Ders., Vom Urchristentum zur Kirche. Kirchenstrukturen im Rückblick auf den biblischen Ursprung, München 1982, hier S. 9. 21

Ebd., S. 10.

292

Richard Potz und Eva M. Synek

Somit bedarf es gerade insofern für die Kirche eine besondere Bindung an ihren Ursprung, der kritischen Bezugnahme auf historische Gegebenheiten in der oben eingemahnten Weise. „Zu keiner Zeit der gesamten Kirchen- und Theologiegeschichte hat man sich jemals ‚interessenslos‘ den neutestamentlichen Zeugnissen und ‚Quellen‘ des urchristlichen Glaubens und Lebens zugewandt, sondern immer in einer ganz bestimmten Absicht. Es ging also niemals bloß darum, ‚zu wissen wie es einmal gewesen ist‘, sondern immer auch darum, Auskunft darüber einzuholen, was man als Christ heute zu glauben und wie man als Christ heute zu leben habe“22. Josef Blank hat in seinem Aufsatz „Probleme einer ‚Geschichte des Urchristentums‘“ in den 1970er Jahren programmatisch die Option aufgestellt: „Der Historiker hat gerade beim Ursprung geschichtlich gewordener Größen, wie es das Christentum und die christlichen Kirchen sind, auch die offenen Möglichkeiten mit zu sehen, die am Anfang mitgegeben waren und die dann auf der Strecke geblieben sind. Er hat die ‚Verlierer‘ mit zu berücksichtigen und nicht bloß auf die Stimme der heute herrschenden ‚Gewinner‘ zu achten. Er muß gerade hier einer beliebten Betrachtungsweise Widerstand leisten, die naiv davon ausgeht, daß die historischfaktischen ‚Entwicklungen‘ der Kirche schlicht als das Wirken und Wollen des Heiligen Geistes zu akzeptieren seien“23. In diesem Sinn wird es für die historische Kanonistik nötig sein, aus dem Fundus der Vergangenheit nicht oder weniger geschichtswirksame Alternativen zu den durchgesetzten Strukturen und Regelungen aufzuzeigen, wobei – worauf noch näher einzugehen sein wird – dem Blick über die Grenzen der einzelnen Kirchentümer hinaus eine wesentliche Bedeutung zukommt. III. Zur generell kritischen Funktion heutiger Kirchenrechtsgeschichtsschreibung M. a. W.: An Stelle einer der Legitimation der gerade geltenden rechtlichen Strukturen dienenden kirchlichen Rechtsgeschichte soll unseres Erachtens eine Rechtsgeschichte treten, die das vielschichtige Eingebundensein der Kirche in ihrer sichtbaren Gestalt verdeutlicht. Da kirchenrechtliche Normen in ihrer historischen Bedingtheit immer auch Ausdruck politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Systeme sind, heißt das: Nur dort, wo Offenheit für die Variabilität und die Dynamik des kirchlichen Rechts vorhanden ist, kann dieses wirklich seiner Einheit stiftenden Aufgabe gerecht werden. Dort aber, wo das Kirchenrecht und die Kirchenrechtswissenschaft als Instrument für die Durchsetzung von Uniformität missbraucht werden, wird die zentrale Aufgabe der 22

Ebd., S. 18.

23

Vgl. ebd., S. 20.

Einige Grundfragen kirchlicher Rechtsgeschichte

293

Rechtswissenschaften im Allgemeinen und der Kanonistik im Besonderen, grob missverstanden. Die Versuchung einer einseitig positiven Gewichtung zugunsten jener Elemente, die an der Ausbildung des aktuell geltenden Rechts beteiligt waren, ist wohl keiner Kirchen ganz fremd; insbesondere ist ihr aber die katholische Kanonistik in den Fußstapfen traditioneller katholischer Kirchengeschichtsschreibung (mit ihrem Hang zu einem sowohl positiv-legitimistischen als auch kontroverstheologisch-apologetischen Geschichtsverständnis) lange Zeit erlegen. Nur insoweit als das historische Verständnis für die Variabilität und die Dynamik des kirchlichen Rechts vorhanden ist, kann transparent gemacht werden, wann und inwiefern es zeitbedingter Ausdruck kultureller, politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Einflüsse ist. Kirchenrechtsgeschichte muss daher als Instrument kritischer Auseinandersetzung mit dem geltenden Recht dienen. Daher gehört es auch zu den Aufgaben der historischen Kanonistik, sich mit rechtsgeschichtlicher Forschung auf die Diskussion aktueller Konfliktfelder in der Kirche einzulassen. Die Gefahr einer Einengung des Bereiches des historisch Kontingenten für die historische Kanonistik, wenn die Ausrichtung auf das gegenwärtige Kirchenrecht den Forschungsgegenstand zu sehr bestimmt, ist vielleicht für keine Phase kirchlicher Rechtsentwicklung so virulent wie für die Anfangsphase, die eine Fülle „fremder“ Traditionselemente enthält. So ist nicht nur in Hinblick auf neuzeitliche Entwicklungen, sondern auch schon für die kirchliche Frühzeit eine „ökumenische“ Perspektive24 gefragt. IV. Ökumenische Perspektive Auf diese wurde im Zusammenhang mit Feine einleitend bereits kurz hingewiesen. Gerade Feine als ein „ökumenisch“ orientierter Kanonist der ersten Stunde ist mit seiner Westzentriertheit allerdings geradezu exemplarisch dafür, was damit heute nicht gemeint sein sollte: eine starke Fixiertheit auf das in den eigenen Kontexten geschichtswirksam Gewordene. Ökumenische Orientierung im hier gemeinten Sinn fordert vielmehr gerade auch Offenheit für „fremde“ Traditionen, beginnend mit der apostolischen- und ersten nachapostolischen Zeit. Historische Kanonistik darf also z. B. weder die Pluralität von Regelungsmodellen nivellieren, die in den kanonisch gewordenen Zeugnissen der Frühzeit auszumachen ist, etwa Alternativen zugunsten der später geschichtswirksam gewordenen monarchischen Gemeindeleitung herunterspielen, noch jene historischen Zeugen ausblenden, die nicht in den Kanon rezipiert wurden. 24

Vgl. die grundlegende Reflexion von A. Jensen, Gottes selbstbewußte Töchter. Frauenemanzipation im frühen Christentum, Freiburg i. B. 1992.

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Richard Potz und Eva M. Synek

Die von der durchgesetzten Kirchentradition vorgenommene Wertung einer Quelle als orthodox respektive heterodox allein darf nicht Erkenntnis leitend sein. Christliche Kontexte, die von der Geschichte überholt wurden – gerade auch jene, die von der siegreichen großkirchlichen Entwicklung als „illegitim“ bzw. „häretisch“ ausgegrenzt, langsam abstarben oder gewaltsam unterdrückt wurden – sind unter ökumenischer Perspektive in die rechtsgeschichtliche Forschung miteinzubeziehen. Peter Landau erhofft aus dem ökumenischen Blickwinkel sogar jenen Forschungsimpetus, der der Kanonistik „als rechtshistorische[r] Wissenschaft“ trotz der in den letzten Jahrzehnten erfolgten Marginalisierung der Disziplin an den meisten europäischen Juristenfakultäten eine Zukunft verheißt25 Ein signifikantes Beispiel für die Frühgeschichte kirchlichen Rechts sind theologisch-rechtliche Positionen, die dem „Kirchenrecht“ Israels respektive auch dem parallel zum Christentum verfestigten so genannten normativen Judentum näher stehen als jene, die von besonders geschichtswirksamen Ideologen der Großkirche vertreten wurden. Heggelbacher sah die beiden Teile der Bibel in rechtlicher Hinsicht noch völlig unreflektiert nach modernen Geltungsregeln als Gegensatzpaar: „Die Anordnungen des Alten Testaments im liturgischen und juridischen Bereiche sind von der Christenheit zum größten Teile als außer Kraft gesetzt betrachtet worden. [...] Die Glaubens- und Sittenlehren des Neuen Testaments stellen demgegenüber direkt oder wenigstens indirekt die echte und in erster Linie kompetente Quelle des kanonischen Rechtes dar“26. Dass in den historischen Quellen häufig diesem Postulat gegenläufige Tendenzen, z. B. in der Übertragung von eherechtlichen Normen, Speisegeboten, kultischen Reinheitsvorschriften etc. in den christlichen Kontext, festzustellen sind, wurde zwar nicht unbedingt ganz ausgeblendet. Heggelbacher steht aber sicher für den westlichen Main-Stream, wenn er negativ-ausgrenzend darüber urteilt: „Es blieb jedoch, von den Zeiten des Völkerapostels angefangen, immer schwer, den Menschen die teilweise Hinfälligkeit des mosaischen Gesetzes zu erklären“27. Als patristischer Beleg für solch Unverständnis dient ihm die wohl wichtigste spätantike Kirchenordnung, die Apostolischen Konstitutionen (spätes 4. Jh.), die betont für die grundsätzliche Gültigkeit der Tora im christlichen Kontext eintritt28.

25

Vgl. P. Landau, Bemerkungen zur Methode der Rechtsgeschichte, in: ZNR 10 (1980), S. 131. 26

O. Heggelbacher, Geschichte des frühchristlichen Kirchenrechts, Freiburg/CH 1974, S. 1 f. 27 28

Ebd., S. 1.

Ebd., Anm. 2. – Zur Konzeption der Apostolischen Konstitutionen vgl. Synek, Gesetz (Anm. 15) und dies., Talmud (Anm. 18).

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Das Überdenken traditioneller Verhältnisbestimmungen von Christen- und Judentum ist zwar in den letzten Jahren nicht zuletzt infolge des nach der Shoa in Gange gekommenen jüdisch-christlichen Dialogs ein wichtiges Thema der Bibelwissenschaften. Und auch in der kirchen- bzw. theologiegeschichtlichen, judaistischen wie althistorischen Spätantikeforschung nimmt es, wie eine rasant anwachsende Zahl von einschlägigen Publikationen zeigt, einen bedeutenden Platz ein. Eine an die einschlägige Forschung anknüpfende revidierte kirchenrechtsgeschichtliche Darstellung ist aber noch weithin Postulat. Sie müsste vor allem zweierlei in Angriff nehmen: die Aufarbeitung unterschiedlicher Weisen, christlicherseits mit der ererbten Tora umzugehen und die Frage der Ausbildung christlicher Institutionen im Gegenüber zur Synagoge29. Beachtliche fremde Traditionen im Blick auf heute existierende Kirchen sind aus katholischer Sicht nicht nur die zunächst einmal aus einem gemeinsamen „Pool“ westlicher Entwicklungen ausdifferenzierten vielfältigen protestantischen Traditionen (bzw. vice-versa aus protestantischer Perspektive die postreformatorische römisch-katholische Weiterentwicklung der Kirchenverfassung und des kanonischen Rechtes insgesamt), die anglikanisch-presbyterianische und die altbzw. christkatholische Kirchenfamilie. Aus westchristlicher Sicht sind dies insbesondere auch die kirchenrechtlichen Quellen und Institutionen der unterschiedlichen östlichen Denominationen: die orthodoxen Kirchen im engeren Sinne der „Eastern Orthodox Churches“, d. h. der byzantinisch geprägten Kirchen der so genannten sieben Ökumenischen Konzilien; die „Oriental Orthodox Churches“, die lange Zeit aus christologischen Gründen von außen als „monophysitisch“ (dis)qualifiziert wurden, in ökumenisch sensibler Terminologie heute hingegen als miaphysitisch oder vorchalkedonensisch zu bezeichnen sind – also die Koptische, die Äthiopische und die erst in jüngster Zeit selbständig gewordene Eritreische Kirche, die Armenisch-Apostolische und die Syrisch-Orthodoxe Kirche mit ihrer indischen Tochterkirche; aber auch die im frühen ostsyrischen (persischen) Christentum wurzelnde, in der älteren Konfessionskunde als „nestorianisch“, heute jedoch korrekter als „vorephesinisch“ bezeichnete (Assyrische) Apostolische Kirche des Ostens und nicht zuletzt die diversen katholischen Ostkirchen. Das 2. Vatikanum hat aus katholischer Sicht im Ökumenismusdekret „Unitatis redintegratio“ richtungsweisend formuliert, „daß einige, ja sogar viele und bedeutende Elemente oder Güter aus denen insgesamt die Kirche erbaut wird und Leben gewinnt, auch außerhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche existieren können [...] Auch zahlreiche liturgische Handlungen der christlichen

29

Einen wichtigen Schritt in diese Richtung stellt J. T. Burtchaell, From Synagogue to Church. Public Services and Offices in the Earliest Christian Communities, Cambridge 1992, dar.

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Religion werden bei den von uns getrennten Brüdern vollzogen, die auf verschiedene Weise je nach der verschiedenen Verfasstheit einer jeden Kirche und Gemeinschaft ohne Zweifel tatsächlich das Leben der Gnade zeugen können“ (VatII UR I,3). Das ist gerade auch dort ernstzunehmen, wo auf den ersten Blick nicht so sehr die Konvergenzen, sondern die Unterschiede in der Kirchenordnung ins Auge stechen. Das 2. Vatikanum konstatierte einerseits legitime Vielfalt von Anfang an. Andererseits stieß es – wenngleich sehr vorsichtig – die Frage an, ob nicht auch die katholische Kirche von den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften etwas lernen könne. Die Ökumeneenzyklika „Ut unum sint“ (1995) von Johannes Paul II. unterstreicht Reflexionsschritte in diese Richtung: Jede christliche Gemeinschaft – auch die katholische – sei gerufen ist, sich vor Gott zu prüfen, ob man „seinem Plan über die Kirche treu gewesen“ ist (UUS 82): Gerade auch die katholische Kirche muss nach Johannes Paul II. in einen „Dialog der Bekehrung“ eintreten (UUS 82). Sie wird explizit auf Gegenseitigkeit der Hilfe im Suchen nach der je neu zu erringenden Wahrheit verwiesen. Das katholische Lehramt ist sich also bewusst, „vom Zeugnis, von der Suche und sogar von der Art und Weise gewonnen zu haben, wie bestimmte gemeinsame christliche Güter von den anderen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften hervorgehoben und gelebt worden sind“ (UUS 86). Der laufende Prozess bilateraler und multilateraler ökumenischer Dialoge ruft nach Konsequenzen – sowohl im aktuellen Kirchenrecht als auch in der Kirchenrechtsgeschichtsschreibung: z. B. in der Verwendung der traditionellen Kategorien „Häretiker“ und „Schismatiker“ für die Angehörigen der orthodoxen Kirchen der zwei und drei bzw. der sieben (ökumenischen) Konzilien. Diese „ökumenische Herausforderung“ für die historische Kanonistik weist nicht zuletzt Analogien zur „europäischen Herausforderung“ der Allgemeinen Rechtsgeschichte auf. Hier wie dort geht es heute darum, die historisch bedingten – einzelstaatlichen wie konfessionellen – Beschränkungen zu überwinden. V. Kirchenrechtsgeschichte als Geschichte rechtlicher Inkulturationsvorgänge Auf dem Hintergrund der bisher skizzierten Optionen heutiger historischer Kanonistik scheint die Übernahme des zunächst im Rahmen der Kulturanthropologie entwickelten Begriffs „Inkulturation“ von großer Bedeutung30. Eine entscheidende Förderung hat die Befassung mit dem Phänomen der Inkulturation

30

Vgl. R. Potz, Synthetic Report, in: Atti del Congresso Internazionale „Incontro fra canoni d’oriente e d’occidente“ / Proceedings of the International Congress „The Meeting of Eastern and Western Canons“. Hrsg. v. R. Coppola, Bari 1994, S. 591 – 608.

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durch das katholische Lehramt erfahren, verwiesen sei besonders auf die inkarnatorische Begründung des Inkulturationsbegriffs durch Johannes Paul II.31. Während der letzten Jahre wurde der Inkulturationsbegriff besonders seitens der Missionswissenschaften aufgegriffen32, strahlte von dort aber auch auf andere theologische Disziplinen aus. Bezüglich seiner Fruchtbarmachung für die Kanonistik kommt dem Jubiliar eine Vorreiterrolle zu33. Eine Reihe wichtiger Themen der Kanonistik lassen sich als Inkulturationsphänomene interpretieren. Diese Sicht bewahrt nicht zuletzt vor einer vorschnellen Wertung von unterschiedlichen Entfaltungen unter den Gesichtspunkten von „Spaltung“ oder gar „Abfall“. Damit zeichnet sich eine „ökumenische Alternative“ für die Ausdifferenzierung der Vielfalt kirchlicher Traditionen im ersten Jahrtausend ab. Aber auch die benannten Alternativtraditionen zu dem in der Formationsphase des Christentums in der so genannten „Großkirche“ (Great Church, „altkatholische Kirche“) als „kirchliche Tradition“ verschmolzenen Traditionselementen und jüngere Randphänomene der ausdifferenzierten östlichen und westlichen Großkirchen müssen nicht mehr von vornherein mit einem Negativvorzeichen versehen werden. Man wird sogar sagen können, dass die Entstehung von Normen, Tradition und Wandel im kirchlichen Recht grundsätzlich drei charakteristischen Schritten der Inkulturation folgt: –

Am Anfang steht eine Phase der ersten Kontakte, in der die christliche Botschaft in den Formen einer anderen Kultur präsentiert und daher zunächst als fremd empfunden wird.



In einer zweiten Phase kommt es zum kulturellen Austausch und zur Auseinandersetzung, in der Prozesse ablaufen, deren Variationsbreite von der Assimilation des Christentums an die vorhandene Kultur bis zu deren Dekulturation reicht.



Die dritte Phase ist die einer Erneuerung, in der sich als Ergebnis der Auseinandersetzung eine neue christliche Kultur herausbildet.

Es sind nicht zuletzt die bereits besonders herausgestellten ökumenischen Gründe, deretwegen die kanonistische Forschung – notwendigerweise in einem 31

Vgl. A. Shorter, Toward a Theology of Inculturation, London 1988, bes. S. 222 ff.

32

Siehe dazu insbes. die seit 1982 von A. A. Roest-Crollius am Centre „Cultures and Religions“ der Gregoriana hrsg. Reihe „Inculturation – Working Papers on Living Faith and Cultures“. 33

Vgl. J. Mühlsteiger, Rezeption – Inkulturation – Selbstbestimmung. Überlegungen zum Selbstbestimmungsrecht kirchlicher Gemeinschaften, in: ZKTh 105 (1983), S. 261 – 289 (wiederabgedruckt in: Breitsching / Rees, Tradition – Wegweisung in die Zukunft [Anm. 14], S. 988 – 1024).

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intensiven Dialog mit verschiedenen Nachbardisziplinen, nicht nur der profanen Rechts- und der Kirchengeschichte, was sich von selbst versteht, sondern z. B. auch mit der Archäologie, den Bibelwissenschaften und der Judaistik – den vielfältigen Phänomen kirchlichen Rechts gerade in den Jahrhunderten der Erstinkulturation(en) des Christentums heute einen großen Stellenwert zuwenden sollte. Einerseits liegt hier der gemeinsame Wurzelboden der heute im Dialog stehenden christlichen Denominationen. Andererseits zeichnet sich gerade darin der heutigen Pluralität durchwegs vergleichbare Vielfalt ab. Im Hinblick auf die aktuellen Beziehungen zwischen den christlichen Denominationen gehört das Ernstnehmen christlicher Alternativen längst zu den Selbstverständlichkeiten, für die historisch-kanonistische Forschung steht es leider noch weitgehend aus. Sensibilisierung für den im ökumenischen Zusammenhang gern beschworenen „Schatz gemeinsamer Tradition“ darf nicht umgekehrt dazu verführen, die bereits in der Frühgeschichte kirchlichen Rechts vorhandene Pluralität zu nivellieren. Ob bzw. inwieweit sich ausgehend von den frühkirchlichen Quellen „ein Bild des noch gemeinsamen frühen Kirchenrechts zeichnen“34 lässt, auf dessen Basis dann in den sich im Laufe der Zeit auseinander entwickelnden Kirchen größere Rechtssammlungen ausgebildet wurden – so die Option Selbs – muss wohl erst in vielen Einzelstudien eingehend untersucht werden. Eines kann aber mit Gewissheit vorweggenommen werden: Bereits in den ersten quellenmäßig mittels der Frühschichten des Neuen (Zweiten) Testaments fassbaren Entwicklungen der Jesusbewegung spiegelt sich eine mit unterschiedlichen inkulturatorischen Prozessen verwobene Vielfalt. So gilt es immer auch für die Darstellung normativer Strukturen in der Geschichte der Kirche zu bedenken, was der katholische Neutestamentler Josef Blank unter Berufung auf seinen evangelischen Kollegen Käsemann bereits in den 1970er Jahren eingemahnt hat: „Heute sehen wir uns aufgrund der historischen Forschung genötigt, die ‚Normativität des Urchristentums‘ uns in ihrer ganzen Variationsbreite zu vergegenwärtigen, in ihrer ‚Pluralität von Christentümern‘ und in etwa auch – mit allem Vorbehalt – von 'Konfessionen‘“35. Ein auch nur in weiten Zügen „einheitliches“ Gesamtkirchenrecht hat es also wohl nie gegeben. Vielmehr muss bei dem für heutiges ökumenisches Bemühen so bedeutsamen Versuch, in der Formationsphase des Christentums eine gemeinsame Basis – gerade auch hinsichtlich der rechtlichen Ordnung der Kirchen –

34

W. Selb, Antike Rechte im Mittelmeerraum. Rom, Griechenland, Ägypten und der Orient, Wien 1993, S. 179. 35

Blank, Ursprung (Anm. 20), S. 19 f.

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(wieder)zufinden, immer Le Bras’ Option nach „concordia discordantium“ mitbedacht werden36. Exkurs: Die erste Periode der Kirchenrechtsgeschichte Wenn wir von der „kirchenrechtlichen Frühzeit“ bisher zeitlich immer recht vage ohne zeitliche Eingrenzung gesprochen haben, so geschah dies sehr bewusst: Das Stichwort „Abgrenzungsprobleme“ markiert einige mit der Umsetzung des Inkulturationsschemas vernetzte Schwierigkeiten, die teils mit der allgemeinen Periodisierungsproblematik zusammenfallen. Es besteht Konsens, dass die Entstehung des Christentums und seine erste, grundlegende institutionelle Ausgestaltung im Sinne der „Großkirche“ Phänomene der Antike sind, während das mit Karl d. Großen einsetzende Kaisertum im germanischen Westen selbstverständlich im neuen Kontext des Mittelalters angesiedelt wird. Aber wo endet die „Antike“, wo beginnt das „Mittelalter“? Alle Grenzziehungen sind problematisch37, denn in gewisser Weise lebte die „Antike“ auch im „Mittelalter“ weiter, wobei das Christentum – zunächst innerhalb der antiken Welt selbst etwas Neues – vielfältig die Übermittlung des alten kulturellen Erbes – nicht zuletzt des rechtlichen Erbes – an die „neuen Völker“ leistete: Besonders deutlich wird das zeitgenössische Kontinuitätsbewusstsein im (Selbst)verständnis der großen politischen Einheiten. Das so genannte „byzantinische“ Reich im Osten verstand sich als kontinuierliche Fortsetzung des (ost)römischen Reichs, man bezeichnete sich auch nie als „Byzantiner“ (ein von westlichen Kunsthistorikern geprägter Begriff), sondern als „Rhomäer“, d. h. „Römer“. Doch auch das neue westliche Imperium und das russische Zarenreich („Drittes Rom“) knüpften mit Hilfe von Translationstheorien an das römische Imperium an. Das Osmanische Reich sieht sich als zweiter rechtmäßiger Erbe des oströmischen (byzantinischen) Reiches.

36

Vgl. die methodische Einleitung zur „Histoire du droit et des institutions de l’Église en Occident“ von G. Le Bras, Prolégomènes (= HDIEO 1), Paris 1955, S. 113 ff. 37 Als Marksteine für die Grenzziehung zwischen Antike und Mittelalter wurden u. a. folgende Daten diskutiert: Sieg Kaiser Konstantins über Licinius 324, Hunneneinfall 375, Schlacht von Adrianopel 378, Ende der olympischen Spiele 394, Tod von Kaiser Theodosios 395, Eroberung der Stadt Rom durch die Westgoten 410, Absetzung des letzten weströmischen Kaisers Romulus Augustulus 476, der Herrschaftsantritt Clodwechs im Merowingerreich 482, die Schließung der Athener Akademie 529, sowie mit der Entstehung und Verbreitung des Islam in Verbindung stehende Ereignisse (die so genannte Hedschra Muhammads 622, mit der die muslimische Zeitrechnung beginnt; der Beginn der islamischen Expansion 633; die Landung der Araber in Spanien 711).

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Zu diskutieren ist aber nicht nur die Setzung der Endzäsur (Abschluss der dritten Phase im Inkulturationsschema), sondern noch viel mehr die Frage(n) des Anfangs. Damit gestaltet sich die kirchenrechtsgeschichtliche Periodisierung noch komplizierter als in der allgemeinen Historiographie. Es geht nicht nur darum, dass sich historische Prozesse nicht leicht datumsmäßig fixieren lassen und man über den Stellenwert markanter rechtlicher Phänomene (z. B. Etablierung des Monepiskopats; Mailänder Toleranzerklärung von 313; Beginn der Regelung kirchenrechtlicher Probleme mittels kaiserlicher Synoden im Donatistenstreit bzw. auf der als erstes „ökumenisches Konzil“ rezipierten Reichssynode von Nikaia 325; erste Erstellung systematischer Kompilationen in den Nomokanones) genauso streiten kann wie über die Bewertung einzelner Ereignisse. Nicht einmal das scheinbar so banale Eckdatum „Anfang der Kirche“ – geschweige denn „Anfang des Kirchenrechts“ – in der „apostolischen Zeit“ lässt sich undiskutiert voraussetzen. Für die zweite Phase im Inkulturationsschema scheint sich mittels des auch sonst in der Historiographie in den letzten Jahren breit aus der Kunstgeschichte rezipierten Spätantikebegriffs am ehesten ein konsensfähiger Raster anzubieten: die Annahme einer Übergangsphase zwischen der „alten Welt“ der klassischen Antike und der „neuen (christlichen) Welt“ des Mittelalters, in der Altes breit nachwirkt und sich doch Neues abzeichnet, ist gesamtgeschichtlich gewiss sachgerechter als das plakative Hantieren mit Einzelereignissen respektive den dazugehörigen Jahreszahlen. Es scheint auch tauglich im Blick auf (kirchen)rechtliche Phänomene. In gewisser Weise verschiebt sich aber natürlich nur das Abgrenzungsproblem: Denn auch für den Beginn der Spätantike und ihr Ende müssen, wenn schon nicht Jahreszahlen, so doch markante Phänomene angegeben werden38 (z. B. Phase der Ausdifferenzierung des kirchlichen Amtes und einer um sich greifenden Klerikalisierung, Ausbildung von Jurisdiktionsräumen; auf der Ebene der Rechtsquellen: Nebeneinander bzw. Konkurrenz von kirchenrechtlichen Pseudepigraphien und Synodalrecht; erste Kompilationen).

38

Deren Signifikanz relativiert sich allerdings wiederum aus der in letzter Zeit in der historischen Forschung verstärkt relevierten alltagsgeschichtlichen Perspektive: Die große Revolution der Lebensbedingungen ist für breite Bevölkerungsschichten wohl nicht so sehr eine Frage von Antike und Mittelalter und nur in Maßen eine Frage von Recht, Politik und Religion. Bei allen Akzentverschiebungen setzt sie gerade in existenziellen Fragen (allgemeine Lebenserwartung, Heilungschancen im Krankheitsfall, Kindbettrisiko und Säuglingssterblichkeit), hinsichtlich landwirtschaftlicher und handwerklicher Produktionsweise, in der Hauswirtschaft, und schließlich in den Fragen von Mobilität und Informationsfluss vor allem die medizinisch-technischen Errungenschaften der so genannten „Neuzeit“ voraus.

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VI. Ex Occidente lex? Wenn im Zusammenhang von Entstehung und Entfaltung des Christentums in zeitlicher Hinsicht von Antike bzw. Spätantike die Rede ist, ist im Sinn der politischen Geographie in besonderer Weise der Großraum des römischen Reichs mit seiner die Ausgestaltung kirchlichen Rechts auf vielfältige Weise beeinflussenden Rechtsordnung in den Blick zu nehmen. Zugleich muss man sich aber bewusst machen, dass das Christentum schon früh auch in politischen Einheiten wie dem Perserreich und dem Reich von Axum Wurzeln schlug, die im Prinzip immer außerhalb des Imperiums verblieben waren bzw. wie Ägypten und Syrien in Spätantike/Frühmittelalter wieder aus diesem ausschieden. Das Christentum entwickelte sich also in einer Welt mit vielen Gesichtern, deren politisch-kulturelle und rechtliche Strukturierung allerdings nicht einfach vorgegeben war. Sie entfaltete sich in einem hohen Maß praktisch gleichzeitig mit dem Christentum. Das gilt insbesondere für das Römische Reich, das sich selbst als ein multiethnisches, multikulturelles, multireligiöses, multilinguales Gebilde darstellt. Für manche christliche Zeitgenossen des kleinasiatischen Rhetors Aelius Aristides (2. Jh.), in dessen berühmter Romrede die „Pax Augusta“ geradezu als „goldenes Zeitalter“ gepriesen wurde, fallen der Aufstieg des Imperiums und der Anfang des Christentums „logisch“ in eins. Melito v. Sardes etwa präsentiert das Christentum in seiner Apologie als eine „Philosophie, die zugleich mit dem Reich groß geworden ist, mit Augustus ihren Anfang genommen hatte“39. Für Origenes ist es „klar, daß die Geburt Jesu unter der Regierung des Augustus erfolgte, der die große Mehrzahl der auf Erden lebenden Menschen durch ein einziges Kaiserreich sozusagen in eins gebracht hatte“40. Ps 71,3 – „in seinen Tagen ging Gerechtigkeit auf, und eine Fülle des Friedens entstand“ – deutet er auf die Geburt Jesu unter Augustus. Zumindest indirekte Rückwirkungen hatte die Expansion des Römischen Reiches auch auf die in anderen politischen Gebilden beheimateten Christen. Beispielsweise förderte die Annäherung des römischen Kaisertums an das Christentum in Verbindung mit den üblichen zwischenstaatlichen Grenzkonflikten die repressive Haltung der persischen Obrigkeit gegen die Christen bis hin zu Verfolgungen. Die politische Konstellation machte Distanz der einheimischen Christen zur Kirche des feindlichen Nachbarreiches nötig und führte rasch zur Ausbildung einer autokephalen Kirche mit in einigen rechtlich-institutionellen Fragen (so z. B. hinsichtlich des Reglements für die Ehe von Klerikern) sehr eigenständigem Gepräge. Ausgehend von den häufig von Grenzkonflikten mit dem oströmischen Imperium betroffenen (ost)syrisch geprägten Gebieten expandierte das 39

Überliefert bei Eusebios, Hist. Eccl. IV,26,7 – 8.

40

Contra Celsum II,30.

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Christentum – auch ohne jene staatliche Unterstützung, die der römische Kaiser, sobald er Christ geworden war, missionarischen Unternehmungen angedeihen ließ – überaus erfolgreich über die Handelswege des Perserreiches in den Fernen Osten. Die ostsyrisch geprägte Kirche fasste nicht nur sehr früh Fuß in Indien. Ihr Einfluss reichte zeitweise auch bis in die Mongolei und selbst bis nach China, obwohl sie mangels breiterer Rezeption in den lokalen Eliten und vor allem im persischen Herrscherhaus nie zur dominanten Religion wurde und in der Folge auch nie staatskirchliche Strukturen entstanden. Dagegen kam es im Kaukasus, wo die armenischen und georgischen Gebiete ethnisch-kulturell sehr eigenständige Gebilde mit (wechselhafter) relativer politischer Eigenständigkeit „zwischen den Fronten“ des römischen und des persischen Reichs bildeten, bereits am Anfang des 4. Jahrhunderts zu einer engen Verknüpfung von Kirche und Führungselite und in der Folge auch zu einem eigenständigen volkskirchlichen Gepräge. Ebenso nahm das Christentum im Reich von Aksum (= äthiopisches Reich) rasch eine staatskirchliche Entwicklung, wobei es sich mit einer semitisch geprägten, von der hellenistischen Welt verhältnismäßig unberührten Kultur verband. Die traditionelle kirchengeschichtliche Forschung und ihr folgend, die historische Kanonistik hat sich (jedenfalls im Westen) meist dem lukanischen Geschichtswerk folgend auf den Weg konzentriert, den die Jesusbewegung ausgehend von Jerusalem über Syrien und Kleinasien in den Westen nahm: Das starke paulinische Substrat überlagert dabei regelmäßig vor- und nebenpaulinische Traditionen, da diese literarisch nur schwer fassbar sind. Man stellte den Weg des Paulus, seine Erfolge und Misserfolge, die ersten „europäischen“ Christen (Lydiaüberlieferung) und vor allem das stadtrömische Christentum heraus. Für die folgenden Jahrhunderte wurde zwar das (vorrangig im Osten angesiedelte) Synodalgeschehen, die Entstehung von Jurisdiktionsräumen und die Konkurrenz zwischen bischöflich-institutionell und asketisch-charismatisch akzentuierter Kirchenordnung nicht gerade negiert. Größeres Interesse herrschte allerdings bei den meisten Fachvertretern der historischen Kanonistik an Fragenkreisen wie der primatialen Entwicklung im Westen und an den gegenüber dem erstinkulturierten römischen „Stadtchristentum“ neuen kirchlichen Strukturen bei der Germanen, wobei der noch im 19. Jh. wirkende Wiener Ostkirchenrechtler Josef Zhishman und an der Wende vom 19./20. Jh. einige vor allem mit den „ältesten Quellen des orientalischen Kirchenrechts“41 befasste Autoren wie Hans Achelis, Johs. Flemming und Franz-Xaver Funk durchaus andere Akzente setzten.

41

Der erste Bd. der gleichnamigen Reihe zu den so genannten Hippolytkanones erschien als Bd. 4 in „Texte und Untersuchungen“, Leipzig 1891; Bd. 2 war die bis heute maßgebliche kommentierte deutsche Übers. der syrischen Didaskalia, Leipzig 1904.

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Bereits ihre Arbeiten konnten zeigen, dass sich gegenläufig zu der bekannten Wendung „ex oriente lux – ex occidente lex“ bei der Erstinkulturation des Christentums ein deutliches Ost-West-Gefälle abzeichnet. So ist nicht nur generell die Expansion des Christentums „im Westen ganz offensichtlich nicht von Rom, sondern vom Osten, besonders von Kleinasien ausgegangen“42. Darüber hinaus war eine kontinuierliche Entwicklung nach dem Dreiphasenschema des Inkulturationsmodells eigentlich nur im Osten möglich. Im Westen störten zahlreiche Brüche weit stärker einen idealtypischen Verlauf. Das Ergebnis war vielfach die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ im Nebeneinander der alten, nunmehr christlich-romanischen, Bevölkerung mit ihrer traditionellen Sprache, Kultur, mit ihren religiösen Vorstellungen und Rechtsgewohnheiten einerseits und teilweise assimilierten neuen gentes im raschen Wechsel politischer Einheiten andererseits. Letzteren trat das Christentum erstmals in einer bereits stark inkulturierten Form als integraler Bestandteil der als Kulturmacht empfundenen Romanitas entgegen. Ansätze in dieselbe Richtung gibt es freilich auch im Osten, wo die Erstinkulturation in Armenien, Georgien und Äthiopien – von einer bereits im 2./3. Jahrhundert vielleicht vorhandenen Frühinkulturation in kleinem Ausmaß in den Kaukasusregionen sei hier aufgrund der extrem schlechten Quellensituation einmal abgesehen – erfolgte, als das Christentum sich strukturell schon relativ weit entwickelt hatte. Das starke kulturelle Eigenbewusstsein verhinderte jedoch z. B. eine sich verfestigende sprachliche Dominanz des Griechischen oder Syrischen in einer dem Lateinischen entsprechenden Form. Zu einer solchen könnte es allerdings in den quellenmäßig schlecht dokumentierten ostsyrischen Tochterkirchen gekommen sein. Generell ist jedoch die Quellenlage sowohl hinsichtlich frühchristlicher Zeugnisse insgesamt als auch hinsichtlich spezifisch rechtlich akzentuierter christlicher Quellen im speziellen in den ersten Jahrhunderten für den Osten weitaus besser als für den Westen. So verweisen fast alle bedeutenderen frühen kirchenrechtlichen Sammlungen (mit Ausnahme der nordafrikanischen und spanischen Synodalsammlungen) in den Osten, nicht nur das geschichtswirksame antiochenische Synodikon, sondern insbesondere auch die pseudepigraphischen „apostolischen“ Kirchenordnungen.43

42 43

N. Brox, Kirchengeschichte des Altertums, Düsseldorf 41992, S. 29.

Die unter dem Namen „Traditio Apostolica“ geläufige Schrift wurde zwar häufig in Rom lokalisiert, dies ist allerdings keineswegs sicher, ja sogar eher unwahrscheinlich. Zum aktuellen Forschungsstand vgl. E. M. Synek, Traditio Apostolica, in: LKStKR 3, 2004, S. 695 f.

Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung Übersetzung und Anmerkungen Von Reinhard Meßner In einer Festgabe für einen eminenten Kenner der altkirchlichen Rechtsquellen, wie es Johannes Mühlsteiger ist1, mag eine Übersetzung einer zwar seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der westlichen Wissenschaft bekannten2, aber bis heute nur allzu wenig beachteten3 Kirchenordnung ihren Platz finden. K ¿šÍæòàâ)4, eine Reihe von Es handelt sich um die „Lehre der Apostel“ (¾ÐÙàüƒ 27 Canones, eingebettet in eine Rahmengeschichte, in der die Priesterweihe der Apostel und ihre Befähigung zur Weltmission sowie das erste Wachsen der jungen Christengemeinde erzählt wird. Nachdem man lange Zeit eine griechische Urfassung der Canones angenommen hat, ist heute wohl klar, dass die „Lehre der Apostel“ ein original syrischsprachiger Text ist5, die einzige original

1

Kürzlich ist nun seine Geschichte der altkirchlichen Rechtsquellen erschienen: Johannes Mühlsteiger, Kirchenordnungen. Anfänge kirchlicher Rechtsbildung (= KStT 50), Berlin 2006. 2

Zur Forschungsgeschichte und den bisher vorliegenden Editionen und Übersetzungen sowie zu den wesentlichen Einleitungsfragen bietet die beste Orientierung Witold Witakowski, The Origin of the „Teaching of the Apostles“, in: IV Symposium Syriacum. Literary Genres in Syriac Literature (Groningen – Oosterhesselen 10 – 12 September). Ed. by Hendrik J. W. Drijvers [u. a.] (= Orientalia Christiana Analecta 229), Rom 1987, S. 161 – 171. 3 So kommt die Schrift nicht vor im Lexikon der antiken christlichen Literatur. Hrsg. v. Siegmar Döpp / Wilhelm Geerlings, Freiburg i. Br. 32002; auch nicht bei Bruno Steimer, Vertex Traditionis. Die Gattung der altkirchlichen Kirchenordnungen (= Beihefte zur ZNW 63), Berlin 1992. 4

In der handschriftlichen Überlieferung, wohl auf Grund ihrer Stellung nach der Doctrina Addai, zuweilen auch „Lehre des Addai“ genannt, was in der Literatur zuweilen aufgenommen wird und zu Verwechslungen mit der die Abgarlegende bietenden Doctrina Addai führen kann. 5

So überzeugend Witakowski, Origin (Anm. 2), vor allem auf Grund von VetusSyra-Lesarten. S. dazu auch unten Anm. 29 und 31.

306

Reinhard Meßner

syrischsprachige Kirchenordnung überhaupt. Als „erste Synode der Apostel“ (entsprechend der Rahmenordnung, die die Festsetzung der Canones am Pfingsttag – zugleich Himmelfahrtstag – ansetzt) ist sie in spätere Rechtsquellen aufgenommen worden.6 Die maßgebliche Edition des Gesamttextes (Canones und Rahmenerzählung) lieferte 1864 William Cureton7, nach der ältesten erhaltenen Handschrift, Brit. Libr. Add. 14644 aus dem 5. oder 6. Jahrhundert. Für die Canones machte der unermüdliche Arthur Vööbus eine Reihe von weiteren Handschriften (u. a. auch, in einer sehr ursprünglichen Gestalt, im westsyrischen Synodikon) ausfindig8; auf dieser breiten Handschriftengrundlage war er in der Lage, die Canones in einer kritischen Edition vorzulegen9. Der Ursprung der Kirchenordnung ist, wie zuletzt Witold Witakowski10 überzeugend dargelegt hat, in Edessa zu suchen. Es gibt, wie Witakowski vermerkt hat und wie auch im folgenden Fußnotenkommentar deutlich wird, eine Fülle von sprachlichen und sachlichen Übereinstimmungen mit der „Lehre des Apostels Addai“11, der bekannten Fassung der Abgarlegende, also der Legimitati6

Die ausführlichste Information darüber findet sich bei Hubert Kaufhold, Die „Lehre des Apostels Addai“ („Lehre der Apostel“). Zur Überlieferung pseudo-apostolischer Kanones in der syrischen Literatur, in: Paul de Lagarde und die syrische Kirchengeschichte. Hrsg. v. Göttinger Arbeitskreis für syrische Kirchengeschichte, Göttingen 1968, S. 102 – 128. 7 Ancient Syriac Documents […]. Discovered, edited, translated, and annotated by William Cureton, London 1864, S. 24 – 35 (syr. Paginierung) (syr. Text); 24 – 35 (engl. Übers.), auch mit wertvollen Anmerkungen (S. 166 – 173). 8 Arthur Vööbus, New Light on the Text of the Canons in the Doctrine of Addai, in: Journal of the Syriac Academy (Bagdad) 1 (1975), S. 3 – 21. Dieser Beitrag enthält, jedenfalls in der mir vorliegenden Kopie, entgegen dem im Text erhobenen Anschein, keine Edition der Canones, sondern nur eine kurze Beschreibung der Handschriften und einen kritischen Apparat (!). 9

Und zwar in seiner Edition der syrischen Didaskalie, da die Canones in einem Teil der Didaskalie-Überlieferung neben einigen anderen Rechtsmaterialien nach cap. 3 interpoliert sind (unter dem Titel: „Aus der Schrift des Apostels Addai“). Die Canones finden sich in CSCO.S 175, 41 – 49 (syr. Text) / 176, 36 – 41 (engl. Übers.). 10 11

Witakowski, Origin (Anm. 2).

Nachdem W. Cureton eine lückenhafte Version aus der Handschrift Brit. Libr. Add. 14644 (also derselben Handschrift, nach der er die Doctrina Apostolorum herausgab) publiziert hatte (Cureton, Documents [Anm. 7], S. 5 – 23 [syr. Paginierung] [syr. Text]; 6 – 23 [engl. Übersetzung], wurde der vollständige Text 1876 von George Phillips vorgelegt. Seine Edition ist wiederabgedruckt und mit neuer englischer Übersetzung versehen in: The Teaching of Addai. Translated by George Howard [= Society of Biblical Literature, Texts and Translations 16; Early Christian Literature Series 4], Ann Arbor 1981 [im Folgenden: Phillips / Howard]).

Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung

307

onserzählung der edessenischen Kirche, die in der vorliegenden Gestalt wohl aus dem frühen 5., frühestens aus dem späten 4. Jahrhundert stammt12. Dies gilt für die Canones wie auch für die Rahmengeschichte. Schwieriger als die Frage nach der Lokalisierung ist die nach der Datierung unseres Dokuments zu beantworten. Hatte noch Vööbus auf die archaischen Züge der Canones hingewiesen (z. B. bei der Liste der im Gottesdienst zu lesenden Schriften in can. 10 oder bei der Bezeichnung der Bischöfe als „Leiter K  ¾åăÁÊâ] in der ganzen Schrift) und, ohne sich genau und Aufseher“ [ÀƒÍùñ† festzulegen, für eine sehr frühe Ansetzung plädiert13, so ist zuletzt Witakowski14 für eine Datierung zumindest der Canones in das zweite Viertel des 4. Jahrhunderts eingetreten. Vor allem can. 25, der das Recht der Könige festlegt, am Altar zu stehen, macht eine vornizänische Datierung schwierig.15 Freilich ist zu bedenken, dass Kirchenordnungen üblicherweise nicht ein für allemal niedergeschrieben werden, sondern wachsen. Dass ein Grundbestand der Canones (wohl kaum die Rahmenerzählung) in vornizänische Zeit zurückreicht, scheint mir durchaus möglich. Eine sichere Scheidung älteren und jüngeren Bestandes ist sicher nicht verantwortlich durchführbar. Die Rahmenerzählung wird wohl später sein als die Canones, ihre engen Verbindungen mit der Doctrina Addai (wobei offensichtlich die Doctrina Addai von der Doctrina Apostolorum abhängig ist) lassen eine Ansetzung in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts möglich erscheinen. Bemerkenswert ist die Bezeugung der Canones in einem angeblichen Brief des Marutha von Maipherkatѽ an Bischof Isaak von Seleukeia-Ktesiphon, wonach Isaak von Marutha die Canones der Apostel erbeten habe16. Der Brief, wohl der Begleitbrief der Übersendung der Canones, referiert einen Teil von ihnen, allerdings in einer gegenüber der ursprünglichen Fassung deutlich modifizierten Gestalt. Ob der Brief des Marutha authentisch ist, lässt sich schwer sagen, er ist leider nur in der Art eines Trümmerhaufens, zusammen mit ande-

12

Zur Abgarlegende und zur Geschichte der Christianisierung Edessas überhaupt vgl. den exzellenten Artikel von Hendrik J. W. Drijvers, Edessa, in: TRE 9 (1982), S. 277 – 288. Drijvers sieht den Ursprung der bekanntlich zuerst in der Kirchengeschichte des Eusebius belegten Abgarlegende – wie, im einzelnen sicher nicht unproblematisch, den Ursprung des größten Teils der frühen syrischen Literatur – in antimanichäischer Apologetik in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts. 13

Vööbus, New Light (Anm. 8), S. 3: „we have to do with a layer in the ancient Christian canonical literature which must be extremely archaic in its origin“. 14

Witakowski, Origin (Anm. 2).

15

Vgl. dazu allerdings auch u. Anm. 90.

16

CSCO.S 191, 38 f. Vööbus (syr. Text) / 192, S. 34 f. (engl. Übers.).

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Reinhard Meßner

ren, teilweise sicher nicht von Marutha stammenden Stücken erhalten. Marutha werden bekanntlich auch die 73 pseudonizänischen Kanones zugeschrieben17; diese beziehen sich zweimal explizit auf unsere pseudapostolischen Canones18. Marutha hat jedenfalls der Kirche im Sassanidenreich, besonders anlässlich der Synode in Seleukeia-Ktesiphon 410, reichskirchliche Rechtsmaterialien überbracht, darunter wohl auch die Canones der Doctrina Apostolorum.19 Dann bildet 400 auf alle Fälle die oberste zeitliche Grenze für die Entstehung der Canones, doch sind sie wohl erheblich älter. Interessant ist unsere Kirchenordnung vor allem für die Geschichte der Liturgie und der kirchlichen Verfassung in Syrien. Im Sinn einer größeren Bekanntheit und besseren Zugänglichkeit biete ich im Folgenden eine Übersetzung – die erste in deutscher Sprache – und in Form von Fußnoten Elemente eines Kommentars. Bei den Canones, nicht bei der Rahmenerzählung, habe ich auch die äthiopische Version übersetzt, die durch die Teiledition des Senodos durch Alessandro Bausi seit einem Jahrzehnt allgemein zugänglich ist20; die arabische Version, auf der die äthiopische beruht, harrt noch einer angemessenen Edition21. Die Lehre der Apostel Wann Christus zu seinem Vater aufstieg und wie die Apostel die Gabe des Geistes empfingen und die Ordnungen und Gesetze der Kirche und wohin jeder einzelne von den Aposteln ging und woher die Länder des Römerreiches die Hand des Priestertums empfingen.

17

Editiert von Arthur Vööbus in CSCO.S 191 (syr. Text) / 192 (engl. Übers.).

18

S. unten Anm. 68 und 74.

19

Vgl. dazu Reinhard Meßner, Die Synode von Seleukeia-Ktesiphon 410 und die Geschichte der ostsyrischen Messe, in: Haec sacrosancta synodus. Konzils- und kirchengeschichtliche Beiträge. FS Bernhard Kriegbaum. Hrsg. v. Reinhard Messner / Rudolf Pranzl, Regensburg 2006, S. 60 – 85, hier S. 62 – 67. 20

CSCO.Ae 101, 9 – 40 Bausi (die Canones auf S. 16 – 31; äth. Text) / 102, 4 – 18 (die Canones auf S. 9 – 15; ital. Übers.). In der äthiopischen Version sind es, wie in der zugrunde liegenden arabischen, 30 Kanones. 21

Eine summarische Beschreibung findet sich in: Die Kirchenrechtsquellen des Patriarchats Alexandrien. Zusammengestellt und zum Teil übersetzt von Wilhelm Riedel, Leipzig 1900, S. 19 f.; die arabische Rahmenerzählung hat Riedel übersetzt (ebd. S. 159 – 164).

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Im Jahr 339 der Herrschaft der Griechen22 im Monat +ҕeziran23, am vierten Tag desselben, welcher war ein Sonntag und die Vollendung der Pentekoste24, an eben diesem Tag kamen die Jünger von Nazaret in Galiläa, von dort, wo verkündet worden war die Empfängnis unseres Herrn, zum Berg, der genannt wird Ölberg, wobei unser Herr mit ihnen war, aber sich nicht zeigte. Und zur Zeit des großen Morgens erhob unser Herr seine Hände und legte sie auf die Häupter der elf Jünger und gab ihnen die Gabe des Priestertums.25 Und plötzlich nahm ihn eine leuchtende Wolke auf, und sie sahen ihn, wie er aufstieg zum Himmel.26 Und er setzte sich zur Rechten seines Vaters. Und sie 22

Gerechnet nach der seleukidischen Ära, beginnend mit 312/311 v. Chr. Das Jahr ist also 27/28 christlicher Zeitrechnung. 23 Der +ҕeziran ist der zehnte Monat, er entspricht dem Juni. Der Ostersonntag ist demgemäß der 16. Nisan (April), der Todestag Jesu, der johanneischen Chronologie folgend, der 14. Nisan. 24 ¾ÓéùÓæñƒ ¾ĆãßÍü: also ist Pentekoste hier als Zeitraum, nicht als der Tag des Wochenfestes / Pfingstfestes verstanden. Die Pešitѽta hat in Apg 2,1, wie die Vulgata, „als sich die Tage der Pentekoste erfüllten“. Dass der Pfingsttag in der Doctrina Apostolorum zugleich der Himmelfahrtstag ist, weist freilich auf die ursprüngliche Bedeutung des 50. Tages. 25

Neutestamentlicher Ausgangspunkt ist natürlich Lk 24,50 f., wo von der segnenden Handauflegung der Apostel durch Jesus vor der Himmelfahrt die Rede ist. Dass diese Handauflegung die Priesterweihe der Apostel darstellt, ist in der syrischen Theologie verbreitet. Jesus hat nach dieser Überlieferung das aaronitische (!) Priestertum bei seiner Taufe durch den Priester Johannes den Täufer unter Handauflegung empfangen und es mit der Handauflegung vor der Himmelfahrt an die Apostel und damit an die Kirche weitergereicht. Vgl. etwa Aphrahat, dem. 21,13: „Jesus wurde von Johannes gesalbt, damit er Hoherpriester (¾Á˜¾åÌÜ) würde an Stelle der Priester, die das Gesetz übertreten“ (PS 1, 964 Parisot); in dem. 6,13 (PS 1, 289 Parisot) spricht Aphrahat von der Handauflegung zum Priestertum, die Jesus erhalten habe; in dem. 23,20 (PS 2, 65 Parisot) heißt es, dass Jesus von Johannes den „Namen des Priestertums“ empfangen hat. Vgl. zur Thematik mit weiteren Belegen Robert Murray, Symbols of Church and Kingdom. A Study in Early Syriac Tradition, Piscataway 22004, S. 178 – 182. 26 Der Pfingsttag ist zugleich Himmelfahrtstag; entsprechend wird nach can. 9 am 50. Tag nach Ostern das Himmelfahrtsfest gefeiert. Über den Termin der Himmelfahrt am Pfingsttag vgl. die Materialzusammenstellung bei Urban Holzmeister, Der Tag der Himmelfahrt des Herrn, in: ZKTh 55 (1931), S. 44 – 82, hier S. 61 – 67. Der Aufsatz ist trotz seiner historisch-apologetischen Zielsetzung auf Grund des reichen patristischen Materials nach wie vor wichtig. Zu den Belegen für die Himmelfahrt am Pfingsttag zählt wohl auch der Anfang der syrischen Johannesakten (frühestens spätes 4. Jahrhundert), wenn auch der Text hinsichtlich der zeitlichen Abfolge nicht restlos klar ist: „Nach der Himmelfahrt unseres Herrn, als sich die Tage der Pentekoste erfüllten [= Apg 2,1 Pešitѽta] und der Paraklet ins Obergemach kam und alle Apostel mit Geist der Heiligkeit erfüllt

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priesen Gott, dass sie seinen Aufstieg gesehen hatten, wie er ihnen gesagt hatte. Und sie freuten sich, dass sie die rechte Hand des Priestertums des Hauses von Mose und Aaron27 empfangen hatten. Und von dort stiegen sie hinauf und gingen in das Obergemach, in welchem unser Herr mit ihnen das Pascha gehalten und wo auch die Debatte stattgefunden hatte, wer unseren Herrn an seine Kreuziger ausliefere. Dort fand auch eine Debatte statt (über die Frage), wie sie sein Evangelium verkündigen sollten in der Welt. Und wie im Obergemach das Mysterium des Leibes und Blutes unseres Herrn in der Welt zu herrschen begonnen hatte, so begann auch von dort die Lehre seiner Verkündigung in der Welt Fuß zu fassen. Und als sie, die Jünger, sich in dieser Schwierigkeit befanden, wie sie sein Evangelium den fremden Sprachen verkündigen sollten, die ihnen unbekannt waren, da sprach der eine zum anderen so: „Wenn wir (auch) darauf vertrauen, dass Christus Machttaten und Wunder wirkt durch uns vor den fremden Völkern, deren Sprachen wir nicht verstehen und die ihrerseits mit unserer Sprache nicht vertraut sind, wer soll sie lehren und ihnen bekanntmachen, dass durch den Namen Christi, des Gekreuzigten, diese Machttaten und Wunder geschehen?“ Und als sie, die Jünger, in diesen Erwägungen waren, stand Simon Kephas auf und sagte zu ihnen: „Nicht an uns liegt es, wie wir sein Evangelium verkündigen sollen, sondern an unserem Herrn, der weiß, wie wir sein Evangelium in der Welt verkündigen können. Wir vertrauen aber auf seine Vorsehung uns gegenüber, die er uns verheißen hat, als er sagte: ‚Wenn ich hinaufsteige zu meinem Vater, sende ich

wurden und jeder einzelne von ihnen in einer verschiedenen Zunge sprach, dann nach (einigen) Tagen …“ (Apocryphal Acts of the Apostles, edited from Syriac Manuscripts in the British Museum and Other Libraries by W. Wright. Vol. I: The Syriac Texts, London 1871, Nachdr. Hildesheim 1990, S. 4 [syr. Pag.]; Vol. II: The English Translation, London 1871, Nachdr. Hildesheim 1990, S. 3). Der Text ist, wie gesagt, nicht restlos klar, doch scheint es mir wahrscheinlicher, dass das ÊÜ, das den Satz über die Geistausgießung einleitet, die Gleichzeitigkeit des folgenden Satzes zur Himmelfahrt markiert, dass also insgesamt nur zwei Ereignisse geschildert werden: erstens (ÊÜ  ˜ÿÁ çâ) Himmelfahrt und K  ˜ÿÁ çâ çØÊ؅) der Beschluss der Apostel Pfingsten am Pfingsttag; zweitens (¿ÿâÍØ einige Tage danach, das Unternehmen der Völkermission in Angriff zu nehmen. – Die arabische (Riedel, Kirchenrechtsquellen [Anm. 21], S. 160) und die äthiopische Version (CSCO.Ae 101, 10 [äth. Text] Bausi / 102, 4 [ital. Übers.]) der Rahmengeschichte haben gemäß den Angaben der Apostelgeschichte die Himmelfahrt auf den vierzigsten Tag verlegt. 27

Also auch hier handelt es sich bei dem von Jesus an die Apostel weitergegebenen Priestertum explizit um das aaronitische Priestertum.

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euch den Geist, den Parakleten, der euch alles lehren wird, was euch nötig ist zu erkennen und bekanntzumachen‘28.“ Und als Simon Kephas dies zu den Aposteln, seinen Gefährten, gesagt und sie (daran) erinnert hatte, wurde ihnen eine geheime Stimme hörbar, und ein angenehmer Geruch29, der der Welt fremd ist, wendete sich ihnen zu, und Zungen von Feuer kamen zwischen der Stimme und dem Geruch vom Himmel herab auf sie, und sie setzten sich auf jeden einzelnen von ihnen und ließen sich nieder. Und wie die Zunge (war), die jeder einzelne von ihnen empfangen hatte, so bereitete er sich, zu gehen an den Ort, an dem eben diese Zunge gesprochen und verstanden wurde. Und in dieser Gabe des Geistes, die ihnen gegeben wurde an eben diesem Tag, ordneten sie solche Ordnungen und Gesetze30 an, die dem Evangelium ihrer Verkündigung entsprachen und dem wahren und gläubigen Lehren ihrer Lehre. Can. 1. Also haben die Apostel angeordnet: Nach Osten hin betet, denn „wie der Blitz, der aufblitzt von Osten und gesehen wird bis zum Westen, so wird das Kommen des Menschensohns sein“31, auf dass wir dadurch wissen und verstehen, dass er von Osten gesehen wird plötzlich.32

28

Es handelt sich um ein Mischzitat aus Joh 16,7 (Sendung des Parakleten durch Jesus nach seinem Weggang zum Vater); 14,26 (der Paraklet wird alles lehren) und 20,17 (Hinaufsteigen zum Vater). 29

¾ĆãÙéÁ ¾Ï~˜; dies ist wohl eine Vetus-Syra-Lesart von Apg 2; s. vor allem Liber Graduum 20,10 (PS 3, 554 Kmosko): †ÌÙàî ¾ÓÙàøûñ ¾Ï†˜ƒ …šÍãÙéÁ Ñؘ ¿†…I ¿š~. Vgl. dazu Joseph Kerschensteiner, Beobachtungen zum altsyrischen Actatext, in: Bib. 45 (1964), S. 63 – 74, hier 66 f., der neben der zitierten Stelle aus dem Liber Graduum noch Ephräm-Belege anführt. 30 K ) bezieht sich ausdrücklich die K ¾éÝÒ Auf diese „Ordnungen und Gesetze“ (¾èÍãå† Doctrina Addai. In der Abschiedsrede des Addai vor seinem Tod schärft Addai ein (Phillips / Howard [Anm. 11], S. ¾Ćâ bzw. 82): „Und in Hinblick auf die Ordnungen und Gesetzen, die in Jerusalem festgesetzt wurden und nach denen sich auch die Apostel, meine Brüder, richteten: auch ihr sollt nicht von ihnen abweichen und nicht von ihnen etwas wegnehmen, wie auch ich mich bei euch nach ihnen gerichtet habe und nicht von ihnen abgewichen bin zur Rechten oder zur Linken.“ 31

Mt 24,27 in einer Vetus-Syra-Version (Pešitѽta: „wie der Blitz, der ausgeht (úòå, entsprechend dem griechischen GXZGNSGKP) von Osten“, während der Sinai-Syrer wie unser Text das Verb —ûÁ (aufblitzen) hat. 32

Die hier gegebene Begründung der Gebetsostung mit der Parusie Christi vom Osten her ist zweifellos die älteste Begründung überhaupt. Die Didaskalie (CSCO.S 179, S. 144 Vööbus) hat dieselbe Begründung, führt aber anstelle von Mt 24,27 Ps 67,34

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[Äthiopisch:] 1. Anordnung. Dass ihr Gebet nach Osten hin sei, denn unser Herr Jesus Christus hat gesagt, dass Gott selbst33 kommen wird vom Himmel am letzten der Tage wie der Blitz, der ausgeht von Osten und gesehen wird bis zum Westen, und deshalb wissen wir, dass sein Kommen sein wird von Osten.

Can. 2. Die Apostel haben noch angeordnet: Am ersten Tag der Woche soll Gottesdienst34 sein und Verlesung der heiligen Schriften und Eucharistie35, denn am ersten Tag der Woche ist unser Herr aus dem Haus der Toten aufer-

(LXX) an: „Gebt Ehre Gott, der reitet auf dem Himmel des Himmels nach Osten“ (entsprechend der LXX [MCVC CXPCVQNCL]; die Pešitѽta hat „von Osten“, was freilich noch besser zur Deutung des Verses auf die Parusie passt). Zur Bedeutung der Parusieerwartung für die Gebetsostung vgl. Franz Josef Dölger, Sol salutis. Gebet und Gesang im christlichen Altertum. Mit besonderer Rücksicht auf die Ostung in Gebet und Liturgie (= Liturgiegeschichtliche Forschungen, Bd. 4/5), Münster 21925, S. 198 – 219 (mit mancherlei Material aus dem 2. Jahrhundert, das aber für sich genommen nicht ganz eindeutig ist). Auch unser Text und die syrische Tradition insgesamt wird bei Dölger ausführlich gewürdigt (S. 170 – 185). Noch deutlicher als Dölger – und in der Sache sicher mit Recht – hat E. Peterson den Zusammenhang zwischen Gebetsostung und Parusieerwartung (und der Darstellung des Kreuzes als Markierung der Orientierung) hervorgehoben: Erik Peterson, Die geschichtliche Bedeutung der jüdischen Gebetsrichtung, in: Ders., Frühkirche, Judentum und Gnosis. Studien und Untersuchungen, Freiburg i. Br. 1959, Nachdr. Darmstadt 1982, S. 1 – 14; ders., Das Kreuz und das Gebet nach Osten, in: ebd., S. 15 – 35. Ob Petersons frühe Datierungen immer zutreffend sind, muss freilich dahingestellt bleiben; dass der Zusammenhang zwischen Orientierung, Parusieerwartung und Kreuz gerade in Syrien von besonderem Gewicht war, hat er jedenfalls überzeugend herausgearbeitet. 33

Oder: „er selbst, der HERR“ (**ß$݃´™ß€kG@).

34

¿ÿýãüš; damit ist offensichtlich ein Gebetsgottesdienst gemeint, an den sich am Sonntag die Schriftlesung und die Eucharistie anschließen. Ähnlich ordnet das Testamentum Domini (I 26) an, dass der Bischof früh am Morgen das Volk versammeln soll und bis zum Sonnenaufgang ¿ÿýãüš, hier ein ausführlich geschilderter Tagzeitengottesdienst (¿ÿØûòü ¿ÿýãüš) stattfinde (Testamentum Domini nostri Jesu Christi. Nunc primum edidit, latine reddidit et illustravit Ignatius Ephraim II. Rahmani, Mainz 1899, Nachdr. Hildesheim 1968, S. 50); darauf folgt die Schriftlesung („die Propheten und die übrigen“ sowie das Evangelium) (I 28 init.: ebd., S. 58), schließlich (I 28 fin.: ebd., S. 66) wird die Eucharistie dargebracht. 35

Hier könnte sich noch die ursprüngliche Selbständigkeit der Schriftlesung (gemäß synagogalem Brauch) gegenüber der Eucharistie spiegeln; beides muss eigens angeordnet werden. Ich habe anderswo nachzuweisen versucht, dass die Verschmelzung von Schriftlesung und eucharistischem Mahl in der persischen Kirche erst anlässlich der Synode von Seleukeia-Ktesiphon 410 – der unsere Kanones vorgelegen sind – vonstatten gegangen ist: Meßner, Synode von Seleukeia-Ktesiphon (Anm. 19), S. 75 – 84.

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standen und am ersten Tag der Woche ist er in der Welt aufgegangen36 und am ersten Tag der Woche ist er in den Himmel aufgestiegen37 und am ersten Tag der Woche wird er zuletzt erscheinen mit den Engeln des Himmels. [Äthiopisch:] 2. Anordnung. Über den Sabbat der Christen. Dass man sich versammeln soll am ersten Tag zur dritten Stunde zum Gebet und zur Verlesung der Bücher des Alten und Neuen (Testaments) und zur Darbringung der Eucharistie, denn an ihm hat der Engel der Maria angekündigt, dass sie den Christus empfangen wird, und an ihm ist er von den Toten auferstanden und an ihm wird er vom Himmel herabsteigen am Tag der Auferstehung mit seinen Engeln in großer Herrlichkeit und wird Platz nehmen mit seinen heiligen Helfern und richten die Lebenden und die Toten.

Can. 3. Die Apostel haben noch angeordnet: Am vierten Tag der Woche soll Gottesdienst38 sein, denn an ihm hat unser Herr ihnen geoffenbart über sein

36 Ñåƒ (aufgehen, vor allem im Sinn des Sonnenaufgangs) ist im syrischen Sprachgebrauch terminus technicus für Epiphanie (¾Ðåƒ; so auch in unserer Schrift in can. 6); das „Aufgehen“ Christi ist seine Geburt als die sichtbare (Erst-)Erscheinung in der Welt. Dass hier die Geburt Jesu gemeint ist, kann man also zumindest nicht ausschließen; sie wäre dann an einem Sonntag angesetzt. Möglich ist aber auch die Übersetzung von Ñåƒ mit „er hat er sich gezeigt“, dann wären (der Abfolge Auferstehung – Erscheinung – Himmelfahrt gemäß) die Erscheinungen des Auferstandenen gemeint. In der äthiopischen Version, die freilich die Ereignisse umstellt, ist explizit von der Empfängnis Christi am Sonntag die Rede. Auch dies könnte eventuell mit dem „Aufgehen“ Christi in der Welt gemeint sein, scheint mir aber am wenigsten wahrscheinlich. Die Ansetzung der Empfängnis am Sonntag ist weit verbreitet (vgl. das Material bei H. Dumaine, Art. Dimanche, in: DACL 4/1, 1920, Sp. 858 – 994, bes. Sp. 988 f.); im dritten Jahrhundert wird etwa von Victorin von Pettau die Empfängnistag am Sonntag bezeugt; fabr. mundi 9 (SC 423, 146 Dulaey): ea die spiritum sanctum Mariam virginem inundasse, qua lucem fecit; in einem mit guten Gründen dem Victorin zugeschriebenen Fragment werden Empfängnis und Auferstehung jeweils an einem Sonntag, den 25. März angesetzt (SC 423, 134 Dulaey): eodem die Dominum fuisse conceptum quo et resurrexit. Der 25. März ist traditionell ein Datum des Todes Christi; dahinter könnte also letztlich die Gleichsetzung von Empfängnis- und Todestag stehen, von woher der Weihnachtstermin am 25. Dezember berechnet worden sein mag. 37

Auch hier wird, wie in der Rahmengeschichte ausführlich erzählt, der Pfingstsonntag als Tag der Himmelfahrt vorausgesetzt. 38 Auch hier ist ein Gebetsgottesdienst anzunehmen (eventuell mit Schriftlesung). Das Fasten ist nicht ausdrücklich genannt, doch wohl selbstverständlich vorausgesetzt. Der älteste Beleg für die wöchentlichen Fasttage Mittwoch und Freitag ist bekanntlich Did 8,1, wohl aus dem syrischen Raum. Für Edessa sind die wöchentlichen Fasttage um 220 belegt (Liber regum regionum 46: PS 2, 607 Nau).

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Gericht(sverfahren) und sein Leiden und seine Kreuzigung und seinen Tod und seine Auferstehung, und es waren die Jünger in dieser Trauer.39 [Äthiopisch:] 3. Anordnung Über den vierten Tag. Dass man Gebet verrichte, wenn man sich versammelt am vierten Tag, denn an ihm hat Jesus ihnen gesagt, dass man ihn ergreifen und kreuzigen und er sterben wird und auferstehen am dritten Tag, und sie waren traurig und besorgt um seinetwillen.

Can. 4. Die Apostel haben noch angeordnet: Am Freitag zur neunten Stunde40 soll Gottesdienst sein, weil das, was gesagt wurde am vierten Tag über das Leiden unseres Erlösers, am Freitag ausgeführt wurde, als die Welten und die Geschöpfe erzitterten und die Leuchten am Himmel verfinstert wurden. 39 Diese Begründung der wöchentlichen Hervorhebung des Mittwochs durch Gottesdienst (und, wie gerade aus der Begründung durch die Trauer der Jünger klar hervorgeht, durch Fasten) setzt offensichtlich voraus, dass Jesus sein letztes Mahl in der Nacht vom Dienstag auf Mittwoch (d. h. in der Nacht des Mittwoch) gehalten und den Jüngern bei diesem Anlass seine Passion vorausgesagt hat. Diese Passionschronologie – und die entsprechende Begründung des Mittwochfastens – findet sich ausführlich im 21. Kapitel der Didaskalie. Abendmahl in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch und Festnahme Jesu in dieser Nacht: CSCO.S 179, S. 206 Vööbus (syr. Text); 189, S. 188 f. (engl. Übers.); Fasten am Mittwoch: „Nicht nach der Art des ersten Volkes, sondern gemäß dem neuen Bund, den ich euch errichtet habe, ist es, daß ihr fasten sollt für sie [sc. die Juden] am vierten Tag der Woche, denn am vierten Tag der Woche begannen sie sich selbst zu zerstören und ergriffen mich“ (CSCO.S 179, S. 208 Vööbus); 180, S. 191 (engl. Übers.). Das Paschafasten und auch das Wochenfasten ist in der Didaskalie stellvertretendes Fasten für die Juden. Die Begründung des Mittwochfastens ist also passiologisch: die Festnahme Jesu am Mittwoch (für unsere Zeitbegriffe: in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch). Dies ist wohl die ursprüngliche Begründung des Wochenfastens am Mittwoch (die passiologische Begründung des Freitagfastens ist ohnedies unproblematisch). Dieselbe Chronologie, die übrigens interessanterweise dem priesterlichen 364-TageSonnenkalender etwa des Jubiläenbuchs oder der Tempelrolle von Qumran entspricht (der 14. Nisan ist jedes Jahr ein Dienstag), findet sich auch bei Epiphanius von Salamis; vgl. die Edition eines fragmentarisch erhaltenen Briefes bei Karl Holl, Ein Bruchstück aus einem bisher unbekannten Brief des Epiphanius, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. II: Der Osten, Tübingen 1928, S. 204 – 224, wo Holl auf die übrigen einschlägigen Passagen bei Epiphanius verweist und auch auf die Didaskalie eingeht. Epiphanius ist wohl von der Didaskalie abhängig. Wohl kaum von der Didaskalie abhängig ist Victorin von Pettau, der ebenfalls das Mittwochfasten mit der Gefangennahme Jesu begründet (de fabr. mundi 3 [SC 423, S. 140 Dulaey]: homo Christus Iesus … tetrade ab impiis comprehensus est). Auch in diesem Punkt enthält die Doctrina Apostolorum ältestes Traditionsgut. 40

Am Freitag wird eigens die Zeit des (Gebets-)Gottesdienstes genannt; das lässt darauf schließen, dass am Mittwoch der Gottesdienst am Vormittag (3. Stunde?) stattfindet.

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[Äthiopisch:] 4. Anordnung. Über den Freitag. Dass man Gebet verrichte am Freitag zur neunten Stunde, denn es geschah, was Christus ihnen am vierten (Tag) gesagt hatte über sein Leiden und seine Kreuzigung, am Freitag, und er wurde offenbar, als die Erde zitterte und die Sonne verfinstert wurde an diesem Tag.

Can. 5. Die Apostel haben noch angeordnet: Es sollen Presbyter und Diakone sein wie die Leviten und Hypodiakone wie diejenigen, die die Gefäße des Vorhofs des Hauses der Heiligkeit des HERRN trugen, und ein Wächter41, der sozusagen der Leiter42 des ganzen Volkes ist, wie Aaron, das Haupt und der Anführer43 aller Priester44 und Leviten der ganzen Stadt. [Äthiopisch:] 5. Anordnung. Über die Vorsteher. Dass man sich vertrauenswürdige45 Vorsteher einsetze: Patriarchen und Metropoliten und Bischöfe46, dass sie seien nach dem Vorbild von Mose und Aaron, der Hohenpriester, und sie sollen dem ganzen Volk Anweisung geben.

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¾ø†ƒ. Dies ist keine Amtsbezeichnung für den Bischof (¾ñÍùéÙñ~ kommt in der Doctrina Apostolorum nicht vor), wie Witakowski meint (Witakowski, Origin [Anm. 2], S. 168), sondern eine alttestamentliche Metapher für seine Funktion als Oberer über die Presbyter und Diakone. ¾ø†ƒ ist in der Pešitѽta Übersetzung von KSF (Wächter), etwa in Ez 3,17; 33,7 (der Prophet wird von Gott zum Wächter über Israel eingesetzt); 33,1 – 6 oder Jer 6,17. Die LXX hat UMQRQL. Didaskalie 4 (Schluss) nennt nach der Zitation von Ez 33,1 – 6 den „Bischof (¾ñÍùéÙñ~), der über die Kirche eingesetzt ist“ (CSCO.S 175, S. 58 Vööbus; s. Murray, Symbols [Anm. 25], S. 193, dem ich die Stelle verdanke und wo sich auch Verweise auf Aphrahat und Ephräm finden). Also ist der Bischof Leiter des Volkes; zugleich ist er sozusagen der Oberpriester („wie Aaron“), da das kirchliche Amt, als das von Christus empfangene und über die Apostel an die Kirche weitergegebene aaronitische Priestertum, von alttestamentlich-priesterlichen Vorbildern her beschrieben wird: Presbyter und Diakone (oder doch nur die Diakone?; s. unten Anm. 44) entsprechen den Leviten, die Hypodiakone (hier steht der griechische Terminus K WBRQFKCMQPQL/¾æùØÊñ†… , während die Presbyter und Diakone mit den syrischen Wörtern K K ¾ýÙýø [Älteste] und ¾æýãýâ [Diener] bezeichnet werden) den Hilfsdiensten im Tempel. 42

¾åûÁÊâ. Dies ist in unserer Schrift, neben (meist in Verbindung mit) ÀƒÍùñ (Aufseher), die übliche Bezeichnung für den Bischof (s. unten Anm. 61). 43

¾Á˜. Der ¾Á˜ aller Priester ist der Hohepriester.

K ). Diese scheinen nunmehr den Hier tatsächlich priesterliche Terminologie (¾åÌÜ Presbytern zu entsprechen, die Diakone den Leviten; der Bischof ist demgemäß („wie Aaron“) der Hohepriester der Kirche. 44

45 46

Oder: gläubige (/$§3{}).

Die äthiopische Version hat diesen Canon längst der Weiterentwicklung der kirchlichen Hierarchie angeglichen. Der eine Canon ist in drei Canones aufgespalten, die jeweils von Bischöfen, von Priestern und von Diakonen und niederen Klerikern handeln. Die syrische Version handelt kaum von überregionalen Gegebenheiten.

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6. Anordnung. Dass man sich Priester einsetze, dass sie seien nach dem Vorbild der geringeren Priester Israels. 7. Anordnung. Dass man sich Diakone und Hilfsdiakone und Anagnosten einsetze, dass sie seien Boten wie die Kinder Levis, damit sie tragen das Gerät der Eucharistie und das Gerät des Hauses des Heiligtums und das Gerät des Opfers.

Can. 6. Die Apostel haben noch angeordnet: Man begehe den Tag der Erscheinung47 unseres Erlösers, welcher ist das Haupt48 der Feste der Kirche, am sechsten Januar nach der langen Rechnung der Griechen. [Äthiopisch:] 8. Anordnung. Über die Geburt / Weihnachten. Und man begehe das Fest der Geburt unseres Herrn jährlich an dem Tag, als er geboren wurde, am 29. des Monats TahĞaĞ, denn es ist das Haupt aller Feste. 9. Anordnung. Über die Taufe. Und man begehe das Fest der Taufe unseres Herrn, denn dies ist ein Tag der Heiligkeit, als er getauft wurde von Johannes dem Täufer, der ist am 11. TҖürr.

Can. 7. Die Apostel haben noch angeordnet: Vierzig Tage49 vor dem Tag des Leidens unseres Erlösers soll man fasten und dann den Tag des Leidens50 und

47

Epiphanie ist noch Fest der Geburt und der Taufe Jesu, wie bekanntlich auch noch bei Ephräm. Das Referat der Kanones im angeblichen (?) Brief des Marutha von Maipherkatѽ ist das Fest schon in das Weihnachts- und das Epiphaniefest gespalten (CSCO.S 191, S. 38 Vööbus): „das Fest der Geburt (ÀÊà؃ ¿šÊî) soll begangen werden als Haupt der Feste am 25. des ersten Kanun und am 6. des zweiten Kanun Epiphanie (¾Ðåƒ)“. Auch die äthiopische Version hat natürlich beide Feste. Trifft die Datierung der Canones in die erste Hälfte des 4. Jahrhunderts zu, haben wir hier die älteste explizite Bezeugung des Epiphanie-Festes. Als solches wird üblicherweise Ammianus Marcellinus, rer. gest. 21,2,5 angegeben (z. B. in Hansjörg Auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit. Herrenfeste in Woche und Jahr (= Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft, Bd. 5), Regensburg 1983, S. 156). 48

Gemeint ist, dass Epiphanie das erste Fest im Jahr ist, nicht (was vom Begriff ¾ü˜ her an sich möglich wäre) dass es das wichtigste ist. 49

Da die Quadragesima vor Nizäa ansonsten nirgends bezeugt ist, ist dieser Canon ein gewichtiges Indiz für eine Entstehung der Doctrina Apostolorum (jedenfalls in der vorliegenden Form) erst in nachnizänischer Zeit. Allerdings liegt der Ursprung der Quadragesima im Dunkeln; es kann selbstverständlich nicht ausgeschlossen werden, dass in manchen Regionen auch schon im 3. Jahrhundert eine vierzigtägige Fastenzeit vor Ostern gehalten wurde. 50

Das ist sicher nicht der Karfreitag im heutigen Sinn. Unser Text setzt zweifellos ein Sonntagspascha voraus (der „Tag der Auferstehung“ ist der Ostersonntag mit der Ostervigil in der Nacht). In der Hervorhebung des „Tages des Leidens“ dürfte noch ein quartadezimanisches Pascha durchschimmern, das am Tag der Kreuzigung, am 14. Nisan, gefeiert wurde und sich gerade in Syrien gewiss länger hielt als bis Ende des

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den Tag der Auferstehung begehen, denn auch unser Herr selbst, der Herr des Festes, hat vierzig Tage gefastet, und Mose51 und Elia52, die bekleidet waren mit diesem Mysterium der Vierzig, auch sie haben vierzig Tage gefastet, und dann sind sie strahlend53 geworden. [Äthiopisch:] 10. Anordnung. Über das Paschafasten. Und man faste jährlich vierzig Tage, wie Mose und Elia und die Propheten vorzeiten gefastet haben, und unser Herr Jesus Christus hat es ebenso gehalten in seinem Fleisch und hat gezeigt, dass man es tue vor seinen Leiden und gedenke des Leidens Christi und seiner Kreuzigung und seines Todes und seines Abstiegs in das Grab, und am Tag seiner Auferstehung möge man Pascha feiern, und man möge das Fest feiern am Ende des Fastens, nachdem sie, mit Ausnahme der Sabbate und des Sonntags, vierzig Tage gefastet haben, und den Freitag und den Samstag, beide von ihnen, an welchem (Tag) er gekreuzigt wurde und begraben war, und den Sonntag seiner Auferstehung, und nach diesen Tagen gibt es kein Fasten bis zum Ende der fünfzig Tage.

Can. 8. Die Apostel haben noch angeordnet: Am Ende aller Schriften werde das Evangelium verlesen als Besiegelung aller Schriften.54 Und das Volk soll es

2. Jahrhunderts. Aphrahat spricht in dem. 12,8 (PS 1, 521 Parisot) von „unserem Tag des großen Leidens“, und zwar dem Freitag, dem Fünfzehnten. Ob damit eine gottesdienstliche Feier verbunden war (eine Vigil von Donnerstag auf den Freitag, also in der eigentlich zum Freitag gehörenden Nacht, oder vom Freitag auf den Samstag), ist auf Grund der diesbezüglich mehr als kargen (und insgesamt zuweilen fast rätselhaften) Angaben Aphrahats sehr schwer zu sagen. Vom „Tag des Leidens“ ist noch einmal in dem. 12,12 (PS 1, 533 Parisot) die Rede; demnach ist es möglich, dass der „Tag des Pascha, an dem das Leiden unseres Erlösers (stattfand)“ auf einen Sonntag fällt. Es scheint also nicht auf den Wochentag, sondern auf den 14. (oder 15.?) Nisan anzukommen, also den historischen Tag des Leidens, nicht den liturgischen. Die mit Abstand beste Studie zum Osterfest in der syrischen Literatur des 4. Jahrhunderts (und in der Didaskalie) ist Geerard Rouwhorst, Les hymnes pascales d’Ephrem de Nisibe. Analyse théologique et recherche sur l’évolution de la fête pascale chrétienne à Nisibe et à Edesse et dans quelques Eglises voisines au quatrième siècle. I: Etude; II: Textes (= Supplements to Vigiliae Christianae, Bd. 7/1 – 2), Leiden 1989. 51

Vgl. Ex 34,28.

52

Vgl. 1 Kön 19,8.

53

Vgl. Ex 34,29 (dies gilt natürlich nur für Mose).

54

Diese Anordnung könnte auf einen schon bestehenden Lesegottesdienst synagogalen Typs hinweisen, in dem das Evangelium nicht gelesen wurde. Die Evangelienlesung gehört zum Wortgottesdienst der Eucharistie, nicht notwendigerweise jedoch zu einem wochentäglichen (oder sabbatlichen) Lesegottesdienst. Dass man das Evangelium stehend anhören muss, weist auf den gegenüber den nichtevangelischen Lesungen anderen Charakter des Evangeliums hin. In der Doctrina Addai ist einmal davon die Rede (Phillips / Howard [Anm. 11], S. Ìß bzw. 71), dass man das Alte und Neue Testament, die

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Reinhard Meßner

hören, indem es auf seinen Füßen steht, da es die Frohbotschaft von der Erlösung aller Menschen ist. [Äthiopisch:] s. unten 12. Anordnung

Can. 9. Die Apostel haben noch angeordnet: Am Ende der fünfzig Tage nach seiner Auferstehung begehe man das Gedächtnis seines Aufstiegs zu seinem Vater im Himmel.55

Propheten und die Apostelgeschichte „studiert“ hat (çÙąÿâ; das könnte man auch mit „meditiert“ übersetzen). Das passt an sich gut zum Charakter synagogaler Schriftlesung, die ja in der antiken Synagoge mehr Schriftstudium als liturgische Schriftverkündigung war. Wenn die Eucharistie, die sicher länger, als man in der herkömmlichen liturgiegeschichtlichen Forschung angenommen hat, als Symposion gehalten hat, mit einem Wortgottesdienst verbunden worden ist, ist dieser mit einer Evangelienlesung ausgestattet worden. Can. 16 von Laodikeia ordnet an: „Daß am Sabbat die Evangelien mit den übrigen Schriften verlesen werden“ (Die Kanones der wichtigsten altkirchlichen Concilien nebst den Apostolischen Kanones. Hrsg. v. Friedrich Lauchert [= Sammlung ausgewählter kirchen- und dogmengeschichtlicher Quellenschriften, Heft 12], Freiburg i. Br. 1896, S. 74). Dies steht dort wohl in Zusammenhang mit der Einführung sabbatlicher Eucharistien. Can. 9 der Synode von Seleukeia-Ktesiphon im Jahr 410 zitiert diesen Canon, nur dass sie ihn auf den Sonntag bezieht: „Daß an allen Sonntagen das Evangelium verlesen werde mit den übrigen Schriften und das Wort Gottes verkündet werde bis zur dritten oder vierten Stunde und das Opfer dargebracht werde“ (Synodicon Orientale ou Receuil de synodes nestoriens, publié, traduit et annoté par Jean Baptist Chabot [= Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque Nationale, Bd. 37], Paris 1902, S. 25). Dies dürfte in der persischen Kirche am Anfang des 5. Jahrhunderts eine Neuerung darstellen. Vgl. Meßner, Synode von Seleukeia-Ktesiphon (Anm. 19), S. 75 – 77. 55

Der Text ist seit langem als das wichtigste Zeugnis des Himmelfahrtsfestes am 50. Tag nach Ostern bekannt. Dieses Fest ist vor allem in Palästina und Syrien bezeugt; vgl. neben unserem Text v. a. Eusebius, soll. pasch. 6 (PG 24, Sp. 700); auch Egeria (peregr. 43) berichtet aus Jerusalem von der Feier der Himmelfahrt Christi am Pfingstsonntag (am Nachmittag, nachdem am Vormittag die Verleihung des Geistes gefeiert worden ist). Die Pfingstpredigten des Maximus von Turin (bes. serm. 44 [CChr.SL 23, S. 178 – 180 Mutzenbecher] und serm. 56 [ebd., S. 224 – 226 Mutzenbecher]), in denen fast ausschließlich von der Himmelfahrt die Rede ist, liefern ein interessantes Zeugnis für den Westen; in Turin scheint demnach an Pfingsten zur Zeit des Maximus tatsächlich noch Himmelfahrt und Geistsendung gefeiert worden zu sein (vgl. zuletzt Andreas Merkt, Maximus I. von Turin. Die Verkündigung eines Bischofs der frühen Reichskirche im zeitgeschichtlichen, gesellschaftlichen und liturgischen Kontext (= Supplements to Vigiliae Christianae 40), Leiden 1997, S. 166 – 169). Weiteres Material bei Robert Cabié, La pentecôte. L’évolution de la Cinquantaine pascale au cours des cinq premiers siècles, Tournai 1965, S. 127 – 142. Georg Kretschmar, Himmelfahrt und Pfingsten, in: ZKG 56 (1954/55), S. 209 – 253, ist der Geschichte dieses Festes nachgegangen und wollte seinen Ursprung in apostolischer Zeit sehen (mit gewichtigen Argumenten).

Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung

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Ausgangspunkt sei die im Neuen Testament vor allem in Eph 4,7 – 11 (aber auch im Johannesevangelium) greifbare Parallelisierung der Erhöhung Christi und dem Aufstieg des Mose auf den Sinai, geschichtlicher Hintergrund die Feier des Wochenfestes als Fest der Bundeserneuerung, vorrabbinisch vor allem im Jubiläenbuch belegt. Auf Grund der mageren Quellenlage bleibt natürlich vieles hypothetisch, die Fragestellung Kretschmars wäre noch einmal systematisch aufzugreifen. Zuletzt hat Geerard Rouwhorst, The Origins and Evolution of Early Christian Pentecost, in: Studia Patristica 35 (2001), S. 309 – 322, einen kritischen Überblick über das Quellenmaterial zur Geschichte der Pentekoste im 2. und 3. Jahrhundert (und auch bedenkenswerte Überlegungen zum Aufsatz von Kretschmar) gegeben; demnach kann keine Rede davon sein, dass die Pentekoste in dieser Zeit in allen Kirchen gehalten worden sei. Vor allem für Syrien gibt es keinen Beleg. Dazu muss man nun freilich bedenken, dass die (erhaltene) syrische Literatur vor dem 4. Jahrhundert sehr, sehr schmal ist (Oden Salomos, Thomasakten, Buch der Gesetze der Länder), so dass aus dem Fehlen von Belegen nicht geschlossen werden darf, dass in Syrien die Pentekoste im 2. und 3. Jahrhundert unbekannt war. Für das 4. Jahrhundert liefert neben unserem Text (der von Rouwhorst auch gewürdigt wird) Ephräm einen Beleg für das Himmelfahrtsfest am Pfingsttag (wenn auch nicht explizit von „Pentekoste“ gesprochen wird). In HNat 4,57 – 59 (CSCO.S 82, S. 30 Beck [syr. Text] / 83, S. 28 [dt. Übers.]) spricht er von den „drei Festen der Gottheit“ (59), worunter neben Epiphanie als dem Geburtsfest Christi, dem der Hymnus ja gilt, Pascha (57) und, in Strophe 58, „der Tag der Himmelfahrt (¾ùßÍè)“, an dem „wir erhöht werden“ und an dem das Gedächtnis Christi „mit neuem Brot“ begangen wird, zu verstehen sind. Das Datum (Pentekoste) wird zwar nicht explizit genannt, aber das Motiv des „neuen Brotes“ verbindet dieses Himmelfahrtsfest mit der Darbringung der Erstlinge am Wochenfest (vgl. Lev 23,15 – 20). Das „neue Brot“ ist die Menschheit, die der in den Himmel auffahrende Christus als Erstlingsgabe Gott darbringt. Das Motiv der Darbringung der Erstlingsgabe, nämlich der Menschheit, bei der Himmelfahrt ist weiter verbreitet (vgl. Cabié, Pentecôte [Anm. 55], S. 93 – 95); vgl. vor allem ein Hippolyt-Zitat (aus einer ansonsten verlorenen Schrift „Zu Elkana und Hanna“, das sich im Eranistes des Theodoret von Cyrus findet (Theodoret of Cyrus, Eranistes. Critical text and prolegomena by Gerald H. Ettlinger. Oxford 1975, S. 155), wonach die alttestamentliche Pentekoste (hier also wohl kaum als Zeitraum, sondern als Fest am 50. Tag zu verstehen) das Himmelreich vorausbildet, insofern Christus an ihr „als erster in den Himmel hinaufgestiegen ist und den Menschen als Gabe Gott dargebracht hat“. Wie Ephräm spricht auch Hippolyt (wer immer das ist; es könnte sich sehr gut um einen östlichen Theologen handeln) von drei Festen, wenn auch im Zitat bei Theodoret nur zwei genannt werden (Pascha und Pentekoste). Zwar sind es hier alttestamentliche Feste, aber die christologisch-anthropologische Sinngebung des Pfingstfestes spricht doch sehr für eine auch christliche Feier der Pentekoste. Die Liste von drei Festen (Epiphanie, Pascha, Pentekoste), die wir bei Ephräm finden (neben der genannten Stelle auch HNat 22,8 [CSCO.S 82, S. 110 f. Beck / 83, S. 100]), die auch unserem Text zugrunde liegt (gefeiert werden Epiphanie, Pascha und Himmelfahrt am Pfingsttag), findet sich auch in Ägypten in den Canones Athanasii (Wilhelm Riedel / Walter E. Crum, The Canons of Athanasius, Patriarch of Alexandria, ca 293 – 373 […], London 1904, Nachdr. Amsterdam 1973, S. 27.

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[Äthiopisch:] 11. Anordnung. Über das Fest des vierzigsten (Tages). Und man möge feiern das Fest des Aufstiegs unseres Herrn in den Himmel nach seiner Auferstehung am vierzigsten56 Tag.

Can. 10. Die Apostel haben angeordnet: Außer dem Alten Testament57 und den Propheten und dem Evangelium und den Akten ihrer Triumphe58 werde nichts verlesen auf dem Bema59 der Kirche. [Äthiopisch:] 12. Anordnung. Über die Verlesung der Schriften. Und man möge verlesen die Schriften auf dem erhöhten Ort in der Kirche aus der Tora und die Schriften aller Propheten und die Apostelgeschichte. Und am Schluss möge man lesen aus dem Evangelium, denn es ist die Erfüllung aller Schriften. Und das ganze Volk möge es hören stehend auf ihren Füßen, denn es ist die Geschichte des Lebens und der Erlösung und Gnade für jeden Menschen, und es ziemt sich, es höher zu schätzen als alle Schriften. Und die Leute mögen zu Gott beten, wenn es verlesen wird.

43. 117. 131), wo Epiphanie als Neujahrsfest bezeichnet wird (entsprechend dem „Haupt der Feste“ in unserem Text). Auch im Testamentum Domini (Rahmani [Anm. 34], S. 100) werden neben Sabbat und Sonntag die drei Feste Pascha, Epiphanie und Pentekoste (in dieser Reihenfolge) genannt. Diese Liste von drei Festen dürfte wohl vor das 4. Jahrhundert zurückgehen und den ältesten christlichen Festkalender darstellen. 56

Nach der Einführung des Himmelfahrtsfestes am 40. Tag nach dem Ostersonntag (gemäß Apg 1,3) am Ende des 4. und seiner allgemeinen Verbreitung ab dem 5. Jahrhundert wurde der Termin schon im Großteil der syrischen Überlieferung geändert; dies gilt natürlich umso mehr für die (arabische und) äthiopische Version. Auch das Referat der Canones im angeblichen Maruthabrief nennt den vierzigsten Tag für das Himmelfahrtsfest (CSCO.S 191, S. 38 Vööbus): „und vierzig (Tage) nach der Auferstehung Himmelfahrt und zehn Tage nach der Himmelfahrt zu fasten ein Fasten von fünfzig Tagen“. Der Text ist schwierig; die fünfzig Tage der ursprünglichen Version sind zwar erhalten, nun aber auf die Fastenperiode nach Pfingsten bezogen (für die man eigentlich vierzig Tage erwartet). 57 Da die Propheten eigens genannt sind, ist unter dem „Alten Testament“ hier offenbar nur die Tora zu verstehen. S. dazu auch unten Anm. 103. mit Parallelen aus der Doctrina Addai. 58 Das Fehlen der Paulusbriefe in dieser Liste der gottesdienstlich zu verlesenden Schriften ist sehr auffällig und einer der Hauptgründe für eine frühe Datierung der Canones. Der zweite Teil der Rahmengeschichte spricht im Gegensatz zum Canon auch von den Paulusbriefen („die Briefe des Apostels“), allerdings in einer Art und Weise, dass ihre jüngere Hinzufügung zu einem älteren Bestand der Schriftlesungen noch durchsichtig ist (s. unten Anm. 103). 59

Dies ist der älteste literarische Beleg für das Bema. Die archäologischen Zeugnisse sind alle später (ab dem 5. Jahrhundert).

Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung

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Can. 11. Die Apostel haben noch angeordnet: Jemand, der nicht den Glauben der Kirche und die Ordnungen und Gesetze60, die in ihr festgesetzt sind, kennt, darf nicht Leiter und Aufseher61 sein; wer sie kennt und von ihnen abweicht, soll nicht wiederum dienen, weil er, nicht getreu im Dienst, falsch war. [Äthiopisch:] 13. Anordnung. Über die Ordination. Und nicht soll gesetzt werden über die Christen und nicht soll ihnen Anordnungen geben einer, der nicht das Gesetz und die Ordnung kennt, sondern einer, der gemäß ihr handelt und gütig ist in seinem Charakter und geduldig in Bescheidenheit und gut auf seinen Wegen. Und wenn er aber dies ändert und nicht alles tut, was wir gesagt haben, werde er aus seiner Position entfernt in Kraft; nicht soll man sein Wort und seine Anordnung annehmen, denn er ist nicht zuverlässig in seinem Anordnen.

Can. 12. Die Apostel haben noch angeordnet: Jemand, der geschworen hat und lügt oder falsches Zeugnis ablegt oder in das Haus von Zauberern und Wahrsagern und Chaldäern62 gegangen ist und Orakel und Geburtstage63 für wahr hält64 – etwas, was diejenigen halten, die Gott nicht kennen – werde auch

K , wie am Ende der Rahmenhandlung. Es handelt sich also offenbar K  ¾éÝÒ ¾èÍãå† um die hier niedergeschriebenen Canones, deren Kenntnis von den kirchlichen Amtsträgern verpflichtend gefordert wird. 60

61

„Leiter“ (¾åûÁÊâ) und „Aufseher“ (ÀƒÍùñ) sind in der Doctrina Apostolorum durchgehend (in den Canones und in der Rahmengeschichte) die Bezeichnungen (meist beide zusammen) für den Bischof. Die Bezeichnung ¾òùéÙñ~ kommt kein einziges Mal vor (während sich in can. 5 der griechische Amtsbegriff „Hypodiakon“ findet). Dieselben Bezeichnungen finden sich in der Doctrina Addai für Aggai, den Nachfolger des Addai (Phillips / Howard [Anm. 11], S.  bzw. 80: Addai macht vor seinem Tod Aggai zum „Leiter und Aufseher an seiner Stelle“; vgl. auch S. Ôâ – çå bzw. 98 – 100: Aggai, K ] und Leiter“ im ganzen der „Leiter und Aufseher“ nach Addai, macht „Priester [¾åÌÜ Gebiet von Mesopotamien), bis zur Ordination des Palutѽ durch den antiochenischen Bischof (¾òùéÙñ~) Serapion, der selbst wiederum durch den römischen Bischof Zephyrin ordiniert worden sei, welcher die „Hand des Priestertums“ von Simon Kephas, dem Bischof von Rom, erhalten habe. Man könnte hier spekulieren, dass „Leiter und Aufseher“ die ursprüngliche edessenische Bezeichnung für das höchste kirchliche Amt gewesen und der Titel „Bischof“ (¾òùéÙñ~) aus Antiocheia übernommen worden ist. Zur Bezeichnung ¾åûÁÊâ vgl. auch Murray, Symbols (Anm. 25), S. 192. 62

Die Chaldäer sind eine verbreitete Chiffre für Magier und Wahrsager. Vgl. aus der frühsyrischen Literatur etwa den Liber regum regionum 18 (PS 2, 564 Nau), wo Bardaisan als Schicksalsgläubige und Kundige in der Technik, das Schicksal zu befragen, „Menschen, die Chaldäer genannt werden“, anführt. 63 64

Gemeint sind Horoskope.

Ganz ähnlich, wohl von diesem Canon abhängig (es gibt eine Fülle von verbalen Entsprechungen: lügnerische Eide, falsches Zeugnis, Zauberer, Wahrsager, Geburtstage,

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selbst wie ein Mann, der Gott nicht kennt, vom Dienst ausgeschlossen und darf nicht (wieder) dienen.65 [Äthiopisch:] 14. Anordnung. Wiederum über die Ordination. Man verhindere die Ordination und den Kirchendienst und das Richten unter Menschen bei jedem, der einen lügnerischen Eid wagt und falsches Zeugnis und einen Skandal bei den Menschen (anrichtet) und der sie verleumdet um dessentwillen, was sie nicht getan haben. 15. Anordnung. Und es werde entfernt vom Amt jeder, der auf die Berechnung der Sterne vertraut und sich an das Gerede der Wahrsager und Zauberer und Astrologen hält und an die Berechnung von Geburtstagen und der sie befragt bezüglich dessen, was ihm angemessen ist und ihr Wort annimmt und das Gebot des Herrn verachtet und seine Ordnung und sein Gericht und die Christen gleichsetzt mit denen, die den Herrn nicht kennen. Er werde abgesetzt vom Amt des Priestertums, denn er hat gehandelt wie die Juden, die Götzendiener66.

Can. 12. Die Apostel haben noch angeordnet: Wenn da einer ist, der im Dienst halbherzig und nicht in ihm getreu ist, darf dieser nicht wiederum dienen. Und nicht ist er getreu gegenüber dem Herrn des Dienstes; unter den Menschen ist er zwar ein Täuscher, nicht ist er es aber bei Gott, „vor dem Verstellungen keinen Bestand haben“67. [Äthiopisch:] 16. Anordnung. Und wenn einer im Dienst der Kirche ist, der geteilt ist in seinem Dienst und nicht getreu in ihm und man in ihn (sc. den Dienst) kein Vertrauen setzt, entferne man ihn von seinem Amt, denn er ist nicht getreu und nicht gut

Chaldäer), in der Anweisung des Addai an seine Mitdiener in der Doctrina Addai (Phillips / Howard [Anm. 11], S. Ìß bzw. 70). 65

Von welch aktueller Bedeutung dieser Canon in Syrien war, zeigt an einem konkreten Beispiel aus dem 5. Jahrhundert (und mit vielen weiteren Belegen) eindrucksvoll der Aufsatz von Erik Peterson, Die geheimen Praktiken eines syrischen Bischofs, in: Ders., Frühkirche, Judentum und Gnosis. Studien und Untersuchungen, Freiburg i. Br. 1959, Nachdr. Darmstadt 1982, S. 333 – 345. Can. 64 der pseudonizänischen Canones verbietet die Anwendung magischer Mittel zur Heilung von Krankheiten und verweist stattdessen auf die Heilkraft der Martyrerreliquien (CSCO.S 191, S. 106 Vööbus [syr. Text]; 192, S. 88 f. [engl. Übers.]). Das Öl und erst recht das ¾ææÏ (A Compendious Syriac Dictionary […]. Ed. by Jessie Payne Smith, Oxford 1902, Nachdr. Eugene 1999, S. 149b: „a compound of oil, dust, and water mixed with the relics of saints or with earth from holy places“), das die Kranken heilen soll, hat seine medizinische Wirkung von den Gebeinen der Heiligen. Ein Verbot für Kleriker, sich magischer und astrologischer Praktiken zu bedienen, spricht auch can. 36 von Laodicäa aus (Lauchert [Anm. 54], S. 76). 66

Varia lectio: „die Juden und die Götzendiener“.

67

1 Sam 2,3 Pešitѽta.

Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung

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in seinem Dienst. Und er kann nur die Menschen täuschen und sich selbst, denn der HERR liebt nicht den Hinterlistigen.

Can. 14. Die Apostel haben noch angeordnet: Einer, der leiht und Wucher treibt68 und vertraut ist mit Handel und Geldgier69, dieser darf nicht wieder dienen und nicht im Dienst bleiben. [Äthiopisch:] 17. Anordnung. Und es werde ausgeschlossen von seinem Amt jeder Presbyter und Diakon, der erfunden wird in Unzucht und Unersättlichkeit und der Begierde hat an (den Dingen) dieser Welt.

Can. 15. Die Apostel haben noch angeordnet: Einer, der die Juden liebt70, wie Iskariot sie geliebt hat71, oder die Heiden, die Geschöpfe anbeten anstelle des Schöpfers, trete nicht bei ihnen ein und diene. Wenn er aber unter ihnen ist, sollen sie ihn nicht lassen, sondern er soll ausgeschlossen werden von ihnen, und er soll nicht wieder mit ihnen dienen.

68 Der Wucher wird auch in can. 19 der pseudonizänischen Canones verboten. Dies wird explizit mit einer Anweisung der Apostel begründet, wohl mit unseren Canones. Allerdings wird nach dem Zins- und Wucherverbot noch die Gemeinschaft mit den Juden untersagt (vgl. unseren can. 15), darauf folgt der Hinweis auf die Apostel (CSCO.S 191, S. 71 Vööbus [syr. Text] / 192, S. 62 [engl. Übers.]). 69

Varia lectio: „mit habsüchtigem Handel“; dies ist aber wohl sekundär, es geht um das Verbot des Handels für Kleriker überhaupt. In der Doctrina Addai heißt es in der schon in Anm. 64 erwähnten Anweisung des Addai für seine Mitdiener (Phillips / Howard [Anm. 11], S. Ìß–Íß bzw. 71 – 73): „Und zu diesem Dienst, zu dem ihr berufen seid, sollt ihr keine weitere Beschäftigung haben; der Herr ist nämlich die Beschäftigung eures Dienstes alle Tage eures Lebens.“ Dies setzt also einen professionellen, von der Gemeinde unterhaltenen Klerus voraus. In der äthiopischen Version ist der Canon sozusagen spiritualisiert; dahinter mag eine andere soziale Realität im Klerus stehen. 70

Was konkret hinter diesem Verbot steht, zeigen etwa die Apostolischen Kanones. Can. 64: Verbot, in jüdische Synagogen zu gehen; can. 70: Verbot, mit den Juden zu fasten oder Feste zu feiern oder Festgeschenke wie Azymen anzunehmen; can. 71: Verbot, Öl an die Synagoge der Juden zu schicken oder dort Kerzen anzuzünden (alle Stellen: Lauchert [Anm. 54], S. 10); can. 8: Verbot, vor dem Äquinoktium mit den Juden das Pascha zu feiern (ebd., S. 1). Das Verbot, Festgeschenke wie Azymen anzunehmen und an ihren Festen teilzunehmen, auch in can. 27 und 28 von Laodicäa (ebd., S. 76). 71 Zum pseudonizänischen can. 19 s. oben Anm. 68. Es ist bekannt, dass gerade in Syrien die Christen einerseits eng mit Juden zusammenlebten und in Theologie und Liturgie mancherlei Gemeinsamkeiten bestanden, andererseits gerade deshalb starke Abgrenzungstendenzen und ein scharfer Antijudaismus (bedauerlicherweise gerade bei einem so exzellenten Theologen wie Ephräm) herrschten.

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[Äthiopisch:] 18. Anordnung. Und es soll nicht sein im Amt und im Dienst der Kirche und soll sich nicht vereinigen mit den Priestern einer, der die Juden liebt und ihr Freund ist wie Iskariot, und nicht ein Liebhaber von Zauberern, die einen Götzen verehren. Und wer von solcher Art ist, den soll man ausschließen von ihnen und nicht in ihrer Mitte belassen, und nicht soll er mit ihnen dienen und nicht soll er sich ihnen anschließen.

Can. 16. Die Apostel haben noch angeordnet: Wenn jemand von den Juden oder von den Heiden gekommen ist und sich ihnen angeschlossen hat und wenn er seinen Anschluss an sie rückgängig gemacht hat und wieder zur Seite, auf der er gestanden ist, übergetreten ist, wenn er aber wiederum zurückkehrt und ein zweites Mal zu ihnen kommt, werde er nicht wieder aufgenommen, vielmehr sollen ihn diejenigen, die ihn kennen, ansehen entsprechend der Seite, auf der er gestanden ist. [Äthiopisch:] 19. Anordnung. Und sie sollen aufnehmen jeden, der im Glauben kommt, und sie sollen ihn in ihre Gemeinschaft aufnehmen, und nicht sollen sie ihn hindern, wenn er zu den Leuten von den Juden und den Götzenverehrern geht. Und wenn er zurückgekehrt ist zu seinem früheren Werk nach der Vereinigung und folglich zu denen zurückgegangen ist, die nicht glauben, sollen sie ihn nicht aufnehmen, wenn nicht wie die Götzendiener72.

(17) Die Apostel haben noch angeordnet: Es ist dem Leiter nicht erlaubt, ohne diejenigen, die mit ihm dienen, die die Kirche betreffenden Angelegenheiten zu besorgen, sondern mit dem Rat aller möge er anordnen, und dasjenige werde getan, was alle zufrieden stellt und nicht traurig macht.73 [Äthiopisch:] 20. Anordnung. Und man soll nicht einen zum Oberen machen, der über die Kirche Gottes befiehlt, der das Geschäft dieser Welt betreibt. Und er soll sich nicht einmischen in die Angelegenheit des Volkes ohne den Rat seiner Kollegen, die vor ihm gewesen sind und ein Gebet verrichtet (oder: das Gebet eingerichtet) haben wie er; und es nicht angemessen, wenn nicht durch seinen Rat und ihren Rat gemeinsam in dem, was Gott gefällt und dem Volk richtig erscheint, und recht (ist) sein Urteil. Und nichts sei in seinem Urteil, was seine (sc. des Volkes) Hälfte betrübt, und nicht ist recht ein

72

Soll das heißen, dass ein Christ, der zum Judentum konvertiert ist und wieder in die Kirche aufgenommen werden will, noch einmal getauft wird? Nach der syrischen Originalversion wird ein Jude, der Christ geworden und wieder zum Judentum zurückgekehrt ist, überhaupt nicht mehr in die Kirche aufgenommen. 73

Dies ist eine bemerkenswerte, wenn auch gewiss nicht wirklich demokratische Anordnung; die, „die mit ihm dienen“, sind die übrigen Kleriker. Das Presbyterium soll tatsächlich der Rat des Bischofs sein. Tendenzen eines überspitzt monarchischen Episkopats finden sich bekanntlich in der Didaskalie. Die äthiopische Version, die dem Volk ein Mitspracherecht jedenfalls in den Angelegenheiten des Volkes einräumt, ist demgegenüber demokratischer.

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Streit, indem man (davon) abweicht. Und wer von dieser Art ist, wird entfernt. Und nicht soll der Presbyter und der Diakon sein Gebet aufgeben, das er übernommen hat, und nicht soll er zur Angelegenheit eines Fremden gehen. Und wer dergleichen getan hat, dem sei es nicht (gewährt), dass er an seine frühere Stelle zurückkehre.

Can. 18. Die Apostel haben noch angeordnet: Für alle, die aus dieser Welt geschieden sind in gutem Zeugnis des Glaubens an Christus und im Leiden um seines Namens willen, begehe man ein Gedächtnis am Tag ihrer Tötungen.74 [Äthiopisch:] 21. Anordnung. Über das Gedächtnis. Und sie mögen für alle gläubigen Martyrer, deren Blut vergossen worden ist um Christi willen im Vertrauen auf ihn, das Gedächtnis begehen am Tag, an dem sie gekrönt worden sind.

Can. 19. Die Apostel haben noch angeordnet: Im Gottesdienst75 der Kirche rezitiere man die Preisungen Davids Tag für Tag76, aufgrund dieses (Wortes): „Ich will preisen den Herrn zu jeder Zeit, und zu jeder Zeit (sind) seine Preisungen in meinem Mund.“77 Und: „Am Tag und bei Nacht will ich erwägen und rezitieren und vernehmen lassen meine Stimme“78 vor dir. [Äthiopisch:] 22. Anordnung. Über die Ordnung des Gebets. Und man möge vermehren das Gebet in der Nacht und am Tag mit den Psalmen Davids. Und man möge das Gebet betrachten in dem, dass er gesagt hat: „Ich will Gott preisen zu jeder Zeit, und immer (sei) seine Rühmung in meinem Mund.“ Und wiederum hat er gesagt: Süß (ist) meinem Gaumen dein Wort, süßer als Honig und Zucker ist es meinem Mund.“79 Und deshalb ziemt es sich, es zu rezitieren in einer süßen Melodie zur 74

Die Martyrerverehrung ist also noch nicht selbstverständliche, althergebrachte Einrichtung. Auf diesen Kanon beziehen sich explizit die Doctrina Addai (Phillips / Howard [Anm. 11], S. Ôâ bzw. 98: nach dem Tod des Addai „begingen sie das Gedenken seines Gedächtnisses Jahr für Jahr gemäß dem Gebot und der Lehre, die ihnen von Addai, dem Apostel, überkommen war, und nach dem Wort des Aggai“) und der pseudonizänische can. 63, der anordnet: „Und ein Gedächtnis soll für sie ehrenvoll begangen werden in jedem Jahr von der ganzen Gemeinschaft“ und dies begründet: „Dies setzten wir fest als einen Kanon unserer Väter, der Apostel“ (CSCO.S 191, S. 105 f. Vööbus [syr. Text] / 192, S. 88 [engl. Übers.]). 75

Hier bedeutet ¿ÿýãüš eindeutig Gebetsgottesdienst.

76

Das weist auf ein Kathedraloffizium. Die Psalmen sollen „im (Gebets-)Gottesdienst der Kirche – oder Gemeinde (¿šÊî) – gesungen werden. 77

Ps 34,2.

78

Grundlage des Zitats ist Ps 55,18 Pešitѽta: „Am Abend und am Morgen und zu Mittag will ich erwägen und rezitieren und vernehmen lassen meine Stimme“ (sowohl MT als auch LXX sind wesentlich anders). „Am Tag und bei Nacht“ kommt von Ps 1,2 (das Meditieren der Tora am Tag und bei Nacht). Die Modifikation des Zitats ist wohl durch den vollen Horenkursus inklusive des Nachtgebets bedingt. 79

Ps 119,103.

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(rühmenden) Erhebung Gottes und zu seinem Lobpreis und um zu loben seine Gnade und zu ihm zu beten und in allem recht zu handeln um seines schauererregenden und heiligen Namens willen. Und wiederum spricht er über die Hingabe und den Lobpreis und die Verehrung und das Sündenbekenntnis und die Bitten, die den Gläubigen geziemen. Sie sollen darum beten, wenn sie Anfechtung und Traurigkeit und Not befällt, und sie werden der Bedrängnis entfliehen.

Can. 20. Die Apostel haben noch angeordnet: Diejenigen, die dem Mammon abgeschworen haben und nicht dem Besitz von Geld nachlaufen, die werden erwählt und eingesetzt zum Dienst des Altars. [Äthiopisch:] 23. Anordnung. Über die Zahl der Priester. Und es seien sieben Diener80, die vom Volk gewählt wurden, zum Dienst am Haus des Heiligtums: gütig und gut und verständig in Weisheit und Erkenntnis und Gott fürchtend, dessen Ordnung sie kennen; denn sie sind es, die bezüglich des Gebetes sprechen und die Darbringung heiligen und das Volk versöhnen in Sicherheit und Frieden. Denn sie sind die wahren Kinder Gottes, wie im heiligen Evangelium gesagt ist, und Diener der Prophetie, und sie sollen eifrig sein, und nicht sollen sie belästigt sein durch die Angelegenheit der Welt, sondern ihr Geschäft soll der Dienst an der Erkenntnis seines Gesetzes sein.

Can. 21. Die Apostel haben noch angeordnet: Ein Priester, der zufällig ungerecht bindet, soll die Strafe gerechterweise annehmen; derjenige, der gebunden wurde, soll die Bindung annehmen, als ob er rechtmäßig gebunden wäre. [Äthiopisch:] 24. Anordnung. Und es sei ein Oberer, der dem Volk befiehlt und mit dem Kreuz tadelt, denn wir ordnen an und wir binden nicht ohne Recht. Wenn aber ein Priester sie ungerecht behandelt, obwohl sie rein sind, soll man Priester über sie benennen, und wenn es ihnen unmöglich ist, sollen sie ihn zum Metropoliten oder zum Patriarchen bringen und ihn unter die Gerechtigkeit stellen81, und man soll ihm nicht zulassen, dass er sich an den Schafen Christi vergeht, die dieser durch sein kostbares Blut erworben hat. Und nicht soll er sie erzürnen, auf dass sie nicht abfallen zur Lästerung über Gott und zur Schmähung seines heiligen Namens. Und die Gläubigen sollen gütig sein, die Unrecht geduldig ertragen, wie es sich ziemt, da Gott um ihretwillen straft.

80

Traditionellerweise müssen bei der Feier der äthiopischen Messe mindestens sieben Dienstträger anwesend sein; vgl. Tekle-Maryam Semharay S.[elim], Règles spéciales da la messe éthiopienne, Rom 1936, 11; seine Quellenangabe („Canons des Apôtres, L. III, nƕ 24“) könnte sich auf unseren Kanon beziehen. 81

Oder: sie durch Gerechtigkeit aufrichten.

Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung

327

Can. 22. Die Apostel haben noch angeordnet: Diejenigen, die üblicherweise Gerichtsverfahren hören82, sollen, wenn es scheint, dass sie Partei ergreifen und den Unschuldigen schuldig sprechen und den Schuldigen freisprechen, nicht wieder ein Gerichtsverfahren hören, wodurch sie hinwieder gerechterweise den Tadel für ihre Parteinahme erhalten. [Äthiopisch:] [Fortsetzung der 24. Anordnung] Und nicht soll der Ordinierte83 parteiisch sein im Urteil unter dem Volk und sein Gericht (so) ausüben. Wer aber einen Übeltäter freispricht um dessentwillen, was er ihm gegeben hat, und einen Reinen ungerecht behandelt wegen seiner Schwäche und seiner Armut, dieser ist exkommuniziert und verflucht. Und nicht soll man ihn behandeln, wenn nicht wie einen Götzendiener. Und man soll sein Amt entziehen (oder: die Ordination verhindern bei) einem84, der solchermaßen handelt, und man soll ihn abweisen wegen seiner Übeltat, und sein Episkopat soll dir keine Furcht einflößen.

Can. 23. Die Apostel haben noch angeordnet: Diejenigen, die hochmütig und von sich eingenommen sind in Stolz und Überhebung, sollen nicht zum Dienst eingesetzt werden, wegen des (Wortes): „Was hoch ist unter den Menschen, ist bei Gott verächtlich“85, und über sie ist gesagt: „Bring86 Vergeltung über diejenigen, die stolz sind.“87 [Äthiopisch:] 25. Anordnung. Und nicht sei im Amt und nicht nähere sich (ihm) einer, der stolz ist in seiner Seele und sich gegenüber den Leuten brüstet und sich für einen hält, der größer ist als die Leute und geehrt und besser ist, und das Volk Gottes mit dem Auge der Verachtung anschaut, sondern er ist verachtet bei Gott und ohne Ansehen, ohne gutes Gedächtnis in seinem Leben und ohne Erbarmen bei Gott in seinem Tod und entfernt von seinem Priestertum, denn über ihn hat Gott gesprochen in der Schrift: „Ich werde die Gnade einem anderen zuwenden als denen, die stolz sind.“

82

„Gerichtsverfahren hören“ ist nach der Doctrina Addai eine Aufgabe von Aggai, Palutѽ, ǥAbšelama und Barsamya, die Addai an seinem Dienst teilnehmen ließ (Phillips / Howard [Anm. 11], S. Ìß bzw. 70). 83

Oder: der (nämlich als Richter) Eingesetzte (6£Þ3).

84

Oder: die Ordination verhindern bei einem.

85

Lk 16,15.

86

Sowohl Vööbus, CSCO.S 176, S. 40, als auch Cureton, Documents (Anm. 7), S. 29, lesen Þñ…~ als Präformativkonjugation Aphel 1. P. sg., also: „ich werde Vergeltung bringen / hinwenden“. Es ist aber, wie aus dem biblischen Kontext hervorgeht, ein Imperativ. 87

Ps. 94,2. Vööbus gibt in seiner Anmerkung zur Stelle (CSCO.S 176, S. 40 Anm. 45) unzutreffenderweise Jes 2,12 an; dieser Vers passt aber nur auf zweiten Teil zu („die stolz sind“).

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Reinhard Meßner

Can. 24. Die Apostel haben noch angeordnet: Es soll ein Aufseher88 sein über die Presbyter, die in den Dörfern sind, und er soll anerkannt werden als Haupt von ihnen allen, und zu seiner Hand sollen sie alle vorgeladen werden. Denn auch Samuel hat so visitiert von Ort zu Ort und Anweisungen gegeben.89 [Äthiopisch:] 26. Anordnung. Und man setze einen Oberen der Priester über die Landpresbyter ein, der bei ihnen herumgeht und sie visitiert und ihnen befiehlt und sie ermahnt. Und sie sollen anerkennen, dass er die Autorität über sie hat, und er soll ihr Handeln kennen, und es ist notwendig für sie, seine Anweisung zu befolgen, wie der Prophet Samuel, der in der Gegend von Jerusalem herumgegangen ist und ihnen befohlen und sie ermahnt hat.

Can. 25. Die Apostel haben noch angeordnet: Den Königen, die zum Glauben an den Messias kommen werden, ist es erlaubt, dass sie hinaufsteigen und stehen vor dem Altar mit den Leitern der Kirche.90 Denn auch David und seinesgleichen stiegen hinauf und standen vor dem Altar.91

88 ÀƒÍùñ. Dies ist ansonsten neben ¾åûÁÊâ Bezeichnung des Bischofs. Es wird sich de facto um einen Chorbischof handeln, möglich wäre auch ein Periodeut. Weder der eine noch der andere Titel kommt in der Doctrina Apostolorum vor. Nach can. 14 von Neocäsarea (Lauchert [Anm. 54], S. 36) sind die Chorbischöfe den Siebzig nachgebildet (und dementsprechend den Bischöfen, die den Aposteln entsprechen, untergeordnet), sie sind UWNNGKVQWTIQK der Bischöfe. Von Aggai, Palutѽ, ǥAbšelama und Barsamya wird in der Doctrina Addai (Phillips / Howard [Anm. 11], S. Íß bzw. 72) gesagt, dass sie „mit“ Addai „dienten“ (Ìãî çÙýãýâ). Can. 57 von Laodicäa (Lauchert [Anm. 54], S. 78) verbietet, in Hinkunft am Land Bischöfe einzusetzen, das Institut des Chorepiskopats soll durch Periodeuten ersetzt werden. Zu den Chorbischöfen vgl. den knappen, aber sehr informativen Artikel von Winfrid Cramer, Art. Chorbischof, in: LThK3 2, 1994, Sp. 1090 – 1092; ausführlicher: Ernst Kirsten, Chorbischof, in: RAC 2, 1954, Sp. 1105 – 1114. 89

Vgl. 1 Sam 7,15.

90

Dieser Canon bildet den Hauptgrund dafür, dass die Doctrina Apostolorum nicht vor die konstantinische Zeit angesetzt wird. Es wird freilich schon lange diskutiert, dass der Abgarlegende, die von der Bekehrung Abgars V. Ukkama erzählt, historisch die Bekehrung Abgars VIII. (um 200) zugrunde liegt und Edessa seitdem ein christliches Gemeinwesen war (so z. B. Adolf von Harnack, Die Mission und die Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Leipzig 41924, Nachdr. Wiesbaden o. J., S. 679 mit Anm. 4). Im Liber regum regionum 45 ist jedenfalls zu lesen, dass „König Abgar zum Glauben gekommen ist“ (PS 2, 606 Nau). Sollte der Passus authentisch sein, können die Canones inkl. can. 25 ohne weiteres vor 300 entstanden sein. Die Authentizität der Stelle und die Bekehrung Abgars VIII. wird jedoch bestritten; vgl. etwa Drijvers, Edessa (Anm. 12), S. 280. 91

Vgl. 2 Sam 6,17 f.

Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung

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[Äthiopisch:] 27. Anordnung. Über den König. Und es sei der Platz des Königs mit den Gläubigen zur Zeit des Gebets vor allen Leuten, und er stehe mit den Oberen und den eingesetzten Priestern, und er trete mit ihnen ein in den Altarraum. Und ihr Platz sei dort, denn König David und die Könige, die ihm gleichen, sind vor allen Leuten beim Gebet und betreten das Haus des Heiligtums, und ihr Platz ist drinnen. 28. Anordnung. Nicht soll sich der König sein Handeln im Haus des Heiligtums eigenmächtig herausnehmen, sondern in der Furcht Gottes und in Güte, damit Gott seinen Thron aufrecht erhält in Gerechtigkeit und seine Tage verlängere und ihm die ewige, geistliche Gnade zum Erbe gibt und ihn nicht der Söhne beraubt, die auf seinem Thron sitzen bis in Ewigkeit.

Can. 26. Die Apostel haben noch angeordnet: Niemand wage es, etwas in der Autorität des Priestertums zu vollbringen außerhalb von Recht und Gerechtigkeit, sondern gerecht und ohne den Tadel der Parteinahme. [Äthiopisch:] 29. Anordnung. Die Priester. Und nicht sollen die Priester und die Eingesetzten betrügerisch handeln in dem Werk, das ihnen aufgetragen worden ist, und nicht sollen sie bei ihrer Anweisung über das hinausgehen, wozu sie bevollmächtigt sind, anzuweisen und zu ermahnen. Und man hat sie eingesetzt für das, was angemessen und recht ist, und nicht für das, was Sünde und Verurteilung nach sich zieht und worin Streit ist.

Can. 27. Die Apostel haben noch angeordnet: Das Brot des Opfers soll am Tag, da es gebacken wird, auf den Altar gebracht werden und nicht Tage später – solches ist nicht erlaubt.92 [Äthiopisch:] 30. Anordnung. Über die Darbringung. Und sie sollen das Brot, das für die Darbringung gemacht worden ist, auf den Altar hinaufbringen am Tag, an dem es gemacht worden ist, und nicht sollen sie es bis zum folgenden Tag aufbewahren. Und sie sollen (es) am selben Tag reichen und nicht für den nächsten Tag reservieren, denn es ziemt sich nicht.

Dies alles aber ordneten die Apostel nicht für sich selbst an, sondern für diejenigen, die nach ihnen kommen sollten. Sie fürchteten nämlich, dass Wölfe (auftreten) würden, die Schafskleider anziehen. Für sie genügte ja der Geist, der Paraklet, der in ihnen (war), der, sowie er durch sie diese Gesetze angeordnet hatte, sie gemäß dem Gesetz leiten würde. Sie, die von unserem Herrn Kraft und Vollmacht empfangen hatten, hatten es ja nicht nötig, dass von anderen für sie Gesetze angeordnet werden. Auch Paulus und Timotheus, als sie in der Gegend von Syrien und Kilikien umherzogen, vertrauten diese Anordnungen und Gesetze der

92

Dies gilt noch heute in fast allen orientalischen Kirchen. Das Brot wird in der Nacht vor der Eucharistie gebacken. Unbedingt lesenswert sind die eindrucksvollen Schilderungen des rituell reich ausgestatteten Brotbackens bei Ethel S. Drower, Water into Wine. A Study of Ritual Idiom in the Middle East, London 1956, S. 48 – 60.

330

Reinhard Meßner

Apostel und Ältesten denen, die unter der Hand der Apostel waren93, an für die Kirchen in den Ländern, in denen sie verkündeten und predigten. Die Jünger aber, nachdem sie diese Ordnungen und Gesetze angeordnet hatten, ließen nicht ab von Verkündigung und Predigt und von den wunderbaren Krafttaten, die unser Herr durch sie wirkte. Viele Leute versammelten sich nämlich täglich bei ihnen, die zum Glauben an den Messias gekommen waren und die von anderen Städten zu ihnen kamen, und sie hörten ihre Worte und nahmen (sie) an. Nikodemus aber und Gamaliel94, das Haupt der Synagoge der Juden, kamen zu den Aposteln im Geheimen, wobei sie ihrer Lehre zustimmten. Judas und Levi und Peri und Joseph und Justus, die Söhne des Hananias, und Kaiphas und Alexander, die Priester95, auch sie kamen zu den Aposteln bei Nacht96; sie bekannten den Messias, dass er der Sohn Gottes ist, fürchteten sich aber, den Söhnen ihres Volkes ihre Einstellung zu den Jüngern kundzutun. Und die Apostel nahmen sie in Liebe auf und sagten zu ihnen: „Nicht sollt ihr aus Scham und Furcht vor den Menschen euer Leben verlieren vor Gott, und nicht sollt ihr der Rache anheim fallen mit euren Vätern wegen des Blutes des Messias, das sie auf sich genommen haben. Nicht ist es nämlich annehmbar vor Gott, dass ihr, wenn ihr mit seinen Anbetern seid, geht und euch den Mördern des Sohnes des Angebeteten zugesellt. Wie stellt ihr euch vor, dass euer Glaube angenommen wird mit den Wahren, wenn ihr mit den Falschen seid? Es ist vielmehr für euch als Menschen, die an den Messias glauben, recht, offen diesen Glauben zu bekennen, den wir verkünden.“ Und als sie dies von den Jüngern hörten, riefen sie alle gemeinsam, sie, die Söhne der Priester, vor dem ganzen Volk der Apostel: „Den Messias, der gekreuzigt worden ist, bekennen und glauben wir, und dass er von Ewigkeit der Sohn Gottes ist, bekennen wir, und von denen, die es gewagt haben, ihn zu kreuzigen, sagen wir uns los. Auch die Priester des Volkes bekennen nämlich im Geheimen den Messias, aber wegen der Obrigkeit des Volkes, die sie lieben, wollen sie nicht offen bekennen, und sie haben vergessen, was geschrieben steht: ‚Ein Wissender ist der Herr, und Verstellungen haben keinen Bestand vor ihm.‘97“ Als aber ihre Väter dies von ihren Söhnen hörten, drohten sie ihnen sehr, nicht deswegen, weil sie an den Messias glaub93

D. h.: denen die Apostel durch ihre Handauflegung das Priestertum weitergegeben hatten. 94

Gamaliel war den Christen nach Apg 5,34 – 39 relativ wohlgesonnen.

95

Oder: die Söhne des Hananias und des Kaiphas und des Alexander, der Priester.

96

Vgl. die Notiz in Apg 6,7, dass auch viele Priester zum christlichen Glauben kamen. Die Pešitѽta hat allerdings an dieser Stelle statt „Priester“ „Juden“. 97

1 Sam 2,3b Pešitѽta (im Unterschied zu MT und LXX).

Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung

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ten, sondern weil sie die Einstellung ihrer Väter vor den Söhnen ihres Volkes kundtaten und offen legten. Und diejenigen, die glaubten, gingen zu den Jüngern und wandten sich nicht von ihnen ab, da sie sahen, dass sie das, was sie die Vielen lehrten, selbst in der Tat vollbrachten vor den Menschen. Und wenn Bedrängnis und Verfolgung auf den Jüngern lastete, freuten sie sich, dass sie mit ihnen bedrängt wurden. Und mit Freude nahmen sie Strafen und Gefängnis an im Bekenntnis ihres Glaubens an den Messias. Und alle Tage ihres Lebens verkündeten sie den Messias vor Juden und Samaritanern. Und nach dem Tod der Apostel gab es Leiter und Aufseher in den Kirchen. Und was ihnen die Apostel übergeben und sie von ihnen übernommen hatten, lehrten sie die Vielen die ganze Zeit ihres Lebens. Auch sie wiederum übergaben und überlieferten bei ihrem Tod ihren Schülern nach ihnen alles, was sie von den Aposteln übernommen hatten, auch das, was Jakobus aus Jerusalem98 schrieb und Simon aus der Stadt Rom99 und Johannes aus Ephesus100 und Markus aus dem großen Alexandrien101 und Andreas aus Phrygien und Lukas aus Makedonien102 und Judas Thomas aus Indien, dass die Briefe des Apostels103 98

Gemeint ist wohl der Jakobusbrief. Die hier aufgezählten, im Gottesdienst zu verlesenden Schriften gehen weit über die Anordnung von can. 10 hinaus, wo neben Gesetz und Propheten nur die Evangelien und die Apostelgeschichte genannt sind. Dies ist ein deutliches Indiz, dass die Rahmengeschichte später den Canones hinzugefügt worden ist. 99

Nach der Doctrina Addai (Phillips / Howard [Anm. 11], S. Íâ bzw. 92) hat Petrus die Paulusbriefe aus Rom gesandt. Die Paulusbriefe sind in der Doctrina Apostolorum aber gleich im Anschluss eigens genannt, so dass hier 1 (+ 2?) Petr gemeint sein wird. 100

Nach der Doctrina Addai (wie Anm. 99) hat Johannes aus Ephesus die Apostelgeschichte („die Praxis der zwölf Apostel“) gesandt, die hier wieder eigens erwähnt ist, so dass an die Johannesbriefe zu denken ist. 101

Ob hier und bei den folgenden Angaben apokryphe Apostelschriften gemeint sind (wie z. B. die Thomasakten), muss dahingestellt bleiben. 102

Die kanonische Apostelgeschichte? Sie wird allerdings gleich darauf explizit erwähnt. 103 Damit sind zweifellos die Paulusbriefe, die Briefe „des Apostels“ schlechthin, gemeint (Cureton, Documents [Anm. 7], S. 32, hat falsch übersetzt: „the epistles of an Apostle“). In can. 10 sind die Paulusbriefe nicht genannt. Hier wird angeordnet, dass die Paulusbriefe gelesen werden sollen, „wie“ die Apostelgeschichte (offenbar: schon üblicherweise) „gelesen wird“. Die Formulierung deutet, zusätzlich zum Fehlen der Paulinen in can. 10, darauf hin, dass die Apostelgeschichte schon länger als gottesdienstliche Schriftlesung rezipiert sind, die Paulinen erst später, zur Zeit bzw. kurz vor der Zeit der Abfassung der Rahmengeschichte hinzugefügt wurden. Vgl. dazu Meßner, Synode von Seleukeia-Ktesiphon (Anm. 19), S. 80 f.

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angenommen und gelesen werden in den Kirchen an jedem Ort, wie gelesen werden die Triumphe ihrer Taten, die Lukas ihnen geschrieben hatte, dass dadurch bekannt werden die Apostel und die Propheten und das Neue und das Alte Testament104, da eine Wahrheit von ihnen allen verkündet wurde, da ein Geist in ihnen allen sprach von dem einen Gott, den sie alle anbeteten und den sie alle predigten. Und die Länder nahmen ihre Lehre an; alles nämlich, was gesagt wurde von unserem Herrn durch die Apostel und was die Apostel ihren Jüngern überlieferten, wurde geglaubt und angenommen an jedem Ort gemäß der Andeutung unseres Herrn, der zu ihnen sagte: „Ich bin bei euch bis zur Vollendung der Welt“105, während die Leiter mit den Juden disputierten über die Bücher der Propheten und mit den irrenden Heiden stritten durch die schreckenerregenden Krafttaten106, die sie im Namen des Messias vollbrachten. Alle Völker nämlich, auch die, die in anderen Ländern wohnten, wurden still und schwiegen durch das Evangelium des Messias; und diejenigen, die bekannten, riefen in der Verfolgung: „Diese unsere gegenwärtige Verfolgung soll ein Anwalt für uns sein, die wir zuerst Verfolger waren.“ Es waren einige unter ihnen, für die der Tod durch das Schwert befohlen wurde, und einige von ihnen, denen man das, was sie besaßen, nahm, und sie ließen es zu. Und wie viel Bedrängnis auf ihnen lastete, so wuchsen ihre Versammlungen und wurden größer. Und in der Freude ihres Herzens nahmen sie den Tod in jeder Art auf sich.

104 Da die Propheten zusätzlich genannt sind, ist hier unter dem „Alten Testament“ offensichtlich die Tora zu verstehen. Die Doctrina Addai verwendet den Begriff auch einmal in diesem Sinn (Phillips / Howard [Anm. 11], S. Ìß bzw. 70: „sie lasen im Alten Testament und im Neuen und in den Propheten und in den Taten der Apostel“; dies entspricht den Anordnungen von can. 10) und spricht ein weiteres Mal (S. Íß bzw. 72) von der (täglichen) Lesung „des Alten Testaments und des Neuen des Diatessaron“. Hier könnte „Altes Testament“ durchaus Tora und Propheten umfassen, das „Neue Testament“ ist aber offensichtlich eng im Sinn des Evangeliums zu verstehen.

Mt 28,20. Das Zitat (¾Ćãàî äàüƒ ¾ĆâÊî ¾å~ ÍÝãî weicht weit von der PešitѽtaVersion ab; eine Vetus-Syra-Lesart ist nicht vorhanden. Es kann sich freilich durchaus um ein freies Zitat handeln. 105

106

Die Mission durch die rechte Interpretation der Propheten bei den Juden und durch Heilungen im Namen Christi bei den Heiden wird auch in der Doctrina Addai in der Rede Addais vor der Bevölkerung von Edessa herausgestellt (Phillips / Howard [Anm. 11], S.  bzw. 40): „Wenn ich etwas sage, was nicht in den Propheten geschrieben ist, werden (es) die Juden, die unter euch stehen und mich hören, nicht annehmen. Und wenn ich wiederum den Namen des Messias erwähne über diejenigen, die Krankheiten und Leiden haben, und sie nicht geheilt werden durch diesen glorreichen Namen, werden die, die das Werk ihrer Hände anbeten, nicht zum Glauben kommen.“

Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung

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Und durch die Hand des Priestertums107, das die Apostel von unserem Herrn empfangen hatten, breitete sich ihre Predigt an den vier Enden der Welt schnell aus. Und indem sie einander besuchten, dienten sie einander. Es empfing die Hand des Priestertums Jerusalem und das ganze Land von Palästina und das Haus der Samariter und das Haus der Philister und das Land der Araber und der Phönizier und die Söhne von Cäsarea von Jakobus, welcher war Aufseher und Leiter in der Kirche der Apostel, die am Zion gebaut108 worden war. Es empfing die Hand des Priestertums der Apostel das große Alexandrien und die Thebais und ganz Innerägypten und das ganze Land von Pelusium und bis zur Grenze der Inder109 von Markus dem Evangelisten, welcher dort Aufseher und Leiter war in der Kirche, die er dort baute110 und in der er diente111. Es empfing die Hand des Priestertums der Apostel Indien und alle seine Länder und seine Umgegend bis zum äußersten Meer von Judas Thomas, welcher Leiter und Aufseher war in der Kirche, die er dort baute und wo er diente. Es empfing die Hand des Priestertums der Apostel Antiochien und Syrien und Kilikien und Galatien bis Pontus von Simon Kephas, welcher dort den Grundstein der Kirche legte. Und er war Priester und diente dort bis zu der Zeit,

107 „Hand des Priestertums“ (¿šÍåÌ܃ÀÊØ~) ist auch in der Doctrina Addai terminus technicus für die Ordination (z. B. Phillips / Howard [Anm. 11], S. Îß bzw. 74). 108

Es wird hier nicht ausdrücklich gesagt, ist aber möglicherweise impliziert und entspricht jedenfalls der Tradition, dass die Apostelkirche auf dem Zion mit dem im ersten Teil der Rahmengeschichte als Ausgangspunkt der Eucharistie und der Völkermission genannten Obergemach identisch ist. Vgl. für die christliche Zionstradition den interessanten Beitrag von Bargil Pixner, Die apostolische Synagoge auf dem Zion, in: Ders., Wege des Messias und Stätten der Urkirche. Jesus und das Judenchristentum im Licht neuer archäologischer Erkenntnisse. Hrsg. v. Rainer Riesner (= Studien zur biblischen Archäologie und Zeitgeschichte 2), Gießen 31996, S. 287 – 326. 109 Damit könnte hier Nubien / Äthiopien gemeint sein. „Kusch“ (¾ÙüÍÜ) ist auch handschriftlich belegt (s. Cureton, Documents [Anm. 7], S. 172). Von Indien ist anschließend im traditionellen Zusammenhang mit Thomas die Rede. 110 „Die Kirche bauen“ ist hier und in den folgenden Notizen wohl in erster Linie im Sinn der Gründung der Gemeinde zu verstehen. 111

„Dienen“ (þãü) ist in dieser Liste der Standardbegriff für die Ausübung des kirchlichen Amtes.

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als er von dort nach Rom hinaufstieg wegen Simon dem Zauberer112, der die Söhne Roms durch seine Zaubereien verführte. Es empfing die Hand des Priestertums der Apostel die Stadt Rom und ganz Italien und Spanien und Britannien und Gallien mit dem Rest der übrigen Länder ihrer Umgegend von Simon Kephas, der von Antiochien heraufgestiegen und dort Aufseher und Leiter war in der Kirche, die er dort und in seiner Umgegend baute. Es empfing die Hand des Priestertums der Apostel Ephesus und Thessaloniki und ganz Asien und das ganze Land der Korinther und von ganz Achaia und seine Umgegend von Johannes dem Evangelisten, der an der Brust unseres Herrn gelegen war, der dort die Kirche baute und dort diente in der Leitung dort. Es empfing die Hand des Priestertums der Apostel Nikaia und Nikomedien und das ganze Land von Bithynien und das Gotenland und der Regionen ringsum von Andreas, dem Bruder des Simon Kephas, welcher Leiter und Aufseher war in der Kirche, die er dort baute und wo er Priester war und diente. Es empfing die Hand des Priestertums der Apostel Byzanz und das ganze Land von Thrakien und seine Umgegend bis zum großen Strom113, der Grenze, die von den Barbaren trennt, von Lukas dem Apostel, welcher dort die Kirche baute und wo er diente im Aufsichtsamt und in der Leitung dort. Es empfing die Hand des Priestertums der Apostel Edessa und alle Länder seiner Umgegend an allen Seiten und Sҍoba114 und Arabien und der ganze Norden und die Regionen seines Umkreises und der Süden und ganz Mesopotamien von Addai dem Apostel, einem von den zweiundsiebzig Aposteln115, der dort missionierte und die Kirche dort baute und Priester war und dort diente in der Leitung dort. Es empfing die Hand des Priestertums der Apostel die ganze Persis der Assyrer und der Aramäer und der Meder und die Länder im Umkreis von Baby-

112

Das ist bekanntlich in der apokryphen Petrus-Literatur Topos. Vgl. neben den alten Petrusakten etwa die syrische „Lehre des Simon Kephas in der Stadt Rom“, herausgegeben von Cureton, Documents (Anm. 7), S. 3 – 41 (syrische Paginierung); S. 35 – 41 (englische Übersetzung). 113

Das ist die Donau.

114

Nisibis.

115

Es wird also nicht zwischen den Aposteln im engeren Sinn und den siebzig bzw. zweiundsiebzig Jüngern unterschieden.

Die „Lehre der Apostel“ – eine syrische Kirchenordnung

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lon, +ҕuzistan und die Gelen116 bis zu den Grenzen der Inder und bis zum Haus Gog und Magog und noch alle Länder an allen Seiten von Aggai dem Seidenmacher117, dem Schüler Addais des Apostels. Die restlichen Gefährten der Apostel kamen in die fernen Länder der Barbaren und missionierten von Ort zu Ort und zogen weiter, und dort dienten sie mit ihrer Verkündigung, und dort war ihr Ausgang aus dieser Welt, während ihre Schüler nach ihnen (das Werk) fortsetzen bis heute und keinerlei Änderung oder Hinzufügung zu ihrer Verkündigung machen. Lukas der Evangelist aber sorgte sich darum, die Triumphe der Taten der Apostel aufzuschreiben und die Ordnungen und Gesetze des Dienstes ihres Priestertums und wohin jeder einzelne von ihnen ging. So schrieb Lukas in seiner Sorgfalt dies und viel mehr als dies auf und legte es in die Hand des Priskus118 und des Aquilas, seiner Schüler, und sie begleiteten ihn bis zum Tag seines Todes, wie den Paulus begleiteten Timotheus und Erastus von Lystra119 und Menaus120, der erste Schüler der Apostel, bis er zur Stadt Rom hinaufstieg, da er dem Rhetor Tertullus widerstanden hatte. Und Kaiser Nero ließ ihn hinrichten durch das Schwert, ihn und Simon Kephas in der Stadt Rom.

116 Christen unter den Gelen (südöstlich des Kaspischen Meeres) bezeugt bereits um 220 der Liber legum regionum aus der Bardaisan-Schule (PS 2, 607 Nau). 117

Aggai, vor seiner Bekehrung edessenischer Hoflieferant von Seidenwaren, ist nach der Doctrina Addai (Phillips / Howard [Anm. 11], S.  bzw. 80) der Nachfolger Addais als Leiter der Kirche in Edessa. 118

Handschriftlich auch korrekt in der weiblichen Form überliefert (Priscilla).

119

Vgl. Apg 19,22 (nach Apg 16,1 stammt Timotheus aus Lystra).

120

Nach Cureton, Documents (Anm. 7), S. 173 wohl identisch mit Menaën von Apg 13,1 und nach syrischer Überlieferung einer von den Siebzig.

Kirchenrechtliche Konsequenzen des so genannten „Morgenländischen Schismas“ von 1054 und ihrer Aufhebung durch den „Dialog der Liebe“ im Jahr 1065 Von Monica Herghelegiu In einer sehr wichtigen Monographie zum so genannten „Morgenländischen Schisma“1 von 1054 behauptet der Kirchenhistoriker Axel Bayer, dass die Frage nach der Gültigkeit des römischen Bannspruches von 1054 „nur kirchengeschichtlich und nicht kirchenrechtlich beantwortet werden kann, obgleich eine solche Sichtweise auch Auswirkungen auf den kirchenrechtlichen Aspekt gehabt haben muss“2. Diese Aussage ist einerseits verständlich, andererseits aber – angesichts der immensen rechtlichen und jurisdiktionellen (und nicht nur dogmatischen oder politischen) Folgen dieses Bannspruches – ist diese Bewertung des Ereignisses von 1054 einseitig. Deswegen möchte ich in der folgenden Untersuchung erneut der Frage nach der (Un)Rechtmäßigkeit des Bannspruches nachgehen und versuchen, eine kirchenrechtlich-ekklesiologische Antwort auf ein kirchenrechtliches Phänomen, das aufgrund von ekklesiologischen Auseinandersetzungen entstand, zu geben. Obwohl dem Jahr 1054 in der Geschichte der Trennung der Ost- von der Westkirche eine große Bedeutung zugemessen wird, ereigneten sich vor diesem Zeitpunkt auch andere kleinere aber nennenswerte Schismen zwischen den beiden Teilen des Reiches. Yves Congar zitiert in seiner Schrift „Zerrissene Christenheit“3 zwei kirchenhistorische Untersuchungen, die aufzeigen, dass es 1 Der Begriff Schisma wird in der ostkirchlichen Tradition nicht mit einer unheilbaren Trennung assoziiert, sondern laut Basileious von Caesarea entstehen Schismata aufgrund von einigen kirchlichen Gründen, die heilbar sind (s. PG 32, Sp. 665 A: Epist. 188,1. Respondet Basilius pluribus Amphilochii quaestionibus). 2

Axel Bayer, Spaltung der Christenheit. Das sogenannte Morgenländlische Schisma von 1054, Köln u. a. 2003, S. 99. 3

Yves Congar, Zerrissene Christenheit, Wien 1959.

338

Monica Herghelegiu

seit dem Beginn der Alleinherrschaft Konstantins (323) bis zum VII. Ökumenischen Konzil (787) zwischen den Griechen und Lateinern fünf Schismen, die ungefähr 203 Jahre dauerten, gab. Eine dieser Untersuchungen zählt zwischen dem Tod Konstantins (337) und der endgültigen Annahme der Beschlüsse des VII. Ökumenischen Konzils (843) sieben Schismen, die 217 Jahren dauerten. Das hieße, dass zwischen Griechen und Lateinern sogar in der Zeit, in der sie gemeinsame Konzilien feierten, keine vollständige und ununterbrochene communio bestand. Trotz zahlreicher Auseinandersetzungen brach die Einheit der Kirche nicht zusammen. Höhepunkte dieses Dissenses waren: das Akakianische Schisma (484 – 519), das Photianische Schisma (9. Jh.), der Konflikt um das Filioque zwischen Papst Sergius IV. und Patriarch Sergios II. aus dem Jahr 1009, der mit der Streichung des Papstes aus den Diptychen in Konstantinopel endete. Dieses Jahr wurde auch als „Vorbote“ der endgültigen Kanonisierung der Trennung angesehen4. Die Meinung, dass den Ereignissen des Jahres 1054 mehr Bedeutung zugesprochen wurde, als es sich gebührt, verbreitet sich immer mehr. Theodor Nikolaou nennt sie „eine Art Generalprobe des großen Schismas, eine weitere geschichtsträchtige Episode in den vielschichtigen Auseinandersetzungen zwischen Ost- und Westkirche“5. E. Suttner spricht sogar von dem „Mythos von der Kirchenspaltung im Jahr 1054“, der erst nachträglich kreiert wurde, um die Trennung an ein gewisses Ereignis zu binden6. Stephan Runciman sieht darin „a quarrel that took place that year between the Patriarch Michael Cerularios and Cardinal Humbert (…) but it was neither the first nor the last episode in the sorry story“7. Hans-Georg Beck sieht im Jahr 1054 eine Akzentsetzung, die zur „Abkühlung bis zum Nullpunkt“8 führte, weil man aneinander vorbei gelebt hat. In einer Studie zur katholischen Kirche in Konstantinopel sieht Charles A. 4

Vassilios Phidas, Anathema und Schisma – Folgen der Aufhebung der Anathemata, in: Auf dem Weg zur Einheit des Glaubens, Koinonia – erstes ekklesiologisches Kolloquium zwischen orthodoxen und römisch-katholischen Theologen veranstaltet von Pro Oriente, Innsbruck u. a. 1976, S. 95. 5 Theodor Nikolaou, Vervollständigung des Schismas zwischen Ost- und Westkirche im Jahr 1204 und die Anfänge des Uniatismus, in: Ders. (Hrsg.), Das Schisma zwischen Ost- und Westkirche, Münster 2004, S. 83. 6 Ernst Christoph Suttner, Der Mythos vom „grossen Schisma“ im Jahr 1054. Zum Verhältnis zwischen den Kirchen lateinischer und byzantinischer Tradition vor und nach dem angeblichen Wendepunkt, in: Catholica 2 (2004), S. 108. 7 Stephen Runciman, The Eastern Schism. A Study in the Papacy and the Eastern Churches during the XIth and XIIth Centuries, Oxford 1955, S. 159. 8

Hans-Georg Beck, Geschichte der orthodoxen Kirche im byzantinischen Reich, Göttingen 1980, S. 147.

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Frazee in den Ereignissen des Jahres „only another example of the clash between the Greek and Latin ideas on the proper governance of the church“9. Den Zustand nach der Verhängung der Anathemata charakterisiert Panagiotis Boumis10 als „pro-schismatisch“ und als „diastasis“ und nicht als offizielles Schisma. Eine extreme Meinung zur Trennung vertritt A. Kallis, für welchen „die Exkommunikation weder kirchenrechtliche, noch ekklesiologische Konsequenzen hat.“11 I. Die Ereignisse im Vorfeld der Bannsprüche Die Spannungen zwischen der lateinischen und der griechischen Kirche wuchsen um die Jahre 1052 – 1053. Die Auseinandersetzungen waren meistens liturgisch-sakramentaler Natur12: der Gebrauch von Azymen, das Tragen bzw. Nichttragen eines Bartes bei Geistlichen, das manchmal sogar zu Wiedertaufen führte, die einfache bzw. dreifache Immersion bei der Taufe, u. v. m. Hinzu kam die von dem griechischen Erzbischof Leon von Ochrid verfasste Streitschrift gegen die Lateiner, die dem lateinischen Erzbischof Johannes von Trani13 zugesandt wurde. Dieses Schreiben sollte allen Erzbischöfen des Westens und dem Papst selbst bekannt gemacht werden. Papst Leo sah in der Streitschrift des Leon von Ochrid und in seiner Kritik an den disziplinären Gewohnheiten Roms einen Angriff auf den Primat. Er reagierte darauf mit einem Schreiben an den Patriarchen Konstantinopels, Michael Kerularios14, den er aber nicht abschickte. Dadurch dass der Papst die Bedeutung des Primats herausstellte, wollte er unterstreichen, dass jede theologische Meinung, die mit der Sicht der lateinischen Kirche nicht im Einklang stand, zu verurteilen wäre. Hingegen sei der erste Sitz von niemandem zu beurteilen, weil dieser das Haupt 9

Charles A. Frazee, The Catholic Church in Constantinopole 1204 – 1453, Balkan Studies 19 (1978), S. 33. 10

Panagiotis Boumis, Die Anathemen zwischen Rom und Konstantinopel und die kanonische Seite ihrer Aufhebung, Athen 1980, S. 33. 11

Anasthasios Kallis, Von der Polemik zum „Dialog der Liebe“, S. 318.

12

Dass die liturgischen Fragen als sehr wichtig betrachtet wurden, ist auch ersichtlich aus der Tatsache, dass 1053/1054 der Papst Alexander II im Königreich Aragon die so genannte mosarabische Liturgie durch die römische Liturgie ersetzte. 13

Einzelheiten über die Lage des Erzbistums Trani bei Bayer, Spaltung (Anm. 2), S. 67 – 72. 14

S. Leonis IX. Epistola ad Michaelem Constantinopolitanum patriarcham adversus eius et Leonis Achridani Episcopi inauditas praesumptiones et nimias vanitates, in: Cornelius Will, Acta et scripta quae de controversiis ecclesiae graecae et latine saeculo undecimo composita extant, Lipsiae et Marpurgi 1861, S. 65 – 85.

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aller Kirchen sei15. Wer diese auch vom Konzil von Nizäa festgelegte Tatsache nicht akzeptiere, der sollte mit dem Anathem belegt werden. Eine der Begründungen seines weltlichen Anspruchs war die Konstantinische Schenkung. Die Einstellung des Reformpapsttums gegenüber der römischen Überlieferung war einheitlich, im Gegenteil zu der differenzierten Sicht der Päpste vor dieser Zeit16. Der päpstliche Primat und die römische Kirchenordnung wurden als eine Einheit betrachtet, sodass jede abweichende Meinung als häretisch galt17. Demzufolge seien die theologischen Akzentsetzungen der Griechen nicht nur als berechtigte Sonderentwicklung zu betrachten, sondern als Entwicklung, die zu ändern ist. Für das Fortbestehen dieser kritischen Situation wurde Michael Kerularios beschuldigt. Ihm wurde unterstellt, dass er ein Neophyt war und zum Bischof ernannt wurde, ohne die notwendigen Weihestufen durchgegangen zu sein18. Der allerwichtigste Streitpunkt war allerdings die rechtliche Stellung Roms innerhalb der apostolischen Patriarchate. Kerularios ignorierte die Rangfolge der Patriarchate Rom, Alexandria und Antiochia, die auf der petrinischen Trias beruhte19. Die vom Papst Damasus I. zum ersten Mal erwähnte petrinische Trias, war als Protest gegen Kanon 320 des I. Ökumenischen Konzils in Konstantinopel formuliert. Papst Damasus I. wollte die Rangerhöhung Konstantinopels bremsen, und behauptete deswegen in einem Synodalerlass von 382, dass die Römische Kirche anderen Kirchen dank göttlicher Einsetzung Vorrang hätte. Die anderen petrinischen Kirchen wären Alexandria und Antiochia. Angesichts dessen, dass Rom der Kirche in Konstantinopel den Zweitrang im Zuge der Lösung des acacianischen Schismas (519) zuerkannte und dass dies rechtlich im Kanon 21 der antiphotianischen Synode von 869 – 870 ausformuliert wurde, war die Argumentation Leos anachronistisch.

15

Cornelius Will (Hrsg.), Acta et scripta, S. 70.

16

Leo I und Innozenz I verlangten Übereinstimmung mit der römischen Überlieferung, während Gregor der Grosse und Nikolaus I die abweichende kirchliche Tradition nicht als Hindernis zur Erlangung des Heils ansahen. 17

Will, Acta (Anm. 15), S. 92.

18

Will, Acta (Anm. 15), S. 90.

19

Will, Acta (Anm. 15), S. 90.

20

In diesem Kanon wurde dem Bischof von Konstantinopel ein Ehrenvorrang nach dem Bischof von Rom mit der Begründung, dass Konstantinopel das „neue Rom“ sei, eingeräumt (vgl. Mansi III, Sp. 560). Kanon 7 von Nizäa verbindet allerdings keine jurisdiktionellen Rechte mit dem Ehrenvorrang (vgl. Mansi II, Sp. 672).

Kirchenrechtliche Konsequenzen des „Morgenländischen Schismas“

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Keruralios wurde weiterhin der Annahme des unrechtmäßigen Titels des „patriarcha universalis“ (gr. Patriárches oíkoumenikós) beschuldigt, der bereits seit Pelagius und Gregor dem Grossen von den Päpsten zurückgewiesen wurde21. Papst und Patriarch versuchten trotz Auseinandersetzungen zu einem gemeinsamen Nenner zu kommen. Als Beweis dafür steht ein weiteres wichtiges Dokument22, der Brief, den Kaiser Konstantin IX. und Michael Kerularios nach den Ereignissen vom 18. Juni 1053 bei Civitate an den Papst schickten23. Der Patriarch versprach dem Papst Unterstützung gegen die Normannen und bot ihm sogar die Erwähnung in den Diptychen der Reichskirche an, die zur Zeit des Papstes Sergius IV. (1009 – 1012) gestrichen worden waren. Im Gegenzug sollte der Patriarch auch in Rom als Zeichen der Einheit erwähnt werden. Die Vorwürfe der ersten Streitschrift wurden nicht erwähnt. Einerseits kann dieser Brief als irenischer Versuch der Annäherung interpretiert werden, aber gleichzeitig war er durch die Bedingungen, die der Patriarch stellte, auch ein Versuch seine Stellung gegenüber dem Papst zu stärken. Eine Annahme des diplomatischen Angebots hätte die Anerkennung der Gleichheit des Konstantinopolitanischen und des Römischen Sitzes zu Folge gehabt. II. Die gegenseitigen Bannbullen II.1. Der Ablauf der Ereignisse im Jahre 1054 lässt sich folgendermaßen aufs Einfachste reduzieren: Die Hauptakteure des Konflikts waren auf byzantinischer Seite der Kaiser Konstantin IX. Monomachos und der Patriarch Michael Kerularios24, auf römischer Seite standen ihnen die drei Apokrisiare des Papstes 21

Will, Acta (Anm. 15), S. 91.

22

Beide Dokumente sind verschollen, sie sind nur aus den Antworten Leos IX. und aus der Korrespondenz zwischen Michael Kerularios und Petros III. von Antiochia rekonstruierbar. 23 Bis zur Verfassung dieses zweiten Briefes fanden noch einige Ereignisse statt: Das Heer des Papstes wurde 1053 bei Civitate von den Normannen geschlagen, der Papst zog nach Benevent und von dort nach Bari, der Hauptstadt des byzantinischen Katepanats, wo er ein Konzil abhielt. Auf dem Konzil verteidigte Leo die lateinische Lehre vom Filioque. Der Papst hoffte auf eine Einigung mit den Byzantinern, um seine antinormannischen Aktivitäten fortsetzen zu können. In der Vermittlung des Konfliktes bemühte sich auch der Patriarch Dominikus Marango von Grado, der den Patriarchen Petros III. bat, auf Kerularios einzuwirken, damit er die Azymen anerkenne. Seinerseits konnte Rom die Rechtmäßigkeit der byzantinischen Sitte des Gebrauchs von gesäuerten Broten anerkennen. Der Papst lenkte in diesem Punkt ein, weil er die kirchliche Jurisdiktion über Süditalien und das Illyricum wiederherstellen wollte. 24

Kerularios entstammte einer angesehenen konstantinopolitanischen Adelsfamilie.

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gegenüber: der Kardinalbischof Humbert25 von Silva Candida, der Kanzler der römischen Kirche, Friedrich von Lothringen (später Papst Stephan X.: 1057 – 1058) und der Erzbischof Petrus von Amalfi. Für die Bewertung der Rechtmäßigkeit der Bannbullen spielt der Tod des Papst Leo IX. (1049 – 1054)26, welcher am 19. April 1054, vor der Ankunft der drei römischen Legaten in Konstantinopel verstarb, eine große Rolle. Die römische Delegation, die Anfang April in Konstantinopel eintraf, wurde vom Kaiser freundlich empfangen, aber die erste Begegnung mit dem Patriarchen endete im Eklat, weil er den drei Gesandten im Synodalsaal einen Platz hinter den Metropoliten gab, was dem damaligen Gewohnheitsrecht entsprach27. Die Gesandten überreichten den Brief des Papstes und verließen den Saal. Der Patriarch weigerte sich, sie erneut zu empfangen, obwohl sie in Konstantinopel blieben, um das antibyzantinische Pamphlet „Dialogus“28, eigentlich ein fiktives Gespräch zwischen einem Römer und einem Lateiner zu entwerfen. Gleichzeitig (oder vielleicht auch zuvor)29 verfasste Niketas Sthethatos30, ein Mönch aus dem Kloster Studiou eine Abhandlung für die Verteidigung der byzantinischen Praxis. Aufgrund des Einwirkens Konstantins IX. widerrief Niketas seine Schrift. Michael Kerularios schrieb dem antiochenischen Patriarchen, um ihn für seine Seite zu gewinnen. Da die Auseinandersetzungen eskalierten, deponierte Kardinal Humbert de Silva Candida am 16. Juli während der Liturgie in der Hagia Sophia die schriftliche Ausfertigung der Exkommunikation gegen Michael Kerularios, den Metropoliten Leon von Ochrid und ihre Anhänger auf dem Altar31. Die Bulle war allerdings nicht nur gegen einzelne Personen gerichtet, sondern gegen die Ver-

25

Humbert war seit 1015 Mönch im lothringischen Kloster Moyenmoutier, das zum Touler Bistum gehörte. Er kannte den künftigen Papst Leo IX seit dessen Touler Zeit. Leo ernannte ihn 1050 zum Missionserzbischof von Sizilien und bald darauf zum Kardinalbischof der suburbikarischen Diözese Silva Candida. 26

Leo (Bruno) stammte aus dem Elsass, war ein Vetter Heinrichs III. und war vor seiner Ernennung Bischof von Toul. Er war bereits der dritte der so genannten deutschen Päpste. Ihm folgte Papst Victor II. (1055 – 1057). 27

Will, Acta (Anm. 15), S. 177.

28

Will, Acta (Anm. 15), S. 93 – 126.

29

Bayer, Spaltung (Anm. 2), S. 91.

30

Sthethátos (der Beherzte), weil er den Mut besaß, Konstantin IX. wegen einer ehebrecherischen Beziehung zu kritisieren. 31

Excommunicatito qua feriuntur Michael Caerularius atque eius sectatores, Will, Acta (Anm. 15), S. 153 – 154.

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treter der dogmatischen Lehren32, die in Byzanz verbreitet waren. Diese würden Häresien, vergleichbar mit denen der Arianer, Donatisten, Nikolaiten, Pneumatomachen, Manichäer, Nazaräner u.a., vertreten. Während man Bürger Konstantinopels als „christianissimus“33 bezeichnete, wurde Kerularios nicht einmal mit seinem Patriarchentitel angeredet. Das Anathem seitens der Byzantiner wurde vier Tage später, am Sonntag des Gedächtnisses an das V. Ökumenische Konzil öffentlich bekannt gemacht. Ein Beweis dafür, dass der Kaiser keinen Bruch34 mit Rom haben wollte, ist die Tatsache, dass sich das Anathem nur auf einen bestimmten Personenkreis35, auf die Legaten, auf Katepano Argyros (dem byzantinischen Statthalter in Italien) und auf die an der Bannbulle Beteiligten bezog. Der Patriarch von Konstantinopel setzte die Patriarchen von Antiochien, Alexandrien und Jerusalem von diesen Ereignissen in Kenntnis. Michael Kerularios erinnerte gleichzeitig Petros III. daran, dass der Name des Papstes nicht aus den Diptychen in Antiochien, Jerusalem und Alexandrien gestrichen wurde, obwohl seit dem V. Ökumenischen Konzil (553) dies der Fall sein sollte.

32

Die theologischen Streitfragen (die Weihe von Kastraten zu Priestern und Bischöfen, die Priesterehe, die Verweigerung der Taufe der todkranken Kinder vor dem 8. Tag nach der Geburt, Simonie, Filioque, Widertaufe, Bartlosigkeit) werden in Einzelheiten bei Hans Georg Beck, Kirche und theologische Literatur im byzantinischen Reich, München 1959, S. 533 ff., behandelt. 33

Will, Acta (Anm. 15), S. 82.

34

Der Bruch setzte sich nicht gleich durch. Ein Beispiel der weiteren Verbundenheit zwischen beiden Kirchen zeigt sich in der Hochzeit des österreichischen Herzogs Heinrich Jasomirgott mit der byzantinischen Prinzessin Theodora, die 1149 in der Hagia Sophia stattfand. Sogar auf dem 3. Laterankonzil 1179 war die Entfremdung nicht so akut, dass der griechische Archimandrit Nektarios seine anklagende Rede gegen die Ausschreitungen der Römer halten konnte. Erwähnenswert ist can. 4 des 4. Laterankonzils (1215), in welchem es den Griechen untersagt wird, die von den Lateinern getauften Kindern wiederzutaufen und die Altäre, auf welchen die Messe zelebriert wurde, zu waschen. Dazu wird gesagt: „Postquam enim Graecorum Ecclesia cum quibusdam complicibus ac fautoribus suis ab oboedentia Sedis apostolicae se subtraxit“ (Mansi XXII, Sp. 981 – 1068). Darin wird ersichtlich, dass „die griechische Kirche“ dem Apostolischen Stuhl den Gehorsam verweigerte. 35

So auch Suttner, Der Mythos (Anm. 6), S. 108: „Nur ad personas den Patriarchen und einige seiner Mitarbeiter exkommunizierten die römischen Legaten, und einige Tage später exkommunizierte der Patriarch, ebenfalls nur ad personas die Legaten“. Zum gleichen Thema auch Ernst-Christoph Suttner, Die Christenheit aus Ost und West auf der Suche nach dem sichtbaren Ausdruck für ihre Einheit (Das östliche Christentum 48), Würzburg 1999, S. 69 – 73.

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II.2. Die Frage, die sich stellt, ist, wie dieser gegenseitige Akt zu werten ist. Können die Ereignisse der Apriltage des Jahres 1054 tatsächlich als „sogenanntes morgenländisches Schisma“ gedeutet werden, oder war es ein tatsächliches Schisma, dessen Bedeutung man vermindern will? Tatsache ist, dass die Anathemata nach dem Tod des Papstes ausgesprochen wurden, also in einer Zeit der „Sedisvakanz“. Allerdings hat man zu der Zeit keine Papstwahlkonstitution, die die Rechtslage der Kirche in der Zeit der Sedisvakanz regeln konnte. W. Plöchl ist der Meinung, dass die Legaten Organe der römischen Kirche waren, und dass ihr Amt nicht an die Person des Papstes gebunden war36. Hans-Joachim Schulz und Steven Runciman vertreten die entgegengesetzte Meinung, dass die Vollmachten der Legaten mit dem Tod des Papstes erloschen waren37. Wegen der präkeren Quellenlage kann man die Vollmachten der Apokrisiare nicht mehr rekonstruieren. Sicher ist, dass der verstorbene Papst von der Bannbulle Kenntnis hatte, da sich die Auseinandersetzungen zwischen den Lateinern und Griechen über Jahre hinweg zogen. Die Byzantiner hatten bestimmt auch vom Tod der Papstes Kenntnis genommen und führten trotzdem weiterhin ihre Gespräche mit den Legaten fort. Außerdem hatte in ihren Augen die Verbannung Rechtskraft, da sie sonst einen Gegenbann nicht ausgesprochen hätten. Kerularios zweifelte im Synodaldekret (Semeioma)38 vom 20. April (und auch in einem Schreiben an den Patriarchen von Antiochien, Petros III.39), dass es sich bei den römischen Apokrisiaren um Gesandte des Papstes handelte und interpretierte alles als eine Intrige des Argyros. Durch die Entscheidung der römischen Legaten, die Bannbulle während der eucharistischen Feier auf dem Kirchenaltar zu hinterlegen, haben sie nicht nur rechtlich, sondern auch symbolisch den Bruch der Koinonia unterstrichen. Sie haben auf symbolische Weise das rechtlich-sakramentale Gebilde der Einheit der beiden Kirchen zerstört.

36

Willibald Plöchl, Zur Aufhebung der Bannbullen von 1054 im Blickfeld der kirchlichen Rechtsgeschichte, in: ZRG Kan.Abt. 57 (1971), S. 4. 37 Stephen Runciman, The Eastern Schism, Oxford, 1955, S. 45; Hans-Joachim Schulz, in: HOK I, S. 99. 38 39

Will, Acta (Anm. 15), S. 155 – 168.

Petros III. war gebürtiger Antiochener, studierte in Byzanz, wo er sich mit Kerularios befreundete. Er wurde Megas Skeuophylax der Hagia Sophia und im Juni 1052 Patriarch von Antiocheia. Anlässlich seiner Inthronisation sandte er Einstandsbriefe nicht nur an die Patriarchen von Alexandreia und Jerusalem, sondern auch an den Papst.

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Obwohl die Anathemata gegen bestimmte Personen ausgesprochen wurden, waren diese Personen als Vertreter ihrer Kirche angesehen. Es ging um eine Exkommunikation nach dem Prinzip pars pro toto. So ist es auch im Bewusstsein der Kirche übernommen worden, die später in Lyon (1274) und in Florenz (1439) versuchte, diesen Zustand zu beheben. II.3. Im Semeioma wurden die Namen der Personen, auf denen das Anathema fiel, erwähnt: Argyros und die ihm angeblich unterstellten Legaten, sein Sohn und sein Schwiegersohn. Dass er Papst Leo IX. nicht erwähnte, zeigt, dass Kerularios von seinem Tod wusste. Der Patriarch handelte sehr diplomatisch, er schloss nur gewisse Personen aus der Gemeinschaft mit der Konstantinopolitanischen Kirche aus und hoffte dadurch, die Beziehungen mit dem Nachfolger Leos IX. nicht unnötig zu strapazieren. Das Zerwürfnis mit Rom wurde als Konflikt mit dem Katepan umgedeutet, bedingt von einem persönlichen und jurisdiktionellen Konflikt in Süditalien. Obwohl das Anathema nur an bestimmte Personen gerichtet war, enthielt das Edikt eine scharfe Kritik an lateinischen Riten und Bräuchen. Durch diese Angriffe bewies Kerularios erneut, dass er nicht willig war, die religiöse Disziplin Roms einzuhalten, sondern bedacht war, die eigene griechische Tradition fortzuführen. Damit stellte er grundsätzlich den Primatsanspruch Roms in Frage und lehnte ihn dezidiert ab. Deswegen kann man Beck40 und Bayer41 zustimmen, dass durch die Sentenzen beide Kirchen in den Streit einbezogen waren, obwohl dies aus den Bannsprüchen nicht expliziert gesagt wird. III. Folgen der verhängten Bannsprüche Obwohl die Ereignisse von 1054 dramatisch abliefen, waren sie nur ein weiterer Meilenstein in dem Prozess der Entfremdung der beiden Schwesterkirchen. Die Beziehungen zwischen Ost- und Westkirche erreichten ihren Tiefstand erst 120442. In diesem Jahr wurde Konstantinopel durch die Kreuzritter des vierten Kreuzzugs (1202 – 1204) erobert und geplündert43. Obwohl der Papst zu40

Beck, Geschichte (Anm. 8), S. 147.

41

Bayer, Spaltung (Anm. 2), S. 105.

42

Dazu: Nikolaou, Vervollständigung des Schismas (Anm. 5), S. 73 – 75.

43 Der Angriff auf Konstantinopel wurde sorgsam vorbereitet. Im März 1204 unterzeichneten die teilnehmenden Mächte einen Vertrag (Partitio Terrarum Imperii Romaniae) über die Aufteilung der Beute und des byzantinischen Gebiets im Falle des Sieges. Der erste Angriff fand am 9. April 1204 statt. Die von Alexios V. verstärkten Seemauern am Goldenen Horn hielten den Attacken stand, am 12. April gelang den Angreifern die Erstürmung einiger Türme der Seemauer. In der Nacht des 13. Aprils ergriff Alexios V. die

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nächst über die Gräuel der Verwüstung empört war, überwiegte am Schluss bei ihm die Freude über die Eroberung des byzantinischen Reiches44. Er schrieb in seiner Begeisterung sogar einen Glückwunschbrief an die Venezianer und absolvierte sie von den Kirchenstrafen, die sie nach der Episode von Zara45 einbüssen mussten. Die wichtigste ekklesiologische Konsequenz dieser Eroberung war aber die Ersetzung der byzantinischen mit der lateinischen Hierarchie. Der Venezianer Thomas Morosini (1204 – 1211) wurde anstelle des Patriarchen von Konstantinopel, Johannes X. (1198 – 1204/06), vom Papst Innozenz III. eingesetzt. Der neue Kaiser von Konstantinopel wurde Baldouin von Flandern. Darauf folgte 1208 die Entscheidung der Ersetzung aller griechischen Geistlichen durch die im lateinischen Ritus geweihten Geistlichen, weil dieser dem griechischen überlegen sei (PL 215, Sp. 1353: De consecratione episcoporum Graecorum). IV. Ereignisse von 1965 IV.1. Selbst wenn die rechtliche Geltung der Bannsprüche umstritten war, wollte man in der Zeit der gegenseitigen konfessionellen Öffnung nach dem II. Vatikanum einen Rechtsschritt machen, der als Anfang eines neuen Weges gedeutet werden konnte. Für Athenagoras war der Bruch der communio auf rechtliche Elemente gegründet und er wollte die Heilung durch einen Rechtsakt einleiten46. Deswegen schlug man die Abfassung eines Tomos vor, der offiziell zu promulgieren war. Von römischer Seite erwartete man auch einen Rechtsakt. Hinzu musste eine gemeinsame Erklärung kommen. Paul VI. nahm den Vorschlag an, und so kam es zu einem synodalen Tomos, einer päpstlichen Litterae apostolicae und einer Déclaration commune.

Flucht, worauf der Widerstand der Stadt zusammenbrach. Nach seiner Gefangennahme wurde er geblendet und getötet. In der dreitagelangen Plünderungswelle wurden viele Einwohner misshandelt und getötet, Ikonen, Mosaike, Reliquien entwendet. Die Venezianer schickten „Experten“ durch die Stadt, die die wertvollsten Gegenstände sicherstellten. Viele dieser Kunststücke sind heute im Dogenpalast in Venedig zu besichtigen. 44

Hans Georg Beck Die byzantinische Kirche im Zeitalter der Kreuzzüge (Art), in: Hubert Jedin (Hrsg), in: HKG 3, S. 151. 45 Viele Chronisten sahen die Eroberung der dalmatischen Stadt an der Adriaküste, Zadar, durch die Kreuzritter als Vorspiel für die Eroberung Konstantinopels. Am 10. November 1202 trafen die Ritter unter der venezianischen Führung (Doge Dandolo) entgegen den Protesten des Papstes Innozenz III. in Zara ein. Sie belagerten die Stadt, die nach 2 Wochen kapitulierte. Der Papst exkommunizierte das Heer und seine Leiter wegen Ungehorsam und weil das Ziel des Kreuzzuges abgewendet wurde. Die venezianische Herrschaft über die Stadt dauerte bis 1358. 46

Plöchl, Aufhebung (Anm. 36), S. 16.

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Die feierliche Aufhebung der Bannbullen hat ihrerseits auch eine lange Vorgeschichte. Nennenswert ist die erste Andeutung der Aufhebung der Bannbullen zu Pfingsten 1965, am 6. Juni in der Westminster Abbey in der Predigt des Metropoliten und Erzbischofs von Thyatira und Großbritannien, Athenagoras, der Apokrisiar des Ökumenischen Patriarchen beim anglikanischen Primas und Erzbischof von Canterbury war. In der Predigt stellte er die rhetorische Frage, ob es nicht Zeit wäre, dass das Ökumenische Patriarchat die Bannbulle des Patriarchen Kerkularios gegen den Kardinal Humbert aufhebe. Er fragte weiter, ob es nicht vorstellbar wäre, dass der Vatikan dasselbe täte. Diese Initialzündung führte zu mehreren Kontakten, bis sich vom 22. bis 24. November 1965 in Konstantinopel, in Phanar, gemeinsame Kommissionen47 trafen, die den weiteren Ablauf der Ereignisse näher besprachen. Am 7. Dezember48 1965, am Vortag des Abschlusses des II. Vatikanums wurde in der IX. öffentlichen Sitzung des Konzils der damalige Sekretär des Sekretariats für die Einheit der Christen, Kardinal Willebrands (damals Msgr.) in Gegenwart des Leiters der orthodoxen Delegation, Metropolit Meliton, die Déclaration commune von Papst Paul VI. und dem Ökumenischen Patriarchen Athenagoras I. verlesen. Anschließend verlas Kardinal Bea das päpstliche Breve „Ambulante in dilection“, in welchem betont wurde, dass der Bruch und die Anathemata von 1054 endgültig aus dem Gedächtnis der Kirche getilgt werden sollten, sodass man sich in Zukunft auf die gänzliche Heilung des Zerfalls der Einheit zwischen der Kirche Roms und jener von Byzanz konzentrieren könne. Zur gleichen Zeit wurde während einer vom Patriarchen Athenagoras I. zelebrierten Liturgie, die in der St. Georgs Kathedrale zu Konstantinopel gefeiert wurde und an der sich Kardinal Shehan mit einer römischen Delegation beteiligte, nach dem Verlesen des Evangeliums von der Kanzel in griechischer Sprache die gleiche Déclaration verlesen. Am Ende der Liturgie promulgierte der Ökumenische Patriarch persönlich den Tomos der Patriarchalsynode, in welcher die Aufhebung der Bannbullen verkündet wurde. Beide Zeremonien endeten mit dem Friedenskuss – in Rom zwischen dem Papst und dem Metropoliten Meliton und in Konstantinopel zwischen dem Ökumenischen Patriar47

Die Kommissionen bestanden von römischer Seite aus Msgr. Willebrands, P. Duprey (Orientalist), Msgr. Macarone (Präsident der päpstlichen Kommission für Kirchengeschichte), P. Raes (Präfekt der Vatikanischen Bibliothek), P. Stickler (Kirchenrechtler u. -historiker), P. Dumont (Stiftung Istina/ Paris) und seitens des Ökumenischen Patriarchats aus Metropolit Meliton, Metropolit Chrysostoms, P. Gabriel (Sekretär der Patriarchatssynode), Prof. Anastasiadis, Großarchidiakon Galanis. Für weitere Einzelheiten s. Plöchl, Aufhebung (Anm. 36), S. 1 – 4. 48

Der 7. Dezember ist der Tag, an dem beide Kirchen des Heiligen Ambrosius, eines der Vorgänger von Papst Paul VI. auf dem Metropolitansitz in Milano gedenken.

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chen und dem Kardinal Shehan. Die Reihe der symbolischen Zeichen wurde fortgeführt: Bei seinem Besuch in Istanbul im Juli 1967 überreichte Paul VI. dem Patriarchen Athenagoras I. einen Kelch. Später sandte Athenagoras I. dem Papst Messwein von der Insel Patmos, mit der Bitte, ihn in der Feier der Liturgie mit der Intention der communio zu verwenden. Das beiderseitige Anathem wurde aus dem amtlichen Bestand der Kirche getilgt, es wurde durch symbolische Gesten der Versöhnung, durch den Dialog der Liebe und der gegenseitigen Anerkennung ersetzt. Offen bleiben allerdings einige kirchenrechtlich-ekklesiologische Fragen. IV.2.1. Während der Papst 1965 im Namen der gesamten römisch-katholischen Kirche sprach, vertrat der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel (nur) seine Synode und seine Ortskirche, da sein Status heutzutage nicht mehr der gleiche wie 1054 ist. Andere autokephalen Kirchen haben diesbezüglich ihre Zurückhaltung gegenüber diesem Akt geäußert. Diesen könnte man entgegnen, dass der Bann von dem Patriarchen aufgehoben wurde, auf den er zugesprochen wurde. Dies löst aber das Problem nicht, weil der Hintergrund der Debatte das kontroverse Verhältnis zwischen Universal- und Ortskirche in der orthodoxen und in der römisch-katholischen Amtstheologie ist. IV.2.2. Innerhalb der Orthodoxie besteht auch Klärungsbedarf in weiteren ekklesiologischen Aspekten. Notwendigerweise muss man das Verhältnis der autokephalen Kirchen zueinander genauer bestimmen. Dies ist aber nur durch die Besprechung der offenen Fragen in einer panorthodoxen Synode möglich. Die Einberufung einer solchen Synode scheint zurzeit allerdings nicht aktuell zu sein. IV.2.3. Bezogen auf die konkrete Aufhebung der Spaltung zwischen Ost und West, muss orthodoxerseits geklärt werden, wer grundsätzlich das Recht auf eine Aufhebung der Anathemata hat. Eine (pan)orthodoxe Synode? Das Haupt einer autokephalen Kirche? Ohne eine rechtlich-dogmatische Ordnung dieser Problematik bleibt leider im „orthodoxen Lager“ die „Aufhebung“ des Zerwürfnisses von 1054 eine wenig rezipierte und theologisch bearbeitete Vergangenheitsbewältigung. Die Heilung hat leider nur zwischen dem Ökumenischen Patriarchat in seiner gegenwärtigen Rechtsstellung und der Römisch-Katholischen Universalkirche stattgefunden. IV.2.4. Der Text vom 7. Dezember 1965 enthält nirgendwo eine Erwähnung der Aufhebung des Kirchenbanns49, sondern man spricht von der „Tilgung des Bannes aus dem Gedächtnis der Kirche“ (Praeterea sententiam excommunicati49

Siehe Peter Neuner, Die Tilgung des Bannes (1965) und ihre theologische Relevanz, in: Nikolaou, Das Schisma (Anm. 5), S. 179 – 195.

Kirchenrechtliche Konsequenzen des „Morgenländischen Schismas“

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onis tunc latam ex Ecclesiae memoria evellere volumus ac de eius medio removere, atque eam volumus ablivione contectam et obrutam). Das könnte einerseits darauf hinweisen, dass der Bann weiterhin rechtlich besteht, oder dass es sinnlos ist einen Bann aufzuheben, wenn die Verbannten seit fast tausend Jahren verstorben sind. Trotz der Versöhnungsaussagen der Dokumente, kann man nicht vergessen, dass 1965 der CIC 1917 gültig war. Infolge der Rechtsbestimmungen des CIC 1917 war der Kirchenbann eine Beugestrafe, die nur an bestimmten Personen und nie an eine Gemeinschaft verhängt werden kann. Der Zweck ist die Umkehr des Sünders50. Die einzige Folge der Verhängung des Bannes nach dem Tod des Bestraften wäre der Entzug des kirchlichen Begräbnisses. Die Konsequenz aus dem damalig geltenden Recht ist, dass die Aufhebung dieses Bannes gegenstandlos ist, denn nach dem Tod kann man weder aus der kirchlichen communio ausgeschlossen noch in die kirchliche communio eingeschlossen werden. IV.2.5. Entsprechend dem damalig geltenden Recht unterscheidet c. 1325 § 2 CIC/1917 ein dreifaches Versagen gegen die Bekenntnispflicht eines jeden Getauften. Dieses Versagen äußert sich durch Apostasie, Häresie oder Schisma. Ein Schismatiker ist ein Getaufter, der schwerwiegend und öffentlich und hartnäckig die Gemeinschaft mit der Kirche aufgibt, indem er den Papst als Oberhaupt nicht anerkennt oder keine Gemeinschaft mit den Bischöfen der Kirche unterhält51. Die wichtigsten Rechtsfolgen für die Schismatiker sind: der Entzug eines kirchlichen Amtes und die Absetzung vom Amt (c. 2314 § 1 n. 2), die Verweigerung der Sakramente (c. 731 § 2) u. a. Entsprechend dieser Legaldefinition sind die Schismatiker den getauften Nichtkatholiken gleich. Dies ergibt sich aus der Sicht über die Kirchengliedschaft im CIC/1917. Entsprechend c. 87 CIC/1917 gehört jeder Getaufte zur Ecclesia Christi. Vorkonziliar war die Ecclesia Christi identisch mit der Ecclesia catholica. Die Enzyklika Pius XII „Mystici corporis“52 übernimmt diese Rechtsfiktion und bietet den nichtkatholischen Getauften die Zugehörigkeit zum „corpus Christi mysticum“ an. Entsprechend der Enzyklika sind nur katholische Gläubige, die nicht in Schisma oder Häresie leben, wahre Glieder der Kirche. Logisch weitergedacht, sind die Mitglieder der orthodoxen Kirchen, die die Bekenntnispflicht und die Gemeinschaft (communio) mit der Kirche (und ihrem Haupt) verweigern, Schismatiker.

50

Mörsdorf, Lehrbuch 3, 1960, S. 381.

51

Mörsdorf, Lehrbuch 2, 1967, S. 403 – 404.

52

AAS 35 (1943), S. 193 – 248.

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Monica Herghelegiu

Das neue Kirchenrecht53 hat infolge der Ekklesiologie des II. Vatikanums die Akzente im Bereich der Lehrmeinungen anders gesetzt. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht nicht mehr von Häresie, sondern von einem Prinzip der Stufung in der „communio ecclesiae“. Auch der Begriff Schismatiker wird in den Dokumenten des Konzils vermieden, wenn man sich auf die Ostkirchen oder andere getrennte Kirchen bezieht. Stattdessen wird von getrennten Brüdern (fratres seiuncti) gesprochen54. IV.2.6. Selbst wenn man sich 1965 entschieden hat, sich gegenseitig zum Dialog zu öffnen, befanden sich entsprechend der juristischen Sicht der Zeit die orthodoxen Kirchen im Schisma mit der römisch-katholischen Kirche. Der Bann von 1054 wurde aus dem Gedächtnis der Kirche getilgt, aber ein weiterer Schritt zur Gemeinschaft wurde nicht getan. Demzufolge wäre eine neue kirchenrechtlich-ekklesiologische Bewertung der Rechtsstellung der getrennten aber nicht dem Kirchenbann unterstehenden Schwesterkirchen im Lichte des II. Vatikanums und des CIC/1983 besonders aufschlussreich. Obwohl der Dialog der Liebe nicht zur erhofften gegenseitigen Öffnung zwischen Ost- und Westkirche geführt hat, ist er zu würdigen und als Anhaltspunkt für die Erlangung einer ökumenischen communio. Aus orthodoxer Perspektive bedeutete die Aufhebung der Anathemata die Wandlung „eines endgültigen Schismas von Ost und West in eine schismatische Situation“55. Dahinter kann man aber auch eine andere Bedeutung erschließen, die der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger folgendermaßen formulierte: „Diese theologische Akzentuierung des Ganzen erlaubt es zugleich, den Indikativ des gegenwärtigen kanonischen Aktes ganz eng mit dem Optativ des erhofften Zieles zu verbinden: Der Akt selbst kommt aus Gottes Händen, in denen auch sein Weiterwachsen zum glücklichen Ende liegt; von seiner Herkunft her ist er mit seiner Zukunft geeint.“56

53 Siehe dazu Libero Gerosa, Schisma und Häresie. Kirchenrechtliche Aspekte einer neuen ekklesiologischen Begriffsbestimmung, in: ThG 83 (1993), S. 195 – 212. 54

Heribert Heinemann, Art. Schisma, in: EvSt3, Sp. 3056.

55

Phidas, Anathemata (Anm. 4), S. 100.

56

Joseph Ratzinger, Anathema – Schisma. Die ekklesiologischen Folgerungen der Aufhebung der Anathemata, in: Auf dem Weg zur Einheit (Anm. 4), S. 108.

Das Kirchenportal im Recht Von Louis Carlen I. Das Kirchenportal ist der Eingang zu einem Gotteshaus. Es gehört zum Kirchengebäude, zu dem die Gläubigen nach CIC c. 1214 das Recht zu freiem Zugang haben. Die kirchliche Gesetzgebung im Corpus Iuris Canonici und in den beiden Codices Iuris Canonici befasst sich nicht speziell mit dem Kirchenportal. Da es aber Bestandteil der Kirche ist, gelten für es auch die rechtlichen Bestimmungen über die Kirche, das heißt besonders die Vorschriften über Bau und Wiederherstellung der Kirchen und über die Segnung und Weihe. Das betrifft im Corpus die Dekretalen Gregors, Liber III, mit folgendem Inhalt: Tit. XL 1 – 10: De consecratione ecclesiae vel altaris, aus den Jahren ca. 1170 – 1233; Tit. XLVIII, 1 – 6: De ecclesiis aedificandis vel reparandis, aus den Jahren ca. 1170 – 1195; Tit. XLIX, 1 – 10: De immunitate ecclesiarum, aus den Jahren ca. 600 – 1235. Im CIC von 1917 sind einschlägig die cc. 1154 ff.: De locis sacris, de ecclesiis, de oratoriis. Es geht auch hier um Konsekration, Benediktion und Kirchenbau, wozu die Instructio „Über die bildliche Kunst“1 und Richtlinien einzelner Bischofskonferenzen kommen. Da das Portal Bestandteil von Loca sacra ist, gilt auch für es c. 1160, wonach es nicht der weltlichen, sondern der kirchlichen Jurisdiktion untersteht. Im CIC von 1983 sind die cc. 1205 ff. über Weihe oder Segnung, cc. 1214 ff. über Kirchen zu beachten2, sowie ergänzende Vorschriften über Kirchenbau und Denkmalpflege3.

1

AAS (1952), S. 542 ff.

2

Dazu: Heinrich J. F. Reinhardt, Geweihte Stätten, in: HdbKathKR2, S. 795 ff.; ders., cc. 1205 ff., in: MK CIC. 3

Alexander Hollerbach, Kunst und Denkmalpflege, in: HdbKathKR2, S. 1109 ff.

352

Louis Carlen

Einschlägig sind auch die Artikel 124 und 128 der Konstitution über die heilige Liturgie des letzten Konzils, die sich auf den Bau und die Ausstattung von Kirchen und Kultgebäuden beziehen. Das Kirchenportal tritt in mittelalterlichen Darstellungen, entsprechend einem Zitat des Abtes Suger von St-Denis, stellvertretend für den ganzen Kirchenbau. Was sonst zur Stellung des Kirchenportals im Recht zu sagen ist, betrifft die Rechtsgeschichte und einige rechtshistorische Hinweise geben wir im Folgenden. II. Im weltlichen Bereich sind Tür und Tor Grenzen, vor allem für den Hausfrieden und Grenzbezeichnung zwischen Herrschaftsbereichen, wie verschiedene Rechtsquellen zeigen4. Sie grenzen auch den Immunitätsbereich der Stadt ab. Ähnliche rechtliche Bedeutung konnten auch die Tore der Umfriedungen von Kirchen und Klöstern haben. Darum ordnete zum Beispiel eine Kölner Provinzialsynode 1261 an, Kollegiatskirchen mit Mauern und Toren zu umgeben5. Die Abgrenzung des kirchlichen Immunitätsbereiches durch Kirchentore ist auch von Bedeutung für das Kirchenasyl6, das seit dem 5. Jahrhundert in der Gesetzgebung untermauert wird7 und auch in den Codices Iuris Canonici kirchenrechtliche Grundlagen findet8, ebenso in einigen Konkordaten zwischen Kirche und Staat9.

4

Louis Carlen, Tür und Tor im Recht, in: Ewy Barkowkiej-Bagienskiej / Henryka Olszwkiego (Hrsg.), Historia prawa-Historia cultury. Liber Memorialis Vitoldo Maisel dedicatus, Poznan 1994, S. 116 f. (wieder abgedr. in: Louis Carlen, Sinnenfälliges Recht, Hildesheim 1995, S. 212 f.). 5 Karl Hofmann, Die engere Immunität in deutschen Bischofsstädten, Paderborn 1914, S. 6. 6

Die einschlägige Literatur ist umfassend verzeichnet bei Johannes Theler, Asyl in der Schweiz. Eine rechtshistorische und kirchenrechtliche Studie, Freiburg 1995 (= Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat, 43), S. XIII ff. 7

Const. Simond. 13; Cod. Theod. IX, 45, 4 f.; Cod. Iust. I, 12,3; Nov. 17, 7; 37, 10; Decretum Gratiani C. 17 Q. 4. 8

CIC 1917 cc. 1160, 1179; CIC 1983 cc. 1210, 1213 (indirekt).

9

Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Asyl, in: LKStKR 1, 2000, S. 175.

Das Kirchenportal im Recht

353

III. An Kirchenportalen finden besondere kirchliche Handlungen statt. Nach dem römischen Pontificale pocht der Bischof zuerst dreimal mit dem Stab an die Kirchentüre und ruft dabei mit lauter Stimme: „Attollite portas principis vestras ...“ „Ihr Tore hebt euch nach oben, hebt euch ihr uralten Pforten, denn es kommt der König der Herrlichkeit“10. Der Bischof salbt im weiteren Verlauf der Zeremonie das Portal mit Chrisam unter bestimmten Gebeten11. Dreimal klopft der Papst im Heiligen Jahr bei Beginn der Öffnung und Weihe der Heiligen Pforte zu St. Peter in Rom an diese12. Vor dem Portal der St. Petersbasilika in Rom fand nach dem Zeremoniell im Ordo von 1275 die Papstkrönung statt13, wobei der Papst auf einem Sessel in facie ecclesiae Platz nahm und ihm der Prior der Kardinalsdiakone die Mitra abnahm und die Krone aufsetzte. Das wiederholte sich immer wieder, zum letzten Mal bei der Krönung Pauls VI. im Jahre 1963, wohl um die feierliche Handlung einem größeren Publikum zugänglich zu machen und weil in der Basilika der Raum durch den aufgebauten Konzilsapparat verengt war. IV. Bischöfe und Klerus empfingen am Portal des Aachener Münsters den gewählten König, um ihn ins Innere zur Krönung zu geleiten, ein Empfang am Kirchenportal, der auch sonst für Handlungen bezeugt ist, die im Zusammenhang mit Staatsakten stehen14. 1483 sollten Kaiser Friedrich III. und König Maximilian

10

Ps 24,7 und 9.

11

René Dubosq, La dédicace des églises, Toulouse 1948.

12

Hermann Schmidt, Bullarium anni sancti, Rom 1950; Ordo celebrandi in ecclesiis particularibus, Rom 1973; Michael Sievernich, Das „Heilige Jahr“, Symbolische Bedeutung und theologische Deutung, in: Praktische Theologie 34 (1999), S. 97 ff. Vgl. die Bibliographie bei Marcello Fagiolo / Maria Luisa Madonna, Roma 1300 – 1875. La città degli anni santi, Milano 1985, S. 378 ff. 13

Michel Andrieu, Le Pontifical Romain au Moyen Age, II, Città del Vaticano 1939 (= Studi e Testi, 87), S. 525 ff.; Cyrille Vogel / Reinhard Elze (Hrsg.), Le pontifical romano-germanique du dixième siècle, Città del Vaticano 1963, S. 151. Die wesentliche Literatur zur Papstkrönung bei Louis Carlen, Orte, Gegenstände, Symbole kirchlichen Rechtslebens, Freiburg 1999, S. 97, hier S. 145. 14

Carlen, Tür und Tor (Anm. 4), S. 123. Über solche Akte vor der Kirche von S. Ambrogio in Mailand Christoph Dartmann, Die Ritualdynamik nichtlegitimer Herrschaft. Investituren in den italienischen Stadtstaaten des ausgehenden Mittelalters, in:

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Louis Carlen

vom Klerus der Stadt vor dem Hauptportal der Kirche empfangen werden. Große Portale haben Hoheitsbezeichnungen wie zum Beispiel die Fürstenpforte in Bamberg, die Porta dei principi in Modena, die Porte Royal in Frankreich. Nach dem älteren Ritus der Kaiserkrönung in Rom führte der Archidiakon den König durch die eherne Pforte in das Atrium von St. Peter ein und dann unter dem Gesang der Kleriker von St. Peter bis zur Silbernen Pforte der Basilika. Fünf Tore führten ins Innere der fünfschiffigen Basilika. Das mittlere und größte Tor war die Silberne Pforte. Vor ihr sprach der Bischof von Albano die erste Oration über den künftigen Kaiser. Heinrich V. leistete nach dem Bericht der Annales Romani im Jahre 1111 seinen Eid vor der Silbernen Pforte und empfing da die Oration. Durch die Silberne Pforte trat er in die Basilika15. V. Besonders zu beachten ist das frühere kirchliche Eheschließungsrecht, weil vor dem Portal der Kirche die Konsensabgabe der Brautleute vor dem Priester und der Ringwechsel erfolgte. Deshalb werden bestimmte Portale mittelalterlicher Kirchen als Braut- oder Ehetüre oder Brautpforte bezeichnet16 oder mit besonderen auf die Ehe hindeutendem figürlichem Schmuck versehen17, zum Beispiel Darstellungen der Vermählung Adams und Evas18 oder der Vermählung Marias und Josefs19. Der in den Quellen erscheinende Ausdruck, wonach die Eheschließung „in facie ecclesiae“20 stattfinden soll, bedeutet sowohl die

Marion Steinicke / Stefan Weinfurter (Hrsg.), Investitur- und Krönungsrituale, Weimar 2005, S. 130. 15

Eduard Eichmann, Die Kaiserkrönung im Abendland, Würzburg 1942, II, S. 19 – 23.

16

Am Wiener Stefansdom wird das Nordportal nicht nur als Bischofstor bezeichnet, sondern auch Frauentor oder Brauttor genannt. 17

Clausdieter Schott, Trauung und Jawort. Von der Brautübergabe zur Ziviltrauung, Frankfurt a. M. 1992, S. 40, 99. 18

Bei den Münstern in Freiburg i. Br., Thann, Ulm (Gernot Fischer, Figurenportale in Deutschland 1350 – 1530, Frankfurt a. M. 1989, S. 80). 19 20

In Augsburg, Ulm, Regensburg (Fischer, Figurenportale [Anm. 18], S. 74).

Erscheint wohl erstmals bei Alexander III. c. 2 X (4, 16) (Korbian Ritzer, Formen, Riten und religiöses Brauchtum der Eheschließung in den christlichen Kirchen des ersten Jahrtausends, Münster i. W. 21982, S. 332).

Das Kirchenportal im Recht

355

kirchliche Eheschließung wie deren Ort vor der Kirchentüre21. Auch Eheaufgebote wurden vor der Kirchentüre verkündet22. Der Vermählungsritus vor der Kirchentüre ist nach Nikolaus Grass gegen Ende des 11. Jahrhunderts in der Normandie entstanden23. Er verbreitete sich rasch in Frankreich, dann seit dem 12. Jahrhundert in England und Italien und bald auch in Skandinavien24. Das normannische Brauttor-Vermählungsritual ist in Deutschland erstmals in einer Missalehandschrift aus Hamburg (11./12. Jahrhundert) bezeugt. Im ausgehenden 13. Jahrhundert ist in Lübeck eine Eheschließung „in facie ecclesiae“ feststellbar und dann folgen weitere Gebiete Deutschlands, so im 12. oder 13. Jahrhundert in der Erzdiözese Köln und dann in der Kirchenprovinz Mainz und in deren verschiedenen Suffraganbistümern25, ebenso in der Schweiz26 und Polen27. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert verlegte man mancherorts die Trauung mehr und mehr ins Kircheninnere. In einzelnen Gebieten, z. B. in den Diözesen Mainz, Bamberg und Brixen, fanden Eheschließungen weiterhin mehrfach vor dem Kirchenportal statt28.

21 Louis Carlen, Studien zur kirchlichen Rechtsgeschichte, Freiburg 1982, S. 72 f.; Peter Josef Kessler, Die Entwicklung der Formvorschriften für die kanonische Eheschließung, Borna / Leipzig 1934, S. VII ff. 22

Witold Maisel, Rechtsarchäologie Europas, Wien / Köln / Weimar 1992, S. 20.

23

Nikolaus Grass, Der normannische Brauttor-Vermählungsritus und seine Verbreitung in Mitteleuropa, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde V (1983), S. 69 ff. (wieder abgedr. in: Nikolaus Grass, Ausgewählte Aufsätze zum 80. Geburtstag, hrsg. v. Louis Carlen / Hans Constantin Faussner, Hildesheim 1993, S. 89 ff.). 24 Joseph Freisen, Das Eheschließungsrecht in Spanien, Großbritannien und Irland und Skandinavien, 2 Bde., Paderborn 1918/1919; ders., Nordisches Eheschließungsrecht, in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 75 (1898), S. 485 ff. 25 Nikolaus Grass, Der normannische Brauttor-Vermählungsritus in den Bistümern Brixen und Chur, in: Kunst und Kirche in Tirol, Festschrift für Karl Wolfsgruber, Innsbruck 1987, S. 19 ff. (wieder abgedr. in: Ausgewählte Aufsätze, [Anm. 23], S. 119 ff.). 26

Louis Carlen, Walliser Rechtsgeschichte, Brig 1993, S. 199 f.

27

Maisel, Rechtsarchäologie (Anm. 22), S. 20.

28

Grass, Der normannische Brauttor-Vermählungsritus (Anm. 23), S. 88 ff.

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Louis Carlen

VI. An Kirchenportalen wurden und werden, wie an Türen von Rats- und Gerichtshäusern, öffentliche Verkündigungen vorgenommen, sei es durch Anschläge oder mündlich. 1711 wurde in Chur angeordnet, dass der Hirtenbrief des Bischofs an die Kirchentüre geheftet werden solle29. Aber auch weltliche Dinge wurden am Kirchenportal verkündet. Das war in vielen Gemeinden am Sonntag nach der Messe der Fall. Nach norwegischem Recht sollte das Verbot des Baumfällens, der Umzäunung von Fischfanggebieten oder der Fischfangund Fischverkaufsstellen auf der Gerichtsversammlung oder vor der Kirchentüre verkündet werden30. Dort ladet auch der Amtswalter des Bischofs die Männer zur Arbeit an den Wegen ein31. Luther schlug 1517 seine 95 Thesen ans Portal der Schlosskirche von Wittenberg. VII. Bei Kirchenportalen wurde Gericht gehalten und zwar kirchliches und weltliches Gericht. Die bauliche Gestaltung des Portals und seiner Umgebung förderte das, da bei romanischen und gotischen Kirchen einzelne Portale oft nicht in die Wand eingegliedert sind, sondern in Form eines Säulen-Stufen-Portals dem Gebäude vorgelagert sind. Ein reicher Figurenschmuck wies symbolisch auf die Bedeutung als Gerichtsort hin. Das Säulen-Stufen-Portal verlieh dem Portal eine besondere Hoheit32. In Strassburg war das Südportal Gerichtsstätte33, in Bamberg das Fürstenportal auf der Nordseite des Bamberger Domes, sowie die sog. Gnaden- und Adamspforte34. Das über Streitigkeiten wegen

29

Sammlung schweizerischer Rechtsquellen, St. Gallen III/1, S. 160.

30

Rudolf Meissner (Hrsg.), Norwegisches Recht: Das Rechtsbuch des Frostothings, Witzenhausen 1939, Buch XIII, 14, S. 229. 31

Ebd. Buch III/19, S. 53.

32

Markus Rafaël Ackermann, Mittelalterliche Kirchen als Gerichtsorte, in: ZRG Germ.Abt. 110 (1993), S. 536 f.; Kurt Reissmann, Romanische Portalarchitektur in Deutschland, Würzburg 1937. Zum Staffelgericht vor Kirchenportalen Angelo Garovi, Gerichtsbarkeit und Strafvollzug in Flurnamen, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde, S. 23 (2006, im Druck). 33

Adalbert Erler, Das Strassburger Münster im Rechtsleben des Mittelalters, Frankfurt a. M. 1954, S. 19. 34 Ackermann, Kirchen als Gerichtsorte (Anm. 32), S. 541 ff.; Hans Gerhard Evers, Tod, Macht und Raum, München 1939, S. 182, sagt, dass Gerichtsbarkeit vor Portalen

Das Kirchenportal im Recht

357

Wasser aburteilende Gericht im spanischen Valenzia trat jeden Donnerstag vor dem Apostelportal des Domes zusammen35. Leopold Schmidt bezeichnete das Riesentor von ca. 1240 am Wiener Dom als „die im Brauch und Glauben festgelegte Rechtsstätte des mittelalterlichen Wien“36. Auch Gottesurteile wurden unter kirchlichen Zeremonien vor Kirchenportalen durchgeführt37. Der Streit der Königinnen im Nibelungenlied wird teilweise vor dem Kirchenportal ausgetragen: „ ... zu kirche türe gegan“ ... „Brünhilt und ir vrouwen gie für das Münster stan“. VIII. Eide wurden nicht nur in der Kirche selber geschworen, sondern auch an Kirchenportalen. So wurden dort bürgerliche Einungsschwüre abgelegt. Am südlichen Münsterportal in Strassburg leisteten die Bürger den für die Entstehung der mittelalterlichen Stadtverfassung bedeutsamen Einigungsschwur, der in Strassburg zum ersten Mal im so genannten Dritten Stadtrecht zwischen 1245 und 1260 erscheint38. Richter nahmen an einzelnen Orten vor dem Portal stehend neu ernannte städtische Beamte in Eid und Pflicht39. In der Kirche geschworene Eide konnten gescholten werden, indem man an die Kirchentüre schlug40. Im norwegischen Recht des Frostothings wurden Eide auf das heilige Buch in der Kirche geschworen; wenn aber einer die Kirche nicht betreten durfte, leistete er den Eid vor der Kirchentüre; wenn er das Buch nicht bekom-

nachgewiesen sei in Magdeburg, Goslar, Nordhausen, Erfurt, Paderborn, Münster, Soest, Disburg, Xanten, Amsterdam, Würzburg, Frankfurt, Strassburg, Oberampfrach, Berstadt, Wetzlar, Regensburg, Herrenalbs. 35

Maisel, Rechtsarchäologie (Anm. 22), S. 20 f. Vgl. auch Evers, Tod (Anm. 34), S. 182. 36 Leopold Schmidt, Der Richter über dem Riesentor von St. Stephan, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, VIII (1949/50), S. 80 ff. Vgl. auch Nikolaus Grass, Der Wiener Dom, die Herrschaft zu Österreich und das Land Tirol, Innsbruck 1968, S. 16 f. 37

Louis Carlen, Art. Gottesurteil in der Kirchen- und Rechtsgeschichte, in: LThK3 4, 1995, Sp. 942 f. 38

Erler, Das Strassburger Münster (Anm. 33), S. 24.

39

Evers, Tod (Anm. 34), S. 179.

40

Louis Carlen, Art. Tür, in: HDR 5, 1992, Sp. 390.

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Louis Carlen

men konnte, sollte er den Türpfosten anfassen, und so schwor er darauf rechtsgültig wie auf das Buch41. IX. Das Kirchenportal spielt auch bei den Ehrenstrafen eine Rolle. Eine Stiftsjungfrau des st-gallischen Schänis, die sich vergangen hatte und Busse tat, sollte sich (1612) neun Tage lang, wenn die Äbtissin mit ihren Stiftsjungfrauen zur Mette und Vesper ging, beim Kirchenportal niederlegen. Darauf schritten Äbtissin und Stiftsjungfrauen über sie hinweg42. Der Kirchenpranger hatte besondere Bedeutung. Nicht nur in der Kirche wurden Verurteilte ausgestellt, sondern auch vor der Kirchentüre. In den päpstlichen Konstitutionen kommen vereinzelt als Ehrenstrafen vor das Ausstellen mit gebundenen Händen vor der Kirchentüre oder mit Schandmasken „ante fores ecclesiae principalis“43. An manchen Kirchentüren des Mittelalters oder an ihrer Seite waren Prangervorrichtungen angebracht wie zum Beispiel bei einem Portal des Bamberger Domes44. Eine Art des Prangers, die in Oberdeutschland vorkommende Prechel (manchmal ein Halseisen), hatte regelmäßig ihren Platz vor der Kirchentüre. Vielleicht hat sich diese Art der Ausstellung von Missetätern aus der öffentlichen Kirchenbusse entwickelt45. Darum erfolgte die Prangerstrafe an der Kirchentüre häufig bei Religionsdelikten46. Sie wurde häufig an Sonn- und Feiertagen vollzogen, wenn die Leute in die Kirchen gingen. Nach dem bayerischen Landrecht von 1626 mussten Gotteslästerer und Ehebrecher an drei aufeinander folgenden Sonntagen in Eisen vor der Kirchentüre stehen. Nach einem Londoner Richterspruch von 1685 musste der Verurteilte unter anderem an einem bestimmten Tag vor dem Tor von Westminster Hall stehen47. Die Constitutio criminalis 41

Buch IV 8, S. 66 (Meissner, Norwegisches Recht [Anm. 30]).

42

Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, St. Gallen III/1, Aarau 1951, S. 262.

43

Bei Blasphemie gegen Gott, Christus und Maria zahlungsunfähiger Plebejer (Pius V: Cum primum 1566, § 10, b. T. 7, 434). 44

Wilhelm Funk, Alte deutsche Rechtsmale, Bremen 1940, S. 123; ders., Deutsche Rechtsdenkmäler mit besonderer Berücksichtigung Frankens, Erlangen 1938, S. 91 f. 45

Grete Bader-Weiss / Karl Siegfried Bader, Der Pranger. Ein Strafwerkzeug und Rechtswahrzeichen des Mittelalters, Freiburg i. Br. 1935, S. 17 f., 75. 46

Ebd., S. 110 f.

47

Ebd., S. 137.

Das Kirchenportal im Recht

359

Theresiana Art. 6 § 8 sagt: „Die Schandstrafen sind unterschiedlich als: an den Pranger oder vor der Kirchen in die Prechel stellen“. Die Prangerstrafe vor der Kirchentüre konnte durch bestimmte Auflagen erschwert werden. Um den Mord an einem Legaten zu sühnen, führte man 1209 Raymond VI. von Toulouse nackt vor das Portal von St-Gilles48. Ein italienischer Maurer, der einen Maler erstochen hatte, musste 1664 in Wimberg an einem Sonntag während des Gottesdienstes in Fesseln und mit einer brennenden Kerze in den Händen vor der Kirche stehen. Aus der Tschechoslowakei sind aus dem 17. Jahrhundert weitere Fälle der Erschwerung der Prangerstrafe vor der Kirchentüre bekannt: auf der Schwelle in der Türe knien und dort öffentlich beten (1605), an jedem Sonn- und Feiertag anstelle der Vollstreckung des Todesurteils mit entblößtem Schwert zum Zeichen, dass er damit hätte bestraft werden sollen, auf der Türschwelle der Kirche knien (1614); vor dem Hauptportal der Kirche stehend in einen langen schwarzen Mantel gehüllt, in der Rechten eine brennende Kerze, in der Linken einen Besen (1663); zwei Ehebrecher mussten mit Ruten in der Hand zur Zeit der Messe vor der Kirche stehen (1663); ein „gefallenes“ Mädchen hatte mit einer schwarzen oder gelben Kerze in der Hand und einem Strohkranz auf dem Haupt vor der Kirchentüre zu stehen, und ledige Mütter mussten am Sonntag nach der Niederkunft mit dem Neugeborenen im Arm an der Kirchentüre stehen, eine Strafe, die sich bis ins 19. Jahrhundert erhielt49. Verschiedene Quellen aus Deutschland und der Schweiz überliefern ähnliche Erschwerungen der Strafe vor der Kirchentüre. 1654 wurden zwei Missetäter im Amt Wolfach im Kinzigtal neben anderen Strafen verurteilt, an drei Sonntagen nacheinander mit einer brennenden Kerze und der Rute bzw. einem Schwert in der Hand vor der Kirchentüre zu stehen50. In Zug musste eine Frau, die sich „untreu“ verhalten hatte, am Fest St. Bapstistae an der Türe der Michaelskirche stehen, eine Kerze in der Rechten und eine Rute in der Linken haltend51. In Glarus hatte ein Ehrverletzer am Sonntag während des ganzen Gottesdienstes vor der Kirchentüre mit einer Rute und einer brennenden Kerze in der Hand ohne Mantel

48

Evers, Tod (Anm. 34), S. 179.

49

Richard Horna, Der Pranger in der Tschechoslowakei, Graz 1965, S. 40 – 43. Die Ausstellung mit Kerzen in der Hand ist wohl von der Kirchenbusse entlehnt (Rudolf His, Das Strafrecht des deutschen Mittelalters, I, Weimar 1920, Nachdr. Aalen 1964, S. 572). Dort auch S. 574 zum Strohkranz für unzüchtige Frauen. 50 51

Bader-Weiss / Bader, Der Pranger (Anm. 45), S. 168.

Emil Stutz, Das Strafrecht von Stadt und Amt Zug (1352 – 1798), Diss. Bern 1917, S. 127.

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vor der Kirchentüre zu knien52. Ein „gefallenes“ Mädchen musste in Reckinghausen am Sonntag den Schandmantel vor der Kirchentüre tragen53. Das Stehen vor der Kirchentüre war nicht nur Strafvollzug, sondern konnte auch Straftatbestand sein. Solothurner Rechtsquellen überliefern, dass sich jene strafbar machten, die während des Gottesdienstes vor der Kirchentüre standen54. X. Wie an Rathäusern fanden sich manchmal auch an Kirchenportalen amtliche Maße55. So waren zum Beispiel an einem Portal des Strassburger Münsters zwei amtliche Maße56. XI. Kirchenportale sind auch von Interesse für die Rechtsarchäologie. Sie stellen das „Recht im Bild“ dar und sind Wahrzeichen der Rechtspflege. Papst Eugen IV. (1413 – 1447) ließ auf das mittlere Portal von St. Peter in Rom, das im 17. Jahrhundert nach Neu-St. Peter übernommen wurde, den päpstlichen Sieg über den Konziliarismus darstellen, der auf den Konzilien von Konstanz (1414 – 1418) und Basel (1431 – 1439) die Oberhoheit der Allgemeinen Konzilien über den Papst stellen wollte. Petrus übergibt dem vor ihm knienden Papst Eugen IV. und nicht dem Konzil die Schlüssel des Himmelreiches. Ein Reliefband zeigt das Unionskonzil von Ferrara-Florenz; hier thront Papst Eugen über den Konzils-Teilnehmern und dem griechischen Kaiser; zwei Personen verlesen das Unionsdekret. Die Darstellung legitimiert die päpstliche Vorrangstellung57. Solche Beispiele ließen sich vermehren. 52 Thomas Müller-Burgherr, Die Ehrverletzung. Ein Beitrag zur Geschichte des Strafrechts der deutschen und rätoromanischen Schweiz von 1252 – 1798, Diss. Freiburg i. Ue. 1987, S. 133. 53 Hans Bohlmann, Gerichtswesen und Gerichtsverfahren im Veste Recklinghausen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Ende der kur-kölnischen Herrschaft 1802, Diss. Münster 1931, S. 180. 54

Sammlung schweizerischer Rechtsquellen, Kt. Solothurn, II, S. 443.

55

Karl Fröhlich, Mittelalterliche Bauten als Rechtsdenkmäler, Arbeiten zur rechtlichen Volkskunde, H. 3 (1939), S. 38. 56 57

Erler, Das Strassburger Münster (Anm. 33), S. 29.

Louis Carlen, Rechtsikonographisches in Kirchen Roms, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde 21, Zürich 2004, S. 211.

Das Kirchenportal im Recht

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Wappen an und über Kirchentoren sind Hinweise auf Stifter der Kirche, Teil davon oder der Ausstattung58. Sie waren auch Mittel der Selbstdarstellung und machten die Rangstellung innerhalb der Gesellschaft sichtbar59. Ähnlich ist es mit Stifterbildern, die über oder neben Kirchenportalen angebracht wurden und in den Dienst der Erhöhung von Herrschergeschlechtern gestellt wurden. Ein Beispiel sind die Fürstenportale am Wiener Stefansdom60. Im Gewände steht jeweils lebensgroß ein fürstliches Stifterpaar in vollem erzherzoglichen Ornat, begleitet von Wappenträgern61. Auf einer sandsteinernen Tafel auf der linken Seite des aus der alten Kirche in den Neubau einbezogenen Herzogportals der Liebfrauenkirche in München dokumentierte Herzog Sigmund 1468 die persönlich vorgenommene Grundsteinlegung und auf einer Rotmarmortafel am selben Domportal bekennt sich Herzog Sigmund in lateinischen Distichen als Stifter des Dombaus. Louis C. Morsak sieht in diesen steinernen Zeugen am Portal „auch staatspolitische Akte hinter denen das sakraldynastische Interesse des herzoglichen Hauses steht“62. Im Dom zu Merseburg ist am Bogenscheitel des Westportals die Büste von Kaiser Heinrich II., der das Bistum Merseburg neu gegründet hat, mit Zepter und Kirchenmodell, darunter ist das Reichswappen63. Das Kirchenmodell wird manchmal von den über dem Portal abgebildeten Stiftern getragen, ein Beispiel ist am Nordwestportal des Doms zu Hildesheim oder am Nordportal der Schlosskirche von Chemnitz oder der evangelischen Stadtkirche in Weikersheim64. Das Tympanon des Seitenschiffportals des Nordturms der ehemaligen

58

Ebd., S. 219.

59

Klaus Schreiner, Frömmigkeit im Mittelalter, München 2002, S. 13; Evers, Tod (Anm. 34), S. 184 f. 60

Zur Deutung der Gestalten Nikolaus Grass, Der Wiener Dom, die Herrschaft zu Österreich und das Land Tirol, Innsbruck 1968, S. 120 ff. (wieder abgedr. in: Nikolaus Grass, Königskirche und Staatssymbolik, hrsg. von Louis Carlen / Hans Constantin Faussner, Innsbruck 1983, S. 234 ff.). Vgl. auch Ernst Garger, Die Reliefs an den Fürstenportalen des Stephansdoms, Wien 1926. 61

Antje Kosegarten, Zur Plastik der Fürstenportale am Wiener Stephansdom, in: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 20 (1965), S. 74 ff. 62 Louis C. Morsak, Zur Rechts- und Sakralkultur Bayerischer Pfalzkapellen und Hofkirchen (= Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat, 21), Freiburg 1984, S. 144 f. 63 64

Peter Ramm, Der Merseburger Dom, Weimar 21978, S. 171, 173 ff.

Victor Curt Habicht, Die mittelalterliche Plastik Hildesheims, Strassburg 1917, S. 107 ff.; Walter Hentschel, Sächsische Plastik um 1500, Dresden 1926, S. 52; Klaus Mertens, Die Stadtkirchen in Thüringen, Berlin 1982, S. 2 ff., 10, 12.

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Louis Carlen

Kollegiatsstiftskirche zum Hl. Kreuz in Breslau zeigt den Gnadenstuhl zwischen dem knienden Stifterpaar Herzog Heinrich IV. von Breslau und seiner Gemahlin Mathilde von Brandenburg65. Manchmal erscheinen die Stifter über den Portalen im Kontext mit MarienDarstellungen, z. B. bei der oberösterreichischen Pfarrkirche von Eferding oder der Pfarrkirche des bayerischen Chammünster, aber auch mit Kreuzigungsdarstellungen wie bei der Ritterkapelle des bayerischen Hassfurt. Beredter Ausdruck für die Verwirklichung der Gerechtigkeit sind die Weltgerichtsbilder66. Sie prangen über verschiedenen Kirchenportalen. Erwähnt seien Amiens, Arles, Chartres, Bayeux, Beaulieu-sur-Dordogne, Bordeaux, Bourges, Carennac, Laôn, Moissac, Neuweiler im Elsass, Paris, Poitiers, Reims, Rouen, Strassburg67, Bern, Fribourg, Augsburg, Bamberg, Freiburg i. Br., Ulm, Barcelona, Burgos, Leon, Santiago de Compostella, Ferrara, Formis, Parma, Verona, Wells usw.68. Außer den genannten gibt es in Deutschland noch weitere 20 Portale mit dem Weltgericht aus der Zeit von 1340 – 150669. Weltgerichtsbilder finden sich auch im Inneren des Gebäudes über dem Portal, zum Beispiel in der Basilika zu Torcelli aus dem 11. Jahrhundert oder in der Cappella degli Scrovegni zu Padua von 130570. Im Zusammenhang mit dem Weltenrichter tritt manchmal auch das Apostelkollegium auf. M. R. Ackermann sieht „dies als Verweis auf ihre Stellung als Richter am Ende der Tage“ an71. „Aber auch die Deutung der Kirche als Abbild des himmlischen Jerusalem erfordert das Durchschreiten des göttlichen Gerichts“72.

3

65 Dagobert Frey, Die Kunst im Mittelalter, in: Geschichte Schlesiens, I, Stuttgart 1961, S. 561. 66

Desanka Milosevic, Das Jüngste Gericht, Reckinghausen 1963; Wilfried Kettler, Das Jüngste Gericht, Berlin / New York 1977; Iris Grötecke, Das Bild des Jüngsten Gerichtes, Worms 1997; Yves Christe, Das Jüngste Gericht, Darmstadt 2001; Gisela Spiekerkötter, Die Darstellung des Weltgerichts von 1500 – 1800 in Deutschland, Diss. Berlin 1939. 67 Wolf Heinrich v. der Mülbe, Die Darstellung des Jüngsten Gerichts an den romanischen und gotischen Kirchenportalen Frankreichs, Leipzig 1911. 68

Vor Kirchenportalen, z. B. Einsiedeln, werden auch Weltgerichtsspiele aufgeführt (Uda Ebel, Weltgerichtsspiele, in: Marienlexikon VI, St. Ottilien 1994, S. 708 ff.). 69

Fischer, Figurenportale (Anm. 18), S. 81.

70

Wolfgang Pleister / Wolfgang Schild, Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, Köln 1988, Abb. 89 f.; Maria von Nagy, Die Wandbilder der Sovegni-Kapelle zu Padua, Bern / München 1962. 71 72

Ackermann, Kirchen als Gerichtsorte (Anm. 32), S. 539.

Günther Bindig, Art. Portal, in: LexMA 7, 1995, Sp. 108; Adolf Reinle, Portalplastik, in: ebd., Sp. 111.

Das Kirchenportal im Recht

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Einen Anklang an die Trauung vor der Kirchentüre findet sich in Darstellungen der Vermählung Mariens, wenn die Künstler den Trauakt vor den Tempel oder die Kirche verlegen73. Auf der Bronzetüre aus dem 11. Jahrhundert des Domes zu Augsburg ist Simsons Kampf mit dem Löwen dargestellt, Sinnbild der Kraft Simons, der sich als Vorläufer Christi im Kampf gegen Satan und als Überwinder des Todes zu erkennen gibt74. Die Krone gehört zu den bedeutendsten Herrschaftssymbolen und bekundet die Auserwähltheit des Herrschers. Krone und Krönung sind Höhepunkte der Staatssymbolik. Wenn im Bildbereich die Krone und Krönung Mariens dargestellt wird, bekundet man, dass sie besonders auserwählt ist. Seit dem 12. Jahrhundert wird die Krönung Mariens ein beliebtes ikonographisches Motiv. In einzelnen Marienkrönungen findet sich Angleichungen an weltliche Krönungszeremonien, womit auch Beziehungen zum weltlichen Rechtsbereich bestehen75. Bei 35 Kirchenportalen Deutschlands und Österreichs von 1340 bis 1526 finden sich Darstellungen von Krönungen Mariens76. Noch eine andere Darstellung Mariens über Kirchenportalen hat ursprünglich rechtliche Zusammenhänge: die Schutzmantelmadonna, bei der Maria unter ihrem Mantel mehrere Personen birgt77. Das Schutzmantelbild knüpft an alte Rechtsbräuche und rechtssymbolische Handlungen an78. Ein Beispiel für die Schutzmantelmadonna über dem Kirchenportal sind in Italien S. Maria in Piazza zu Ancona und die Porta San Clemente von San Marco in Venedig, in der Schweiz die Jesuitenkirche in Brig79. Manchmal können aus den beigege-

73

Sabine Poeschel, Handbuch der Ikonographie, Darmstadt 2005, S. 122.

74

Ebd., S. 73.

75

Louis Carlen, Maria im Recht, Freiburg 1997, S. 9 ff.

76

Fischer, Figurenportale (Anm. 18), S. 76 f.

77

Es gibt auch Schutzmantelbilder mit anderen Heiligen, z. B. das Portaltympanon von S. Lazare in Autin, bei dem Seelen unter Michaels Mantel sind. 78 79

Carlen, Maria (Anm. 75), S. 97 ff.

Vgl. auch: Christa Belting-Ihm, „Sub matris tutela“, Heidelberg 1976, S. 65 f.; Vera Susmann, Maria mit dem Schutzmantel, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft V (1929), S. 285 ff.; für Österreich auch S. Polzer, Schutzmantelmadonnen in Innerösterreich, Studien zu einem mittelalterlichen Thema in Steiermark, Kärnten und Krain, Dipl. Arbeit Graz 1991; Genoveva Nitz, Schutzmantelmadonnen, in: Remigius Bäumer / Leo Scheffczyk, Marienlexikon VI, St. Ottilien 1994, S. 82 ff.

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benen Wappen die unter dem Mantel stehenden oder knienden Personen identifiziert werden80. XII. Zusammenfassend ist zu bemerken: Rechtlich ist das Kirchenportal eingebettet in die allgemeinen Bestimmungen über die Kirchengebäude in der kirchlichen Gesetzgebung. Das Portal ist Grenze für den kirchlichen Immunitätsbereich, Ort kirchlicher Rechtshandlungen. Es spielte im Ritual von Papst-, Königs- und Kaiserkrönungen eine Rolle. Vor dem Portal wurden Ehen geschlossen, erfolgten öffentliche Verkündigungen, wurden Eide geschworen. Gericht fand beim Portal statt, das auch Stätte von Ehrenstrafen war. Amtliche Masse hingen manchmal an Kirchenportalen. Mit bildlichen Darstellungen, vor allem Weltgerichtsbildern, wurde symbolhaft die Verbindung zu rechtlichem Geschehen unter und beim Kirchenportal hergestellt.

80

Leopold Kretzenbacher, Schutz- und Bittgebärden der Gottesmutter (= Bayerische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Sitzungsbericht 981, H. 3), München 1981, S. 19.

Eine neue „Consistorial-Raths Ordnung“ unter dem letzten regierenden Salzburger Fürsterzbischof Hieronymus Joseph Franz de Paula, Graf von Colloredo 1786 Von Hans Paarhammer Mit Fürsterzbischof Hieronymus Joseph Franz de Paula, Graf von Colloredo wählte das Salzburger Domkapitel 1772 einen ganz und gar dem damaligen Zeitgeist des Josephinismus hingegebenen neuen geistlichen Landesherrn, der von Anfang an bestrebt war, durch politische und religiös-kirchliche Maßnahmen Land und Leuten ein neues Profil zu geben.1 Insbesondere wollte er die oberste kirchliche Zentralbehörde, das so genannte „Consistorium“ mit einer neuen Verfassung und Gerichtsordnung straff ordnen und auf diese Weise für Rechtsprechung und Verwaltung eine moderne Rechtsgrundlage schaffen. Deutlich lässt er in der Präambel erkennen, dass er sich mit dieser „Consistorial-Raths Ordnung“2 von den früheren Rechtsordnungen, wie sie seine Vorgänger erlassen hatten, klar absetzen will.3 Einleitend betont der geistliche Landesfürst:

1 Zur Person des Fürsterzbischofs ausführlich Franz Ortner, Salzburgs Bischöfe in der Geschichte des Landes (696 – 2005) (= Wissenschaft und Religion, Bd. 12; Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften, hrsg. v. Hans Paarhammer / Alfred Rinnerthaler), Frankfurt a. M. u. a. 2005, S. 265 – 273 (siehe die hier ausführlich angegebene weitere Literatur). 2

Das Original befindet sich im Konsistorialarchiv der Erzdiözese Salzburg (KAS 21/90). Der Text ist abgedruckt bei Hans Paarhammer, Das Salzburger Konsistorium in seiner rechtsgeschichtlichen Entwicklung von seinen Anfängen bis in die Gegenwart, in: Ders. (Hrsg.), Deus Caritas Jakob Mayr. Festgabe 25 Jahre Weihbischof von Salzburg, Thaur 1996, S. 443 – 467. 3 Vgl. Hans Paarhammer, Das Consistorium Metropoliticum Salisburgense zur Zeit von Fürsterzbischof Sigismund von Schrattenbach (1753 – 1771). Kanonistische Anmerkungen zu einer Dienst- und Geschäftsordnung, in: Salus animarum suprema lex. Festschrift für Offizial Max Hopfner zum 70. Geburtstag, hrsg. v. Ulrich Kaiser / Ronny Raith / Peter Stockmann (= AIC 38), Frankfurt a. M. u. a. 2006., S. 309 – 324.

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Hans Paarhammer

„Einer der liebsten Pflichten unseres Erzbischöflichen Oberhirtenamtes legten Wir von jeher darein, dass Wir mit all unsriger Sorgfalt vorzüglich darüber wachen wollen, damit auch bey unserer geistlichen Gerichtsstelle in allen ihr zugetrauten Geschäften immer nach der strengsten Gerechtigkeit fürgefahren, der gang derselben bey guter Ordnung erhalten, und möglichste Förderung mit enger Genauigkeit jedes Mal verbunden werde.“

Und mit dem Hinweis auf die bestehenden Statuten und Ordnung stellt Colloredo fest: „Vorgebliche Observanz ist allzu unbestimmt, und zu geschwind übertretten; die wirklich bestehende ältere Rathsordnung hingegen finden Wir zum Theil für die heutigen Zeiten kaum mehr anwendbar.“4

Diese „neue, klare und all umfassende Rathsordnung“ ist in 10 „Absäze“ gegliedert und ist als „solche von nun an als die alleinige besser bestimmte Verhalts Richtschnur anzusehen“. I. Personelle Verfassung des Konsistoriums Unter der Überschrift „Von dem Raths Personale, und desselben allseitigen Obliegenheiten“ wird in „Absaz“ I der Kreis der im Consistorium mit einem Amt betrauten Personen genannt. Das Consistorium besteht aus einem Präsidenten, Direktor, Kanzler, Sekretär und mehreren anderen „Räthen“. Jedem einzelnen und allen gemeinsam obliegt als erstes die Handhabung von Recht und Gerechtigkeit, weshalb sie in kirchlichen Angelegenheiten und Verbesserungen immer mit Klugheit vorzugehen haben; den Welt- wie den Regularklerus müssen sie „unter anständiger Disciplin erhalten“; die kirchlichen Stiftungen („Oeconomicum der milden Orte“) müssen „sorgfältig, getreu, und uneigennüzig verwaltet“ werden.5 Unter allen Ämtern im Konsistorium ragt jenes des Präsidenten hervor; ihm steht es zu, „die Expeditionen ersten Ortes zu unterschreiben“;6 weiters muss er

4

Consistorial-Raths Ordnung, pag. 1

5

Zum besseren Verständnis siehe dazu Andreas Müller, Lexikon des Kirchenrechts und der römisch-katholischen Liturgie, Bd. 4, Würzburg 1839, S. 728 f.: „Stiftungen, milde (fundationes ad pias causas) sind alle Anstalten, welche den Zwecken der religiösen Erbauung, der Erziehung und des Unterrichts oder der Wohlthätigkeit und der Kranken-Pflege gewidmet sind. Dahin gehören Kirchen, Klöster, Schulen, Seminarien, Universitäten, Hospitäler, Waisen- und Armen-Pflegen, Findelhäuser u. a. dgl.“ 6

Absaz I. § II. Unter „Expeditio“ verstand man den „Weg einer Urkunde durch die Kanzlei von der Genehmigung der Bitte über den Fertigungsbefehl, Anfertigung und Kontrolle von Konzept und Reinschrift, Besiegelungsbefehl und Besiegelung bis zur Re-

Consistorial-Raths Ordnung

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„die Räthe ad votandum“ aufrufen, d. h. er gibt den Mitgliedern des Konsistoriums den Auftrag, in einer bestimmten Sache oder Angelegenheit ein Votum zu verfassen und vorzutragen; was während einer Sitzung eingegeben wird, ist von ihm „zu erbrechen“, d. h. er hat Brief und Siegel zu prüfen und zu öffnen; ihm steht auch die Aufsicht über die „gute Ordnung“ „bei dem Rath-Sizen“ zu. Die Räthe muss er an ihre Pflichten erinnern, „und, wo er wichtige Gebrechen siehet, hat er dem Fürsterzbischof unnachsichtliche Anzeige hierüber zu machen“. An der Seite des Präsidenten steht der „Director“ des Konsistoriums. Als solcher soll er „immer und allezeit die Seele des Pleni seyn“. Er ist verantwortlich für den geordneten Geschäftsgang in allen Bereichen. Für Bittsteller und Beschwerdeführer sowie für „andere mündliche Vorstellungen“ muss er „immer offene Thüre halten“. Insbesondere obliegt es ihm, über alle Vorgänge im Konsistorium zu wachen, „damit allemal unsere oder schriftlich oder mündlich erteilte besondere Befehle auf das schleunigste und auf das pünktlichste vollzogen werden“.7 Im Falle der Abwesenheit des Präsidenten „ist der Director der erste und alleinige Chef des Gremii, an ihn muß alles gehen, von ihm muß alles kommen“.8 Sollte der Direktor selbst aus Krankheits- oder anderen Gründen ein bis drei Ratssitzungen verhindert sein, kann er selbst ein Mitglied aus dem Rat „substituiren“. Wenn allerdings seine Abwesenheit länger dauern sollte, werde der Fürsterzbischof selbst einen „Interimsdirigenten“ benennen. Auch wenn dem Direktor vom Erzbischof „eine gewisse vorzügliche Obergewalt über die Räthe versammelt oder einzeln“ zugestanden wird, solle er nie vergessen, dass er ein gutes Beispiel zu geben hat und Vorbildfunktion trägt, weshalb er „mit anständiger Discretion, Sanftmuth, und Achtung“ den Leuten zu begegnen hat, „ihre einseitigen Gründe und Beurtheilungen gerne anhören“ soll; in bestimmten Fällen hat er die „Räthe“ zu belehren und zurechtzuweisen; durch sein freundliches Auftreten, seine Gefälligkeit und Offenheit sowie durch seine „eigene unermüdliche Thätigkeit“ soll er „die Räthe zum gerne arbeiten anfrischen und überhaupt damit das ganze Gremium beleben“.9

gistrierung, also der gesamte Vorgang der Beurkundung, wobei Expeditio als terminus technicus allerdings im Mittelalter nur in der päpstlichen Kanzlei (und später in der Reichskanzlei) gebräuchlich ist.“ Vgl. Thomas Frenz, Art. Expeditio, in: LexMA 4, 1989, Sp. 183 f. 7

Absaz I. § III.

8

Absaz I. § IV.

9

Absaz I. § V.

368

Hans Paarhammer

Das dritte leitende Amt nach dem Präsidenten und dem Direktor ist jenes des Kanzlers. Diesbezüglich heißt es in der Raths-Ordnung: „Des Kanzlers vorzügliche Beschäftigung solle seyn die unmittelbare erste Oberaufsicht über Registratur, Kanzley und Expeditionsamt.“10 Als sorgsamer Wächter über die Repertorien hat er Bedacht zu nehmen auf eine „getreue und fleissige Fortführung der Auf- und Einschreibbücher“. Die Expeditionen haben „den richtigen und schleunigen Gang“ zu nehmen. Kanzlisten und Schreibpersonal bekommen vom Kanzler die Aufträge zur Arbeit zugewiesen. Der eingeführte und bewährte Kanzlei-Stil ist ebenfalls von ihm zu pflegen und fortzuführen.11 Schließlich gibt es noch das Amt eines „Secretärs“.12 Weil er für die Kanzlei von solcher Vertrauensstellung ist, soll er auch das Amt eines „fürsterzbischöflichen Notarius publicus“ ausüben; er hat Entwürfe für Entschließungen (Conclusa) zu machen, genauso obliegt es ihm, „simple Signaturen auf den Rücken eines Acten Stückes“ zu schreiben. Über die RatsSitzungen muss er Protokoll führen und dieses auch berichtigen lassen. Eine herausragende Stellung im Konsistorium kommt den „Räthen“ zu: Diese „sind im Übrigen dem Präsidenten und dem Director alle geziemende Ehrerbietung und Folgeleistung schuldig“.13 Je nach Anweisung oder Wichtigkeit einer Sache, müssen sie schriftlich oder mündlich den ihnen erteilten Auftrag „in Vortrag bringen“. Bei mehreren zugleich übernommenen Sachen haben sie so vorzugehen, dass die älteren, d. h. schon länger anhängigen Geschäfte zuerst erledigt und aufgearbeitet werden, sodass nichts allzu lange verschoben wird oder gar liegen bleibt. Alle Konsistorialräte sollen sich gerne gebrauchen lassen, „und überhaupts sorgfältig, eifrig und unverdrossen einzeln mitwirken, damit das Ansehen dieß eines der ersten deutschen Metropolitan-Gerichte in keiner Weise herabgewürdiget, oder vor den Augen des Publikums gering geschäzet werde.“14 Fürsterzbischof Colloredo bezeichnet die erstgenannten Amtsträger als „Chef’s“ und bringt seine zuversichtliche Erwartung zum Ausdruck, dass sich diese „Chef’s“ und die „Räthe“ eingedenk ihres eidlichen Versprechens in allen Tätigkeiten und Handlungen für treu erweisen, so dass sie

10

Absaz I. § VI.

11

Dieser Kanzleistil ist im Hinblick auf Generalien, Currenden, Signaturen, Decreten, Befehlen usw. hochzuhalten. Vgl. Absaz I. § VI. 12

Absaz I. § VII.

13

Absaz I. § VIII.

14

Absaz I. § VIII.

Consistorial-Raths Ordnung

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„nach Recht, Billigkeit und beßter Einsicht jedes Mal urtheilen, richten und rathen. Unparteylichkeit ihren Leitfaden, schleunige Pflege ihr Augenmerk seyn lassen; gegen alle Anbothe, oder wirkliche Geschenke reinste Hand halten; alsfort heilige Verschwiegenheit beobachten; sich vor allen Fractions-Geist, Personal-Anhang, oder sklavischer Furcht unter sich selbst beßtens verwahren“.15

Eingedenk ihrer Würde werden daher die „Räthe“ bemüht sein, einen entsprechenden bescheidenen Lebenswandel in und außerhalb des Konsistoriums zu führen. Von anderen Gerichtspersonen ist im „Absaz I.“ nicht die Rede. Diese werden sowohl im „II. Absaz“ im Hinblick auf die „Raths-Versammlungen“ und dann erst näher im „IX. Absaz“ vorgestellt, wo auch ihre Kompetenzen umschrieben werden. Unter der Überschrift „Von den Pflichten des Registrators, der Protokollisten“ und „Accessisten“.16 wird hier im einzelnen Konkretes statuiert, z. B. dass es zu den neben den in „Absaz II.“ und „Absaz VIII.“ aufgezählten Obliegenheiten eines Registrators gehört, „die erste und unmittelbare Aufsicht über die Kanzleyverwandten, und deren Geschäfte wahrzunehmen“. Dem Registrator war „während der Sessionen allemal freyen Zutritt in das Raths Zimmer zu gewähren; er musste sozusagen der erste bey der Hand seyn, um die allenfalls nöthigen Acten vorzusuchen, oder über ein so anderes ex Prioribus mündliche Erläuterungen zu geben“.17 Der Registrator hatte zudem eine verantwortungsvolle Aufgabe zur Ausbildung und Weiterbildung der „ihm zugegebenen Acceßisten oder Praktikanten“, auf dass sie die ganze „Amts-Routine“ kennenlernen; er muss ihnen auch „dienliche Acten zum Durchlesen“ vorgeben und hat sie „zu baldiger Erwerbung näherer Kenntnisse bescheiden anzuleiten“, um sie zu befähigen „zum Eintritt in die wichtigere Consistorial Geschäfte“.18 Somit kam dem Registrator auch eine vorrangige Stellung hinsichtlich der Ausbildung künftiger Mitarbeiter im Konsistorium zu; er hatte in Theorie und Praxis für die Sensibilisierung und Befähigung von einmal in Zukunft nachrückenden Leuten im Gerichtswesen zu sorgen. Weiters ist im Statut von „Protokollisten“ die Rede: Diese haben beim Eintritt in das Konsistorium zunächst einen „gewohnlichen Gehorsam- und Verschwiegenheits Eid“ abzulegen. Unter Weisung des Direktors und Sekretärs haben sie die Protokolle über die einzelnen Sitzungen im Konsistorium abzufassen „und ad mundum zu schreiben, die übrige Zeit aber sich zum concipiren

15

Absaz I. § IX.

16

Absaz IX. – KAS 21/90: Consistorial-Raths Ordnung 1786, pag. 34.

17

Absaz II. § V.

18

Absaz IX. § I.

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Hans Paarhammer

in der Registratur und Kanzley, wie auch zum Actuiren bey Commißionen allemal willig gebrauchen zu lassen“.19 Dem Sammeln von Erfahrung im Konsistorium galt unter Colloredo ein betontes Interesse, denn man wollte den Accessisten im Rat und in der Registratur auch die Möglichkeit geben, dass „ihnen ältere schon abgethane Acten zum Bearbeiten übergeben werden, als eine Probe, wie sie sich dabey benehmen, und ob sie zu Ausarbeitung einer Current-Stritt-Sache schon die hinlängliche Einsicht und Fähigkeit besitzen“.20 Offensichtlich galt einer der Protokollisten als „Sessionarius“, der den „RathsSessionen“ fleißig beizuwohnen hatte, „um den Gang und das Innere der Geschäfte immer bey Gedächtnis zu erhalten und sich hiedurch die adäquate Fassung der Protokolle zu erleichtern.“ Dieser „Sessionarius“ war also der Garant dafür, dass alles sorgfältig zu Protokoll genommen wurde. Dem Registrator, dem Protokollisten und Raths Accessisten war „ein besonderer Tisch anzuweisen, wo sie zur Zeit der Raths Versammlung sich aufhalten, ihre Geschäfte fördern, etwa nützliche Notaten machen können“.21 Da die Parteien den Anforderungen des kanonischen Rechtes und des Gerichtsverfahrens oft nicht gewachsen waren – die Leute konnten meist weder lesen und schreiben und waren zudem rechtsunkundig –, musste ihnen das Konsistorium Prozessstellvertreter, so genannte Prokuratoren, oder auch Rechtsbeistände (Advokaten) zur Verfügung stellen. Dies hatte für die rechtsuchenden Leute den Vorteil, dass sie durch juristisch gebildete Personen vertreten werden konnten und ein Verfahren seinen Gang nehmen konnte, ohne dass Fristen versäumt oder nicht beachtet wurden. II. Die Sitzungen des Konsistoriums Unter dem Titel „Von den Raths-Versammlungen und deren inneren Verfassung“ wird in der „Consistorial-Raths Ordnung“ zunächst darauf hingewiesen, dass „nach bißheriger neueren Observanz zu Mondtag, Mittwoch, und Freytag so lange und so oft es die Menge der vorkommenden Gegenstände erfordert, sohin dreymalige Sessionen in der Woche seyn, und diese mit 9 Uhr früh ihren Anfang nehmen“.22

19

Absaz IX. § II.

20

Absaz IX. § III. Letzter Satz.

21

Absaz II. § V. Letzter Satz.

22

Absaz II. § 1. – Diese Tage sind seit unvordenklichen Zeiten als Gerichtstage überliefert. Siehe dazu Hans Paarhammer, Rechtsprechung und Verwaltung des Salzburger Offizialates (1300 – 1569), Wien 1977, S. 65 – 67.

Consistorial-Raths Ordnung

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Dem Direktor des Konsistoriums war es anheim gestellt, die Termine festzulegen, vor allem einen Termin abzusagen oder auf den nächsten Tag zu verlegen.23 Auch hatte er die Befugnis, an anderen Tagen, vor allem auch für einen Nachmittag, alle oder einige Konsistorialräte zusammenzurufen. Dies hing immer ab von der Anzahl und der Dringlichkeit von Vorlagen oder Gegenständen zur Verhandlung im Konsistorium. Eine Beurlaubung von den Sitzungen konnte nur der Direktor genehmigen. Bei Reisen in das Ausland oder von längerer Dauer war immer der Erzbischof selbst zu befassen, der auch die entsprechende Erlaubnis zu gewähren hatte.24 Die Sitzungen werden ausnahmslos vom Direktor geleitet.25 Er „kann und muß dafür sorgen, damit auch unter der Session gute und nüzliche Ordnung gehalten werde“.26 Er hat für Pünktlichkeit der Konsistorialräte und anderen Bediensteten zu sorgen und muss streng darauf achten, dass „mit den Raths Stunden wohl zu wirtschaften“ ist, „damit selbe nicht mit unnüzen Geschwäz, Zänkereyen über Kleinigkeiten, unnöthigen Acten ablesen, und dergleichen vertändelt werden“. Während eines Vortrages darf nicht gestattet werden, dass jemand etwas schreibt oder gar ein Buch liest oder dass man miteinander „plaudert“, vielmehr sollen sie immer einer ungestörten Aufmerksamkeit beflissen seyn“.27

23 Solche Verlegungen von Sitzungsterminen konnten notwendig werden, wenn ein gebotener Feiertag die Einberufung einer Sitzung unmöglich machte. Dass solches immer wieder vorkam, lag in der Vielzahl der Feiertage begründet. Auch wenn es durch Papst Benedikt XIV. (1740 – 1758) zu einer Reduktion der Feiertage gekommen war, haben seine Nachfolger weitere Maßnahmen gesetzt, indem sie Möglichkeiten zur Dispens von der Verpflichtung der Gläubigen, sich knechtlicher Arbeit zu enthalten, schufen. Es war zwar der Besuch der Messe vorgeschrieben, aber dann sollten die Leute ihrer Arbeit nachgehen können. Manche Feiertage wurden überhaupt auf den folgenden Sonntag verlegt, so dass sich das Problem von Feiertagen während der Woche nicht mehr so unerbittlich stellte. Siehe dazu ausführlicher (mit Quellenhinweisen und Literaturangaben) Hans Paarhammer, Das kirchliche Sonn- und Feiertagsrecht im Spiegel der gesellschaftlichen Veränderungen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Scientia iuris et historia, FS – Peter Putzer, hrsg. v. Ulrike Aichhorn / Alfred Rinnerthaler, Egling an der Paar 2004, S. 643 – 662. 24

Absaz II. § II: „Endlich solle keinem Rath erlaubt seyn, ohne Vorwissen und Genehmhaltung des Directors sich auf einen ganzen Tag und Nacht von der Stadt zu entfernen; bey Reisen ausser Landes hingegen oder von längerer Dauer ist jeder Zeit unmittelbar bey Uns selbst die Erlaubniß nachzusuchen.“ 25

Absaz II. § IV: „Director behauptet jedes Mal, und ohne Ausnahme den Vorsiz.“

26

Absaz II. § VI.

27

Absaz II. § VI.

372

Hans Paarhammer

„Uiberhaupt muß anständiger Ernst, warmer Eifer, unverdrossene Genauigkeit, thätige Wirksamkeit das Gepräge seyn, durch welches sich Haupt und Glieder in all ihren Geschäften vorzüglich auszuscheiden haben.“28

„Im Sizen und Votieren“ wurde in der Reihenfolge der Räte nach deren Dienstalter vorgegangen. Nur die „Cavagliers oder geheime Räthe“ hatten ihren Sitz vor den übrigen Räten, waren aber bei der Abgabe ihrer Voten „nach ihrer Antritts Ordnung“ aufzurufen. Wenn ein neues Mitglied in das Konsistorium aufgenommen und zum „Rath“ bestellt werden sollte, war dieser gehalten, vor dem Plenum oder wenigstens vor zwei oder drei Räten den vorgeschriebenen Eid abzulegen. „Von diesem Tag an bleibt er ad Sessionem et votum geeignet, und tritt in die Ordnung ein.“29 III. Neuordnung und systematische Gliederung der Agenden im Konsistorium Im „III. Absaz“ „Von den zum Consistorium geeigneten Geschäften“ erinnert der Fürsterzbischof daran, „dass er erst jüngsthin alle bey diesem unsern geistlichen Gericht ein- und vorkommende Gegenstände“ nach drei Gesichtspunkten bzw. Sachverhaltsgruppen gegliedert („abzutheilen befohlen“) habe: „Pastoralia, Iudicialia, Oeconomica“. Fürsterzbischof Colloredo bekundete dabei seinen festen Willen: „bey dieser Abtheilung solle es auch ferner noch unabänderlich verbleiben“.30 Im Einzelnen werden folgende „Geschäfte“ und Agenden diesen drei Gruppen zugeordnet: Unter die „Pastoralia“ gehören primär „kirchliche Reformen überhaupts, und die deßhalb erforderliche Generalien, Specialverordnungen, Nachträge, Erläuterungen usw.“. Hier schlägt deutlich der Josephinismus durch, der die Geistlichen zu Beamten im Dienste der staatlichen (auch kirchlichen) Obrigkeit machte und alles, auch die Pfarrorganisation, regulierte. So heißt es dementsprechend weiter: „Die Errichtung neuer Curatien, Stiftung der Beneficien, andere kleinere Stiftungen von Jahrtägen, Jahrmessen, Predigten, Stundgebethen, Litaneyen, Spenden usw.“ Mit diesem System von selbstständigen Stiftungen und Zustiftungen war zugleich für ein Besoldungssystem sowohl im Sinne des Sustentations- als auch des Remunerationsprinzips für die Geistlichen und Laienbediensteten vorge-

28

Absaz II. § VI, letzter Satz.

29

Absaz II. § III.

30

Absaz III. § I.

Consistorial-Raths Ordnung

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sorgt. Die Kirchenrechnungen geben dazu eindrucksvoll Aufschluss, wie die entsprechenden Gelder verwaltet und ausbezahlt wurden. Dass dem Konsistorium eine zentrale Aufsichtsfunktion über die Seelsorge eignete, geht aus dem Grundsatz hervor, dass die kanonische Visitation nur von dieser geistlichen Behörde zu organisieren und durchzuführen war: „Die General-Visitations-Geschäfte nach ihrem ganzen wirk Umfang, die sogenannten annual- und angarial-Visitationen der Landdechante, die einzelnen Untersuchungen in Klöstern, oder gegen Cleriker, und deren Bestrafungen usw.“

Insofern fielen auch die Kompetenzen in Disziplinarsachen von Geistlichen in den Machtbereich des Konsistoriums. Zu den „Pastoralia“ werden im Statut auch gezählt „die Confirmationen und Consecrationen der Suffragan Bischöfe nebst derselben feyerlichen Installationen. Dann die Sperren, Inventuren, Wahlen, Confirmationen, und Benedicierungen der Aebte, Pröbste, Abtißinen, und anderer Kloster-Oberen. Ebenfalls werden in diesem Zusammenhang angeführt die Installationen der Dechante und exempten Pfarrer, dann Promotionen und Permutationen unter dem Clerus“.31

Aus diesem Katalog wird ersichtlich, dass das Konsistorium die Zuständigkeit für die Vorbereitung der aufgezählten Rechtsgeschäfte und geistlichen Akte zu tätigen hatte. Konsekrationen und Benediktionen, Bestätigungen von neu gewählten oder präsentierten Amtsträgern konnte nur der Fürsterzbischof selbst oder ein von ihm Delegierter vornehmen. In dieser Aufzählung der „Pastoralia“ geht es somit um die nähere Umschreibung der Zuständigkeitsbereiche des Konsistoriums für die genannten Akte kirchlicher Befugnisse. Weiters sollte zu diesem Rechtskreis der „Pastoralia“ „das Schulwesen überhaupts nebst dem ganzen dazu gewidmeten Personal zählen“.32 Schließlich mussten an das Konsistorium Bittschriften und Gesuche um Gewährung oder „wiederumige Ertheilung“ von Vollmachten, Ablass-Renovationen, Approbationen von Reliquien und andere Zustimmungen gerichtet werden.33 Anlässlich der Vorbereitung einer Eheschließung konnten immer wieder „geheime Ehehindernisse“ auftreten. Dem Konsistorium sollte deshalb auch die Gewährung von „Dispensationen in gradibus Consanquinitatis vel affinitatis in Eheverkündigungen, in casibus occultis, in votis simplicibus“ zustehen. Es ging

31

III. Absaz. § II a. – e.

32

III. Absaz. § II. f.

33

III. Absaz. § II. g.

374

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somit um Fälle von Blutsverwandtschaft, Schwägerschaft und bei einfachen Gelübden.34 Bei Weihesachen galt es im Konsistorium die erforderlichen Prüfungen bei der Vorbereitung auf den Weiheempfang vorzunehmen sowie die notwendigen Dispensen im Falle von der Verkürzung bzw. Nichtbefolgung der zwischen den einzelnen Weihestufen vorgeschriebenen „Interstitien“ oder beim Fehlen des vorgeschriebenen kanonischen Alters zu gewähren. Zu diesem Feld von Weihesachen zählten auch „die Praesentationen zu den Weihen, die Weihen selbst, Aufnahmen in das Priesterhaus, in die Klöster usw.“.35 Da immer wieder Anträge um „Aus- oder wiederumige Einpfarrungen einzelner Güter und Unterthanen“ an den geistlichen Landesfürsten gerichtet wurden, übertrug Fürsterzbischof Hiernoymus Colloredo auch diese Agenden der geistlichen Zentralbehörde „Konsistorium“.36 Um sicher zu gehen, dass wirklich alle die Seelsorge betreffenden und berührenden Angelegenheiten vor das Konsistorium kommen, fügte der Erzbischof diesem Katalog „Pastoralia“ noch eine Generalklausel bei: „Endlich alles, was mittelbar, oder unmittelbar in diese hier erzählte Fächer einschlaget, und sonst noch überhaupts zu den Pastoral-Gegenständen eigentlich gerechnet werden mag.“37

Während die Sektion „Pastoralia“ für die so genannte „Freiwillige Gerichtsbarkeit“ (in volentes et petentes) zuständig sein sollte, wurde vom Fürsterzbischof für die zweite Sektion unter dem Titel „Iudicialia“ das allgemeine und spezielle Gerichtswesen festgelegt. Folgende Bereiche werden im Statut unter der Überschrift „Iudicialia“ aufgezählt: „Die Sponsal- und Matrimonial-Streite“, also alle Ehesachen, die vor dem Konsistorium als zuständigem Ehegericht anhängig zu machen sind.38 Damit 34

Absaz III. § II. h.

35

Absaz III. § II. i.

36

Absaz III. § II. k.

37

Absaz III. § II. l.

38

Absaz III. § III. a. – Es fällt auf, dass in dieser Gerichtsordnung nichts gesagt wird über den Dienst und die Pflichten eines Ehebandverteidigers (Defensor vinculi), der durch Papst Benedikt XIV. mit einem Schreiben an die Bischöfe des Königreichs Polen vom 11. April 1741 verpflichtend eingeführt worden war. Dazu und über weitere kirchenrechtliche Entwicklungen siehe Klaus Lüdicke, Zum Berufungssystem im kirchlichen Ehenichtigkeitsprozeß, in: Iustus Iudex, Festgabe für Paul Wesenmann zum 75. Geburtstag, hrsg. v. Klaus Lüdicke / Heinrich Mussinghoff / Hugo Schwendenwein, Essen 1990, S. 507 – 551.

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zusammenhängend werden „alle andere ad forum ecclesiasticum geeignete Klagen, die oder schon in wirkliche Prozeße eingeleitet sind, oder auf eine rechtliche Entscheidung hinzeigen.“ Neben den Ehesachen gehörten sämtliche vermögens- und erbrechtlichen Angelegenheiten von Geistlichen „und aller zum geistlichen Gericht gehörigen Personen“ vor das erzbischöfliche Konsistorium.39 In einem weiteren Punkt werden genannt die „Gandt-Verhandlungen, EidesAbnahmen, Zeugniße sub fide sacerdotali“.40 Mit dem kurz und bündig formulierten Satz „die Aufnahme von Testamenten, Hinterlegung ad acta iudicialia, Publikationen, oder wiederumbige Extradierungen“ wird im Statut die gerichtliche Kompetenz für alle Angelegenheiten von letztwilligen Verfügungen, der Errichtung, Hinterlegung und Vollziehung von Testamenten, letztwilligen Verfügungen und anderen Verlassenschaftssachen festgeschrieben.41 In einem weiteren Punkt wird das Konsistorium als „Berufungsgericht“ apostrophiert: „Die Adpellationen von auswärtigen Untergerichten.“42 Eigens werden sodann aufgezählt die Verhandlungen in Streitsachen von Parteien, Zeugenvernehmungen, Ausstellung von gerichtlichen Zeugnissen usw.43 Über das Begräbnis von Selbstmördern und auch in Fällen über das Asylrecht hatte das Konsistorium zu befinden.44 Strafsachen von Klerikern waren sowohl hinsichtlich des Verfahrens als auch der Verhängung von Strafen vor dem Konsistorium anhängig zu machen. Im Statut heißt es diesbezüglich: „endlich die peynliche Fürgänge gegen Cleriker, oder ad forum clericale geeigneter Verbrecher, als da sind gerichtliche Vernehmungen, Geldstrafen, Incarcerationen, Suspensionen, Interdicten usw.“45

39

Absaz III. § III. b.

40

Absaz III. § III. c. – Unter „Gant“ verstand man einen Ausruf zu Versteigerungen; dazu und zu weiteren Begriffen siehe Deutsches Rechtswörterbuch, 3. Band, Weimar 1935 – 1938, S. 1161 – 1167. 41

Absaz III. § III. d.

42

Absaz III. § III. e.

43

Absaz III. § III. f.

44

Absaz III. § III. g.

45

Absaz III. § III. h.

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Es fällt auf, dass in dieser Gerichtsordnung von Reservatfällen keine Rede ist. Der Fürsterzbischof zählt nur die Kompetenzfelder der allgemeinen Gerichtsbarkeit seines Konsistoriums auf. Im dritten Katalog von Kompetenzpunkten des Konsistoriums geht es um die Oeconomica. Es werden insgesamt neun Bereiche unterschieden: •

das ganze Rechnungswesen der milden Orte



die Ausleihung der Capitalien, Adprobierung der Gutmachscheine, Cessionen, Schuldbriefe, Borgschaften, Cautionen



die Interessen-Nachläße, Ausfertigung der Sammlungspatente, andere Nachläße, oder Schenkungen



die CommunhausungsBewilligungen, Anlaiten, Uibergaben, Verkäufe, Verstukungen



neue Kirchen-Gebäude, und deren Renovationen



Beyschaffung neuer Kirchen Bedürfniße und deren Reparationen



die Besoldungen, Zulagen, oder Entschädigungen der Seelsorger, Mesner, Schulhalter und anderer Kirchendiener



die Inspectionen, Administrationen, Verwaltungen, der mit einem zehrenden Personale beschwerten milden Stiftungen



endlich all das, was auf das Vermögen der milden Orte, Geld- Einnahm und Ausgabe, Verschreibungen usw. nahen oder weiten Bezug hat.46

Es geht in dieser Sektion also insgesamt um die Verwaltung des Kirchenvermögens hinsichtlich der Personal- und Sachverantwortlichkeiten. Dabei stehen Fragen der Baulast, der vertraglichen Maßnahmen und Vereinbarungen in vermögensrechtlichen Belangen, der ständigen Beobachtung und regelmäßigen Überprüfung der kirchlichen Stiftungen und deren Vermögensangelegenheiten im Spannungsfeld von Einnahmen und Ausgaben im Mittelpunkt des Interesses.47

46 47

Absaz III. § IV. a – i.

Zu diesen Fragen der Administration der zeitlichen Güter der Kirche siehe besonders Johann Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, Freiburg i. Br. 1904, S. 782 ff.

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IV. Verfahrensrechtliche Anweisungen Einlangen, Eröffnung und Verteilung von Prozessangelegenheiten In verschiedener Gestalt, Art und Weise können vor dem Konsistorium Anträge, Bittgesuche oder Wünsche und Beschwerden eingebracht werden. Dies ist möglich „durch die Post, Bothen, Gewaltträger, oder Partheyen selbst“ und hat bei der Kanzlei des Konsistoriums zu erfolgen. Jedem einlangenden Aktenstück ist ein Eingangsvermerk zu geben.48 Wenn Eingaben mit einer Taxe verbunden sind, ist nach Erlegung derselben unverzüglich eine Bestätigung durch die Kanzlei auszustellen. Sodann ist das „präsentierte Stük ohne Saumsal dem Directorio zu übergeben“. Da bei „Justiz-Schriften“ strenge Zeitbestimmungen herrschen, so genannte „fatalia legis“,49 muss auch dieser Umstand schriftlich festgehalten und „dem Praesentato getreu beygesezet werden“.50 Appellationssachen sind bei der Registratur einzubringen und dort aufzunehmen, „worüber auch Registrator jedesmal eine kurze legale Urkunde zu fertigen hat“. Aufgabe des Direktors ist es, die einzelnen Eingaben und damit verbundenen Aktenstücke nach Inhalt und unter Bekanntgabe der Namen vorzustellen. Die inzwischen festgelegten Daten und künftig zu bestimmenden Termine sind schriftlich festzuhalten und nunmehr bekanntzugeben.51 In der Registratur sind alle Schriftstücke zu verwahren. Der Registrator hat über die einzelnen Verfah-

48

Absaz IV. § 1. „Wie ein Stuk durch die Post, Bothen, Gewaltträger, oder Partheyen selbst bey der Kanzley eingehet, ist ihm sobald das Praesentatum zu indossieren.“ 49 Darunter versteht man eine so genannte „Notfrist, d. h. gesetzlich festgelegte, unerstreckbare / Ausschluß- oder Fall-Frist. Rudolf Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici, München / Kempten 1927, S. 160. 50 51

Absaz IV. § II.

Die kirchliche Gerichtsbarkeit ist seit unvordenklichen Zeiten beherrscht vom so genannten „Prinzip der Schriftlichkeit“, weshalb der Grundsatz gilt: Quod non est in actis, non est in mundo. „Es sind daher nicht bloß alle dem Gericht in einer Prozeßsache eingereichten Schriftsätze (z. B. Klageschrift, sonstige Anträge, Verteidigungsschriften) und Urkunden zu sammeln, vielmehr sind jedes sachdienliche Vorbringen der Parteien, Zeugen und Sachverständigen zu Protokoll zu nehmen und die prozeßleitenden Verfügungen des Richters schriftlich niederzulegen.“ Klaus Mörsdorf, Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des Codex Iuris Canonici. III. Bd., Paderborn u. a. 1979 (3), S. 89. Zum rechtshistorischen Hintergrund des Schriftlichkeitsprinzips Fritz Luschek, Notariatsurkunde und Notariat in Schlesien von den Anfängen (1282) bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Weimar 1940.

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rensschritte eine „kurze legale Urkunde zu fertigen“.52 Welche Bedeutung das Schriftlichkeitsprinzip in den Augen des Fürsterzbischofs hatte, besagt folgende Bestimmung: „Was nicht simple Gnaden, und Armen Sachen sind, all übriges muß nach unsern wiederholten neuesten Verordnungen von einem berechtigten Schriftsteller gefasset, oder wenigstens unterschrieben seyn, widrigen Falls wäre das Stuk gleich bei der Einlage und vor dem Praesentato von der Hand zu weisen.“53

Für den Fall der Abwesenheit (z. B. aufgrund von Rechtssäumigkeit) einer Partei oder auch weil eine Partei wegen allzu großer Entfernung („auswärtige Partei“) nicht vor Gericht erscheinen kann, besteht der Fürsterzbischof darauf, „dass derley laufende Justiz-Acten allezeit durch einen ordentlich begwaltet hiesigen Advocaten oder Procurator geführet, und eingegeben werden ohne deme wären solche gleichfalls nicht ad presentandum zu nehmen“.54

Sache des Direktors ist es, die vorgelegten Aktenstücke zu öffnen, deren wesentlichen Inhalt vorzutragen „mit Beysezung des Nämen, des Datums, der Beylagen usw. in seyn Directorial-Exhibiten Protocoll ein“.55 Die einzelnen Akten sind fortlaufend zu nummerieren. Jedes Jahr ist ein solches Register neu zu eröffnen. Die Nummer ist „auf den Rüken des eingegangenen Stükes zu nehmen“. Seitens des Direktors werden nach gründlicher Prüfung und Instruktion die Akten den ordentlichen Referenten übergeben zum Zweck der Vorbereitung der Voten und Ratschläge, wie sie entweder individuell oder kommissionell vorzutragen sind. Dies hat zu geschehen mit Bedachtnahme auf „ganz kluge Vorsicht, Bescheidenheit, Unparteylichkeit“.56 Auf diese Weise können die notwendigen Zeiten und Fristen eingehalten werden; außerdem kann berücksichtigt werden, dass jeder Referent in angemessener Weise mit Arbeit betraut wird. Zudem wird dafür gesorgt, dass die Arbeit gleichmäßig verteilt wird. Seitens des Direktoriums können an die Referenten „mit vorläufigen Anleitungen, bescheidenen Rath, kurzen Anweisungen anhanden gegangen“ werden.57 Gemäß den Vorgaben des kanonischen Rechtes verlangte der Fürsterzbischof, dass man während eines Prozesses auch „auf wichtige Incident Punkten,

52

Absaz IV. § II.

53

Absaz IV. § III. Erster Satz.

54

Absaz IV. § III. Zweiter Satz.

55

Absaz IV. § IV.

56

Absaz IV. § V.

57

Absaz IV. § V.

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Interlocuten, oder Ordinatorien“ achte.58 Nach Möglichkeit sollte auch auf ein vorzeitiges Ende eines Prozesses hingearbeitet werden. Dies kann auf zweifachem Wege geschehen: Entweder durch Vereinfachung und Verkürzung eines Verfahrens oder durch Erreichen eines Vergleichs.59 Der Direktor wird darauf aufmerksam gemacht, dass er es nicht übersehen darf, jedem Referenten auch einen festen Termin zu setzen, bis wann er seine Stellungnahme auszuarbeiten habe. Zugleich wird statuiert, dass es nicht angehen kann, dass die Referenten unter sich die ihnen anvertrauten Aufgaben kurzerhand austauschen oder weitergeben.60 In den Händen des Direktors liegt es, für einen flüssigen Lauf der Geschäfte zu sorgen und darüber zu wachen, dass alle ihren Auftrag in der geforderten Weise erfüllen.61 Zum Jahresschluss hat jeder Konsistorialrat in einem Verzeichnis nachzuweisen, welche Arbeiten schon erledigt sind und welche in das neue Jahr mitgenommen werden. Verlöbnis- und Ehesachen sowie Klagen von ärmeren Parteien und „von geringen Belang sind vorzüglich zu kurzen summarischen CommißionalVerhandlungen geeignet“.62 In solchen Fällen muss der Direktor einen oder mehrere Richter (Räte) beauftragen, die Sache in die Hand zu nehmen. Ein Aktuar muss immer dabei sein. Es soll dabei stets auf einen Vergleich hingearbeitet werden. „Gütliche Vergleiche können allemal gleich ad Commissionem a. gelobet und von dieser Salva Ratificatione einsweilen aufgenommen werden; hienach aber sind sie der legalen Bestättigung wegen in Pleno vorzutragen; da gegen muß über die Receßierungs Protokolle förmlich im Rath referieret, und die Entscheidung, oder der Spruch von dort ausgefertiget werden.“63

Einen interessanten Aspekt dieser Konsistorialordnung bringt § XIV. dieses Absatzes, wo es heißt:

58 Zu allen diesen Fragen von so genannten Zwischenverfahren siehe Hans Jörg Budischin, Der gelehrte Zivilprozeß in der Praxis geistlicher Gerichte des 13. und 14. Jahrhunderts im deutschen Raum, Bonn 1974, S. 243 f. 59

Absaz IV. § VI.

60

Absaz IV. § VII.

61

Absaz IV. §§ VI – IX.

62

Absaz IV. § X.

63

Absaz IV. § X.

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„Die von uns von Zeit zu Zeit zu benennenden Visitatoren, Inspectoren, Commißarien usw. des Priesterhauses, Kranken-Spitals, Weysenhäuser, Manns- und FrauenKlöster usw. sind jedes Mal beim Antritt mit einer kurzen Instruction von Consistorio zu versehen, damit sie bestimmt wissen, wie weit sich diese ihr Gewalt erstreke, was für Pflichten sie auf sich nehmen, und was man von der ihnen anvertrauten Aufsicht eigentlich erwarte oder fordere.“64

Mit dieser Anweisung wird festgehalten, dass das Konsistorium auch für die sozial-caritativen Einrichtungen des Fürsterzbistums zuständig war.65 Im „V. Absaz“ wird „Von dem mündlich- und schriftlichen Vortrag in Pleno“ gehandelt. Hier wird verlangt, dass drei verschiedene Protokolle verfasst werden, entsprechend den drei Abteilungen. Es wird dabei verlangt: „Vorzüglich auf diese muß Director sein Augenmerk richten, damit selbe nicht zu weitschweifig, aber bündig, erschöpfend und deutlich in den Conclusis gefasset werden: denn nur aus ihnen können und müssen hienach die allseitigen Expeditionen entworfen werden; und nur sie sind in der Folge der alleinige Beweiß, was in den Sessionen abgeschlossen, erkennet und geurtheilet worden sey.“66

Von den vorgelegten Schriftsätzen der Referenten hängt größtenteils der zügige Fortgang eines Verfahrens ab, so kann damit Zeit gewonnen werden oder verloren gehen. Je nach Beschaffenheit eines Gegenstandes sind die Vorlagen ausführlich oder als einfache Notizen vorzulegen. „Nur in gar geringfügigen Anfragen oder Zweifeln sollen den Referenten mündliche Vorträge passiret seyn.“67 Die schriftlich abgefassten Referate müssen eine bestimmte Gliederung aufweisen: Eine „getreue Geschichts-Erzählung“, gemeint ist die Sachverhaltsdarstellung, muss am Beginn der Berichterstattung stehen, dann hat ein „Acten Extract“ zu folgen (kurz gefasster Überblick), und schließlich hat das „Votum“ den Abschluss zu bilden. „Die Geschichts-Erzählung muß ganz einfach, praecis, und hauptsächlich aus den Beylagen gezogen seyn, damit die Votanten nicht die blosse Asserten der Parteyen für Wahrheiten aufnehmen därfen. Der Extract ist die Seele der Relation, er kann also nur hart ordentlich, verständlich, und richtig genug seyn. Das Votum fordert Be-

64

Absaz IV. § XIV.

65

Vgl. dazu Christian Greinz, Das Soziale Wirken der katholischen Kirche in der Erzdiöcese Salzburg, Wien 1898. 66

Absaz V. § II.

67

Absaz V. § III.

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stimmtheit, Klarheit, und gut gewählte Zergliederung, wenn der Präliminar-Fragen mehr sind, ehe es zum Hauptabschluß kommt.“68

Die Entscheidungsgründe dürfen nur aus den vorliegenden Akten genommen werden, das sind die Dokumente, gerichtlichen Geständnisse und Beweismittel; es kann unter Umständen auch noch die Lehre von probati auctores beigefügt werden.69 Die Sprache des Gerichts Vortrages soll kernigt, ernsthaft und männlich seyn; es sind somit alle verblümte Spielwerke, spöttelnder Witz, lächerliche Schilderungen, gehässige Ausfälle auf die Parteyen, oder ihre Rechtvertreter, beleidigende Anmerkungen, und überflüssiges Wortgezieren ganz aus selben zu verbannen. Der Referent muß nur die Wahrheit einleuchtend darstellen, nicht aber sich selbst gerne reden hören wollen.70

In besonders wichtigen oder schwierigen Rechtsfällen kann der Direktor im Voraus eine kurze Sachverhaltsdarstellung an alle „Räthe“ weitergeben, damit sich diese auf die Sitzung vorbereiten und die auf sie zukommende Problematik besser einstellen können. Jeder Referent hat „vor der wirklichen Proposition in Pleno“ die Akten zusammen mit seinem schriftlichen „Elaborat“ dem Direktorium zu übergeben. Datum und Unterschrift sind beizufügen.71 Werden von einem Referenten Urkunden erwähnt oder wird auf solche Bezug genommen, kann auf Verlangen des Direktors oder eines Konsistorialrates das Ablesen der Urkunde verlangt werden. Allerdings ist es dem Referenten selbst nicht gestattet, dies zu tun, sondern es muss durch ein anderes Ratsmitglied geschehen. Während des Vortrages einer Urkunde darf nicht durch Dreinreden gestört werden. Tauchen Fragen auf, können diese in einer Aussprache geklärt werden. „Gleich nach vollendetem Referat hat der Correferent, wenn einer bestellt war, seine Relation abzulesen, und dann erst wird zum votieren geschritten.“72 Der Direktor kann in manchen Fällen auch selbst eingreifen und durch eigenen Vortrag einer Stellungnahme in den Verfahrensgang eingreifen. In heiklen Angelegenheiten, die für das Plenum nicht geeignet erscheinen, oder deren Behandlung der Fürsterzbischof nicht sehen will, kann der Direktor direkt vom Fürsterzbischof weitere Anweisungen einholen.73 Für den Fall, dass manche

68

Absaz V. § IV.

69

Absaz V. § V.

70

Absaz V. § VI.

71

Absaz V. § VII.

72

Absaz V. § VIII.

73

Absaz V. § IX.

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Rechtssachen vorgezogen oder einer raschen Erledigung zugeführt werden sollen, kann der Direktor sich vom Fürsterzbischof Aufträge geben lassen.74 Vom Präsidenten des Konsistoriums – in dessen Abwesenheit vom Direktor – werden die Räte der Reihe nach aufgerufen ihr Votum abzugeben und ihre Meinung zu äußern.75 Bei Abstimmungen mit dem Ergebnis von Stimmengleichheit (absolute paria), muss der Präsident selber ein Votum abgeben, damit auf diese Weise eine Mehrheit entsteht; bei dessen Abwesenheit fällt diese Rolle dem Direktor zu.76 Bei allen Ratschlägen und Abstimmungen ist nach innerer Überzeugung und nach dem eigenen Gewissen die Meinung zu artikulieren, ohne jede Leidenschaft oder Privatrücksicht, bestimmt und deutlich. „Nur der alleinige Fall bleibt ausgenommen, wenn bemerkt werden sollte, dass ein wichtiger Umstand ganz uibergangen, oder das Deliberandum aus einem ganz falschen Gesichtspunkt aufgenommen worden seye, in diesem Fall kann Director, Referent, oder jeder andere Rath es mit Bescheidenheit und Anstand erinnern.“77

Sollte ein Mitglied aufgrund des Votums eines anderen Rates zu einer abweichenden Überzeugung gelangen, als er sie in seinem Vortrag von sich gegeben hatte, kann er unverzüglich dies tun.78 Um allfällige der Diskussion vorausgehende Absprachen zu unterbinden, ordnete der Fürsterzbischof an: „Wir versehen Uns zwar sicher, es werde weder Director, noch ein Referent sich je einmal so weit vergessen, dass er im Voraus um beyfällige Vota unter was immer Vorwand werbe, ein so anderen seiner Miträthe durch Schmeicheleyen, Versprechungen, Drohungen, oder andere Gebrauchende Urtheile sich zu gewinnen suche, sohin in der Weise aus unzeitiger Vorliebe auf seine Meynung, oder aus anderen gewissenlosen Absichten mit offenbaren Partey Geist in die Stube der Gerechtigkeit eintrete; doch wollen Wir auf den Fall, wenn auch nur der mindeste Argwohn deßhalb entstehen sollte, eine unrükhaltige Anzeige an Uns erwarten, um die ferneren Maßnahmen hienach bestimmen zu können.“79

Sollte ein votierender Rat aufgrund von Verwandtschaft oder „anderweitigbesonders nahes Verbindniß“, oder aus sonstigen Gründen in Beziehung zu einer Sache oder Person stehen, so dass er „als ein ganz unparteyischer Richter nicht

74

Absaz V. § X.

75

Absaz V. § I. und II.

76

Absaz V. § III.

77

Absaz VI. § IV.

78

Absaz VI. § V.

79

Absaz VI. § VI.

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angesehen werden mag“, dann soll der „Director“ ihn noch rechtzeitig vom Vortrag der Proposition entpflichten „oder wenigstens nicht mitvotieren lassen“.80 Wenn alle Räte ihr Votum vorgetragen haben, „dann wird das eigentliche Conclusum auf der Stelle zu Protokoll genommen, selbes hat der Director in die Feder zu geben, damit es deutlich, bestimmt und erschöpfend gefasst werde“.81 Dieses „Conclusum“ muss den Abschluss des Beratungs- und Abstimmungsvorganges „wörtlich, ganz, und nach allen verschiedenen Punkten enthalten, wenn es deren mehrere hat“. Auch ist die Zahl der Stimmen anzugeben; jeder Rat kann im Protokoll vermerken lassen, dass er eine von der Mehrheit abweichende Meinung kundgetan habe. Wurde ein Referent überstimmt, solle dies auf einem eigenen Blatt vermerkt und dem Akt beigelegt werden, „damit man auf alle Fälle in die Hinkunft wissen möge, aus welchen Gründen das Plenum von der Meynung des Referenten abgewichen sey“.82 Über die Vota und Schlussfolgerungen „ist unverbrüchlich-heiliges Stillschweigen zu halten“. Auch solle der bestellte Referent vor den Parteien, „solange es thunlich und möglich seyn wird“, geheim gehalten werden.83 Ist eine Sache im Plenum abgeschlossen worden, muss in der Kanzlei unverzüglich an den Entwurf der „Expeditionen“ geschritten werden. „In wichtigen Gegenständen, besonders in Rechts-Stritten, wo oft die Wesenheit in einem einzigen Wort liegen kann, hat der Referent mit der Relation auch gleich den Expeditions Aufsaz mitzubringen, und in pleno abzulesen, damit solcher daselbst beurtheilet und gutgeheissen werden möge.“84

Alle anderen Expeditionen liegen in den Händen des Sekretärs, der auf Klarheit und Schnelligkeit in der Ausfertigung Bedacht zu nehmen und die vorgeschriebenen Formalia zu beachten hat. An Stelle der bisher üblichen drei Unterschriften reichen in Zukunft zwei aus: An erster Stelle der Präsident oder Direktor oder Kanzler, an zweiter Stelle der Sekretär oder ein Rat. Auch sollen die Expeditionen nicht „übertrieben vervielfältiget werden“. Bei Jahrtags-, Jahrmeß- oder anderen ewigen Stiftungen, bei Veränderungen von Koadjutoren, bei den alle drei Jahre notwendigen Erneuerungen bestimmter Vollmachten und Erlaubnisse sollen nach dem Willen des Fürsterzbischofs „besser ordentliche gedrukte Formularien verwendet werden, damit ihnen nur 80

Absaz VI. § VI.

81

Absaz VI. § VII.

82

Absaz VI. § VIII.

83

Absaz VI. § IX.

84

Absaz VII. § I.

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die Namen und andere Specialien eingesezet werden dörfen, sohin das unnüze Vielschreiben ersparet werde“.85 Der „Expeditor“ kann die Expeditionen entweder den Parteien und Boten persönlich aushändigen oder „durch den Kanzley Cursor an die Behörden“ überbringen lassen. Keinesfalls dürfen andere Personen, wie z.B. die eigenen Dienstboten, mit der „Austragung derley Expeditionen“ betraut werden. Zum Nachweis der tatsächlich geschehenen Übergabe an die Adressaten kann sich der Bote oder Cursor „einen Empfangs-Schein des Expediti geben lassen“.86 Beim Expedit ist außen die im „Tax Ordnungs Buch“ festgelegte Gerichtstaxe anzumerken, damit diese sogleich im Zuge des Überbringens des Expedits bar eingehoben werden kann. So werde auch für eine problemlose und rasche Erledigung einer Sache gesorgt.87 V. Registratur und Aufbewahrung der Akten Die Aufbewahrung der Akten hat sorgfältig, sicher (z. B. „vor dem Moder“) und so zu geschehen, dass sie im Falle der Notwendigkeit wieder leicht gefunden und hervorgeholt werden können.88 „Die Registratur ist eigentlich zur Hinterlegung aller der Acten gewidmet, welche bey der Stelle aufzubewahren sind; daher ist weder dem Director, noch einem anderen Rath erlaubt, sich eine Privat-Registratur zu halten …. Deßhalb verordnen Wir auch gemessenst, dass jeder Rath seine Elaborate, Concepten usw. jedes Mal in originali ad Registraturam den Acten beylegen lasse, nicht aber bey sich im Hause zurückbehalte.“89

In der Registratur ist „ein sogenanntes Retardaten oder Currentien-Protokoll zu führen. In diesem wird getreu, aber nur ganz kurz jedes Stük vorgemerket, das einem Referenten zugetheilet oder worüber weiterer Bericht und Auskunft abgefordert worden, mit Beysaz des Tages, wenn die Zutheilung beschehen, oder die Expedition abgeschlossen ist, und ob ein Termin präfigiret worden sey oder nicht“.90

Dieses Protokoll ist einmal im Monat dem Direktor und von diesem dem Plenum zur Einsichtnahme vorzulegen, damit Rückstände in der Erledigung 85

Absaz VII. §§ II. – VI.

86

Absaz VIII. § I.

87

Absaz VIII. § II.

88

Absaz VIII. § III.

89

Absaz VIII. § IV.

90

Absaz VIII. § IX.

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oder andere Mängel festgestellt werden und für deren Behebung Vorsorge getroffen werden kann. Weiters ist ein eigenes Buch zu führen über die „ergehenden Generalien, Circulare, Normalien usw.“.91 Weitere detaillierte Vorschriften über die Verwahrung und Sicherung von Akten und deren Weitergabe finden sich im „Absaz VIII.“92 und betreffen vor allem auch das Verbot, unbefugten Personen den Zutritt zur Registratur zu gestatten. VI. „Schluß der Raths-Ordnung“ Damit die Konsistorialordnung „immerdar getreu eingehalten werde, auch nicht so leicht wieder ausser Gedächtniß und Uibung komme“, gab Fürsterzbischof Colloredo die Weisung, diese „Raths-Ordnung“ zu Beginn jeden Gerichtsjahres „bei der ersten Session in Pleno ganz“ abzulesen und das Original dieser Raths-Ordnung „immer auf dem Rath-Tisch“ aufliegen zu lassen. Für jeden einzelnen Rat kann von diesem Original der Gerichtsordnung eine Abschrift gemacht werden. Und zudem verlangte der Fürsterzbischof, „dass die Punkte, welche die Registratur und Kanzley betreffen, davon ausgezogen, und ein derley Extract in dem einen, wie in dem anderen Or zur fürwährenden Einsicht öffentlich angeschlagen werde“.93 Nach dem erfolgten Ablesen der RathsOrdnung zu Jahresbeginn muss „ein umständliches Referat“ über die praktische und getreue Einhaltung der einzelnen Bestimmungen durch die im Konsistorium tätigen Personen gehalten werden. Es darf dabei keinesfalls verschwiegen werden, „welche Mängel oder Gebrechen etwa hie und da wieder einzuschleichen beginnen“. Auch sollen immer wieder Vorschläge zur Verbesserung und Abänderung der Raths-Ordnung überlegt werden. Nicht zuletzt ist auch anzusprechen, wer im Konsistorium „auf wesentlichen Uibertretungen“ schuldig geworden sei und „welche sich in Genauigkeit, Integrität, Gehorsam usw. vorzüglich ausgezeichnet haben“.94 Dem Direktor und auch jedem anderen Rat ist während des Jahres jederzeit gestattet, sich an den Fürsterzbischof zu wenden, „um Anzeige zu machen, wo er eine dieser klaren Ordnung zuwiderlaufende Handlung wahrnimmt, oder eine wichtige Verbesserung an Handen geben zu können glaubet“.95

91

Absaz VIII. § VIII.

92

Absaz VIII. § V. – VII.

93

Schluß der Raths-Ordnung. § I.

94

Schluß der Raths-Ordnung. § II.

95

Schluß der Raths-Ordnung. § III.

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Hans Paarhammer

In einer Schlussklausel stellt der Fürsterzbischof unerbittlich fest: „Bis Wir nicht diese unsere für alle Hinkunft festgesetzte Ordnung im Ganzen zurückrufen, oder durch einzelne Nachträge hie und da abändern werden, insolange hat sie nach ihrem vollen Inhalt ein unabbrüchiges Gesez für unser Consistorium zu seyn. Gegeben in unserer Haupt- und Residenz-Stadt Salzburg, den achten Monaths Tag Juny in ein tausend siebenhundert und sechs und achtzigsten Jahre. Hieronymus m.p.“96

VII. Gesamtwürdigung dieser Konsistorialordnung Im Vergleich zu früheren gesetzlichen Maßnahmen zur Ordnung der geistlichen Gerichtsbarkeit im Konsistorium handelt es sich bei der von Fürsterzbischof Hieronymus Colloredo promulgierten Konsistorial-Raths-Ordnung um die umfangreichste und ausgefeilteste. Unverkennbar sind in den einzelnen Punkten die vom Geiste des Josephinismus geprägten Anordnungen zur strengen Sachlichkeit und sorgfältigen Pflichterfüllung. Alle im Konsistorium mit Aufgaben betrauten Personen mussten sich ständig vor Augen halten, dass sie sozusagen zu den „Spitzenbeamten“ im geistlichen Fürsterzbistum zählen und eine besonders wichtige Vertrauensstellung zum Wohl von Land und Leuten einnehmen. Deshalb stechen auch immer wieder disziplinelle Anweisungen hervor. In Anbetracht des um die Jahrhundertwende bevorstehenden völligen Umbruchs der politischen Verhältnisse, kam dem Konsistorium eine entscheidende Brückenfunktion zu zwischen dem von der Säkularisation schwer getroffenen geistlichen Fürstenstaat und dem kirchlichen Leben, das es im Blick auf die Förderung von Gerechtigkeit und Frieden sowie auf die „salus animarum“ unter geänderten Vorzeichen in „bischofloser Zeit“ zu erhalten galt. „Die ersten beiden Jahrzehnte nach der Säkularisation, der bislang tiefsten Zäsur in der Geschichte Salzburgs, bedeuteten für die Salzburger Kirche eine nie gekannte Krise und Verunsicherung in allen Bereichen. Diese in erster Linie politischen Vorgänge hatten negative Auswirkungen auch auf das kirchliche Leben – mit nachhaltigen Folgen. Eine jahrzehntelange faktische Führungslosigkeit ließ letztlich die positiven Ansätze der Aufklärung in voller Breite scheitern: Eine fragwürdige Vermittlung, die diese an sich guten Ideen nicht im Volk Fuß fassen ließ, hatte ungeplante Auswüchse einerseits und fanatische Gegenströmungen andererseits hinterlassen. … Der mehrmalige opferreiche politische Wechsel der Herrschaft über das Land und die jeweils vorausgehende Infragestellung

96

Schluß der Raths-Ordnung. § IV.

Consistorial-Raths Ordnung

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des Weiterbestandes nahmen der Diözese mitsamt ihren dezimierten Amtsträgern jedes Selbstvertrauen.“97 Dem Konsistorium kam in dieser Zeit voller Bedrängnisse eine nicht zu unterschätzende Funktion für Stabilität und Kontinuität zu, bis mit dem neuen Fürsterzbischof Augustin Gruber (1823 – 1835) die Erzdiözese wieder ein geistliches Haupt bekommen hatte. Die Wiederherstellung des Domkapitels am 25. März 1825 führte auch zu einer neuen Form der Leitung der geistlichen Behörden. „Die neuen Domherren kamen aus dem Konsistorium, das den Quasi-Generalvikar Franz X. Hochbichler seit 1777 in unsicheren Zeiten unterstützt hatte, zugute. Die Aufwertung des Konsistoriums zum wichtigsten Beratungsorgan des Bischofs (bis heute) geschah mit der Übernahme des Vorsitzes durch Gruber selbst.“98

97 Hans Spatzenegger, Die katholische Kirche von der Säkularisation (1803) bis zur Gegenwart, in: Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, hrsg. v. Heinz Dopsch / Hans Spatzenegger, Band II. Neuzeit und Zeitgeschichte. 3. Teil, Salzburg 1991, S. 1429. 98

Ebd., S. 1439.

Die „Salzburger (Gottes-)Ehen“ und deren Erfinder Von Alfred Rinnerthaler Johannes Mühlsteiger hat sich in seiner Habilitationsschrift mit der Geschichte des Eherechts in Österreich auseinandergesetzt,1 weshalb ich für seine Festschrift zum 80. Geburtstag ebenfalls dieses Thema gewählt habe. Die „Salzburger Ehen“ sind ein Resultat des josephinischen Eherechts und der von diesem aus dem kanonischen Recht übernommenen Unauflöslichkeitsdoktrin.2 Diese Unauflöslichkeitsdoktrin wurde hinsichtlich der Ehen von katholischen Personen auch in das ABGB 1811 übernommen,3 galt jedoch nicht in seiner vollen Härte für die Ehen von „nicht katholischen christlichen ReligionsVerwandten“4 und für die Ehen von Juden.5 Die Möglichkeit der Beendigung einer nichtkatholischen Ehe wurde als „Trennung“ – dem (Ehe-)Bande nach – bezeichnet. Unter „Scheidung“ verstand man im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwas völlig anderes als heute, nämlich die gerichtlich ausge1

Johannes Mühlsteiger, Der Geist des josephinischen Eherechts (= Forschungen zur Kirchengeschichte Österreichs, 5), Wien / München 1967. 2

§ 36 des Patents vom 16. Jänner 1783: „Wenn der Vertrag der Ehe auf die bisher verordnete Art eingegangen worden, so soll derselbe unauflöslich seyn, und dieses Band, so lang beide Eheleute leben, unter keinem Vorwande getrennet werden können“ (Josephs des Zweyten Römischen Kaisers Geseze und Verfassungen im Justizfache, Prag und Wien 1786, S. 192 – 203, hier S. 198). 3

§ 111 ABGB: „Das Band einer gültigen Ehe kann zwischen katholischen Personen nur durch den Tod des einen Ehegatten getrennt werden. Eben so unauflöslich ist das Band der Ehe, wenn auch nur ein Theil schon zur Zeit der geschlossenen Ehe der katholischen Religion zugethan war.“ 4 § 115 ABGB: „Nicht katholischen christlichen Religions-Verwandten gestattet das Gesetz, nach ihren Religions-Begriffen aus erheblichen Gründen die Trennung der Ehe zu fordern. ...“ 5 § 133 ABGB: „Eine gültig geschlossene Ehe der Juden kann mit ihrer wechselseitigen freyen Einwilligung vermittelst eines von dem Manne der Frau gegebenen Scheidebriefes getrennt werden; ...“. § 135 ABGB: „Wenn die Ehegattin einen Ehebruch begangen hat, und die That erwiesen wird, so stehet dem Manne das Recht zu, sie auch wider ihren Willen durch einen Scheidebrief von sich zu entlassen.“

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Alfred Rinnerthaler

sprochene Bewilligung, dass die Ehepartner ihr gemeinsames Zusammenleben beenden können, sich also von Tisch und Bett trennen dürfen,6 bei grundsätzlicher Aufrechterhaltung des Ehebandes. D. h., Geschiedene blieben weiter verheiratet und hatten daher nicht das Recht, eine neue Ehe einzugehen. Das Scheidungsrecht war nicht wie das Recht zur Trennung religiös differenziert, sondern für alle Bekenntnisse gleich. Die strenge Geltung der Unauflöslichkeitsdoktrin für die Ehen von Katholiken brachte natürlich große gesellschaftliche Spannungen mit sich und förderte immer neue Versuche von Gesetzesumgehungen. Zu diesen gehörten neben den „Salzburger Ehen“ zum Beispiel die „Siebenbürgischen Ehen“7 und die sogenannten „Sever- oder Dispensehen“8. Im folgenden Beitrag, den ich mit meinen

6

§§ 103 – 110 ABGB.

7

Wilhelm Fuchs, Das Ehehindernis des bestehenden Ehebandes nach österreichischem Rechte und seine Umgehung, Wien 1879; ders., Siebenbürgische Ehen, in: Juristische Blätter 8 (1879), Nr. 48, S. 589 – 592, 9 (1880), Nr. 21, S. 243 – 246, und 12 (1883), Nr. 12, S. 133 – 134, und Nr. 13, S. 145 – 147; ders., Die sogenannten Siebenbürgischen Ehen und andere Arten der Wiederverehelichung geschiedener österreichischer Katholiken, Wien 1889; Christa Pelikan, Aspekte der Geschichte des Eherechts in Österreich, Wien 1980; Eduard Rittner, Auch einiges über die „Siebenbürger Ehen“, in: Allgemeine Österreichische Gerichtszeitung 31 (1880), S. 37 – 39; K. Slasz, Die Siebenbürgischen Ehen, Juristische Blätter, Heft. 20 und 21 (1880), S. 231 – 234 und 243 – 246. 8

Adolf Bachrach, Der Verfassungsgerichtshof und die Dispensehen, in: Österreichische Anwalts-Zeitung, 4 (1927), Nr. 23, S. 381 – 383; Karl Coulon, Über die Dispensehen, in: Notariats-Zeitung, 63 (1921), Nr. 3, S. 17 – 19, und Nr. 4, S. 32 –35; Albert Ehrenzweig, Die Dispensehe im Kompetenzkonflikt, in: Juristische Blätter 57 (1928), Nr. 7, S. 133 – 136, und Nr. 9, S. 193 f.; Gustav Hanausek, Die Gültigkeit der Dispensehen, in: Notariats-Zeitung 62 (1920), Nr. 7, S. 72 f., und Nr. 8, S. 77 f. und 88 f.; Max Hantsch, Dispensehen, in: Gerichts-Zeitung 72 (1921), Nr. 2, S. 25 – 28; Ulrike Harmat, Ehe auf Widerruf? Der Konflikt um das Eherecht in Österreich 1918 – 1938 (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, 121), Frankfurt/Main 1999; Alphons Klezl, Die sogenannte Dispensehe und ihre rechtliche Beurteilung, Leipzig / Wien 1928; Hermann Kraszna / Karl Braun, Die Dispensehe. Ein Führer durch alle mit der Dispensehe zusammenhängenden Fragen unter Berücksichtigung des Eherechts und des Rechts auf Witwenpension. Mit Anhang der Formulare und Gesetzestexte, Leipzig / Wien / Berlin 1933; Robert Neumann-Ettenreich, Die Dispens vom Ehehindernisse des Ehebandes, in: Gerichts-Zeitung 71 (1920), Nr. 29 – 32, S. 177 f.; Wilhelm Pappenheim, Erlaubnis zur Bigamie?, in: Juristische Blätter 48 (1919), Nr. 37/38, S. 290 f.; ders., Dispensehen. Ein Epilog zur administrativen Bigamie, ein Prolog zu einer legislativen Regelung der Frage, in: Juristische Blätter 50 (1921), Nr. 19/20, S. 145 – 147; Georg Petschek, Eine Wendung in der Behandlung der Dispensehen, in: Zentralblatt für die Juristische Praxis 45 (1927), S. 191 – 196; Gustav Ratzenhofer, Die österreichische Eherechts-Unordnung,

Die „Salzburger (Gottes-)Ehen“ und deren Erfinder

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besten Wünschen Johannes Mühlsteiger zum 80. Geburtstag zueignen möchte, werde ich mich noch einmal mit den wissenschaftlich wenig aufgearbeiteten „Salzburger Ehen“ auseinandersetzen und der Frage nachgehen, wer denn nun eigentlich deren Erfinder gewesen ist. I. Das „Salzburger Klima“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts Salzburg war an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine österreichische Provinz von marginaler Größe und Bedeutung. Dieses Kronland lässt sich in der damaligen Zeit charakterisieren als ein von einem dominant-katholischen Milieu geprägtes „katholisches Dorado“, das sich allerdings zunehmend mit einer „rabiaten antiklerikalen Minderheit“ konfrontiert sah. Zu diesen Antiklerikalen gehörten ab 1899 die „Los-von-Rom-Bewegung“, der 1901 gegründete Hochschulverein, der 1903 konstituierte „Freidenkerverein“, der Feuerbestattungsverein die „Flamme“ (in Salzburg seit 1905 tätig), der Verein „Freie Schule“ und die Salzburger Ortsgruppe der „katholischen Geschiedenen“.9 Etwa ab dem Jahr 1907 kam es in Salzburg zu gut besuchten antiklerikalen Massenversammlungen, aus denen das so genannte „Antiklerikale Kartell“ erwuchs. Die Konfrontation der Katholischen Kirche mit diesen antiklerikalen Kräften könnte man als den „zweiten Kulturkampf“10 bezeichnen. Dabei ging es nicht mehr um eine Abgrenzung der Sphären von Kirche und Staat, sondern

in: Gerichts-Zeitung 75 (1924), Nr. 11, S. 169 – 171; ders., Das zweite Gutachten über die Dispensehe – eine versäumte Gelegenheit, in: Gerichts-Zeitung 79 (1928), Nr. 9, S. 129 – 132; Josef Stiefvater, Aufkommen und Geschichte der sog. Dispensehen in Österreich, Diss. Wien 1947; Moritz Ludwig Weiss, Zur geänderten Judikatur des Verfassungsgerichtshofes in Dispensehesachen, in: Österreichische Anwalts-Zeitung 7 (1930), Nr. 19, S. 341 – 346; Otto Weinberger, Die Nichtigkeit der Dispens vom Ehehindernisse des Ehebandes, in: Gerichts-Zeitung 71 (1920), Nr. 25 – 28, S. 171 – 176; ders., Die Nachsicht vom Ehehindernisse des Ehebandes. Eine Replik, in: GerichtsZeitung 71 (1920), Nr. 41 – 44, S. 233 – 236; Friedrich Woess, Die Dispens vom Hindernisse der bestehenden Ehe, Innsbruck 1920; Felix Wolff, Die derzeitige Dispensationspraxis beim Ehehindernisse des Ehebandes, in: Gerichts-Zeitung 70 (1919), Nr. 31/32, S. 246 – 248; ders., Dispens vom Ehehindernis des § 62 ABGB, in: GerichtsZeitung 70 (1919), Nr. 21/22, S. 172. 9 Rupert Klieber, Politischer Katholizismus in der Provinz. Salzburgs Christlichsoziale in der Parteienlandschaft Alt-Österreichs (= Veröffentlichungen des Internationalen Forschungszentrums für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg, 55), Wien / Salzburg 1994. 10

So Hans Haas, Vom Liberalismus zum Deutschnationalismus, in: Heinz Dopsch / Hans Spatzenegger (Hrsg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. II/2, Salzburg 1991, S. 833 – 900, hier S. 862.

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Alfred Rinnerthaler

um eine Auseinandersetzung zwischen Glauben und Unglauben, zwischen der Katholischen Kirche einerseits und dem Protestantismus, Altkatholizismus und Atheismus andererseits. Aus der Sicht des erzbischöflichen Ordinariats war das „Antiklerikale Kartell“ eine Mischung von Apostaten und kirchenfeindlichen Katholiken, „die nur Eins sind im Hasse gegen alles Katholische; die Altkatholiken und Protestanten halten Versammlungen auf Versammlungen ab, bei welchen ausschließlich die katholische Kirche in ihren Einrichtungen, Lehren, ja in ihrem ganzen Wesen Gegenstand der schmählichsten Angriffe und Entstellungen ist. Die k. k. Kommissäre wohnen diesen Hetzversammlungen in einer Weise bei, dass das Volk den entmutigenden Eindruck gewinnen muss, die Religion des Kaiserhauses und Großteiles unseres Volkes sei in Österreich vogelfrei; das umsomehr, da jene Paragraphen des Strafgesetzes, welche die Religion, die Einrichtung einer staatlich anerkannten Kirche schützen, nur mehr zu Gunsten der katholikenfeindlichen Elemente zu existieren scheinen. Dass das Resultat solcher Versammlungen stets zahlreiche Apostasien sind, ist leicht begreiflich. Wie sollte es auch anders sein? Vor Leuten, welche ihrer großen Mehrzahl nach wissenschaftlich namentlich theologisch ungebildet sind, wird mit scheinbar wissenschaftlicher Gründlichkeit die katholische Kirche angegriffen, ihre Einrichtungen werden entstellt ja nicht selten lächerlich gemacht; unter dem Schlagworte ‚Klerikalismus‘ werden die Priester der katholischen Kirche mit dem Kothe der Verleumdung überschüttet und dem Hasse einer leichtgläubigen Menge preisgegeben. Sind die Gemüter durch die Hetzreden genug erhitzt, ist der Verstand vom Alkohol um die ruhige Überlegung gebracht, dann erschallt der Ruf ‚Los von Rom!‘ und die Abfallsbögen flattern durch die Versammlung. Was Wunder, wenn Leute, welche durch die Lektüre des ‚Salzburger Volksblatt‘, der ‚Salzburger Wacht‘ und des ‚Grobian‘ für den Abfall vorbereitet sind, unter solchen Umständen den verderbenbringenden Schritt tun? Ob der unter diesen Verhältnissen erfolgte Austritt wirklich eine Frucht jener reifen und ruhigen Überlegung ist, die einem so folgenschweren Entschlusse vorausgehen sollte? Ob da jener Geistes- und Gemütszustand vorhanden ist, der im Artikel 4 des Gesetzes vom 25. Mai 1868 für den Religionswechsel gefordert wird? Die ruhig denkende Vernunft antwortet mit ‚Nein‘. Auch die Presse in ihren alle Grenzen übersteigenden Angriffen auf das Katholische scheint vollständig freie Hand zu haben. Neben dieser öffentlichen Hetze bedienen sich die Feinde der katholischen Kirche mehr der Öffentlichkeit entrückter, aber deshalb nicht weniger wirksamer Mittel Abfälle zu erzielen.“11

Vor allem auf den zahlreich besuchten Versammlungen der Sozialdemokratie kam es zu einer heftigen Abfallpropaganda, deren Erfolge sich zunächst in bescheidenem Ausmaß hielten. Während sich die Austritte aus der Katholischen Kirche in den ersten Jahren auf höchstens 154 per anno beliefen, wuchs

11

KAS 12/51 Akatholiken, Rundschreiben des (fürst)erzbischöflichen Ordinariats an den Seelsorgeklerus im Lande Salzburg vom 9. August 1910.

Die „Salzburger (Gottes-)Ehen“ und deren Erfinder

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deren Zahl im ersten Halbjahr 1910 auf beinahe 200 an. Dies rief das erzbischöfliche Ordinariat auf den Plan, das im Weg eines Rundschreibens an den katholischen Seelsorgeklerus diesen zu Protesten an das Landespräsidium aufforderte. Dadurch sollten die Behörden zum Eingreifen bewogen werden, die der „fortwährenden Störung des konfessionellen Friedens, dieser Herabwürdigung der katholischen Kirche und ihrer Institutionen ein Ende“ bereiten sollten.12 Aber auch die Evangelische und Altkatholische Kirche waren als Mitwirkende im antiklerikalen Kartell erklärte Feindbilder für die Katholische Kirche. „Die Protestanten haben hier in Salzburg eine Missionsstation gegründet. Zweck dieser Neugründung, die sich gesetzlich nicht hindern lässt, ist nach dem, was man bisher erfahren hat, im Stillen gegen die katholische Kirche zu wühlen und für das ‚reine Evangelium’ Propaganda zu machen. Es hat den Anschein als wolle man in aller Stille auf das Land hinaus dringen und daselbst in den bisher ruhigen katholischen Gemeinden das Volk gegen den angestammten katholischen Glauben aufhetzen und seiner Mutter, der Kirche, abtrünnig machen. Sie, die in ihren eigenen Ländern mehr als genug Ursache hätten, Missionstätigkeit zu entfalten, dringen in katholische Gebiete ein, durch ihre Angriffe auf unseren Glauben den konfessionellen Frieden zu gefährden (sic!). Und der Staat schützt sie! Ob wir auch diesen Schutz fänden, wenn wir unsere Missionäre in rein protestantische Gegenden senden würden, damit sie daselbst Proselytenmacherei betreiben? Also ein konzentrischer Kampf gegen die katholische Kirche im Lande Salzburg! Keiner Gemeinde sollen diese teils offenen, teils versteckten Angriffe auf die katholische Kirche erspart bleiben! Das Gift des Glaubenshasses und Abfalles soll in die entlegensten Winkel unseres Kronlandes hinausgetragen werden! Man will Salzburg dem Protestantismus ‚zurückerobern‘.“13

Fast noch intensiver als mit der Evangelischen Kirche waren die Kontroversen mit der Altkatholischen Kirche. Dies hat möglicherweise damit zu tun, dass die altkatholische Kirchengemeinde in Salzburg durch die Aktivitäten eines irregulären Geistlichen der Katholischen Kirche mit aufgebaut worden war. Dieser Geistliche hieß Johann Kirchsteiger14 und hatte sich aufgrund tiefgreifender Zerwürfnisse mit der kirchlichen Obrigkeit in Salzburg einen Namen als

12

Muster eines vom erzbischöflichen Ordinariat konzipierten Protestschreibens aus dem Jahr 1910, KAS 12/51 Akatholiken. 13 14

KAS 12/51 Akatholiken (wie Anm. 11).

Zu Kirchsteiger siehe Alfred Rinnerthaler, Johann Kirchsteiger und seine „Salzburger Ehen“, in: Ulrike Aichhorn / Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), Scientia iuris et historia. Festschrift für Peter Putzer zum 65. Geburtstag, Bd. II, Egling an der Paar 2004, S. 823 – 867; ebenso Gertraud Steiner, Literaturbilder. Salzburgs Geschichte in literarischen Porträts. Mit historischen Kommentaren von Sabine Falk-Veits, SalzburgMünchen 1998, S. 10 – 18.

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Alfred Rinnerthaler

Verfasser einer Reihe kirchenkritischer Schriften gemacht. Auch hatte er im Rahmen der sogenannten „Los-von-Rom-Bewegung“15 zahlreiche antiklerikale Vorträge und Vorlesungen gehalten und auf sozialdemokratischen Parteiveranstaltungen und bei Massenveranstaltungen des „Vereins deutscher Altkatholiken“ für den Abfall von der Katholischen Kirche geworben. Vermutlich wurden von Kirchsteiger sogar einige hundert Personen zum Übertritt zur Altkatholischen Kirche motiviert.16 Nicht umsonst gilt Kirchsteiger bis heute – obwohl er persönlich nie aus der Katholischen Kirche ausgetreten ist – als einer der Väter der Altkatholischen Gemeinde in Salzburg. Er selbst äußerte sich über sein diesbezügliches Engagement: „Die Altkatholiken Salzburgs nennen mich den Vater ihrer Gemeinde und ich freue mich über diesen Ehrentitel. Als katholischer Priester habe ich nur meine Pflicht erfüllt, wenn ich gesagt habe, dass das gute Volk wieder Gottes Wort hören, dass es wieder in Andacht beten und glückselig sterben kann, ganz so wie die ersten Christen.“17

15

Siehe hierzu u. a. Lothar Albertin, Nationalismus und Protestantismus in der österreichischen Los-von-Rom-Bewegung, Diss. Köln 1953; Ulfried Burz, „Katholisch sein, heißt deutschfeindlich sein“. Die Los-von-Rom-Bewegung in Kärnten, in: Wilhelm Wadl (Hrsg.), Kärntner Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift Alfred Ogris zum 60. Geburtstag, Klagenfurt 2001, S. 465 – 476; G. David, Werdegang der Los-vonRom-Bewegung bis anfangs 1899, o.O. 1906; Heiner Grote, Art. „Los-von-Rom-Bewegung“, in: TRE 21, 1991, S. 469 – 471; Rudolf Leeb, Der österreichische Protestantismus und die Los-von-Rom-Bewegung, in: Johannes Dantine u. a. (Hrsg.), Protestantische Mentalitäten, Wien 1999, S. 195 – 230; Maximilian Liebmann, Art. „Los-vonRom-Bewegung“, in: LThK 6, ³1997, Sp. 1061 f.; Gustav Reingrabner, Der Evangelische Bund und die Los-von-Rom-Bewegung in Österreich, in: Gottfried Maron (Hrsg.), Evangelische und Ökumenische Beiträge zum 100jährigen Bestehen des Evangelischen Bundes, Göttingen 1986, S. 258 – 271; Franz Stauracz, Los von Rom! Wahrheitsgetreue Schilderung der österreichischen Verhältnisse, Hamm in Westfalen 1901; Karl Reinhard Trauner, Wurzeln der Los-von-Rom-Bewegung unter besonderer Berücksichtigung der akademischen Kreise Wiens, Dipl.-Arb. Wien 1991; ders., Die Los-von-Rom-Bewegung. Gesellschaftspolitische und kirchliche Strömungen in der ausgehenden Habsburgermonarchie, Diss. Wien 1997. 16 Nach eigenen Angaben aus dem Jahr 1908 waren bis dato auf seinen Rat hin über 200 Personen der Altkatholischen Kirche beigetreten, andere waren – nach ihrem Austritt aus der Katholischen Kirche – protestantisch geworden oder konfessionslos geblieben. 17

Zitiert aus der Festschrift 50 Jahre Altkatholische Kirchengemeinde Salzburg, Salzburg 1972, S. 15. Zur Geschichte der Salzburger altkatholischen Gemeinde siehe auch Bernhard Heitz, Altkatholische Kirche Österreich, in: http://www.kult-co-tirol.at/anal_ d02.htm.

Die „Salzburger (Gottes-)Ehen“ und deren Erfinder

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Die Rivalität und Gegnerschaft gegenüber der Altkatholischen Kirche veranlasste das erzbischöfliche Ordinariat zu folgenden kritischen Äußerungen und Warnungen: „Ein altkatholischer ‚Pfarrer‘ scheint geschiedene Katholiken durch die Vorspiegelung zum Abfall zu bewegen, als Altkatholiken können sie wieder eine ‚legitime Ehe‘ schließen, während er sich den Behörden gegenüber mit der Phrase deckt, dass es sich nur ‚um einen rein kirchlichen Weiheakt‘ gehandelt habe. Dass so manche Katholiken auf diesen Köder gehen, davon hat das f.e. Ordinariat Beweise in der Hand und wenn auch die in dieser Angelegenheit eingeleiteten Schritte zur Hoffnung berechtigen, dass dem Manne dieses Handwerk gelegt werden wird, so kann bis zu jenem Zeitpunkte doch noch so mancher katholisch Geschiedene ein Opfer dieser Verführung werden. Wie wenige sind es, die den Paragraph 111 des a.b.G.B. kennen, der jede Ehe eines Katholiken so lange als ungiltig erklärt, als beide Teile leben! Der Seelsorgeklerus möge daher auf diese Art von Apostaten ein besonders wachsames Auge haben und nach altkatholischem Ritus geschlossene Ehen katholisch Geschiedener sofort mit den näheren, verlässlichen Daten anher zur Anzeige bringen. Hand in Hand mit diesem ‚Pfarrer‘ arbeitet im Stillen aber energisch und erfolgreich am Abfalle ein Altkatholik, dessen Name dem f.e. Ordinariate recht gut bekannt ist. Die zahlreich hier liegenden Abfallsbögen sind von seiner Hand ausgefüllt und nur vom Apostaten unterfertigt.“18

Ohne ausdrücklich einen Namen zu nennen wird hier eine Art kirchlicher Einsegnung einer ehewidrigen Beziehung angeprangert, die in der Folge als „Salzburger Ehe“ bekannt geworden ist. II. Die „Salzburger Ehen“ Als Schöpfer der Salzburger Ehen galt bislang Hans Kirchsteiger, der sich selbst als deren Erfinder bezeichnet hatte. Im „Salzburger Volksblatt“ und in der „Salzburger Wacht“ publizierte er unter der Überschrift „Salzburger Ehe“ den folgenden Aufruf: „Zu Pfingsten findet die erste Einsegnung gerichtlich geschiedener Katholiken in Salzburg statt. Jene Geschiedenen, welche für eine neue Verbindung den Segen eines katholischen Priesters wünschen, damit sie, was besonders für die Frauen wichtig ist, ohne Furcht vor Sünde leben können und von böswilligen Menschen sich nicht den Vorwurf des Konkubinates machen lassen müssen, werden ersucht, mir ihren Wunsch schriftlich bekannt zu geben. Erwähnt sei noch, dass deshalb ein Austritt aus der Kirche nicht notwendig ist. Jesus hat selbst gesagt: Mich erbarmet das Volk. Dasselbe Erbarmen ist Grund zu dieser Einladung.“19

18

KAS 12/51 Akatholiken (wie Anm. 11).

19

Salzburger Wacht vom 9. Mai 1912.

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Alfred Rinnerthaler

Die Resonanz auf diese Ankündigung war derart groß, dass sich Kirchsteiger außerstande sah, „die große Zahl der täglich einlaufenden Briefe in absehbarer Zeit handschriftlich zu beantworten“, weshalb er den Interessenten ein vorgedrucktes Flugblatt mit folgendem Inhalt zusandte: „Als katholischer Priester habe ich das traurige Los der geschiedenen Katholiken in Stadt und Land gründlich kennen gelernt, gewiss viel besser als Papst und Kaiser. Aber ich musste selbst ein alter Mann werden, bis ich einen Ausweg fand, heraus aus dem Tale der Tränen, in dem ein veraltetes Eherecht so viele österreichische Staatsbürger gefangen hält. ‚Salzburger Ehe‘ steht auf meinem Wegzeiger. Die Salzburger Ehe ist daher keine Ehe im Sinne des Staates und der Kirche. Ob wir die staatliche Zivilehe erleben, das weiß nur Gott allein, denn seine Stellvertreter werden es nie erlauben, dass österreichische Katholiken als Staatsbürger auch dieselben Rechte genießen dürfen, wie Juden und Protestanten. Es ist ganz natürlich, dass ich kleiner Priester um so weniger etwas tun kann, was der große Staat selbst nicht tun darf. Meine Einsegnung ist daher vor den weltlichen Behörden nicht rechtskräftig. (In Bezug auf Erbrecht, Pension, Meldewesen usw.) Ja, es ist sogar unbedingt notwendig, dass alle, die ihren Liebesbund von mir einsegnen lassen, früher einen Revers unterschreiben, worin sie ausdrücklich erklären, dass sie dabei auf keine staatlich giltige Ehe reflektieren. Diese Erklärung ist auch deshalb notwendig, damit sie nicht nachher wegen Bigamie angeklagt werden können. Aber was hat denn dann meine Einsegnung noch für einen Nutzen, wenn sie weder Staat noch Kirche als rechtmäßige Ehe anerkennen? Der Nutzen ist ein dreifacher. Fürs erste zur Beruhigung des Gewissens. Ich kenne so viele Frauen, die in treuer, opferreicher Liebe mit dem Manne, den sie nicht heiraten können, ihr Herz teilen, aber dabei sich recht unglücklich fühlen, weil das Gespenst der Sünde sie nicht wahrhaft glücklich werden lässt. Und dieses Gespenst wird gebannt, wenn ein geweihter katholischer Priester seinen Segen über den Liebesbund ausspricht. Wo ein Priester segnet, hat der Teufel keine Macht mehr. Aber viel wichtiger ist der zweite Vorteil. Wenn mein Segen auch weder von Staat noch Kirche als rechtsgiltige Ehe angesehen wird, aber vor der bürgerlichen Gesellschaft nimmt er den Fluch weg, mit dem die armen Geschiedenen bisher beladen sind. Ein von einem katholischen Priester gesegneter Herzensbund hört auf vor den Augen der bürgerlichen Gesellschaft ein Konkubinat, eine ‚wilde Ehe’ zu sein. Was ein Priester segnet, ist auch dem Volke heilig, ganz so wie bei der protestantischen Ehe. Es ist Lehre der katholischen Kirche, dass jede Verbindung, die nicht vor dem katholischen Priester geschlossen wird, ein Konkubinat ist. Konkubinat ist also nach der Dogmatik jede protestantische Ehe, die Ehe des deutschen Kaisers so gut, wie die des protestantischen Taglöhners. Aber das Volk selbst ist viel heller als die finstere Dogmatik. Das Volk hält jeden Protestanten für verheiratet, wenn diese Ehe auch nur ein Pastor geschlossen hat; aber um so eher wird die Gesellschaft einen Bund respektieren, den ein katholischer Priester gesegnet hat; mag dieser Bund auch hundertmal vor Staat und Kirche nicht gelten. Vor allen ehrlichen Menschen gilt er. Den armen Geschiedenen zu ihren bürgerlichen Ehren zu verhelfen, das ist der Hauptzweck meiner Einsegnung. Der Nutzen ist vor allem ein gesellschaftlicher, damit die Leute sich vor Gott und der Welt ehrlich lieben dürfen. Und der dritte Vorteil besteht nach meiner Überzeugung darin, dass ich durch Priesterhände auf Bergeshöhe einen kleinen Stein loslöse, der im Sturze immer mehr Felsen losbricht, die

Die „Salzburger (Gottes-)Ehen“ und deren Erfinder

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alle gegen die tönernen Füße des alten Kolosses unseres altersschwachen Eherechtes anprallen und das volksfeindliche Gesetz um so eher zum Falle bringen werden, je mehr Menschen nach dem Priestersegen auch beim Staate ihre Menschenrechte fordern. Meine Salzburger Ehe ist die Morgenröte, der die Sonne der Eherechtsreform folgen muss. Auch muss ich noch erwähnen, dass die von mir Eingesegneten, wenn der getrennte Eheteil stirbt, ihren Bund durch eine pfarrämtliche Ehe staatlich und kirchlich giltig machen können. Ich habe so wenig ein Privilegium, so wenig als ich durch meine Einsegnung die katholische Kirche bekämpfe. Um meines Segens teilhaftig zu werden, braucht niemand aus der katholischen Kirche auszutreten. Von einem Vorstoß gegen die Kirche kann um so weniger die Rede sein, weil Jesus Christus seine Kirche wahrlich nicht dazu gestiftet hat, um die Menschen unglücklich zu machen und sie der allgemeinen Verachtung preiszugeben, und weil er vor allem kein Gesetz gegeben hat, das den Geschiedenen eine zweite Ehe unmöglich machen würde.“20

Seitens des Salzburger Ordinariates sah man in diesem Vorhaben eine bewusste Irreführung von Geschiedenen, durch die viele zu der Meinung verleitet würden, „die Segnung Kirchsteigers sei mit der sakramentalen, vor Kirche u. Staat giltigen Ehe gleichbedeutend und sie werden demgemäß bei Taufen, Todfällen etc. vor dem Matrikenführer Angaben machen, die der Wirklichkeit nicht entsprechen.“

Aus diesem Grund verbot das Ordinariat dem unbotmäßigen Geistlichen strengstens die Vornahme der von ihm beabsichtigten Handlungen und machte ihn darauf aufmerksam, dass ein Zuwiderhandeln für ihn ernste Folgen haben könne.21 Auch an die Salzburger Landesregierung wandte sich das Ordinariat mit der Bitte, Kirchsteiger ausdrücklich sein Tun zu verbieten.22 Auf das „strenge Verbot, sich durch die Erfindung der Salzburger Ehen sein Brod zu verdienen“, reagierte Kirchsteiger mit folgender Erklärung: „Ebensogut könnte ihm ein hochwürdigstes f.e. Ordinariat im Namen des Gehorsames das Essen verbieten. So wenig sich der Magen um so ein Verbot kümmert, ebensowenig kann sich der Gefertigte verbieten lassen für den Magen zu sorgen. Und das Essen ist wahrlich kein Verstoß gegen die katholische Kirche.“23

20

KAS 12/79 (Personalakt Kirchsteiger), Flugblatt des Weltpriesters und Schriftstellers Hans Kirchsteiger vom Mai 1912. 21

KAS 12/70 (Personalakt Kirchsteiger), Kanzler Joseph Gruber an Hans Kirchsteiger, Weisung vom 11. Mai 1912. 22 KAS 12/25 Ry8, Das fürsterzbischöfliche Ordinariat Salzburg an die k. k. Landesregierung Salzburg, Anregung und Hilferuf vom 10. Mai 1912. 23

KAS 12/70 (Personalakt Kirchsteiger), Johann Kirchsteiger an das fürsterzbischöfliche Ordinariat Salzburg, Schreiben vom 16. Mai 1912.

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Alfred Rinnerthaler

Auch vor den angekündigten Konsequenzen zeigte Kirchsteiger keine Angst. Alles, was ihn noch treffen könnte, sei eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem großen „Elend, in dem er bereits seit 15 Jahren schmachtet, weil er schon so lange als Priester vom heiligen Altare ausgeschlossen ist und keine Hoffnung mehr hat, als Priester Gottes sterben zu können.“24

Die ersten Einsegnungen von Ehen Geschiedener fanden, wie geplant, zu Pfingsten 1912 (am 26. Mai) in der Privatwohnung Kirchsteigers statt: „Am Tische stand ein Kruzifix mit zwei brennenden Kerzen. Kirchsteiger hielt in Stola u. Talar erst an die Einzusegnenden eine Ansprache, die er mit dem Untergang der ‚Titanic‘ einleitete. Hernach wurde ihnen das Reuegebet vorgebetet, worauf alle niederknieten. Darauf habe er sie von ihren Sünden losgesprochen. Dann begann er die eigentliche Eheeinsegnung, wobei er ausdrücklich bemerkte, dass er diese Handlung nicht im Namen der Kirche oder des Staates, sondern ‚im Namen Gottes‘ vornehme. Dann ‚weihte‘ er den ‚Einzusegnenden‘ die Ringe, besprengte sie mit Weihwasser, worauf er sie nach Unterfertigung eines Reverses entließ.“25

Triumphierend meldete der „Erfinder“ am 28. Mai dem Ordinariat, dass er mit dem „ersten Ertrag“, also den Taxen (oder „Spenden“, wie er es sonst nannte) für die Einsegnung eine „alte Schneiderrechnung“ beglichen habe.26 Die öffentliche Meinung über die „Salzburger Ehen“ war gespalten. Von sozial-demokratischer Seite erachtete man diese als eine „höchst notwendige und ganz zeitgemäße Einführung“. Kirchsteigers Tat feierte man als „eine Pionierarbeit für den kulturellen Fortschritt. Mögen auch die Klerikalen gegen ihn wüten, es hilft nichts, den Grundstein zum Ausbau des staatlichen Eherechtes hat er doch zu Pfingsten gelegt und wenn Österreich endlich einmal in die Zahl der modernen Staaten zählen wird, wird gewiss Salzburg wegen der ‚Salzburger Ehen‘ in Ehren genannt werden.“27

Kirchlicherseits zeigte man sich hingegen besorgt und befürchtete einen allgemeinen Irrtum über den Charakter dieser Ehen. Daher startete man in der Presse eine diesbezügliche Aufklärungskampagne:

24

So Kirchsteiger in einem Schreiben an das fürsterzbischöfliche Ordinariat vom 28. Mai 1912 – KAS 12/25 Ry8. 25

Art. „Kirchsteigers ‚Salzburger Ehen‘“, in: Salzburger Chronik vom 30. September 1912. 26

So Kirchsteiger in einem Schreiben an das fürsterzbischöfliche Ordinariat vom 28. Mai 1912, KAS 12/25 Ry8. 27

Art. „Die Salzburger Ehe“, in: Salzburger Volksblatt vom 29. Mai 1912.

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„Herr Johann Kirchsteiger in Salzburg hat sich durch öffentliche Erklärung in kirchenfeindlichen Blättern erbötig gemacht, ‚Einsegnungen‘ gerichtlich geschiedener Katholiken, die eine andere eheliche Gemeinschaft zu Lebzeiten des geschiedenen Teiles suchen, vorzunehmen. Kirchsteiger besitzt absolut keine Befugnis zu kirchlichen Funktionen. Kirchsteiger muss es selbst sehr gut wissen und jeder, der die Gesetze der Kirche und des Staates auch nur oberflächlich kennt, weiß es, dass eine anderweitige Verbindung eines geschiedenen Katholiken durch eine solche ‚Einsegnung‘ nicht erlaubt und noch weniger eine gültige Ehe wird, sondern nach wie vor vor dem Gewissen, vor der Kirche und vor dem österreichischen Staate ein ehebrecherisches Konkubinat bleibt. Die Kinder, die einer derartigen Lebensgemeinschaft eines geschiedenen Katholiken entstammen, sind und bleiben auch nach Kirchsteigers ‚Einsegnung‘ vor der Kirche und dem Staate unehelich, müssen als unehelich in die Matriken eingetragen werden, haben den Mädchennamen der Mutter zu führen und entbehren aller familienrechtlichen, erbrechtlichen und sonstigen mit der Legitimität verbundenen Ansprüche. Kirchsteigers neueste ‚Erfindung‘ ist daher eine verhängnisvolle Irreführung Unwissender.“28

Um die Folgen der Irreführung möglichst gering zu halten, bat das Ordinariat die Bezirkshauptmannschaften und die Stadtgemeindevorstehung, alle Hebammen im Land Salzburg „im Interesse einer einwandfreien Matrikenführung anzuweisen, die ... zu erstattenden Angaben hinsichtlich der Eltern in jedem einzelnen Geburtenfalle dem zuständigen Seelsorger auf das genaueste mitzuteilen. Insbesondere sind die auf die Eheschließung der Eltern bezüglichen Daten gewissenhaft zu erheben und den SeelsorgeOrganen wahrheitsgetreu bekannt zu geben.“29

Die kirchliche Abwehrfront und die Einleitung eines Strafverfahrens gegen seine Person blieben Kirchsteiger natürlich nicht verborgen. Deshalb trachtete er danach, dass ihm eine bewusste Irreführung der Parteien nicht zur Last gelegt werden könne, indem er gewissenhaft darauf achtete, dass die Ehewerber noch vor der Einsegnung das folgende Schriftstück unterschrieben:

28 29

Art. „Salzburger Ehen“, in: Linzer Volksblatt vom 6. Juni 1912.

KAS 12/25 Ry8, Erlass des Landespräsidenten vom 18. Juni 1912, Zl. 2075/Präs., an alle k. k. Bezirkshauptmannschaften und die Stadtgemeindevorstehung.

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„Z: ............. Revers. Indem wir den hochw. Herrn Hans Kirchsteiger, kath. Weltpriester zu Salzburg, bitten, dass er unserem Bund der Liebe und Treue den heiligen Priestersegen spende, damit unsere Verbindung vor Gott dem Vater der Liebe zum Sakramente wird und wir uns ohne Sünde angehören dürfen und damit uns kurzsichtige Menschen nicht den Vorwurf des Konkubinates machen können, erklären wir durch eigenhändige Unterschrift, dass wir dadurch keine im Gebiete der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder staatlich giltige Ehe einzugehen die Absicht haben, dass wir aber umso fester von der dringlichen staatlichen Eherechtsreform für dieses Gebiet überzeugt sind. Zugleich erklären wir, dass wir auch keine römische Ehe schließen wollen, sondern glücklich sind, wenn wir in heiliger Gottesehe, durch Priestersegen vereint, ohne Sünde vor Gott und ohne Schimpf der bösen Welt ruhig leben und selig sterben können. Salzburg, am ..................... (Unterschriften)“

30

Über die vorgenommene Einsegnung wurde von Kirchsteiger sogar eine schriftliche Bestätigung, also eine Art Trauschein, ausgestellt: „Z: .................. Zeugnis daß........................................................................................................................ .............................................................................................................................................. ..................................und...................................................................................................... .............................................................................................................................................. ....................................................in Gegenwart des gefertigten Priesters sich gegenseitige Treue und Liebe gelobten und auf Grund des Reverses v. ...................................... Z. ................. und des Dekretes des k.k. .................... Gerichtes zu ................................. v. ......................... Z. .................. in der Trauungskapelle zu Salzburg das hl. Sakrament der Ehe empfangen haben, wird hiemit bestätigt. Salzburg, am .................................... 19 .. Johann Kirchsteiger m.p. Katholischer Priester NB. Weil die Ehe als Sakrament eine religiöse Handlung ist, sind keine Zeu31 gen dabei nötig.“

30

KAS 12/70 (Personalakt Kirchsteiger), Formular aus dem Jahr 1913.

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Nicht auf sich sitzen lassen wollte Kirchsteiger den Vorwurf, er habe die „Salzburger Ehen“ nur dazu „erfunden“, um sich zu bereichern. Aus diesem Grund teilte er dem Salzburger Ordinariat am 2. Oktober 1912 mit, „dass ich in Zukunft auch kein freiwilliges Geschenk für meinen Segen mehr annehmen werde, sondern aus reiner Nächstenliebe meinen armen Mitmenschen aus dem Sumpfe des Konkubinates heraushelfen“ möchte.32 So lobenswert dieser Vorsatz auch war, so wenig wurde er letztlich umgesetzt. Im Rahmen einer Gerichtsverhandlung musste Kirchsteiger im Februar 1913 nämlich eingestehen, für die „Salzburger Ehen“ eine Gebühr in Höhe von je 50 K eingehoben zu haben. Diese Gebühr – so Kirchsteiger – habe er jedoch nicht als „gutes Geschäft“ angesehen, sondern „nur in Ausübung seines Priestercharakters und aus Nächstenliebe gehandelt“, indem er diesen Betrag nicht für sich, sondern für eine eigene Kapelle verwendet habe. Kirchsteiger hatte nämlich zu Ende des Jahres 1912 bzw. zu Anfang des Jahres 1913 in Aigen (Ernst Grein-Straße) eine Villa erworben33 und darin eine eigene Kapelle errichten lassen, „weil er dort

31

KAS 12/70 (Personalakt Kirchsteiger), Zeugnis vom 7. September 1913 (unter Weglassung der personenbezogenen Daten). Dieses Formular war von Kirchsteiger nicht nur persönlich unterschrieben, sondern auch mit einem eigenen Siegel versehen worden. Dieses Zeugnis trägt die Z. 246, was eine ebensolche Zahl von „Salzburger Ehen“ wahrscheinlich macht. Bei diesem Zeugnis handelt es sich um die zweite von mir aufgefundene Fassung. Bei der älteren, noch im Mai 1913 verwendeten, Variante ist der eigentliche Textteil etwas ausführlicher gestaltet: „... in Gegenwart des gefertigten Priesters und der Zeugen sich gegenseitige Liebe und Treue gelobten und auf Grund des Reverses vom ..................., Z. .............., und der Entscheidung des k.k. .....................Gerichtes zu .............................. vom ....................... , Z. .............., für diesen Lebensbund den priesterlichen Segen erhalten haben, damit sie in Gottesehe vereint ohne Sünde vor Gott verbunden bleiben und ihnen niemand den Vorwurf des Konkubinates machen kann, wird hiemit bestätigt. ....“. Das soeben zitierte Formular ist datiert mit 22. Mai 1913 und trägt die Zl. 151. Daraus kann wiederum geschlossen werden, daß allein zwischen Mai und September des Jahres 1913 nahezu 100 „Salzburger Ehen“ eingesegnet wurden. 32

KAS 12/25 Ry8, Johann Kirchsteiger an Kardinal Johann Katschthaler, Mitteilung vom 2. Oktober 1912. 33

Diese Villa wurde nach „glaubwürdiger Angabe“ auf den Namen seiner Haushälterin (Wirtschafterin) im Grundbuch eingetragen. – So KAS 12/25 Ry8, Bischof Hittmair an Dr. Anton Perathoner, Abschrift eines Briefes an den bekannten österreichischen Kanonisten vom 5. März 1914. Zu Hittmair siehe Wilhelm Binder, Rudolph Hittmair, in: Eduard Straßmayr (Hrsg.), Oberösterreichische Männergestalten aus dem letzten Jahrhundert, Linz 1926, S. 32 – 35; J. Kratschmayr, Rudolph Hittmair. Kirchenführer im Anbruch des Industriezeitalters, Dipl.-A. Linz 1973; Friedrich Pesendorfer, Bischof Rudolph von Linz. Erinnerungsblätter, Linz 1915; Rudolf Zinnhobler, Die Bischöfe von

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die Einsegnungen ‚kirchlicher‘ vornehmen konnte als in einem Gasthause.“34 Später ergänzte Kirchsteiger seine Angaben dahingehend, dass ein Teil der Einnahmen auch für die Stiftung eines eigenen Fonds verwendet werde, damit die so segensreiche Einrichtung der „Salzburger Ehen“ nicht zugleich mit ihm sterbe, „sondern einem Priester eine gesicherte gute Existenz geboten ist.“35 Die genaue Zahl der von Kirchsteiger geschlossenen „Salzburger Ehen“ ist nicht bekannt. Ein von ihm am 14. November 1921 ausgestelltes „Ehezeugnis“ trägt die laufende Zahl 543, was auf eine ebensolche Zahl von Ehen seit 1912 schließen lässt.36 Da Kirchsteiger noch bis 1932 lebte, kann die tatsächliche Zahl dieser Ehen noch deutlich höher liegen. III. Wer war der „Erfinder“ der Salzburger Ehen? Lässt man das bisher Gesagte Revue passieren, dann fällt ein inhaltlicher Widerspruch kaum auf. Dieser Widerspruch besteht zwischen der 1912 erfolgten Ankündigung von Hans Kirchsteiger, dass er die erste Einsegnung gerichtlich geschiedener Katholiken zu Pfingsten desselben Jahres vornehmen werde, und der Warnung des erzbischöflichen Ordinariates im Jahr 1910 vor den Praktiken eines altkatholischen Pfarrers, der die außerehelichen Beziehungen von geschiedenen Katholiken durch einen rein kirchlichen Weiheakt zu legalisieren trachtete. Wenn es bereits 1910 solche „Salzburger Ehen“ gegeben hat, dann kann Kirchsteiger nicht als „Erfinder“ dieser Ehen in Betracht kommen. Bei dem altkatholischen Pfarrer, auf den das erzbischöfliche Ordinariat anspielte, handelte es sich um den Pfarrer von Ried, Wilhelm Hossner.37 Hossner war im Mai 1908 zum altkatholischen Pfarrer von Ried gewählt worden. Zum Zeitpunkt seiner Wahl war Hossner für Hans Kirchsteiger kein Unbekannter Linz, Linz 1985, S. 242 – 260. Vor dem Erwerb der Villa fanden die „Trauungen“ im Hotel „Roter Krebs“ statt. 34

Art. „Kirchsteiger vor Gericht. Die ‚Salzburger Ehen‘“, in: Salzburger Chronik vom 13. Februar 1913. 35

KAS 12/25 Ry8, Johann Kirchsteiger an das fürsterzbischöfliche Ordinariat Salzburg, Bittschrift vom 13. November 1913. 36

KAS 12/70 (Personalakt Kirchsteiger), Beilage zu einer Anfrage der kgl. Staatsanwaltschaft Bozen an das fürsterzbischöfliche Ordinariat Salzburg vom 2. Februar 1922. 37

Hossner hatte u.a. drei Semester an der Christ(Alt-)katholischen Fakultät der Universität Bern (von 1902 – 1903) studiert, ehe er von Bischof Univ.-Prof. Dr. Eduard Herzog ordiniert wurde. Seine ersten Erfahrungen als Seelsorger sammelte er in Olmütz (1903) und Dessendorf (ab 1904) sowie als Pfarrverweser in Wien (ab 1906).

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mehr, war er doch mit ihm bereits am 12. Oktober 1907 in einer Massenversammlung im Salzburger Kurhaussaal vor rund 3.000 Personen als Redner aufgetreten. Den zündenden Worten der Vortragenden war es zuzuschreiben, dass nach dieser Veranstaltung rund 100 Personen der Altkatholischen Kirche beigetreten waren.38 Bei einem ähnlichen Anlass am 14. April 1908 soll es ihm, wiederum mit Hossner und diesmal auch mit dem altkatholischen Pfarrer von Mährisch-Schönberg Josef Ferk als Co-Referenten, gelungen sein, sogar an die 200 neue Altkatholiken zu werben. Als Pfarrer von Ried war für Hossner der Aufbau einer starken altkatholischen Gemeinde im Kronland Salzburg, das zu seinem Jurisdiktionssprengel gehörte, ein besonderes Anliegen. Bereits am 11. Juli 1908 lud er die Salzburger Altkatholiken zu einer Versammlung im „Kaltenhauserkeller“ ein. Thema der dortigen Gespräche war die Errichtung einer Filialkirchengemeinde in Salzburg, zugleich wurde ein provisorischer Filialkirchenvorstand unter der Leitung des „Reklamebureauinhabers Galles“ gewählt. Am nächsten Tag, um 11 Uhr, feierte Hossner in der evangelischen Kirche seinen ersten Gottesdienst in Salzburg. Altkatholische Messfeiern sollten nunmehr regelmäßig in Salzburg stattfinden.39 Für eine intensive Betreuung der Salzburger Altkatholiken waren Hossner allerdings seine Pflichten als Pfarrer von Ried hinderlich. Möglicherweise war dies der Grund, warum Hossner im April 1910 als Pfarrer resignierte, um sich als Rieder Hilfsgeistlicher hinkünftig ausschließlich der Pastorisierung von Salzburg widmen zu können. Vom 7. August 1910 datiert ein Schreiben des Altkatholischen Pfarramtes Ried an die Salzburger Landesregierung, in dem angezeigt wurde, „dass aus Gründen der zweckmäßigen Pastorisierung der in Salzburg Stadt und Land wohnenden Altkatholiken Herr Wilhelm Hossner ‚als Pfarrvikar’ nach Salzburg exponiert wurde.“40 Die Informationen, die über Hossner von der Salzburger Landesregierung eingeholt wurden, waren jedoch keineswegs dazu angetan, dem neuen Seelsorger einen Vertrauensvorschuss entgegenzubringen. So berichtete die Bezirkshauptmannschaft Ried, „dass der altkatholische Pfarrer Wilhelm Hossner zufolge Erlasses der k. k. o. ö. Statthalterei vom 12. Juni 1908, Z: 2376/Pr. wegen seiner agitatorischen Tätigkeit in alldeutscher Richtung, sowie im Sinne der ‚Los-von-Rom‘-Bewegung in hierortiger Überwachung stand. Während seiner ca. 2-jährigen Amtstätigkeit in Ried konnte gegen Hossner in sittlicher und staatsbürgerlicher Hinsicht, abgesehen von dem Um38

Festschrift „50 Jahre Altkatholische Kirchengemeinde Salzburg“, ohne Ort und Jahr, vermutlich Salzburg 1972, S. 19. 39 Festschrift „50 Jahre Altkatholische Kirchengemeinde Salzburg“ (wie Anm. 38), S. 23 f. 40

Zitiert aus dem ministeriellen Vorlagebericht vom 19. November 1910, AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht – Neuer Kultus 1848 – 1946, Kt. 25 (Sig. 16).

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stande, dass er seine agitatorische Tätigkeit hier fortsetzte und vielfach der Nachtschwärmerei und zwar in seinem Stande weniger entsprechenden Lokalen huldigte, was auch bei seinen hiesigen Glaubensgenossen nicht ohne Tadel blieb, sonst nichts Nachteiliges in Erfahrung gebracht werden.“41

Ähnlich lauteten auch die Auskünfte seitens des oberösterreichischen Statthalters. So hätten Erhebungen im Wiener Polizeipräsidium ergeben, „dass Hossner auch dort, namentlich in alldeutschen Versammlungen im Sinne der Los-von-Rom-Bewegung tätig gewesen sei.“ Auch in Oberösterreich habe Hossner seine Agitation fortgesetzt: „Es scheint ihm hiebei nach Zeitungsberichten weniger um den Übertritt in die altkatholische Kirche als nur überhaupt um das ‚Los-von-Rom‘ zu tun zu sein, was insbesondere auch darin zum Ausdrucke kam, dass er sich mit Vertretern der ‚Freien Schule‘ und sonstigen Freidenkervereinigungen zusammen tat und auch in derartigen Versammlungen als Redner auftrat. Der Eindruck, den anfangs seine pathetische, und formgewandte Redeweise hervorrief, hat sich einerseits unter der Missbilligung, die seine minderwürdige, private Lebensführung veranlasste, andererseits infolge der Eintönigkeit seiner im Ganzen recht seichten, nur mit Schlagworten arbeitenden Ausführungen, bald verflüchtigt.“42

Diese Auskünfte bewogen die Salzburger Landesregierung, der Rieder Kirchengemeinde unzweideutig zu verstehen zu geben, „dass sie nicht in der Lage“ sei, „der Bestellung des Wilhelm Hossner zum altkatholischen Pfarrvikare, bezw. Seelsorger für Salzburg zuzustimmen, weil den gepflogenen Erhebungen zu Folge das Verhalten des Genannten in sittlicher Hinsicht nicht vorwurfsfrei ist.“43

Diese schwere Anschuldigung wollte der nunmehrige Pfarrer von Ried, Alois Paschek,44 nicht unwidersprochen im Raum stehen lassen: Die Altkatholische 41

SLA, LR 1910/19 XI B2, Die k. k. Bezirkshauptmannschaft Ried i. I. an den Herrn k. k. Landespräsidenten in Salzburg, vertraulicher Bericht vom 21. August 1910. 42 SLA, LR 1910/19 XI B2, Der k. k. Statthalter im Erzherzogthume Österreich ob der Enns an die k. k. Landesregierung in Salzburg, Mitteilung vom 29. August 1910. 43

NStA 290, Erlass des k. k. Landespräsidenten von Salzburg vom 3. September

1910. 44

Paschek wurde in Stecken bei Strackonitz in Böhmen am 16. Juni 1869 geboren. Er maturierte 1889 am k. k. Staatsgymnasium in Budweis und studierte anschließend Theologie in Graz. Dort erhielt er auch 1894 die Priesterweihe. Im August 1897 wurde der junge katholische Geistliche auf sein Ansuchen hin in den altkatholischen Klerus übernommen und mit Zustimmung der Statthalterei in Böhmen als Kooperator in der Pfarre Warnsdorf angestellt. Im Jahr 1898 erfolgte seine Exponierung in die Warnsdorfer Filiale Schönlinde. Als diese zur selbständigen Pfarre emporgestiegen war, wurde Paschek im Dezember 1908 zu deren ersten Pfarrer bestellt. Am 7. April 1910 wählte

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Kirche dürfe diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen, wissentlich sittlich nicht einwandfreie Priester in ihrem Klerus zu dulden, weshalb er dem Synodalrat vorschlug, im Interesse von Pfarrvikar Hossner gegen diesen ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Vom Rieder Pfarramt könne gegen diese Entscheidung auch nur dann ein Rekurs – mit Aussicht auf Erfolg – ergriffen werden, wenn sich die gegen Hossner vorgebrachten Anschuldigungen als Ausfluss einer „seiner agitatorischen Tätigkeit feindlichen Gesinnung“ herausstellen sollten.45 Obwohl sich der Synodalrat an die Salzburger Landesregierung mit dem Ersuchen gewandt hatte, ihm „über die Wilhelm Hossner belastenden Tatsachen geneigtest Mitteilung zu machen“, dürfte man von der Einleitung eines Disziplinarverfahrens abgesehen haben. Aber auch ohne ein vorliegendes Disziplinarerkenntnis brachte Pfarrer Paschek in noch offener Frist den Rekurs beim Ministerium für Kultus und Unterricht (im Weg über die Salzburger Landesregierung) ein: „Dem Pfarramte ist nichts bekannt, was eine Zustimmung zur Anschauung der k. k. Landesregierung, dass Pfarrer Hossner in sittlicher Hinsicht nicht einwandfrei sei, rechtfertigen würde. Da im Dekrete eine Begründung für die Aberkennung der sittlichen Integrität nicht gegeben ist, muss das Pfarramt vor allem die Bitte stellen, ihm diese Gründe bekannt zu geben und ihm zur Prüfung und eventuellen Widerlegung derselben eine Frist einzuräumen. Das Pfarramt ist aber auch genötigt, aus prinzipiellen Gründen die angefochtene Entscheidung anzufechten, diese ist formell unbegründet, sie entbehrt eines gesetzlichen Anlasses. Die Synodal- und Gemeindeordnung der österreichischen Altkatholiken, welche mit C.Min.Erl. vom 18. Oktober 1877 Zl. 16875 die staatliche Genehmigung erhielt und sonach die rechtliche Basis für die Beziehungen der altkatholischen Religionsgesellschaft zu den staatlichen Behörden bildet, spricht im § 49 aus, dass Niemand zum Pfarrer oder Hilfsgeistlichen ernannt werden darf, der nicht neben den im allgemeinen Kirchenrechte enthaltenen Erfordernisse auch die durch die Staatsgesetze vorgeschriebenen Eigenschaften besitzt. Das Erfordernis dieser Eigenschaften ist also für die Bestellung zum Pfarrer oder Hilfsgeistlichen vorgeschrieben. Im gegenständlichen Fall handelt es sich aber nicht um die Ernennung eines Seelsorgers sondern nur um die Zuweisung eines abgegrenzten Arbeitsgebietes innerhalb der ihm durch die Bestellung zum Seelsorger der Gemeinde Ried zugewiesenen Funktionen. Die Bestellung zum Seelsorger und die Genehmigung der kompetenten politischen Behörde, d. i. der oberösterreichischen Statthalterei, ist schon vor Jahren erfolgt. Zur Anweisung eines besonderen Arbeitsgebietes an

schließlich die altkatholische Gemeinde Ried Alois Paschek zum Nachfolger von Wilhelm Hossner. – So der Synodalrat der altkatholischen Kirche in Österreich an die oberösterreichische Statthalterei, Mitteilung vom 7. Mai 1910, SLA, LR 1910/19 XI B2. 45

SLA, LR 1910/19 XI B2, Das altkatholische Pfarramt Ried an den Synodalrat der Altkatholischen Kirche in Österreich, Antrag vom 9. September 1910.

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einen Seelsorger im Rahmen der Pfarre, in welcher er als Seelsorger bestellt ist, ist eine Genehmigung der politischen Behörde gesetzlich nicht notwendig; die Verweigerung derselben /: ohne dass darum angesucht wurde :/ daher ungesetzlich und rechtlich nicht verbindlich. Wenn Pfarrer Hossner wirklich sittlich nicht einwandfrei wäre, so stünde es nicht der politischen Behörde zu, ihm ohne weiters die Genehmigung zur Ausübung der Seelsorge zu entziehen, sondern derselbe wäre nach einem förmlichen Verfahren durch die Synode seines Amtes zu entheben /: § 53 der Synodal- und Gemeindeordnung :/.“46

Die Entscheidung des Ministeriums für Kultus und Unterricht über den Rekurs von Pfarrer Paschek fiel erst nach einem halben Jahr. Dem Rekurs wurde keine Folge gegeben, weil das Ministerium aus der verwendeten Bezeichnung „Expositur“ folgerte, dass dem Hilfsgeistlichen Hossner ein „ganz spezieller Wirkungskreis“ eingeräumt werden sollte: „Da jedoch weder das Amt der ‚Expositur’ noch auch der Wirkungskreis eines ‚Expositen‘ oder exponierten Pfarrvikars im Gesetz vom 20. Mai 1874, R.G.Bl. Nr. 68, vorgesehen erscheint und auch nicht in der staatlicherseits anerkannten Synodal- und Gemeinde-Ordnung der Altkatholiken begründet ist, so steht fest, dass mit der obgedachten Anzeige des altkatholischen Pfarramtes Ried die Neueinführung eines weder staatlicherseits, noch in der Verfassung der altkatholischen Religionsgenossenschaft anerkannten Kirchenamtes intendiert erscheint. Eine solche bloße Anzeige kann aber selbstredend auch nicht zur Kreierung eines derartigen neuen Amtes führen und den vorgängigen mit staatsbehördlicher Genehmigung zu bewirkenden Organisationsausbau ersetzen. Da also jene Maßnahme dem Gesetze und dem Kirchenstatute widerstreitet, so ergibt sich für den vorliegenden Fall, dass in der Salzburger altkatholischen Diaspora zur Zeit niemand ‚Expositus‘ zu werden in der Lage ist und dass daher auch die staatliche Kultusverwaltung die unter Zuweisung der oben besprochenen kirchlichen Attribute vollzogene Bestellung Hossners keinesfalls zur Kenntnis nehmen kann.“

Zugleich wurde die Salzburger Landesregierung angewiesen, den Synodalrat in Warnsdorf aufzufordern, umgehend für die „Herstellung des gesetzmäßigen Zustandes in der im Kronlande Salzburg vorhandenen Diaspora“ der Altkatholischen Kirche zu sorgen.47 Auf die diesbezügliche Aufforderung der Salzburger Landesregierung reagierte der Synodalrat einlenkend, um jegliche Eskalation zu vermeiden. Er teilte mit, dass man das Rieder Pfarramt beauftragt habe, „die altkatholische Expositur in Salzburg aufzuheben und deren beanständetes Siegel zurückzuzie-

46 SLA, LR 1910/19 XI B2, Pfarrer Alois Paschek an die k. k. Landesregierung Salzburg, Rekurs vom 3. Oktober 1910. 47

SLA, LR 1910/19 XI B2, Das Ministerium für Kultus und Unterricht an die k. k. Landesregierung in Salzburg, Rekursentscheid vom 26. April 1911.

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hen.“ Der Bistumsverweser suchte die ganze Angelegenheit als ein Missverständnis darzustellen, dass es gar nicht beabsichtigt war, „in Salzburg eine eigene Expositur zu errichten oder dahin einen selbständigen Seelsorger zu entsenden. Dies erhellt schon daraus, dass die Intervention der Diözesanleitung nicht erfolgt war und Wilhelm Hossner, dessen Bestätigung seitens der k. k. Statthalterei in Ober-Österreich erfolgt war, der hohen k. k. Landesregierung in Salzburg als Seelsorger nicht präsentiert worden ist. Beabsichtigt war nur jene bisher ohne Beanständigung zugelassene kirchlich administrative Verfügung, dass in Diasporen, welche einen solchen Umfang annehmen, dass deren Pastorierung excurrendo und von Fall zu Fall vom Sitze der Pfarre aus physisch und ohne Gefährdung geordneter Seelsorge und des Religionsunterrichtes gar nicht mehr ausführbar erschien, ein Hilfsgeistlicher der zuständigen Pfarre entsendet wurde, um im Auftrage und unter Verantwortung des Pfarramtes die dringendsten Seelsorgegeschäfte – ausgenommen die Matrikenführung – an Ort und Stelle zu erledigen. Ein solcher Zustand trat auch in Salzburg ein, wo nach den Berichten des Pfarramtes in Ried die altkatholische Diaspora auf 700 Seelen gestiegen ist, so dass sich eine fallweise Pastorierung von der viele Bahnstunden entfernten Pfarre aus bei der verhältnismäßig großen Zahl der Kasualien ohne Nachteil kaum mehr aufrecht erhalten ließe.“48

Trotz dieser auf Ausgleich und Versöhnung bedachten Worte setzte in der Folge ein wahres Kesseltreiben gegen die Salzburger Diaspora und deren Aushängeschilder Wilhelm Hossner und Ignaz Kutschera ein. Dies vor allem deshalb, da man offensichtlich weder in Ried noch in Salzburg die Weisung des Synodalrates wirklich ernst nahm. So stand das Siegel mit der Inschrift: „Altkatholische Filialgemeinde Salzburg“ auch weiterhin in Verwendung,49 Ignaz Kutschera signierte weiterhin als Vorstand oder namens des Vorstandes der altkatholischen Kirchengemeinde Salzburg, und Wilhelm Hossner firmierte wie bisher als Seelsorger oder Pfarrer der altkatholischen Gemeinde in Salzburg.50 48 SLA, LR 1910/19 XI B2, Der Synodalrat der Altkatholischen Kirche in Österreich an die hohe k. k. Landesregierung in Salzburg, Mitteilung vom 21. Juni 1911.

Wenn in diesem Schreiben von rund 700 Altkatholiken in Salzburg die Rede ist, dann wird dies auch in anderen Quellen bestätigt. So heißt es in der Festschrift „50 Jahre Altkatholische Kirchengemeinde Salzburg“, S. 33, dass im Jahr 1910 allein „334 Beitritte erzielt“ worden waren, sodass die Seelenzahl auf „684 gestiegen“ war. Zum Vergleich sollen hier einige Vergleichszahlen aus Ried und deren Tochtergemeinde Linz angeführt werden: a) Ried: 1907: 189 Seelen, 1910: 194 und 1913: 209; b) Linz: 1900: 7 Seelen, 1908: 146 und 1913: 639 – so Christian Halama, Altkatholiken in Österreich. Geschichte und Bestandsaufnahme, Wien / Köln / Weimar 2004, S. 385. 49 Siehe hierzu eine Anzeige der Stadtgemeinde-Vorstehung Salzburg an die Salzburger Landesregierung vom 21. Oktober 1911, SLA, LR 1910/19 XI B2. 50

So eine an die Bezirkshauptmannschaft Gmunden gerichtete Ankündigung eines Vortrages am 4. November 1911 im Kurhaussaal in Gmunden, SLA, LR 1910/19 XI B2.

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Ein taktischer Fehler war es vermutlich gewesen, dass der Synodalrat die Salzburger Landesregierung aufgefordert hatte, ihm alle Hossner belastenden Fakten bekannt zu geben. Die Behörden waren nämlich bei ihrer Suche nach derartigen Umständen tatsächlich fündig geworden. Schon am 15. Dezember 1909 hatte nämlich das fürsterzbischöfliche Ordinariat in Salzburg bei der Landesregierung die Anzeige erstattet, dass der Salzburger Kaufmann Ludwig Stockinger, dessen im Jahr 1904 nach römisch-katholischem Ritus (und damit auch staatlich gültig) geschlossene Ehe 1907 gerichtlich geschieden worden war (im Sinne einer gerichtlich genehmigten Trennung von Tisch und Bett bei Fortbestand des Ehebandes), im November 1909 in Ried – nachdem er vorher zum altkatholischen Glauben übergetreten war – eine neue Ehe mit Frau Elise Leitner geschlossen habe. Bei der Einvernahme beim k. k. Landesgericht Salzburg am 7. Jänner 1910 gab Ludwig Stockinger an, er sei im Oktober 1909 vor allem aus dem Grund aus der Katholischen Kirche ausgetreten, „weil ich geschäftlich bemüßigt war, mir eine Hausgenossin zu nehmen und ich befürchtete, wenn ich in der katholischen Kirche verbleibe, seitens der Letzteren Anstände zu bekommen, wenn ich im Konkubinate lebe. Ich hatte mit Elise Leitner schon seit Mitte 1908 ein Verhältnis und ich nahm sie Mitte November 1909 zu mir. Ich habe mit Fräulein Leitner nie eine Ehe eingegangen, dieselbe auch laut beiliegenden Meldeschein als Elise Leitner angemeldet und nur über deren Wunsch beim altkatholischen Pfarrer in Ried unseren Herzensbund ohne Zeugen einsegnen lassen. Es war dies keine Hochzeit, es wurde auch kein Trauschein ausgestellt und waren sowohl ich, Fräulein Leitner, als auch der Pfarrer darüber vollkommen informiert, dass es sich nur um die Einsegnung und nicht um eine Eheschließung handle. Es wurde über diesen Akt auch ein darauf bezüglicher Revers unterschrieben, wonach eine Ehe für ausgeschlossen erklärt wurde. Diesen Revers hat der Pfarrer Hossner in der Hand.“

Aufgrund dieser Aussage wurde von der Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Stockinger eingestellt, da vom altkatholischen Pfarrer dieser Liebesbund ohne die Anwesenheit von Trauzeugen eingesegnet worden war und damit der Tatbestand des Verbrechens der Bigamie nach § 206 St.G. nicht vorliege. Obwohl das Verfahren gegen Ludwig Stockinger und Elise Leitner wegen des Verbrechens der Bigamie eingestellt worden war, wurde von der oberösterreichischen Statthalterei – als der nach dem Tatort berufenen politischen Behörde – dieser Akt noch nicht geschlossen. Ermittelt wurde nun gegen Wilhelm Hossner in Angelegenheit der „Zulässigkeit der kirchlichen Einsegnung eines Konkubinatsverhältnisses, welche eine rituelle Sanktionierung dieses Verhältnisses darstellt.“ Ehe noch von der politischen Behörde in dieser Angelegenheit konkrete Schritte unternommen wurden, richtete man an den Synodalrat der Altkatholischen Kirche die „Einladung“, längstens „binnen vierzehn Tagen anher mitteilen zu wollen, ob das Vorgehen jenes Funktionärs des altkatholischen Pfarramtes Ried, welches sich offenbar als eine zugleich ge-

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setzwidrige und sittlich anstößige gottesdienstliche Handlung (P. 1 § 1 des Gesetzes vom 20. Mai 1874, R.G.Bl. Nr. 68) darstellt, bereits Anlass zur disziplinären Ahndung der Schuldtragenden im Sinne des § 53 der Synodal- und Gemeindeordnung geboten hat, eventuell ob die unverzügliche Einleitung und Durchführung eine solche Ahndung zu gewärtigen steht.“51

Der Bistumsverweser Amandus Cech (in anderer Schreibweise Czech) konnte diesbezüglich nur mitteilen, dass über den Fall Stockinger-Leitner bisher weder dem Synodalrat noch ihm persönlich etwas zur Kenntnis gekommen sei. Cech sagte zu, dass er vom Rieder Pfarramt jedoch einen diesbezüglichen Bericht verlangen und ein Disziplinarverfahren gegen Hossner einleiten werde. Sollte dieses Hossners Schuld erweisen, so werde er nicht zögern, „seine Entlassung aus dem Seelsorgedienst zu veranlassen.“52 Diese Mitteilung dürfte sowohl den oberösterreichischen Statthalter als auch das Ministerium für Kultus und Unterricht zufrieden gestellt haben, weshalb diese Behörden beschlossen, zunächst den Ausgang des Disziplinarverfahrens abzuwarten. Wie groß deren Interesse an einer innerkirchlichen Verurteilung Hossners war, erhellt aus der Tatsache, dass bereits am 17. August 1911 seitens des Statthalters die Ergebnisse des Disziplinarverfahrens urgiert wurden.53 Die Antwort war insofern wenig zufriedenstellend, als ein Urteil noch nicht vorlag und der Bistumsverweser nur lapidar mitteilte, dass „wegen derzeitiger Verhinderung mehrerer Mitglieder, deren Anwesenheit zur Beschlussfähigkeit unentbehrlich ist“, eine Entscheidung erst Mitte September werde fallen können.54 Das vom Synodalrat am 13. September 1911 erlassene Disziplinarerkenntnis war dann erst recht enttäuschend für die Betreiber, als dieses nicht auf Suspension Hossners, sondern nur „auf schärfste Missbilligung“ der Vornahme einer eigenmächtigen kirchlichen Handlung „für welche es in unserem Rituale und unserer Kirchenordnung keinen Raum gibt“, lautete. Dabei anerkannte der Synodalrat als mildernden Umstand, dass Hossner mit der priesterlichen Seg51

AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht – Neuer Kultus 1849 – 1946, Kt. 25 (Sig. 16), Der k. k. Statthalter von Oberösterreich an den Synodalrat der Altkatholischen Kirche in Österreich, Erlass vom 26. Juni 1911. 52

AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht – Neuer Kultus 1849 – 1946, Kt. 25 (Sig. 16), Bistumsverweser Amandus Cech an das hohe k. k. Statthalterei-Präsidium im Erzherzogtum Österreich ob der Enns in Linz, Mitteilung vom 3. Juli 1911. 53

Dies ergibt sich aus einem Bericht des Statthalters von Oberösterreich an das Ministerium für Kultus und Unterricht vom selben Tag (17. August 1911), AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht – Neuer Kultus 1849 – 1946, Kt. 25 (Sig. 16). 54

AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht – Neuer Kultus 1849 – 1946, Kt. 25 (Sig. 16), Bistumsverwalter Amandus Cech an das hohe k. k. Präsidium im Erzherzogtume Österreich ob der Enns, Mitteilung vom 19. August 1911.

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Alfred Rinnerthaler

nung der Beziehung von Ludwig Stockinger und Elise Leitner diesen nur „in ihrer Seelennot zu Hilfe kommen wollte.“55 Eine „schärfste Missbilligung“ war eine Disziplinarstrafe, die so in der Synodal- und Gemeindeordnung nicht vorgesehen war. Sie konnte wohl nur als „Verweis durch den Synodalrat“ verstanden werden. Daneben hätte es aber auch die Möglichkeit einer Suspension auf bestimmte Zeit (durch den Bistumsverweser längstens bis zur nächsten Synode) oder gar der Entlassung aus dem Amt mit gleichzeitigem Gehaltsverlust gegeben. Vom Synodalrat war demnach nur das mildeste Sanktionsmittel ergriffen worden. Trotzdem setzte die oberösterreichische Statthalterei keine eigenen Amtshandlungen (weder nach § 12 noch nach § 15 des Gesetzes vom 20. Mai 1874) und stellte auch keinen diesbezüglichen Antrag an das Ministerium. Dies war auch nicht nötig, da dem Minister zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere neue Anzeigen seitens der Salzburger Landesregierung gegen Hossner vorlagen. Eine dieser Beschwerden stammte vom Salzburger Pfarramt St. Blasius. Laut dieser Beschwerde hatte Hossner „einen gewissen Franz Karl, dessen Gattin am Leben ist, mit einer Witwe in einer der katholischen Trauung ähnlichen Weise eingesegnet und die Ehe für geschlossen erklärt und die beiden Personen zur Unterfertigung eines Ehekontraktes verhalten“. Ein ähnlicher Vorfall wurde von der Stiftspfarre Maxglan gemeldet, wo Hossner den Bund des geschiedenen (= gerichtliche Trennung von Tisch und Bett) Taglöhners Josef Spannberger mit der ledigen Marie Floss eingesegnet hatte, wobei der altkatholische Geistliche der „Braut“ mitgeteilt hatte, „dass sie durch die altkatholische Trauung ihren Mädchennamen und ihre Heimatsberechtigung nicht verliere, sondern beizubehalten habe.“ Nunmehr wurde sogar der altkatholische Bistumsverweser Amandus Cech von sich aus aktiv, entband Hossner „vom Amte eines Hilfsseelsorgers der Pfarre Ried“ und entzog ihm „in der Salzburger Diaspora der Pfarre Ried das Recht zur Vornahme kirchlicher und seelsorglicher Funktionen“56.

55

So eine Abschrift des Disziplinarerkenntnisses in AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht – Neuer Kultus 1849 – 1946, Kt. 25 (Sig. 16). 56 Die diesbezügliche Mitteilung des Bistumsverwesers vom 30. Jänner 1912 findet man zitiert in AVA, Ministerium für Kultus und Unterricht – Neuer Kultus 1849 – 1946, Kt. 25 (Sig. 16), Der Minister für Kultus und Unterricht an die Landesregierung in Salzburg, Mitteilung und Weisung vom 22. September 1912.

Hossner blieb noch bis etwa 1913 in Salzburg. Da er von den Behörden zu keiner seelorglichen Tätigkeit mehr zugelassen wurde, musste er sogar „wegen Übernahme eines weltlichen Berufes“ vorübergehend aus dem Klerus ausscheiden. Erst im Jänner 1918 wurde Hossner wiederum der Dienst als Geistlicher staatlicherseits gestattet. Zentrum seines folgenden Wirkens war nunmehr die altkatholische Pfarre Wien, in der

Die „Salzburger (Gottes-)Ehen“ und deren Erfinder

411

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich somit eindeutig, dass die von Hans Kirchsteiger für sich in Anspruch genommene „Erfindung“, die so genannten „Salzburger Ehen“, also eine Einsegnung der Konkubinate von gerichtlich Geschiedenen, offensichtlich auf Wilhelm Hossner zurückgeht und von Kirchsteiger nur übernommen und in großem Stile betrieben worden ist.

Hossner eine zweite Karriere startete, die ihn bis zum Synodalrat der Altkatholischen Kirche (1920 – 1926), zum Koadjutor (1924 – 1926) des altkatholischen Bischofs Schindelar und zum Anwärter auf das Bischofsamt führte.

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Alfred Rinnerthaler

Abbildung 1: SMCA/Fotosammlung Inv.Nr. 18.579

Die „Salzburger (Gottes-)Ehen“ und deren Erfinder

Abbildung 2: Hans Kirchsteiger als Trauungspriester (SMCA)

413

Bernold von Konstanz – eine Allgemeine Rechtslehre in den „Streitschriften“ Von Norbert Brieskorn SJ I. Leben1 und Werke Vermutlich wurde er um 1050 in Konstanz oder dem südlichen Schwaben als Sohn eines Priesters2 geboren. Erzogen und beeinflusst durch Bernhard von Konstanz und Adalbert, fiel Bernold offensichtlich früh durch sein Talent im Formulieren und Argumentieren auf. Ab 1073 begann er die Chronik zu schreiben, die eine Fortsetzung des Geschichtswerks Hermann des Lahmen sein sollte.3 1079 nahm er an der römischen Fastensynode teil, welche die endgültige Exkommunikation Berengars von Tours beschloss; in Rom besprach er sich

1

Georg Heinrich Pertz, Einleitung zum „Cronicon“, in: MGH.SS, Bd. V, Hannover 1844, S. 385 f.; Bernold von Konstanz, De excommunicatis vitandis / De reconciliatione lapsorum / et de fontibus iuris ecclesiastici (Libellus X), hrsg. von Doris Stöckly, unter Mitwirkung von Detlev Jasper, in: MGH.L 8, Fontes Iuris Germanici Antiqui in usum scholarium separatim editi. Bd. XV. Hannover 2000, SS. 2 – 5; Johannes Laudage, Art. Bernold von Konstanz, in: LThK3 2, 1994, Sp. 285 f.; Hermann Josef Sieben, Die Konzilsidee des lateinischen Mittelalters (847 – 1378) (= Konziliengeschichte Reihe B: Untersuchungen), Paderborn 1984, S. 11, 113 – 152; Wilfried Hartmann, Art. Bernold von Konstanz, in: LexMA 1, 1980, Sp. 2007 f.; Ian Stuart Robinson, Bernold von St. Blasien, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon2, Bd. I, Berlin / New York 1978, Sp. 795 – 798; Johanne Autenrieth, Art. Bernold v. Konstanz, in: LThK2 2, 1958, Sp. 259; Carl Mirbt, Art. Bernold († 1100), in: RE3 2, 1897, S. 642 f.; Lotte Kurras, Art. Bernold of Constance, in: New Catholic Encyclopedia 2, New York u. a. 1967, S. 353; Raoul Naz, Art. Bernald ou Bernold de Constance, in: DDC 2, 1937, Sp. 770 – 773; Alois Lütolf, Art. Bernhard von Konstanz, in: WWKL 2, 1883, Sp. 451 – 453; kein Artikel zu Bernold findet sich in: John M. Jeep (Hrsg.): Medieval Germany. An Encyclopedia, New York / London 2001; zur kanonistischen Einordnung s. die Literaturangaben zu Paul Fournier, Karl Hofmann, Gaines Post u. a. 2

Siehe die Bemerkung in: Friedrich Thaner (Hrsg.), Libelli de lite Bernoldi, MGH., Bd. II, Hannover 1892, S. 12. 3

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 6; Lütolf, Bernhard von Konstanz (Anm. 1), S. 451.

416

Norbert Brieskorn

auch mit Anselm II. von Lucca.4 1084 ist Bernold wieder in Konstanz nachweisbar, wo er am 21. Dezember5 1084 die Priesterweihe durch den Kardinal Odo von Ostia erhielt, den späteren Papst Urban II. Als Vertreter der gregorianischen Richtung hatte Bernold stets die Verteidiger der kaiserlichen Politik Heinrichs IV. zu fürchten,6 und so musste er Konstanz immer wieder verlassen. Am 11. August 1086 wohnte Bernold der Schlacht bei Bleichfeld bei. Danach lebte er zuerst wohl im Kloster St. Blasien im Schwarzwald, um circa 1091 nach dem Kloster Allerheiligen7 bei Schaffhausen, einer Filiale von St. Blasien, umzusiedeln, wo er am 16. oder 17. September 1100 starb. Außer der bereits genannten „Chronik“,8 von der sich ein Autograph erhielt, sind zu nennen: der „Micrologus de ecclesiasticis observationibus“,9 sodann die Auseinandersetzung Bernolds mit der Abendmahlslehre Berengars von Tours († 1088): „De veritate corporis et sanguinis domini“.10 Es steht des Weiteren heute fest, dass Bernold der Verfasser des so genannten „Schwäbischen Appendix“ zur Collectio der 74-Titel ist.11 Dazu kommen je nach Zählung 16, bzw. 15 bekannte Streitschriften, die in den so genannten Investiturstreit zugunsten des Papsttums eingreifen.12 Im Folgenden geht es uns um die Skizze einer allgemeinen Rechtslehre, wie sie sich aus diesen Streitschriften erheben lässt.

4

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 3; Robinson, Bernold von St. Blasien (Anm. 1), Sp. 796. Siehe „Micrologus“, in: PL 151, Sp. 988 B. 5

Nach Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 1 und Mirbt, Bernold (Anm. 1), S. 642 am 22. Dezember 1084. 6

Hartmann, Bernold von Konstanz (Anm. 1), Sp. 2007.

7

Elisabeth Schudel, Allerheiligen in Schaffhausen (Helvetia Sacra 3, l, 3) 1986, S. 1490 – 1535. 8

MGH.SS, Bd. V, S. 385 – 467; erhalten ist die Schrift in Clm 432 der Staatsbibliothek München. 9

Migne PL 151, 978 – 1022. Auf die (endgültige?) Abfassung nach dem Tod des Papstes Gregors VII. (Mai 1085) weist cap. 24 (PL 151, 995 C) hin. 10

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 6; J. R. Geiselmann, Bernold von St. Blasien: Sein neuentdecktes Werk über die Eucharistie, München 1936; H. Weisweiler, Die vollständige Kampfschrift Bernolds von St. Blasien gegen Berengar, in: Scholastik 12 (1937), S. 58 – 93. 11 John T. Gilchrist, Diversorum patrum sententiae sive Collectio in LXXIV titulos digesta (= MIC.C 1), Città del Vaticano 1973, XX f., XXVIII und XXX; J. Autenrieth, Bernold von Konstanz und die erweiterte 74-Titelsammlung, in: DA 14 (1958), S. 375 – 387; der Appendix selbst findet sich in: Gilchrist, Diversorum patrum sententiae, S. 180 – 196 und umfasst die Titel 75 bis 89 (capitula 316 – 330). 12

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 7 – 12 und (zur Autorschaft): S. 12 – 14; Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. l – 168; Libelli de lite Bernoldi III, S. 597 – 602.

Bernold von Konstanz

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Bernold, Priester und Mönch, Geschichtsschreiber und politischer Publizist, wird von Doris Stöckly als „guter Kanonist bezeichnet, der logisch konsequent seinen Standpunkt herleitet und begründet“.13 Johanne Autenrieth schreibt, dass Bernolf „für die Entwicklung der scholastischen Methode bedeutsam wurde“14. Raoul Naz sieht in Bernolds Methode den Vorbereiter der „Concordia discordantium canonum“ des Gratian.15 Noch weitergehend ist die Bewertung, dass Bernold im Bereich der Kanonistik die Prinzipien der scholastischen Methode entwickelte,16 und auch diese Bewertung trifft zu. Er stellte eine Hierarchie der Rechtsquellen auf und entwickelte somit eine Rechtsquellenlehre.17 Sie findet sich hauptsächlich in seiner Schrift „De excommunicatis vitandis“, die er nach 1084 verfasst hat. Auch formulierte er Regeln, wie widersprüchliche Aussagen der kirchenrechtlichen Tradition zu harmonisieren seien. Sein überliefertes Werk18 ist mehrfach gründlich auf seine Rechtsquellenlehre, so schon durch Martin Crabmann,19 Raoul Naz20 und Wilfried Hartmann,21 und unter dem Verhältnis von päpstlicher Gewalt und Konzilskompetenz durch Hermann Josef Sieben22 untersucht worden. Mir geht es darum, über die Rechtsquellenlehre hinaus, auf die ich hier nicht mehr einzugehen brauche,

13

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 10.

14

Autenrieth, Bernold v. Konstanz (Anm. 1), Sp. 259.

15

Naz, Bernald (Anm. 1), Sp. 773; siehe auch die Arbeiten von H. Fuhrmann, St. Kuttner und Joseph J. Ryan (Lit. Verzeichnis). 16

Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, I, Freiburg 1909, S. 234 – 239; so auch Hartmann, Bernold von Konstanz (Anm. 1), Sp. 2008; sowie Robinson, Bernold von St. Blasien (Anm. 1), Sp. 796 f., der Bernold jene Regeln entwickeln lässt, welche die Abaelardsche Methode von „sic et non“ vorwegnehmen. 17

Hartmann, Bernold von Konstanz (Anm. 1), Sp. 2008.

18

Claudia Märtl, Zur Überlieferung des Liber contra Wibertum Anselmi von Lucca, in: DA 41 (1985), S. 192 – 202; dies., Regensburg in den geistigen Auseinandersetzungen des Investiturstreits, in: DA 42 (1986), S. 145 – 191; dies., Aus dem Umkreis Bernolds von Konstanz I: Zur Überlieferung von Libellus X (...), in: DA 46 (1990), S. 531 – 537. 19

Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode (Anm. 16), S. 237 – 239.

20

Naz, Bernald (Anm. 1), Sp. 773 (Lit.).

21

Wilfried Hartmann, Autoritäten im Kirchenrecht und Autorität des Kirchenrechts in der Salierzeit, in: Die Salier und das Reich, Bd. 3: Gesellschaftlicher und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, Sigmaringen 1991, S. 425 – 446 (zu Bernold: 434 und 436; zur Kritik Hartmanns an H. J. Sieben muss hier nicht Stellung genommen werden). 22

Sieben, Konzilsidee (Anm. 1), Kap. III, S. 113 – 152.

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Elemente einer Allgemeinen Rechtslehre, soweit sie sich in Bernolds Schriften findet, herauszuarbeiten. II. Einordnung des Rechtsbegriffs Verschiedene Begriffe bietet die Rechtstradition an: „fas“, „ius“, „consilium“, „Rechtsbefehl“, „lex“, „voluntas“, „Romanae leges“, „lex naturae“, „privilegium“, welche in einer Allgemeinen Rechtslehre zu untersuchen sind. Bernold zeigt einen sicheren Umgang mit den verschiedenen Begriffen. 1. „fas et iura“ Zahlreiche Verstöße fänden sich, so Bernold, in jüngster und nicht in ältester Zeit, die zurückzuweisen und nicht als nachzuahmende Beispiele zu nehmen sind.23 „Fas“ bezeichnet das Recht der Kirche, hier z. B. das Recht der Sakramente. „Fas“ tritt nur in engem Zusammenhang mit „et iura“ auf, was sich mit „und weitere Rechtsordnungen“ übersetzen ließe. Bernold geht davon aus, dass weitere Rechtsordnungen das Kirchen-, und insbesondere das Sakramentenrecht unterstützen, das ihnen nicht gleichgültig ist. „Recht“ ist also nicht auf die Ordnung „säkularer Belange“ beschränkt. 2. „consilium“ „Keineswegs scheint es uns also ein verquerer, sondern ein recht vernünftiger Rat, dass Mönche nicht so sehr Weltleuten, auf deren Umgang sie ja verzichtet haben, als vielmehr ihren Äbten gehorchen sollen, denen sie Gehorsam versprochen haben.“24 Das Gelübdeleben versteht sich als ein „Mehr“ gegenüber den allgemeinen rechtlichen Verpflichtungen; solche in das Ordensleben einzuführen, würde dessen Hochherzigkeit und Übergebühr verfremden und zerstören; gemäß den „consilia evangelica“ zu leben bedarf sicherlich konkretisierender consilia, Ratschläge, aber nicht rechtlicher Sanktionen.

23 „[...] non de antiquis, sed recentioribus [...] temporibus, in quibus [...] multa contra fas et ius usurpata reperiuntur, quae magis respuenda, quam in exemplum ducenda videntur.“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 93, 18 – 20 [Zeile 19]); so auch S. 93,7: „quae magis contra fas et ius usurpare non verentur.“ 24

„Nequaquam vero perversum, sed sanum nobis videtur esse consilium, ut monachi non tam saecularibus obediant, quorum conversatione abrenuntiaverunt, quam suis abbatibus, quibus obedientiam promiserunt.“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 100, 29.

Bernold von Konstanz

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Wenn von „consilium“ im Sinne der Veranstaltung der Kirche, der Versammlung der Prälaten die Rede ist, so ist zu fragen, ob die Bedeutung von „consilium“ als bloßem Ratschlag, als unverbindlicher Hilfestellung die Rede ist. Es ist ja von der Reformpartei bezweckt aufzuweisen, dass das Konzil nur rechtmäßig sei, wenn der Papst es zusammenruft, es leitet und seine Beschlüsse genehmigt. Läge es da nicht nahe, noch einen Schritt weiterzugehen und das Konzil als bloßes „consilium“ an den Papst zu verstehen, nämlich als Rat an den Papst, mit welchem dieser frei und souverän umgehen darf? Doch schreckt die päpstliche Partei vor einem solchen Schritt zurück; vom „Rat“ als „beratender Gruppe“ unterscheidet sich im übrigen das Konzil durch die Einberufung, die Teilnehmerbedingungen und Stellvertretung, die Appellationsmöglichkeit und die Pflicht, seine Beschlüsse durch den Heiligen Stuhl genehmigen lassen zu müssen. 3. „ius“ Papst Leo bezeugt dies: „Auch wenn immer wieder die Leistungen der Inhaber von Bischofssitzen verschieden sind, so verändern sich deswegen doch nicht die Rechte ihrer Sitze. Ehrgeizige Amtsinhaber oder neidische Konkurrenten können für solche Sitze Belastungen darstellen, mindern tun sie deswegen nicht die Würde des Sitzes.“25 „Ius“ steht für den Rechtsstatus eines Amtes. Bevor man ausgiebig vom konkreten Menschen als Träger unverlierbarer Rechte sprach, sah man Ämter als Träger solcher Rechte an. Die Trennung von Amt und Person verhindert es, dass Rechtsverluste des Inhabers oder Strafen, die er auf sich lädt, das Rechtsensemble, mit dem das Amt oder der Bischofssitz ausgestattet ist, beeinträchtigen. „Ius“ und „iura“ stehen also im Zusammenhang einer Differenzierung. Der Begriff des „ius“ verhilft dazu, die Amtsgewalt zu bezeichnen. 4. „lex“ „Sehr oft haben die heiligen Väter verbindlich gesagt, dass über jemanden, der nicht vor Gericht gegenwärtig ist, keine Verhandlung stattfinden und kein Urteil gesprochen werden darf. Dazu hat sich etwa der heilige Papst Zepherinus so geäußert: Das haben nämlich die göttlichen und die menschlichen Gesetze

25

„attestante [...] papa leone: ‚Etsi […] nonnumquam diversa sunt merita presulum, iura tamen permanent sedium, quibus possunt emuli perturbationem aliquam fortassis inferre, non tamen possunt minuere dignitatem‘.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 184, 2 – 5 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 140, 40 – 42.

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untersagt.“26 Das gleiche Verbot findet sich auch in der Collectio der 74 Titel, etwa im fünften und 13. Titel.27 Noch stehen nicht subjektive Herrschaftsrechte am Beginn des Rechtsdenkens, vielmehr nimmt das Gesetz diesen Vorrang ein. Statt „Naturrecht“ zu sagen, verwendet Bernold das Wort „göttlich“, was nicht ungewöhnlich war zu seiner Zeit. Ungewöhnlich, aber in einem Brief Papst Leos I. ist zu lesen „leges ecclesiasticorum canonum“, „Gesetze des kirchlichen Rechts“.28 Mit der Wendung „legum severitate subiacere“29 schließt sich Bernold an die römische Rechtssprache an, in welcher „severitas“ als „severitas edicti“, „severitas senatus consulti“30 oder als „severitas iudicantis“31 auftritt. Wenn von „praevaricatores divinarum legum“32 die Rede ist, so sind die römischrechtlichen Ausdrücke noch oder wieder gegenwärtig und geläufig. Während „Praevaricatio“ im Hochlatein allerdings ein Vergehen des Anklägers oder des Anwalts ist, das sie dadurch begehen, dass sie die Gegenpartei begünstigen,33 ist mit obigem Gebrauch von „praevaricator“ der Übertreter der göttlichen Gesetze gemeint; in diesem Sinn verwendet es der Codex Theodosianus.34 Auch der Ausdruck „pro lege observari“35, als Gesetz beachtet werden, findet sich in der römischen Rechtssprache.36 Während „obviare“ als „obviare fraudi“ oder „obviare cupiditatibus“ oder „obviare telo“37 eher positiv verwendet wird, gebraucht es Ber-

26

„[...] sancti patres sepissime decernunt, ne quis absens iudicetur; ut beatus Zepherinus papa: ‚Quia hoc, inquit, et divinae et humanae leges prohibent‘.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 178, 3 – 5 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 138, 37 – 39. 27

Gilchrist, Diversorum patrum sententiae (Anm. 11), S. 46 (cap. 48), S. 48 (cap. 52) und S. 71 f. (cc. 103, 106). 28

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 132, 16 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 126, 43. 29

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 106, 7 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 121, 24. 30

Dig. 14. 6. 9. § 2; Dig. 47. 9. 1. § 1; Dig. 48. 10. 15. prc.

31

Dig. 38. 2. 14. § 4.

32

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 126, 13 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 125, 4. 33

Dig. 3. 2. 4. § 4 und Dig. 50. 16. 212 u. a.

34

Codex Theodosianus 16. 7. 3 § 1.

35

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 107, 12 – 13 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 114, 24. 36

Dig. 1. 3. 33: „diuturna consuetudo pro iure et lege observari solet.“

37

Cod. Just. 11. 4. 1; Cod. Just. 10. 32. 51; Cod. Just. 3. 27. 1.

Bernold von Konstanz

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nold negativ als „sanctorum legibus obviare“38, „sich den Gesetzen der Heiligen entgegenstellen“. 4. „lex naturae“ „Naturgesetz“ ist als Begriff in den drei Texten, die Stöckly ediert hat, nicht vertreten. Doch teilt Bernold die Gesetze in „generales“, die für alle Zeit gelten sollen, und in Gesetze „ad tempus“, Gesetze auf Zeit ein. Man müsse mit größtem Eifer und höchster Behutsamkeit jeweils erforschen, „welche Regelung die heiligen Väter nur auf bestimmte Zeit und der Dispens zugänglich erlassen wollten, und welche sie für alle Zeit und allgemeine in Geltung zu wissen beabsichtigten; die jeweiligen Gründe sind nämlich verschieden, für die Gesetze auf Zeit und für die unabänderlichen.“39 Die Dispens kann nur von dem allgemein geltenden Gesetz gegeben werden. Es sind damit noch einmal die allgemeinen Gesetze in unabänderliche und abänderliche Gesetze zu unterscheiden. Dass von „lex Iudaeorum“ und „lex moysi“ die Rede ist, ist spätestens seit Paulus geläufig.40 5. „romanae leges“ Sie gelten als ausbeutbare Erfahrung. „Schließlich muss man wissen, dass unsere Vorfahren die Schriftstücke durch Datumsvermerk rechtskräftig machten. So haben es auch die römischen Gesetze vorgeschrieben, welche die Kirche übernimmt. In ihnen heißt es: „Wenn nach Erlass dieser Regelungen irgendwelche Edikte oder Konstitutionen ohne Angabe von Tag und Konsul angetroffen werden, so entbehren sie der Autorität.“41 Es bestand Bedarf an

38

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 172, 8 f. = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 136, 23. 39

„[...] quid sancti patres dispensatorie quasi ad tempus servandum instituerint, quid etiam generaliter omni tempore tenendum censuerint; alia enim ratio est eorum, quae dispensatorie instituta videntur, alia generalium.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 181, 5 – 7 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 139, 44 – 46. 40

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 172, 6 f. = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 136, 21 f. 41

„Sciendum tamen, quia maiores nostri scripta annotatione temporum firmare consueverunt. sicut et Romane leges, quas suscepit ecclesia, praecipiunt. Dicunt enim: ‚si qua post hec edicta sive constitutiones sine die et consule fuerint deprehense, auctoritate careant‘.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 154, 14 – 18; Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 133, 12 – 15, Zitiert ist aus Codex Theodosianus. Buch I Titel 1. Lex 1.

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einer solchen Reglung, welche echte von falschen päpstlichen Schreiben zu sondern half. Fehlten Datum der Ausstellung und Name nun nicht des Konsuls, sondern des Papstes, so kam dieser Erklärung keine Rechtsgeltung zu. Es dürfte einer der Wege der Rezeption des Justinianischen Gesetzeswerks im Westen über den Codex Theodosianus geführt haben. 6. Findet sich das Sprichwort „Principis voluntas lex est“? „Der Willkürentscheid des Fürsten hat Gesetzeskraft“? Kommt es direkt oder indirekt vor? Indirekt ja! „Es ist nämlich ein Unterschied, ob man die Begründung der eigenen Entscheidung in Nützlichkeit und Notwendigkeit oder in Habsucht, Vorurteil oder der eigenen Willkür sucht.“42 Wenn ansonsten von „voluntas“ die Rede ist,43 dann nicht in diesem staatspolitischen Sinne, sondern ist als Auskunft über Zurechnung gedacht. Und wie steht es mit „Princeps a lege absolutus est“? Wir werden weiter unten sehen, dass der weltliche Fürst eben immer an göttliches, natürliches und kirchliches Recht gebunden ist. Was den Papst betrifft, so muss er z. B. neues Recht durch gewandelte Umstände rechtfertigen – und er muss rechtgläubig sein.44 Die Gregorianer bekämpften die Position, dass das Recht über dem Papst stehe.45 7. „privilegium“ Dem römischen Pontifex „geben die kirchenrechtlichen Vorschriften zweifellos dieses Vorrecht“, nämlich „vom kirchlichen Recht auf Zeit zu dispensieren“46; „Romani pontificis privilegia“ dienen als exemplum für alle Kirchen-

Siehe Peter Landau, Kanonisches Recht und römische Form. Rechtsprinzipien im ältesten römischen Kirchenrecht, in: Der Staat 32 (1993), S. 553 – 568. 42

„Alia etenim est causa utilitatis et necessitatis, et alia avaritiae et presumptionis aut propriae voluntatis.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 174, 8 f. = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 137, 13 f. 43

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 116, 8 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 121, 32; Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 174, 1 f. = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 137, 8; Stöckly, Fontes (Anm. 1), S.174, 2 und 174, 9 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 137, 8 und 137, 14. 44

Sieben, Konzilsidee (Anm. 1), S. 147.

45

Hartmann, Autoritäten im Kirchenrecht (Anm. 21), S. 425 – 446.

46

„illa sedes semperhoc habuit privilegium“, nämlich „ut canones pro tempore dispensarent.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 183, 12 f. = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 140, 35 – 38; – „Cum et ipsi canones tale ei privilegium indubitanter con-

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provinzen; ein Privilegium ist dann zu Recht erteilt, wenn es unter gewissenhafter Prüfung der Zeitumstände je nach den daraus sich ergebenden Notwendigkeiten erging. III. Rechtssetzung mit Ziel und Mittel Ziel aller Rechtssetzung und -erhaltung ist es, „Böses zu verbieten und das Gute sich verfestigen zu lassen. Sie haben sich äußerst stark bemüht und hätten dieser Forderung doch nicht gerecht werden können, wenn sie sich nicht bemüht hätten, wegen der Verschiedenheit der Zeiten einmal milder, einmal strenger vorzugehen“47. Ein anderes Ziel der Rechtsordnung, das sich bei Bernold findet, ist die „utilitas ecclesiae“. Die Päpste und Bischöfe „würden mit allem Einsatz für die kirchlichen Notwendigkeiten sorgen, sei es dass sie die Kanones in aller Strenge beobachteten, sei es dass sie je nach der Eigenart der Zeit die Strenge für eine bestimmte Zeit abmilderten.“48 Die „utilitas“ ist nicht die des Einzelmenschen, sondern die der Körperschaft Kirche.49 „Necessitas aut utilitas“ heißt es einmal bei Amtseinsetzungen; dort gilt also eines der beiden Kriterien. Der Text Bernolds ist den Pseudoisidorianischen cesserint“, nämlich „canones [...] pro consideratione temporum nunc“ intendere, nunc remittere. Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 184, 17 f. u. 15 – 17 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 141, 8. „omnium provinciarum privilegia iudicarent observanda“ („Die Privilegien aller Provinzen waren zu beachten“). Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 184, 14 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 141, 5 f. 47

„Semper enim mala prohibere et bona instituere potissimum studuere, quod procul dubio efficere non possent, si non pro diversitate temporum, nunc mitius, nunc severius, incedere studuissent.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 92, 3 – 6 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 117, 32 – 34. 48 „ut ecclesiastice utilitati summopere providerent, sive canonum rigorem observarent sive pro qualitate temporis eum ad tempus temperarent.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 92, l – 3 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 117, 30 – 32. 49 „ecclesiastice utilitati“: auch Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 93,10 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 118, 10; – „Utilitas“: Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 174, 8 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 137, 11; „utilitas ecclesiastica“: Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 91, 10 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 117, 27; Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 169,5 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 135,26; Stöckly, Fontes (Anm. 1), S.181, 18 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 140, 9; siehe auch Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 98, 42 und S. 117, 37, die von „ecclesiastica necessitas“ sprechen; siehe auch Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 92, 16.

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Dekretalen entnommen.50 „Denn wie die Bischöfe die Macht haben, rechtmäßig Bischöfe und die anderen Mitglieder des Klerus zu weihen, so steht ihnen auch die Macht zu, so oft es Nutzen oder Notwendigkeit erheischen, in der besprochenen Art auch die genannten Personen zu versetzen und zu inthronisieren, allerdings nie ohne die Autorität und Erlaubnis des heiligen Römischen Stuhles.“ Es schließt sich der oben bereits übersetzte Satz über die „voluntas“ in diesem Text an.51 Der „Utilitas ecclesiae“ tritt nicht die „Salus animarum“ entgegen, wie es in einer späteren Zeit geschah. Aber wann genau? In der Schrift „De sacramentis excommunicatorum“ ist von „cum salute animae“ die Rede.52 IV. Abänderung der Gesetze Dem Papst steht das Recht zu, die Gesetze abzuändern. Für diözesane Gesetze kommt dem Bischof die Kompetenz zu. Rechtsquelle ist für Bernold also nicht ausschließlich der Papst, sondern auch der Bischof, freilich für sein Territorium. Die Beschlüsse des Konzils bedürfen indes päpstlicher Genehmigung. Weiter gefasst, wenn auch in negativer Form ist allerdings der Satz Bernolds: „Keine Rechtsregelung, die im Gegensatz zur kanonischen Wahrheit steht, ist als echt in die Rechtsordnung einzuführen.“53 Weder Papst noch Bischof ist an die Gesetze oder sonstigen Erlasse seiner Vorgänger gebunden. „Kein Papst nimmt seinem Nachfolger auf dem Heiligen Stuhl das Recht weg, je nach der Notwendigkeit der Zeit Canones und sonstige Bestimmungen seines Vorgängers rechtswirksam abzuändern.“54

50

Paul Hinschius, Pseudoisidorischen Dekretalen, Leipzig 1863, S. 152 f.

51

„Nam sicut episcopi habent potestatem ordinare regulariter episcopos et reliquos sacerdotes, sic, quoties utilitas aut necessitas exegerit, supradicto modo et mutare et intronizare potestatem habent; non tamen sine sacrosanctae Romanae sedis auctoritate et licentia. Alia etenim est causa utilitatis et necessitatis, et alia avaritiae et presumptionis aut propriae voluntatis.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 174, 4 – 9 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 137, 10 – 14; siehe Anm. 42. 52

Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 90, 39.

53

„Nullum caput canonicae veritati contrarium pro autentico est recipiendum.“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 24, 13. 54

„Nullus enim apostolicus suum successorem privilegio sedis apostolicae privat, quin pro sui temporis necessitate non solum canones, sed et sui antecessoris sanctiones valeat mitigare.“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 23, 24 – 26; siehe auch Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 184, 5 – 12 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 140, 42 – 141, 4; Hartmann, Autoritäten im Kirchenrecht (Anm. 21), S. 442; H. M.

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Eine bestimmte Einstellung ist gegenüber erfolgten Abänderungen nötig: „So wie wir nämlich die ursprünglichen Ursachen der einzelnen Verfassungen sorgfältig erforschen, so müssen wir auch davon ausgehen, dass jede einzelne Regelung mit ihren Ursachen je nach der Verschiedenheit der Zeit ihr am besten entspricht und so den Nutzen der Kirche am nächstmöglichen erreicht.“55 Grund für die Abänderung der Gesetze selbst und nicht bloß ihrer Auslegung ist die Änderung der Zeit.56 Es kann z. B. die einstige Notwendigkeit, die zu dem Gesetz geführt hat, verschwunden sein; so wurde eine gesetzliche Festlegung des Konzils von Nikäa außer Kraft gesetzt.57 So galt in Zeiten der ChrisKlinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit im frühen und hohen Mittelalter, in: Lex und Sacramentum im Mittelalter (= Miscellanea medievalia 6), Berlin 1969, S. 174. 55 „Si enim singulorum statutorum originales causas diligenter perquirimus, singula suis causis pro diversitate temporis optime competere et ecclesiastice utilitati potissimum intendere reperiemus.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 93, 8 – 10 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 118, 8 – 10. Siehe auch: „necessitas temporis“: Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 182, 7; 183, 9; 185, 12; – „pro qualitate temporis canonum rigorem ad tempus temperare“: Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 92, 2; – „ratio temporis“: Stöckly, Fontes (Anm. 1), S, 112, 8 und 113, 2; – „tam mensura temporis quam doloris“: Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 111, 10; 112, 4; 185, 6. 56

„Pro diversitate temporis“: Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 93, 9; und „Pro diversitate temporum“: Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 92, 5; s. oben. Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 93, 9 Die Änderung der Zeitumstände darf zur Änderung des Rechts, aber auch zur je angepassten Buße führen: Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 13, Anm. 50): „prout diversorum necessitas temporum“ in „De incontinentia“ zweimal, in „De damnatione schismaticorum“ zweimal, im „Apologeticus“: Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 86, 8. Siehe dazu: R. Sprandel, Über das Problem neuen Rechts im früheren Mittelalter, in: ZRG Kan.Abt. 48 (1962), S. 117 – 137. Mit der Formel (129) „diversitas temporum“ (d.t.) sei nicht gemeint, dass es eine Linie vom alten zum gelebten und angewandten und weiter zum zu setzenden Recht gebe, die eine Linie der Bereicherung und des Fortschritts sei. Nein! Man sieht es so, dass sich die Zeiten abwechseln, keine ist besser als die andere, alle sind unzureichend (129). Von d.t. ist bereits in verschiedenen merowingischen Konzilien die Rede. Wer mit der der Berufung auf „d.t.“ Recht ändere, wolle dem Willen Gottes in sich wandelnder Zeit gerecht werden: MGH.Conc, 1,73 und 100. Auch gibt es die Ansicht, dass die Jetztzeit schlechter als die Vorzeit sei, und man auch daher die Gesetze ändern, also anpassen müsse, so Regino von Prümm in: „De causis synodalibus et disciplinis ecceliastics“ (ed. E. H. Wasserschieben, 1840, S. 1). Das Bild vom Wandel der Zeiten findet sich bei Gregor d. Gr. und schon bei Gelasius (PL 67, Sp. 302); siehe auch: Isidor, Etymologien V, 21; Ivo v. Chartres, Dekretum IV, 168 (PL 161, col. 303); siehe auch Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit (Anm. 54), 157 – 188; bes. 169 – 174. 57

„Quod necessitas [...] pro remedio repperit, necessitate cessante debet utique cessare pariter, quod urgebat [...] hac ratione beatus Innocentius statutum niceni concilii de hereticis cum ordine recipiendis non iam adtendendum asseruit, eo quod iam necessitas

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tenverfolgung das Verbot, einen Bischof anzuklagen, in Zeiten des Friedens ist jedoch die Erlaubnis zur Anklage gesetzlich zu sichern.58 Es kann sich auch bei gleich bleibendem Gesetz die Auslegung ändern. „Der Wandel der Zeit erzwingt es gelegentlich, die Schärfe der Kanones nicht spüren zu lassen, so hat der heilige Papst Innocentius bei gewissen Fragen vorzugehen befohlen.“59 V. Die Dispens „Dispensatorie“ kommt über zehnmal in den Libelli de lite vor. Dispens ist die Befreiung vom Gesetz für den Einzelfall und ist das Dispensieren60 zeitweiliges Aussetzen der Rechtsgeltung für einen Notfall: Paradefall ist die Priesterweihe des Ambrosius, als er noch ein Neophit war, entgegen dem allgemeinen Kirchenrecht; und dass Papst Leo Priester zu Bischöfen weihte, welche von Laien zum Priester geweiht worden waren.61 Sie kann zeitlich befristet sein. Die Zuständigkeit für die Erteilung der Dispens hat der Papst inne. „Wundere dich nicht, dass die römischen Päpste diese Macht immer schon als eine beson-

illo tempore iam transierit, quae nicenos patres ita Novatianos recipere compulerit.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 181, 9 – 16 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 140, l – 7; siehe auch Hans-Henning Kortüm, Necessitas temporis. Zur historischen Bedingtheit des Rechts im frühen Mittelalter, in: ZRG Kan.Abt. 79 (1993), S. 34 – 55. 58

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 127, 5 – 23 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 125, 15 – 31. 59 „Sed et ratio temporum nonnumquam rigorem canonum remitti cogit, sicut beatus Innocentius papa in quibusdam faciendum decrevit.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 112, 8 f. = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 116, 5 f. 60 Zur Dispens: Josef Lederer, Der Dispensbegriff des kanonischen Rechts (MthStkan 8), München 1957. 61

„De his autem, quae non dispensatorie, sed generaliter instituta sunt, sanctus Leo papa I. omnibus episcopis scribens testatur: Non, inquit, in cuiusquam persona pretermittendum est, quod in generalibus statutis continetur. Quae etiam Gelasius papa semper regulariter custodienda iudicat, nisi aliqua vel rerum vel temporum perurgeat angustia. Nam et de his nonnumquam aliquid sancti patres remisisse leguntur pro necessitate temporum: ut in ordinatione sancti Ambrosii, quem ex neophito ordinaverunt, quod tamen generalia canonum statuta prohibuerunt. Item idem Leo, qui supra, quosdam ex laicis ordinatos in episcopatu confirmavit, licet et hoc sancti patres generaliter iam prohibuerint.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 182, l – 11= Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 140, 10 – 18.

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dere innehatten, von den Kanones für eine Zeit dispensieren zu dürfen.“62 Grund ist die Änderung der Situation. VI. Das Wissen, das Kennen des Rechts „Die Kanones zu kennen ist unabdingbar für den priesterlichen Beruf“63, denn erst die Kenntnis der canones erlaubt den wechselseitigen Vergleich, ermöglicht es den Sinn zu erheben und führt zu textkritischer Überprüfung.64 Zu kennen ist deshalb auch nicht nur die Norm, sondern zugleich ihr Kontext.65 VII. Excommunicatio und solutio iuramenti Thema sind der Ausschluss des Herrschers aus der kirchlichen Gemeinschaft und Lösung seiner Untertanen aus dem Treueverhältnis zu ihm.66 Nach längerer 62

„Nec mireris, si Romani pontifices hanc semper peculiariter habuerint potestatem, ut canones pro tempore dispensarent.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 183, 11 – 12 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 140, 35 f. 63

„Quapropter sacerdotibus necessaria est scientia canonum.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 172, 14 – 15 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 136, 28. 64

„Hanc autem nobis ita potissimum comparare poterimus, si eos frequenter legere et in legende competentiam sensus inquirere studeamus. Nam quamvis sacri canones apertam videantur pretendere litteraturam, multa tamen in eis obscura reperiuntur, quae a neglientioribus aliquando lectoribus quasi minus idonea deputantur, quae aptissima sunt, si competenter intelligantur, ut illud Niceni concilii de mutatione episcoporum.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 172, 15 – 21 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2). S. 136, 28 – 33. 65

„Consideratio quoque temporum, locorum sive personarum sepe nobis competentem subministrat intellectum, ut etiam diversitas statutorum nequaquam absurda vel contraria videatur, cum diversitati temporum, locorum, sive personarum apertissime distributa reperiatur.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 180, 19 – 22 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 139, 36 – 39; „pro consideratione temporum“: Stöckly, Fontes (Anm. 1), S.184, 16 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 141, 7. 66

Karl Hofmann, Der „Dictatus papae“ Gregors VII. Eine rechtsgeschichtliche Erklärung (= Görres Gesellschaft. Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaften 63), 1933, 149 – 152; Heinrich Weisweiler, Die päpstliche Gewalt in den Schriften Bernolds von St. Blasien aus dem Investiturstreit, in: Studi Gregoriani 4 (1952), S. 129 – 147; s. auch Appendix (Gilchrist, Diversorum patrum sententiae [Anm. 11], S. 196) Tit. 89. Nr.330: „Ex decretis Sancti Gregorii Pape Primi: – Decernimus reges a suis dignitatibus cadere et participatione corporis et sanguinis Domini nostri Iesu Christi carere, si presumant apostolice sedis iussa contemnere.“ Zum Quellennachweis siehe Gregors VII. Reg. 4, 23 und 24 (MGH.ES, Bd. II, S. 336. 6 – 8; S. 338. 10 – 14; JL

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Beweisführung mit Hilfe der Geschichte und päpstlichen autoritativen Texten schließt Bernold, dass es schon immer den Nachfolgern der Apostel zustand, sowohl kirchliche wie weltliche Leitungspersonen abzusetzen, also aus dem Amt zu entfernen. Sobald diese Absetzung rechtskräftig sei, würden sämtliche Personen, welche an die abgesetzte Person eidlich gebunden seien, von dieser Verpflichtung befreit sein.67 Zwei Sichtweisen treten sich während der Zeit des sogenannten Investiturstreites schroff gegenüber, die erste anerkennt, dass der Herrscher, der rex, der princeps oder auch der Imperator exkommuniziert werden könne, dass aber dadurch die auf den Herrscher zulaufenden Treueverhältnisse seiner Untertanen völlig unberührt blieben. Er selbst ist zwar vom Papst ausgeschlossen, deswegen sind die Untertanen keineswegs jedoch von ihren Pflichten befreit. Diese zwischen Herrscher-Papst-Beziehung und Untertanen-Herrscher-Beziehung differenzierende Sicht geht von der Selbständigkeit des politischen Corpus gegenüber der Ecclesia aus, leugnet aber nicht ein Zugriffsrecht der Kirche mit ihren Strafen auf die weltlichen Amtsträger. Eine monistische Sicht hingegen, die zweite Position, sieht mit der Exkommunikation des Königs unmittelbar die Verpflichtungen der Untertanen, der Vasallen, gegenüber dem Oberherrn als gelöst und die Untertanen von ihren Verpflichtungen befreit an. Diese Beziehungen sind meist in Eidesform eingegangen oder durch Eide verstärkt worden. Eide, Versprechen, Treueschwüre haben nur Sinn und erfüllen ihren Zweck nur innerhalb eines innerhalb der Kirche begründeten und gelebten Personenverhältnisses. Sobald einer der Partner außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft steht, gilt das Verhältnis als gelöst. Es treten Nuancen auf. Die einen sehen den Eid als aufgehoben an, weil sich nur so die Exkommunikation, die Isolierung des Herrschers vollziehen lasse. Für andere ist die Aufhebung des Eides nötig, um den Exkommunizierten anzutreiben, möglichst rasch wieder die Gemeinschaft der Kirche zu suchen. Für Bernold ist die Aufhebung der Eide der Unter-

5034, 5035). Gregor VII. lobt seinen Vorgänger, Gregor den Großen: (MGH.ES Bd. II, S. 378, 9 – 11; JE 1875). Siehe auch Appendix (Gilchrist, Diversorum patrum sententiae [Anm. 11], S. 195 f.) Tit. 88. Nr. 329: „Ex decretis Adriani Pape cap. XVIII. – Generali decreto constituimus ut execrandum anathema fiat et uelut preuaricator catholice fidei semper apud Deum reus existat, quicumque regum seu episcoporum uel potentum deinceps Romanorum presulum decretorum censuram in quocumque uiolauerit uel uiolari permiserit.“ 67 „Patet ergo satis aperte, quod presules apostolici tam aecclesiasticos quam saeculares prelatos valeant deponere. Unde et necessario consequitur, ut et subiectos de manibus prelatorum possint emancipare; non enim rata posset esse prelatorum depositio, si subiectorum nulla posset fieri subtractio.“ „De solutione iuramenti“: Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 146 – 149, hier S. 148, 25 – 28.

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tanen die rechtslogische Folge der Exkommunikation. „Wenn wir uns diesen Sachverhalt genau anschauen wollen, so wird der Eid dieser Unterwerfung den kirchlichen Oberen nur in Hinsicht auf ihr Amt geleistet, auch wenn der Eid dies nicht eigens ausdrückt. Doch ist es bei der Eidesleistung zweifellos so zu verstehen, dass die eidliche Verpflichtung nur solange Bestand hat, als der Vorsteher diesem seinem Amt auch wirklich vorsteht.“68 Unmittelbar und unabtrennbar von dem Akt der Exkommunikation ist der andere Akt mitzudenken, dass also unmittelbar in der Absetzungsverfügung auch die Lösung vom Gehorsamseid erfolgt, auch wenn beide Akte verschiedene Adressanten haben.69 Eigentlich sind, so Bernold, deswegen mit der Absetzung etwa des Bischofs oder des Königs die jeweiligen Untertanen vom Eid gelöst, doch gebe es „infirmi“, allzu vorsichtige, unsichere Zweifler, „Bedenkenträger“, die sich nur dann frei vom Eid wissen, wenn eine solche Aufhebung des Eides ausdrücklich geschehen ist.70 Es zielt also die päpstliche Rechtspolitik eine gleichsam ökonomische Rationalisierung, eine Sparsamkeit der Akte an, welche auf Seiten der Empfänger allerdings ein beträchtliches Wissen voraussetzt. „Daraus folgt mit Notwendigkeit, dass die Päpste die Untertanen aus ihrer jeweiligen Herrschaft herauslösen und befreien können. Denn die Absetzung der Oberen hätte ja gar keine Auswirkung, wenn die Untertanen ihrer Herrschaft nicht entzogen würden.“71 Beispiele greift Bernold aus seiner Zeit heraus. So wurden die

68

„[...] si diligenter considerare volumus, iuramentum subiectionis non solet exhiberi prelatis, nisi pro respectu prelationis, quod etsi iuramento in verbis specialiter non exprimatur, in iuratione tamen subintelligendum esse non dubitatur, videlicet, ut iste illi fideliter subiaceat, quandiu ille isti officio prelationis presideat.“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 149, 13 – 16. 69

„Nam in ipsa canonica depositione prelatorum itidem et subiectorum absolutio continetur, que semper ibi subintelligitur, etiamsi in sententia depositionis signanter non annumeretur.“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 149, 26 – 28. 70

„Nec utique multum esset necessarium, ut ecclesia subiectos ab huiusmodi iuramento specialiter solveret, quorum prelatos canonice iam deposuisset, nisi propter quorundam infirmorum dubitationem, qui in talibus causis nihil putant actum, nisi quod specialiter fuerit prenominatum. Est enim cuilibet eruditio satis manifestum, quod prorsus illi subesse non debemus, quem indubitanter depositum, ne nobis preesse debeat, cognoscimus.“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 149, 21 – 26. 71

„Unde et necessario consequitur, ut subiectos de manibus praelatorum possint emancipare; non enim rata posset esse prelatorum depositio, si subiectorum nulla posset fieri subtractio.“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 148, 26 – 28.

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Bamberger und die Florentiner jeweils vom Gehorsam gegenüber ihren Bischöfen gelöst.72 Dass nicht die erste, wohl aber die zweite Theorie ein gewaltiges Druckmittel auf die Kirchen- und Papstkonformität des Herrschers auszuüben vermochte, liegt auf der Hand. Religiöse, ja oft nur kirchenpolitische Einstellungen lösten öffentliche politische Folgen aus. Die Trennung beider Bereiche hinderte nicht den Versuch, bei schwer wiegenden Angelegenheiten beide Bereiche gleichzuschalten, wie es sich bei der Figur des crimen mixtum und des forum mixtum zeigt. Weltliche und kirchliche Gewalt hatten sich vereinigt, ein und dasselbe Delikt, wie Hexerei, vor einem Gerichtshof zu verfolgen. VIII. Das Strafrecht und die Grenzen des Strafvollzugs Zweck der Strafe sind die „correctio“, die Zurechtweisung, und die „deterritio“, die Abschreckung.73 Als Mittel dieser Strafzwecke dienen die Excommunicatio und die Arbeit um der Genugtuung willen.74 Die Strafkompetenz steht der Kirche, d. h. der apostolischen Autorität, zu. Sie darf über Könige gerichtlich befinden. Wenn Christen über Engel richten, so stehe der Kirche erst recht über das argumentum de maiore ad minus die Gewalt über die weltliche potestas zu.75 Ein besonderer Fall ist noch zu besprechen, er betrifft den Rechtsvollzug bei einer sehr hohen Zahl an Rechtsbrechern. Bei einer „multitudo delinquentium“76 ist die Strenge des Rechts zu mildern, „emollire rigorem canonum“77.

72

„In nostris quoque temporibus sedes apostolica Babinbergenses ab Eremanno et Florentinos a Petro quondam episcopis absolvit, nec aliquos eis quasi episcopis subiacere permisit, etiamsi eisdem iuramentum subiectionis iam fecissent.“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 149, 3 – 5. 73

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 110, 9 – 12 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 115, 21 – 23. 74

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 110, 12 – 18 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 115, 23 – 27. 75 „Quid enim mirum, si apostolica auctoritas reges iudicare posse creditur, quae iuxta apostolum et angelos iudicatura non dubitabitur.“ Bernold beruft sich auf l Kor 6,3 und fügt das Zitat gleich an: „Nescitis quoniam et angelos iudicabimus, quanto magis saecularia?“; und um den von der Conclusio her aufgebauten Syllogismus vollständig zu machen, fährt er fort und bringt die erste Prämisse nun: „Nam reges sacerdotali potestati certum est subiacere [...]“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 148, 1 – 4. 76

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 113, 13 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 116, 21.

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Bernold weist darauf hin, dass sich nicht immer die volle Strafgerechtigkeit erreichen lasse, z. B. dann nicht, wenn die Zahl der Täter, die sämtlich zu bestrafen wären, so hoch ist, dass das Gemeinwesen ausbluten würde, wenn man alle jene hinrichten würde, die es eigentlich verdient hätten.78 Was will Bernold damit sagen? Er will mitteilen, dass es Pflicht sei, Schismatiker und Simonisten auszustoßen und Kleriker abzusetzen, dass jedoch das Überleben und Funktionieren kirchlichen Dienstes dem radikalen legalen Vorgehen Einhalt gebieten könne. Immanuel Kant diskutiert dasselbe Verhältnis von Straf- und Überlebensanspruch.79 Kann es sein, dass solche Überlegungen aus dem kanonischen Recht in die säkularen philosophischen Überlegungen eindrangen und übernommen wurden? Es müsste dann zu zeigen sein, dass sie nicht schon vorher und außerhalb des kanonischen Rechts angestellt wurden. Dies ist unwahrscheinlich! Wie steht es dabei mit dem römischen Recht? Während es Kant darauf ankam, die Grenzen aufzuzeigen, welche einer Verwirklichung der Gerechtigkeit im Wege standen, geht es Bernold darum, einen politischen Wink zu geben, dass auch eine klare cluniazensische und päpstliche Forderung „vor Ort“ nicht ebenso radikal und unverzüglich umgesetzt sein müsste. IX. Delegation Der Papst kann direkt, an den Bischöfen vorbei oder über sie hinweg, die Diözesanangehörigen verurteilen.80 In den komplexer werdenden Gesellschaften stellte sich die Frage, ob übertragene Macht verlorene Macht ist; ob Delegation mit Machtverlust des Delegierenden verbunden ist. Dahinter steht die philosophische Annahme eines Substanz-Akzidens-Verhältnisses. So wenig sich die Substanz durch verlorene Akzidenzien an Kraft erschöpft, so wenig verliert der Papst durch Delegierungen an Macht. Er steigert im Gegenteil seine Prä-

77

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 113, 18 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 116, 25. 78 „Aliquando etiam et ipsa multitudo delinquentium rigorem discipline non admittit, ut quod a multis peccatur canonice vindicari non possit. In qua causa iuxta attestationem eiusdem apostolici priora Dei iudicio committenda sunt et de reliquo maxima sollicitudine praecavendum. Ipsa quoque consideratio fragilitatis humane nonnumquam rigorem canonum cogit emollire.“ Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 113, 12 – 18 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 116, 21 – 25. 79

Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre. Öffentliches Recht. § 49 (Akad. Ausgabe VI, Berlin u. Leipzig 1907), 334. 80

Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 130, 8 – 131, 5 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 126, 21 – 26; siehe auch Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 62, 34 und S. 88, 24 – 32.

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senz im Raum.81 Er erweitert seinen Einflusskreis und wirkt direkt durch die Legaten, deren Macht völlig die des Delegierenden ist und bleibt. X. Widerstandsrecht Es gilt, dass Gott mehr zu gehorchen ist als allen Menschen. Auch die kaiserliche Majestät ist nicht so erhaben, dass ihr gegen Gottes Gebot gehorcht werden müsse. Sie stehe unter ihm.82 XI. Das Gerichtsverfahren gegen Abwesende Während der Papst Gregor VII. im „Dictatus Papae“ für sich in Anspruch nahm, auch ein Gerichtsverfahren gegen Abwesende zu führen und sie auch zu verurteilen, nahm Bernold eine differenzierende Position ein. Er arbeitete heraus, dass die dem Recht innewohnende Gerechtigkeit es verlange, den Beschuldigten aufzufordern vor Gericht aufzutreten; und dass erst, wenn festgestellt sei, dass er sich schuldhaft weigere zu erscheinen, ein Prozess gegen ihn in seiner Abwesenheit durchgeführt werden dürfe.83 XII. Schlussbemerkungen Bernold erweist sich nicht als strammer, blinder Gefolgsgänger der päpstlichen Partei, auch vertritt er nicht den Standpunkt, dass der Papst über dem

81 „Unde liquido demonstratur, quod quilibet episcopus nec super gregem sibi commissum tantam potestatem habeat, quantum presul apostolicus, qui licet curam suam in singulos episcopos diversit, nullomodo tamen se ipsum sua universali et principali potestate privavit, sicut nec rex suam realem potentiam diminuit, licet regnum suum in diversos duces, comites sive iudices diviserit.“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 88, 2 – 6 (aus: „Apologeticus“, S. 59, 21 – 88, 40). 82

„Hocque omnes generaliter tam spiritualites quam seculares firmissime adtendant, ut nulli umquam contra Deum et apostolicam auctoritatem obedient: ‚oportet enim plus obedire Deo quam homines‘. Unde quantumcumque imperatoria maiestas excelsa videatur, non est tamen aequum, ut contra Deum ei obediatur.“ Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 100, 31 – 35. 83

Damit korrigierte Bernold auch die undifferenzierten Verbote der 74-Titel Collectio (siehe dort vor allem den 5. und 13. Titel). Siehe zu diesem Punkt auch Hofmann, Dictatus papae (Anm. 66), S. 135 – 138; siehe auch Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 30, 10 – 34.

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Recht stehe.84 Selbstverständlich kann der Papst gesetztes Recht abändern. Doch zeigen Bernolds Ausführungen zur Gesetzesänderung, zur Dispens und zum Gerichtsverfahren gegen Abwesende, dass Bernold demjenigen, der sich des Rechtes bedient, mitteilt, er habe sich der inneren Logik des Rechts zu unterwerfen. Diese verlangt aber, Änderungen bestehenden Rechts ebenso zu rechtfertigen wie Ausnahmen von seiner Allgemeinheit. Es sind ja Stabilisierung und Allgemeinheit wesentliche Charakteristika des Rechts. Gleichfalls fordert die sozusagen ursprüngliche „Waffengleichheit“ vor dem Gesetz und Gericht, dass erst eigene Schuld den Angeklagten in jenen asymmetrischen Zustand versetzt, wie es ein ohne ihn durchgeführtes Gerichtsverfahren ist.

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84

Zur Einschätzung siehe Sieben, Konzilsidee, (Anm. 1) S., 113 – 152; Hartmann, Autoritäten im Kirchenrecht (Anm. 21), S. 439; Klinkenberg, Die Theorie der Veränderbarkeit (Anm. 54), S. 175; siehe auch Stöckly, Fontes (Anm. 1), S. 183, 11 = Thaner, Libelli de lite Bernoldi II (Anm. 2), S. 140, 35.

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Bernold von Konstanz

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Der Kanonist Sicardus von Cremona (∗ ∗1155 – †1215) in Mainz (1178 – 1183) Von Ilona Riedel-Spangenberger I. Einleitung „Wenige Ereignisse haben auf dem Gebiete der Geistesgeschichte einen so tiefen Einschnitt gemacht, wenige aber auch den äußeren Gang der Dinge so nachhaltig beeinflusst wie die Geburt der Kanonistik. Kaum mit geringerem Recht als die Gegenwart das Zeitalter der Naturwissenschaften und der Technik kann man die Vergangenheit von der Mitte des zwölften Jahrhunderts bis ins fünfzehnte hinein die kanonistische Periode nennen. Die Kanonistik hat damals die Welt in Atem gehalten ... “.1 In dieser emphatischen, durchaus aber überzeugenden Weise äußert sich der Kanonist und Rechtshistoriker Ulrich Stutz2 zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die Epoche des klassischen kanonischen Rechts als einer wissenschaftlich und politisch höchst wirksamen Disziplin. Im Mittelpunkt der heutigen Überlegungen steht diese Kanonistik des 12. Jahrhunderts. Einer ihrer Protagonisten ist der Dekretist Sicardus von Cremona, der sich in seiner Summa zum Decretum Gratiani selbst „Mogontinae ecclesiae filius spiritualis“ nennt, geistlicher Sohn der Kirche von Mainz3. Wer war diese Person, und was hat Sicardus im Hochmittelalter mit Mainz und mit der Verbreitung des Kirchenrechts an diesem Metropolitansitz zu tun?

1

Ulrich Stutz, Gratian und die Eigenkirchen, Weimar 1911, S. 1.

2

Vgl. Peter Landau, Art. Stutz, Ulrich, in: LKStKR 3, 2004, S. 631 f.

3

Für die Textbezüge liegt die von Johann Friedrich von Schulte transskribierte Handschrift von Bamberg zugrunde, die auch die Apologia mit dem Hinweis auf den Mainzer Aufenthalt des Sicardus enthält: „Ego vero Sychardus Cremonae filius natione et Mogontinae ecclesiae filius spiritualis translatione emulos patienter sustineo, et mei iudicium matris arbitrio delinquo“; vgl. Johann Friedrich von Schulte, Zur Geschichte der Literatur über das Dekret Gratians: Wiener Sitzungsberichte 63, 1870, S. 336 – 352, hier S. 341.

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Der zeitgenössische Jurist und Rechtshistoriker Peter Landau vermutet in diesem Zusammenhang einen frühen Hinweis auf die Verbreitung des Kirchenrechts in Deutschland und spricht sogar von einer „kanonistische(n) Produktion im Raum Mainz bereits um 1180“4. In welcher Weise ist das Kirchenrecht jener Zeit für Mainz interessant und relevant? II. Person und Zeitumstände Sicardus wird um 1155 als Mitglied der Familie der Casellani in der lombardischen Bischofsstadt Cremona südöstlich von Mailand geboren5. Schon in früher Jugend genießt er die Bildung seiner Zeit. Er erhält Unterricht in den weitgehend formalisierten Artes liberales mit Grammatik, Rhetorik und Dialektik, die als aus der Antike überkommenes Wissen systematisch an Dom- und Stiftsschulen6 vermittelt werden. Denn diese Bildung ist die Voraussetzung für ein Studium des Kirchenrechts in den neu entstehenden Universitäten. Die Artes vermitteln bereits, dass alles Wissen einer „divisio generis in species“, einer Gliederung der Gattung in Arten, dann einer „divisio totius in partes“, einer Gliederung des Ganzen in Teile, und schließlich einer „divisio vocis in significationes“, d. h. einer Gliederung des Begriffs in Bezeichnungen unterworfen werden kann mit den Zielen, eine Sache zu analysieren und verschiedene Gesichtspunkte zu einer widerspruchsfreien, d. h. normativen Synthese zusammenzuführen7. Methodisch gesteuerte, systematische Differenzierung und rational begründete Sachbezogenheit im Denken sind auch die Devise der neu entstehenden und auf den Artes fußenden Wissenschaften der Philosophie, Theologie, Medizin und der Rechtswissenschaften. Ende der 60er Jahre geht

4

Peter Landau, Die Anfänge der Verbreitung des klassischen kanonischen Rechts in Deutschland im 12. Jahrhundert, in: Chiesa, diritto e ordinamento della „Societas christiana“ nei secoli XI e XII. Atti della nona Settimana internazionale di studio Mendola, 28 agosto – 2 settembre 1983, Milano 1986, S. 280 f. 5

Vgl. Stephan Kuttner, Zur Biographie des Sicardus von Cremona, in: ZRG Kan.Abt. 25 (1936), S. 476 – 491. 6

Vgl. Joachim Ehlers, Dom- und Klosterschulen in Deutschland und Frankreich im 10. und 11. Jahrhundert: Schule und Schüler im Mittelalter. Beiträge zur europäischen Bildungsgeschichte des 9. bis 15. Jahrhunderts. Hrsg. v. M. Kintzinger u. a., Köln / Weimar / Wien 1996, S. 29 – 52. 7

Vgl. Peter Classen, Studium und Gesellschaft im Mittelalter (= Schriften der Monumenta Germaniae Historica 29), Stuttgart 1983; Brigitte Englisch, Die Artes liberales im frühen Mittelalter (5. – 9. Jh.), Stuttgart 1994.

Der Kanonist Sicardus von Cremona (∗1155 – †1215)

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Sicardus nach Bologna zum Studium der Kanonistik und Legistik8, d. h. der Wissenschaften des Kirchenrechts und des römischen Kaiserrechts, das Anfang des 12. Jahrhunderts in Italien neu aufgefunden wird. Kanonistik lehrt dort ein Magister der Theologie, genannt Gratian9. Er legt die Grundlagen für die „practica externa“, d. h. die Anwendung des Kirchenrechts mit Hilfe seiner um 1142 entstandenen „Concordia discordantium canonum“, in der er das bis dahin aufgekommene Kirchenrecht (canones) nach der neuen Methode der Distinktionstechnik10 systematisch sammelt, sichtet, ordnet und in sachliche Übereinstimmung zu bringen sucht. Unter dieser Technik hat man das Aufteilen und Gliedern eines Komplexes von Aussagen und Themen zu verstehen, die Kunst der durch Vernunft gelenkten Unterscheidung. Dabei versucht Gratian die von den verschiedenen kirchlichen Autoritäten überkommenen als normativ geltenden Texte, die in sich oder im Vergleich mit anderen Texten nicht ohne Widersprüche sind, in den so genannten Dicta zur einer allgemein normativen Lösung zu bringen. Auf diese Weise entsteht ein praktikables Rechtsbuch, an dem sich das richtige Handeln der Kirche orientieren und ausrichten kann. Für die kirchlichen Autoritäten bedeutet diese Wissenschaft der Kanonistik zugleich die Unterstützung des eigenen Bestrebens für die Freiheit und Einheit der Kirche, nämlich durch Normen, die wegen ihrer Widerspruchsfreiheit allgemeine Geltung beanspruchen können. Zur selben Zeit entstehen ebenfalls in Bologna die wissenschaftliche Bearbeitung und das Studium des spätrömischen Kaiserrechts, das im Auftrag Justinians im 6. Jahrhundert zusammengestellt und im 12. Jahrhundert neu aufgefunden wird11. Die leges dieses Rechtes werden von den Legisten Pepo, Irnerius, Bulgarus, Placentinus und ihren Nachfolgern glossiert12. Sicardus studiert in Bologna, wie es dort üblich ist, die beiden Rechtswissenschaften. Er legt jedoch einen deutlichen Akzent auf die Kanonistik, die er eigenständig und originell weiterzuentwickeln versteht. Im Prolog seiner später verfassten „Summa“ zum Decretum Gratiani verweist er auf die Kunst

8

Vgl. Peter G. Stein, Römisches Recht und Europa. Die Geschichte einer Rechtskultur, Frankfurt/M. 31999, S. 76 – 95; Charles Lefebvre, Art. Sicard de Crémone, in: DDC 7, Sp. 1008. 9

Vgl. Peter Landau, Art. Gratian, in: TRE 14, 1985, S. 124 – 130.

10

Vgl. Christoph H.F. Meyer, Die Distinktionstechnik der Kanonistik des 12. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des Hochmittelalters, Leuven 2000. 11

Vgl. Johannes Fried, ... „auf Bitten der Gräfin Mathilde“. Werner von Bologna und Irnerius, in: Europa an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert. Beiträge zu Ehren von Werner Goez. Hrsg. v. K. Herbers, Stuttgart 2001, S. 171 – 206; Manlio Bellomo, L’Europa del diritto commune, Rom 51995; Europäische Rechtseinheit: Grundlagen und System des Ius Commune, München 2005. 12

Vgl. Stein, Römisches Recht (Anm. 8), S. 76 – 80.

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der Distinktionen, die nach eigener Aussage wie die Sterne in der Nacht das dunkle Firmament des immensen Werkes des Gratian erhellen, dem Kanonisten allerdings wegen der Fülle des Materials auch einige Aufgaben aufbürden, wie Sicardus selbst bemerkt13. Der Dekretist Sicardus entscheidet sich für den Klerikerstatus. 1168 empfängt er durch seinen Heimatbischof Offredus (1168 – 1185) die niederen Weihen. Anschließend unternimmt er weitere Studien der Theologie und Kanonistik in den im 12. Jahrhundert entstehenden Schulen von Paris, wo er schließlich selbst seit dem Jahr 1170 diese beiden Fächer gelehrt haben soll14. Unter den in dieser Zeit höchst mobilen Kanonisten, die in Bologna, im anglonormannischen Raum und in Paris studieren oder lehren, besteht ein reger Austausch15. Dennoch gibt es auch einige Unterschiede in der Arbeitsweise der italienischen und französischen Schulen. So ist die literarische Form der kanonistischen „Summa“ mit ihren „Quaestiones“ und „Distinctiones“, wie sie Sicardus hervorbringt, ein Charakteristikum der französischen Schule16, was letztlich auf Abaelards Schrift „Sic et non“ zurückgeht und zur selben Zeit auch in der Theologie Anwendung findet17. Sicardus wird deshalb weniger der Schu13

Vgl. den Text des Prologes bei Johannes F. v. Schulte, Zur Geschichte der Literatur über das Dekret Gratians: Wiener Sitzungsberichte 63, 1870, S. 338 f.: „Nos quoque licet scientia tenues sociorum tamen utilitatem ferventi animo cupientes, aliquid gazophylacio cum vidua ponimus et pratum Gratiani diffusum velut in sertum compingimus eiusque pelagus ad potabilem rivum reducimus. Celum tamen eiusdem alicubi sicut pellem extendimus et eius noctem stellis distinctionum aliquatenus illustremus. Quas partim a Graciano suscipimus, partim de scriptis in hac sciencia peritorum accepimus; partim a patribus nostris audivimus, partim immo nonnulla ex nostra quoque officina producimus. Nec curo si aliquorum lingua pruriat aut livescat invidia, dum multorum proficiat disciplina.“ 14 Vgl. L. E. Boyle, Art. Sicardus of Cremona: New Catholic Encyclopedia 13, New York u. a. 1967, Sp. 190; Rudolf Weigand, Frühe Kanonisten und ihre Karriere in der Kirche, in: ZRG Kan.Abt. 107 (1990), S. 144. 15 Vgl. Stephan Kuttner / Eleanor Rathbone, Anglo-Norman Canonists of the Zwelfth Century. in: Traditio 7 (1949 – 1951), S. 284 ff. 16

Vgl. Stephan Kuttner, Repertorium der Kanonistik (1140 – 1234), Prodromus corporis glossarum, I., Città del Vaticano 1937 (ND 1981), S. 151; ders., Réflexions sur les Brocades des Glossateurs, in: Mélanges Joseph de Ghellinck, Tom. II, Gembloux 1951, S. 785; Rudolf Weigand, Die bedingte Eheschließung im kanonischen Recht I, München 1963, S. 171 f. 17

Vgl. Hans-Jürgen Müller, Abaelards Weg in die Dialektik. Der „Meister des Scharfsinns“ umreißt das Feld für den scholastischen Wissenschaftsbetrieb, in: Peter Abaelard. Leben-Werk-Wirkung. Hrsg. v. U. Niggli, Freiburg / Basel / Wien 2003, S. 193 – 233.

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le von Bologna als der französischen und später auch der rheinischen Schule des Kirchenrechts zugerechnet18. Von wesentlicher Bedeutung für den Lebensweg des Sicardus ist das Doppelpapsttum, das von 1159 bis 1177 dauert. Infolgedessen stehen sich Papst Alexander III. und Kaiser Friedrich I. Barbarossa als politische und mächtige Gegner gegenüber19. Die Reichs- und Italienpolitik des Staufers ist geprägt von seiner Auffassung, wie Justinian als Schutzherr von Reich und Kirche die Geschicke der christlichen Kirche zu lenken und nach eigenem Recht zu regieren20. Dagegen ist die Amtsauffassung des theologisch und kanonistisch gebildeten Papstes Alexanders III.21 ganz vom kanonischen Recht bestimmt, das zugunsten der „auctoritas sacrata pontificum“ und der „libertas ecclesiae“ sein Bestreben unterstützen soll, sich als Kirche aus der „regalis potestas“, d. h. aus weltlicher Macht und Bevormundung immer mehr zu lösen. Die Oboedienzen und Machträume sind damit festgelegt: in England, Spanien und Frankreich sowie im deutschen Raum in der Kirchenprovinz Salzburg stehen Könige wie Geistliche auf der Seite Papst Alexanders III., der 1162 Italien verlassen und nach Montpellier fliehen muss. Das Reich, das Herzogtum Burgund und das Regnum Italicum dagegen folgen Friedrich I. Barbarossa sowie dem von ihm favorisierten Gegenpapst Viktor IV. Als sich die Liga der lombardischen Städte gegen den Kaiser und seine strenge Durchführung der Roncallischen Gesetze formiert und Burgund wie die Erzbischöfe von Salzburg und Mainz auf die Seite Alexanders wechseln, nimmt der Papst Verbindung zum Städtebund in der Lombardei auf, um diesen gegen den Kaiser zu stärken. In Mainz wird der dem Kaiser zugeneigte Christian von Buch Erzbischof (1167 – 1183). Er tritt an die Stelle des bisherigen Metropoliten Konrad von Wittelsbach, der die von ihm geforderte Eidesleistung auf den Kaiser verweigert hat und zu Alexander nach Frankreich geflohen ist. Aufgrund der Polarisierung zwischen Papst und Kaiser und deren unterschiedlichen Auffassungen vom Verhältnis zwischen regnum und sacerdotium werden auch die vom Kaiser bevorzugte Legistik und die durch den Papst unterstützte Kanonistik zu stärker voneinander unterschiedenen Disziplinen. Beide Autoritäten versuchen nun auch mit den Mitteln des Rechts gegeneinander

18

Vgl. Stephan Kuttner, A History of Ideas and Doctrines of Canon Law in the Middle Ages, London 1980, S. 85. 19

Vgl. Franz J. Felten, Kaisertum und Papsttum im 12. Jahrhundert, in: Das Papsttum in der Welt des 12. Jahrhunderts. Hrsg. v. E.-D. Hehl u. a., Stuttgart 2002, S. 101 – 125. 20 21

Vgl. H. Krause, Art. Recht, in: HRG 4, 1990, Sp. 229.

Vgl. Joseph de Ghellinck, Le mouvement théologique du XIIe siècle, Brügge / Paris 1948, S. 250 – 258.

2

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anzutreten. Ihre Unterhändler und unter ihnen Sicardus verstehen es jedoch, auch die Mittel des Rechts, z. B. Verträge, für die Friedensbemühungen einzusetzen mit dem Ziel, Konfrontationen einzugrenzen bzw. zu vermeiden. 1165 kehrt Papst Alexander III. unter den Schutz der Normannen nach Rom zurück, muss bald darauf aber schon nach Benevent fliehen. Auf dem Weg zum Friedensvertrag von Venedig im Jahre 1177 verhandelt Sicardus im Auftrag von Papst und Kaiser als ein Vermittler zwischen den Mächten mit den Städten der lombardischen Liga, die in den Friedenschluss einbezogen werden sollen22. Auch die Heimatstadt des Sicardus, Cremona, ist in diese Politik involviert, zeigt sich aber nicht zu einem Friedensschluss, sondern nur zu einem sechsjährigen Waffenstillstand bereit. Für die Kirche gilt das Schisma als endgültig beendet erst mit dem dritten Laterankonzil (1179). Diese von zahlreichen Bischöfen, Äbten und Prälaten besuchte Kirchenversammlung23 wird von Papst Alexander III. allein einberufen und selbst geleitet. Für die zukünftigen Papstwahlen wird im can. 1 die bis heute geltende Zweidrittelmehrheit für die Wahl eines Kandidaten aus dem Kreis der Kardinäle vorgeschrieben24, d. h. die Papstwahl zu einer ausschließlich innerkirchlichen Angelegenheit gemacht. Zwischen 1179 und 1181 vollendet Sicardus seine „Summa“ zum Decretum Gratiani, in der er auf das dritte Laterankonzil wie auch auf die Amtszeit Papst Alexanders III. verweist25. 1180 erhält Sicardus eine Pfründe zum Lebensunterhalt durch den Mainzer Erzbischof Christian von Buch26, der als Reichslegat und Kriegsherr Friedrichs I. in Italien kaum in seiner Erzdiözese Mainz anwesend ist. Sicardus muss dem Mainzer Erzbischof Christian von Buch als dem Unterhändler des Kaisers in Italien begegnet sein, etwa bei den Friedensverhandlungen von Venedig, an denen beide beteiligt sind. Die „Summa“ des Sicardus ist ein äußerst originelles, mit anderen Summen unvergleichbares Werk. Es bietet eine Zusammenfassung des gesamten Decretum Gratiani nach einer eigenwilligen Gliederung und speziell formalisierten 22

Vgl. MGH D F I, S. 687 – 689; zum zeitgeschichtlichen Hintergrund vgl. Hans Wolter, Hadrian IV. und Alexander III. in Auseinandersetzung mit Kaiser Friedrich I. Das dritte Laterankonzil, in: HKG III/2, 1968, S. 67 – 85. 23

Vgl. Georg Gresser, Art. Lateranense III., in: LThK3 6, 1997, Sp. 667.

24 Vgl. COD 211; W. Herold, Die Canones des III. Laterankonzils, Bonn 1950; Alfred Haverkamp, Zwölftes Jahrhundert 1125 – 1198, in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 5, Stuttgart 102003, S. 140 f. 25 Vgl. J. F. v. Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur des canonischen Rechts von Gratian bis auf die Gegenwart, Graz Bd. I, 1956, S. 144; ders.: WSB 1869, S. 342. 26

Gesta Henrici II, ed. W. Stubbs, t. I, S. 243 u. 250.

Der Kanonist Sicardus von Cremona (∗1155 – †1215)

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Aufbereitung. Diese Schrift wird nach Ansicht der meisten Autoren als das erste kirchenrechtliche Lehrbuch für den Unterricht in den kirchlichen Ausbildungsstätten angesehen. Sie ist heute in über 20 Handschriften erhalten, wobei über ein Drittel im deutschsprachigen Bereich zu finden sind27. Nach der bisherigen Forschung wird angenommen, das dieses in Methode, Gattung und Stil originelle, systematisch und didaktisch erarbeitete Werk für den Unterricht im Kirchenrecht bestimmt gewesen ist28 und Sicardus damit an der Domschule zu Mainz angehende Kleriker in der neuen Wissenschaft beider Rechte unterrichtet haben soll. Diese Auffassung möchte ich mit meinen Ausführungen in Frage stellen und werde darauf im Zusammenhang der Analyse dieses bisher nicht edierten Werkes zu sprechen kommen. Sicardus fügt diesem Buch eine „Apologia“ im Sinne eines Nachwortes hinzu, indem er den für Mainz berühmten Satz „ich bin ein geistlicher Sohn der Kirche von Mainz“ ausspricht, allerdings mit der Hinzufügung, das dies „translatione“ erfolgt sei, d. h. durch Umkardination, Versetzung aus dem geistlichen, d. h. bischöflichen Heimatverband seiner Diözese Cremona in das Erzbistum Mainz mit einem Anspruch auf materielle Versorgung. Ob es sich dabei um ein Kanonikat am Dom oder einem der anderen Stifte in Mainz gehandelt hat, kann historisch nicht als gesichert angesehen werden. Belegt ist vielmehr, dass der Erzbischof von Mainz, Christian von Buch, mehreren Pariser Magistern um 1180 ein Benefizium in Mainz 29 zukommen lässt30. Fraglich ist aber vor allem, ob es sich bei der „Summa“ tatsächlich um ein Lehrbuch für angehende Kleriker gehandelt hat, wie es bis heute allgemein angenommen wird31. Noch im Jahr 1183 spendet der legitime Nachfolger Alexanders III. (gest. 1181 in Civita Castellana), der reformwillige Papst Lucius III. (1181 – 1185), zu dessen engster Gefolgschaft mittlerweile auch der Metropolit von Mainz, Erzbischof Christian von Buch gehört, der sich mittlerweile von Friedrich I. Barbarossa losgesagt hat32, Sicardus in Verona die Subdiakonatsweihe. Er be-

27

Es handelt sich großenteils um nicht vollständige Handschriften mit Textlücken: vgl. Stephan Kuttner, Notes on Manuscripts, in: Traditio 25 (1959), S 499 f. 28

Vgl. Marc-Aeilko Aris, Art. Sicardus von Cremona, in: LexMA 7, 1995, Sp. 1833.

29

Vgl. Georg May, Art. Präbende, in: LThK3 8, 1999, Sp. 464 f.

30 Vgl. Gesta Henrici II., ed. W. Stubbs, t. I, S. 243. 250; Stephan Kuttner, Réflexions sur les Brocades des Glossateurs, in: Joseph de Ghellinck, Melanges, Gembloux 1951, S. 786. 31 Vgl. Andreas Thier, Studien zur Summa des Sicardus von Cremona: Unveröffentlichtes Manuskript Januar 2006. 32

Vgl. Gesta Henrici II, ed. W. Stubs, t. I, 308; Jaffé-Löwenfeld, Regesta Pontificium Romanorum, Leipzig 21888, Bd. II, Nr. 14909: Hinweise bei Kuttner, (Anm. 18), S. 787.

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ruft ihn zu seinem Apostolischen Legaten mit dem Auftrag, erneut Verhandlungen zwischen dem Kaiser und dem Lombardenbund, vor allem mit der papsttreuen Stadt Cremona aufzunehmen. Sicardus kann diese Verhandlungen erfolgreich abschließen. Im Jahre 1184 empfängt Sicardus durch Bischof Offredus in Cremona die Priesterweihe. In Verona treffen sich Papst und Kaiser Friedrich I., um die Vorgehensweise gegen Ketzer und Kreuzzugspläne gegen Saladin zu besprechen. In diese Beratungen wird auch Sicardus einbezogen, der über reiche Kenntnisse der Lage in Oberitalien und über sachlich fundierte diplomatische Fähigkeiten verfügt. Am 23. August 1185 wird er zum Bischof von Cremona gewählt. Wenige Monate später stirbt Papst Lucius III. Unter seinem Nachfolger Urban III. (1185 – 1187) erobert Sultan Saladin die Heilige Stadt Jerusalem. Es kommt 1189 zum dritten Kreuzzug, bei dem Kaiser Friedrich I. Barbarossa in Armenien im Fluss Salef ertrinkt. Auch seine Söhne Friedrich von Schwaben und Heinrich VI. finden bei diesem Unternehmen ihren Tod. Sicardus verfügt weiterhin über gute Beziehungen zum päpstlichen Hof. Unter Papst Innozenz III. (1198 – 1216) erwirkt er die Kanonisation des Kaufmanns und Freundes der Armen Homobonus von Cremona am 12. Januar 119933. Sicardus unternimmt in den Jahren 1203 bis 1204 als Apostolischer Legat des Papstes zusammen mit dem in Paris theologisch ausgebildeten Kardinallegaten Petrus Capuanus34 eine Reise nach Armenien und Konstantinopel. Sie sollen die dortige Herrschaft der Lateiner festigen und die Kirche neu organisieren, scheitern aber durch den Beginn des vom Papst missbilligten IV. Kreuzzuges, der in Konstantinopel sein unrühmliches Ende findet (1205). Sicardus versteht es, im Jahre 1212 die Privilegien für seine Bischofsstadt Cremona durch Kaiser Friedrich II. (1215 – 1250) erneuern zu lassen. Papst Innozenz III.35 schickt ihn im selben Jahr als päpstlichen Legaten nach Deutschland, wo er für den König von Deutschland und Sizilien Friedrich II. (1215 – 1250) gegen den vom Papst exkommunizierten Welfen Kaiser Otto IV. (1198 –

33

Vgl. Incipit Cum orbita solis, in: AnBoll 102 (1984), S. 191; Die Register Innozenz‘ III. Hrsg. v. O. Hageneder / A. Haidacher, Bd. I, Graz 1964, S. 761 – 764; A. Vauchez, Innocent III, Sicard de Crémone et la canonisation de saint Homebon (+1197), in: Atti del Congresso internazionale, Roma, 9 – 15 settembre 1998, cur. A. Sommerlechner, Roma 2003, S. 435 – 455. 34 Vgl. Werner Maleczek, Petrus Capuanus, Kardinal, Legat am Vierten Kreuzzug, Theologe, Wien 1988; ders., Papst und Kardinalskolleg von 1191 bis 1216, Wien 1984, S. 117 – 124. 35

Vgl. Manfred Laufs, Politik und Recht bei Innozenz III., Köln 1980.

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1215)36 eintritt. Nachdem er dreißig Jahre lang Bischof von Cremona gewesen ist, stirbt Sicardus am 8. Juni 1215 in dieser seiner Heimat- und Bischofsstadt37. Aus dieser Beschreibung der Person und Umwelt des Sicardus geht hervor, was bisher nicht in der Forschung erkannt worden ist: Sicardus ist ein juristisch gebildeter, professionell vorgehender diplomatischer Vertreter unterschiedlicher Interessen. Man kann ihn weder nur der Seite des Kaisers noch allein der Seite des Papstes zuordnen. Er scheint es verstanden zu haben, die formale Verfasstheit des Rechts mit dessen hohen Grad an Abstraktion für die komplexen Realitäten zur Lösung von Konflikten heranzuziehen, indem er die nicht mehr ohne weiteres miteinander zu vermittelnden Positionen zwischen weltlicher und kirchlicher Herrschaft mit den Instrumenten der juristischen Vernunft auf eine möglichst konfliktfreie Ebene zusammenführt. III. Werke Von seinen Werken sind nur drei überliefert und nur zwei davon bereits ediert38. In frühen Jahren hat Sicardus ein Werk mit dem Titel „Liber Mythologiarum“ verfasst. In zwei weiteren späteren Werken weist er selbst darauf hin39. Bis heute ist dieses Werk aus seiner Jugendzeit jedoch nicht aufgefunden, so dass über den Inhalt nicht berichtet werden kann. 1195 verfasst Sicardus als Bischof von Cremona sein Werk „Liber mitralis seu de officiis ecclesiasticis“40. Es ist vollständig ediert41 und behandelt die Ordnung der Liturgie und der liturgischen Dienste. Darin schöpft Sicardus aus den Werken des Liturgi-

36 Vgl. Bernd Ulrich Hucker, Otto IV., der kaiserliche Sohn Heinrichs des Löwen: Heinrich der Löwe und seine Zeit (= Ausstellungskatalog Braunschweig), Bd. 2, München 1995, 353 – 367; ders., Otto IV., der wiederentdeckte Kaiser. Eine Biographie, Frankfurt/M. 2003. 37

Vgl. sein Werk „Chronica de origine mundi“: MGH SS 31, S. 181.

38

Entsprechend dem neusten Forschungsstand Überblick über Überlieferung und Literatur bei: Repertorium fontium historiae medii aevi primum ab Augusto Potthast digestum, nunc cura collegii historicorum e pluribus nationibus emendatum et auctum, Art. Sicardus episcopus Cremoniensis, X/3 Fontes, Roma 2005, S. 346 – 348. 39 Summa zu C.XXVI q. 1: Cod. Bambergensis 102): „Nota, quod multa sunt genera divinationum, quarum quedam in libro nostro, quem mythologiarum intitulavimus, invenire poteris“. Auch in seiner Chronik verweist Sicardus auf dieses Werk: „... Verum cum puerilia puerorum erudimenta vanaque poetarum super veritate figmenta – mithologiae loquor – in puerili etate conscripserim ...“ (MG 78). 40

Vgl. Giorgio Picasso, Art. Sicard de Crémone, in: DSp 14, 1990, S. 811 – 813.

41

Vgl. PL 213, Sp. 9 – 436.

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kers Amalarius von Metz (775 – 850)42 und des Mönches und Verfassers eines sehr verbreiteten Katechismus Honorius Augustodinensis (1080 – 1150/60)43. Dieser „Liber mitralis“ hat weite Verbreitung gefunden, da er Bestandteil des breit rezipierten „Rationale divinorum officiorum“ des Kanonisten und Liturgikers Wilhelm von Durandus (1230 – 1296)44 ist45. Sicardus verfasst auch eine „Chronica ab origine mundi“46, die er bis 1213 führt47. Damit wird er zum Begründer der in Italien neu entstehenden Literaturgattung der Weltchroniken. Sein zentrales kanonistisches Werk ist jedoch die höchstwahrscheinlich in Mainz zwischen 1178 und 1181 vollendete „Summa“. Mit ihr systematisiert er das umfassende Opus seines wissenschaftlichen Lehrers Gratian, das den Titel „Concordantia discordantium canonum“ (um 1140) trägt, und fasst dieses zusammen. Die „Summa“ des Sicardus liegt bis heute noch nicht in einer kritischen Edition vor, so dass man sich zur Bearbeitung weithin auf die zahlreichen Handschriften stützen muss. Nun möchte ich im Folgenden den Fragen nachgehen, warum Sicardus diese „Summa“ verfasst hat und was dies für die Verbreitung des Kirchenrechts in Mainz zu bedeuten hat. IV. Die praktische Bedeutung der „Summa“ des Sicardus Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann davon ausgegangen werden, dass sich Sicardus bereits in Paris in der kanonistischen Lehre betätigt hat, vielleicht aber auch an kirchlichen Prozessen beteiligt gewesen ist. Welches ist jedoch seine Aufgabe in Mainz gewesen? Die „Summa“, ein Werk von über 200 Folien, wird kaum in drei bis vier Jahren von ihm fertig gestellt worden sein. Wahrscheinlich hat er schon in Paris daran gearbeitet. Es ist anzunehmen, dass er es in Mainz fertig gestellt und zur praktischen Anwendung gebracht hat. Dies beschreibt der Autor selbst in seinem Werk48.

42

Vgl. Balthasar Fischer, Art. Amalar von Metz, in: LThK3 1, 1993, Sp. 482 f.

43

Vgl. Wilfried Hartmann, Art. Honorius Augustodunensis, in: LThK3 5, 1996, Sp. 265.

44

Vgl. Guillaume Durand. Hrsg. v. P. M. Gy, Paris 1992.

45

Vgl. Martina Rommel, Art. Sicardus von Cremona, in: LKStKR 3, 2004, S. 551.

46

MGH SS 31, S. 22 – 183.

47

Vgl. Ercole Brocchieri, Sicardo di Cremona et la sua opera letteratura, Cremona

1958. 48

Vgl. Apologia, in: Schulte, Geschichte der Literatur (Anm. 3), S. 340 f.

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Schon der äußere Aufbau der „Summa“ verdeutlicht ihren Zweck. Es handelt sich in formaler Hinsicht um eine Kompilation, d. h. eine verkürzte Form und Zusammenfassung der weitaus umfassenderen Vorlage der „Concordia discordantium canonum“ des Gratian. Sicardus selbst bezeichnet seine Vorlage als seine „Mutter“, der er strikter Entsprechung folgen will. Inwieweit ihm dies gelingt, zeigt der folgende Vergleich des formalen Aufbaus beider Rechtsbücher. Das Decretum Gratiani hat eigentlich vier Teile. Der erste Teil enthält 101 Distinctiones: die ersten 20 bilden einen Traktat über die Gesetze, die folgenden Traktate über die Weihe und das Mönchsleben. Der zweite Teil ist in 36 Causae eingeteilt und in Quaestiones unterteilt. Behandelt werden u. a. Fragen bezüglich des Krieges, der Simonie, der Häresie und der Ketzerei. Die Causae 27 bis 36 beziehen sich auf die Ehegerichtsbarkeit. Der dritte Teil umfasst fünf Distinctiones unter der Überschrift „De consecratione“ und bezieht sich auf Kirchenräume, die Eucharistie, das liturgische Kirchenjahr, die Taufe und die Firmung. Der vierte Teil besteht aus sieben Distinctiones und behandelt den Traktat „De poenitentia“, was als Causa 33, Quaestio drei in den Traktat über die Ehe im zweiten Teil eingefügt ist. Der gesamte Text soll aus zwei Redaktionen stammen, eine ältere und klarere, in welcher der Traktat „De consecratione“ fehlt, und eine spätere Fassung, die durch viele Einschübe und durch manche sich widersprechende Traktate gekennzeichnet ist49. Sicardus gliedert anders in drei Teile: der erste Teil geht bis zur 1. Causa, ist also identisch mit dem des Gratian. Er nennt ihn aber „distinctiones“; der zweite Teil geht bis zum Traktat „De consecratione“, entspricht also auch dem zweiten Teil bei Gratian; ist aber nicht wie bei Gratian durchnumeriert, sondern mit „principia“, d. h. Anfangsworten, wie es hebräische Art ist, benannt und hat die Überschrift „Causae“; der dritte Teil geht bis zum Schluss und ist in nur fünf Distinctiones gegliedert. Er trägt den Titel „De consecratione“. Den ersten Teil seiner „Summa“ unterteilt er in 101 Distinctiones und in 122 Rubriken, d. h. Titelüberschriften. Im zweiten Teil behandelt er sechs Causae Criminales, dann 20 Quaestiones, die sich mit Geldgeschäften und den Pflichten der Kleriker sowie mit der Ehe befassen. Dabei wird im Wesentlichen in verkürzter Form der Inhalt referiert, mit Überblicksschemata versehen, nicht aber kommentiert. Sicardus begründet im ersten Teil seiner „Summa“, weshalb er so gegliedert hat. Es sollte keine Langeweile aufkommen, alles übersichtlicher als bei Gratian sein und so schnell gefunden werden können. Dabei erklärt er, dass es ihm um ein handhabbares Buch für seine „socii“ geht, die er als „ministri“, d. h. als geistliche Diener der Rechtsprechung, in seinem Werk anspricht. Sie tragen 49

Vgl. Jean Werckmeister, Art. Decretum Gratiani, in: LKStKR 1, 2000, S. 375 – 378.

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seines Erachtens Verantwortung sowohl für die Rechtsordnung wie für die Rechtsanwendung in der Kirche unter Beachtung der Gerechtigkeit. Mit diesen beiden Begriffen wendet er sich an seine Kommilitonen, die zugleich seine zeitgenössischen Kollegen sind. Er nennt sie „socii“, d. h. sie haben wie er selbst Gratian studiert und stehen, wie er selbst, in der Rechtspraxis. Er stellt sie als Geistliche (ministri) vor, die Leitungsvollmacht, näherhin Gerichtsvollmacht ausüben und deshalb, wie er selbst sagt, verpflichtet sind, „die Gerechtigkeit zu achten, die Rechtswissenschaft sorgfältig zu erforschen und das aus dem Erforschten Gebotene noch sorgfältiger zu beachten“. Und dazu diene es, „den Stoff, die Absicht, das Ziel und die Gliederung des Rechts“ zu kennen. Er spricht dann vom Nutzen seiner „Summa“ für diese Kollegen. Im Weiteren verweist er auf den Nutzen des Gratian und seiner eigenen gekürzten Fassung für die Rechtsprechung, wobei er zwischen der weltlichen und der kirchlichen Rechtsprechung unterscheidet. Für die weltliche Rechtsprechung gäbe es bislang noch gar keine Orientierung, für die kirchliche Gerichtsbarkeit hingegen drei Arten: „die Art bezüglich von Strafen, die Art im Hinblick auf Geldwerte und die Art bezüglich geistlicher Angelegenheiten“. Er sagt dazu wörtlich: „Bei der Art bezüglich von Strafen handelt es sich um Verbrechensangelegenheiten, bei der Art bezüglich materieller Werte um Geld sowie um bewegliche und unbewegliche kirchliche Güter, bei der Art im Hinblick auf geistliche Angelegenheiten um Geistliches wie Kirchenämter, Pfründen und Sakramente. Es handelt sich um ein Kirchenamt, wenn über das Recht der Archidiakone, der Dechanten u. ä. prozessiert wird; um eine Pfründe, wenn über das Recht des Zehnts, die Beerdigungsabgaben und Opfergaben verhandelt wird; um ein Sakrament, wenn ein Eheprozess geführt wird“50. Alle diese Äußerungen bestätigen eine Fokussierung auf das Prozessrecht, an dem auch seine Kollegen Interesse haben dürften. Schon aus diesen wenigen inhaltlichen Bezügen stellt sich die Frage, ob die Summa nicht eher ein Handbuch und Nachschlagewerk für Richter darstellt als ein Lehrbuch für den akademischen Unterricht, zumal keine Primärquelle eine Lehrtätigkeit oder ein diesbezügliches Amt des Sicardus in Mainz bisher belegen kann. Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls anzunehmen, dass es Sicardus um die Tätigkeit in der kirchlichen Gerichtsbarkeit geht. Sind er selbst und die von ihm erwähnten Kollegen päpstlich delegierte Richter im Erzbistum Mainz, wo sich in dieser Zeit eine vom Erzbischof getrennte Rechtsprechung herausbildet?51 Er spricht, wie schon erwähnt, von der „po50 51

Zitierte Texte bei Schulte, Geschichte der Literatur (Anm. 3), S. 340.

Vgl. Johann Friedrich Böhmer, Regesten zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe von Bonifatius bis Heinrich II. Hrsg. v. Cornelius Will, Innsbruck 1886 (ND Aalen 1966), XI; Wilfried Schöntag, Untersuchungen zur Geschichte des Erzbistums Mainz unter den Erzbischöfen Arnold und Christian I. (1153 – 1183), Darmstadt / Marburg 1973, S. 64 ff.

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testas“, mit der seine „socii“ ausgestattet sind. Die noch sehr in den Anfängen steckende Forschung über die vom Papst delegierten Richter52 belegt, dass diese seit dem 12. Jahrhundert aufkommen und ein „mandatum“ des Papstes besitzen, womit ihnen die notwendige Gerichtsvollmacht übertragen ist. Es ist jedenfalls in Erwägung zu ziehen, dass die Päpste Alexander III. und Lucius III. wegen der in Rom vermehrt aufkommenden Prozesse, die auf der Rechtsgrundlage beruhen, dass jeder das päpstliche Gericht anrufen kann, diese Prozesse in die Diözesen verlagern wollen, damit sie dort schneller und effizienter abgewickelt werden können. In seinem 1183 verfassten Epilog zu seiner „Summa“ kommt Sicardus noch einmal auf den Nutzen seiner Schrift zu sprechen. Er betont die enge Anlehnung an den gemeinsamen Lehrer Gratian und den Nutzen der Schrift für alle, die das Recht anwenden, und für alle, um deren Rechte es geht. Dabei bittet Sicardus um Verständnis für seine nüchterne Darstellung und seine Formalisierungen des bisweilen unübersichtlichen gratianischen Rechtsstoffs. Sicardus hat in sein Werk zahlreiche „vites et arbores“, wörtlich: Weinstöcke und Bäume, eingezeichnet, d. h. tabellarische Schemata und Netzwerke, mit denen die „Summa“ durchzogen ist, die aber nach seiner eigenen Angabe allein dem Gedächtnis der Rechtsanwender und der leichteren Auffindbarkeit des Rechtsstoffes dienen sollen. V. Handbuch für delegierte Richter und bischöfliche Gerichtsbarkeit Auch die literarische Gattung der Summa lässt auf ihre Anwendung durch Richter schließen. Diese literarische Gattung der in Theologie, Philosophie und Kanonistik gebräuchlichen „Summa“ wird gemeinhin als Zusammenfassung eines bestimmten Werkes oder Themenkomplexes verstanden, die nach einem bestimmten Strukturprinzip geordnet ist53. Nach Maßgabe der rechtshistori-

52 Vgl. R. A. Kearney, The Principles of Delegation (= Canon Law Studies 55), Washington D.C. 1929; Hermann J. Conrad, Die iurisdictio delegata im römischen und kanonischen Recht, Köln 1930; G. G. Pavloff, Papal Judge Delegates at the Time of the Corpus Iuris Canonici (= Canon Law Studies 426), Washington 1963; J. Sayers, Papal Judge Delegate in the Province of Canterbury. A Study in Ecclesiastical Jurisdiction and Administration, Oxford 1971; Gerhard Buchda, Art. Delegation, in: HRG 3, 1971, Sp. 674 ff.; Harald Müller, Päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit in der Normandie (12. und frühes 13. Jahrhundert, 2 Teile, Bonn 1997; Peter Herde, Zur päpstlichen Delegationsgerichtsbarkeit im Mittelalter und in der frühen Neuzeit: ZRG Kan.Abt. 119 (2002), S. 20 – 43. 53

Vgl. Ruedi Imbach, Art. Summa, in: LThK3 9, 2000, Sp. 1112.

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schen Forschung lassen sich drei Arten von „Summen“ in der kirchenrechtlichen Literatur des 12. Jahrhunderts unterscheiden54: Erstens: Kommentierende und interpretierende, sachlich gegliederte Texte, die sich mit einer zugrunde liegenden Vorlage auseinandersetzen. Sie folgen dem in Bologna gepflegten Stil der Dialektik im Umgang mit dem Decretum Gratiani. Dazu gehören etwa die „Summen“ über das Decretum Gratiani des Paucapalea55, des Rufinus56 und des Magister Rolandus57. Zweitens: Summen, in denen kompilierte Glossen als Glossenapparate überliefert werden und von der Vorlage losgelöste, eigene Kommentare der Autoren mit Erörterung kirchenrechtlicher Fragestellungen und weiteren Quellen darstellen. Dazu gehören u. a. die Arbeiten der Dekretisten Huguccio58, Laurentius Hispanus59 und Johannes Teutonicus60. Drittens: Summen, die streng systematisiert, formalisiert und schematisiert sind sowie weitgehend auf Kommentierungen verzichten. Sie sind im Wesentlichen von der Distinktionstechnik des Cicero, Boethius und Abaelard sowie von den Kriterien der Artes, besonders von der Grammatik und von der für das Gerichtswesen unverzichtbaren Rhetorik61, bestimmt. Es handelt sich dabei um rein technische Exegesen, die einen Überblick über ein bestimmtes Werk verschaffen sollen und eher als Kompendien, Handbücher oder Nachschlagewerke für die Rechtspraxis bezeichnet werden können. Die letzte Art ist nicht ausge54

Vgl. Josef Juncker, Summen und Glossen. Beiträge zur Literaturgeschichte des kanonischen Rechts im zwölften Jahrhundert, in: ZRG Kan.Abt. 45 (1925), S. 384 – 474. 55

Edition hrsg. v. Johann Friedrich von Schulte, Giessen 1890 (ND Aalen 1965): vgl. H. Zapp, Art. Paucapalea, in: LKStKR 3, 2004, S. 185 f. 56

Edition hrsg. v. H. Singer, Paderborn 1902; vgl. Herbert Kalb, Art. Rufinus, in: LKStKR 3, 2004, S. 468. 57 Vgl. J. T. Noonan, Who was Rolandus: Law, Church and Society. Essays in honor of Stephan Kuttner, ed. Kay Pennington, Philadelphia 1977, S. 21 – 48; Rudolf Weigand, Magister Rolandus und Papst Alexander III., in: AfkKR 149 (1980), S. 3 – 44; A. Rinnerthaler, Art. Alexander III., in: LKStKR 1, 2000, S. 55 f. 58

Vgl. Glossenapparat Ordinaturus Magister; dazu Wolfgang P. Müller, Art. Huguccio, in: LKStKR 2, 2002, S. 274. 59 Vgl. Glossenapparat Glossa palatina; Herbert Kalb, Art. Laurentius Hispanus, in: LKStKR 2, 2002, S. 692. 60

Vgl. Glossenapparat Glossa ordinaria; Franz Kalde, Art.: Johannes Teutonicus, in: LKStKR 2, 2002, S. 347. 61

Vgl. Albert Lang, Rhetorische Einflüsse auf die Behandlung des Prozesses in der Kanonistik des 12. Jahrhunderts: Festschrift für Eduard Eichmann zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Martin Grabmann / Karl Hofmann, Paderborn 1940, S. 2 – 29, hier S. 22 ff.

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prägt an der Rechtsschule von Bologna, sondern eher französischen Ursprungs62. Zu diesen Summen wird auch die Summa des Sicardus gezählt, die in dieser Art keine unmittelbaren kanonistischen Vorbilder hat, selbst aber weiteren Summen als Vorlage zugrunde liegt63. Diese Unterschiede in der Literaturgattung verdeutlichen, dass die Werke der frühen Kanonisten nach Gratian durch ihren Nutzen für die Praxis geprägt sind. Die ersten beiden Arten sind eher für den akademischen Unterricht geeignet, während die dritte Art eher den Charakter eines Werkes für den besseren Überblick und die schnelle Auffindung des Rechtsstoffes verdeutlicht. Blicken wir noch einmal auf den historischen Kontext der Verwendung der Summe des Sicardus. Es ist die Zeit, als der Papst Richter in die mit ihm verbundenen Erzdiözesen und Diözesen entsendet, um die an ihn herangetragenen Rechtsstreitigkeiten vor Ort entscheiden zu lassen, vor allem wenn Bischöfe beteiligt sind. Delegierte Richter bieten die Möglichkeit zum Kontakt zwischen Papst und Diözesen. Sie sind ausgestattet mit delegierter Jurisdiktion64 und erweisen sich als effiziente Instrumente der Verbreitung des universalkirchliche Geltung beanspruchenden Kirchenrechts. Damit dienen sie und ihre Urteile der zentralistischer werdenden Kirchenführung des Papstes wie auch der allmählichen Ablösung der Kirche von weltlichen Geschäften. Auf diese Weise können diese Richter die Rechtsbestimmungen auf ihre Tauglichkeit vor Ort prüfen. Die Summa des Sicardus zeigt jedenfalls eine Konzentration auf rein kirchliche Rechtsfälle. In diesem Zusammenhang ist bekannt, dass der Mainzer Erzbischof Christian von Buch für Mainz wie für Köln solche delegierten Richter aus dem Kreis der Kanonisten, die im französischen Raum studiert haben, vermittelt65. Unter ihnen befindet sich auch Sicardus, der von Paris nach Mainz kommt. Die delegierten Richter sind maßgeblich an der Verbreitung des römisch-kanonischen 62

Vgl. Stephan Kuttner, Réflexions sur les brocards des glossateurs (Anm. 16), S. 785; ders. / Eleanor Rathbone, Anglo-Norman Canonists (Anm. 15), S. 290; Stephan Kuttner, Zur neuesten Glossatorenforschung: Studies in the History of Medieval Canon Law, Hampshire-Vermont 1990, S. 307; Rudolf Weigand, Die bedingte Eheschließung im kanonischen Recht, I. Teil, München 1963, S. 171. 63 Vgl. ebd., S. 17 ff.; Albert Lang, Zur Entstehungsgeschichte der Broccadasammlungen, in: ZRG Kan.Abt. 62 (1942), S. 125 ff. 64 65

Vgl. G. Buchda, Art. Delegation, in: HRG 1, 1971, Sp. 674 – 677.

Vgl. Johannes Fried, Gerard Pucelle und Köln: ZRG Kan.Abt. 99 (1982), S. 129; Joachim Ehlers, Deutsche Scholaren in Frankreich während des 12. Jahrhunderts: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters. Hrsg. v. J. Fried, Sigmaringen 1986, S. 97 – 120, hier S. 116 f.

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Prozessrechts beteiligt66. Auch Sicardus scheint wegen seiner umfassenden Vorbildung und Erfahrung in den Rechtswissenschaften einer dieser Richter gewesen zu sein. Insofern kann man, denke ich, sagen, dass sein praxisorientierter Hintergrund sowie die Art und die Themen seiner Summe für eine päpstliche Gerichtsbarkeit in Mainz um 1178 sprechen67. Es ist zugleich aber auch die Zeit, in der die päpstlichen Richter durch Offizialate abgelöst werden68, d. h. durch eine vom Bischof institutionalisierte, aber von ihm persönlich unabhängige, diözesane Gerichtsbarkeit. So ist es vorstellbar, dass Sicardus mit seiner „Summa“ zum einen den Bedürfnissen der vom Papst delegierten Richter entsprochen hat, zum anderen aber auch die angehenden Diözesanrichter für die neu entstehenden bischöflichen Gerichte unterwiesen haben kann. Diese Ansichten entsprechen den bisher einschlägigen Forschungen zum kirchlichen Gerichtswesen im 12. Jahrhundert, dass nämlich für Regionen und Diözesen, die Papst Alexander III. folgen, eine immer weiter um sich greifende Institutionalisierung der päpstlichen Delegationsgerichtsbarkeit belegen kann69. Der mit den Mitteln des Rechts diplomatisch agierende Sicardus beweist in Mainz sein Interesse an der Rechtsanwendung und bietet den kirchlichen Richtern des Papstes wie denen des Erzbischofs mit seiner „Summa“ ein hilfreiches Handbuch. „Ich aber, Sicardus, Sohn des Volksstammes von Cremona und durch Versetzung geistlicher Sohn der Kirche von Mainz, ertrage geduldig die Neider. An dem Urteil meiner Mutter (Gratian) versündige ich mich nur durch Richterspruch“.70

66

Vgl. ebd., S. 133.

67

Vgl. The Records of the Medieval Courts, Part I The Continent; Part II England, ed. by Ch. Donahue, Berlin 1989 – 1994. 68

Vgl. Wilfried Trusen, Art. Offizialat, in: HRG 3, 1984, Sp. 1214 – 1218.

69

Vgl. Harald Müller, Päpstliche Delegationsgerichtsbarkeit in der Normandie (12. und frühes 13. Jahrhundert), 2 Bde (= Studien und Dokumente zur Gallia Pontificia 4), Bonn 1997; ders., Die Urkunden der päpstlichen delegierten Richter. Methodische Probleme und erste Erkenntnisse am Beispiel der Normandie, in: Hundert Jahre Papsturkundenforschung. Bilanz-Methoden-Perspektiven. Akten eines Kolloquiums zum hundertjährigen Bestehen der Regesta Pontificium Romanorum 9. – 11. Oktober 1996 in Göttingen. Hrsg. v. R. Hiestand, Göttingen 2003, S. 351 – 371, hier S. 363. 70

Originaltext in: Vaticano BAV, Palat. lat. 635, 112 (saec. XIII).

Bonifaz VIII. (1294 – 1303) als kirchlicher Gesetzgeber Von Helmuth Pree I. Einleitung Aus den Sommertagen des Jahres 1302 ist uns eine Äußerung Bonifaz’ VIII. überliefert, mit der er sich wutentbrannt den Gesandten des französischen Königs gegenüber gegen den Vorwurf verteidigte, er usurpiere mit seinem Machtanspruch auch die Gewalt des Königs. Bonifaz sagt dabei u. a.: „Quadraginta anni sunt quod nos sumus experti in iure et scimus quod duae sunt potestates ordinatae a Deo.“1 Dieser autobiographische Hinweis lenkt den Blick auf zwei das Pontifikat Bonifaz’ VIII. erheblich mitprägende Faktoren: Zum einen auf die juristische Bildung und Erfahrung des Papstes selbst, die sich in dessen Regierung unübersehbar niederschlägt und offenbar von den Zeitgenossen anerkannt wurde2, zum anderen auf die Dualität von geistlicher und weltlicher Macht – letzteres ein Problem, das bei Bonifaz alles andere denn von nur theoretischer Bedeutung war. Bonifaz VIII. ist nicht zuletzt als Gesetzgeber in die Geschichte der Kirche eingegangen, als großer Erneuerer des kanonischen Rechts und als einer, zu dessen persönlicher Begabung und Neigung die Kunst des Rechts gehörte.3

1

James Muldoon, Boniface VIII’s forty Years of Experience in the Law, in: The Jurist 31 (1971), S. 449 – 477; Sven Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Uppsala 1960, S. 143. 2 3

Vgl. Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 143 f.

„Lord of wide dominions, the peace-maker of europe, he was also the legislator for Christendom. Boniface will always be remembered as a great reformer of the canon law, and of all his works this perhaps and his most personal interest and provided the most congenial field for his abilities.“ Thomas S. R. Boase, Boniface VIII, London 1933, S. 91. Den Charakter Bonifaz VIII. kennzeichnet Ernst Gallina, De potestate Ecclesiae in temporalibus iuxta doctrinam Bonifacii VIII (EIC 1986, S. 9 – 37, hier S. 12) mit folgenden Worten: „maxima experientia vitae curialis; iuris doctissima cognitio; ardor vehemens in auctoritate pontificis affirmanda; magnus amor in Ecclesiam; animus impulsivus ac auctoritarius non semper a prudentia moderatus“.

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Wenn im Folgenden vom „kirchlichen Gesetzgeber“ Bonifaz VIII. zu handeln ist, so bedarf dies einer Präzisierung in zweifacher Hinsicht. Zum einen soll das Hauptaugenmerk auf die kirchliche Gesetzgebungstätigkeit im Unterschied zu jener im Rahmen des Kirchenstaates gelegt werden. Zum anderen: Was unter dem Begriff „Gesetz“ zu verstehen ist, ist in rechtshistorischer Perspektive kaum in einer für alle Zeiten gültigen Form zu definieren. Nicht nur, dass im kirchlichen wie im weltlichen Bereich die Bezeichnungen schwankend und vielfältig sind; noch stärker fällt ins Gewicht, dass der Gesetzesbegriff vom Rechtsbegriff der jeweiligen Epoche und Rechtskultur (mit-)geprägt wird.4 Für die Behandlung der vorliegenden Thematik ist daher als Arbeitshypothese von einem allgemeinen Gesetzesbegriff auszugehen im Sinne von einer von der rechtssetzenden Autorität erlassenen, generell (hinsichtlich der Adressaten) – abstrakten (hinsichtlich der erfassten Fälle) und mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit öffentlich kundgemachten Norm. Das nähere Profil des Begriffes von „Gesetz“ und „Gesetzgebung“ in der fraglichen Epoche gehört mit zum Untersuchungsgegenstand dieser Überlegungen. Die folgenden Überlegungen gliedern sich in zwei Teile: Zunächst versucht eine rechtshistorische Ortsbestimmung zentrale Elemente des Rechtsdenkens der Periode Bonifaz’ VIII. in einem groben Überblick darzustellen: Das Verhältnis der geistlichen zur weltlichen Gewalt, die potestas des Papstes und das Kirchenbild; die Kanonistik als neu entstandene Wissenschaftsdisziplin sowie das Verständnis von Gesetzgebung. Im zweiten Teil soll, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ein Überblick über die legislativen Maßnahmen Bonifaz VIII. gegeben werden. Von zentraler Bedeutung wird dabei der Liber Sextus sein, ein integrierender Bestandteil des Corpus Iuris Canonici, welcher bekanntlich bis zum Inkrafttreten des CIC/1917 tragende Grundlage des katholischen Kirchenrechts war. Die Wirkungsgeschichte dieser gesetzgeberischen Maßnahmen soll dadurch veranschaulicht werden, dass jeweils ein vergleichender Blick auf die gegenwärtige Rechtslage geworfen wird. Dabei wird sich zeigen, in welchem Ausmaß die bonifazische Gesetzgebung über 7 Jahrhunderte hinweg kirchenrechtlichen Aktualitätsbezug aufweist. Selbstredend kann es in diesem dritten Teil nicht darum gehen, eine quellenkundliche Einzelanalyse aller oder auch nur der bedeutsamsten von Bonifaz VIII. erlassenen Rechtsnormen zu bieten, sondern eher eine in den rechtshistorischen Kontext eingeordnete Gesamtschau, die das Wirken dieses Papstes unter dem Blick-

4

Vgl. Rolf Grawert, Art. Gesetz, in: Otto Brunner-Werner / Conze-Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2 (1975), S. 863 – 922.

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winkel seiner Gesetzgebungstätigkeit beleuchtet und von dort aus prospektiv die Wirkgeschichte dieser päpstlichen Normen andeutet. II. Rechtshistorischer Kontext 1. Geistliche und weltliche Gewalt Das Pontifikat Bonifaz’ VIII. steht wie kaum ein anderes im Zeichen des Zerbrechens des mittelalterlichen päpstlichen Universalismus, verstanden als eine erstrebte Einheit von sacerdotium und imperium. Staatliche Gewalt und politisches Gemeinwesen werden zu autonomen Größen, es beginnt sich eine weltliche Autonomie erstmals systematisch zu entwickeln, und damit auch erstmals eine Philosophie des modernen Staates auf dem Horizont der Geschichte zu entstehen.5 Unter Bonifaz VIII. gab es erstmals „eine in bewusster Ideologie fußende antipäpstliche Bewegung, zum Urteil und Gegenstoß stets bereit – und von genügenden weltlichen Machtmitteln unterstützt.“6 Zwischen kirchlicher und politischer Macht, besonders zwischen päpstlichem Suprematieanspruch und königlicher Macht entstehen mitunter harte Konflikte und Gegensätze. Es bilden sich zwei verschiedene Gewalten mit je eigenem, nicht selten einander widersprechendem Gehorsamsanspruch gegenüber den Christen aus. Das so genannte ältere, d. h. vor der Reformation ausgebildete Landeskirchentum mit den sich nach und nach ausbildenden souveränen Territorialgewalten war nicht in der Lage diese Spannungen abzubauen, sondern förderte im Gegenteil weit eher den Konflikt zwischen Papst und Staatsgewalt. Den theoretischen Unterbau für den päpstlichen Universalanspruch lieferten drei päpstliche Lehrpositionen, welche in Verbindung mit dem im Folgenden zu besprechenden hierarchischen Prinzip ihre nachhaltige Wirksamkeit entfalteten: (1) Die bereits von Papst Gelasius (492 – 496)7 vorformulierte Zweischwertertheorie (vgl. Lk 22,38) bzw. Zweigewaltenlehre. Diese be-

5

Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 142.

6

Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 143.

7

Brief des Papstes Gelasius an Kaiser Anastasius I. vom Jahre 494 (DH 347); vollständiger Text in deutscher Übersetzung bei: Hugo Rahner, Abendländische Kirchenfreiheit. Kirche und Staat im frühen Christentum, Einsiedeln / Köln 1943, S. 215 – 219. – „Duo sunt quippe, imperator auguste, quibus principaliter mundus hic regitur, auctoritas sacrata pontificum et regalis potestas, in quibus tanto gravius pondus est sacerdotum, quanto etiam pro ipsis regibus hominum in divino reddituri sunt examine rationem.“ Beachtung verdient dabei die dem römischen Staatsrecht entnommene Unterscheidung von auctoritas (die der Würde und der moralischen Autorität nach höhere Gewalt, die

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sagt im Verständnis der Päpste die Unterordnung der weltlichen Gewalt unter die geistliche, da Christus beide Gewalten dem Petrus übertragen habe (so genannte subordinierende Zweischwertertheorie).8 (2) Die von Innozenz III. (1198 – 1216) ausgebaute und vertretene (aber schon vorher entstandene) Auffassung, der zufolge das abendländische Kaisertum seit Leo III. (795 – 816) durch den Papst auf Karl den Großen (768 – 814) und seine Nachfolger übertragen worden sei („translatio imperii“). Daraus leitete die päpstliche Seite das Recht zur Prüfung der Wahl des Kaisers und die Prüfung der Person des Gewählten sowie das Erfordernis der Krönung durch den Papst ab. Das Wahlrecht der Kurfürsten sei eine Konzession des Papstes. Diesem hätte der Kaiser den Treueid (iuramentum fidelitatis) zu leisten (Papst als Oberlehensherr).9

dem Papst und den Bischöfen zugesprochen wird) und der zum Vollzug bereiten potestas, die dem Kaiser zugesprochen wird. 8 Ob die in dem wahrscheinlich 1275 entstandenen Schwabenspiegel anzutreffende Zweischwerterlehre in diesem Sinne hierokratisch zu deuten ist, bleibt fraglich: W. Trusen, Art. Schwabenspiegel, in: HRG IV, Sp. 1547 – 1551. – Von kaiserlicher Seite (Hohenstaufer) wurden der ghibellinische Standpunkt der so genannten koordinierenden Zweischwertertheorie vertreten: Die weltliche Gewalt stammt ebenso wie die päpstliche unmittelbar von Gott und ist folglich der geistlichen nicht untergeordnet. Diese Position findet sich im Sachsenspiegel (entstanden ca. 1220 – 1225): Das geistliche Schwert empfange der Papst mit seiner Wahl, das weltliche der Herrscher durch Wahl oder Erbgang. Deshalb gebe es kein Prüfungsrecht der Königswahl durch den Papst und kein päpstliches Reichsvikariat (in Italien). Der Kaiser könne den Papst absetzen (was Ludwig IV. der Bayer, 1314 – 1347, gegenüber Papst Johannes XXII., 1316 – 1334, versucht hatte). – Die unmittelbare Herleitung der kaiserlichen Gewalt von Gott sowie der Grundsatz, demzufolge der von den Kurfürsten gewählte weder der Bestätigung noch der Krönung durch den Papst bedürfe, wurde durch den Kurverein von Rhense und vom Reichstag von Frankfurt (beide 1338) feierlich bekräftigt: Willibald M. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts, 2. Bd., Wien / München 1962, S. 41; zum Sachsenspiegel: Friedrich Ebel, Art. Sachsenspiegel, in: HRG IV, Sp. 1228 – 1237. 9

Demzufolge konnte der Papst einen rex iniustus et non pacificus bannen, die Untertanen vom Treueid entbinden. Gestützt auf diesen Rechtstitel hat Innozenz IV. 1245 auf dem ersten Konzil von Lyon Friedrich II. (1212 – 1250) abgesetzt und damit endgültig den Sieg über die Staufer errungen. Damit verbindet sich der Anspruch des Papsttums, weltliche Gesetze, die mit dem kanonischen Recht in Widerspruch stehen, für unwirksam zu erklären (diese Position war bereits im Dictatus Papae Gregors VII., 1075, vertreten worden). Dem Papst stehe auch das Reichsvikariat in Italien bei Erledigung der Krone oder im Falle grober Säumnis des Kaisers zu. Ja, die weltlichen Herrscher seien

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(3) Die von Gregor VII. (1073 – 1085) in seinem Dictatus Papae beanspruchte potestas indirecta in temporalibus wurde von Bonifaz VIII. zur potestas directa in temporalibus gesteigert.10 In dieser Epoche wandelt sich das Herrschafts- bzw. Souveränitätsverständnis. Wurde dieses von der Antike her und im Frühmittelalter persönlich verstanden (rex Francorum), so nimmt es jetzt bezüglich der Umschreibung des Kreises der Unterworfenen stärker dingliche bzw. sachliche, auf das Territorium fixierte Züge an.11 Hier liegt wesentlich der Beginn der modernen Staatsidee des Territorialstaates, für den einander überlagernde Herrschaftsgebilde undenkbar sind. Der Staat mit eigener, ursprünglicher Hoheitsgewalt und Souveränität tritt heraus aus der bisherigen Einheit von geistlich und weltlich. Der Staat ist nicht mehr das bracchium saeculare bzw. das weltliche Schwert, sondern versteht sich rein weltlich. Bonifaz VIII. steht für die radikalste Zuspitzung dieses Konflikts: In der Bulle „Unam Sanctam“ treibt er den reinsten Hierokratismus im Sinne einer „reductio ad unum“ aller Gewalt auf Erden auf die Spitze.12 Zur

Stellvertreter des Papstes. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts (Anm. 8), S. 40 f.; Heinz Thomas, Art. Translatio Imperii, in: LexMA VIII, Sp. 944 – 946. 10

Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts (Anm. 8), S. 40. Noch die nachtridentinische Kirche beansprucht eine potestas indirecta (so z. B. die Lehre Bellarmins) auf der vorausgesetzten Grundlage einer Einheit von religiöser und politischer Ordnung. Erst das päpstliche Lehramt des 19. Jahrhunderts trennt sich von jedem Anspruch einer potestas in temporalibus und beschränkt sich auf den für die Kirche unverzichtbaren Verkündigungsauftrag (annuntiare, iudicium ferre), der als solcher freilich die menschliche Lebenswirklichkeit als ganze unter dem Gesichtspunkt des Heiles des Menschen betrifft. Von diesem Verkündigungsauftrag ist auch die gesellschaftliche und politische Dimension des Menschen erfasst. Vgl. nunmehr c. 747 § 2 CIC. Ausführlich hierzu: Norbert Lüdecke, Die Grundnormen des katholischen Lehrrechts in den päpstlichen Gesetzbüchern und neueren Äußerungen in päpstlicher Autorität, Würzburg 1997, S. 168 – 195. Zur potestas directa und indirecta der Kirche in temporalibus: Paul Mikat, Art. Kirche und Staat III. Das Verhältnis von Kirche und Staat aus katholischer Sicht, in: StLex7 III, 1987, Sp. 474 – 482; Klaus Schlaich, § 44. Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR II 21995, S. 131 – 180, hier S. 148 – 155; Joseph Hergenröther, Katholische Kirche und christlicher Staat in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in Beziehung auf die Fragen der Gegenwart, Freiburg i. B. 91873, S. 379 – 392; Klaus Mörsdorf, Art. Kirche und Staat, in: LThK2 VI, 1961, Sp. 288 – 300, hier Sp. 295 – 297; Johann B. Haring, Grundzüge des katholischen Kirchenrechtes, Graz 21916, S. 45 – 47. 11

Walter Ullmann, Zur Entwicklung des Souveränitätsbegriffes im Spätmittelalter, in: Walter Ullmann, Scolarship and Politics in The Middle Ages. Collected Studies, London 1978, S. 9 – 27. 12

Vgl. Klaus Schatz, Der päpstliche Primat. Seine Geschichte von den Ursprüngen bis zur Gegenwart, Würzburg 1990, S. 108 f.

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Tragik des Pontifikats Bonifaz’ VIII. gehört diese unrealistische Einschätzung der Wirklichkeit, das unüberbrückbar gewordene Auseinanderklaffen zwischen päpstlichem Anspruch und politischer Wirklichkeit. Dem hierokratischen Prinzip wurde zusehends die sich entwickelnde Idee der Volkssouveränität, innerkirchlich die Konziliartheorie entgegengestellt. Es war speziell das französische Königtum, das sich ab dem 13. Jahrhundert gerade als Gegenstück der vom Papst beanspruchten plenitudo potestatis als autonom zu begreifen begann und sich dabei auf die dem römischen Recht entnommene Parömie „rex imperator in regno suo“ berief.13 In der frühen Neuzeit sollte dann – unter dem Einfluss des klassischen Entwurfes für eine souveräne Staatsordnung von Jean Bodin14 – der Terminus Souveränität geradezu zum Inbegriff von Staatlichkeit werden.15 2. Die potestas des Papstes und das Kirchenbild Im Vergleich zum ersten Jahrtausend sind bereits die ersten Jahrhunderte des zweiten Millenniums durch einen Ausbau der geistlichen Gewalt besonders des Papsttums gekennzeichnet. Das Kirchenbild wurde noch stärker als bisher durch das hierarchische Prinzip geprägt. Der den biblischen Schriften unbekannte Terminus „Hierarchie“ wird von einem in griechischer Sprache schreibenden unbekannten Neuplatoniker in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts16 in den kirchlichen Sprachgebrauch eingeführt. Die Schriften erlangten, nachdem sie um 850 von Johannes Skotus Eriugena in das Lateinische übersetzt worden waren, große Verbreitung und höchstes Ansehen. Der Verfasser entwickelt auf Grundlage seiner neuplatonischen Ideenlehre ein Abbildsystem ontologischer Wirklichkeit. Wie es im Reich der himmlischen Geister eine Gliederung in drei Triaden gebe und diese in hierarchischer Ordnung stünden, wobei Gott der Urheber dieser Hierarchie ist, an dem jedes Seiende in einer abgestuften Rangordnung Anteil hat, so gebe es entsprechend in der Kirche als Abbild

13

Horst Dreier, Souveränität, StLex7 IV, 1988, Sp. 1203 – 1209, hier Sp. 1204.

14

1529/30 – 1596. In seinem Hauptwerk „Les six livres de la Republique“ entwickelt er die Idee des modernen Staates mit dem Wesensmerkmal der Souveränität verstanden als „La puissance absolue et perpetuelle“. Vgl. Roman Schnur, Bodin, in: StLex7 I, 1985, Sp. 861 – 863. 15

Für die absolute, d. h. legibus solutus, Herrschergewalt ist die Gesetzgebungsgewalt zentral. Dabei ist der Fürst nur den Geboten Gottes, den natürlichen Gesetzen sowie den leges fundamentales imperii unterworfen. Dreier, Souveränität (Anm. 13) 1209. 16

Adolf M. Ritter / Hermenegild M. Biedermann / Helmut Meinhardt, Art. Dionysios Are(i)opagites, in: LexMA III, Sp. 1079 – 1087.

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der himmlischen Welt ebenfalls eine entsprechende hierarchische Rangordnung. In Verbindung mit dem von der Kirche übernommenen römisch-rechtlichen Ordo-Denken verfestigt sich das ursprünglich philosophische Konstrukt zu einem rechtlichen Prinzip im Sinne einer Ständeordnung. Der Hierarchiebegriff wird fortan zu einem tragenden Bestandteil der kirchlichen Ämterlehre und des kanonischen Ämterrechts. Der Begriff steht nun nicht nur für die Rückführung aller kirchlichen Gewalt auf Gott, sondern für eine verbindliche und unabänderliche rechtliche Struktur der Über- und Unterordnung. Die Konsequenz einer sich verschärfenden Dichotomisierung der Stände des Klerus (Hierarchie) und der Laien verbunden mit deren prinzipieller Minderbewertung war die notwendige Folge.17 Der Ausbau der hierarchischen Struktur und besonders der Stellung des Papstes wurde nicht zuletzt durch die Kirchenreform im 11. Jahrhundert im Zuge der Überwindung der Laieninvestitur (Investiturstreit) mit der sich verschärfenden Trennung von Klerus und Laien gefördert. Mit der konsequenten rechtlichen Durchsetzung des hierarchischen Prinzips ging die Ausbildung der Lehre von der päpstlichen plenitudo potestatis einher: Die römische Kirche war – in den Worten des Kardinals Hubert von Silva Candida, gest. ca. 1061 – „caput, mater, fons et fundamentum“ der ganzen Kirche, „die zwar von Christus herkommt, aber nur über Petrus und seinen Nachfolger, in dem der hierarchische Bau seine Spitze hat“18. Indem das Petrusamt und die Person des Papstes getrennt gesehen wurden, galt letzterer in Ausübung seines Amtes nicht mehr als Glied der Kirche, sondern als eine außerhalb und oberhalb der Kirche stehende Einrichtung.19 Ab Innozenz III. führt der Papst offiziell nicht

17 Helmuth Pree, „Lex divinitatis est, infima per media in suprema reduci“ (X vag. comm. 1,8,1). Überlegungen zum hierarchischen Amtsverständnis, in: ZRG Kan.Abt. 88 (2002), S. 411 – 442, hier S. 413 f. Vgl. Garrett J. Roche, Hierarchy: From Dionysius to Trent to Vatican II, in: StCan 16 (1982), S. 367 – 389; Walter Ullmann, Principles of Gouvernment and politics in the middle ages, London 41978, S. 45 – 48. Zu den Grundlagen der Pseudo-dionysischen Schrift gehörte die Ableitung alles Seienden von einem einzigen principium unitatis, welches der Autor mit Gott identifizierte. Die Verbindung mit dem paulinischen Grundsatz Nulla potestas nisi a Deo gab dem Gedanken, dass auch in der Kirche alle Gewalt pyramidenförmig von oben nach unten fließen müsse, den Anschein einer theologischen Erklärung. Zudem war dieses Erklärungsmodell in einem hohen Maße kongruent mit den zeitgenössischen Anschauungen über Papst bzw. Kaiser als dem höchsten Wesen auf Erden. 18

Karo Amon / Josef Lenzenweger u. a. (Hrsg.), Geschichte der katholischen Kirche, Graz / Wien / Köln 1986, S. 245. 19 Dabei berief man sich auf die Bibelstelle Jer. 1,10: „Siehe, ich habe dich heute über die Völker und über die Königreiche gesetzt, auszurotten und niederzureißen und zu

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mehr die Bezeichnung „Vicarius Petri“20, sondern „Vicarius Christi“, die fortan fester Bestandteil der päpstlichen Titulatur ist (vgl. c. 331 CIC/1983).21 Für Innozenz III. war die Stellvertretung Petri nicht ausreichend, um die Innehabung des gladius materialis zu begründen. Denn von Petrus konnte nicht behauptet werden, er habe auch das weltliche Schwert innegehabt.22 Mit der Stellung als „Vicarius Christi“ in diesem Verständnis war geradezu notwendig jene als Haupt der Kirche (caput ecclesiae)23 verbunden. Damit ist die Grundlage für die päpstliche plenitudo potestatis vollends geschaffen: Alle Gewalt der Kirche ist ursprunghaft im Papst gegeben und strömt von ihm auf die unteren Ebenen der Kirche weiter.24 3. Kanonistik Zentrales Instrument für die theoretische Entwicklung, Abstützung und für den systematischen Ausbau dieser Positionen in der päpstlichen Kirchenleitung war das in dieser Epoche zur Blüte gekommene kanonische Recht. Es wurde seit der Mitte des 12. Jahrhunderts wissenschaftlich systematisch betrieben, im Pontifikat Bonifaz’ VIII. beginnt sich die klassische Periode des kanonischen

verderben und zu zerstören, aufzubauen und zu pflanzen.“ Innozenz III. erklärt den Papst als „medius constitutus inter Deum et hominem.“ Ullmann, Principles (Anm. 17), S. 51. 20

„Nam quamvis sumus apostolorum principis successores, non tamen eius aut alicuius apostoli vel hominis, sed ipsius sumus vicarii Jesu Christi.“ Schatz, Der päpstliche Primat (Anm. 12), S. 117. 21

„Vices Dei gerit in terris“ (Innonzenz III., X 1,7,3). „Nach diesem Selbstverständnis stand der Papst als Vertreter des Priesterkönigs Christus zwischen Gott und den Menschen, alle richtend, auch Völker und Reiche, und selber nur von Gott gerichtet.“ Georg Schwaiger, Art. Papst, Papsttum, in: LexMA VI, Sp. 1667 – 1685, hier Sp. 1676. 22

Muldoon, Boniface VIII (Anm. 1), S. 467.

23

Hier berief man sich auf das paulinische Leib-Christi-Bild in dem Sinn, dass aus der römischen Kirche das Leben der übrigen Kirche entspringt (fons et origo). „So wie Christus das Haupt des Leibes der Kirche ist, so dass alle Glieder nur durch ihn leben und von ihm her ihre Funktion empfangen, so strömt alle Gewalt und alle Vollmacht in der Kirche vom Papst aus, der das Haupt Christus vertritt, so dass man nach Christus vom Papst sagen kann: ‚Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen‘ (Joh 1,16).“ Schatz, Der päpstliche Primat (Anm. 12), S. 117. 24

Während der Papst als „Vicarius Petri“ noch als in der Kirche stehend gedacht wurde, enthebt ihn der Titel „Vicarius Christi“ über diese. Vgl. Schatz, Der päpstliche Primat (Anm. 12), S. 117 f.

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Rechts seinem Ende zuzuneigen.25 Die Kanonistik hat sich ab dem 12. Jahrhundert an in relativer Selbständigkeit (wenngleich nicht Trennung) gegenüber der Theologie entwickelt und zugleich großen Nutzen aus den unerschöpflichen Quellen des römischen Rechts gezogen. Die wissenschaftliche Bearbeitung des kanonischen Rechts erfolgte in fruchtbarer Symbiose mit der Legistik.26 Das Aufblühen der Kanonistik als Wissenschaft war Teil des allgemeinen geistigen Aufbruchs im 12. Jahrhundert (Übernahme aristotelischer und arabischer Philosophie, Scholastik, Entstehen der Universitäten usf.). Für die Kanonistik hatte sich bekanntlich das um 1140 vermutlich im Raum Bologna verfasste Decretum Gratiani („concordia discordantium canonum“) als Initialzündung erwiesen: Obwohl Privatarbeit (eine kompilierende Sammlung bisherigen Kirchenrechts mit gleichzeitiger Harmonisierung der Quellenautoritäten), errang das Werk sofort höchstes Ansehen in scholis et iudiciis. Die Dekretistik hatte auf dem Boden der gregorianischen Reform einen Impuls für die päpstliche Gesetzgebung bedeutet. So konnte Gregor IX. im Jahr 1234, nunmehr als Gesetzgeber, den Liber Extra („Decretales Gregorii IX“) als einheitliches Gesetzbuch in Kraft setzen. Bologna blieb das Zentrum kanonistischer Studien. Ab dem Ende des 12. Jahrhunderts kommen neben Paris weitere kanonistische Schulen, besonders in Italien, Frankreich und Spanien hinzu. Die klassische Dekretalistik bildet die Periode von 1239 (Liber Extra) bis 1348. In dieser Zeit erhält Bonifaz VIII. in den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts seine kanonistische Ausbildung, neben Todi und Spoletto besonders auch in Bologna.27 Mit Hilfe des kanonischen Rechts erfolgte der Ausbau der kurialen Bürokratie und des Finanzwesens der römischen Kurie.28 Die Papstzehnten waren im 13. Jahrhundert zur ertragreichsten Einnahmequelle der Kurie geworden. Zu25

Als Ende der klassischen Periode des kanonischen Rechts gilt allgemein der Tod des letzten großen Kanonisten dieser Zeit, Johannes Andreae, im Jahre 1348; Raoul Naz, Art. Droit canonique, in: DDC IV, 1949, Sp. 1446 – 1495, hier Sp. 1475. 26

Vgl. Péter Erdö, Introductio in historiam scientiae canonicae. Praenotanda ad Codicem, Roma 1990, S. 75 – 77; Naz, Droit canonique (Anm. 25 ), Sp. 1473 f. 27

Henri X. Arquillière, Art. Boniface VIII., in: DDC VI, 1937, Sp. 940 – 948, hier Sp. 940; Tilmann Schmidt, Art. Bonifaz VIII., in: LexMA II, Sp. 413 – 416, hier Sp. 414; Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 144. 28

Zu den Einnahmen zählten auch jene aus dem Kirchenstaat, daneben der Peterspfennig, eine wachsende Anzahl von Abgabenarten wie Annaten, Servitien, Ablassgelder. Vgl. Heribert Müller, Art. Kirche I, in: LexMA V, Sp. 1161 – 1165, hier Sp. 1164. Auch ein eigenes kirchliches Finanzstrafsystem wurde ausgebaut, wobei sich die Kirche nicht nur materieller Strafen (z. B. Vermögenskonfiskation) sondern auch geistlicher Strafen (z. B. Exkommunikation) nachhaltig bediente: Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts (Anm. 8), S. 426.

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nächst nur für bestimmte Zwecke und auf begrenzte Zeit erhoben, wurden sie von Bonifaz VIII. (1298) an allgemein für die Bedürfnisse der Kurie lukriert: „Pro necessitate ecclesiae, in subsidium Terrae sanctae, pro oneribus Ecclesiae Romanae“.29 Damit hängt auch der Anspruch der Kirche auf Steuer- und Abgabenhoheit sowie auf Immunität von der weltlichen Steuerhoheit zusammen, wie er überwiegend erfolgreich durchgesetzt wurde. Nachhaltigsten Ausdruck fand dieser Anspruch des Papstes in der Bulle Bonifaz VIII. „Clericis laicos“ (1296)30 gegenüber der französischen Krone, wobei aber der erstrebte Erfolg nicht erreicht wurde. Die Folge war eine zentralistisch geführte Papstkirche, in der sich die Kluft zu den Ostkirchen zusehends vergrößerte. 4. Gesetzgebungsfunktion (13./14. Jh.) a) Das Problem der Änderbarkeit des Rechts Das dem heutigen Rechtsdenken selbstverständliche Axiom, demzufolge das überkommene Recht geändert werden kann, ist rechtshistorisch keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Für das Frühmittelalter gilt im Allgemeinen der Grundsatz, Recht wird nicht geschaffen, sondern überliefert und vorgefunden.31 Dies gilt für die weltlichen Herrscher ähnlich wie für den kirchlichen Bereich,32 und erklärt, warum die päpstliche Rechtssetzung in den Dekretalen zunächst Einzelfallentscheidung, Gewährung von Ausnahmerecht (Privileg, Dispens), Abschaffung eingetretener Missbräuche, Anweisung für konkrete Fälle war. Dem Grundsatz nach sollte vom geltenden Recht nur ausnahmsweise abgewichen werden. Der Vorrang des alten Rechts vor Neuerungen wirkt sich z. B. auch noch in der Entscheidung Innozenz IV. aus, kein eigenes Gesetz (nach dem Liber Extra) herauszubringen: „... weil der Papst sich gerade durch das Gewicht des Liber Extra gebunden fühlte und deshalb seinen Apparat zum

29

Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts (Anm. 8), S. 427.

30

VI 3, 23,3.; vgl. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts (Anm. 8), S. 426.

31

Schatz, Der päpstliche Primat (Anm. 12), S. 112.

32

So verstanden sich z. B. die Kapitularien Karls des Großen als das bisherige Recht ergänzend, niemals aber als ausdrücklich früheres Recht aufhebend. Die hergebrachten Stammesrechte galten grundsätzlich als unantastbar. Die (römischen) leges galten als der Verfügungsgewalt des Herrschers entzogen. Vgl. Grawert, Gesetz (Anm. 4), S. 868.

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Extra schrieb, setzt ein Selbstverständnis voraus, in dem die Bindung an die Tradition dem Willen zum Neuen prinzipiell vorgeordnet war“.33 Vom 11. bis zum 13. Jh. erfolgt ein Umbruch im kirchlichen Gesetzgebungsdenken, wobei der päpstlichen Gesetzgebung allgemein eine Vorreiterrolle zukommt. Grundlegend war dieser Wandel in die Wege geleitet worden, seit Gregor VII. im Dictatus Papae den Anspruch erhoben hatte: „Quod illi soli licet pro temporis necessitate novas leges condere“.34 Ab hier beginnt die Autorität des alten Rechts zurückzuweichen, die päpstliche Gesetzgebung beginnt sich über das Konzilsrecht zu setzen.35 Um 1140 kann Gratian festhalten: „Sunt quidem dicentes Romanos Pontifices semper licuisse novas leges condere. Quod et nos non solum non negamus, sed etiam valde confirmamus“.36 Dass die päpstliche Gesetzgebung auch tatsächlich zu einer nicht auf Einzelfälle beschränkten, sondern durch generelle Normen positiv rechtsgestaltenden Instanz wurde, vollzieht sich in einem fließenden Übergang – ein Prozess, der sich in der Periode der klassischen Kanonistik vollzieht und bei Bonifaz VIII. als abgeschlossen betrachtet werden kann. Im 13. Jh. hatte ein „Qualitätssprung“ stattgefunden, indem sich in der Kanonistik und in der päpstlichen Gesetzgebung das für die Rechtssicherheit höchst dienliche Prinzip durchsetzte, demzufolge nur ein Gesetz (constitutio), nicht aber ein Reskript, ein früheres Gesetz außer Kraft setzen kann.37 Für die Promulgationsbulle zum Liber Sextus

33 Peter Landau, Neuere Forschungen zu Quellen und Institutionen des klassischen kanonischen Rechts bis zum Liber Sextus. Ergebnisse und Zukunftsperspektiven, in: Peter Linehan (Hrsg.), Monumenta iuris canonici. Proceedings of The Seventh International Congress of Medieval Canon Law, Città del Vaticano 1988, S. 27 – 47, hier S. 45. 34

Dictatus Papae, Nr. 7: Grawert, Gesetz (Anm. 4), S. 872; Ullmann, Principles (Anm. 17), S. 75. Im Blick auf die Juristenpäpste des Hochmittelalters, besonders Gregor VII., kann Stolleis feststellen, sie hätten ihre Machtstellung unter Berufung auf römisch-rechtliche Sätze auf- und ausgebaut. „Die Begründung ihrer Gesetzgebungsund Jurisdiktionsgewalt aus der umfassenden potestas war der ins Kirchenrecht transponierte kaiserliche Machtanspruch.“ Michael Stolleis, Art. Rezeption, öffentlich-rechtlich, in: HRG IV, Sp. 984 – 995, hier Sp. 984. 35

Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts (Anm. 8), S. 83.

36

D 25,1,6. Die Bindung an das unabänderliche Naturrecht ist dabei vorausgesetzt.

37

Ausführlich: Peter Landau, L’evoluzione della nozione di „legge“ nel diritto canonico classico, in: Americo Giani / Giovanni Diurni (a cura di), „Lex et Iustitia“ nell’utrumque ius: radici antiche e prospettive attuali (Utrumque Ius 20), Roma 1989, S. 263 – 280, hier S. 277 – 279.

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„Sacrosanctae“ ist die Befugnis des Papstes zur Änderung bisherigen päpstlichen Rechts und zur generell verbindlichen Normsetzung keine Frage mehr. Auch die philosophisch-theoretische Untermauerung der prinzipiellen Änderbarkeit des Gesetzes war bereits erbracht: Etwas mehr als 2 Jahrzehnte vor dem Pontifikat Bonifaz’ VIII. stützt Thomas von Aquin38 seine Lehre von der grundsätzlichen Mutabilität menschlichen Rechts auf dem Boden aristotelischer Philosophie auf folgende Argumente: Den unterschiedlich weit reichenden Einsichtsstand der menschlichen Vernunft, die Veränderlichkeit der menschlichen Lebensbedingungen; die Gerechtigkeit eines Gesetzes sei vom Gemeinwohl abhängig; um dieses zu erreichen, seien aber je verschiedene Maßnahmen nötig, weshalb das Gesetz veränderlich sein müsse. Thomas unterscheidet jedoch zwischen der unveränderlichen lex naturalis (verstanden als participatio quaedam legis aeternae) und der prinzipiell veränderlichen lex humana.39 In der Summa Theologica, I – II liegt wohl erstmals in der europäischen Rechtsgeschichte eine Lehre der Gesetzgebung vor, die – trotz strikter Bindung an präpositive Grundsätze – eine legitime Positivität des Gesetzes rechtfertigt. Gagnér spricht davon, dass in der I – II „zum ersten mal in der abendländischen Latinität eine vollständige Ideologie des Gesetzespositivismus zu finden“ sei.40 Damit sei der Schlüssel zum Verständnis der bonifazischen Gesetzgebungswerke zur Hand.41 Der Gesetzespositivismus in der Kodifikationsgeschichte des kanonischen Rechts sei damit zum Durchbruch gekommen.42 Das Rangverhältnis zwischen altem, überkommenem und neuem Recht hatte sich umgekehrt: Nunmehr galt „lex posterior derogat legibus prioribus“.43 b) Vom „case law“ zur generell-abstrakten Norm Gegen Ende des 12. Jh. hatte die Kanonistik den Begriff des Gesetzes (zumeist „constitutio“ im Unterschied zu „decretum“ und „rescriptum“) als einer

38

Summa theologica I-II qu. 97.

39

I-II qu. 97,2. Vgl. die ausführliche Analyse von Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 180 – 287. 40

Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 279.

41

Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 283.

42

Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 287.

43

Der Satz entstammt Baldus de Ubaldis (1327 – 1400; sehr namhafter Vertreter des Zivilrechts und Kenner des kanonischen Rechts), Kommentar zu Dig. 9,1,2 pr.; vgl. Dig. 1,4,4 (Modestin): Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, München 51991, S. 111. Vgl. Grawert, Gesetz (Anm. 4), S. 872.

Bonifaz VIII. (1294 – 1303) als kirchlicher Gesetzgeber

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generell-abstrakten Norm entwickelt.44 Während unter Innozenz III. die Rechtsbildung noch vornehmlich durch päpstliche Einzelfallentscheidungen, noch nicht durch generell abstrakte Normen geschieht, die juristische Begriffsbildung aber schon einer gefestigten Tradition folgt45, ist im Liber Extra Gregors IX. (1234) ein größerer Schritt zur Gesetzgebung im eigentlichen Sinn festzustellen. Im Liber Extra stellen etwa 1/3 der Texte bereits abstrakte Normsetzungen ohne konkreten Anlassfall dar, die übrigen rund 2/3 Drittel hingegen echte Dekretalen. Die Bedeutung dieses Prozesses für die europäische Gesetzgebungsgeschichte und -idee kann nicht hoch genug veranschlagt werden.46 Damit verfestigt sich auch für die Nachfolger ein Gesetzessystem, das zunächst als bindend angesehen wird und an das sich auch die Nachfolger grundsätzlich halten. Bonifaz VIII. hat den Liber Extra in Geltung belassen. Während der Liber Extra noch deutlichere kompilatorische Züge trägt, ist der Liber Sextus Bonifaz’ VIII. schon stärker Gesetzgebung im eigentlichen Sinn.47 Im Liber Sextus ist nur mehr ein verhältnismäßig geringer Teil (54 Einzelstellen) ursprünglich an persönliche Adressaten gerichtet, d. h. es handelte sich vor der Aufnahme in den Liber Sextus um Dekretalen.48 Es waren besonders Innozenz IV. und Hostiensis,49 welche den Terminus lex von sententia und praeceptum abgrenzten und das Gesetz mit den Merkmalen der Dauerhaftigkeit, der Wirkung für die Zukunft und der generellen Geltung versahen – womit nicht nur für den kirchlichen, sondern auch für den weltlichen Bereich der Grund für eine rationale Rechtsetzungstätigkeit (leges condere) gelegt war.50

44

Landau, L’evoluzione della nozione di „legge“ (Anm. 37), S. 276 f.

45

Landau, Neuere Forschungen (Anm. 33). S. 42; Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 296 – 302. 46

Landau, Neuere Forschungen (Anm. 33), S. 43.

47

Knut W. Nörr, Päpstliche Dekretalen und römisch-kanonischer Zivilprozess, in: Walter Wilhelm (Hrsg.), Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Frankfurt am Main 1972, S. 53 – 65, hier S. 64 f. 48

Vgl. Tilmann Schmidt, Papst Bonifaz VIII. als Gesetzgeber, in: Stanley Chodorow (Hrsg.), Proceedings of the Eights International Congress of Medieval Canon Law, San Diego 1988, Città del Vaticano 1992, S. 227 – 245. 49

Lebte vor 1200 – 1270 und war „ein gewiegter Kenner beider Rechte und ein gründlicher wissenschaftlicher Jurist“ (Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts [Anm. 8], S. 519 f.): Heinrich von Susa, zuletzt Kardinalbischof von Ostia. Von ihm stammt die bedeutsamste Titelsumme der ganzen Dekretalistik, die um 1253 in Frankreich entstandene Summa Aurea. Vgl. Erdö, Introductio (Anm. 26), S. 90 f. 50

Grawert, Gesetz (Anm. 4), S. 872.

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c) Begründung der Gesetzgebungsgewalt Wenn Accursius (um 1183 – 1263) in seinem Lebenswerk, der Glossa Ordinaria zum Corpus Iuris Civilis, im Anschluss an Dig. 1,4 sowie Codex 1,14 für den princeps feststellt „Solus ergo ipse est conditor et interpres legum“51 und damit die kaiserliche Rechtssetzungsgewalt unter Rückgriff auf römisch-rechtliche Formeln stützt, ist damit ein Wandel in der Begründung der Gesetzgebungsgewalt für den profanen Bereich angezeigt. Im Vergleich zu den von den Päpsten zu dieser Zeit bereits beanspruchten Gesetzgebungskompetenzen scheint sich dahinter das Bedürfnis der kaiserlichen Seite zu verbergen, mit der päpstlichen Macht auch in diesem Punkte gleichzuziehen.52 Gesetzgebungsgewalt beginnt auch im profanen Bereich zum gezielt eingesetzten Herrschaftsinstrument zu werden. Es verändert sich die Beziehung zwischen Herrschaft und Recht.53 Für das Papsttum hatte, wie gesagt, bereits Gregor VII. im Dictatus Papae (1075) das Recht für sich reklamiert, „quod illi soli licet pro temporis necessitate novas leges condere“. Gregor VII. begründet im Liber Extra (1234) die Gesetzgebungsgewalt (des Papstes) aus dem übertragenen sacerdotium: „Potestas legem condendi et mutandi est penes vicarium Christi. Et quod de uno connexorum statuitur, ad aliud connexum extenditur.“54

51

Glossa „Si imperialis“ zu Codex 1,14,12: Hermann Krause, Art. Gesetzgebung, in: HRG I, Sp. 1606 – 1620, hier Sp. 1613. Cod. Iust. I 14,12 enthält u. a. folgende Aussagen: „Si imperialis maiestas causam cognitionaliter examinaverit et partibus cominus constitutis sententiam dixerit, omnes omnino iudices, qui sub nostro imperio sunt, sciant hoc esse legem non solum illi causae, pro qua producta est, sed omnibus similibus. Quid enim maius, quid sanctius imperiali est maiestate? ...Definimus autem omnem imperatoris legum interpretationem sive in precibus sive in iudiciis sive alio quocumque modo factam ratam et indubitatam haberi. si enim in praesenti leges condere soli imperatori concessum est, et leges interpretari solum dignum imperio esse oportet. ...tam conditor quam interpres legum solus imperator iuste existimabitur ...“. Der gesamte Titel 14 des Cod. Iust. I „De legibus et constitutionibus principum et edictis“ verwendet wiederholt den Ausdruck leges bzw. constitutiones condere. 52

Krause, Gesetzgebung (Anm. 51), Sp. 1613.

53

Zur dogmatisch nicht entwickelten, im Einzelnen variierenden Begründung der Gesetzgebungsvollmacht (consensus populi, consensus populi et constitutio regis, vertragliche Begründungselemente usf.) bis zur Zeit Friedrichs II. vgl. Grawert, Gesetz (Anm. 4), S. 867 – 875. 54

X 1,2,3. „Translato sacerdotio necesse est ut legis translatio fiat. Quia enim simul et ab eodem, et sub eadem sponsione utraque data sunt, quod de uno dicitur, necesse est ut de altero intelligatur“ (ibid.).

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Bei Bonifaz VIII. begegnet uns dessen Selbstverständnis als Gesetzgeber am dichtesten in der Promulgationsbulle zum Liber Sextus „Sacrosanctae“. Darin beruft sich Bonifaz auf seine Amtsgewalt: „iuxta creditae nobis dispensationis officium“; „pro ipsorum quiete“ übernehme er freiwillig Mühen und durchwachte Nächte „ut scandala removeamus ab ipsis“; aus der menschlichen Natur entstünden fortwährend neue scandala und lites, die durch das Gesetz unterdrückt werden sollen („reprimamus“). Er weist darauf hin, dass durch manche seiner Constitutiones „ad correctionem morum, subditorumque quietem multa statuuntur salubria“; die Änderungen, Streichungen, Klärungen und Ergänzungen am bisherigen Recht nimmt er vor „prout expedire vidimus“. Aus diesen Worten spricht eine in der Amtsvollmacht begründete, souveräne, d. h. von niemandem abhängige (nicht an die Zustimmung jemandes gebundene) Gesetzgebungskompetenz, die der Papst nach seinem alleinigen Gutdünken einsetzen kann. Dem entspricht, was Bonifaz im Liber Sextus selbst zum Ausdruck bringt: „licet Romanus pontifex iura omnia in scrinio pectoris sui censetur habere ...“.55 Frappierend ist die Parallelität, ja teilweise Identität der Begründung herrscherlicher Gesetzgebungsgewalt im Vergleich zur päpstlichen im Falle der französischen Krone: Königliche Gesetze werden erlassen „de plenitudine potestatis regiae“; „omnia iura precipue iura competentia regno suo, in eius pectore sunt inclusa“.56 Ebenso frappierend ist ein vergleichender Blick in das geltende Kirchenrecht: Die päpstliche Gewalt (suprema Ecclesiae auctoritas) wird umschrieben und zugleich begründet mit Hinweis auf die im Papst andauernde Petrusfunktion, der zufolge er sei „Vicarius Christi atque universae Ecclesiae his in terris Pastor“; kraft Amtes verfügt er in der Kirche über höchste (suprema), volle (plena), unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann (c. 331 CIC). Demnach beschränkt sich die Gewalt des Papstes explizit auf den innerkirchlichen Bereich, hier aber unterliegt sie keinen wie immer gearteten von Menschen errichteten Schranken, ja ist durch keine innerweltliche Instanz überprüfbar bzw. ihr verantwortlich (vgl. cc. 333 § 3; 1404; 1372; 1732 CIC).

55 VI 1,2,1. Diese vielzitierte Wendung ist dem spätrömischen kaiserlichen Dekret Honorius und Theodosius entnommen, wo es beiläufig (das Dekret handelt vom Testamentsrecht) heißt: „toto iure, quod nostris est scriniis constitutum“: Cod. Iust. VI 23,19. 56

Nachweise bei Ullmann, Principles (Anm. 17), S. 205 – 207.

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III. Überblick über die Gesetzgebungstätigkeit Bonifaz’ VIII. 1. Einzelne Regelungswerke (chronologisch) a) „Clericis laicos“ (24.2.1296) 57 Diese Bulle markiert den Konflikt mit Philipp dem Schönen von Frankreich und ist nur von ihrem Anlass her zu verstehen und zu interpretieren. In ihr heißt es u. a.: „Apostolica auctoritate statuimus quod quicumque prelati ecclesiasticaeque persone religiose vel seculares ...collectas vel tallias, decimam, vicesimam seu centesimam suorum et ecclesiarum proventuum vel bonorum laicis solverint vel promiserint ...necnon reges seu principes, officiales qui talia imposuerint, exegerint vel perceperint ... eo ipso sententiam excommunicationis incurrant.“ Die Bulle ist keine ekklesiologische Lehre über das Verhältnis von Klerikern und Laien, sondern eine anlassbedingte Einforderung der kirchlichen Realimmunität.58 Die Elemente des Inhalts sind der römischen Synode von 502, den letzten Laterankonzilien und Pseudoisidor entnommen.59 Der letzte Artikel der Bulle, eine Zusammenfassung kurzer rechtlicher Leitgedanken, geht Dinus Mugellanus zufolge auf Bonifaz VIII. selbst zurück und offenbart Bonifaz’ Vorliebe für juristische Details.60 b) „Liber Sextus“ (3.3.1298)61 Der Liber Sextus bildet das gesetzgeberische Hauptwerk Bonifaz’ VIII. Als relativ umfassendes Gesetz behandelt er viele der Rechtsmaterien, die auch im Liber 57

VI 3,23,3. Die Bulle beginnt mit den Worten: „Clericis laicos infestos oppido tradit antiquitas ...“: „Dass die Laien den Klerikern bitter feind sind, überliefert das Altertum, und auch die Erfahrungen der Gegenwart geben es deutlich zu erkennen ...“. 58 Vgl. Gabriel Le Bras, Boniface VIII, Symphoniste et modérateur, Melanges d’histoire du moyen age, Paris 1951, S. 383 – 394, hier S. 387; Arquillière, Boniface VIII. (Anm. 27), Sp. 942 f. 59 D 96,1; X 3,49,4 u. 7; C 2, 7,6 u. 14. Vgl. Le Bras, Boniface VIII (Anm. 58), S. 387. 60 Vgl. Boase, Boniface VIII. (Anm. 3), S. 93. 61

In der Promulgationsbulle „Sacrosanctae“ gibt Bonifaz VIII. die Gründe an, deretwegen die Bezeichnung gewählt wurde: Zum einen weil sich das neue Gesetz an die 5 Bücher des Liber Extra Gregors IX. anschließt, zum anderen weil die Sechszahl eine vollkommene Zahl darstellt. Vgl. Nikolaus Nilles, Über den Titel der Dekretalensammlung Bonifaz’ VIII.: „Liber Sextus decretalium Bonifacii PP. VIII.“, in: AfkKR 82 (1902), S. 425 – 436. „Vollkommen“ ist nach der euklidischen Mathematik diejenige Zahl, die allen ihren Teilen zusammen gleich ist, d. h. die mit der Summe aller ihrer möglichen Quotienten identisch ist, also bei der Sechszahl 3 + 2 + 1. Die nächstfolgenden vollkommenen Zahlen wären 28, 496, 8128.

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Extra geregelt sind (gemäß der ab dem Liber Sextus eingeführten 5-Büchereinteilung: Iudex-Iudicium-Clerus-Connubia-Crimen), vornehmlich aber solche, die ihm würdig einer Klärung, Differenzierung, Ergänzung, Streichung oder Neufassung erschienen sind. Er verarbeitet darin den angefallenen Rechtsstoff seit der Promulgation des Liber Extra und schöpft von zwei allgemeinen Konzilien (Lyon I und II) und von den Gesetzen seiner Vorgängerpäpste wie von seinen eigenen. Unmittelbarer Anlass war die Bitte der Universität Bologna.62 Mindestens 2/3 der Texte des Liber Sextus sind ihm selbst zuzuschreiben. Zahlreiche Streitfragen hat Bonifaz, der sich nachweislich in die Arbeit der dreiköpfigen Redaktionskommission63 einschaltete, entschieden. Was die legislative Methode betrifft, so ist der generelle Charakter der Anordnungen und Formulierungen stärker als im bisherigen Recht entwickelt, d. h. es handelt sich in einem bislang nicht gekannten Ausmaß um generell-abstrakte Normen.64 Er stellt die vorgefundenen Dekretalen und constitutiones nicht nur unter systematischen Gesichtspunkten zusammen, sondern formuliert sie so um, dass sie sich widerspruchsfrei, ohne unnötige Wiederholungen und ohne überholtes oder überflüssiges in ein einheitliches, allgemeines Gesetz einfügen. In der Methode65, wie Bonifaz dies mit dem vorgefundenen Material zu Wege brachte und in dem erzielten Ergebnis besteht zu einem erheblichen Teil die Bedeutung dieses Papstes für die Gesetzgebungsgeschichte. Die zentralen Gesichtspunkte der Kodifikationsidee (im Unterschied zu einer Kompilation) haben hier einen beachtlichen Entwicklungsstand erreicht, so dass A. Stickler vom Liber Sextus feststellen kann, dass er „etiam maiorem progressum et perfectionem scientiae

62

Boase, Boniface VIII. (Anm. 3), S. 91 f.

63

Bonifaz VIII. nennt die drei Redaktoren in der Promulgationsbulle „Sacrosanctae“. Danach handelt es sich um Riccardo Petroni aus Siena, Vizekanzler der römischen Kirche, Kardinal (gest. 1313), vgl. Tilmann Schmidt, Riccardo Petroni von Siena als Gutachter im Prozess gegen Papst Bonifaz VIII., in: ZRG Kan.Abt. 68 (1982), S. 277 – 293; Hugo Hurter, Nomenclator litterarius II, Innsbruck 31906, S. 513 f., Berengarius Fredoli (auch: Stedellus und Stedelius), dem später von Clemens V. die Untersuchung im Templerprozess übertragen worden war (gest. 1323); war Bischof von Béziers; sowie Erzbischof Wilhelf von Mandagout, Erzbischof von Embrun seit 1295, Schüler des Berengar von Frédol, später von Clemens V. 1312 zum Kardinal ernannt. Alle drei waren hervorragende Rechtskenner und Praktiker. Vgl. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts (Anm. 8), S. 64 f. und 481 f.; Boase, Boniface VIII. (Anm. 3), S. 92; Tilmann Schmidt, Boniface VIII., London 1933; Schmidt, Bonifaz VIII. als Gesetzgeber (Anm. 48), S. 227 f. 64

Vgl. Peter Leisching, Die Kodifikationsmethode der Bulle Sacrosanctae (1298), in: ÖAKR 42 (1993), S. 67 – 79, hier S. 77. 65

Ausführlich: Leisching, Kodifikationsmethode (Anm. 64).

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iuris, exsurgentis ad principia generalia pedetentim elaborata, exprimit“.66 „Es lag hier ein kanonistischer Leitfaden der gesetzgeberischen Kunst für den gemeineuropäischen Brauch vor.“67 Von besonderer Bedeutung sind die dem Liber Sextus angeschlossenen, ebenfalls publizierten, 88 Regulae Iuris. Sie enthalten allgemeine Rechtsprinzipien, Interpretationsgrundsätze, Regeln für die Anwendung des Rechts und für die Lückenschließung. Beispiele: Nemo potest ad impossibile obligari (RJ 6), ignorantia facti, non iuris, excusat (RJ 13), odia restringi et favores convenit ampliari (RJ 15), quod omnes tangit, debet ab omnibus approbari (RJ 29), generi per speciem derogatur (RJ 34), plus semper in se continet, quod est minus (RJ 35), qui tacet, consentire videtur (RJ 43), in poenis benignior est interpretatio facienda (RJ 49). Ihrem Ursprung nach sind sie zum größten Teil dem römischen Recht entnommen, im Übrigen der Moral und dem Kirchenrecht selbst. Ein Vergleich mit den nur 11 Rechtsregeln am Ende des Liber Extra offenbart auch hier den gewaltigen juristischen Fortschritt. Die Promulgation des Liber Sextus erfolgte durch Übersendung an die Universität Bologna mit der Anweisung, dass das Gesetz fortan „in iudiciis et in scholis“ zu verwenden ist. Es war ein authentisches, universales und relativ ausschließliches Gesetzbuch.68 Er hat aber bemerkenswerterweise keine so breite wissenschaftliche Diskussion und Kommentierungstätigkeit ausgelöst wie der Liber Extra. Auch haben unter Bonifaz VIII. und nach ihm nur sehr wenige Provinzialsynoden (zur Beratung der Einführung der neuen Rechtslage) stattgefunden.69

66

Alfons Stickler, Historia iuris canonici latini, I, Roma 1950, S. 262.

67

Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 179.

68

Die Derogationsklausel am Ende von Sacrosanctae lautet: „nullas alias, praeter illas, quae inseruntur, aut specialiter reservantur in eo, Decretales aut constitutiones, a quibuscumque nostris praedecessoribus romanis pontificibus post editionem dicti voluminis promulgatas recepturi ulterius, aut pro Decretalibus habituri“. Aus der generellen Regel, der zufolge die bisherigen leges universales, soweit sie dem Liber Sextus widersprechen, aufgehoben werden, ergibt sich, dass Bonifaz VIII. nach dem Prinzip verfährt „lex posterior derogat legi priori, nisi expresse aliud caveatur“. Partikulargesetze und leges speciales hingegen wurden durch den Liber Sextus nur dann berührt, wenn dies ausdrücklich gesagt wurde. Vgl. Stickler, Historia (Anm. 62), S. 262 f. Diese Derogationsregeln entsprechen jenen des geltenden kanonischen Rechts (vgl. c. 20 CIC). 69

Boase, Boniface VIII. (Anm. 3), S. 93.

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c) „Antiquorum habet“ (23.2.1300)70 Mit diesem päpstlichen Gesetz wird das Heilige Jahr (Jubeljahr) für jedes hundertste Jahr,71 verbunden mit einem vollkommenen Ablass für die die Basiliken der Apostelfürsten Petrus und Paulus Besuchenden72, festgelegt. d) „Ausculta fili“ (5.12.1301) Die Bulle leitet die zweite Phase des Konfliktes mit Philipp dem Schönen ein. Anlass war die vom Papst ohne Einvernehmen mit dem Metropoliten und mit dem französischen König durchgeführte Errichtung des Bistums Pamiers, auf die der König mit der Verhaftung des neuen Bischofs reagierte. Bonifaz seinerseits setzte daraufhin die inzwischen für Frankreich außer Kraft gesetzte Bulle Clericis laicos wieder in Kraft und berief für den 1.1.1302 mit der Bulle Ausculta fili eine Synode nach Rom ein. Die Bulle besitzt wegen der in ihr ausgesprochenen Grundsätze über den Anlassfall hinaus allgemeine Bedeutung. Die christlichen Königreiche stünden in der Kirche, deren Haupt der Papst ist. Der König ist lediglich ein besonders herausragendes Mitglied der Kirche, „in qua Christi vicarius, petrique succesor primatum noscitur obtinere qui, si collatis clavibus regni caelorum iudex a Deo vivorum et mortorum constitutus agnoscitur, ad quem cedentem in solio iudicii dissipare pertinet solo intuitu omne malum ... Quare, fili carissime nemo tibi suadeat quod superiorem non habes, et non subsis summo Hierarchae Ecclesiasticae hierarchiae, nam decipit qui sic sapit, et pertinaciter hoc affirmans convincitur infidelis, nec est intra boni Pastoris ovile.“ Die Leitungsaufgabe des Papstes erstrecke sich auf alle christlichen Könige und Fürsten; der Papst sei verpflichtet, sich um deren Heil

70

Bullarum diplomatum et privilegiorum sanctorum romanorum pontificum taurinensis editio, Bd. IV, Augustae Taurinorum 1859, S. 156 f. 71 Bereits zur Mitte des 14. Jahrhunderts wurde die Frequenz auf alle 50 Jahre, in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts auf 33 Jahre (in Anlehnung an das vermutete Lebensalter Jesu), und von Paul II. 1470 auf 25 Jahre festgelegt. Seither wird es bis zur Gegenwart (allein mit 2 Ausnahmen im Jahre 1800 und 1850 auf Grund der besonderen Verhältnisse) alle 25 Jahre gefeiert. Neben diesem ordentlichen (großen) Heiligen Jahr gibt es auch außerordentliche (kleine) Heilige Jahre, wie z. B. jenes im Jahr 1983, wo des 1950igsten Jahrestages der Erlösung gedacht wurde. Ausführlich: Nicolò del Re, Anni Santi, in: Nicolò del Re, Mondo Vaticano. Passato e presente, Città del Vaticano 1995, S. 59 – 64 (Lit.). 72

Für Römer wurde als Mindestanforderung festgelegt, dass sie an 30 Tagen einmal pro Tag beide Basiliken besuchen, für Auswärtige an 15 Tagen. Durch spätere Regelungen wurden diese Anforderungen deutlich herabgesetzt.

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zu sorgen. Der Papst beschuldigt Philipp u. a., die Kirche unterdrückt und das französische Volk betrogen zu haben. Beachtlich ist hier, dass Bonifaz – unverkennbar in einer Argumentationslinie vom Dictatus Papae Gregors VII. über Innozenz III. – direkte Einflussnahme auf politische Geschehnisse beansprucht. Bonifaz nimmt schlussendlich auch noch das Recht in Anspruch, falls die Umstände es erfordern sollten, den König wie einen kleinen Kellner abzusetzen (sicut unum garcionem).73 Die Bulle wurde im Beisein des französischen Königs verbrannt und ihr Inhalt in verkürzter und überspitzter Fassung („Deum time“) publiziert und von einer Ständeversammlung zurückgewiesen.74 e) „Unam Sanctam“ (1302, publiziert wohl 1303)75 Auch diese Bulle kann nur mit Vorbehalten der Kategorie „Gesetz“ zugeordnet werden. Sie kann aber wegen der rechtlichen Relevanz des darin erhobenen päpstlichen Anspruches, der das Verhältnis der geistlichen zur weltlichen Gewalt wie auch die innerkirchliche Stellung des Papstes in gleicher Weise betrifft, nicht übergangen werden. Die einzelnen in Unam Sanctam verwendeten Argumente, Bilder und Begriffe sind nicht neu.76 Neu ist aber die Art und Weise der Komposition, ja Konzentration der einzelnen Elemente, die in der sprachlich genialen Komposition Unam Sanctam „mit ihrem extremen hierokratischen Anspruch auf universale Zuständigkeit als berühmteste Deklaration zur politischen Herrschaft des Papsttums“77 gipfelt. Mit Bibelzitaten wird zunächst die Einheit der katholischen und apostolischen Kirche, außerhalb derer es kein Heil gebe, die Notwendigkeit und 73

Arquillière, Boniface VIII. (Anm. 27), S. 944.

74

Hugo Wolter, Ausculta fili, in: LexMA I, Sp. 1247. Vgl. Gallina, De potestate (Anm. 3), S. 17. 75

X vag. comm. 1,8,1; DH 875.

76

Einzelnachweise bei Le Bras, Boniface VIII. (Anm. 58), S. 387 f.; Muldoon, Boniface VIII. (Anm. 1) passim.; W. Ullmann, Die Bullen Unam Sanctam: Rückblick und Ausblick, in: Ullmann, Scolarship and Politics in the Middle Ages (Anm. 11), S. 45 – 77. Der Schlussartikel „Porro subesse Romano Pontifici omnem humanam creaturam declaramus, dicimus, definimus et pronuntiamus omnino esse de neccessitate salutis“ ist dem Wortlaut nach Thomas von Aquin „Contra errores Graecorum“ entnommen, wo es heißt: „Ostenditur etiam quod subesse Romano Pontifici sit de neccessitate salutis“. Vgl. Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 284. Zur umstrittenen Interpretation von „Unam Sanctam“: Gallina, De potestate (Anm. 3), S. 17 – 19. 77

Tilmann Schmidt, Art. Unam Sanctam, in: LexMA VIII, Sp. 1214 f.

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Rechtmäßigkeit der Leitung der Kirche durch eine einzige Person, nämlich jene des Papstes als Nachfolger Petri begründet. Dieser Teil ist zugleich ein auf das äußerste konzentrierter und verdichteter Traktat über die Kirche. Eine wesentliche Quelle dürfte dabei das Werk des Jakob von Viterbo „De regimine Christiano“78 darstellen. Unter Zuhilfenahme der Zweischwertertheorie wird begründet, dass die geistliche Gewalt, der Papst, Inhaber des gladius spiritualis wie auch des gladius temporalis sei, und dass die geistliche Gewalt der weltlichen übergeordnet sei. Die geistliche Gewalt habe die weltliche einzusetzen und ggf. zu richten. Was sich im Dictatus Papae ankündigt, von Innozenz III. als päpstlicher Universalanspruch vollendet wird, findet sich hier in äußerster Zuspitzung. Während der weltliche Herrscher von der geistlichen Instanz gerichtet, auch abgesetzt werden kann, untersteht der geistliche Gewaltträger nur seinem kirchlichen Oberen, der Papst allein Gott. Die monistische reductio ad unum bedient sich des dionysischen Hierarchiemodells: „lex divinitatis est, infima per media in suprema reduci“. Wer sich dieser von Gott so eingerichteten Gewalt (der geistlichen) widersetze, der widersetze sich der göttlichen Ordnung und verfalle der Häresie. Der entstehenden Territorialgewalt der Nationalstaaten mit der sich ausbildenden Souveränität wird damit eine vernichtende Absage erteilt.79 Eine unmittelbare Vorarbeit dürfte der Traktat des Aegidius Romanus „De ecclesiastica potestate“ gewesen sein.80 Hatte sich mit Unam Sanctam die päpstliche potestas in temporalibus den politischen Gewalten gegenüber totgelaufen81, so trifft dies auf die innerkirchliche Anerkennung und Wirkungsge-

78

Arquillière, Boniface VIII. (Anm. 27), S. 945.

79

Die schon seit der fränkischen Zeit zu beobachtende Absorption des dem Staat von sich aus zustehenden Rechts in das Recht der Kirche, die zunehmende Integration der Herrschaft des Staates in jene der Kirche, bisweilen als politischer Augustinismus bezeichnet, findet hier seinen Höhe- und Endpunkt. Bonifaz verletzt nämlich hiermit auch das vom Naturrecht her dem Staat zustehende eigene Recht, wie es z. B. in der Naturrechtslehre und Theologie durch Thomas von Aquin entfaltet worden war. Vgl. Arquillière, Boniface VIII. (Anm. 27), S. 946. 80

Schmidt, Unam Sanctam (Anm. 77), Sp. 1215. Aegidius war Schüler des Thomas von Aquin und Aristoteliker. Was Aristoteles in den politica über den Fürsten sage, gelte besonders für den Papst als summus pontifex: „Suum est statuere leges, qualiter debet ecclesia gubernari; Spectat tamen ad summum pontificem condere leges et dare leges omnibus personis ecclesiasticis et toti ecclesie; propter quod ipse est supra huiusmodi leges, et est in eo potestatis plenitudo, ut possit agere praeter leges.“ Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 286. 81

Clemens V. musste auf französischen Druck hin schon im Jahr 1306 die sich aus Unam Sanctam ergebenden Konsequenzen betreffend eine Unterordnung der französischen Krone unter das Papsttum durch die Konstitution „Meruit“ (X vag. comm. 5,7,2) ausschließen. Vgl. Schmidt, Unam Sanctam, (Anm. 77), Sp. 1215.

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schichte der Bulle keineswegs zu: Sie wurde von Gregor XI. 1375 und später unter Leo X. am 5. Laterankonzil als dogmatische Aussage ausdrücklich bestätigt (mit Berücksichtigung der sich aus der Konstitution „Meruit“ ergebenden Beschränkungen): „Et cum de neccessitate salutis existat omnes Christi fideles Romano pontifici subesse prout divinae scripturae et sanctorum patrum testimonio edocemur, ac constitutione felicis memoriae Bonifacii Papae VIII. similiter praedecessoris nostri, quae incepit: Unam Sanctam, declaratur: pro eorumdem fidelium animarum salute, ac Romani pontificis et huis sanctae sedis suprema auctoritate, et ecclesiae sponsae sue unitate et potestate, constitutionem ipsam, sacro praesente concilio approbante, innovamus et approbamus, sine tamen praeiudicio declarationis sanctae memoriae Clementis Papae V. quae incipit: Meruit...“.82 Der im Defensor pacis (1324) von Marsilius von Padua offen zu tage tretende Antipapalismus hat eine Hauptstoßrichtung gegen Bonifaz VIII. 2. Ausgewählte Regelungsmaterien a) Amtsverzicht des Papstes Bonifaz VIII. hatte als kirchenrechtskundiger Kardinal unter seinem Vorgänger Zölestin V. maßgeblich an der Klärung der Frage mitgewirkt, ob der Papst zurücktreten könne. Nach dem einstimmigen Beratungsergebnis der Kardinäle hatte Nikolaus V. ein entsprechendes Dekret erlassen: „Auctoritate Apostolica statuit et decrevit Romanum Pontificem posse libere resignare“. Damit dies nicht in Vergessenheit gerate und künftighin keine Zweifel in dieser Frage mehr bestünden, nimmt er diese Regelung in den Liber Sextus auf: VI 1,7,1. Diese Norm ist seitdem Bestandteil des kanonischen Rechts (vgl. c. 221 CIC/1917). C. 332 § 2 verlangt zur Gültigkeit des Amtsverzichts des Papstes, dass der Verzicht frei geschieht und hinreichend kundgemacht wird, nicht jedoch, dass er von irgendwem angenommen wird. Zur Regelung der Papstwahl und des Konklaves hat Bonifaz VIII. die bisherige Regelung, zuletzt Gregors X. aus 1273, „Ubi periculum“ in den Liber Sextus übernommen: VI 1,6,3. Die Beschränkung des aktiven Wahlrechts auf die Kardinäle und das Erfordernis der 2/3 Mehrheit hatte schon seit Alexander III. (1179) bestanden. Dies entspricht auch der geltenden Regelung in Universi dominici gregis (1996). 82

Concilium Lateranense V (1512 – 1517), Dekret über die Aufhebung der pragmatischen Sanktion von Bourges vom 19.12.1516, in: Conciliorum oecomenicorum decreta, Bologna 31973, S. 640 – 645, hier S. 643 f.

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b) Eherecht Die von Bonifaz VIII. getroffene Regelung der Eheschließung durch Stellvertreter gilt hinsichtlich der wesentlichen Anforderungen so bis heute: VI 1,19,9, nunmehr c. 1105 CIC/1983. Die professio religiosa, und zwar als feierliches Gelübde wird universalrechtlich zum trennenden Ehehindernis, während das einfache Gelübde ein bloßes Eheverbot (ohne irritierende Wirkung) darstellte: VI 3,15 c.un. Ferner hat Bonifaz VIII. Rechtssicherheit hinsichtlich des impedimentum publicae honestatis geschaffen: Die der Schwägerschaft nachgebildete öffentliche Ehrbarkeit wird endgültig zum trennenden Ehehindernis: VI 4,1,1. Nach der damaligen Umschreibung des Tatbestandes bestand das Hindernis zwischen einem Verlobten und den Blutsverwandten des anderen (seit dem 13. Jh. bis zum 4. Grad), und bezog sich sogar auf ungültige Verlöbnisse, vorausgesetzt der Ungültigkeitsgrund war nicht mangelnde Einwilligung. Die Tatbestandsumschreibung des Hindernisses hat sich bis zur heutigen Zeit erheblich gewandelt. Stand seinerzeit das Fehlen der copula carnalis als zentrales Merkmal im Vordergrund (daher wurde das Hindernis später auch auf die nichtvollzogene Ehe ausgedehnt), bezieht es sich heute auf eine de facto bestehende Geschlechtsgemeinschaft, die keine gültige Ehe ist, und ist in der Reichweite auf die Blutsverwandten im ersten Grad der geraden Linie des Partners beschränkt (c. 1093 CIC/1983). c) Gesetzesrecht Bonifaz VIII. ordnet die territoriale Wirkung partikularer Gesetze an: Solche verpflichten den außerhalb seines Sprengels Verweilenden nicht. Außerdem kommt der Gesetzesunkenntnis entschuldigende Wirkung zu, sofern sie nicht crassa aut supina ist: VI 1,2,2. In der Substanz gelten beide Normen noch heute: cc. 13, 15, 1323 CIC/1983. d) Gewohnheitsrecht Anknüpfend an X 1,4,11 legt Bonifaz endgültig das Erfordernis der bona fides für die Verjährung einer Gewohnheit fest (VI 2, 13, 1), außer das gemeine Recht oder die Vermutung stünden dem entgegen. Ebenso hat Bonifaz den bisherigen Streit zwischen Kanonisten und Legisten in folgender Frage entschieden: Dass ein allgemeines Gesetz eine ältere abweichende, aber vernünftige spezielle Gewohnheit nicht aufhebe, außer dies wäre ausdrücklich angeordnet (VI 1,2,1). Das gleiche soll bei abweichendem Partikularrecht gelten, denn der Papst könne nicht, obwohl er „iura omnia in scrinio pectoris sui censetur

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habere“83, alle örtlichen oder persönlichen, also speziellen Gesetze und Gewohnheiten kennen (anders beim universalen Recht). Ein späteres allgemeines Gesetz hebt daher entgegenstehendes älteres allgemeines Recht auf, nicht aber spezielles Partikularrecht, es sei denn, dieses würde ausdrücklich aufgehoben. Diese Regelung ist schon in den CIC/1917 (c. 30) eingegangen und ist nach wie vor Bestandteil des geltenden Rechts (cc. 20, 28 CIC/1983). e) Ämterrecht Das Ämter- und Klerikerrecht gehört im Liber Sextus neben dem Straf- und Privilegienrecht (Liber V) zum ausführlichst geregelten Teil: Titulus IV des Liber III „De praebendis et dignitatibus“ enthält alleine 41 Kapitel, davon 38 Neuschöpfungen. Hier erweist sich Bonifaz als Meister im Detail. Auf Bonifaz VIII. geht die nähere, Rechtssicherheit schaffende Regelung bezüglich der Bestellung und Rechtsstellung von Koadjutorbischöfen (Hilfsbischöfen) zurück. Die Bestellung von Koadjutorbischöfen für einen Suffraganbischof durch den Metropoliten bedarf seit Bonifaz der Zustimmung des Papstes.84 Bei Bonifaz VIII. werden allgemeine Reservationsgrundsätze (Vorbehalt der Verleihung von Kirchenämtern zugunsten des Ap. Stuhles) aufgestellt, denen zufolge bestimmte Kategorien von Kirchenämtern oder Benefizien unter Übergehung der sonst regulär Verleihungsberechtigten vom Papst verliehen werden konnten (insbesondere römische Kurialbenefizien oder solche, deren Inhaber am Sitz der römischen Kurie oder in einer Entfernung von 2 Tagesreisen verstarben und weitere). Die spätere Ausweitung des Reservationssystems sollte sich für die weitere Entwicklung als schädlich erweisen (u. a. in der Verbindung mit den daran geknüpften Abgaben).85 Das Ämterrecht zeigt einen deutlichen Hang zur Zentralisation, zur Stärkung der päpstlichen Zentralgewalt und zur hierarchischen Durchgliederung der Kirche. So wird die Unterordnung der Amtsgewalt des Pfarrers unter jene des Bischofs unterstrichen; die Lossprechung von der Exkommunikation dem Bischof reserviert (Hostiensis hatte diese Befugnis Priestern zugesprochen) usf.

83

Vgl. Franz Gillmann, „Romanus pontifex iure omnia in scrinio pectoris sui censetur habere“, in: AfkKR 92 (1912), S. 3 – 17 und 106 (1926), S. 156 – 174. 84

VI 3,5,1; vgl. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts (Anm. 8), S. 133; Boase, Boniface VIII. (Anm. 3), S. 92. 85

Vgl. Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts (Anm. 8), S. 202 f.

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Der Kardinalspurpur, der bis zum Jahre 1294 nur den legati a latere zugestanden war, wird höchstwahrscheinlich von Bonifaz VIII. allen Kardinälen zugesprochen, was bis heute Geltung besitzt.86 f) Ordensrecht Falls ein Verheirateter sich weihen lassen oder Profess ablegen will (bislang eine Streitfrage bezüglich der Rechtswirkungen) trifft Bonifaz in VI 3,15 c.un. eine differenzierende Regelung. Auf Bonifaz geht eine nähere Regelung der Exemtionen bei Orden zurück; die Befreiung von der bischöflichen Leitungsgewalt (einschließlich Visitation und Strafgewalt) wurde ausgeweitet. Nur die Visitation von Frauenklöstern, selbst von exemten, wurde aufrechterhalten. Das Erfordernis der päpstlichen Approbation von Ordensneugründungen (ursprünglich seit Chalzedon 451 Kompetenz des Bischofs, seit Innozenz III. 1215 in päpstliche Zuständigkeit gelegt), führt nach einer differenzierenden Regelung bei Bonifaz VIII. in der Entwicklung zur heutigen Unterscheidung zwischen Orden päpstlichen und Orden bischöflichen Rechts. Bonifaz anerkennt das Rechtsinstitut der stillschweigenden Ordensprofess. In der Konstitution „Periculoso“ wird die Klausur der Nonnen detailliert geregelt (strenges Verbot des Verlassens des Klosters, ausgenommen in Fällen schwerer Krankheit, Zutrittsverbot für fremde Personen). g) Universitätsgründungen Zu den Bonifaz VIII. zuzuschreibenden Genehmigungen eines Studium generale (Universität) durch päpstliches Dekret (Bulle), zählt die Einrichtung eines Studium generale für Rom vom 6.6.1303 sowie für Avignon vom 1.7.1303.87 h) Veräußerung von Kirchengut Bonifaz VIII. hat die schon im Liber Extra aufgenommene Norm X 3,10,1 betreffend das Verbot der Veräußerung kirchlichen Immobiliarvermögens verschärft und für gewisse Fälle eine apostolische Genehmigung verlangt: VI 3,9

86

Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts (Anm. 8), S. 99.

87

Bullarium Romanum IV (Anm. 70), S. 166 – 170.

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(„De rebus ecclesiae non alienandis“). Bei diesem Erfordernis ist es bis zum geltenden Recht (vgl. c. 1291 – 1295 CIC/1983) geblieben, wenn auch später noch eine präzisierende Regelung unter Paul II. (1464 – 1471) in der Bulle Ambitiosae (X vag. comm. 3,4,1) ergangen ist. i) Prozessrecht Als Beispiele bonifazianischer (Neu-)Regelungen seien herausgegriffen: Die Regelung der Prozessvertretung (VI 1,19 „De procuratoribus“), des Kalumnieneides (VI 2,4 „De iuramento calumniae“), das vermutete Geständnis im Falle der Säumigkeit (VI 2,9,2), die gegenseitige Geltung der exceptio rei iudicatae zwischen forum ecclesiasticum und forum saeculare (VI 2,12,2), Ersitzungserfordernisse (bona fides, erhöhte Ersitzungszeit in bestimmten Fällen: VI 2,13,2). IV. Zusammenfassende Bewertung Das Pontifikat Gregors VII. hatte eine neue Epoche in der Kirchengeschichte, besonders im Verhältnis der geistlichen zur weltlichen Gewalt, markiert. Gregor blieb Sieger (Canossa, 1077). Bonifaz VIII. verkörpert das Ende dieser Epoche. Die Dramatik dieses Endes spiegelt sich im Attentat von Anagni und im Folgenden abrupten Ende des Pontifikats. Bonifaz vermochte auf Grundlage seines Denkhintergrundes die Realität kirchenunabhängiger staatlicher Autonomie nicht zu sehen, jedenfalls nicht anzuerkennen. Keine der inhaltlich von Bonifaz vertretenen Positionen war eine Erfindung dieses Papstes. Gleichwohl hat Bonifaz innerkirchlich keineswegs einen Trümmerhaufen hinterlassen. Wenn er irgendwo bleibende Bedeutung erlangt hat, so liegt diese wesentlich in der Materie des Rechts. Bonifaz beendet die Reihe großer Juristenpäpste des ausgehenden Jahrhunderts: Innozenz III., Gregor IX., Innozenz IV. Als Jurist kompensiert Bonifaz vieles von dem, was sich sonst wie ein Schatten über sein Pontifikat legt. Bonifaz ist zu bescheinigen, ein „kompetenter Kanonist und in der Gesetzgebung im Kontrast zu seiner politisch-diplomatischen Intransigenz auf Ausgleich und Praktikabilität bedacht“ gewesen zu sein.88 Was geblieben ist, ist das besonders in der Bulle Sacrosanctae aufleuchtende Selbstverständnis von Gesetzgebung auf dem Hintergrund aristotelischthomasischer Doktrin über die Änderbarkeit des Rechts89 und der fortentwi-

88

Schmidt, Bonifaz VIII. (Anm. 27), S. 416.

89

Gagnér, Ideengeschichte (Anm. 1), S. 286.

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ckelten Gesetzgebungsmethode auf Basis des Verständnisses des Gesetzes als generell-abstrakter Norm – abgesehen von einer Vielzahl neugeregelter bzw. geklärter Rechtsfragen, von denen nicht wenige ihre Spuren noch im geltenden Kirchenrecht deutlich erkennen lassen. Die juristische Stärke Bonifaz’ lag nicht so sehr in der Originalität neuer großer Würfe, sondern im Detail, in einer hoch entwickelten Fähigkeit rechtliche Probleme zu erkennen und differenziert zu lösen sowie in einem ausgeprägten Gespür für ausgeglichene Lösungen. Die quantitativ bedeutsamsten legislativen Aktivitäten liegen einerseits im Kleriker-90 und Ämterrecht, andererseits im Straf- und Prozessrecht.91 Im Selbstverständnis des päpstlichen Primats fiel Jahrhunderte später der Anspruch der Kirche auf eine wie immer geartete potestas in temporalibus weg, während der innerkirchliche Kompetenzanspruch noch verschärft wurde, soweit dies überhaupt noch möglich war.

90 91

Le Bras, Boniface VIII. (Anm. 58), S. 388 – 392.

Vgl. Tilmann Schmidt, Der Bonifazprozess. Verfahren der Papstanklage in der Zeit Bonifaz’ VIII. und Clemens V., Köln / Wien 1989, besonders S. 78 – 82.

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert Von Georg May I. Begriff und Quellen 1. Begriff Der Begriff der Approbation wird in mehrfachem Sinne gebraucht1. Approbation ist einmal die regelmäßig aufgrund einer bestandenen Prüfung abgegebene Erklärung des Diözesanbischofs über die Fähigkeit und Tauglichkeit eines Geistlichen zur Ausübung der Seelsorge sowie die Ausstattung mit der doppelten Vollmacht, Beicht zu hören und zu predigen. Die Approbation in diesem Sinne enthält also als Hauptsache zwei verschiedene Elemente, zum ersten die Erklärung, der betreffende Priester sei fähig, das Bußsakrament zu verwalten, zum zweiten die Ermächtigung, in bestimmtem Umfang dieses Sakrament zu spenden. Bereits Papst Benedikt XIV. (1740 – 1758) sprach in der Apostolischen Konstitution „Apostolorum ministerium“ vom 30. Mai 1753 davon, dass die Approbation zwei Handlungen in sich schließt2. Die Approbation erteilte der Bischof jener Diözese, in welcher der betreffende Priester seinen Dienst ausüben sollte. Wer in einer Diözese die Approbation erlangt hatte, bedurfte einer neuen, wenn er in eine andere Diözese wechselte. Die Pfarrer konnten 1 Andreas Müller, Lexikon des Kirchenrechts und der römisch-katholischen Liturgie, 5 Bde., Regensburg 21851, I, S. 81 f.; Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, 6 Bde., Berlin 1869 – 97, IV, S. 85 – 101; Renninger, Art. Approbation, in: KL I, 21882, Sp. 1171 – 1174; Johannes Baptist Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 2 Bde., Freiburg i. Br. 31914, II, S. 46 f.; A. Knecht, Art. Approbation 1), in: LThK I, 1930, Sp. 574; Georg May, Art. Approbation, in: LThK I, 21957, Sp. 771 f.; Georg May, Die Organisation von Gerichtsbarkeit und Verwaltung in der Erzdiözese Mainz vom hohen Mittelalter bis zum Ende der Reichskirche, 2 Bde. (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 111), Mainz 2004, I, S. 223, 334, 358, 360. 2

Petrus Gasparri (Hrsg.), Codicis Iuris Canonici Fontes II, Vatikanstadt 1948, Nr. 425, S. 390 – 404, hier S. 394 (§ 8).

482

Georg May

keine Approbation vornehmen. Die Approbation schloss nicht die Übertragung einer Stelle in sich. Diese wurde durch die Ausstellung und Aushändigung der Kommende3 vergeben. Das ist der gefüllteste Begriff von Approbation. Daneben findet er Verwendung für Teilaspekte der Fähigkeitserklärung und Beauftragung zur Seelsorge. So wird der Begriff Approbation auch häufig im eingeengten Sinne als (bloße) Ausstattung mit Beichtvollmacht gebraucht (approbatio ad audiendas confessiones). Ferraris Prompta Bibliotheca handelt eigens von der „Approbatio pro confessionibus excipiendis“4. Häufig ist in den Mainzer Materialien von der „Approbatio pro Sede Confessionali“ die Rede5. Auch das Konzil von Trient gebrauchte das Wort approbatio im Zusammenhang mit dem Bußsakrament6. Schließlich wird die Approbation als Ausdruck für die Erklärung der Tauglichkeit zum Predigen und für die Ermächtigung zur Ausübung der Predigttätigkeit verwendet7. Das Erste Vatikanische Konzil sprach von der potestas magisterii als dem Inbegriff der Glaubensverkündigung8. Dieser Aspekt der Approbation wurde häufig nicht eigens erwähnt, sondern als eine Art Anhängsel zu der Übertragung von Beichtjurisdiktion betrachtet. So wurde den Ordenspriestern in der Erzdiözese Mainz die Vollmacht zum Beichthören und zum Predigen regelmäßig uno actu verliehen9. Dieses Verfahren ist sachlich begründet. Kernstücke der Seelsorge10 sind ja die Verwaltung des Bußsakramentes und die Verkündigung des Wortes Gottes. Niemand darf im Namen der Kirche predigen, der nicht die kirchliche Sendung besitzt. Die Erklärung der Tauglichkeit zur Seelsorge und die Mitteilung der erforderlichen Vollmachten zu ihrer Ausübung erfolgten regelmäßig aufgrund einer Prüfung, Examen Approbandorum genannt. Weil es von Synodalexaminatoren abgenom-

3

Permaneder, Art. Commende, in: KL III, 21884, Sp. 693 – 695.

4

Lucius Ferraris, Prompta Bibliotheca canonica, juridica, moralis, theologica necnon ascetica, polemica, rubristica, historica I, Paris 1852, S. 657 – 700. 5

Z. B.: DA Mainz 1/074, S. 365 (11. April 1786), S. 674 (8. Juni 1786).

6

Conc. Trid. Sess. 23 de ref. cap. 15 (= Conciliorum Oecumenicorum Decreta. Hrsg. von Joseph Alberigo / Joseph A. Dossetti / Perikles P. Joannou / Claudius Leonardi / Paulus Prodi, Bologna 1973, S. 749). 7

Keppler, Art. Predigt, in: KL X, 21897, Sp. 314 – 348.

8 Conc. Vat. I Konstitution „Pastor aeternus“ c. 4 (= Conciliorum Oecumenicorum Decreta, S. 815 f.). 9

DA Mainz 1/002a, S.18 (1. Februar 1648): P. Heinrich Deininger OP praesentatus ad examen pro faciendis concionibus et confessionibus audiendis Examinatus et admissus eique facultas data audiendi confessiones et faciendas (sic) conciones, absque tamen casibus reservatis. 10

Pruner, Art. Seelsorge, in: KL XI, 21899, Sp. 62 – 68.

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

483

men wurde, kam es zu dem Namen Examen Synodale11. Das Examen wurde auch als Prüfung pro cura (animarum) bezeichnet. Wer eine Pfarrei12 verwalten und die Pfarrhandlungen vornehmen, also die Seelsorge ausüben sollte, bedurfte dazu der Erteilung der erforderlichen Jurisdiktion durch das Vikariat13. Sie wurde als approbatio pro cura (scil. animarum)14 bezeichnet. Diese schloss das positive Urteil über die Tauglichkeit des Approbierten für den Dienst bzw. das Amt ein. Die Prüfungen vor den Weihen hießen ebenfalls Examina Synodalia15, weil auch sie von den Synodalexaminatoren abgenommen wurden. Das Approbationsexamen ist nicht zu verwechseln mit dem Pfarrexamen (im Rahmen des allgemeinen oder speziellen Pfarrkonkurses)16. Diese Prüfung diente dem Nachweis der Befähigung und der Eignung für eine bestimmte oder eine in Zukunft zu bestimmende Pfarrei. 2. Quellen Die Quellen für das Approbandenexamen waren teils gesamtkirchliche, teils partikularkirchliche. Für die ersteren steht vor allem das Konzil von Trient. Obwohl die Priester bei ihrer Weihe die Gewalt, von Sünden zu absolvieren, erhalten, bestimmte dennoch das Konzil, dass kein Priester, auch wenn er ei-

11

Witteler, Art. Synodalexaminatoren, in: KL XI, 21899, Sp. 1117 – 1119; DA Mainz 1/067, S. 286 (8. März 1779). 12

Die Orte, die in dem Beitrag erwähnt werden, finden sich in folgenden Verzeichnissen beschrieben: Realschematismus der Erzdiöcese Freiburg, Freiburg i. Br. 1863; Realschematismus der Diöcese Würzburg, Würzburg 1897; Real-Schematismus des Bistums Fulda, Fulda 1910; Handbuch der Diözese Mainz, Mainz 1931; Handbuch des Bistums Trier, Trier 1952; Handbuch des Bistums Limburg, Limburg 1956; Bernhard Opfermann, Die kirchliche Verwaltung des Eichsfeldes in seiner Vergangenheit, Leipzig, Heiligenstadt 1958; Realschematismus des Erzbistums Paderborn Westlicher Teil, Paderborn 1988; Handbuch des Bistums Speyer, Speyer 1991. Die sehr unterschiedlichen Titel der Mainzer Hof- und Staatskalender sind aufgeführt bei Georg May, Die kirchliche Eheschließung in der Erzdiözese Mainz seit dem Konzil von Trient (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 97), Mainz 1999, S. 658 f. 13

DA Mainz 1/048, S. 214 – 215 (20. Juni 1757). Die Verordnung des Erzbischofs Johann Philipp von Schönborn aus dem Jahre 1654 ordnete lapidar an: A Vicario generali approbationem et jurisdictionem in animas obtinebunt quotquot curam pastoralem suscipere voluerint (StA Würzburg MRA H 1824). 14

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts III (Anm. 1), S. 3.

15

DA Mainz 1/076, S. 1087 (16. Juni 1788).

16

Vgl. Georg May, Die Ausschreibung der Pfarreien: ThGl 94 (2004), S. 369 – 383.

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nem Orden angehört, die Beichten von Weltleuten, auch von Priestern, hören und dafür als geeignet erachtet werden könne, wenn er nicht entweder ein Pfarrbenefizium erhält oder vom Bischof durch eine Prüfung (falls diese ihm erforderlich erscheint) oder anderswie als geeignet befunden wird und die Approbation (die kostenlos gegeben wird) empfängt17. Danach erfolgte die Ausstattung mit Jurisdiktion für die Absolution von Sünden entweder durch die Verleihung des Pfarramtes oder durch speziellen Verwaltungsakt. Die vom Trienter Konzil in das Ermessen des Diözesanoberhirten gestellte Prüfung wurde in den deutschen Bistümern pflichtmäßig eingeführt. Das Examen Approbandorum hat in der Erzdiözese Mainz eine mehrhundertjährige Geschichte. An dieser Stelle ist nur der Stand im 18. Jahrhundert darzustellen. Die Ordinariatsordnungen der Erzbischöfe Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg (1729 – 1732)18 und Philipp Karl von Eltz (1732 – 1743)19 legten dem Siegler auf, die Probepredigten der auf Pfarreien präsentierten Geistlichen anzuhören, damit er über ihre Befähigung Bericht erstattete, bevor die Kommende ausgefertigt wurde. Von der Erteilung der Beichtjurisdiktion ist an diesen Stellen nicht die Rede. Sie wurde mit der Institution in das Pfarramt einschlussweise verliehen. Als zusammenfassende Ordnung der Materie erließ der Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal (1774 – 1802) am 18. Juli 1778 die „Constitutio Pastoralis de futuris in Archidioecesi Moguntina Ministrorum Ecclesiae Ordinationibus, et Curatorum omniumque Confessariorum Approbationibus“ (Mainz 1778)20. Wie der Titel erkennen lässt, handelt sie von den Weihen und der Ausstattung der Geweihten mit der Vollmacht, die Seelsorge auszuüben, insbesondere das Bußsakrament zu verwalten. Im Einzelnen wurden folgende Vorschriften, die das Thema dieses Beitrags betreffen, erlassen bzw. eingeschärft. Alle Approbationen, die zuvor bis auf Widerruf gewährt wurden, sollen über ein Vierteljahr nicht gelten (§ VIII Nr. I). Hier kündigt sich die rigorose Praxis an, die fortan beobachtet werden sollte. Bisher wurde die Ausstattung mit Beichtgewalt in bestimmten Fällen usque ad revocationem gewährt. Damit wurde nun Schluss gemacht. Keinem Pfarrer oder Ordensmann, auch wenn er gelehrt und erfahren ist, darf die Approbation für eine Zeit über drei Jahre gewährt werden, dem Kaplan niemals über zwei Jahre (§ VIII Nr. II). Die Zeitspanne von drei Jahren

17

Conc. Trid. Sess. 23 de ref. c. 15 (Conciliorum Oecumenicorum Decreta, S. 749).

18

Ordinationes pro Vicariatu Moguntino et Ecclesiis Ruralibus Em. et Ser. Principis et Domini D. Francisci Ludovici, S. Sedis Moguntinae Archi-Episcopi etc., Mainz 1729, Tit. VI § 10. 19 Ordinationes Archi-Episcopalis Vicariatus Moguntini editae ex mandato Em. ac Clem. Domini D. Philippi Caroli, S. Sedis Moguntinae Archi-Episcopi etc., Mainz 1738, Tit. IV § 9. 20

Handschriftlich in DA 3/075, S. 54 – 71.

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

485

wurde offensichtlich als ein Zeitraum angesehen, in dem die Kenntnisse und Fähigkeiten, die speziell für die Verwaltung des Bußsakramentes erforderlich sind, nachlassen können. Dass sie noch in erforderlichem Maße vorhanden waren, sollte die Prüfung erweisen. Keinem darf fernerhin die Approbation ohne vorhergehendes öffentliches und strenges Examen gegeben werden. Ausnahmen machen nur Doktoren und Lizentiaten der Theologie, Lektoren, Landdekane und Hausobere. Wenn diese ertappt werden, dass sie die Studien vernachlässigen oder zu Recht verdächtig sind, müssen auch sie zum öffentlichen Examen einberufen werden (§ VIII Nr. III). Von den genannten Personengruppen nahm man an, dass sie die (normalerweise im Examen zu beweisenden) Fähigkeiten und Fertigkeiten besaßen. Das öffentliche Examen findet in Mainz jeweils am ersten Mittwoch eines Monats statt21, in Erfurt, Aschaffenburg und Heiligenstadt an noch zu bestimmenden Tagen. Es beginnt um acht Uhr und dauert bis elf Uhr. Erforderlichenfalls wird es um vierzehn Uhr fortgesetzt (§ VIII Nr. IV). Die monatliche Abhaltung der Prüfung war erforderlich, weil die erteilten Approbationen zu unterschiedlichen Zeiten abliefen. Zu den drei erwähnten Städten außerhalb von Mainz traten bald noch Amöneburg22 und zeitweise wohl auch Fritzlar23. Vor dem Examen hat jeder Teilnehmer dem Generalvikar bzw. dem Provikar, in Erfurt dem Siegler, in Aschaffenburg und Heiligenstadt dem Kommissar ein Gesuch um Zulassung vorzulegen mit Angaben über Tätigkeitsort, Alter und Bücherbestand. Außerdem sind die letzte Approbationsurkunde und (von Kaplänen) ein Zeugnis des Pfarrers über Sitten, Studium und Seeleneifer mitzubringen (§ VIII Nr. V). Das Approbationsexamen sollte die Gelegenheit sein, wo gewissermaßen der Gesamtstatus eines Seelsorgers von Amtes wegen überprüft wurde. Bemerkenswert ist die geforderte Auflistung der Bibliothek der Geistlichen. Der Erzbischof wünschte, dass diese sich fortbildeten, was hauptsächlich durch die Lektüre einschlägiger Werke geschehen sollte. Der Siegler (in Mainz) und die Kommissare (in den Außenbezirken) haben ein Protokoll über das Examen zu erstellen (§ VIII Nr. VI). Wissen und Können, aber auch deren Fehlen oder Mangel sollten schriftlich festgehalten werden, um jederzeit darauf zurückgreifen zu können. Der Vergleich des Abschneidens bei den periodisch wiederholten Examina gestattete ein Urteil über die geistige Entwicklung der Seelsorger. Die Prüflinge

21

Auch in der Erzdiözese Trier wurde das Approbationsexamen an jedem ersten Mittwoch des Monats abgenommen (Alois Thomas [Hrsg.], Josef von Hommer 1760 – 1836. Meditationes in vitam meam peractam. Eine Selbstbiographie [= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte, Bd. 25], Mainz 1976, S. 383). 22

Real-Schematismus des Bistums Fulda (Anm. 12), S. 38 – 40.

23

Real-Schematismus des Bistums Fulda (Anm. 12), S. 79 – 83.

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werden in drei Gruppen eingeteilt: Pfarrer, Kapläne (dabei Frühmesser24 und Altaristen25 mit Seelsorgsverpflichtung) und Ordensleute (§ VIII Nr. VII). Die Anforderungen an die Mitglieder der Gruppen waren unterschiedlich, wie auch die Ausbildung und die Weiterbildung verschieden waren. Inhaltlich wird das Schwergewicht der Prüfung auf die Prinzipien der Moraltheologie gelegt. Aber auch Dogmatik, Heilige Schrift, kanonisches Recht, Diözesanverordnungen und die Weise, Religionsunterricht zu erteilen und zu predigen, sind zu prüfen (§ VIII Nr. VIII). Für die Tätigkeit im Beichtstuhl waren vornehmlich Kenntnisse in der kirchlichen Sittenlehre verlangt. Der Beichtvater muss die allgemeine Moraltheologie beherrschen, weil er aufgrund des Bekenntnisses des Pönitenten eine Subsumtion vorzunehmen hat, deren Obersatz das moralische Gesetz und deren Untersatz die einzelne gebeichtete Sünde sind. Da der Priester nicht nur Spender der Sakramente, sondern auch Hirt und Lehrer ist, musste er solide Kenntnisse in den übrigen theologischen Disziplinen und Fertigkeiten für ihre Vermittlung besitzen. Neben der Approbation, die für alle inhaltlich gleich war, wurden einzelnen Priestern besondere Befugnisse bzw. Erlaubnisse erteilt. Das Protokoll muss auch festhalten, ob jemand die Befugnis, von Reservatfällen26 zu absolvieren, erteilt wird. Dafür kommen in Zukunft nur Landdekane, Pfarrer an Wallfahrtsorten27 und Obere von Konventen, sei es des Welt-, sei es des Ordensklerus, in Frage. Ebenso ist ins Protokoll aufzunehmen, wenn die Erlaubnis, verbotene Bücher zu lesen, erteilt wird (§ VIII Nr. IX). Die erwähnte Vollmacht sollte nicht durch zu häufige Erteilung die Reservatfälle um ihre Wirkung bringen. Früher dürfte man in Mainz großzügiger verfahren sein. So bat der Karmelit Benedictus a St. Mathia das Vikariat um Approbation zum Beichthören etiam in casibus reservatis28 und für die Verwaltung der Pfarrei in Simmern29. Nach Beendigung des Examens einer jeden Gruppe beraten die Prüfer, ob alle die Approbation erhalten sollen und für welche Zeit; bei der Abstimmung gilt das Mehrheitsprinzip (§ VIII Nr. X). Es wurde also damit gerechnet, dass manchen Priestern die Approbation versagt, anderen die ansonsten übliche Frist der Erteilung verkürzt wurde. Ausschlaggebend war das Abschneiden bei der Prüfung. Das Protokoll des Examens ist dem Erzbischof 24

Permaneder, Art. Frühmesser, in: KL IV, 21886, Sp. 2069.

25

Kober, Art. Hilfspriester, in: KL V, 21888, Sp. 2090 – 2102, hier Sp. 2098.

26

Pruner, Art. Reservatfälle, in: KL X, 21897, Sp. 1069 – 1082; Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts IV (Anm. 1), S. 102 – 110. 27

Anna Egler, Frömmigkeit – Gelebter und entfalteter Glaube (1500 – 1800), in: Friedhelm Jürgensmeier (Hrsg.), Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte 3 Neuzeit und Moderne Teil 1, Würzburg 2002, S. 772 – 860, hier S. 819 – 834. 28

DA Mainz 1/018, S. 66 (28. April 1712).

29

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 787 f.

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

487

zur Genehmigung vorzulegen. Nach seinen (zustimmenden oder abweichenden) Bemerkungen sind die Approbationsurkunden in der üblichen Weise auszufertigen. Dies gilt auch für Erfurt, Aschaffenburg und Heiligenstadt (§ VIII Nr. XI). Der Erzbischof hatte sich also die endgültige Entscheidung über Bestehen und Durchfallen sowie über die Frist der Gewährung der Approbation vorbehalten. Die Pfarrer und die Kapläne haben ihre Approbationsurkunden den Dekanen zur Einsicht zu überlassen, die Ordensleute ihrem Hausoberen. Der Zweck der Einsichtnahme ist, dass die Dekane die Befähigung ihrer Seelsorger näher kennen lernen und sie zu gebührender Zeit veranlassen, sich erneut dem Examen zu stellen (§ VIII Nr. XII). Für die Seelsorger sollte sich Examen an Examen reihen; eine approbationslose Zeit durfte es nicht geben. Die Dekane trugen zu ihrem Teil die Verantwortung, dass die Geistlichen sich rechtzeitig zum Examen anmeldeten. Wer die Approbation erhalten hatte, besaß dadurch noch keine Stelle, an der er sie gebrauchen konnte. Dazu bedurfte er der Zuweisung eines Amtes durch die Ausstellung einer Kommende. Kein vom Vikariat für eine Pfarrei vorgeschlagener Priester darf die Kommende erhalten und kein Benefiziat, der zur Seelsorge oder zu der Beteiligung daran verbunden ist, darf investiert30 werden, der nicht zuvor in dem öffentlichen Examen dieses Dienstes würdig und für die Seelsorge geeignet erfunden worden ist. Zu diesem Zweck hat er rechtmäßige Zeugnisse vorzuweisen, dass er wenigstens zwei Jahre dogmatische und Moraltheologie, Heilige Schrift und kanonisches Recht an der Universität31 mit Fleiß und Erfolg studiert und dass er ebenfalls zwei Jahre in einem Priesterseminar32 zugebracht hat, um dort den Geist zu erwerben, der Klerikern und ihren Ämtern eigen ist (§ VIII Nr. XIII). Der hohe Wert, den Erzbischof Erthal auf die Bildung der Priester legte, erhellt aus vielen Einzelheiten. Im Besonderen war er bestrebt, alle Geistlichen, auch die Ordensleute, zum Studium an die Universität zu bringen33. Nach der Verordnung vom 25. Oktober 1785 sollten künftig alle Ordensleute ihre Studien an der Mainzer Universität machen und die Lektoren wegfallen34.

30

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II (Anm. 1), S. 654.

31

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts IV (Anm. 1), S. 658 – 663.

32

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts IV (Anm. 1), S. 538 – 545.

33

Peter Walter, Theologie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, in: Jürgensmeier, Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte 3/1, S. 700 – 720; Helmut Mathy, Schulen und Mainzer Universität (1500 – 1800), in: ebd., S. 721 – 754. 34

DA Mainz 3/77 Nr. 54.

488

Georg May

II. Die Prüfer 1. Die Prüfungskommissionen Das Examen Approbandorum wurde von einer Kommission abgenommen35. Ihre Mitglieder waren selbstverständlich an den mehreren Orten, wo die Prüfung stattfand, verschieden. Der Mainzer Staatskalender führte die Examinatoren namentlich auf36. Im Jahre 1785 war Präses der Generalvikar Maria(n) Joseph Philipp Anton Schütz von Holzhausen, Vizepräses der Provikar Valentin Heimes; dazu traten neunzehn Examinatoren, darunter auch einige Pfarrer. In der Zusammensetzung der Kommissionen gab es mehrfach Änderungen. Als der Erzbischof Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim (1763 – 1774) am 11. Februar 1769 ein Reskript betreffend die (Mainzer) Kommission für das Approbationsexamen erließ, bemerkte das Vikariat, dass nach den bisherigen Verordnungen der Siegler das Examen abnehme37. Der Erzbischof verlangte genaue Auskunft betreffend das Examenswesen. Am 27. Februar 1769 unterrichtete ihn das Vikariat ausführlich über die in der Erzdiözese üblichen Examina. Sechsmal im Jahre werde das öffentliche Examen Ordinandorum vorgenommen. Dabei hätten nach uraltem Brauch der Domscholaster38 und in dessen Abwesenheit der Siegler39 unter Beisitz von fünf anderen Synodalexaminatoren den Vorsitz, der Domschulmeister das Aktuariat40. Die Examina pro prima approbatione hätten ebenfalls ihren bestimmten Tag in der Woche. Bei den Examina pro ulteriore approbatione und bei Ausfertigung der Kommenden geschähe pro re nata ein gleiches. Der Siegler sei damit nicht allein belastet; denn die Geistlichen Räte unterstützten ihn dabei41. Auf weitere Anfrage des Erzbischofs gab das Vikariat am 2. März 1769 die Namen der Synodalexaminatoren an: der Domscholastikus (als Präses), der erzbischöfliche Siegler, der Pleban der Metropolitankirche und Offizial des Scholastikus, zwei Theologieprofessoren der Gesellschaft Jesu, je ein Lektor der Theologie aus dem Dominikanerorden und aus dem Franziskanerorden, ein Actuarius, nämlich der Ma-

35

DA Mainz 1/067, S. 62 (18. Januar 1779).

36

Z. B.: Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1785, Mainz 1785, S. 22 f. 37

DA Mainz 1/057, S. 48 (13. Februar 1869); S.70 (23. Februar 1769).

38

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II (Anm. 1), S. 100 – 103.

39

May, Die Organisation von Gerichtsbarkeit und Verwaltung I (Anm. 1), S. 413 –

506. 40

Protokollführung.

41

DA Mainz 1/057, S. 74 (27. Februar 1769).

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

489

gister Scholae Metropolitanae. Diese Personen würden überall, innerhalb und außerhalb Deutschlands, zu dem Synodalexamen herangezogen42. Mit der letzten Bemerkung wollte das Vikariat wohl vorbeugen, dass Änderungen getroffen wurden. Der Erzbischof regte nun an, die Examinatores synodales nebst einigen Geistlichen Räten hauptsächlich aus der Mitte der hiesigen Stadtpfarrer zu nehmen. Das Vikariat antwortete, es bestehe ein Unterschied zwischen dem Examen für den Beicht- und Predigtstuhl und pro cura, sodann zwischen dem examen pro ordinibus suscipiendis, das examen synodale genannt werde. Das erstere Examen werde nur von Mitgliedern des Vikariates vorgenommen, und der Erzbischof könne darüber beruhigt sein. Das examen pro ordinibus suscipiendis aber geschehe vor jenen Personen, die in dem letzten Referat angegeben worden seien. Das Vikariat halte dafür, dass darin eine Abänderung nicht erforderlich sei. Es sei bisher kein Mangel aufgetreten, und die Stadtpfarrer seien für diese Verrichtung kaum geeigneter43. Damit erteilte das Vikariat dem Plan des Erzbischofs eine Abfuhr. Doch sein Nachfolger ließ sich nicht so abspeisen. Das Examen Synodale Approbandorum in Erfurt wurde im Jahre 1797 von dem dortigen Weihbischof als Präses und von Professoren und Klostervorstehern als Examinatoren abgenommen44. Bei dem Approbandenexamen für das obere Erzstift in Aschaffenburg waren im Jahre 1797 fünf Pfarrer als Prüfer vorgesehen45. Im Erzbistum Regensburg (seit 1805) bzw. im „Erzbischöflich Regensburgischen Generalvikariat“ zu Aschaffenburg waren für das Approbationsexamen ein Präses und ein Direktor, vier Examinatoren und ein Sekretär zuständig46. Erzbischof Erthal begnügte sich nicht mit dem Erlass von Vorschriften, sondern war auch um ihre peinliche Beobachtung besorgt. Wenn Prüfer bei dem Examen Approbandorum nicht anwesend waren, fragte er sogleich nach dem Grund ihres Fehlens47. Wenn Eile geboten war, wurde schon einmal eine Ausnahme von den festliegenden Examenstagen gemacht. Dafür ein Beispiel. Der kurpfälzische Titularius Franz Nörbert zeigte an, dass er von der kurpfälzischen

42

DA Mainz 1/057, S. 78.

43

DA Mainz 1/057, S. 97 – 98 (9. März 1769).

44

Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1797, Mainz 1797, S. 190.

45

Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, Auf das Jahr 1797, Mainz 1797, S. 21 f.

46

Staats-Calender für das Großherzogthum Frankfurt 1812, S. 302 – 307.

47

DA Mainz 1/068, S. 925 – 926 (16. November 1780): die Geistlichen Räte Johannes Rolandi und Johannes Schmitt; S. 980: die Entschuldigung (23. November 1780); S. 1018 – 1019: Entfernung Schmitts von dem Examen (4. Dezember 1780).

490

Georg May

Regierung als Kaplan nach Lauterecken48 angewiesen worden sei. Wegen der Entlegenheit des Ortes bat er, „ihn dermalen sogleich zu approbiren“ (sic). Das Vikariat beauftragte die Prüfer, ihn zu examinieren und den Siegler Johann Georg Schlör über das Ergebnis zu informieren. Nörbert erhielt einen Extractus Protocolli, damit er sich bei dem Pfarrer zu Lauterecken legitimieren könne49. Der Siegler Schlör zeigte bald darauf dem Vikariat an, dass Nörbert geprüft worden sei und dass er „ohne Anstand“ auf ein Jahr approbiert werden könne. Das Vikariat gab ihm die Approbation für diesen Zeitraum50. Nicht immer war es möglich, auf die amtlich bestellten Prüfer zurückzugreifen, um das Approbationsexamen abzunehmen. Der Erzbischof nahm den Fall Nörbert zum Anlass, zu befehlen, dass niemand wegen der Entlegenheit des Ortes die Approbation extra publicum Examen erteilt werden solle. Sofern sich kränkliche oder altersschwache an entfernten Orten wohnende Männer darum melden, sollten sie erst ihr Unvermögen durch ein glaubwürdiges Zeugnis erweisen. Dann solle dem benachbarten Dechanten oder einem tüchtigen Pfarrer der Auftrag gegeben werden, diesen oder jenen zu prüfen und über den Befund zu berichten. Der Erzbischof erklärte, er sei nicht gesonnen, dem Vikariat eine weitere und sich über „beregte“ Fälle erstreckende Gewalt hierin zu überlassen51. Offensichtlich fürchtete er die Nachsicht seiner Behörde. Das Vikariat erinnerte ihn jedoch daran, dass sich Fälle ergeben könnten, wo auf vakante Pfarreien von auswärtigen Patronen Kleriker präsentiert würden, die sich mit ihren Präsentationsurkunden persönlich auf dem Vikariat einfänden und um Approbation und Kommende anständen. Wenn dies kurze Zeit nach dem abgehaltenen Examen publicum geschehe, könne den Präsentierten nicht wohl zugemutet werden, entweder hier bis zur Zeit des nächsten öffentlichen Examens zu verbleiben und die Pfarrei bis dahin ohne Seelsorger zu belassen, oder aber sich bei dem nächsten Examen zu sistieren und eine kostspielige, auch etwa weit entlegene Reise hierher wieder zu machen. So erbat sich das Vikariat desfalls einen Befehl des Erzbischofs, wie es sich verhalten solle. Es selbst halte dafür, dass in diesen besonderen Fällen ein Neupräsentierter zu den Examinatoren gesandt, von ihnen außer der Reihe geprüft und der „Befund“ schriftlich verschlossen erteilt werde. Nach Mehrheitsbeschluss solle der Siegler die Approbation und die Kommende ausfertigen. In der nächsten Sitzung des Vikariats sollten die schriftlichen Abstimmungen vorgewiesen und dem Protokoll beigelegt werden52. Der Erzbischof ließ sich von diesen Ausführungen nicht zu einer Ände48

Handbuch des Bistums Speyer (Anm. 12), S. 302 f.

49

DA Mainz 1/066, S. 604 (20. August 1778).

50

DA Mainz 1/066, S. 626 (27. August 1778).

51

DA Mainz 1/066, S. 661 (7. September 1778).

52

DA Mainz 1/066, S. 661 – 662 (7. September 1778).

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

491

rung seiner Meinung bewegen. Die Constitutio pastoralis, so erklärte er, sei ein allgemeines und promulgiertes Gesetz, wonach sich auch alle jene, die von auswärtigen Patronen die Präsentation erhalten, zu bemessen verpflichtet seien. Die Neupräsentierten seien es schuldig, sich den einen oder anderen Tag vor dem öffentlich-monatlichen Examen in Mainz einzufinden, ihre Präsentationen gehörig vorzulegen und sich demnächst dem Examen zu unterziehen. Angesichts dieser Entschlossenheit blieb dem Vikariat nichts anderes übrig als sich zu fügen53. Neben den festgelegten Terminen für das Approbandenexamen setzte Erzbischof Erthal noch gesonderte Prüfungen für den Ordensklerus an, der in Mainz seit der Regierung seines Vorgängers scharf beobachtet wurde54. Am 28. April 1778 befahl er dem Geistlichen Rat und Referendar Valentin Heimes55, sich mit einem anderen Geistlichen Rat oder einem Theologieprofessor „allmählich“ in die Abteien und Klöster in und außerhalb der Stadt Mainz zu begeben, um die darin befindlichen approbierten Priester aus der Moraltheologie zu prüfen und über den „Befund“ einen Bericht an ihn zu erstatten. Die Oberen der Klöster hätten ihre Konventualen auf Verlangen des Geistlichen Rates zu „sistiren“ und ihm überhaupt in allen Stücken Hilfe zu leisten56. Die Ordensleute sahen in diesem Vorgehen eine der vielen Schikanen, denen sie von Seiten der beiden letzten Mainzer Erzbischöfe ausgesetzt waren. 2. Besondere Prüfungsbeauftragte Wenn Hindernisse auftraten, dass sich ein Geistlicher zum festgesetzten Approbationsexamen einfand, trug das Vikariat einem Pfarrer auf, ihn zu examinieren, ob er zum Beichthören befähigt sei. In den meisten Fällen wurden die Landdechanten dafür herangezogen. Als der Priester Christian Willich zu Bensheim die Approbation ad excipiendas confessiones erbat, bestimmte das Vikariat den dortigen Dechanten, ihn zu prüfen, über die „Capacität“ zu berichten, „umb demselben darauf die gebettene (sic) approbation zu ertheilen“57. Der Landdechant zu Sobernheim58 wurde beauftragt, den Geistlichen Johann Hugo 53

DA Mainz 1/066, S. 710 – 711 (17. September 1778).

54

Aloys Friesenhagen, Mainzer Klosterpolitik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Klosterverordnung von 1771 und den Überlegungen im Vorfeld der geplanten Synode. Kath.-Theol. Diss. Mainz, Mainz 1979. 55

Karl-Heinz Drobner, Johann Valentin Heimes (1741 – 1806). Weihbischof in Worms und Mainz. Politiker und Seelsorger am Ausgang des Alten Reiches (= Paderborner Theologische Studien, Bd. 18), Paderborn 1988. 56

DA Mainz 1/066, S. 338.

57

DA Mainz 1/047, S. 406 (4. Oktober 1756).

58

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 805 f.

492

Georg May

Weyrich zu Martinstein59 zu examinieren und nach Feststellung seiner Befähigung die Approbation zu geben, jedoch nicht länger als für drei Jahre60. Als der Johannes Jacobus Grobschmitt, Kaplan zu Saarburg61, durch den Freiherrn von Warsberg auf die Pfarrei Henweiler62 präsentiert wurde und er nicht persönlich zum Examen kommen konnte, bat er, ihm die Kommende auf seine vorgelegten Litterae testimoniales hin auszustellen. Das Vikariat gab dem Landdechanten zu Sobernheim den Auftrag, den Grobschmitt pro cura zu examinieren und in casu habilitatis ad interim zu approbieren sowie ihm die gewöhnliche professio fidei63 abzunehmen und seinen Bericht einzusenden. Dann würden dem Grobschmitt die Approbation und die Kommende solutis juribus (nach Zahlung der Gebühren) ausgefertigt werden64. Der Landdechant Adam Lohrum gab dann einen Bericht über sein Examen. Er habe den Grobschmitt ex utraque Theologia speculativa et morali geprüft und gefunden, dass er sufficientem scientiam et capacitatem pro cura animarum besitze; man könne ihm die Approbation für zwei oder drei Jahre geben und die Kommende solutis juribus erteilen. Das Vikariat verfuhr dementsprechend65. Als der Pfarrer Johann Maximilian Trierweiler in Kirchenbollenbach66 um Verlängerung seiner Approbation bat, gab das Vikariat dem Dechanten Remigius Klein zu Bontenbach67 den Auftrag, ihm ex Theologia morali et Jure Canonico Quaestiones zur Beantwortung vorzulegen und sie mit den Antworten einzusenden68. Als der Pfarrer Wolfgang Joseph Keck zu Hemsbach69 um Prolongierung seiner Approbation bat, da er wegen Alter und Krankheit nicht nach Mainz reisen könne, gab das Vikariat dem Dekan Johann Baptist Heckmann in Bensheim70 auf, ihm quaestiones theologicae vorzulegen und seine Antworten einzusenden71. Dem Pfarrer Johann Nikolaus

59

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 796 f.

60

DA Mainz 1/049, S. 118 – 119 (13. April 1758).

61

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 741 f.

62

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 800 f.

63

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts III (Anm. 1), S. 199, 218 – 220.

64

DA Mainz 1/052, S. 231 (25. Juni 1761).

65

DA Mainz 1/052, S. 315 (3. September 1761).

66

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 793.

67

Der Ort wird im Staats-Kalender auch als Bonrebach oder Bontrebach im Landkapitel Simmern bezeichnet. 68

DA Mainz 1/073, S. 577 – 578 (26. April 1785).

69

Realschematismus der Erzdiöcese Freiburg (Anm. 12), S. 449 f.

70

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 259 – 262.

71

DA Mainz 1/073, S. 1020 (25. Juli 1785).

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

493

Wack zu Münchweiler72 legte der Dechant Joseph Anton Lehmann in Reichenberg (!)73 Quaestiones ex Theologia morali vor. Da die Antworten befriedigend ausfielen, erhielt er die Approbation für zwei Jahre74. Als der Pfarrer Adam Franz Kauth in Frankfurt die dem dortigen Dominikanerpater Sigismund Bintges (Bindgen) vorgelegten und offenbar zur Zufriedenheit beantworteten Fragen einsandte, wies das Vikariat den Siegler an, die Approbation „nach Befund“ auszufertigen75. Erzbischof Erthal griff das (unerledigte) Projekt seines Vorgängers wieder auf und zog andere Pfarrer als (regelmäßige) Examinatoren heran. Am 25. September 1778 ernannte er den Pfarrer Manfred Nikolaus Stamm zu Seligenstadt76, den Vikar Anselm Schior, die Pfarrer Johann Friedrich Imhoff zu Sailauf77 und Joseph Weinrich zu Stockstadt78 zu Prüfern im Examen Synodale in Aschaffenburg79. Darin lag vermutlich ein Affront gegen den selbstherrlichen Kommissar Christian Stadelmann. Doch mag auch der Gedanke, dass Pfarrer eine gesteigerte Nähe zur Praxis besitzen, für die Entscheidung mitbestimmend gewesen sein. 3. Kontrolle der Prüfungen Die Unterlagen der Approbandenexamina waren dem Erzbischof einzusenden, der sie sorgfältig prüfte. Am 7. September 1778 hatte er eine Reihe von Ausstellungen am Mainzer Protokoll des Examen Approbandorum anzubringen. Der Pfarrer Peter Kaiser zu Erbach (1775 – 1807)80 hatte seinen letzten Approbationszettel nicht vorgelegt. Er musste beim nächsten Examen erscheinen und sich seiner vorherigen Approbation halber legitimieren. Zugleich sollte ihm bedeutet werden, dass er, falls er nach zwei Jahren nicht besser bestünde, auf eine geringere Pfarrei versetzt werden würde. Der Pfarrer Franz Xaver Horn zu Sosenheim (Sossenheim) (1769 – 1797)81 war zum Examen zugelassen worden, ohne vorher eine Bittschrift eingereicht zu haben. Es wurde ihm eine

72

Handbuch des Bistums Speyer (Anm. 12), S. 440 f.

73

Richtig Reichenbach (Handbuch des Bistums Speyer [Anm. 12], S. 306 f.).

74

DA Mainz 1/074, S. 1078 – 1079 (23. Oktober 1786).

75

DA Mainz 1/073, S. 1359 (3. November 1785).

76

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 395 – 397.

77

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S, 377 f.

78

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 32 f.

79

DA Mainz 1/066, S. 753 (28. September 1778).

80

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 98 f.

81

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 139 f.

494

Georg May

Strafe von zehn Thalern zudiktiert. Der Erzbischof bemängelte auch den geringen Bücherbestand des Pfarrers. Der Siegler sollte ihm eine Erklärung der Heiligen Schrift, eine Dogmatik, ein kanonistisches Lehrbuch, eine Kirchengeschichte, ein Betrachtungsbuch und ein weiteres geistliches Buch verschaffen und dafür das Geld in Empfang nehmen. Der Pfarrer habe noch nie viel gewusst, und er habe jetzt auch die Approbation nur für ein Jahr erhalten. Er solle alle zwei Monate im Examen erscheinen, und wenn er sich bis zur dritten Prüfung nicht zu einer Triennal-Approbation qualifiziert habe, solle ihm die Kommende entzogen und er auf eine der geringsten Pfarreien versetzt werden. Bei dem Pfarrer Gottfried Schwan (1773 – 1783) in Ober-Hilbersheim82 hatte der Actuarius Koch eine nicht vorfindliche Designatio Librorum beigesetzt. Der Erzbischof verlangte Aufschluss über den Grund dieses Verfahrens. Dem Pfarrer Johann Nepomuk Gundlach zu Büdesheim (1774 – 1782)83 ließ er sein „Wohlgefallen“ aussprechen, weil er beim letzten Examen Synodale „vorzüglich wohl bestanden“ habe. Dem Pfarrer Georg Johannes Kaspar Litzendorff zu Windesheim (1775 – 1785)84 wurde aufgetragen, seinen defizienten Bücherbestand durch gute Meditationsbücher zu bereichern. Der Erzbischof erwartete eine Vollzugsmeldung. Der Pfarrer Berthold a S. Bonifacio zu Staudernheim85 hatte die Approbation erhalten, obwohl er weder eine Bittschrift eingereicht noch seinen letzten Approbationszettel und die Aufstellung seines Bücherbestandes vorgelegt hatte. Der Erzbischof befahl, seine Approbation „Poenae loco“ bis zum nächsten Examen zu beschränken, zu dem er abermals, aber mit den notwendigen Requisiten versehen, zu erscheinen habe. Dem Provinzial der Franziskaner wurde aufgegeben, statt des P. Georg Becker, der im letzten Synodalexamen „nicht ganz wohl bestanden“ habe, sogleich einen tüchtigen Praesidem Casuum in Conventu Oppenheimensi86 anzustellen87. Der Praeses Casuum war der Pater, der den Insassen des Oppenheimer Klosters praktische Fälle aus der Seelsorge vorlegte und sie mit ihnen besprach. Die Conferentia Casuum war eine vorzügliche Möglichkeit zur Weiterbildung in der praktischen Seelsorge88.

82

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 172 – 174.

83

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 154 – 156.

84

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 501 f.

85

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 808.

86

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 215 f.

87

DA Mainz 1/066, S. 695 – 698.

88

DA Mainz 1/065, S. 676 (17. November 1777).

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

495

Das Examen Approbandorum fand nach der Verordnung Erthals in Mainz, Erfurt89, Aschaffenburg90 und Heiligenstadt91 statt92. Später bestimmte der Erzbischof auch noch Amöneburg zur Examensstätte. Die im Bezirk des Fritzlarer Kommissariats befindlichen Geistlichen wurden zur Verlängerung der Approbation nach Amöneburg gewiesen93. Wie das Mainzer Vikariat die Kommissariate allgemein überwachte, so auch in Bezug auf die erwähnten Prüfungen. Seine Kontrolle des Protokolls des Approbationsexamens in Amöneburg fiel nach Meinung des Erzbischofs nicht genügend sorgfältig aus. Er verlangte ein Gutachten, „ob das Examen ordentlich gehalten“ worden sei94. Die Protokolle der Approbationsexamina an anderen Orten wurden vom Erzbischof selbst genau geprüft. Dem Eichsfelder Kommissar gab der Erzbischof den Befehl, das Examen Synodale „nur in loco Commissariatus“ zu halten95. Der offizielle Charakter des Geschehens sollte nicht durch die Vornahme in einem Privathaus verdunkelt werden. Am 14. Oktober 1778 ließ er nach Aschaffenburg schreiben, es sei jedem Examinator unbenommen, bei der Abstimmung sein besonderes Votum eigens zu Protokoll zu geben96. Abweichende Meinungen über die Qualifikation der Kandidaten sollten nicht unter den Tisch fallen. Am 13. November 1778 glaubte er Grund zu der Vermutung zu haben, dass die (Aschaffenburger) Examinatores „in ihren Votis zu leicht und nachsichtlich seyen“97. Der Kommissar Christian Stadelmann wurde gerügt, weil er entgegen § VIII N. VI der Pastoralkonstitution die letzten Approbationszettel jener, die sich dem Examen gestellt haben, nicht dem (einzusendenden) Protokoll beigelegt hatte98. Aus all dem erhellt, dass der Erzbischof auch die letzten Einzelheiten der Vorgänge genau eingehalten wissen wollte.

89

Der Erfurter Weihbischof bat darum, die Exjesuiten Schirber und Schick für die Zukunft praevio examine approbieren zu dürfen (DA Mainz 1/067, S. 35 – 36, 11. Januar 1779). 90

Z.B.: DA Mainz 1/066, S. 753 (28. September 1778); 1/067, S. 949 (11. Oktober 1779). 91

DA Mainz 1/067, S. 958 (18. Oktober 1779).

92

DA Mainz 1/066, S. 534 – 536 (27. Juli 1778).

93

DA Mainz 1/066, S. 581 – 583 (17. August 1778).

94

DA Mainz 1/067, S. 1 (4. Januar 1779).

95

DA Mainz 1/072, S. 13 (5. Januar 1784).

96

DA Mainz 1/066, S. 852 – 853.

97

DA Mainz 1/066, S. 947.

98

DA Mainz 1/067, S. 679 – 680 (19. Juli 1779).

496

Georg May

III. Zulassung und Prüfung 1. Zulassung Vor der Abnahme des Approbationsexamens stand die Zulassung zu dieser Prüfung. Sie wurde aufgrund eines Antrags gewährt oder abgeschlagen. Die Bitte um Zulassung zum Examen Approbandorum war in lateinischer Sprache abzufassen99. Nicht jeder, der um Zulassung bat, wurde zugelassen. Wer noch wegen Unwissenheit gleichsam in „Bewährung“ stand, versuchte vergeblich, Zutritt zu der Prüfung zu erlangen. Als der Karmelitenpater Arnold Gottsleben darum bat, zum Examen Approbandorum zugelassen zu werden, wurde ihm die Bitte „noch zur Zeit“ abgeschlagen100. Er sollte seinen Wissensstand weiter verbessern. 1762 fragte der Eichsfelder Kommissar in Mainz an, ob er Priestern seines Gebiets, die ihr Studium im Fuldaer Seminar101 als alumni Pontificii absolviert hatten, die Approbation erteilen könne. Das päpstliche Priesterseminar in Fulda war eine gediegene und angesehene Priesterbildungsstätte. Mit 102 Neupriestern war das Bistum Mainz einer der Hauptempfänger des Fuldaer Seminars. Der Kommissar Franz Huth im Eichsfeld berichtete, dass im Seminar zu Fulda gegenwärtig zwölf Eichsfelder Eingeborene seien. Fünf hätten sich im Eichsfeld wieder eingefunden und die Approbation erhalten. Da nun diese zwölf gleichfalls in ihr „Vatterland“ zurückkehren würden und die Intention des Erzbischofs wegen des Mainzer Seminars (das alle Mainzer Priester durchlaufen sollten) dann vereitelt würde, so frage er an, ob er den Alumni pontificii pro praesenti et futuro die Approbation erteilen solle, unerachtet der Tatsache, dass dergleichen Alumni pontificii in casum infirmitatis dem Land oder dem Pfarrer zur Last fallen dürften102. Das Vikariat antwortete (und der Erzbischof 99

DA Mainz 1/066, S. 853 (14. Oktober 1778).

100

DA Mainz 1/073, S. 745 – 746 (23. Mai 1785).

101

Georg Franz Komp, Die zweite Schule Fulda’s und das päpstliche Seminar, Fulda 1877; derselbe, Art. Fulda, in: KL IV, 21886, Sp. 2100 – 2113; Gregor Richter (Hrsg.), Die Studentenmatrikel der Adolphsuniversität zu Fulda (1734 – 1805) (= Veröffentlichungen des Fuldaer Geschichtsvereins XV), Fulda 1936; Rainer Polley, Die Adolphsuniversität Fulda 1734 – 1805 (= Schriften des Hessischen Staatsarchivs Marburg 2), Marburg 1984; Josef Leinweber, Das Päpstliche Seminar in Fulda und seine Bedeutung im Zeitalter der Katholischen Erneuerung und des Barock, in: Ecclesia Peregrinans. Josef Lenzenweger zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Karl Amon / Bruno Primetshofer / Karl Rehberger/ Gerhard Winkler / Rudolf Zinnhobler, Wien 1986, S. 185 – 194. 102

Als die jährlichen Zahlungen des Heiligen Stuhles an das Seminar eingestellt wurden (1740), fiel der päpstliche Tischtitel weg. Die in Fulda ausgebildeten Priester mussten sich nach einem anderen Weihetitel, der ihnen die Subsistenz im Alter und bei Invalidität garantierte, umsehen.

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

497

bestätigte seine Antwort), dass er pro praesenti et futuro keinem Alumnus pontificius die Approbation erteilen solle, es sei denn, dass er ein Benefizium, und zwar cum investitura, wirklich erhalten hätte (das seine Subsistenz für die Lebenszeit sicherstellte). Sofern aber für jetzt oder in Zukunft Cooperatores in vinea Domini nötig seien, hätte er das nach Mainz zu berichten, damit aus dem hiesigen Erzbischöflichen Seminar „der Nothdurfft gesteuret werden möge“103. Die Alumnen sollten offenbar mit dem Titulus Seminarii Archi-Episcopalis ausgestattet werden. Gegen das Fuldaer Seminar bestand in Mainz eine starke Abneigung, die sich auf die dort ausgebildeten Kleriker erstreckte. Man war schon deswegen gegen das Fuldaer Seminar eingestellt, weil es von Jesuiten geleitet wurde. Mit der Erteilung, der Versagung und dem Entzug der Approbation hatte es der Erzbischof in der Hand, welche Priester in seinem Sprengel Seelsorge ausüben durften. 2. Die Prüflinge An erster Stelle hatten sich die Pfarrer104 zum Approbationsexamen einzufinden. Mit der Übertragung einer Pfarrei waren sie der Prüfungen also nicht enthoben. Sie mussten sich vielmehr alle drei Jahre über ihre Kenntnisse in Theologie und Pastoralwissenschaften prüfen lassen und um Verlängerung ihrer Approbation anstehen105. Bei Bestehen der Prüfung erfolgte in der Regel die neuerliche Verleihung für ein Triennium. So wurde beispielsweise dem Pfarrer Johann Adam zu Siegen106 die Approbation „neuerdings“ um drei Jahre verlängert107. Bei der Prüfung der Protokolle und der Entscheidung über die Dauer der Approbation ging Erzbischof Erthal mit Strenge vor, wobei er die erforderliche Differenzierung allerdings nicht vermissen ließ. Am 20. Juli 1778 erließ er folgende Weisung an das Aschaffenburger Kommissariat. Der bisherige Pfarrer zu Aufenau108, Pater Agathangelus OFM, und der Pfarrer zu Rechtenbach109, Pater Constans OFMCap, sollten einstweilen ihrer Unwissenheit wegen „der Seelsorge gleich priviret“ und die erwähnten Pfarreien mit tüchti103

DA Mainz 1/053, S. 266 (5. Juli 1762).

104

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II (Anm. 1), S. 291 – 317.

105

Die unterschiedslose Verpflichtung der Pfarrer zu weiteren Examina wurde (im Gegensatz zur Mainzer Praxis) als unzulässig angesehen (Lucius Ferraris, Prompta Bibliotheca VI, Paris 1856, S. 45 – 47 Nr. 21 – 26, 49 – 50 Nr. 31 – 32). 106

Real-Schematismus des Erzbistums Paderborn (Anm. 12), S. 685 f.

107

DA Mainz 1/073, S. 662 (9. Mai 1785).

108

Real-Schematismus des Bistums Fulda (Anm. 12), S. 186 f.

109

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 374 f.

498

Georg May

gen Seelsorgern besetzt werden. Die Approbationen der Pfarrer Andreas Jakob Arend zu Groß-Krotzenburg110, Johann Heinrich Walser zu Bessenbach111, Johann Heichemer zu Heimbuchenthal112, Michael Weber zu Krombach113 sollten auf ein halbes Jahr, jene der Pfarrer Georg Friedrich Berninger zu Steinheim114, Leonard Bergmann zu Kailberg115 (Keilberg), Philipp Fleckenstein zu Groß-Auheim116 auf ein Jahr, jene der Pfarrer Johann Konrad Habe zu KleinKrotzenburg117, Jodokus Adam Leykam zu Oberroden118, Johann Müller zu Weiskirchen119, Georg Külsheimer zu Esselbach120, Johann Korn zu Flammersbach (Frammersbach)121, Johann Gambel zu Rothenbuch122 auf zwei Jahre, falls diese (Approbationen) sich etwa noch weiter erstrecken sollten, „also gleich restringiret werden“. Der Pfarrer Johann Heinrich Jörg zu Wüstahl (sic) (Wiesthal)123 sollte sich nach Ablauf von drei Monaten eigens beim Erzbischof unmittelbar pro novo examine melden. Wenn er dabei nicht viel besser als jetzt bestehe, solle er von seiner Pfarrei abberufen und wieder als Kaplan angestellt werden124. Aus diesen Beispielen ist zu erkennen, wie sorgfältig der Kenntnisstand der Priester abgeschätzt wurde und wie gravierend die Folgen waren, wenn Wissen und Können nicht auszureichen schienen. Zumindest manche Priester müssen mit Angst und Sorge zum Examen angetreten sein. Dem Pfarrer Bartholomäus Erbelding in Oberolm125 drohte der Erzbischof an, er werde auf eine geringere Pfarrei versetzt werden, falls er beim nächsten Examen „nicht beschlagener“ erfunden würde126. Dem Piaristen und Pfarrer zu Reckers110

Real-Schematismus des Bistums Fulda (Anm. 12), S. 128 f.

111

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 372 – 374.

112

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 364 – 366.

113

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 28 – 30.

114

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 387 f.

115

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 367 f.

116

Real-Schematismus des Bistums Fulda (Anm. 12), S. 127 f.

117

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 391 f.

118

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 328 – 330.

119

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 384 f.

120

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 489 – 491.

121

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 361 – 363.

122

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 376.

123

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 382 – 384.

124

DA Mainz 1/066, S. 533 (27. Juli 1778).

125

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 121 f.

126

DA Mainz 1/066, S. 849 (19. Oktober 1778).

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

499

hausen127 P. Bernhard Obser wurde angekündigt, dass ihm, sofern er nach Auslaufen der Approbation nicht „vollkommen wohl bestünde“, die Pfarrverwaltung gänzlich abgenommen werde128. Besondere Anforderungen wurden an die Priester gestellt, die als Beichtväter von Nonnen tätig werden sollten. Dem Pfarrer Bartholomäus Öhl zu Niederwalluf129 wurde die facultas excipiendi Confessiones Monialium „bis zur besseren Befähigung“ nicht erteilt130. Vermutlich sollte der Pfarrer das nahe gelegene Kloster Tiefenthal der Zisterzienserinnen131 betreuen. Besonders unnachsichtig wurde darüber gewacht, dass die jungen Seelsorger132 sich zum Approbationsexamen einfinden. Johannes Stahl, der vom Herrn von Schrautenbach für Wenigumstadt133 präsentiert worden war, hatte auf dem Vikariat zu erscheinen, ein authentisches Zeugnis suae vitae et morum vom Kommissar zu Aschaffenburg vorzuweisen und sich allenfalls ad examen pro cura bereitzuhalten134. Stahl erschien, erklärte aber, er verzichte auf die Präsentation135. Dem Geistlichen Christian Schweitzer, der zu der Freifrau von Yrsch136 in Udenheim137 als Kaplan ging, wurde die Approbation zum Beichthören praevio examine zugesagt, jedoch mit der Einschränkung, „das (sic) er sine licentia parochi keinen beicht höre“138. Die Befugnisse des Pfarrers über die Seelsorge in seiner Pfarrei sollten gewahrt werden. Auch jene Alumnen, die Doctoratus theologici Candidati waren, hatten sich im Examen pro Approbatione pro prima vice einzufinden und prüfen zu lassen139. Das Anstreben der Promotion war nicht gleichbedeutend mit deren Erlangung. Die Prüfung hatte erhebliches Gewicht. Von ihrem Bestehen hing das weitere kirchliche Schicksal der Priester ab. Dem Aschaffenburger Protokoll des Approbationsexamens 127

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 780.

128

DA Mainz 1/066, S. 849 (19. Oktober 1778).

129

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 104 f.

130

DA Mainz 1/066, S. 849 (19. Oktober 1778).

131

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 102 f.

132

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II (Anm. 1), S. 318 – 328.

133

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 81 f.

134

DA Mainz 1/021, S. 504 (13. November 1719).

135

DA Mainz 1/021, S. 523 (27. November 1719).

136

Walter Wagner, Das Rhein-Main-Gebiet vor 150 Jahren (1787), Darmstadt 1938, S. 164. 137

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 192 f.

138

DA Mainz 1/049, S. 116 (10. April 1758).

139

DA Mainz 1/076, S. 1863 (4. Dezember 1788).

500

Georg May

entnahm der Erzbischof „höchst mißfällig“, dass sämtliche Kapläne in den Prüfungen entweder ganz schlecht oder nur mittelmäßig bestanden hätten. Er werde sich „diese zum Theil ganz oder halb unwissende (sic) Subjecta“ genau merken und sie bei der Besetzung von Pfarreien „wegen ihrem Unfleiß und Unwissenheit“ übergehen und ihnen keine Pfarrei geben, „bis sie sich vollkommen befähiget“ hätten140. Besonders wichtig nahm Erthal die Befähigung zur Verkündigung des Wortes Gottes. Unerbittlich drang er darauf, dass die Kapläne zur Erlangung der Approbation Probepredigten hielten141. Aus Erfahrungen, die er mit dem Examen von Ordensleuten gemacht hatte, zog der Erzbischof den Schluss, „dass entweder ihre Studia nicht wohl angeordnet oder von den Lectoren nicht gehörig betrieben werden“. Er forderte die Oberen auf, „die Quellen der schon sehr weit bei ihnen eingerissenen Unwissenheit zu entdecken“ und darin Abhilfe zu schaffen142. Die ordenseigenen Studien wurden vom Erzbischof argwöhnisch betrachtet. IV. Freistellung und Befreiung 1. Freistellung Manche Priester wurden mit oder ohne Antrag von der Pflicht, zum Approbationsexamen zu erscheinen, befreit. Geistliche, die sich wissenschaftlich qualifiziert hatten, erlangten in manchen Fällen die Befreiung von der Pflicht, sich dem Examen stellen zu müssen. Den Kantor Heinrich Adam Mayer (Meier)143 in Heiligenstadt stellte das Vikariat für die Zukunft frei vom Examen Approbandorum; er sollte die Ausdehnung der Approbation alle drei Jahre ohne neue Prüfung erhalten144. Vermutlich galt er wegen seiner Stellung im Stift als genügend ausgewiesen. Man muss auch bedenken, dass Mayer außer seinem Stiftsamt mit dem Pfarramt zuerst in der Altstadt, danach in der Neustadt von Heiligenstadt belastet war145. Doch die Erteilung der Approbation usque ad revocationem erhielt auch er nicht. Am 3. April 1786 äußerte sich das Vikariat

140

DA Mainz 1/067, S. 949 (11. Oktober 1779).

141

DA Mainz 1/073, S. 989 – 992 (18. Juli 1785), S. 1277 (10. Oktober 1785), S. 1291 – 1292 (17. Oktober 1785), S. 1333 (24. Oktober 1785), S. 1395 (14. November 1785). 142

DA Mainz 1/066, S. 947 – 949 (13. November 1778).

143

Bernhard Opfermann, Die Klöster des Eichsfeldes in ihrer Geschichte. Die Ergebnisse der Forschung, Heiligenstadt 31998, S. 31. 144

DA Mainz 1/074, S. 709 (19. Juni 1786).

145

Opfermann, Die kirchliche Verwaltung (Anm. 12), S. 101 f.

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

501

dahin, dass man den Pfarrer Ignaz Bernardi zu Heimersheim146 „von der alle Jahre persönlichen Erscheinung in Examine Synodali freisprechen könne“147. Offenbar hatte er sich beim letzten Examen als so qualifiziert erwiesen, dass er nicht mehr in diesem kurzen Abstand zu erscheinen brauchte. Der Pfarrer Bonifaz Lanziener (Lanzinner) in Kransberg148 beantragte, als Lizentiat der Theologie „sine examine ad tres annos weiters“ approbiert zu werden. Das Vikariat stimmte zu149. Das Lizentiat war eine Zwischenstufe zwischen Bakkalaureat und Doktorat; im Mittelalter schloss es die licentia docendi ein. 2. Anträge auf Befreiung Die sich wiederholenden Approbationsexamina waren den allermeisten Geistlichen lästig. Viele suchten darum nach Gründen, um davon befreit zu werden. In erster Linie wurden gesundheitliche Beschwerden vorgebracht. Der Pfarrer Peter Conrad (Konrad) zu Trechtingshausen150 bat, ihn wegen Gebrauchs einer Kur von dem persönlichen Erscheinen beim Approbationsexamen zu befreien und die am 25. Juli 1778 auslaufende Approbation für drei Jahre zu verlängern. Das Vikariat gewährte lediglich eine Verlängerung um vier Wochen. Doch habe er sich während dieser Zeit pro Examine „dahier persönlich ohnfehlbar zu sistiren“151. Andere schützten die Kosten der Reise nach Mainz vor, um vom Examen befreit zu werden. Der Pfarrer Berthold a S. Bonifacio piarum Scholarum zu Staudernheim152, dessen Approbation am 3. September 1778 erlosch, bat, sie ihm zu verlängern und die verlängerte Approbation zuzuschicken; wegen der geringen Pfarreinkünfte könne er die kostspielige Reise nicht machen. Das Vikariat beorderte ihn ungerührt zum Examen am 2. September morgens um acht Uhr im Vikariatsgebäude153. Mainz war offensichtlich von dem bei Sobernheim im Landkapitel Glan gelegenen Ort unschwer zu erreichen. Andere Pfarreien im Archidiakonatsbezirk des Dompropstes waren noch viel weiter von der Bischofsstadt entfernt. Häufig wurden Alter und Kränklichkeit angeführt, um dem Examen zu entgehen. Der Pfarrer Bene-

146

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 143 – 145.

147

DA Mainz 1/074, S. 376.

148

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 47 f.

149

DA Mainz 1/074, S. 680 (8. Juni 1786).

150

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 343 f.

151

DA Mainz 1/066, S. 509 – 510 (20. Juli 1778).

152

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 808.

153

DA Mainz 1/066, S. 595 (17. August 1778).

502

Georg May

dikt Diel zu Netphen154 bat, wegen seines Alters von 68 Jahren und seiner Kränklichkeit von dem persönlichen Erscheinen pro Examine befreit zu werden; er legte seine in Münster und Paderborn erhaltenen Approbationsurkunden bei. Das Vikariat musste aufgrund der strengen Weisung des Erzbischofs155 darauf bestehen, dass er ein Attest einsende156. Der Diel schickte das Attest ein, das von dem Chirurgen Fuchs in Netphen ausgestellt war. Das Vikariat beauftragte daraufhin den Dechanten Johann Adam Poetsch zu Imgarteichen157, ein schriftliches Examen mit dem Diel zur Verlängerung der Approbation vorzunehmen und das Ergebnis nebst Gutachten und Bericht über das Betragen des Diel sowie dessen Bücherverzeichnis einzusenden158. Der Diel wiederholte seine Bitte um die Verlängerung der Approbation, erhielt aber vom Vikariat die gleiche Antwort wie zuvor159. Dem Vikariat, das vielleicht zur Nachsicht bereit gewesen wäre, waren durch den strikten Befehl des Erzbischofs die Hände gebunden. Das Siegerland, zu dem Netphen gehörte, war weit abgelegen. Der P. Guardian der Mainzer Kapuziner160 bat, da der Jubilar und 78jährige P. Michael Lohranus in dem öffentlichen Examen Approbandorum nicht erscheinen könne, seine Approbation zu verlängern, damit er jeweils noch ein oder ein anderes Beichtkind auf seiner Krankenzelle anhören und absolvieren könne. Das Vikariat bestimmt, der P. Michael sei von drei ernannten Examinatoren in dem hiesigen Kloster zu prüfen und nach Befund zu approbieren161. Die schneidende Unerbittlichkeit dieses Bescheides musste auch damals Empörung hervorrufen. Der Pfarrer Johann Nikolaus Neek zu Bretzenheim162 bat, ihn von dem persönlichen Erscheinen bei dem Examen Synodale zu befreien, weil er 80 Jahre alt sei und wegen zweier Schläge nicht kommen könne. Das Vikariat gab dem Direktor Christian Heimes163 den Auftrag, mit ihm ein schriftliches Examen pro approbatione abzunehmen164. Auch in diesem Falle berührt die scho154

Realschematismus des Erzbistums Paderborn (Anm. 12), S. 680 f.

155

DA Mainz 1/066, S. 661 – 662 (7. September 1778).

156

DA Mainz 1/066, S. 667 (7. September 1778).

157

Realschematismus des Erzbistums Paderborn (Anm. 12), S. 682 f.

158

DA Mainz 1/066, S. 776 – 777 (28. September 1778).

159

DA Mainz 1/066, S. 820 – 821 (12. Oktober 1778).

160

Eberhard Moßmaier, Das religiös-aszetische Leben im Kapuzinerkonvent zu Mainz (1618 – 1802), in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 8 (1956), S. 224 – 237. 161

DA Mainz 1/066, S. 729 (21. September 1778).

162

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 101 – 103.

163

Georg May, Das Priesterhaus in Marienborn, Mainz 2005, S. 38 f.

164

DA Mainz 1/066, S. 778 (28. September 1778).

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

503

nungslose Härte des Bescheids unangenehm. Nicht wenige Pfarrer suchten sich den Approbationsexamina zu entziehen, indem sie Pfarrgeschäfte vorschützten. Das Vikariat bestand ungerührt auf ihrem Erscheinen165. Der Pfarrer Christian Lang zu Wald-Hilbersheim166 bat, ihm seine Approbation erneut für drei Jahre zu verlängern, da es notorisch sei, dass er zu der Reise nach Mainz außerstande sei. Das Vikariat gab ihm die Verlängerung, ohne ihm eine Prüfung aufzuerlegen167. Vielleicht begann man doch zu begreifen, dass man die alten Priester schonender behandeln müsse. Der Pfarrer Nikolaus Walger zu Rockenhausen168 in der Diözese Worms begehrte, ihn einstweilen zu approbieren, da er zum Pfarrer von Roxheim169 ernannt sei. Die Dimissoriales für ihn waren aus Worms eingetroffen. Doch das Vikariat schrieb ihm, er könne nicht zum Pfarrer von Roxheim instituiert werden, bevor er nicht die erforderliche Präsentationsurkunde vorgelegt und „in Examine praestanda praestirt“ haben werde. Doch könne er vorläufig bis Mai die Pfarrei Roxheim versehen170. V. Erteilung der Approbation 1. Schriftliche Ausfertigung Wer die Prüfung bestanden hatte, dem wurde die Approbation erteilt bzw. verlängert. Die Erteilung bzw. Verlängerung erfolgte schriftlich. Am 10. Juli 1786 machte das Vikariat dem Geistlichen Gericht zu Erfurt und den Kommissariaten bekannt, dass die Schedulae Approbationum hinfort Nomine Eminentissimi ausgefertigt werden müssen171. Zuvor waren sie offensichtlich im Namen des Geistlichen Gerichtes bzw. der Kommissariate ausgestellt worden. Bei der Approbation der Ordenspriester ergaben sich mitunter Probleme. Die Feindseligkeit der beiden letzten Mainzer Erzbischöfe gegen den Jesuitenorden ist notorisch172. Sie wünschten seine Angehörigen bzw. ehemaligen Angehöri-

165 DA Mainz 1/073, S. 803 (6. Juni 1785): Pfarrer Heinrich Anton Gastauer zu Braunweiler (Handbuch des Bistums Trier [Anm. 12], S. 483 f.). 166

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 498 f.

167

DA Mainz 1/076, S. 1368 (14. August 1788).

168

Handbuch des Bistums Speyer (Anm. 12), S. 212 – 214.

169

Handbuch des Bistums Speyer (Anm. 12), S. 546 f.

170

DA Mainz 1/078, S. 339 – 340 (22. März 1790).

171

DA Mainz 1/074, S. 782 – 783 (10. Juli 1786).

172

Michael Müller, Die Jesuiten (1542 – 1773), in: Jürgensmeier, Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte 3/1, S. 642 – 699, hier S. 694 – 697.

504

Georg May

gen möglichst von jeder Tätigkeit in ihrem Sprengel fernzuhalten. Der pfälzische Kurfürst Karl Theodor war ihnen dagegen wohlgesinnt. Auf dessen Ersuchen erklärte sich der Mainzer Erzbischof bereit, im Einzelfall einem zur Seelsorge in den kurpfälzischen Landen anzustellenden Exjesuiten die Approbation zu erteilen; jedoch solle dies „nur selten“ vor sich gehen173. Die rigorose Ausschließung derselben ließ sich jedoch nicht durchführen. Der Exjesuit Joseph Roeder in Nieder-Ingelheim174 beispielsweise erbat und erhielt die Approbation175. Es war vom Standpunkt der Seelsorge her gesehen bedenklich, arbeitsfähige und –willige Priester mit hoher Qualifikation vom Dienst an den Seelen fernzuhalten. Ähnlich abweisend war die Haltung Erthals gegenüber dem Kapuzinerorden. Doch konnte man die beliebten Ordensleute nicht entbehren; vor allem als Beichtväter waren sie gesucht176. So wurde beispielsweise dem Kapuzinerpater Korbinian Reiss die Approbation um drei Jahre verlängert177. Dem Guardian der Mainzer Kapuziner gab das Vikariat Aufklärung über die Approbation bei Versetzungen. Wenn ein Religiose aus dem Obererzstift in das Untererzstift komme, gelte die ihm erteilte Approbation bis zu dem nächsten monatlichen Examen, vorausgesetzt, dass er sich beim Vikariat gemeldet habe. Wenn Religiosen aus einer fremden Diözese ins Erzstift kommen, hätten sie sich dem monatlichen Examen zu stellen178. Der Wechsel der Ordensleute von einem Bistum in ein anderes war häufig. Der Guardian des Mainzer Franziskanerklosters bat, wegen des herannahenden Festes Allerheiligen den aus fremden Diözesen hierher versetzten Patres die Approbation zu erteilen. Der Provinzial habe sich alle Mühe gegeben, die Dimissoriales zu erhalten, und damit auch teilweise Erfolg gehabt. Das Vikariat verlangte die Vorlage der Dimissoriales an den Siegler. Danach werde den Priestern die Approbation bis ad proximum Examen Synodale erteilt werden179. Von der Forderung nach Teilnahme an der Prüfung rückte man nicht ab.

173

DA Mainz 1/062, S. 113 – 114 (3. März 1774). Vgl. S. 140 – 141 (14. März

1774). 174

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 170 – 172.

175

DA Mainz 1/073, S. 282 (24. Februar 1785).

176

Die zahlreichen Kapuzinerklöster im Erzbistum Mainz sind verzeichnet im Kurmainzischen Hof- und Staats-Kalender (1791), S. 62. 177

DA Mainz 1/073, S. 699 (12. Mai 1785).

178

DA Mainz 1/066, S. 943 (12. November 1778).

179

DA Mainz 1/067, S. 968 – 969 (18. Oktober 1779).

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

505

2. Inhalt Die Approbation wurde für die gesamte Seelsorge bzw. für die Ausübung des Kirchenamtes erteilt. Doch ihr Schwerpunkt lag bei der Verwaltung des Bußsakramentes und der Verkündigung des Gotteswortes. In diesen beiden Tätigkeiten kamen die Persönlichkeit und die Fähigkeiten des Priesters stärker zur Geltung als bei anderen, wo Ritus und Rubriken das Vorgehen festlegten. Die sedes confessionalis wurde lediglich als pars pro toto genannt; gemeint war die gesamte cura animarum. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Verwaltung des Bußsakramentes durch den Klerus von den Mainzer Erzbischöfen und ihrem Vikariat im 18. Jahrhundert sehr ernst genommen wurde. Man war bemüht, die Priester für diesen Dienst sorgfältig auszubilden. An Orten mit starkem Andrang an Pönitenten waren besonders qualifizierte Geistliche erwünscht. In locis votivis, wie Walldürn180, Dieburg181 und Nothgottes182, sollten nach dem Willen des Generalvikariats, den es den dortigen Klostervorstehern kundgab, nur Beichtväter verwendet werden, die „genugsam im beichtstuhl geübet seynd“183. Für das Beichthören der moniales bedurfte es einer besonderen Vollmacht184, die der Erzbischof185 bzw. das Vikariat übertrug; dieses bestellte normalerweise den ordentlichen Beichtvater für Klosterfrauen186. Sorgsam wurde die Verwaltung des Bußsakramentes überwacht. Es kam vor, dass ein Priester, ohne Beichtvollmacht zu besitzen, das Bußsakrament zu verwalten sich anmaßte, wie der Hoffmann in Werbach187. Der Erzbischof stellte ihm zur Wahl, entweder sich für drei Wochen in das Priesterhaus zu Marienborn188 zu begeben oder aber das Erzstift zu verlassen. Die ihm „ehedessen“ von Ordinariats wegen erteilte Approbation wurde „einmahl vor allemahl“ revoziert und aufgehoben189. Das Vikariat verbot dem Kaplan Balthasar Lind zu Oberursel190, einem Welt- oder Ordensgeistlichen, künftig die Erlaubnis zu erteilen, in der 180

Realschematismus der Erzdiöcese Freiburg (Anm. 12), S. 444 f.

181

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 304 – 308.

182

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 301 – 303.

183

DA Mainz 1/056, S. 231 – 232 (6. Juni 1768).

184

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts IV (Anm. 1), S. 98 – 101.

185

DA Mainz 1/025, S. 73 (5. April 1723).

186

DA Mainz 1/051, S. 260 (21. August 1760): Kloster Schmerlenbach, P. Hyacinthus Huger von Amorbach. Die Kommission s. S. 267 – 268 (21. August 1760). 187

DA Mainz 1/042, S. 226 – 227 (5. Juli 1751).

188

Georg May, Das Priesterhaus in Marienborn (Anm. 163), Mainz 2005.

189

DA Mainz 1/042, S. 238 (7. Juli 1751).

190

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 49 f.

506

Georg May

Pfarrei Ursel oder in seinem Privathause die Domestiken oder andere Beicht zu hören, weil solches „a jurisdictione parochi alleinig, und nicht des Caplans dependire“191. Immer wieder kam es wegen der Verwaltung des Bußsakramentes zu Friktionen zwischen dem Welt- und dem Ordensklerus192. Der Pfarrer zu Kirn193 zeigte den Pater Ernestus OFMCap aus Bingen194 beim Vikariat an, weil er in seiner Pfarrkirche ohne vorherige Einholung der Erlaubnis Beicht gehört habe195. Der Pater wurde ins Vikariat zitiert und über sein Verhalten befragt. Er erklärte, einige dortige Studenten hätten ihn gebeten, ihre Beicht zu hören. Er habe dieses Ansinnen einem Pater piarum Scholarum vorgetragen, der ihm gesagt habe, „er solle auf sein wort beicht sitzen“, worauf er einigen Studenten die Beicht abgenommen habe. Darauf forderte das Vikariat einen Bericht des P. Rektor zu Kirn an196. Allen Mendikanten war ausdrücklich verboten, jemanden in Häusern oder Privatkapellen in Städten oder Dörfern ohne Spezialerlaubnis der Pfarrer Beicht zu hören. Die Pfarrer durften keinem Religiosen und schon gar nicht einem Kloster ein für allemal die erwähnte Erlaubnis erteilen, ohne jedes Mal (beim Vikariat) angefragt zu haben. Fälle äußerster Gefahr waren ausgenommen197. Der Verkündigung des Wortes Gottes schenkte man im 18. Jahrhundert in der Erzdiözese Mainz gesteigerte Aufmerksamkeit. Dem Ortsoberhirten war überlassen, in welchem Umfang er die Befugnis verleiht, im Namen der Kirche das Wort Gottes zu verkündigen. Zuvor hatten die künftigen Prediger sich über ihre Befähigung auszuweisen. Im Juli 1785 ordnete Erthal an, dass die Kapläne, die sich in Mainz oder Aschaffenburg zum Examen pro Approbatione einfinden, immer am folgenden Tag in der Mainzer Seminarkirche bzw. in der Aschaffenburger ehemaligen Jesuitenkirche bei geschlossenen Türen in Gegenwart dreier Examinatoren, in Mainz auch des Hofpredigers198, eine viertelstündige Rede über einen Text aus den Psalmen halten und am Ende die geschriebene Rede den Examinatoren zustellen. Der Text solle dem Protokoll beigelegt, von den Examinatoren solle das Gutachten beigefügt werden, wie sie den Aufbau und den Vortrag beurteilen und ob sie den Kaplan in die Klasse der eminenten, 191

DA Mainz 1/046, S. 8 (13. Januar 1755).

192

DA Mainz 1/065, S. 7 – 8 (7. Januar 1777).

193

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 793 f.

194

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 151 – 154.

195

DA Mainz 1/061, S. 194 (26. April 1733).

196

DA Mainz 1/061, S.205 – 206 (3. Mai 1773).

197

DA Mainz 1/065, S. 7 – 8 (1777).

198

Hofprediger war damals Hermann Joseph Hober (Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender, 1785, S. 91).

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

507

mittelmäßigen oder geringen Prediger setzen199. Das Vikariat leitete diese Anordnung des Erzbischofs weiter an die beteiligten Personen im unteren und im oberen Erzstift200. Die Bewertung der Probepredigt floss in die Beurteilung des Geistlichen ein. Am 23. April 1786 gab der Erzbischof zu verstehen, wie viel ihm an gehaltvollen Predigten liege201. In Zukunft sollten die Prediger alle zwei Monate eine von ihnen gehaltene Predigt den Landdechanten einsenden, die sie zu prüfen hatten. Danach war sie dem Vikariat zu überstellen, wo eine abermalige „Zensur“ vorgenommen werden sollte. Die besten Predigten sollten gedruckt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Mit dieser Anordnung wurde den Seelsorgern eine weitere Last auferlegt, die Kontrolle ihres Wirkens neuerlich verstärkt. Bei Ordensgeistlichen begnügte man sich nicht mit der ordenseigenen Ausbildung und Ermächtigung. Die Ordensoberen durften keinen ihrer Ordensgeistlichen in ihren Ordens- oder sonstigen Kirchen als Prediger aufstellen, der sich nicht vorher bei den erzbischöflichen Kommissariaten pro examine sistiert und von diesen nach geschehener Prüfung der zu dem Predigtamt erforderlichen Fähigkeiten und nach ausdrücklich erhaltener „Anweißung“ (sic) auf die im Druck für die Prediger dieses Erzstiftes ergangene erzbischöfliche Instruktion diesfalls ein „Beglaubigungsschreiben“ erhalten hat202. 3. Erweiterung der Beichtbefugnis Die Beschränkung der Approbation auf das Gebiet des erteilenden Oberhirten brachte, vor allem im Grenzgebiet mit anderen Diözesen, bei Reisen und Aushilfen, gewisse Schwierigkeiten mit sich. Man suchte sie durch großzügige Erteilung der Approbation an fremde Geistliche zu beheben. Die Oberhirten von Bistümern, die nebeneinander liegen, kamen gelegentlich überein, dass Priester, die in der einen Diözese die Approbation erlangt hatten, auch in der anderen das Bußsakrament verwalten können. Das heißt: Ihnen wurde allgemein von dem fremden Oberhirten die Beichtgewalt verliehen, ohne dass sie im Einzelfall durch ihn approbiert wurden. Man nennt diese Praxis Jurisdiktionsaustausch203. Der Geistliche Rat zu Würzburg trug dem Vikariat vor, dass die

199

DA Mainz 1/073, S. 989 – 990 (14. Juli 1785).

200

DA Mainz 1/073, S. 990 – 992 (18. Juli 1785).

201

DA Mainz 1/074, S. 409 – 416.

202

DA Mainz 1/060, S. 324 (13. Juli 1772).

203

Paul Krause, Die Geschäftsverwaltung des katholischen Pfarramtes im Gebiete des preußischen Landrechts mit Berücksichtigung des Reichskonkordats vom 20. Juli 1933, Berlin 1934, S. 226.

508

Georg May

Geistlichen an den Grenzen, und zwar sowohl die erzstiftlichen als die hochstiftlichen, zuweilen zur Unterstützung gerufen würden. Damit nicht mangels der Approbation die Gültigkeit der Sakramente gefährdet würde, so machte er sich erbötig, alle in der Erzdiözese approbierten Geistlichen, sofern sie ein Zeugnis vorweisen würden, auch als im Hochstift approbiert zu halten. Das Vikariat stimmte dem zu204. Damit war der Jurisdiktionsaustausch zwischen Mainz und Würzburg vereinbart. Doch muss die Vereinbarung in Vergessenheit geraten sein. Denn vierzig Jahre später wurde beim Mainzer Vikariat angefragt, ob die Geistlichen des Hochstiftes Würzburg, die an das Erzstift Mainz angrenzen und vom Würzburger Ordinariat approbiert sind, auch ipso facto in dem Erzstift approbiert wären, um in Concursu populi bei anfallenden Wallfahrten, Ablasstagen und sonstigen hohen Festlichkeiten, auch anderen Vorfällen, einander im Beichthören aushelfen zu können. Das Vikariat fasste den Beschluss, in Übereinstimmung mit dem bereits am 7. Februar 1707 gemachten Conclusum den Pfarrern und Seelsorgern die Resolution dahin zu erteilen, dass die im Hochstift Würzburg approbierten Geistlichen eo ipso auch im Erzstift approbiert wären, damit sie in Concursu populi bei Wallfahrten, Ablasstagen, sonstigen hohen Festlichkeiten und anderen „Vorfallenheiten“ den erzstiftischen Pfarrern und Seelsorgern an den Grenzen aushelfen können205. Besonders nahe standen sich, schon wegen der häufigen Personalunion der Bistumsspitze, die Diözesen Mainz und Worms. Dem Pfarrer Georg Wilhelm Breidling zu Kreutz-Steinach206 in der Diözese Worms gewährte das Vikariat die Vollmacht, in der Erzdiözese Mainz Beicht zu hören207. In der Diözese Worms approbierte Religiosen, die ihre Approbation nach Mainz einschickten, wurden ohne weiteres auch für die Erzdiözese Mainz approbiert208. Auf einen allgemeinen Jurisdiktionsaustausch zwischen Mainz und Worms bin ich allerdings nicht gestoßen. Auch einige Pfarrer der Trierer Diözese erhielten vom Mainzer Vikariat Beichtvollmacht209. Der Dechant Johann Petrus Mosweiler in Rhaunen210 bat um die Erlaubnis, dass die in der Trierer Diözese approbierten Pfarrer, Kapläne und Ordensgeistlichen, die zuweilen „gelegentlich Termins“ oder anlässlich

204

DA Mainz 1/016, S. 16 (7. Februar 1707).

205

DA Mainz 1/039, S. 3 – 4 und 6 – 7 (2. Januar 1747). Vgl. 1/043, S. 199 und 326 (1752). 206

Heiligkreuzsteinach (Realschematismus der Erzdiöcese Freiburg [Anm. 12], S. 449). 207

DA Mainz 1/031, S. 219 (3. August 1733).

208

DA Mainz 1/076, S. 923 (23. Mai 1788).

209

DA Mainz 1/044, S. 168 (4. Juni 1753).

210

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 219 f.

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

509

eines Patroziniums in die benachbarten Mainzer Pfarreien kommen, „weniger nicht im Fall eines benöthigten Subsidii“, pro illis vicibus Beicht hören dürfen. Das Vikariat gab die nachgesuchte Erlaubnis211. Sie entsprach einem dringenden seelsorglichen Bedürfnis. Die Kapuziner des Konvents zu Bacharach212, die Approbation von Trier hatten, wurden für die zur Erzdiözese Mainz gehörigen Ortschaften Lorch, Lorchhausen, Ober- und Niederheimbach approbiert213. So verfuhr man auch nach dem Untergang der Erzdiözese Mainz. Dem Pfarrer Peter Benedikt Benzing in Rüdesheim214 erteilte das Aschaffenburger Vikariat die Ermächtigung, den fremden Diözesangeistlichen, welche bei Wallfahrten ihrer Pfarrkinder nach Rüdesheim die Prozession dorthin führen, nach seinem gewissenhaften Gutbefinden ihre von ihrem eigenen Ordinariat erteilte Approbation zu dem Zweck, dass sie in der Kirche zu Rüdesheim Beicht hören, ad hujatem Archidioecesin sub consuetis tamen in hujate Archidioecesi reservationibus zu extendieren215. Die Mainzer Erzdiözese wurde unterschieden in das Obererzstift und das Untererzstift. Die Approbation wurde ursprünglich jeweils nur für das Ober- oder das Untererzstift gegeben. Wer aus dem Obererzstift kam, dessen Approbation musste auf das Untererzstift „extendiret“ werden216. Der Kaplan Johann Adam Rieger zu Obernau217 wies seinen am 3. Februar 1779 für zwei Jahre erhaltenen Approbationszettel vor und bat pro extensione ad Dioecesim inferiorem. Das Vikariat beauftragte den Siegler mit der Ausdehnung218. Dieser schwer verständliche Partikularismus wurde von Erzbischof Erthal beseitigt. Am 29. Mai 1781 ordnete das Vikariat an, dass alle von den Kommissariaten vorgenommenen Approbationen sub nomine Reverendissimi Vicarii Generalis et ex ejus mandato, wie es auch im Untererzstift geschehe, zu expedieren seien. Dabei sei den Kommissariaten aufzugeben, den aus ihren Bezirken abgehenden approbierten Geistlichen zu befehlen, dass sie bei der einschlägigen erzstiftischen geistlichen Behörde, wohin sie ein- oder übergehen, ihre erhaltene Approbation ordnungsgemäß vorlegen219. Der Erzbischof machte noch einmal deutlich, dass die von den Kom211

DA Mainz 1/065, S. 632 (27. Oktober 1777).

212

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 330 f.

213

DA Mainz 1/074, S. 719 (19. Juni 1786).

214

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 301 – 303. Die Wallfahrten gingen nach Nothgottes und Eibingen. 215

DA Würzburg Protocollum 1814, S. 1397 – 1398 (10. Oktober 1814).

216

DA Mainz 1/069, S. 534 (15. Mai 1781).

217

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 74 f.

218

DA Mainz 1/067, S. 507 (20. Mai 1779).

219

DA Mainz 1/069, S. 598 (29. Mai 1781).

510

Georg May

missariaten verliehenen Approbationen künftig ebenso pro tota Dioecesi geltend seien wie jene, die vom Vikariat gegeben werden220. VI. Dauer und Verlängerung der Approbation 1. Dauer Die Approbation wurde erteilt entweder für die Dauer der Inhaberschaft des Amtes oder für bestimmte bzw. unbestimmte Zeit. In der Erzdiözese Mainz war die Regel die Erteilung für eine festgelegte Frist. Die geringste Zeitdauer war ein halbes Jahr, die längste waren drei Jahre. Die zeitliche Beschränkung gestattete die Kontrolle über die Fortdauer der Befähigung. Für dieses Verfahren seien die folgenden Beispiele angeführt. Anfang Dezember 1777 wurden neue Approbationes für die Pfarrer im Königsteiner Landkapitel ausgestellt. Die Pfarrer Andreas Jakob Klingenbiel in Königstein221, Heinrich Karl Saffri zu Kronberg222, Philipp Stenner zu Oberjosbach223, Johann Schöfer (Schäfer) zu Weiskirchen224, Johann Scheld zu Oberhöchstadt225, Stephan Melchior zu Schwalbach226, Sebastian Bischoff zu Vilbel227, Johann Burckard zu Ockstadt228, Johann Stephan Eckard zu Kirdorf229, Ignaz Rösch zu Dorn-Assenheim230, Johann Baptist Ludwig zu Rockenberg231, Johann Georg Schwarz zu Oppershofen232 sowie die Patres Josaphat, Philibertus und Simplicius des Königsteiner Konvents erhielten die Approbation für drei Jahre. Die Pfarrer Thomas Hoffmann zu Reifenberg233,

220

DA Mainz 1/060, S. 616 – 617 (5. Juni 1781).

221

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 191 f.

222

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 193 f.

223

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 80 f.

224

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 56.

225

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 48 f.

226

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 57 f.

227

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 427 f.

228

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 421 – 423.

229

Wagner, Das Rhein-Main-Gebiet (Anm. 136), S. 30; Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 44 f. 230

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 402 – 404.

231

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 424 – 427.

232

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 423 f.

233

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 198.

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

511

Johann Heinrich Sallner zu Neuenhain234, Martin Sandlus zu Schloßborn235, Konrad Audretsch zu Fischbach236 und der Pater Mauritius bekamen sie für zwei Jahre. Die Pfarrer Johann Peter Walter zu Niedermörlen237, Leonard Kraus zu Oberwillstadt238, die Patres Maurus, Telesphorus und Arnulph OFMCap empfingen sie nur für ein Jahr. Die zur Prüfung nicht erschienenen Pfarrer Heinrich Gnau zu Ober-Erlenbach239, Bonifaz Lanziner zu Kransberg240, Johann Anton Franz Külsheimer zu Heldenbergen241, Georg Michael Grimm zu Obermörlen242, Johann Adam Rauffenbarth zu Pfaffenwißbach (Pfaffenwiesbach)243 und die abwesenden Patres Euphranius, Florus, Jucundianus und Zenobius OFMCap erhielten sie nur auf ein halbes Jahr244. Als kurz darauf der Vikar der Kapuziner in Königstein darum bat, den Pater Adjutus bis zum neuen Jahr zu approbieren, schlug das Vikariat die Bitte ab245. Auf die Ordenspriester hatten die Mainzer Erzbischöfe stets ein scharfes Auge. Bei der Ausstattung der Ordenspriester mit der Approbation machte der Erzbischof am 21. Dezember 1777 folgende Unterschiede. Die erste Gruppe (Kapuziner, Karmeliten, Dominikaner) erhielt sie für drei Jahre, die zweite Gruppe (Kapuziner, Karmeliten, Dominikaner) für zwei Jahre, die dritte Gruppe (Dominikaner und Karmeliten) für ein Jahr, die vierte Gruppe (Kapuziner, Dominikaner, Karmeliten) für sechs Monate. Der Mainzer Lektor der Karmeliten wurde angewiesen, drei Patres alle Tage zwei Stunden ein ganzes Jahr hindurch die Moraltheologie vorzulesen, alle Monate eine öffentliche Prüfung vor versammeltem Konvent mit ihnen vorzunehmen und alle Quartale über deren Fortschritt einen Bericht an das Vikariat zu erstatten. Diese Weisung war sehr anspruchsvoll. Ähnlich verfuhr der Erzbischof mit den Antonitern246 zu Höchst247. Einige erhielten die Ap-

234

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 195 f.

235

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 199 f.

236

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 188 f.

237

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 414 – 416.

238

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 419 – 421.

239

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 416 f.

240

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 47 f.

241

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 409 f.

242

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 418 f.

243

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 52.

244

DA Mainz 1/065, S. 742 – 743 (9. Dezember 1777).

245

DA Mainz 1/065, S. 770 (15. Dezember 1777).

246

Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender (1778), S. 61.

247

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 135 f.

512

Georg May

probation für drei Jahre, einer für ein Jahr und ein dritter für ein halbes Jahr248. Die unterschiedliche Behandlung erklärt sich aus dem verschiedenen Abschneiden bei dem Examen. Sie muss für die Patres demütigend gewesen sein. Die benachbarten Bistümer verfuhren bei der Gewährung der Approbation ähnlich wie die Erzdiözese Mainz. Im Bistum Worms befolgte man die gleiche Praxis wie in der Metropole. In der Erzdiözese Trier war die Regel, nach abgelegter Prüfung einem Pfarrer für drei Jahre249 und einem Kaplan für zwei Jahre die Approbation zu erteilen. Bei besonders gutem Abschneiden konnte sie für fünf Jahre gegeben werden250. In der Erzdiözese Köln scheint sie regelmäßig für vier Jahre gegeben worden zu sein251. Der Priester Schönauer war und blieb in der Kölner Erzdiözese inkardiniert, wollte aber in Holdingshausen252 im Siegischen an den Sonn- und Feiertagen für die wenigen Katholiken den Gottesdienst halten. Er benötige daher die cura pastoralis und die Approbation. Der Landdechant und Pfarrer Poetsch in Imgarteichen erhielt den Auftrag, mit ihm ein schriftliches Examen pro Cura et approbatione vorzunehmen und dem Protokoll ein Verzeichnis von dessen Büchern beizulegen253. Auch ihm blieb also die Ablegung der Prüfung nicht erspart. Die rechtsrheinischen Restteile jener Bistümer, die infolge der Neuzirkumskription von 1801 aufgehoben worden waren254, hielten an der Praxis fest, die sie zuvor beobachtet hatten. So geschah es im Vikariat Lampertheim255. Nicht jeder Geistliche fügte sich widerspruchslos dem Brauch. Der Pfarrer Johann Nepomuk Hoefelmann (1768 – 1841) zu Mauer256 (1802 – 1806) beschwerte sich, dass ihm die Approbation lediglich ad biennium erteilt worden 248

DA Mainz 1/065, S. 791 – 793 (29. Dezember 1777).

249

DA Würzburg Protocollum 1814, S. 1396 (10. Oktober 1814).

250

Thomas, Josef von Hommer (Anm. 21), S. 383.

251

DA Mainz 1/067, S. 856 (20. September 1779).

252

Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender (1778), S. 81; Realschematismus des Erzbistums Paderborn, S. 689. 253

DA Mainz 1/067, S. 976 – 977 (25. Oktober 1779).

254

Georg May, Das Recht des Gottesdienstes in der Diözese Mainz zur Zeit von Bischof Joseph Ludwig Colmar (1802 – 1818), 2 Bde. (= Kanonistische Studien und Texte, Bd. 36 und 37), Amsterdam 1987, I, S. 350 – 362. 255

Adam Groh, Das Vikariat Lampertheim. Ein Beitrag zu den kirchengeschichtlichen mittelrheinischen Wandlungen zur Zeit der Revolution und Säkularisation, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 6 (1954) S. 168 – 193. 256

Kurmainzischer Hof- und Staats-Kalender (1778). Der geistliche und weltliche Staat des Bisthums und Fürstenthums Worms (eigene Paginierung!) S. 31; Realschematismus der Erzdiöcese Freiburg (Anm. 12), S. 406 f.

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

513

sei. Der Geistliche Rat Paul Mittnacht257 entgegnete, dass es allein von der Entschließung des Generalvikariats abhänge, ob er für zwei oder drei Jahre approbiert werde, und dass ihm deswegen kein Unrecht geschehen sei258. Der Pfarrer Theodericus Römer zu Kirschhausen259 (1790 – 1810), der fast 80 Jahre alt war, bat um Erneuerung seiner Approbation „und vielleicht lezte (sic) Gnade“, sie ihm ad tempus subsistentiae zu erteilen; er sei schon 40 Jahre lang Pfarrer und Senior Capituli, und er habe sich immer in der Diözese so betragen, dass keine Klage gegen ihn laut geworden sei. Das Lampertheimer Vikariat verfügte lakonisch: „Expediatur ad tres annos“. Die Approbation ad tempus subsistentiae zu geben, sei dem Diözesanbrauch zuwider. Es sei keine Beschwerde, um die Erneuerung bitten zu müssen. Das Vikariat werde ihm nach Ablauf der drei Jahre, falls er noch die Kraft zur Seelsorge besitze, mit „Vergnügen“ die Approbation erneuern260. Die Erneuerung erwies sich als überflüssig, denn Römer starb am 7. Mai 1810. 2. Verlängerung a) Verlängerung mit Examen Da die Approbation auf Zeit, also befristet, gegeben wurde, musste sie vor Ablauf der Zeit verlängert werden261. Dabei kamen unterschiedliche Fristen in Frage. Dem Kaplan Hess in Werbach262 wurde die Approbation um drei Jahre verlängert263. Die Verlängerung setzte normalerweise das Bestehen des Examens voraus. Der Lehrer P. Ruffinus Ringelmann OFM in Mainz hatte übersehen, dass seine Approbation am 8. September 1778 ausgelaufen war. Er bat, sie bis zum nächsten Examen im November zu verlängern, da er in den Schulferien zu verreisen beabsichtigte. Das Vikariat gewährte die Bitte264. Wer im Examen zur Verlängerung der Approbation besonders gut abschnitt, erfuhr vom Vikariat Anerkennung. So wurden den Pfarrern Adam Berg zu Gladbach265 und 257

Adam Groh, Die kirchenrechtlichen Repräsentanten des Vikariates Lamperheim, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 7 (1955) 169 – 190. 258

DA Mainz 2/33, S. 365 (5. September 1804).

259

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 350 f.

260

DA Mainz 2/37, S. 465 – 466 (9. Dezember 1808).

261

DA Mainz 1/033, S. 296 (9. Oktober 1741).

262

Realschematismus der Erzdiöcese Freiburg (Anm. 12), S. 16.

263

DA Mainz 1/034, S. 251 (17. September 1742).

264

DA Mainz 1/066, S. 768 – 769 (14. September 1778).

265

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 310 f.

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Georg May

Joseph Breidenbach zu Braunweiler266 „belobende Conclusa“ zugesandt267. Der Prior der Karmeliten zu Kreuznach268, P. Aemilianus Deutsch, bat um Verlängerung der Approbation für P. Vitalis, der wegen Alters außerstande sei, nach Mainz zu reisen. Das Vikariat trug dem P. Ildephons Brendel OSB, Kuratus zu Planig269, auf, den P. Vitalis im kanonischen Recht und in der Moraltheologie zu prüfen und das Ergebnis zu berichten. Inzwischen könne der Pater im Beichthören bis auf weiteres fortfahren270. Der P. Ildephons Brendel nahm die Prüfung vor und befand den P. Vitalis für „würdig“, dass seine Approbation für drei Jahre verlängert werden könne. Das Vikariat tat dies271. Anfang der neunziger Jahre scheint sich eine gewisse Großzügigkeit bei der Verlängerung Bahn gebrochen zu haben. Am 14. Juli 1790 wurde dem Geistlichen Rat Christian Heimes erlaubt, den schon examinierten und approbierten Priestern „aus erheblichen Ursachen“ ihre Approbation „auf einige Zeit oder Monaten“ (sic) beim Anmelden zu prolongieren272. Als im Oktober 1790 das Examen Approbandorum ausfiel, verlängerte das Vikariat denen, deren Approbation erlösche, diese bis zum Examen im November273. b) Verlängerung ohne öffentliches Examen Am 7. September 1778 ordnete der Erzbischof an, dass die Approbation der Geistlichen Räte usque ad revocationem fortlaufen solle274. Das war eine großzügige Entscheidung, die freilich nur einem engbegrenzten Personenkreis zugute kam, der in engem Kontakt mit dem Diözesanoberhirten stand. Den Landdechanten wurde die Approbation ohne öffentliches Examen ad triennium verlängert275. Für dieses Amt276 wurden in der Regel besonders qualifizierte Pfarrer 266

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 483 f.

267

DA Mainz 1/066, S. 849 (19. Oktober 1778).

268

Handbuch des Bistums Trier (Anm. 12), S. 488 – 490.

269

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 177 f.; Ludwig Hellriegel, Benediktiner als Seelsorger im linksrheinischen Gebiet des ehemaligen Erzbistums Mainz vom Ende des 17. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Propstei Schwabenheim (= Beiträge zur Geschichte des alten Mönchtums und des Benediktinerordens, Heft 34), Münster/Westf. 1980, S. 152. 270

DA Mainz 1/072, S. 373 (22. März 1784).

271

DA Mainz 1/072, S. 521 (29. April 1784).

272

DA Mainz 1/078, S. 689.

273

DA Mainz 1/078, S. 1007 (20. September 1790).

274

DA Mainz 1/066, S. 684 (10. September 1778).

275

DA Mainz 1/066, S. 825 (12. Oktober 1778).

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

515

ausgewählt. Der Pfarrer Maximilian Würdtwein zu Flörsheim277 bat um Verlängerung seiner Approbation, die am zweiten Pfingsttag auslief. Das Vikariat beauftragte den Siegler, diese sogleich vorzunehmen und dies im nächsten Protokoll des Synodalexamens zu bemerken, „da dieser pfarrer Doctor Theologiae ist“278. Würdtwein war Assessor der theologischen Fakultät der Universität Mainz279. Dem Propst zu Sauer-Schwabenheim280, Paul Möller, wurde die Approbation lediglich um drei Jahre verlängert281. Der Pfarrer Mathias Scheid zu Harxheim282 hatte in dem letzten Approbationsexamen besser abgeschnitten als in dem vorhergehenden. Das Vikariat empfahl, ihm die Approbation um sechs Monate zu verlängern. Wenn er danach nicht besser bestehe, solle ihm die Kommende revoziert und er an seinen Weihetitel verwiesen werden283. Als der Kaplan Johann Adam Albach (Ahlbach) in Irmgarteichen um Verlängerung seiner Approbation bat, wurde sie um zwei Jahre pro hac vice ausgedehnt284. Dem Geistlichen Rat Konrad Ladrone wurde auf seine Bitte die Approbation um drei Jahre verlängert285. Der neu ernannte Pfarrer Hartmann zu Siegen286 bat um die Approbation für zwei Monate, bis er nach der österlichen Zeit wegen seiner „Commendierung“ auf diese Pfarrei die nötigen Unterlagen einreichen werde. Das Vikariat stimmte unter der Bedingung zu, „wann der Supplicant schon anderstwo approbiret gewesen“287. Man wollte also kein Risiko eingehen. Als der Dechant und Pfarrer Johann Poetsch zu Irmgarteichen288 die von Hartmann beantworteten Fragen vorlegte, ordnete das Vikariat die Ausfertigung der Approbation für drei Jahre an289. Hartmann hatte offenbar sein Wissen unter Beweis gestellt. Dem Pfarrer Mathias Franz Dampier zu Lorsch290 extendierte 276

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts II (Anm. 1), S. 285 – 291.

277

Handbuch des Bistums Limburg (Anm. 12), S. 173 f.

278

DA Mainz 1/067, S. 509 (20. Mai 1779).

279

Kurmainzischer Hof und Staats-Kalender (1778), S. 158.

280

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 179 – 181.

281

DA Mainz 1/067, S. 611 (21. Juni 1779).

282

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 108 f.

283

DA Mainz 1/067, S. 1031 (9. November 1779); S. 1070 (18. November 1779).

284

DA Mainz 1/073, S. 605 (6. Mai 1785).

285

DA Mainz 1/074, S. 365 (11. April 1786).

286

Realschematismus des Erzbistums Paderborn (Anm. 12), S. 685 f.

287

DA Mainz 1/074, S. 365 – 366 (11. April 1786).

288

Realschematismus des Erzbistums Paderborn (Anm. 12), S. 682 f.

289

DA Mainz 1/074, S. 543 (15. Mai 1786).

290

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 278 f.

516

Georg May

der Provikar (Valentin Heimes) die Approbation ebenfalls um drei Jahre291. Dem Vikar Adam Schard in Irmgarteichen292 wurde die Approbation zwar um ein Jahr verlängert, er jedoch wurde ad mentem Vicariatus pro futuro verbeschieden293. Das hieß wohl, dass er sich ordnungsgemäß der Prüfung zu stellen hatte. Den Mainzer Kapuzinern verlängerte das Vikariat „wegen dermaliger harten Winterszeit“ die Approbation bis zum Examen im März des folgenden Jahres294. Dem Pfarrer Mellitus Müller zu Schornsheim295, der wegen verschiedener Hindernisse die Verlängerung seiner Approbation erbat, gab das Vikariat die Verlängerung bis zum Examen im März des folgenden Jahres296. In der Erzdiözese Trier war man bei der Verlängerung der Approbation ohne Examen großzügiger297. Die erwähnte Praxis der Ausdehnung hielt sich in das neue Jahrhundert durch. Das Lampertheimer Vikariat gab am 20. November 1804 dem P. Marcellinus Rüdel, Professor der Moraltheologie an der Universität Heidelberg298, die Approbation für ein weiteres Triennium und ebenso (erneut) die Vollmacht, von den in der Diözese Worms reservierten Fällen, Häresie eingeschlossen, das peccatum complicis299 ausgenommen, zu absolvieren. Die Patres Theophistus Hertwig, Sigebert Haub, Primitivus Schenach, Tranquillinus Poeppen und Tolentinus Müller erhielten lediglich die Approbation für die folgenden drei Jahre, exceptis facultatibus300. Der Heidelberger Praeses Sodalitatis academicae und Lizentiat der Theologie P. Sans bekam die Erneuerung der Approbation für drei jahre und die facultates antea concessae301. Der Pfarrer Karl Balbiano zu Neunkirchen302 bat am 26. November 1804, seine Approbation bis zum Mai 1805 zu verlängern, da er bei der jetzigen „schlimmen Witterung“ den fünf Stunden von ihm entfernt wohnenden Landdechanten Johann Jakob Hemmer in Grombach303 nicht zum Examen aufsuchen könne. Das Lam-

291

DA Mainz 1/074, S. 386 (18. April 1786).

292

Realschematismus des Erzbistums Paderborn (Anm. 12), S. 682 f.

293

DA Mainz 1/074, S. 694 (12. Juni 1786).

294

DA Mainz 1/074, S. 1174 (13. November 1786).

295

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 138.

296

DA Mainz 1/076, S. 1476 (1. September 1788).

297

Thomas, Josef von Hommer (Anm. 21), S. 383.

298

Realschematismus der Erzdiöcese Freiburg (Anm. 12), S. 160 f.

299

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts IV (Anm. 1), S. 110 f.

300

DA Mainz 2/33, S. 487.

301

DA Mainz 2/33, S. 492 (20. November 1804).

302

Realschematismus der Erzdiöcese Freiburg (Anm. 12), S. 408 f.

303

Realschematismus der Erzdiöcese Freiburg (Anm. 12), S. 404 f.

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

517

pertheimer Vikariat war damit einverstanden304. Auch in dem 1805 errichteten Erzbistum Regensburg, zu dem die rechtsrheinischen Teile der ehemaligen Erzdiözese Mainz gehörten, hielt die mehrfach erwähnte Praxis an. Im Jahre 1812 sollten nach dem Willen des Erzbischofs Karl Theodor von Dalberg die Approbationen immer nur auf drei Jahre verlängert werden305. Doch scheint man etwas großzügiger bzw. nachsichtiger geworden zu sein. Dem Pater Leonard Blessinger OFMCap vom Bensheimer Konvent306 verlängerte das Aschaffenburger Vikariat die Approbation „ohne weiteres“ für drei Jahre, weil er „ein Jubilarius und ein alter Mann ist“307. Man nahm also auf Alter und Verdienst Rücksicht. VII. Beendigung der Approbation 1. Versagung Wer das Approbationsexamen nicht bestand, dem wurde die Approbation versagt. Wer keine Approbation besaß, war unfähig, in der Seelsorge Verwendung zu finden, weil er die notwendigsten Dienste eines Seelsorgers nicht erbringen konnte. Dem Kapuzinerpater Tobias wurde ex defectu scientiae am 24. März 1802 die Approbation abgeschlagen. Nach zwei Jahren bat sein Guardian in Mannheim308, Emanuel Hipp, ihn zu einem neuen Examen zuzulassen und, wenn tauglich befunden, zu approbieren. Der Geistliche Rat Paul Mittnacht in Lampertheim forderte Aufklärung, unter wessen Anleitung der Pater sich in der Moraltheologie befähigt habe und ob er, der Guardian, ihm das Zeugnis gründlicherer theologischer Kenntnisse ausstellen könne309. Der Guardian Martinianus Vigo berichtete, dass der P. Custos den P. Tobias Zipp seit zwei Jahren in der Moraltheologie unterrichtet habe und dass er jetzt approbiert werden könne. Der Pater Tobias hatte sich nun dem Heidelberger Landkapitelverweser und Synodalexaminator Pfarrer Joseph Send zu Walldorf310 zwecks

304

DA Mainz 2/33, S. 494 – 495.

305

DA Würzburg Protocollum 1812, S. 667 (24. März 1812).

306

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 259 – 262.

307

DA Würzburg Protocollum 1809, S. 1421 (Juli 1809).

308

Realschematismus der Erzdiöcese Freiburg (Anm. 12), S. 162 f.

309

DA Mainz 2/33, S. 133 (6. April 1804).

310

Realschematismus der Erzdiöcese Freiburg (Anm. 12), S. 168.

518

Georg May

Examen ad approbationem zu stellen311. Nach Einsendung des Prüfungsberichtes wurde er für ein Jahr approbiert312. 2. Erlöschen und Entzug Die Approbation ging verloren durch Verlust des Amtes, durch Ablauf der Zeit oder durch Widerruf. Ihr Entzug hatte schwerwiegende Folgen. Der Geistliche, welcher der Approbation verlustig gegangen war, hatte sich des Beichthörens und der Spendung anderer Sakramente zu enthalten313. Damit war er in seiner priesterlichen Identität aufs schwerste getroffen. Dem Geistlichen Imhof, der zu Lohr314 ohne Erlaubnis des Pfarrers Beicht hörte, wurde die Beichtjurisdiktion (approbation) entzogen315. Der Vikar Ludwig Schick zu Amöneburg316 wurde nach Mainz berufen, um examiniert zu werden. Falls er „pro Cura bestehet“, könne ihm eine Kaplansstelle angewiesen werden317. Da er aber die zum Beichthören erforderlichen Kenntnisse nicht besaß, wurde ihm die Approbation entzogen318. Der Pfarrer Mathias Scheid zu Harxheim319 wurde ex capite ignorantiae ein halbes Jahr aus der Seelsorge entfernt und während dieser Zeit an seinen Weihetitel verwiesen320. Das hieß, er sollte seinen Lebensunterhalt nicht mehr aus seinem Pfarrbenefizium, sondern von der aufgrund des Weihetitels zur Stellung der Subsistenz verpflichteten Person oder Institution321 erhalten. VIII. Schluss Die Praxis in der Erzdiözese Mainz, sich wenigstens alle drei Jahre zu einer Prüfung einfinden zu müssen, um zu beweisen, dass die Geistlichen über das für die gedeihliche Ausübung der Seelsorge erforderliche Wissen verfügen, war von der Absicht eingegeben, die Priester zu veranlassen, sich ständig auf der 311

DA Mainz 2/33, S. 206 – 207 (11. Mai 1804).

312

DA Mainz 2/33, S. 216 (25. Mai 1804).

313

DA Mainz 1/033, S. 101 (13. April 1741).

314

Realschematismus der Diöcese Würzburg (Anm. 12), S. 370 – 372.

315

DA Mainz 1/033, S. 61 (13. März 1741).

316

Real-Schematismus des Bistums Fulda (Anm. 12), S. 38 – 40.

317

DA Mainz 1/066, S. 531 (27. Juli 1778).

318

DA Mainz 1/066, S. 553 (10. August 1778).

319

Handbuch der Diözese Mainz (Anm. 12), S. 108 f.

320

DA Mainz 1/067, S. 380 (12. April 1779).

321

Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts I (Anm. 1), S. 63 – 80.

Das Approbationsexamen in der Erzdiözese Mainz im 18. Jahrhundert

519

Höhe der Kenntnisse und Fertigkeiten zu halten, die namentlich für die Verwaltung des Bußsakramentes und die Ausübung der Wortverkündigung unentbehrlich sind. Man wird zugeben, dass damit auf die Priester ein heilsamer Druck ausgeübt wurde, das Studium der heiligen Wissenschaften im Seelsorgeamt nicht aufzugeben oder zu vernachlässigen. Gleichzeitig wurden sie angehalten, sich die zur Auffrischung und Vertiefung des Wissens erforderlichen Bücher anzuschaffen (und zu studieren). Doch sind auch die Härten dieses Systems nicht zu übersehen. Zunächst ist zu fragen, wie viel Muße ein vielbeschäftigter Seelsorger aufbringen konnte, um Studien zu obliegen und die (oft dickleibigen) Werke der zeitgenössischen Autoren durchzuarbeiten. Sodann klagten viele ergraute Seelsorger über die Verpflichtung, nach Jahrzehnten unbescholtener Arbeit im Weinberg des Herrn sich immer noch dem Examen Approbandorum stellen zu müssen322. Unter den Desideranda für die Verbesserung der Kirchendisziplin, die von den Mainzer Landkapiteln für die geplante Diözesansynode eingereicht wurden, war daher der Wunsch, dass den Pfarrern, die in mehreren Examina bestanden hatten, die Approbation für immer oder bis zum Widerruf erteilt werde323. Das Mainzer Vikariat war für solche Empfindungen empfänglich. Bei seinen Überlegungen zu Verbesserungsvorschlägen wurde am 30. Dezember 1788 beschlossen, dass, wenn ein Seelsorger oder Priester sechsmal geprüft worden sei, allzeit gut bestanden habe und das Alter von 50 Jahren erreicht habe, ein ferneres Approbationsexamen „wohl überflüssig“ sei und das Amt des Seelsorgers „nur gehässig“ mache. Es sei „die höchste Zeit“, darüber nachzudenken, „alles Odiose“ vom Seelsorgeamt zu entfernen. „Leute von guter Erziehung und Talente werden sich sonst nicht mehr dazu verstehen, einen Stand anzutretten (sic), der so beschwerlich ist“324. Die Anregung stammte von dem Pfarrer und Fiskal Ernst Xaver Turin325. Doch sie kam in der Reichskirche nicht mehr zur Verwirklichung. Erst einer späteren Zeit war es beschieden, hier eine Änderung eintreten zu lassen326.

322

Georg Ludwig Carl Kopp, Die katholische Kirche im neunzehnten Jahrhunderte und die zeitgemäße Umgestaltung ihrer äußeren Verfassung mit besonderer Rücksicht auf die in dem ehemaligen Mainzer, später Regensburger Erzstifte hierin getroffenen Anstalten und Anordnungen, Mainz 1830, S. 153. 323

Kopp, Die katholische Kirche im neunzehnten Jahrhunderte (Anm. 322), S. 70.

324

DA Mainz 1/076, S. 1994.

325

Kopp, Die katholische Kirche im neunzehnten Jahrhunderte (Anm. 322); S. 152 A. 20.

326

Sägmüller, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts II (Anm. 1), S. 46; ders., Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts I, 4. Aufl., Freiburg i. Br. 1925 – 34, S. 356 – 358; Krause, Die Geschäftsverwaltung des katholischen Pfarramtes (Anm. 203), S. 119 f., 226.

Mittelalterliches Schulleben im Territorium des heutigen Südtirol Von Josef Gelmi Wenn an dieser Stelle das Südtiroler Schulleben im Mittelalter dargestellt wird, geht es um diese Institution im Territorium des heutigen Südtirol. Quellen und Literatur dazu sind eher dürftig. Zunächst werden das Erziehungswesen allgemein, die Elementarschulen und Domschulen im Mittelalter behandelt, dann beschäftigt sich die Arbeit kurz mit der mittelalterlichen Schulsituation in unserem Lande und schließlich mit der ältesten und wichtigsten Schule, nämlich mit der Domschule in Brixen. I. Erziehungswesen, Elementarschulen und Domschulen im abendländischen Mittelalter Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert übernahm die Kirche die Trägerschaft für Erziehung und Bildung. Die militärische Oberaufsicht hingegen ging auf die germanische Oberschicht über. Es entstand ein Nebeneinander von einer volkssprachlichen, schriftlosen Gesellschaft und einer von Geistlichen monopolisierten Schriftwelt, welche Literatur, Schule, Kanzlei und Liturgie prägte. Dies fand einen Niederschlag in den bis ins 12. Jahrhundert üblichen synonymen Sprachgebrauch von clerici und litterati bzw. laici und illitterati. Die Gruppe der illiterati umfasste alle weltlichen Stände, vom Bauern bis zum regierenden Hochadel. Der clericus war der prädestinierte Schulleiter, Kanzleibeamte und Gesandte, dessen Bildungsniveau auch den politischen Stil prägte. Das Kirchenrecht verbot dem ignorans litteras den Zugang zum Priesterberuf, wobei vor allem Lese- und Gesangskunst (bene legere et bene cantare) und nicht sosehr die Schreibfähigkeit gemeint war. Die Priesterweihe von rudes wurde für Spender und Empfänger unter Strafe gestellt. Im Unterschied zur Ausbildung der Kleriker beruhte die Adelserziehung nicht auf einem Lehrplan, sondern weithin auf altgermanischen Gewohnheiten. Die Wertnormen gipfelten in der Tüchtigkeit und Ehre. Analog zur Ausbildung bei den Zünften (Lehrling, Geselle, Meister) folgte beim Adel der kindlichen Elternphase (Eltern und Privatlehrer) die Lernzeit als Page, dann als Knappe an

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fremden Höfen. Schriftlose Erziehung galt nicht als Manko, sie bestätigte eher den Standesstolz. Weder Wolfram von Eschenbach noch Oswald von Wolkenstein dichteten am Schreibtisch. Die Abneigung des Adels gegen die „klerikale“ Bildung, besonders gegen das niedrige Schreibhandwerk, lässt sich bis in die frühe Neuzeit verfolgen. So leistete der Adel gegen akademische Examina heftigen Widerstand. Seit dem 12. Jahrhundert kam aber gerade in scholastischen Kreisen mit dem dictum „scientia nobilitat“ Kritik am illiteraten Adel auf. Man sagte, die Adeligen wären zu faul, ihre Kinder in die Schule zu schicken, während die Bauern dies täten, um reich zu werden. Es kursierte das geflügelte Wort „rex illiteratus quasi asinus coronatus“. Die seit den Karolingern eingetretene Schriftunkundigkeit der Könige und Kaiser hat bis um 1450 gedauert. Die Krise des spätmittelalterlichen Adels hat auch mit dem Mangel an Bildung zu tun. Trotz dieser lange andauernden illiteraten Laienkultur genossen Adelstöchter nicht selten neben Nonnen eine lateinische Ausbildung in Klöstern. Der Sachsenspiegel berichtet um 1270, dass Frauen Gebetbücher besaßen und bemerkt: „de vrouwen pleget to lesene“. Seit dem Aufkommen der Universitäten aber wurden Frauen aus der scholastischen Bildung faktisch ausgeschlossen. Für sie gab es weder Klerikerpfründen noch akademische Berufe. Dennoch wurde die hl. Katharina, also eine Frau, Patronin der Philosophen.1 Das Mittelalter hatte einen Elementarunterricht, der Lesen, Singen, Rechnen und Schreiben vermittelte. Wobei im Mittelalter nicht jeder, der lesen konnte, auch das Schreiben beherrschte. Durch die Elementarschulen wurden die Schüler auf die Artes liberales vorbereitet. Nachdem mit dem Verfall des Römischen Reiches und durch die Völkerwanderung der antike Elementarunterricht zusammengebrochen war, lebte er im Laufe des Mittelalters durch die Kloster-, Pfarr-, Dom-, Stifts- und Stadtschulen wieder auf. Dabei können wir eine Verlagerung des Schulwesens vom monastischen in den klerikalen und schließlich in den weltlichen Bereich feststellen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle im mittelalterlichen Schulwesen spielten auch Einzelpersonen wie z. B. Ortsgeistliche. Mit ungefähr sieben Jahren lernte der Schüler durch Hören und Nachsprechen zuerst einzelne Verse des Psalters oder einfache Gebete. Im Leseunterricht lernte er, vom Alphabet ausgehend, Buchstaben zu Silben zu verbinden (ba, be, bo, bu), sodann aus Silben Wörter und aus Wörtern Sätze zu bilden. Es gab auch eine enge Verbindung von Lesen und Singen. Auf der untersten Stufe

1 Laetia Boehm, Art. Erziehungs- und Bildungswesen, in: LexMA 3, 1986, Sp. 2196 – 2203; zur Admonitio generalis siehe auch Pierre Richè, Das Christentum im karolingischen Reich, in: Geschichte des Christentums, Bd. IV, Freiburg / Basel / Wien 1994, S. 750; zu Kirche und Bildung siehe auch Rudolf Schieffer (Hrsg.), Kirche und Bildung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2001.

Mittelalterliches Schulleben im Territorium des heutigen Südtirol

523

bediente man sich der Volkssprache. Es gab regelrechte Glossare bzw. Vokabulare. Beliebte Lehrbücher waren die Schriften der Grammatiker Donatus und Priscian. Schon von Anfang an sollte der Schüler auch im aktiven Gebrauch der lateinischen Sprache geübt werden. Im Rechnen lernte er die Zahlen und wohl einfache Additionen und Subtraktionen. Fingerrechnen blieb aber schon den Artes vorbehalten. Als Unterrichtsmittel dienten die liturgischen Bücher und die Alphabettafel. Das Schreiben erforderte im Mittelalter eine spezielle Ausbildung, die nicht jeder Lesekundige auf sich nahm.2 Die Domschulen dienten vor allem der Ausbildung des Klerus und gehen bereits auf die Spätantike zurück. Der Erlass Karls des Großen von 789 (Admonitio generalis) schrieb jedem Domstift und Kloster die Errichtung von Schulen vor, in denen Jugendliche Psalmen, Schriftzeichen, liturgische Gesänge und die Grammatik erlernen sollten. Als Vorbild galt die Hofschule in Aachen für die pueri palatini, die sich aus der Königsfamilie und dem Hochadel rekrutierten. Die Lehrer dieser Modellschule sind uns leider nicht bekannt, es begegnen uns aber am Hofe Karls des Großen bedeutende Persönlichkeiten, wie z.B. der aus England stammende Alkuin, der die Schule für einige Zeit leitete. Das Lehrsystem beruhte auf den von der Antike übernommenen Artes. Diese Musterschule prägte auch die karolingische Schrift sowie die karolingische Kunst. Die Domschulen, die allenthalben entstanden, bildeten die Führungsschicht des Reiches aus. Die karolingische Bestimmung geriet allerdings im Laufe des 10. Jahrhunderts in Vergessenheit. Deshalb hat Papst Gregor VII. (1073 – 1085) erneut jeder Domkirche die Errichtung einer Domschule vorgeschrieben. Die Leitung der Schule lag beim magister scholarum, dem Scholastikus, der ein Mitglied des Domkapitels war. Seine Befugnisse waren Einstellung und Entlassung von Lehrern, Aufnahme oder Ablehnung von Schülern, Aufstellung des Lehrplanes. Seit der Karolingerzeit dominierten an den Domschulen die Artes liberales im Dienste der Schriftexegese. Um falsche von richtigen Aussagen zu unterscheiden, sprengte seit dem 11. Jahrhundert die Logik das System der Artes und wurde nun die beherrschende Disziplin. Mit der Einführung von Quaestio und Disputatio entwickelte sich in den Domschulen die scholastische Methode. Vor allem die französischen Domschulen von Laon, Paris und Reims erreichten überragende Bedeutung, so dass Studenten aus Deutschland, Italien und England dorthin zogen. Natürlich war der Ruf einer Domschule von der Qualität der Lehrer abhängig. Chartres begann seinen Aufstieg z. B. durch Bischof Fulbert (1006 – 1028) und verfiel 1155 mit dem Weggang von Gilbert von Poitiers. Die Studien wurden erweitert und verlängert und schließlich boten die Domschulen eine zweistufige Ausbildung: Elementarunterricht und Artesstudium, anschließend sogar eine Spezialisierung in Theologie oder Kirchenrecht. 2

Erwin Rauner, Art. Elementarunterricht, in: LexMA 3, 1986, Sp. 1799 f.

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Aus diesen Domschulen entstanden im Laufe des 12. Jahrhunderts die Universitäten. Vom 13. Jahrhundert an boten die Domschulen aber nur mehr die erste Stufe für die Grundausbildung der Priester und verloren die höheren Studien an die Universitäten.3 Wie bereits dargelegt, boten die Domschulen meist einen Elementarunterricht und das Artesstudium. Das Artesstudium schloss an den Elementarunterricht an und bestand aus dem Trivium und dem Quadrivium. Der Dreiweg umfasste in der Regel Grammatik, Rhetorik und Dialektik. Im Vierweg wurden Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie gelehrt. Die freien Künste waren bereits von den Sophisten entwickelt und von den Römern übernommen worden. Auch die Christen bedienten sich dieser Ausbildung. Clemens von Alexandrien, Origenes, Gregor von Nyssa und Augustinus hatten keine Schwierigkeiten, diese weltliche Bildung mit dem Christentum zu vereinen. Die Völkerwanderung bedingte eine Barbarisierung und Ruralisierung der Gesellschaft. Mit dem politischen und sozialen Niedergang im 5. und 6. Jahrhundert zerfiel auch das antike Schulsystem und mit ihm zerfielen die Artes. Sie lebten wieder auf durch die Kirche und ihre Vertreter wie Boethius, Cassiodor und Isidor von Sevilla. Sie waren die Träger der Kontinuität, das Bindeglied zwischen Antike und Mittelalter. Im Rahmen der kulturellen Erneuerung unter Karl dem Großen wurden die Artes als geschlossenes Bildungsprogramm eingeführt. Sie wurden ihres Bildungswertes wegen hochgeschätzt, waren aber vor allem ein unerlässliches Werkzeug für das Studium der Bibel und der Kirchenväter. Im Lekturekanon der Artes scheinen die Autoren Vergil, Horaz, Juvenal, Boethius und Priscian auf. Schließlich bildeten die Lehrer und Schüler der Artes an den Universitäten des Mittelalters eine der vier Fakultäten. Die Artistenfakultät bot die Grundausbildung für das Studium an der theologischen, juristischen und medizinischen Fakultät.4 Da die Artistenfakultäten für das Universitätsstudium im Laufe des 14. Jahrhunderts eine unzulängliche Bildung boten, begannen Reformkreise sich der Schulbildung anzunehmen. In den Niederlanden begründeten die Brüder vom Gemeinsamen Leben unter dem Einfluss der Devotio moderna große Grammatikschulen. Eine der berühmtesten war jene in Deventer, die wahrscheinlich auch Nikolaus Cusanus besucht hat. In diesen Schulen wurde neben strikter Disziplin und strengen religiösen Übungen eine neue Pädagogik eingeführt, die u. a. eine Einteilung der Zöglinge nach Altersklassen beinhaltete. In Italien begann man nun mit dem verstärkten Studium der antiken Klassiker, der griechischen Sprache und der klassischen Rhetorik. Derartige Neuansätze, die im

3

Joachim Ehlers, Art. Domschulen, in: LexMA 3, 1986, Sp. 1226 – 1229.

4

Günter Bernt, Art. Artes liberales, in: LexMA 1, 1980, Sp. 1058 – 1061.

Mittelalterliches Schulleben im Territorium des heutigen Südtirol

525

Zeichen des Humanismus standen, waren Vorläufer der Gymnasien, der Eliteanstalten, welche das Erziehungswesen der europäischen Moderne prägten.5 II. Das mittelalterliche Schulwesen im südlichen Tirol Manche nehmen an, das Schulwesen in Tirol reiche in die Karolingerzeit zurück, da in einer Schenkungsurkunde für Innichen vom 17. Jänner 828 ein Magister Herimar als Zeuge auftritt, der entweder in Säben oder in Innichen selbst als Lehrer fungierte. Wie dem auch sei, sicher ist, dass um das Jahr 1000 in Brixen eine Schule bestand. Darüber wird weiter unten die Rede sein. Neben der Domschule in Brixen gab es im Mittelalter eine Reihe von Stiftschulen, welche zunächst die Aufgabe hatten, für den klerikalen Nachwuchs zu sorgen, später aber auch adelige Söhne ausbildeten. Erstmals eindeutig bezeugt sind Innichen um 1141, Neustift um 1142, Schnals um 1337 und Marienberg um 1350.6 Schon 1144 scheint in Innichen ein Scholasticus auf.7 Diese Stiftschulen wurden zunächst von Geistlichen geleitet, die gleichzeitig auch unterrichteten. Seit 1300 übernahmen auch Laien Leitung und Unterricht. So wurde die Klosterschule in Innichen 1317 dem dortigen Notar Heinrich von Anras übertragen, der verheiratet war und mehrere Kinder hatte. Um 1342 war neben dem „Altschulmeister“ auch ein „Junkschulmeister“ beschäftigt. Seit dem 14. Jahrhundert diente das so genannte Archivgebäude an der Nordseite der Stiftskirche, das älteste Gebäude der Marktgemeinde, als Schule.8 Um 1150 übergab Heinrich von Latzfons dem Kloster Neustift für Aufnahme und Ausbildung seines Sohnes Besitz in Lajen. Als der eigentliche Gründer der Klosterschule gilt Propst Konrad von Rodank. Er war vorher Domherr und Scholastikus an der Domschule in Brixen, trat in das Stift ein und wurde 1178 zum Propst gewählt. Er war der geeignete Mann für den Aufbau der Schule in Neustift. Manche vertreten die Meinung, Walther von der Vogelweide habe seine Ausbildung im Kloster Neustift bekommen.9 Im Mittelalter führte Marienberg nur eine bescheidene Schule. Unterrichtet wurden vor allem Latein und Musik. Der bedeutendste Schüler Marienbergs war der Chronist Goswin. In seiner Chronik des

5

Jacques Verger, Art. Schule, in: LexMA 7, 1995, Sp. 1582 – 1586.

6

Andreas Stoll, Geschichte der Lehrerbildung in Tirol von den Anfängen bis 1876 (= Studien zur Erziehungswissenschaft, Bd. 4), Weinheim / Berlin 1968, S. 19 f. 7

Anton Zingerle, Über Dom- und Stiftschulen Tirols im Mittelalter mit besonderer Berücksichtigung ihrer Lehrmittel, Innsbruck 1896, S. 7. 8 9

Ältestes Haus als Museum eingerichtet, Dolomiten v. 4. 11. 1982.

Theobald H. Innerhofer, 650 Jahre Erziehung und Unterricht, in: 850 Jahre Augustinerchorherrenstift Neustift, Brixen 1992, S. 154.

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Stiftes bezeichnet er sich selber „Goswinus scholaris“.10 Die Lehrer an diesen Schulen scheinen bei der Bevölkerung in hohem Ansehen gestanden zu sein. Im Laufe des Hochmittelalters entstanden neben den Stiftschulen auch Stadtund Pfarrschulen. Erstmals urkundlich belegt sind Stadtschulen 1237 in Bozen, 1295 in Meran, 1340 in Klausen, 1396 in Bruneck und 1415 in Sterzing. Sie hatten die Aufgabe, die Bedürfnisse der Handwerker und Kaufleute zu befriedigen. Im Mittelpunkt des Unterrichts stand aber immer noch die Vermittlung der lateinischen Sprache. Besondere Sorgfalt galt der Pflege des Gesanges und der Ausbildung der Messdiener. Die Aufsicht dieser Schulen lag in den Händen der Gemeinden und der Stadtpfarrer, die ihre Kompetenzen in Verträgen festlegten. So geschah es z. B. 1522 in Sterzing. Die Leitung der Stadtschulen wurde von den Behörden einem Schulmeister übertragen, dem bei größerer Schülerzahl ein „Junkmeister“ beigegeben wurde. Ihm oblag meist auch der Gesangsunterricht, weswegen er auch „Cantor“ genannt wurde. In Bozen mussten Schulmeister und „Junkmeister“ dem Pfarrer und der Gemeinde Gehorsam leisten. Der Schulmeister hatte in größeren Orten auch die Pflicht, so genannte „große Gesellen“ einzustellen, die ihm beim Unterricht helfen mussten. In vielen Städten des Landes bestanden im Spätmittelalter auch Lateinschulen. Von den Leitern dieser Schulen wurde meist eine höhere Ausbildung gefordert. Nicht selten waren ihre Schulmeister Absolventen der Artistenfakultät. In Dörfern und Märkten gab es die so genannten Pfarrschulen. Urkundlich bezeugt sind solche Schulen 1321 in Kaltern, 1381 in Tramin, 1406 in Schluderns, 1413 in Toblach, 1516 in St. Pauls/Eppan. In diesen Pfarrschulen pflegte man neben der lateinischen Sprache auch den Gesang. Die Schulen hatten die Aufgabe, Sänger und Ministranten für den Gottesdienst auszubilden. Sie bereiteten auch die Knaben auf den Besuch von Dom- und Klosterschulen vor. Ursprünglich erteilten die Pfarrer selbst Unterricht an den Pfarrschulen. Später übernahmen diesen Unterricht auch Laien, die entsprechend bezahlt werden mussten. Da die Lateinschulen (Pfarrschulen) den Bedürfnissen des aufstrebenden Bürgertums nicht mehr entsprachen, entstanden so genannte deutsche Schulen, wo man Deutsch lesen und schreiben lernte. In Innichen wurden die Schüler der Lateinschule „scolares latini“ und jene der deutschen Schule „scolares germanici“ genannt. Zunächst wurden diese Schulen von Privaten geführt, später nahmen die Gemeindebehörden sich ihrer an. Während die deutschen Schulen sich in den Städten meist unabhängig von den Lateinschulen entwickelten, gingen sie auf dem Lande aus den Pfarrschulen hervor.11

10

Martin Angerer, Das Kloster und seine Schule, in: Kloster Marienberg, Bozen 1990, S. 21. 11

Stoll, Geschichte der Lehrerbildung (Anm. 6), S. 21 – 26.

Mittelalterliches Schulleben im Territorium des heutigen Südtirol

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Auch in unserem Lande wurde in den Lateinschulen nach dem Trivium vorgegangen (Grammatik, Rhetorik, Dialektik). Man bediente sich der Schriften des Grammatikers Aelius Donatus aus dem 4. Jahrhundert. Die höheren grammatikalischen Kenntnisse bezog man von dem im 6. Jahrhundert lebenden Priscian. Donatusfragmente (Buchdeckel) aus Brixen und Neustift werden noch in der Universitätsbibliothek in Innsbruck aufbewahrt. Eine Pergamenthandschrift des Priscian aus dem 14. Jahrhundert befindet sich in der Bibliothek des Priesterseminars in Brixen. Weiters haben sich Glossare bzw. Vocabulare erhalten. Bekannt ist das Schnalser Vocabular. Wir kennen nicht nur grammatikalisches und lexikographisches Unterrichtsmaterial, sondern auch die Autoren, die man in unseren Schulen benützt hat. Neben den schon erwähnten Grammatiken des Donatus und Priscian scheinen u. a. Vergil, Ovid, Juvenal, Boethius, Isidor von Sevilla und Origines auf. Das Werk von Boethius „De Consolatione philosophiae“ z. B. wurde in Schnals benützt. Der aufkommende Humanismus fand sehr rasch auch in den Schulen unseres Landes Eingang. In Bücherkatalogen der Stifte Marienberg und Neustift begegnen uns beispielsweise u. a. die Schriften des Enea Silvio Piccolomini, des späteren Papstes Pius II. (1458 – 1484).12 III. Die Domschule in Brixen Da die Aachener Synode von 789 die Errichtung von Schulen an den bischöflichen Kathedralen und Abteien vorschrieb,13 glaubte der Historiker Joseph Resch,14 dass schon die Bischöfe von Säben dieser Forderung nachgekommen wären und auf dem Felsenhügel eine Schule errichtet hätten. Diese Annahme lässt sich aber durch kein Dokument belegen.15 Die erste urkundliche Spur einer geistlichen Schule findet sich unter Bischof Albuin (975 – 1006?),16 als ein ge-

12

Zingerle, Über Dom- und Stiftschulen Tirols (Anm. 7), S. 20 f.

13

Die Aachener Synode forderte von jedem Bischof die Errichtung einer Schule. Diese Vorschrift wurde Bestandteil der Admonitio generalis, Ehlers, Art. Domschulen, in: LexMA 3, 1986, Sp. 1227. Das Rundschreiben von 794 Epistola de litteris colendis machte den Bischofskirchen und Abteien die Einrichtung von Schulen zur Pflicht, Eugen Ewig, Das Zeitalter Karls des Großen (768 – 814), in: Hubert Jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. III, Freiburg / Basel / Wien 1966, S. 99 f. 14

Zu Resch siehe Josef Gelmi, Geschichte der Kirche in Tirol, Innsbruck / Wien / Bozen 2001, S. 23, 25, 213, 215 f., 265, 291, 532. 15

Leo Santifaller, Das Brixner Domkapitel in seiner persönlichen Zusammensetzung im Mittelalter, Schlern-Schriften 7, Innsbruck 1924, S. 102. 16 Zu Bischof Albuin siehe Giuseppe Albertoni, Die Herrschaft des Bischofs (= Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs, Bd. 14), Bozen 2003, S. 91 – 96; Josef

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wisser Ragici von seinem Eigenbesitz zwei Huben, die zum Schloss Stein im Jauntal gehörten, dem Bischof für die wahrscheinlich sechs Jahre dauernde Verpflegung seines Sohnes, eines jungen „Clericellus“ und dessen Dieners, übergab.17 Aus dieser Notiz lässt sich entnehmen, dass sich dieser junge Kleriker in Brixen zur Erziehung aufhielt,18 mehr aber auch nicht. Die Erwähnung eines „scolarum magister Pezilinus“ in zwei Traditionen von 1022 – 1039 ist der erste eindeutige Beweis für die Existenz einer Domschule in Brixen.19 Die Leitung der Domschule lag in den Händen des Scholastikus, ein Amt, das schon die Aachener Regel von 816 vorsah.20 In Brixen wurde der Leiter zunächst „magister scolarum“, ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auch „Scholastikus“ und später in deutschen Urkunden auch „Schuelmaister“ genannt. Von den ältesten 23 Leitern der Domschule stammten nur fünf aus der Diözese.21 Dies mag wohl damit zusammenhängen, dass im Jahre 1370 keiner der 13 Domherren in Brixen seinen Namen schreiben konnte und 1417 es von 11 Kanonikern nur zwei waren, die schreiben konnten.22 Der Scholastikus musste zunächst selbst unterrichten, später hatte er für die Einstellung geeigneter Hilfskräfte zu sorgen. Die Kapitelstatuten von 1422 und 1485 teilten ihm auch das Amt eines Kantors

Gelmi, Die Brixner Bischöfe in der Geschichte Tirols, Bozen 1984, S. 40 – 42; Anselm Sparber, Die Brixner Fürstbischöfe im Mittelalter, Bozen 1968, S. 41 f. 17

Otto Redlich (Hrsg.), Die Traditionsbücher des Stiftes Brixen vom zehnten bis in das 14. Jahrhundert, (= Acta Tirolensia, Urkundliche Quellen zur Geschichte Tirols, Bd. 1), Innsbruck 1886, S. 15 f. 18

Albertoni, Die Herrschaft (Anm. 16), S. 123; Santifaller, Das Brixner Domkapitel (Anm. 15), S. 102. 19

Redlich (Hrsg.), Die Traditionsbücher (Anm. 17), S. 28 f.; J. Riedmann, Mittelalter, in: Geschichte des Landes Tirol, Bd. 1, Von den Anfängen bis 1490. Hrsg. v. J. Fontana, Bozen / Innsbruck / Wien, 21990, S. 321. 20

Santifaller, Das Brixner Domkapitel (Anm. 15), S. 103.

21

Von den 23 Scholastikern, die uns zwischen 1022/1039 und 1495/1506 bekannt sind, kamen fünf aus der Diözese Brixen, drei aus der Diözese Trient, acht aus verschiedenen Diözesen Deutschlands und andere sind unbekannter Herkunft, Santifaller, Das Brixner Domkapitel (Anm. 15), S. 103 f.; Ludwig Tavernier, Das Domstift Brixen, in: Hannes Obermair / Klaus Brandstätter / Emanuele Curzel (Hrsg.), Dom- und Kollegiatstifte in der Region Tirol – Südtirol – Trentino in Mittelalter und Neuzeit, SchlernSchriften 329, Innsbruck 2006, S. 114 f. 22

Santifaller, Das Brixner Domkapitel (Anm. 15), S. 103 – 110.

Mittelalterliches Schulleben im Territorium des heutigen Südtirol

529

im Chor zu, er hatte weiters die Weihekandidaten zu prüfen und konnte einen Stellvertreter als rector scolarum ein- und absetzen.23 Als die Anzahl der Schüler im Laufe der Zeit anstieg und nicht nur mehr adelige, sondern auch bürgerliche und andere Jugendliche die Domschule besuchten, mussten ein Junkmeister (succentor) und zwei Lokaten (locatus maior und minor), die alle dem Scholastikus unterstellt waren, eingestellt werden. Die Bezahlung des Schulmeisters setzte sich zusammen aus Präsenz- und Schulgeldern sowie aus Pfründen.24 Der Unterricht verlief in Brixen wie in anderen Domschulen auch und betraf die so genannten freien Künste. Ob alle sieben Disziplinen, nämlich Grammatik, Dialektik, Rhetorik sowie Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik gelehrt wurden, ist nicht erwiesen. Sicher aber ist, dass Lesen und Schreiben lateinischer Texte sowie Musik zum Lehrprogramm gehörten und dass dies vor allem an Psalmen täglich geübt wurde. Eine besondere Sorgfalt verwendete man für den Gesang und für das Studium der lateinischen Sprache.25 Der Historiker Johannes Roßbichler26 kannte noch ein heute verschollenes Schulbuch aus dem 12. oder 13. Jahrhundert, das in Brixen benützt wurde und in dem sich nur die Lehrer zurechtfinden konnten. Ein besseres Lehrbuch erstellte der Domscholastikus Konrad Wenger gegen Ende des 15. Jahrhunderts.27 Anton Zingerle führte noch eine Handschrift des Priscian aus dem 14. Jahrhundert und eine Handschrift aus dem 15. Jahrhundert aus der Bibliothek des Brixner Priesterseminars an, die wahrscheinlich auch als Schulbücher der Domschule gedient haben.28 Der bedeutendste Schulmeister und Musiklehrer an der Brixner Domschule war um 1500 der aus dem Etschland stammende Peter Treibenraiff. Nach seinen Studien in Wien hielt er sich in Ingolstadt auf, wo er Freund von Conrad Celtis wurde. Nachdem er in Padua das Doktorat erworben hatte, kehrte er 1503 wieder nach Brixen zurück, wo die Domschule das Bildungszentrum war.29

23

Hartmann Ammann, Geschichte des k. k. Gymnasiums zu Brixen a. E., Brixen 1901, S. 6, 15. 24 Santifaller, Das Brixner Domkapitel (Anm. 15), S. 105; Ammann, Geschichte (Anm. 23), S. 8. 25

Ammann, Geschichte (Anm. 23), S. 9. Siehe auch Ludwig Tavernier, Der Dombezirk von Brixen im Mittelalter, Schlern-Schriften 294, Innsbruck 1996, S. 144 f. 26

Zu Roßbichler siehe Gelmi, Geschichte der Kirche in Tirol (Anm. 14), S. 216, 255.

27

Ammann, Geschichte (Anm. 23), S. 9.

28

Zingerle, Über Dom- und Stiftschulen (Anm. 7), S. 10, 14.

29

Zu Wenger siehe Josef Gelmi, Geschichte der Stadt Brixen, Brixen 2000, S. 98.

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Josef Gelmi

Den Ablauf des Unterrichts erfahren wir aus dem Lehrplan des Scholastikus Adam Arz,30 der 1579 vorgelegt wurde. Darin heißt es: „A quinta hora usque ad septimam debent a magistro scolae in prima classe praelegi grammatica et syntaxis Lupuli, in secunda classe Donatus et Cato ... Maiores locati lectiones probantur ut etiam vocabula. Ab octava usque ad nonam debet magister scolae una cum minore locato laborare cum nobilibus et ceteris pueris, qui non ingrediuntur chorum. A prandio a duodecima hora usque ad primam, ut pueri a cantore exerceantur in cantu. A prima usque ad secundam ut praelegantur maiores epistolae Ciceronis et exerceantur in compositionibus epistolarum sicuti summus scolasticus modum praescripsit ... Dominicis vero diebus et in festis chori et fori a duodecima unsque ad primam horam interpretetur Evangelium“.31 Danach gab es also zwei Klassen, die von den Locati geführt wurden. Der genannte Lehrplan sah folgende Regelung für die Ferien vor: „In festis videlicet Natalia Domini, Paschae, Pentecostes solummodo per tres dies vacant a lectionibus; in diebus vero canicularibus et vindemiis per octo tantum dies“.32 Die Quellen berichten auch über die Domschüler. Schon zwischen 1110 und 1122 wird ein Schüler namens Guoto genannt, der für den geistlichen Stand bestimmt war. Ihn übergab der Domherr Pancratius dem Bischof Hugo (1100 – 1125).33 Die Schüler nahmen eine Mittelstellung zwischen den Geistlichen und den Laien ein.34 Auch in der Beräucherungsordnung rangierten sie vor den Laien.35 Schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts waren die Pennäler in Choralisten, Präbendisten und externen Schülern eingeteilt. Die Choralisten versahen den Dienst im Domchor und erhielten dafür volle Verpflegung. Die Präben30

Zu Arz siehe Gelmi, Geschichte der Kirche (Anm. 14), S. 171, 213.

31

Ammann, Geschichte (Anm. 23), S. 10; Karl Wolfsgruber, Das Brixner Domkapitel in seiner persönlichen Zusammensetzung in der Neuzeit 1500 – 1803 (= Schlern-Schriften, Bd. 80), Innsbruck 1951, S. 81. Die Schüler wurden auf ihrem Weg zur Schule durch Bilder in der 11. Arkade im Kreuzgang, die Cicero und Boethius darstellten, auf den Unterricht eingestimmt, Karl Wolfsgruber, Dom und Kreuzgang von Brixen, Bozen 1988, S. 42. 32

Ammann, Geschichte (Anm. 23), S. 11.

33

Redlich (Hrsg.), Die Traditionsbücher (Anm. 17), S. 149 f.; zu Bischof Hugo siehe Albertoni, Die Herrschaft (Anm. 16), S. 45 f.; Gelmi, Die Brixner Bischöfe (Anm. 16), S. 51 f.; Sparber, Die Brixner Fürstbischöfe (Anm. 16), S. 53 – 55. 34 35

Ammann, Geschichte (Anm. 23), S. 6.

Cristian Feichter, Directorium seu Rubricae pro utilitate chori ac aeditui Ecclesiae Brixinensis 1559, fol. 102, Diözesanarchiv Brixen, Domkapitelarchiv, Kodices; zu Cristian Feichter siehe A. Hofmeister-Winter (Hrsg.), Die Schriften des Brixner Dommesners Veit Feichter (ca. 1510 – 1560), Bd. 1, Das Brixner Dommesnerbuch, Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe Bd. 63, Innsbruck 2001, S. 17.

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531

disten wurden zu einem reduzierten Chordienst herangezogen und wurden teilweise in der Schule verköstigt. Die externen Schüler wohnten in der Stadt und mussten für ihre Verpflegung selbst sorgen. Gerade arme Schüler wurden vielfach in der Schule verköstigt, während die begüterten, die zur Klasse der Externen gehörten, leicht für sich selbst aufkommen konnten. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts zählte die Domschule rund 70 Schüler und zwar 8 Choralisten, 30 bis 36 Präbendisten und 20 bis 30 Externe. Interessant ist, dass 1572 dem Scholastikus verboten wurde, ohne Zustimmung des Domkapitels italienische Schüler aufzunehmen.36 Gelegentlich verrichteten die Schüler auch nicht offizielle Dienste. So reinigten sie z. B. für den Dommesner die Johanneskapelle. Auch für Disziplin wurde gesorgt. Im Mesnerbuch heißt es: „Willst Du pay den Schuelern im Reffent bleyben, so nim ain guette Gaysl zu Dier, dan Du wirst ir noturfftig sein, wilst Du Rue haben“.37 Zu Ausschreitungen scheint es vor allem in den Weihnachtstagen gekommen zu sein. Im Jahre 1442 sah sich Bischof Georg von Stubai (1437 – 1443)38 gezwungen, den Brauch abzustellen, alljährlich unter den Chorknaben einen Schülerbischof zu wählen, der dann in der Weihnachtszeit das Hausregiment führte.39 Die Kleidung der Domschüler ähnelte jener der Domherren. Sie trugen einen Talar aus bräunlichem und später aus schwarzem Tuch, der rot eingefasst war. Im Chor hatten sie über der Kutte einen weißen Chorrock ohne Spitzen. Im Winter trugen sie über dem Chorrock einen grauen Chorpelz, der Almutium genannt wurde.40 Obschon sich die Domschule um den Unterricht der Priesterkandidaten einsetzte, war deren Ausbildung im Spätmittelalter weithin ungenügend. Die meisten von ihnen hatten nicht mehr als bescheidene Kenntnisse der lateinischen Sprache, der Theologie und Liturgie.41 Die Brixner Domschule befand sich im Domherrenhof. Nach der Aufgabe des gemeinsamen Lebens durch den Domklerus wurde das Gebäude im Osten vor allem für Verwaltungszwecke benützt. Im südlichen Trakt war wohl die

36

Ammann, Geschichte (Anm. 23), S. 7 f.; Wolfsgruber, Das Brixner Domkapitel (Anm. 31), S. 38. 37

Feichter, Directorium (Anm. 35), fol. 30.

38

Zu Georg von Stubai siehe Gelmi, Die Brixner Bischöfe (Anm. 16), S. 97; Sparber, Die Brixner Fürstbischöfe (Anm. 16), S. 134 – 137. 39

Franz A. Sinnacher, Beyträge zur Geschichte der bischöflichen Kirche von Säben und Brixen in Tyrol, Bd. VI, Brixen 1828, S. 261 – 264. 40

Adolf Pertramer, Die Domschule in Brixen, in: Der Schlern 26 (1952), S. 233 –

236. 41

A. Trenkwalder, Der Seelsorgeklerus der Diözese Brixen im Spätmittelalter, Brixen 2000, S. 55 f.

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Domschule untergebracht.42 Nach der Mitte des 15. Jahrhunderts wurden im Domherrenhof große Umbauten vorgenommen. Im Ostflügel schuf man im Erdgeschoß gewölbte Räume für den Weinkeller und Kornspeicher des Domkapitels. Auch der Südflügel bekam damals schöne Gewölberäume und zwar im Erdgeschoß für die Domschule43 und im ersten Obergeschoß für einen neuen Kapitelsaal und einen Bibliotheksaal, die mit Fresken geschmückt wurden. Diese Räumlichkeiten haben sich bis heute erhalten.44 Abschließend lässt sich sagen, dass sich aus den berühmten Domschulen die Universitäten entwickelt haben, die wohl die schönste Frucht des Mittelalters sind. Wenn sich die Schulen unseres Landes auch nicht mit den berühmten Dom- und Stiftschulen in Frankreich messen konnten, so stand das Bildungswesen bei uns anderen Ländern kaum nach. Aus der Brixner Domschule entwickelten sich später das berühmte Brixner Gymnasium und schließlich auch das Priesterseminar und die heutige Philosophisch-Theologische Hochschule.45 Im Geiste der alten Domschule hat Bischof Vinzenz Gasser (1856 – 1879)46 1872 das Knabenseminar Vinzentinum errichtet. Wenn die Stadt Brixen seit 1997 auch eine Fakultät für Bildungswissenschaften besitzt, so dankt sie das auch ihrer langen Schultradition, die vor 1000 Jahren mit der Domschule begonnen hat.

42

Die erste Nachricht, die über den Standort der Domschule Auskunft gibt, stammt erst aus dem Jahre 1601, Tavernier, Der Dombezirk (Anm. 25), S. 145; siehe dazu auch Pertramer, Die Domschule (Anm. 40), S. 234. 43

Der heute noch als Domschule bezeichnete Raum trägt die Jahreszahl 1447, Pertramer, Die Domschule (Anm. 40), S. 234. 44

Wolfsgruber, Dom und Kreuzgang (Anm. 31), S. 53.

45

Johannes Messner, Von der Domschule zur Phil.-Theol. Hochschule, in: Der Schlern 75 (2001), S. 471 – 495. 46

Zu Vinzenz Gasser siehe Gelmi, Die Brixner Bischöfe (Anm. 16), S. 233 – 243; zum Vinzentinum siehe 100 Jahre Vinzentinum, in: Der Schlern 47 (1973); P. Rainer, Vinzentinum in Tirol, in: Der Schlern 75, (2001), S. 496 – 520.

V. Kirchenrecht

Zur Förderung der Würde und Rechte der Frau in der südtogolesischen Kirche1 Theologisch-kirchenrechtliche Erwägungen Von Ahlonko Kouassi Augustin Kuoanvih I. Einführung Eine der Aufgaben und Herausforderungen für die Kirche Jesu in dem Verkündigungsdienst der Frohbotschaft in dieser Welt ist die Bemühung um die Förderung der Menschenrechte und -würde überall, wo diese gefährdet sind. In der Treue zu diesem Auftrag hat die afrikanische Synode in Rom im Jahr 1994 die Notwendigkeit und die Dringlichkeit der Förderung der Rechte und Würde der Frauen als eines der aktuellen und dringlichen Probleme bezeichnet, für welche die Kirche in Afrika eine schnelle Lösung finden müsste. Traditionen, kulturelle Gebräuche, Sitten, religiöse, politische und gesellschaftliche Wertvorstellungen, z. T. institutionalisiert, tragen wesentlich zur Unterdrückung und Entrechtung der Frauen auch im heutigen Afrika bei. Diese Situation ist auch bei uns in Südtogo gegeben.

1

Dieser Beitrag ist ein Abschnitt aus meiner Dissertation, die im Jahre 2004 von der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck angenommen wurde und sieben Teile umfasst. Dieser Beitrag enthält 5 Teile: Nach einer Einführung und einer kurzen Vorstellung des Landes Togo habe ich im dritten Teil der Arbeit einige Sitten, Traditionen und Bräuche beschrieben, welche die Unterdrückung der Frauen verstärken und die Herabsetzung ihrer Würde bewirken. Beschrieben wird diesem Beitrag allerdings nur die Wiedereingliederung bei Ehebruch. Der vierte Teil gibt uns die Kirchenrechtlichen Grundlagen zur Förderung der Würde und der Stellung der Frau in der Kirche. Im letzten Teil der Arbeit habe ich versucht, einige Maßnahmen zur ganz konkreten Verbesserung der Lage, Rechte und Würde der Frauen in der Gesellschaft und Kirche zu finden. Der Kirche in Südtogo obliegt in dieser Hinsicht eine große Verantwortung. Es bestehen durchaus Möglichkeiten, die oft triste Lage der Frauen zu verändern und ihr Selbstbild zu verbessern. Das ist das eigentliche Ziel meiner Dissertation, welches ich zu erreichen versuchte.

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Dies widerspricht der Botschaft des Evangeliums, nach dem Jesus Christus in die Welt gekommen sei, um alle Menschen (Männer und Frauen) zu retten und von allen Formen der Sklaverei zu befreien. Die Heilige Schrift zeigt uns, dass Gott auf der Seite der armen, leidenden und unterdrückten Menschen steht. In Jesus Christus wird dies deutlich: Durch seine Worte und Taten befreit er die Menschen von Leid, Not, Unterdrückung und aller Sklaverei; er tröstet, heilt und ermöglicht Leben. Christen sind dazu berufen, ihm nachzufolgen und sich einzusetzen für die Menschen, die auf der Schattenseite des Lebens stehen und deren Lebenschancen beeinträchtigt sind. In diesem Sinne wird die Kirche immer dort stehen müssen, wo Menschenrechte, Würde und Pflichten zu unterstützen sind. Ist nicht das höchste Gesetz der Kirche die „Salus animarum“2, das Heil der Menschen? Welche Rechte, welche Würde und welche Stellung haben die Frauen in der Weltkirche, welche in der Kirche in Südtogo? Welchen Rechtsstatus haben sie überhaupt im neuen Codex Iuris Canonici? Was soll die Kirche in Togo tun, um die Frauenrechte und ihre Würde zu garantieren und zu bewahren? Ist auf kirchenrechtlicher Grundlage eine Förderung und Ermöglichung einer aktiven Rolle und Stellung der Frau innerhalb der Kirche in Südtogo überhaupt möglich? Das sind die Fragen, die dieser Beitrag nur ansatzweise zu beantworten versucht. II. Vorstellung des Staates Togo Togo ist ein kleines Land in Westafrika, das im Norden an Burkina-Faso, im Westen an Ghana, im Osten an Benin und im Süden an den Golf von Guinea grenzt. Togo hat 56.785 km2. Ungefähr 5.019.000 Einwohner bevölkern es (2000). Die togolesische Bevölkerung ist im Durchschnitt sehr jung und lebt zu 60% auf dem Lande. In diesem Land leben über 40 verschiedene Stämme; die größten von ihnen sind die Adja-Ewé, die Para-Gourma, die Kabyè-Ten, die Guin oder Mina. In Togo gibt es verschiedene Sprachen und Dialekte; die erste Amtssprache ist Französisch, das überall gesprochen wird. Ferner sind noch Ewe und Kabyè offizielle Sprachen mit regionalem Schwerpunkt. Die soziale, wirtschaftliche und politische Lage ist nicht angenehm. Die meisten Einwohner leben in Armut, weil ihre Felder wenig ertragreich und von den Launen der Natur abhängig sind. Togo ist in fünf Verwaltungs- und Wirtschaftsgebiete gegliedert: Küstengebiet, Plateaugebiet, Zentralgebiet, Savannengebiet und Karagebiet. Der Süden Togos, der uns in dieser Arbeit interessieren wird, vereinigt einen Teil des Plateaugebietes und das ganze Küstengebiet. Er umfasst zwölf Präfek2

S .I .D .C .L .R.C., Code de Droit canonique. Texte officiel et traduction française, Paris 1984, c. 1752, S. 301.

Würde und Rechte der Frau in der südtogolesischen Kirche

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turen, und dort finden sich folgende Städte: Notsè, Kpalimé, Tsévié, Kévé, Tabligbo, Vogan, Aneho und Lomé. Dieses Gebiet enthält drei der sieben Diözesen Togos und ist im Besitz der Stämme Ewé, Adja-Ewé, Ouatchi, GuinMina und Fons, die, was die Rechte der Frauen betrifft, fast alle die gleichen Traditionen, Bräuche und Sitten haben3. Seltener sind jene Traditionen und Sitten, die wir jetzt vorstellen wollen. III. Verletzung der Frauenrechte und -würde durch einige Traditionen und Sitten Wie fast alle Völker in Afrika besitzt die Bevölkerung im Süden Togos ein kulturelles Vermögen, das viel Reichtum und Werte beinhaltet, die für den Glauben wertvoll sind und an welche die christliche Botschaft anknüpfen kann. Togo besitzt eine Vielfalt von traditionellen und kulturellen Werten und unschätzbaren menschlichen Qualitäten, die sie den Kirchen und der ganzen Menschheit anbieten kann. Diese sind ganz gewiss eine willkommene Vorbereitung auf die Weitergabe des Evangeliums. Die Bevölkerung in Südtogo ist tief religiös. Die afrikanischen Kulturen und Traditionen besitzen einen scharfen Sinn für Solidarität und Gemeinschaftsleben usw. Sie sind ein guter Boden für das Evangelium. Die Menschen haben hier einen Sinn für das Heilige; sie glauben an die Existenz des Schöpfergottes und auch an eine spirituelle Welt. Die Realität der Sünde in ihren individuellen und sozialen Formen ist dem Bewusstsein der Menschen in Südtogo sehr gegenwärtig. Wichtig sind für die Menschen hier deshalb auch Reinigungs- und Sühneriten. Die Familie spielt in der südtogolesischen Kultur und Tradition eine wesentliche und grundlegende Rolle wie überall in Afrika. Da der Mensch in Südtogo offen ist für die Bedeutung der Familie, für die Liebe und Achtung des Lebens, liebt er die Kinder, die hier voll Freude als Gottesgeschenk empfangen werden. Die Menschen in Südtogo lieben und schätzen das Leben sehr. Der Mensch wird deshalb „Agbeto“, das heißt übersetzt „der Besitzer des Lebens“ genannt. Diese Liebe zum Leben lässt die Menschen in Südtogo gerade der Verehrung der Ahnen und Vorfahren äußerst große Bedeutung beimessen. Sie glauben instinktiv, dass die Toten nicht „tot“ sind; sie leben weiter in einer anderen Welt und bleiben in Gemeinschaft mit den Lebenden. Dies ist meiner Ansicht nach irgendwie eine Vorbereitung auf den Glauben an die Gemeinschaft der Heiligen und an das Leben nach dem Tod.

3

Vgl. Document: Les Atlas jeune Afrique Nr. 10, S. 105; Encyclopedie Africaine et Malgache, Togo / Paris 1964, S. 3 – 9.

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„Die Völker Afrikas bekunden Achtung für das Leben bis zu seinem natürlichen Ende und halten für alte Menschen und Angehörige einen Platz im Schoße der Familie bereit“.4 Man erlebt in Südtogo die Gesellschaft als eine Großfamilie. Im ethischen Bereich entscheidet das Individuum nicht allein und ohne Rücksicht auf das Wohl der Gemeinschaft. Normen sind nicht individuell begründet, sondern kollektiv, und die Tat eines Einzelnen betrifft alle. Das Individuum ist in die Gemeinschaft eingebunden, es hat aber genauso eine gewisse Selbständigkeit und Freiheit. Der Einzelne ist unersetzbar, er soll aber seine ethische Überzeugung so ausdrücken, dass er die gesamte Gemeinschaft mit in den Blick nimmt. Die Individuen werden gleichzeitig von der Gemeinschaft getragen, so dass sie sich nicht einsam fühlen5. So ist in der Tat Einsamkeit bei uns sehr selten zu erfahren. Für die Bevölkerung in Südtogo ist der Mensch letztlich mit allen Menschen irgendwie verwandt. Keiner ist fremd, im Gegenteil, der Fremde oder der Ausländer ist ein Verwandter und immer willkommen. Deshalb ist die Gastfreundschaft in diesem Land unantastbar. Diese kulturellen und traditionellen Werte sind ein kostbares Erbe, das bewahrt werden muss. Unsere Kultur und unsere Traditionen in Südtogo enthalten aber leider auch Bräuche und Sitten, die Frauen herabsetzen, unterdrücken, entrechten und ihre Würde verhöhnen. Eine von ihnen wird hier nun beschrieben. Die Wiederintegration der Ehebrecherin Diese Zeremonie ist eine Erniedrigung und Demütigung jeder betroffenen Frau. Ihre Würde wird deutlich verhöhnt. Gegenüber ihrem Mann hat die Frau in Südtogo kein Recht. Der Mann ist gegenüber seiner Frau total frei. Im Gegensatz zu ihm ist der Ehebruch der Frau immer eine Straftat, die regelmäßig bestraft wird. Nach einem Ehebruch kann der Mann seine schuldige Frau aus der Ehe entlassen. Wenn diese Praxis ungerecht und diskriminierend auf uns wirkt, ist es die Zeremonie der Wiederintegration der Ehebrecherin erst recht. Wie verläuft diese Wiederintegration der Ehebrecherin in Südtogo? Bei den Ouatchi gibt es eine Methode, um eine Ehebrecherin zu erkennen. Die Ouatchi pflanzen bei Eheschluss ein Kraut, das „ama“ heißt, um eine Ehebreche4 Vgl. Papst Johannes II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Ecclesia in Afrika“, in: AAS 88 (1996), S. 5 – 82, hier S. 28. 5

Vgl. Bénézet Bujo, Wider den Universalanspruch westlicher Moral, Grundlagen afrikanischer Ethik, Freiburg u. a. 2000, S. 120.

Würde und Rechte der Frau in der südtogolesischen Kirche

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rin zu überführen. Vermutlich handelt es sich dabei um eine Art Zauberei: Wenn die Ehebrecherin nach Hause zurückkommt, soll sie zu bluten beginnen und muss für die Dauer der Blutung im Haus bleiben. Wenn sich keine Hilfe von außen findet, könnte sie sterben. Ihr Ehebruch wird verkündet und sie muss öffentlich eine Reinigungszeremonie durchmachen, die sie vor der Gemeinde und auch vor ihren Kindern erniedrigt. Oft ist die Ehebrecherin auch nach dieser Reinigung von ihrem Mann getrennt. Diese Entscheidung liegt beim Ehemann. Bei den Ewe-Danyi darf die Ehebrecherin nur nach einer Reinigungszeremonie, die sie viel Geld kostet, wieder in die Ehe eintreten. Sie muss einen Ziegenbock und Getränke für diese Zeremonie kaufen. Die Angehörigen und die Gemeinde versammeln sich, und man tötet den Ziegenbock. Über den alkoholischen Getränken (Schnaps, Sodabi, Gin) betet man und bietet mit diesen den Ahnen eine Gabe, um die Wiederholung dieses Unglücks zu vermeiden. Nach dieser Reinigung kann die Ehebrecherin wieder in die Ehe integriert werden. Bei den Guin wird die Ehebrecherin nackt oder nur mit einem Tuch um ihre Hüften bekleidet vor die Menge gestellt. Sie steht oder sitzt mit gespreizten Beinen und zwischen die Beine werden Maiskörner auf den Boden gestreut. Wenn Hühner kommen und die Maiskörner aufpicken, wird das als Zeichen verstanden, dass die Frau wirklich eine Ehebrecherin ist. Das erniedrigt die Frau, die damit gekränkt wird. Dann gräbt man ein Loch, in das sich die Ehebrecherin mit ihrem Tuch stellt und wo sie eine Dusche nehmen muss. Diese Dusche reinigt sie von ihrem Vergehen. Sie lässt das Tuch in dem Loch, das man wieder zuschaufelt, um zu sagen, dass sie das niemals wiederholen darf. Diese Praxis, die nur die Ehebrecherinnen, nicht aber die Ehebrecher trifft, ist wirklich ungerecht. Wie Jesus es uns im Evangelium gezeigt hat, muss eine solche Praxis unbedingt verurteilt werden. Kann eine Frau allein Ehebrecherin sein? Ein Ehebruch geschieht logischerweise zwischen einem Mann und einer Frau. Warum wird nur die Ehebrecherin, nicht aber der ehebrecherische Mann bestraft? Weitere Traditionen und Bräuche, welche zur Unterdrückung und Verletzung der Frauenrechte und ihre Würde beitragen sind der Heiratszwang, das Levirat, die Polygamie, die Zeremonie des Witwenstandes, die Genitalverstümmelung der Mädchen und Frauen, traditionelle und religiöse Konzeptionen, welche die untergeordnete Stellung und den Analphabetismus der Frau begünstigen und rechtfertigen. Besonders in vom Islam geprägten Gegenden werden Frauenrechte, -würde und Freiheit durch ungerechte und demütigende Vorschriften gefährdet.6 Die Vorschriften der Shariah belassen die Frauen in

6

Was muslimische Männer und Frauen sind, Männer und Frauen, die (Gott) demütig ergeben, die gläubig, die bescheiden sind, die Almosen geben, die fasten... – für sie (alle) hat Gott Vergebung und gewaltigen Lohn bereit (Sure 33,35).

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einer wesentlich schlechteren Position als Männer.7 Genauso manche Kleidervorschriften wie das Tragen des Kopftuches, die nicht nur ihre Haare, sondern auch ihr „eigentliches Ich“ verbergen.8 Im Allgemeinen kann man zwar sagen, dass diese Traditionen und Sitten heute großen Veränderungen unterliegen und teilweise im Aussterben begriffen sind, besonders in den Städten, wo die Modernisierung fortschreitet. Trotzdem sind in einigen Dörfern und Weilern solche Traditionen und Sitten immer noch üblich, und die Frauen werden dort nach wie vor unterdrückt. Deshalb hat die Synode Afrikas die Kirche in Afrika eingeladen, die Würde der afrikanischen Frau zu fördern.9 Menschenrechte und -würde sind auch in diesem Land durch eine diktatorische Militärregierung, die Meinungsfreiheit und Pressefreiheit nur ungenügend gewährt, gefährdet. Die offensichtliche Verletzung der Menschenrechte und -würde seitens der Regierung wird von den Kirchen in Togo oft kritisiert. Dies schafft ein konfliktreiches Verhältnis zwischen dem Staat und der Kirche dieses Landes. IV. Kirchenrechtliche Grundlagen zur Förderung der Würde und der Stellung der Frau in der Kirche Teilnahmemöglichkeiten der Frau an der kirchlichen Sendung nach dem CIC 1983 Es ist anzuerkennen, dass der CIC von 1983 zu einer auffallenden rechtlichen Besserstellung der Frau geführt hat, auch wenn diesbezüglich die eine oder andere weitere Verbesserung noch möglich und notwendig ist.10 Der Kodex von 1983 öffnet der Frau viele Möglichkeiten zu ihrer Teilhabe an der Sendung der Kirche. Hier wird die Frau vielfach nicht direkt angesprochen, sie ist aber überall dort mitgemeint, wo von Gläubigen und Laien die Rede ist.11 7

Angelika Mlinar, Frauenrechte als Menschenrechte, Frankfurt u. a. 1997, S. 26.

8

Vgl. Ahlonko Kouassi Kouanvih, Zur Förderung der Würde und Rechte der Frau in der südtogolesischen Kirche. Theologisch-kirchenrechtliche Erwägungen, Dissertation, Innsbruck 2004, S. 13 – 52, hier S. 36 f. 9

Vgl. Papst Johannes II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben Ecclesia in Afrika, in: AAS 88 (1996), S. 5 – 82, 36, 71 – 72. 10

Vgl. Matthäus Kaiser, Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, in: HdbKathKR1, S. 171 – 184, hier S. 180. 11 Vgl. Konrad Breitsching, Möglichkeiten der Frau an der kirchlichen Sendung nach dem CIC 1983, in : ZKTh 118 (1996), S. 205 – 221, hier S. 205.

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„Die Frage der Teilhabe der Frau an der kirchlichen Sendung ist auf zwei Ebenen anzugehen. Die eine ist die der allgemeinen Teilhabe, die in Taufe und Firmung ihre sakramental-theologische Begründung findet, die zweite jene, wo zur allgemeinen Teilhabe eine kirchenamtliche Beauftragung hinzukommt, die mit dem Apostolat der Hierarchie oder deren Leitungsamt enger verbunden ist und ein Handeln im Namen der Kirche bewirkt.“12 a) Allgemeine Mitwirkung Hinsichtlich der rechtlichen Grundstellung der Christgläubigen hat sich im CIC von 1983 auf dem Hintergrund der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils gegenüber dem CIC von 1917 ein wichtiger Wandel vollzogen. Der CIC von 1917 stellte vor allem die Unterscheidung zwischen Klerikern und Laien in den Vordergrund. Demgegenüber hat der Kodex von 1983 die Einheit des Volkes Gottes und die fundamentale Gleichheit aller Gläubigen herausgestellt. Gemäß c. 204 sind die Gläubigen durch die Taufe Christus eingegliedert und zum Volk Gottes gemacht worden; sie haben dadurch Anteil am dreifachen Amt Christi, dem priesterlichen, prophetischen und königlichen, und sind zur Ausübung der Sendung berufen. Alle Gläubigen (d. h. Männer und Frauen) bilden also das Volk Gottes und sind in gleicher Weise berechtigt und verpflichtet, den Willen Gottes auf Erden zu verwirklichen. Dieser Gedanke wird in c. 208 zu Beginn des Kataloges der Pflichten und Rechte aller Gläubigen nochmals ausdrücklich aufgegriffen. Der Beitrag eines jeden Gläubigen an der Sendung der Kirche, ob nun Mann oder Frau, Laie oder Kleriker, ist. Wesentlich. „Frauen haben somit das Recht und die Pflicht, sich in vielfältigster Form einzubringen.“13 Gemäß c. 212 § 3 haben alle Gläubigen (Männer und Frauen) das Petitionsrecht, das Recht auf öffentliche Meinung. Der Kodex zeigt an verschiedenen Stellen, in welchen Bereichen die Ausübung der öffentlichen Meinung möglich ist: in den Pfarrgemeinderäten, in den Diözesanpastoralräten und den Vermögensverwaltungsräten sowie beim üblichen Gebrauch der Presse und den anderen Einrichtungen der Publizierung. Der neue Kodex bietet dem Laien und somit auch Frauen mehr Einfluss auf dem Weg der Konsultation, z. B. als Teilnehmer an der Diözesansynode (vgl. cc. 460 – 468), als Mitglied des Diözesanpastoralrates oder des Pfarrpastoralrates 12

Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 205.

13

Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 206.

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(vgl. cc. 511 – 514; 536) sowie durch die Teilhabe an der Leitung einer Pfarrei und an der Wahrnehmung der Seelsorgsaufgaben einer Pfarrei (vgl. c. 517). C. 211 verpflichtet und berechtigt alle Christgläubigen (Männer und Frauen), dazu beizutragen, dass die göttliche Heilsbotschaft immer mehr zu allen Menschen aller Zeiten auf der ganzen Welt gelangt.14 C. 225 § 1 (auch c. 781) bestätigt dieses Recht und diese Verpflichtung, die alle Gläubigen durch die Taufe und durch die Firmung haben. „Ein weiteres Wirkungsfeld bietet die sich auf alle Lebensalter erstreckende und allen Gliedern der Kirche obliegende Katechese (vgl. c. 774 § 1). Vor allem in der Vorbereitung auf den Sakramentenempfang ermöglicht der Kodex eine starke Einbeziehung von Laien und somit auch von Frauen.“15 C. 214 betont auch das Recht der Gläubigen (das heißt Männer und Frauen), der ihnen eigenen Form des geistlichen Lebens zu folgen, sofern sie mit der Lehre der Kirche übereinstimmt. Ein breites Feld der Umsetzung der Teilhabe an der Sendung der Kirche eröffnet sich für Frauen durch das Vereinigungs- und Versammlungsrecht. Gemäß cc. 215, 298 § 1 u. 299 § 1 dürfen Frauen, wie alle Christgläubigen, aufgrund privater Initiative Vereinigungen für Zwecke der Caritas oder der Frömmigkeit oder der christlichen Lehre und der Förderung der christlichen Berufung in der Welt frei gründen und leiten. Sie dürfen auch Versammlungen abhalten, um diese Zwecke gemeinsam zu verfolgen. So können die Frauen ihre geistgewirkten und natürlichen Fähigkeiten und Begabungen bündeln und so ihre Effizienz für das Gemeinwohl der Kirche beachtlich erhöhen.16 Der Rahmen für die Ausübung dieses Rechtes ist in den cc. 298 ff. (insbesondere cc. 321 – 326) umschrieben. Beispielsweise ist in c. 301 § 1 die Gründung von Vereinigungen mit bestimmten Zielsetzungen der kirchlichen Autorität vorbehalten. Frauen haben selbstverständlich auch das Recht, zusammen mit

14 Nach Peter Boekholt hat jeder Christgläubige von Christus her den Auftrag, „missionarisch“ tätig zu sein… Alle sind dazu aufgerufen, ja sogar verpflichtet; nicht nur die geweihten Amtsträger, denn der Herr will sein Reich auch durch die gläubigen Laien ausbreiten. Vgl. Peter Boekholt, Der Laie in der Kirche, seine Rechte und Pflichten im neuen Kirchenrecht, Kevelaer 1984, S. 31. 15

Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 207. Vgl. dazu auch, Francis G. Morrisey, The Laity in the New Code of Canow Law, in: StCan 17 (1983), S. 135 – 148, hier S. 141 f. 16

Vgl. Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 207; Hubert Müller, Das kirchliche Vereinigungsrecht im CIC/1983. Ekklesiologische Grundlage und kirchenrechtliche Neuordnung, in: ÖAKR 36 (1986), S. 293 – 305, hier S. 298.

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Gläubigen des anderen Geschlechts derartige Vereinigungen zu gründen oder bereits gegründeten Vereinigungen beizutreten. Die Aufnahmegewährung liegt aber selbstverständlich bei der Entscheidungskompetenz des jeweiligen Vereins.17 Gemäß c. 216 besitzen Frauen, so wie alle Christgläubigen, das Grundrecht, durch eigene Unternehmungen je nach ihrem Stand und ihrer Stellung eine apostolische Tätigkeit in Gang zu setzen oder zu unterhalten. C. 216 behauptet jedoch, dass keine Unternehmung sich ohne Zustimmung der zuständigen kirchlichen Autorität katholisch nennen darf. Gemäß c. 1135 sind Mann und Frau in der Ehe gleichgestellt. Und die Frau folgt nicht mehr unbedingt dem Stand des Mannes. Sie kann aufgrund rechtmäßiger Trennung oder aus einem anderen rechtlichen Grund ein eigenes Domizil haben (vgl. c. 104). Gemäß c. 219 hat jeder Gläubige (auch Frauen) das Recht, seinen Lebensstand frei von jeglichem Zwang zu wählen. Wie alle Christgläubigen haben auch Frauen das Recht, nicht mit kanonischen Strafen belegt zu werden, außer nach Vorschrift des Gesetzes. C. 229 § 2 berechtigt die Frau, wie alle Gläubigen, sich tiefere Kenntnisse in den theologischen Wissenschaften zu erwerben, die in kirchlichen Universitäten oder Fakultäten oder Instituten für religiöse Wissenschaften gelehrt werden, indem sie dort Vorlesungen besuchen und akademische Grade erwerben. b) Sondermandat Gemäß c. 228 § 1 sind Laien und somit auch Frauen befähigt, nach rechtmäßiger Beauftragung kirchliche Ämter und Dienste zu übernehmen und im Rahmen des geltenden Rechtes auszuüben (vgl. dazu c. 129 §§ 1 und 2). Außer dem Apostolat der Teilnahme an der Heilssendung der Kirche, das alle Christgläubigen angeht, „können sie darüber hinaus in verschiedener Weise zu unmittelbarerer Mitarbeit mit dem Apostolat der Hierarchie berufen werden, nach Art jener Männer und Frauen, die den Apostel Paulus in der Verkündigung des Evangeliums unterstützen... Außerdem haben sie die Befähigung dazu, von der Hierarchie zu gewissen kirchlichen Ämtern herangezogen zu werden, die geistlichen Zielen dienen“18.

17

Vgl. Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 208.

18

VatII CD 13.

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aa) Verkündigungsbereich Im neuen CIC ist das Verbot des Altardienstes von Frauen nicht mehr beinhaltet. Frauen haben Dienstrecht und Liturgierecht. Gemäß c. 230 § 3 und c. 759 können Frauen über den aus Taufe und Firmung sich ergebenden Auftrag hinaus von Bischöfen und Priestern zur Mitarbeit bei der Ausübung des Dienstes am Wort berufen werden. So können Frauen, wie alle Laien, gemäß c. 766 zur Predigt in einer Kirche oder in einer Kapelle zugelassen werden, wenn das unter bestimmten Umständen notwendig oder in Einzelfällen als nützlich angeraten ist. „Es ist vor allem an die Predigt im Rahmen von selbständigen Wortgottesdiensten zu denken.“19. Gemäß c. 767 § 1 ist die Homilie, welche ein Teil der Liturgie selbst ist, dem Priester und Diakon vorbehalten. Bei der Übernahme des Predigtdienstes sind entsprechende Vorschriften der jeweiligen Bischofskonferenzen zu berücksichtigen. C. 776 ermöglicht auf Gemeindeebene in der Glaubensunterweisung, dass Frauen als Katechetinnen eingesetzt werden. Die Ortsordinarien haben dafür zu sorgen, dass sie für die rechte Erfüllung ihrer Aufgabe gebührend vorbereitet werden, dass sie nämlich ständig fortgebildet werden, die Lehre der Kirche angemessen kennen lernen und die den pädagogischen Disziplinen eigenen Normen theoretisch und praktisch erlernen (vgl. c. 780).20 Gemäß c. 784 können Frauen eine amtliche Beauftragung im missionarischen Dienst erhalten. Für diese Tätigkeit ist insbesondere eine Katechetin geeignet, die eine entsprechende Ausbildung hat (vgl. c. 785). Frauen können als Religionslehrerinnen eingesetzt werden, wenn sie sich durch Rechtgläubigkeit, ein christliches Lebenszeugnis und pädagogisches Geschick auszeichnen (vgl. c. 804 § 2). Ebenso dürfen sie gemäß c. 229 § 3 die Beauftragung zur Lehrtätigkeit in theologischen Wissenschaften (missio docendi scientias sacras) als Dozentinnen und Professorinnen von der entsprechenden rechtmäßigen kirchlichen Autorität erhalten, wenn sie die Voraussetzung erfüllen (vgl. cc. 253 § 1 und c. 810 § 1). Falls sie die geforderten Voraussetzungen mitbringen, steht ihnen vom Kodex her gesehen jede theologische Disziplin offen.21

19

Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 209. Vgl. auch Heinrich Mussinghoff, c. 767, Rdnr. 3, in: MK CIC. 20 21

Vgl. dazu Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 210.

Vgl. Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 211; Heinrich J. F Reinhardt., c. 229, Rdnr. 5, in: MK CIC.

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bb) Heiligungsbereich Der Heiligungsdienst der Kirche ereignet sich vor allem in der Liturgie (vgl. c. 834 § 1) und ist in gestufter Verantwortlichkeit der ganzen Kirche anvertraut (vgl. cc. 835 – 837).22 Im Bereich der Heiligung ist gemäß c. 230 § 3 und c. 861 § 2 jedem Laien und somit auch der Frau erlaubt, das Sakrament der Taufe zu spenden, wenn der ordentliche, d. h. der eigentliche Spender (Bischof, Priester, Diakon) bei der Taufe abwesend oder verhindert ist. Bei Bedarf, d. h. wenn die Amtsträger nicht zur Verfügung stehen, können Frauen für die Leitung liturgischer Gebete und Austeilung der Kommunion herangezogen werden (vgl. c. 230 § 3). Gemäß c. 230 § 2 können Frauen wie alle Laien, während des Gottesdienstes die Aufgaben einer Kommentatorin und einer Kantorin und andere Aufgaben nach Maßgabe des Rechts ausüben. Sie können auch aufgrund einer zeitlich begrenzten Beauftragung bei liturgischen Handlungen die Aufgabe einer Lektorin erfüllen. Die dauerhafte (stabiliter) Bestellung zum Lektor und Akolythen ist jedoch nur männlichen Laien vorbehalten (c. 230 § 1). Gemäß c. 943 können Frauen unter besonderen Umständen die Aussetzung des Allerheiligsten und dessen Wiederaufbewahrung vornehmen. Wenn Priester und Diakone nicht vorhanden sind, kann der Diözesanbischof aufgrund einer vorläufigen empfehlenden Stellungnahme der Bischofskonferenz und nach Erhalt der Erlaubnis des Heiligen Stuhles Laien, auch eine Frau, zur Eheschließungsassistenz delegieren (vgl. c. 112 § 1). Der Ortsordinarius kann schließlich darüber entscheiden, ob er in seinem Wirkungsbereich Frauen mit der Spendung von Sakramentalien beauftragen will (vgl. c. 1168).23 „C. 517 § 2 bietet dem Diözesanbischof die Möglichkeit, bei Priestermangel auch Frauen unter Leitung eines Priesters, der mit den Vollmachten und Befugnissen eines Pfarrers ausgestattet ist“24, an den seelsorglichen Aufgaben einer Pfarrei zu beteiligen. cc) Gerichts- und Verwaltungsbereich Der CIC/1983 ermöglicht Frauen den Zugang zu allen Ämtern im Gerichtsbereich. Das Amt des Offizials und des Vizeoffizials kann ihnen jedoch nicht

22

Vgl. Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 211.

23

Siehe dazu Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 211 f.

24

Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 212.

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übertragen werden. Diese Ämter setzen nämlich die Priesterweihe voraus (vgl. c. 1420 § 4). „C. 1421 § 2 gestattet es, Frauen zu Richterinnen zu bestellen, wenn die Bischofskonferenz für ihren Wirkungsbereich eine Laienbestellung erlaubt“25 und insofern eine Notwendigkeit dazu besteht. Als Voraussetzung für dieses Amt verlangt das Recht den gute Ruf sowie das Doktorat oder wenigstens Lizentiat aus kanonischem Recht (vgl. c. 1421 § 3). „Eine Frau, welche die vom Gesetz geforderten Qualifikationen nicht mitbringt, aber vom Bischof als geeignet angesehen wird, kann dennoch gültig bestellt werden.“26 Bei Mangel an Klerikerrichtern kann eine Richterin, insbesondere bei Eheverfahren, Mitglied eines Richterkollegiums werden. Wenn der Vorsitz im Kollegium durch den Offizial bzw. Vizeoffizial nicht übernommen werden kann, darf bei der Konstituierung des Richterkollegiums auch einer Richterin möglicherweise der Vorsitz übertragen werden.27 Ihre Aufgabe sind in cc. 1428 § 1, 1429, 1449 § 4; 1505 § 1, 1507 § 1, 1513 § 1, 1516, 1590 § 2 u.1609 §§ 1 u. 3 klar definiert. Im Rahmen eines Kollegialgerichtes kann eine Richterin weiters zur Berichterstatterin ernannt werden.28 Gemäß c. 1428 § 2 können Frauen, die sich durch gute Lebensführung, Klugheit und Fachkenntnisse auszeichnen, vom Bischof als Vernehmungsrichterinnen zugelassen werden. Ein Doktorat oder Lizentiat aus Kanonischem Recht ist für dieses Amt nicht erforderlich.29 Nach c. 1424 kann der Einzelrichter, auch Frauen, in jedem Verfahren zwei erprobte Kleriker oder Laien als beratende Besitzer (Assessoren) hinzuziehen.

25

Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 213. Siehe dazu auch Klaus Lüdicke, c. 1421, Rdnr. 6, in: MK CIC, James H. Provost, The Participation of the Laity in the Governance of the Church, in: StCan 17 (1983), S. 417 – 448, hier S 433; ders., Role of Lay Judges, in: Jurist 45 (1985), S. 327 – 334, hier S. 327. 26

Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 213.

27

Siehe dazu Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 213, Anm. 48. Siehe dazu auch Klaus Lüdicke, Der kirchliche Ehenichtigkeitsprozess nach dem Codex Iuris Canonici von 1983. Normen und Kommentar (MK CIC. Beihefte 10), Essen 1994, S. 28; ders., c. 1426, Rdnr. 5, in: MK CIC; Provost, Role (Anm. 25),S. 328 f. 28 29

Vgl. Morrisey, Laity (Anm. 15), S. 145; Provost, Role (Anm. 25), S. 327.

Vgl. Lüdicke, Ehenichtigkeitsprozess (Anm. 27), S. 30. „Aufgabe des Vernehmungsrichters ist es lediglich, entsprechend dem richterlichen Auftrag Beweise zu erheben und diese dem Richter zuzuleiten; außer es steht der Auftrag des Richters entgegen, kann er vorläufig entscheiden, welche Beweise und wie diese zu erheben sind, wenn darüber etwa bei der Wahrnehmung seiner Aufgabe eine Frage auftauchen sollte.“ C. 1428 § 3.

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„Als Qualifikation wird nur verlangt, dass sie sich im Leben bewährt haben (vitae probatae).“30 Nach c. 1435 ist es Sache des Bischofs, Frauen als Kirchenanwältinnen (Promotor Iustitiae) und Bandverteidigerinnen zu ernennen. „Es ist sogar möglich, einer Frau beide Ämter anzuvertrauen, die sie aber dann nicht in derselben Sache gleichzeitig ausüben kann (vgl. c. 1436 § 1).“31 Gemäß c. 1436 § 2 können Frauen sowohl für die Gesamtheit der Prozesse als auch für einzelne Prozesse bestellt werden. Frauen können weiters als Parteienanwältin fungieren. Erforderlich ist dafür die Volljährigkeit nach kanonischem Recht (18 Jahre), ein guter Ruf, das Doktorat im kanonischen Recht oder eine anderweitige32 Erwerbung der entsprechenden Sachkenntnis zur Ausübung dieser Funktion sowie schließlich die Zulassung durch den Diözesanbischof (vgl. c. 1483). Nach c. 1476 ist jede Frau, ob getauft oder ungetauft, parteifähig. Sie kann vor Gericht als Klägerin auftreten; die rechtmäßig belangte Partei ist verpflichtet, sich zu verantworten. Nach c. 1490 können Frauen als Anwältinnen oder Prokuratorinnen bei Gericht eine feste Anstellung erhalten. Es besteht auch die Möglichkeit, für das Amt des Kanzlers und Vizekanzlers, die zugleich Notare und Sekretäre der Kurie sind (vgl. c. 482 § 3), auch Frauen heranzuziehen.33 Außer dem Kanzler und dem Vizekanzler können nach c. 483 § 1 noch weitere Notare und Notarinnen berufen werden. Schriftstücke und Unterschriften einer Notarin genießen öffentlichen Glauben (vgl. c. 483 § 1). Gemäß c. 492 §§ 1 – 3 können Frauen Mitglieder des Vermögensverwaltungsrates in einer Diözese sein. Vom Diözesanbischof können Frauen, die sich 30

Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 214.

31

Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 215.

32

„Etwa durch ein kirchenrechtliches Doktorat an einer kirchlichen oder staatlichen Fakultät, durch eingehendes persönliches Studium der entsprechenden Rechtsmaterien, durch Teilnahme an einschlägigen Kursen oder durch praktische Erfahrungen.“ Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 216, Anm. 62. Vgl. auch Franz X. Weber, Iuris Canonici 1983 (FVKS 29), Freiburg 1990, S. 20 – 22. 33

Vgl. Code of Canon Law Annotated. Latin-English edition of the Code of Canon Law and English-language translation of the 5th Spanish-language edition of the commentary prepared under the responsibility of the Instituto Martín Aspilcueta. Hrsg. v. E. Caparros / M. Thériault / J. Thorn, S. 357. Bezüglich der Aufgaben siehe c. 482 § 1.

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durch wirtschaftliche Kompetenz und Sachkenntnisse im weltlichen Recht sowie eine entsprechende Integrität auszeichnen und mit dem Bischof nicht bis zum vierten Grad blutsverwandt oder verschwägert sind, in den diözesanen Vermögensverwaltungsrat berufen werden. Sie können in diesem Vermögensverwaltungsrat für fünf Jahre tätig sein. C. 494 § 1 ermöglicht es, eine Frau, die sich nachweislich durch wirtschaftliche Erfahrung und besondere Rechtschaffenheit auszeichnet, zur Ökonomin zu bestellen.34 Nach c. 537 können Frauen in einer Pfarrei ebenfalls Mitglieder des Vermögensverwaltungsrates werden, der dem Pfarrer bei der Verwaltung des Pfarrvermögens unterstützt. Gemäß c. 1280 können sie darüber hinaus auch im Vermögensverwaltungsrat anderer juristischer Personen tätig sein und als unmittelbare Vermögensverwalterinnen35 kirchlichen Vermögens eingesetzt werden (vgl. c. 1287 § 1).36 dd) Mitarbeit der Frau in Gremien Gemäß c. 228 § 2 sind Laien und somit auch Frauen, welche sich durch Wissen, Klugheit und Ansehen in erforderlichem Maße auszeichnen, befähigt, auch in Ratsgremien als Sachverständige und Ratgeberinnen nach Maßgabe des Rechts den Hirten der Kirche Hilfe zu leisten. „Darüber hinaus ist die Dekanin einer theologischen Fakultät von Rechts wegen Mitglied eines Partikularkonzils, und zwar mit beratender Stimme (vgl. c. 443 § 3 Nr. 3). Das gleiche gilt für Oberinnen von Ordensinstituten und von Gesellschaften des apostolischen Lebens des betreffenden Kirchengebietes, die allerdings vorher durch Wahl zu bestimmen sind (vgl. c. 443 § 3 Nr. 2). Ebenso können andere Frauen eingeladen werden (vgl. c. 443 § 4).“37 Nach c. 463 §§ 1 Nr. 5 u. 2 können Frauen vom Pastoralrat als Teilnehmerinnen in eine Diözesansynode gewählt werden oder vom Diözesanbischof zur Teilnahme eingeladen werden. Gemäß c. 512 können Frauen, die in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen, nach der vom Diözesanbischof festgelegten Art und Weise in den Pastoralrat berufen werden und so in

34

Bezüglich der Aufgaben einer Ökonomin siehe c. 494 §§ 3. u. 4.

35

„Unmittelbare Vermögensverwalter sind die Organe der juristischen Person, die für sie in Willensbildung und Vertretung handeln... Sie üben Eigentümerfunktion aus mit den Einschränkungen, die sich aus ihrer Stellung als Bevollmächtigte bzw. Organe des Eigentümers ergeben.“ Heimerl Pree, Handbuch des Vermögensrechts der katholischen Kirche unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsverhältnisse in Bayern und Österreich. Unter Mitwirkung von Bruno Primetshofer, Regensburg 1993, S. 253. 36

Vgl. dazu Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 217 – 219.

37

Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 220.

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der Diözese mitwirken. Außerdem ist in jeder Pfarrei ein Pastoralrat zu bilden, dem der Pfarrer vorsteht und in dem Frauen zusammen mit denen, die Kraft ihres Amtes an der pfarrlichen Seelsorge Anteil haben, zur Förderung der Seelsorgstätigkeit mithelfen können. Dieser Pastoralrat hat aber nur beratendes Stimmrecht und wird durch die vom Diözesanbischof festgesetzten Normen geregelt (vgl. c. 536 §§ 1 u. 2). So bietet der Kodex von 1983 der Frau zahlreiche Möglichkeiten an der kirchlichen Sendung an. Trotz mancher möglicher Verbesserungen eröffnet der Kodex Frauen den Zugang zu vielen Ämtern und zu einer aktiven Teilhabe und Mitwirkung in verschiedenen Bereichen der Sendung der Kirche. Die Verwirklichung dieser Möglichkeiten der Teilhabe der Frau im Leben der Kirche liegt nach H. Müller zum Großteil an der partikularrechtlichen Umsetzung.38 Entscheidend ist auch, wie die Frauen in den ihr übertragenen Funktionen ihre Aufgaben erfüllen und dadurch ihren Dienst als wertvoll und bereichernd in das Bewusstsein der Kirche einprägen.39 V. Die Einstellung und die Aufgabe der südtogolesischen Kirche zur Förderung und Verbesserung der Rechte, Würde und Stellung der Frau in der Gesellschaft und innerhalb der Kirche in Südtogo Als juridisches Organ kann die togolesische Bischofskonferenz zur Beseitigung der Traditionen und Bräuche, welche die Frauen entwürdigen und unterdrücken, sowie bei der Förderung und Verteidigung ihrer Rechte und Würde eine entscheidende Rolle spielen. Die togolesische Bischofskonferenz muss dazu beitragen, dass durch ihre Aussagen, eine passende Katechismuslehre und die verbesserte Ausbildung der Frauen das Frauenbild in der Gesellschaft und in der Kirche besser wird. Sie muss eine bessere Stellung und Integration der Frauen in der Kirche unterstützen und den Frauen allmählich Verantwortung und- Leitungsrollen anvertrauen. Sie soll die Frauen ermutigen, die zahlreiche Möglichkeiten zu einer aktiven Teilhabe und Mitwirkung in den verschiedenen Bereichen der Sendung der Kirche, die ihnen der Kodex von 1983 eröffnet hat, im Leben der Kirche zu verwirklichen. Diese Bemühung um die Förderung der Würde und Rechte der Frau und um eine bessere Integration und Stellung für sie in der Gesellschaft und in der Kirche in Südtogo erfordert die Inkulturation

38 Vgl. Hubert Müller, Zur Frage nach der Stellung des Laien im CIC/1983, in: Ministerium iustitiae (FS H. Heinemann.). Hrsg. v. A. Gabriels / Heinrich F. J. Reinhardt, Essen 1985, S. 203 – 213, hier S. 208 f. 39

Vgl. Breitsching, Möglichkeiten der Teilhabe (Anm. 11), S. 221.

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zur Vertiefung des Glaubens und die Änderung der Mentalitäten und Bräuche, die dem Evangelium widersprechen. Die afrikanische Synode hat jene afrikanischen Bräuche und Praktiken missbilligt, die „die Frauen ihrer Rechte und der ihnen gebührenden Achtung berauben“,40 und hat von der Kirche auf dem Kontinent verlangt, dass sie sich bemühe, die Einhaltung dieser Rechte zu fördern. Die Frauen in Südtogo müssen ihre Stimme hören lassen und für ihren Beitrag zu einer aktiven, tatsächlichen und verantwortlichen Teilhabe an der Sendung der Kirche kämpfen und sich organisieren. Sie dürfen nicht passive Zuschauerinnen ihrer Befreiung bleiben. Sie dürfen nicht alles von der Leitung der Kirche erwarten; sie müssen manchmal auch Mut zu konstruktiven Initiativen haben und eigene Phantasien entwickeln. Sie müssen selbst kämpfen für die Förderung ihrer Würde, Rechte, Selbstverwirklichung und ihrer Gleichberechtigung. Sie müssen nicht nur um die Gleichberechtigung kämpfen, sondern auch für die tatsächliche Verwirklichung der Gleichberechtigung durch Strukturveränderungen sorgen. Die Gefahr der Leugnung ihres Frauseins und die Tendenz zu einer ‚Maskulinisierung‘ soll ihnen bewusst sein und vermieden werden, denn sie könnte für sie eine neuerliche Art von Sklaverei bedeuten. Gegen Ideologien, die sie auf ein ‚Lustobjekt des Mannes‘ reduzieren möchten und welche ihre Identität als Frau und Mutter abzuschaffen vermögen, müssen sie sich ebenso wehren. 1. Passende Rituale in bestimmten Lebenssituationen Der Kirche in Südtogo obliegt die wichtige Aufgabe, in ihrem Kampf gegen entwürdigende und demütigende Traditionen, Bräuche und Sitten für Frauen und in ihrem Bemühen um die Verteidigung und die Förderung der Rechte und Würde der Frau passende Rituale zu schaffen, welche jeder Lebenssituation der Menschen und insbesondere der Frauen entsprechen. Das Schaffen solcher christlichen Rituale als Alternative ist äußerst notwendig, um Traditionen, Bräuche und Sitten wie die Feier des Witwenstandes, der Wiederintegration der Ehebrecherin usw., also Rituale, welche Frauenrechte und -würde missachten und gering schätzen, zu ersetzen und für eine gründliche und bedeutende Abschaffung und Beseitigung dieser für Frauen 2. Vorschlag für ein Ritual zur Wiederintegration in die Ehe Wie eingangs beschrieben, gibt es in Südtogo wie überall in Afrika einige Rituale, die im Falle des Ehebruchs angewendet werden und welche Betroffene

40

Johannes Paul II., Ecclesia in Africa (Anm. 4), S. 53.

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wieder in die Gemeinschaft integrieren möchten. Analoge Rituale in Europa fehlen. Der Hintergrund der Praxis hat sicherlich einige positive Aspekte: Man möchte die betroffene Frau wieder in die Gemeinschaft der Ehe integrieren und einen neuen Anfang ermöglichen. Sie hat also eine Chance, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, anstatt aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden oder sie im Stich zu lassen. In diesem Sinne ist es positiv, dass es überhaupt in dieser Situation Rituale gibt, die eine Wiederintegration ermöglichen. Aber die demütigende und erniedrigende Art der Zeremonien sind absolut untragbar und für Frauen unannehmbar. Sie sind ein deutlicher Verstoß gegen die Würde und die Rechte der Frauen. Außerdem wird die Frau mit diesen Ritualen diskriminiert, und ihr wird Unrecht getan, da die Situation und die Handlung der Männer absolut unberücksichtigt bleiben. Es geht hier um eine rein heidnische Tradition, die Vergebung muss durch schier unmenschliche Rituale erarbeitet werden. Aus christlicher Sicht muss bei diesen Ritualen vor allem die Frau Sühne für ihr Vergehen leisten, vom Mann wird keinerlei äußeres Zeichen der Reue oder Umkehr gefordert. Um diese Praxis zu ändern, welche die Frauen so demütigt und entwürdigt, wäre es Aufgabe der Kirche, ein Ritual aus christlicher Sicht für beide Partner der Ehe zu schaffen und Wiederintegration auf beiden Seiten zu ermöglichen. Dieses Ritual soll christliche Werte in unsere Kultur integrieren und soll entsprechend dem Evangelium und dem Handeln Jesu eine würdige Feier der Wiederintegration des Ehebrechers/der Ehebrecherin sein. Jesus hat uns im Evangelium ein berührendes Beispiel der Wiederintegration einer Ehebrecherin in die Gemeinschaft gegeben. Dies zeigt uns, dass der übliche Weg der Integration eines Sünders die Vergebung bleiben muss. Auch der liebevolle Umgang Jesu mit den Sündern soll uns Vorbild sein. Er demütigt nicht, er verzeiht ohne Vorbedingungen. Für Jesus bleibt jeder Sünder auch ein Kind Gottes. Kein Mensch verliert seine Würde, weil er gesündigt hat, er bleibt ein Kind Gottes. Es gibt immer die Möglichkeit und die Chance der Umkehr und des Neuanfangs. Das Beispiel Jesu mit der Ehebrecherin lässt uns erkennen, dass jeder von uns auf die Gnade Gottes angewiesen ist, weil keiner ohne Sünde ist. Diese christlichen Werte sollen bei einer Feier der Wiederintegration nicht außer Acht gelassen werden. Die erste und vorrangige Art der Wiederintegration durch die Kirche ist und bleibt die Versöhnung. Dies kann in Form einer Bitte um Entschuldigung, um Verzeihung seitens der/des Schuldigen und durch das Sakrament der Buße stattfinden. Andere Arten der Wiederintegration sind aber auch möglich.

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Ein christliches Ritual der Wiederintegration bei Ehebruch könnte vielleicht so aussehen: Die Gemeinde versammelt sich in der Kirche oder im Haus der Ehebrecherin/des Ehebrechers. Beide Schuldigen kommen und nehmen in der Mitte Platz. Gemeinsam wird das Schuldbekenntnis gebetet. Die Betroffenen kommen in die Mitte, wo ein Gefäß mit Wasser steht. Wasser soll hier ein Symbol für Vergebung und Reinigung sein. Der Ehepartner kommt dazu und wäscht seinem Partner die Hände mit Wasser ab. Dabei spricht er: Ich verzeihe dir und gebe dir eine neue Chance. Ich nehme dich wieder als meine Frau/meinen Mann an. Anschließend wird die ganze Gemeinde eingeladen, sich selbst die Hände zu waschen. Durch die Waschung kommt zum Ausdruck, dass die ganze Gemeinde wieder rein geworden ist und alle einander verziehen haben. Zum Schluss reichen sich die Menschen die Hände und beten gemeinsam das Vaterunser. Ein besonderer Segen beschließt das Ritual der Wiederintegration. Dieses Ritual müsste der Abschluss eines längeren Weges der Versöhnung zwischen den Ehepartnern sein. Wenn die Feier mit der Familie des Ehebrechers stattfinden soll, muss auch in dieser Richtung eine intensive Bemühung um Klärung und Versöhnung durch Gespräch vorausgehen. Versöhnung kann erst dann gefeiert werden, wenn eine Bereitschaft zur Versöhnung auch wirklich entsteht. Hier ist eine pastorale Begleitung durch Verwandte, Freunde oder KatechistInnen notwendig. Eine Ausbildung für die Ehebegleitung generell müsste geschaffen werden, so dass auf solche „Begleiter“ in einer Pfarrei im Bedarfsfall zurückgegriffen werden kann. Ich habe hier nur Beispiele gegeben. Ähnliche Rituale müssten für andere Bräuche und Traditionen geschaffen werden. Wichtig ist, dass Kommissionen entstehen, die unsere Kultur gut und gründlich studieren und analysieren, ihre positiven Werte erkennen und schätzen und neue und passende Rituale für bestimmte Lebenseinschnitte entstehen lassen. Die Schaffung solcher Rituale soll die Traditionen und die Kulturen achten und schätzen, was in ihnen an wertvollen Dingen vorhanden ist, um durch Abschaffung gewisser Rituale nicht Schaden und Desorientierung anzurichten. Rituale können auch nicht einfach von „oben“ verordnet, sozusagen übergestülpt werden. Sie müssen aber einfach die Möglichkeit haben, in einer Gemeinde zu wachsen und Fuß zu fassen.

Würde und Rechte der Frau in der südtogolesischen Kirche

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Einige Traditionen, Bräuche und Sitten erfordern aber eine massive Veränderung oder auch Abschaffung, weil sie deutlich die Würde und die Rechte der Menschen, hier vor allem die Rechte und Würde der Frauen, verletzen. So zum Beispiel die Tradition der Polygamie, der Genitalverstümmelung der Frau, der Heiratszwang nach dem Witwenstand usw. Da aber in Afrika das Bedürfnis, Initiationsriten zu feiern, besonders groß ist, obliegt der Kirche die Aufgabe, Rituale für solche Gelegenheiten anzubieten. In diesem Sinn wäre es wichtig, Rituale für das Erwachsenwerden und die Integration der Mädchen in der Gemeinschaft der Frauen zu haben. Hier steht in der Tradition nämlich die Genitalverstümmelung als Initiationsritual ins Leben als Frau. Dieses muss unbedingt ersetzt werden. Wie dieses genau aussehen könnte, bleibt Aufgabe einer pastoralen Kommission, die von der Bischofskonferenz ins Leben gerufen werden müsste. Sollte dies wirklich gelingen, könnte das auch für die Kirche in Europa ein wertvoller Anstoß sein, ja, ein wertvoller Beitrag für die ganze Weltkirche. VI. Schlusswort Dieser Beitrag wollte aufzeigen, dass es in Südtogo und im Allgemeinen in Afrika noch Traditionen, Kulturen und Sitten gibt, welche die Frauenwürde und Rechte verletzen. Sie hat auch die untergeordnete Stellung der Frau in der südtogolesischen Gesellschaft und innerhalb der Kirche betont. Wenn auch zu merken ist, dass die Lage der Frauen sich allmählich verbessert und dass die Frauen heute mehr Verantwortungen innerhalb der Kirche übernehmen, bleibt trotzdem noch viel zu tun für die Förderung der Würde, der Rechte, der Stellung und Selbstverwirklichung der Frau in der südtogolesischen Gesellschaft und Kirche. Der Kirche in Südtogo obliegt die dringende Aufgabe der Befreiung der Frauen von den Traditionen und Sitten, die sie unterdrücken und entrechten, und die Aufgabe der Förderung ihrer Würde und Rechte. Der Kampf zur vollen Anerkennung ihrer Würde, Rechte und Stellung in der Gesellschaft und innerhalb der Kirche wird ein langer und mühsamer Weg sein, aber kein hoffnungsloser Weg und keine zwecklose Mühe. Wie G. L. Müller es formuliert hat, ist es eine aktuelle theologische und anthropologische Aufgabe, das Kirchesein der Frauen, ihren generellen und spezifischen Beitrag für den ‚Aufbau der Kirche, die der Leib Christi ist‘, grundlegend neu zu formulieren. Daraus sind Konsequenzen zu ziehen für die konkrete Gestaltung kirchlichen Lebens41. Aktuell bleibt auf jeden Fall die 41

Vgl. Gerhard L. Müller (Hrsg.), Frauen in der Kirche, Würzburg 1999, S. 10.

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Ahlonko Kouassi Augustin Kuoanvih

Botschaft, die das II. Vatikanische Konzil 1965 an die Frauen gerichtet hat: „Die Stunde kommt, die Stunde ist schon da, in der sich die Berufung der Frau voll entfaltet, die Stunde, in der die Frau in der Gesellschaft einen Einfluss, eine Ausstrahlung, eine bisher noch nie erreichte Stellung erlangt. In einer Zeit, in welcher die Menschheit einen so tiefgreifenden Wandel erfährt, können deshalb die vom Geist des Evangeliums erleuchteten Frauen der Menschheit tatkräftig dabei helfen, dass sie sich nicht selbst zerstört“.42 Ist es heute nicht unbedingt notwendig, von der theoretischen Anerkennung der aktiven und verantwortlichen Präsenz der Frau in der Kirche endlich zu deren praktischen Verwirklichung zu kommen?43 Die Würde der Frau und ihre Berufung und Rechtsstellung in der Gesellschaft und in der Kirche bleiben ein Thema menschlicher und christlicher Reflexion, das weitere Überlegungen und Untersuchungen erfordert. Mein Wunsch am Ende dieser Arbeit ist, dass alle Menschen (Männer und Frauen) in Südtogo, in Afrika und auf der ganzen Welt sich eines Tages wirklich als Brüder und Schwestern gleicher Würde und Familie fühlen können.

42 43

Botschaft des Konzils an die Frauen (8.12.1965), in: AAS 58 ( 1966), S. 13 – 14.

Paul VI., Rede an das Komitee für das internationale Jahr der Frau, 18. April 1975, in: AAS 67 (1975), S. 266.

El derecho a la intimidad Una reflexión en torno a los c. 220 y 642 De José María Díaz Moreno SJ I. El contexto jurídico del Estatuto de los fieles y laicos – los Derechos fundamentales de la persona humana a) El estudio de los derechos fundamentales de los fieles cristianos que abre el libro II del CIC, si se quiere hacer algo más que una mera exégesis positiva y declarativa de los textos legales (c. 204 – 231), puede enfocarse desde diversas perspectivas que, en definitiva, serán siempre complementarias, pero que pueden tener ámbitos muy diversos. Entre esas perspectivas nos interesa señalar, tanto el contexto jurídico, como el contexto teológico. Nada nace de cero. Estamos ante textos legales canónicos que tienen como finalidad ordenar el ejercicio de la libertad, en su dimensión natural y sobrenatural, es decir, como personas humanas y como fieles cristianos. En cuanto al contexto jurídico, es necesario tener en cuenta que este Estatuto de los fieles y de los laicos promulgado por Juan Pablo II en 1983, debe enmarcarse, por un elemental sentido de la realidad, en un contexto jurídico en el que ya tenían un significado muy importante y vital las Declaraciones de los Derechos humanos. En cuanto al contexto teológico, basta echar una mirada a las fuentes legales de esos cánones, para caer en la cuenta de que tienen su apoyatura en documentos doctrinales del Magisterio de la Iglesia, sobre todo a partir del Concilio Vaticano II. Quedan así resumidas las razones de estas anotaciones preliminares sobre el contexto jurídico y el contexto teológico en los que hay que situar el Estatuto canónico de los fieles y de los laicos. Si no tenemos en cuenta el contexto jurídico en que nace el Estatuto, tendríamos el peligro de calificar estos cánones, más que como leyes que imponen derechos y obligaciones, como meras declaraciones de principio o directrices pastorales. Es decir, estaríamos ante el peligro de situarlos fuera del derecho. Pero, si nos quedáramos ahí, tendríamos – a lo más – un estudio de derecho comparado (Derecho estatal y Derecho canónico), que nos impediría ver el encaje exacto de ese Estatuto de los fieles dentro de la dimensión jurídica, que la Iglesia tiene por voluntad de Jesucristo. En otros términos, si omitimos el contexto jurídico, nos situaríamos en el campo de lo me-

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ramente teológico y pastoral. Si omitimos el contexto teológico, estaríamos, a lo más, dentro del campo del Derecho, pero no dentro del campo específico del Derecho de la Iglesia. b) El contexto jurídico del Estatuto canónico de los fieles y laicos no es otro que las Declaraciones de los Derechos fundamentales humanos. Entendemos por Derechos Fundamentales humanos (= DF) aquellos derechos, facultades y libertades que tienen las personas no por concesión de la autoridad, ni de las leyes positivas, sino por el mero hecho de ser persona y participar de la naturaleza humana. En consecuencia: 1) son necesarios titulares de estos derechos todas las personas humanas, sin distinción alguna de edad, raza, sexo, religión, nacionalidad; 2) están sobre cualquier circunstancia diferenciadora y discriminadora y constituyen un patrimonio básico que iguala sustancialmente a las personas. Aquí radica una de las primeras diferencias con otra clase de derechos subjetivos que, aunque fundados en la dignidad de las personas y las exigencias del bien común y de las relaciones jurídicas, dependen, en su misma existencia y en su ejercicio, de determinadas circunstancias: así son diferentes los derechos del menor de edad y del mayor de edad, de los hijos y de los padres de familia, de los solteros y de los casados. La designación de estos DF es variada y, de algún modo, depende del fundamento último que se les asigne: derechos del hombre, derechos (naturales) humanos, derechos de la persona, etc. También se les designa como “libertades fundamentales” para acentuar una importante vertiente de estos derechos, en cuanto que son un patrimonio propio de la persona humana, frente a las extralimitaciones e intromisiones del poder. Algunas de estas posibles formas de designarlos son ciertamente tautológicas, v.g. derechos humanos, ya que los únicos titulares de cualquier género de derechos son las personas humanas, físicas o jurídicas. Pero, aun admitiendo esta tautología creemos válida esa designación en cuanto que, por ella, se quiere significar precisamente que esos derechos corresponden a las personas por ser personas humanas y no por concesión de una autoridad o ley positiva. Quizás lo más exacto sea designarlos como Derechos humanos fundamentales, para – de esta forma – señalar tanto su origen, como su importancia básica, en cuanto que en ellos se apoyan otros derechos y en cuanto que no pueden ni negarse, ni desconocerse, ni privarles de su defensa, ya que cualquiera de esas actitudes redundaría en una lesión de la persona misma. Hay que tener en cuenta que el concepto de persona es un concepto que le viene dado al Derecho desde la filosofía y la realidad social que se vive, a tenor de esa filosofía. El Derecho se limita a aceptar unos contenidos sociales previos, porque el Derecho no crea las realidades sociales, sino que sólo intenta ordenarla, según justicia y equidad. Pero estos conceptos no han significado siempre lo mismo. Si

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hoy el concepto jurídico de persona coincide con el concepto social que lo aplica a toda persona humana, esta coincidencia ni ha sido siempre así, ni es una realidad absolutamente vigente en todo el mundo. Si hoy persona y personalidad son – deberían ser – conceptos y realidades idénticas, una vez más, hay caer en la cuenta que no siempre fue así. Hoy la personalidad jurídica no es otra cosa que la investidura jurídica de la persona que le confiere aptitud y capacidad de ser sujeto de derechos y deberes y de tener capacidad para ejercerlos. Esta concepción de la personalidad jurídica, nace en el Derecho Romano y se desarrolla en el triple status en que había que situar a las personas, es decir, el status libertatis, civitatis, familiae. Como consecuencia de ese encuadramiento las personas eran sui iuris o alieni iuris. Hoy, – al menos teóricamente – desaparecida toda huella de esclavitud, de sujeción formal de unas personas a otras por diferencias de sexo, raza, religión, etc. y desaparecida también una concepción estamental del Estado, ya es normal y lógico proclamar la existencia de unos derechos humanos fundamentales que tienen todas las personas, por el mero hecho de serlo y que es independiente de circunstancias y normas, ya que éstas sólo afectarán al ejercicio de esos derechos, al ser una de las propiedades esenciales de los mismos el que nadie, ni nada puede arrebatárselos a las personas. Si eso sucediera se destruiría la persona y personalidad misma. El Derecho podrá regular el ejercicio, pero nunca desposeer de esa personalidad, que es anterior al mismo derecho (positivo). c) El derecho, en sí y en cada una de sus ramas, no es nunca una mera teoría, ni una doctrina meramente especulativa, sin reflejo en la realidad. El derecho es una parte importante de lo que los antiguos canonistas, cuando todo el saber teológico y jurídico en la Iglesia iba unido, denominaron precisamente “teología práctica”. Lo cual significa que el derecho y los derechos de los cuales es titular la persona, en su dimensión personal y grupal, no es una mera declaración de principio, ni un atributo ornamental. Es algo que se vive y se realiza. Por ello mismo, hay que preguntarse cuál es la finalidad primaria de estos DF y qué pretenden lograr los titulares de los mismos. d) La principal finalidad, aunque no exclusiva, de los DF, es precisamente garantizar la defensa de la persona, ante determinadas intromisiones de los poderes públicos en su esencial patrimonio jurídico. Esta finalidad, o cualidad, de los DF se apoya en la constatación de una realidad evidente: la propensión de los poderes públicos, sean del orden que sean, a extralimitarse en las exigencias que condicionan el ejercicio de las libertades de la persona, en su actuar individual o asociado a otras. Esta tendencia y la necesidad de su control, está en la base misma del nacimiento de los Estados de derecho, como realidad política opuesta a las tiranías, los poderes absolutos o dictatoriales. Esta finalidad y característica nos lleva también a la constatación de un hecho que queda demostrado en la historia misma de los DF: su nacimiento y su desarrollo ha

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sido generalmente polémico, reivindicativo y, por lo mismo, conflictivo. No ha sido una evolución y un logro pacífico. Y no lo ha sido porque se dan dos circunstancias que generalmente están enfrentadas y son esencialmente polémicas: 1ª) La conciencia gradual de la dignidad de toda persona, por ser persona y de la igualdad fundamental entre todas las personas. Es verdad que esta conciencia presupone un cierto grado de civilización y desarrollo cultural, y que esa situación, esencialmente injusta, no siempre es nota común de todos los grupos humanos en los que las personas nacen, viven y se desarrollan. Pero el que no sea en todos los sitios eso así, no significa que no deba ser así, sino que es indicio de la persistencia de una grave injusticia. 2ª) La tendencia de quienes tienen el poder a usarlo en su propio provecho, asegurarlo y ampliarlo cada vez más. Y uno de los medios es precisamente impedir ese umbral mínimo de cultura, que dé conciencia a la persona de su dignidad y que consiste primordialmente en ser portadora de unos DF que no debe al poder, sino a su ser de persona. Basta pensar en lo que ha significado la existencia legal de la esclavitud y de su presencia, en el mismo mundo del derecho, durante tantos siglos. Una de las bases para el mantenimiento de esa radical injusticia era precisamente impedir el acceso de los esclavos, de todos los tiempos, a la cultura necesaria para lograr la conciencia de su ser y de su dignidad de persona. e) Los DF, como garantía de las libertades, alcanzan su punto de máxima eficacia, teórica y práctica, cuando estos derechos alcanzan la categoría suprema en una jerarquía de leyes, es decir, se constitucionalizan y, por tanto, entran dentro de esa ley de leyes, a la que el mismo poder, tanto el legislativo, como el ejecutivo, como el judicial están sometidos. Esto tiene lugar cuando, en el texto de la Constitución, aparecen explícitamente recogidos los DF, o bien se logra su vigencia en virtud de pactos internacionales y de adhesión a determinadas Declaraciones de los DF. O las dos cosas, como sucede en el ordenamiento español. f) Son sujetos o titulares de los DF, las personas individuales. Así ha sido y se ha entendido desde que a partir del siglo XVII se elabora la primera teoría de los DF o, como se les denominaba entonces, los Derechos naturales. La consideración de los DF como facultades de los individuos singulares se mantiene durante los siglos XVIII – XIX, dado el predominio de las ideologías liberales en el terreno del derecho político. Modernamente, sobre todo a partir de las Declaraciones Universales de DF, se amplia esta titularidad a entes supraindividuales y puede decirse que hoy es un dato común establecer una doble titularidad complementaria que, por otro lado resulta sencillamente obvia: los titulares de los DF son tanto las personas individuales, como los grupos soci-

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ales. Esto da lugar a que existan verdaderos DF de las personas, de las comunidades sociales menores (familia y asociaciones, comunidades regionales, etc.), de los Estados, tanto en su ámbito interno (partidos políticos y asociaciones), como en el ámbito internacional. Esta realidad plural de los DF puede dar lugar a colisiones entre los DF individuales y los DF de ámbito supraindividual. En ese caso, surge el interrogante de la prevalencia del DF individual o colectivo. No siempre resultará clara y obvia la solución práctica. Basta pensar entre el derecho a la información y el derecho a la intimidad, derecho a la propiedad y expropiación forzosa, etc. No creo pueda darse un criterio permanentemente válido. Pero, habría que afirmar que el bien común debe prevalecer sobre el bien individual, pero sólo en cuanto éste exija, y sólo en la medida que lo exija, ese recorte, en pro del bien común, del ejercicio de ese DF. Esto sería aplicable, v. gr. al ejercicio del culto en cuanto que es una dimensión del DF a la libertad religiosa, cuando algunas expresiones públicas de un determinado culto sea causa de desórdenes públicos. Pero, en este supuesto – que no debe presumirse, sino que hay que probar – al quedar de alguna manera frustrado el ejercicio de un DF de la persona, la autoridad competente, como gestora del bien común y del orden público, estaría obligada a poner todos los medios para que ese ejercicio público del culto, se posibilite, sin daño del bien común y del orden público. g) Por ser derechos subjetivos, tienen todas las características que la doctrina suele atribuir a los mismos: uso, disfrute, disposición, defensa, etc. Pero como notas específicas, se suelen señalar las siguientes: 1ª) son imprescriptibles, en cuanto que no les afecta el instituto de la prescripción y, por tanto, no se pierden por el paso del tiempo; 2ª) son inalienables en una doble vertiente a no poder transferirlos a otros, ni los sujetos de los mismos pueden ser despojados de ellos; 3ª) son irrenunciables, aunque su ejercicio no sea siempre obligatorio; 4ª) son universales en cuanto que son propios de toda y cualquier persona humana. Se trata de cualidades o características que proceden de la misma naturaleza humana, en cuanto estructura ontológica que constituye a la persona humana, en cuanto tal, y de la cual la persona no puede despojarse, ya que es la que le hace ser un individuo y no otro. Desprenderse de la naturaleza humana equivaldría a deja de ser persona humana.1

1

Es una cuestión debatida si se deben calificar a los DF como absolutos o limitados. A primera vista, parece que debería calificarse como absolutos y que cualquier limitación debería calificarse como “contra naturam”. Así aparece en las primeras formula-

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h) La fundamentación de los DF depende de la Filosofía del Derecho que se defienda y profese. En este sentido se ha intentado fundamentar los DF en lo que podríamos denominar el relativismo jurídico pragmático y positivista, o en una categoría axiológica del derecho, o en la sociología jurídica, o bien, lo que creemos más exacto, en el iusnaturalismo renovado. Pero, adelantándonos al contexto teológico de los DF, creemos que la fundamentación última de los DF hay que situarla en una complementariedad filosófico-teológica que nos da a conocer el fundamento último de la dignidad de la persona humana, como hijo de Dios y hermano de los demás hombres. Esta conciencia nos impulsa a conocer y a cumplir lo que unos debemos a los otros, “como personas igualmente queridas por Dios, en virtud de su gracia que redime, sana y eleva a todo hombre para un proyecto de existencia marcada por el don y la exigencia del amor y del servicio y perfila los contenidos y la forma de cada uno de los derechos humanos y su intrínseca interdependencia como expresiones de una superior justicia, al servicio de una realización plena de la persona humana, vista en 2 la perspectiva integral de su último destino.”

i) El reconocimiento y la garantía de los DF, como ya hemos indicado, hoy es una nota común y cualificadora de los Estados de Derecho. O están recogidos explícitamente en las respectivas Constituciones o los Estados se obligan a reconocerlos y protegerlos en virtud de Tratados Internacionales. Si ese reconocimiento es sincero, el Estado tiene que ofrecer a los ciudadanos garantías reales que aseguren el ejercicio de los DF para que no sean meras declaraciones de principios o meras exhortaciones. Estas garantías deben existir tanto en relación a las demás personas, como frente el mismo Estado. Lo cual implica una cierta paradoja, ya que la persona individual o asociada a otros para defenderse de los posibles abusos del Estado, necesita del Estado y de su normativa. Normalmente la protección y tutela de los DF está encomendada a los Tribunales de Justicia que actuarán a instancia de la parte que se siente lesionada.

ciones, como es la Declaración del buen pueblo de Virginia (1776): “la libertad de prensa es uno de los grandes baluartes de la libertad y no puede ser restringida jamás, a no ser por gobiernos despóticos” (Punto XII) y en la Declaración de los derechos del hombre y del ciudadano (1789): “La libertad consiste en poder hacer todo lo que no daña a los demás. Así, los derechos naturales de cada hombre no tiene más límites que los que aseguran a los demás miembros de la sociedad el goce de estos mismos derechos. Estos límites sólo pueden ser establecidos por la ley.” En la actualidad, la doctrina admite la limitación del ejercicio de estos derechos, con tal que, en esa necesaria restricción, quede a salvo la condición del hombre como persona. 2

A. M. Rouco, Los fundamentos de los Derechos humanos, en R. Serres (edit.), “Teología y Derecho”, Cristiandad, Madrid 2002, pags. 710 – 720.

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Ese tribunal puede ser o un tribunal ordinario o un órgano jurisdiccional específico, como sucede en España, a través del Tribunal Constitucional, al que los se puede acudir en recurso de amparo, pero el art. 53.2 de nuestra Constitución declara competentes a los Tribunales ordinarios, mediante un procedimiento especial (preferencia y sumariedad). También existe una protección de rango internacional, a través del Tribunal Europeo de los derechos del hombre, ante el que pueden comparecer los ciudadanos de los países firmantes de la Convención de Salvaguarda de los derechos del hombre y libertades fundamentales, Roma 1950 y suscrita por España en 1979. j) Para el fin concreto que nos hemos propuesto en esta reflexión sobre el contexto jurídico del Estatuto canónico de los Fieles y Laicos, es de especial importancia y significado, la Declaración universal de los Derechos Humanos (N. York 1948) (= DUDH). Al acabar la Guerra mundial (1939 – 1945), el 20 de junio de 1945 los representantes de 50 Estados firman la carta fundacional de la ONU. En ella se hace mención específica de algunos derechos humanos cuyo reconocimiento y protección será uno de los objetivos y fines de la Organización, pero sobre todo en el art. 68 de la Carta, se establecía una comisión sobre los Derechos del hombre, integrada por 18 juristas pertenecientes a países miembros de la ONU. Con muchas dificultades y tras varias vicisitudes, el texto de la Declaración se aprueba el 10 de diciembre de 1948, por 48 votos a favor y la abstención de ocho de los países miembros (Bielorrusia, Checoeslovaquia, Polonia, Ucrania, Unión Soviética, Unión Sudafricana y Arabia Saudita). Se ha discutido mucho sobre la naturaleza y el valor jurídico de la DUDH. Nadie duda de la obligación moral, ya que la DUDH constituye la expresión de la conciencia jurídica de la humanidad, representada en la ONU y, como tal, es fuente de un derecho superior, cuyos principios no pueden ser desconocidos y menos negados por los países miembros. Hay quien defiende el carácter jurídico y obligatorio de la DUDH al considerarla desarrollo de los arts. 55 y 56 de la Carta de la ONU. Pero, la generalidad de la doctrina y la misma praxis interpreta la DUDH como no estrictamente vinculante para los Estados miembros de la ONU. Esto no puede llevarnos a escatimar su importancia.3

3

“La Declaración, como no podía ser de otra forma, fue fruto del consenso. El contenido final de este texto refleja un compromiso y un delicado equilibrio entre las diferentes ideologías y las diferentes cosmovisiones que estaban presentes en esos momentos en las Naciones Unidas.[…] Hay que señalar que la Declaración Universal se convirtió en un instrumento revolucionario, dado que constituyó el primer texto de carácter internacional que lograba integrar en su seno tanto los derechos económicos, sociales y culturales, avanzando así el concepto de indivisibilidad e interdependencia del conjunto de los Derechos humanos […] y se ha convertido en un auténtico patrimonio ético de la humanidad.” (J. Oraa / F. Gómez Isa, La Declaración Universal de los Derechos Humanos, Bilbao 2002, pags. 121 – 122).

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Como valores fundamentales de la DUDH hay que señalar, al menos, los siguientes: 1) Por primera vez quedan concretados los DF de las personas en el ámbito internacional y, por primera vez, la mayoría de los Estados ha llegado a un acuerdo en esta concreción y formulación; 2) tiene, en cierta manera un carácter fundacional a nivel mundial y fundamental para dar paso a pactos que desarrollen algunos de los DDHH; 3) constituye la base de un derecho superior, como una versión práctica de los que tradicionalmente se denomina derecho natural; 4) en cuanto a sus posibles notas negativas, se han señalado las siguientes: falta de sistematización, eclecticismo ideológico como fruto del difícil consenso que la DUDH requería, dudosa y escasa fuerza obligatoria. Juan XXIII nos ofrece en Pacem in Terris un juicio complexivo: “Argumento decisivo de la misión de la ONU es la Declaración Universal de los Derechos del hombre, […] En el preámbulo de esta Declaración se proclama como objetivo básico, que deben proponerse todos los pueblos y naciones, el reconocimiento y el respeto efectivo de todos los derechos y todas las formas de libertad recogidas en esa Declaración. No se nos oculta que ciertos capítulos de esta Declaración han suscitado algunas objeciones fundadas. Juzgamos, sin embargo, que esta Declaración debe considerarse un primer paso introductoria para el establecimiento de una constitución jurídica y política de todos los pueblos del mundo. En dicha Declaración se reconoce solemnemente a todos los hombres sin excepción la dignidad de la persona humana y se afirman todos los derechos que todo hombre tiene a buscar libremente la verdad, respetar las normas morales, cumplir los deberes de la justicia, observar una vida decorosa y otros derechos vinculados con éstos. Deseamos, pues, vivamente que la Organización de las Naciones Unidas pueda cada vez mejorar sus estructuras y medios a la amplitud y nobleza de sus objetivos.”4

k) En la Declaración Universal de 10 de diciembre de 1948, no aparece el término intimidad, pero se recoge el contenido substancial de este derecho al proclamar el artículo 12 que “nadie será objeto de injerencias arbitrarias en su vida privada, su familia, su domicilio o su correspondencia, ni de ataques a su honra o a su reputación. Toda persona tiene derecho a la protección de la Ley contra tales injerencias o ataques.”5

4 El texto castellano en J. Iribarren (ed.), Once grandes mensajes, 16ª edic., Madrid 1999, nn. 143 – 145, pags. 249 – 250. 5

El texto en M. E. Olmos Ortega / J. Landete, Legislación Eclesiástica, 17 edic., Madrid 2005, pag. 1039.

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Tampoco en el Convenio para la protección de los derechos y las libertades de 4 de noviembre de 1950, se menciona la intimidad personal como un derecho fundamental de la persona humana, sino que en su artículo 8, mantiene substancialmente la redacción del artículo 12 de la Declaración Universal, pero añadiendo un apartado en el que se especifica que “no podrá haber injerencia de la autoridad pública en el ejercicio de este derecho, sino en cuanto esta injerencia esté prevista por la ley y constituya una medida que, en una sociedad democrática, sea necesaria para la seguridad nacional, la seguridad pública, el bienestar económico del país, la defensa del orden y la prevención del delito, la protección de la saluda o de la moral, o la protección de los derechos y de las libertades de los demás.”6

En el Pacto Internacional de Derechos civiles y políticos, de 19 de diciembre de 1966, en su artículo 17 se vuelve a repetir el artículo 12 de la Declaración Universal.7 Y lo mismo sucede en la Convención de los Derechos del niño de 20 de noviembre 1989, en artículo 16: “Ningún niño será objeto de injerencias arbitrarias o ilegales en su vida privada, su familia, su domicilio o correspondencia, ni de ataques ilegales a su honra y su reputación.”8

Tampoco en el reciente Carta de los Derechos fundamentales de la Unión Europea, de 18 de diciembre de 2000, en el artículo 7 se menciona la intimidad, sino que, en la línea de la Declaración Universal y de los Pactos Internacionales, se limita a establecer que “toda persona tiene derecho al respeto de su vida privada y familiar, de su domicilio y de sus comunicaciones.”9

j) En la constitucionalización del Derecho a la intimidad, sí aparece el término intimidad, como expresión de este derecho. Son muchas las Constitu-

6

Olmos, o. cit., pag.1047.

7

Olmos, o. cit., pag. 1071.

8

El texto en L. I. Sánchez Rodríguez / J. A. González Vega, Derechos humanos, 4ª edic., Madrid 2001, pag. 229. 9

Olmos, o. cit., pag.1188. No puede desconocerse, en relación más directa con lo que se establece en el c. 642 del vigente Código de Derecho Canónico, la importancia del Documento emitido por las Naciones Unidas el año 1976 sobre el Respeto de la vida privada de los individuos y la integridad y soberanía de las Naciones, en el que se menciona, como una trasgresión del derecho a la propia intimidad, el uso abusivo de métodos psicológicos (detector de mentiras) que violan la intimidad de la persona. Cf. F. Mantaras Ruiz-Berdejo, Discernimiento vocacional y Derecho a la intimidad en el candidato al presbiterado diocesano, Roma 2005, pag. 254.

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ciones que reconocen y protegen expresamente el derecho de las personas a su intimidad.10 La vigente Constitución española así lo hace en su artículo18, 1: “Se garantiza el derecho al honor, a la intimidad personal y familiar y a la propia imagen.”11

Queda así delineado el contexto jurídico en el que creemos hay que situar el Estatuto canónico de los Fieles y Laicos, para una mejor comprensión del mismo. II. La relación del Magisterio con las Declaraciones de los Derechos humanos y el contexto eclesial del Estatuto de los derechos de los Fieles y Laicos a) El contexto eclesiológico de los DF puede comenzar con un interrogante, aunque pueda resultar extraño y hasta ofensivo. Parece contradictorio que se ponga en duda el reconocimiento y la vigencia de los derechos fundamentales de la persona humana en la Iglesia, que, en realidad, no es otra cosa que la continuación sacramental de Cristo, en el tiempo y en el espacio. No creo que nadie haya puesto en duda la vigencia de esos derechos en el Evangelio. No se trata de la existencia de determinadas formulaciones, que es obvio que no existirán, sino de la vigencia de un respeto fundamental y sincero a la persona. Para el creyente en Cristo, la persona humana, está transcendida de la máxima dignidad y es objeto del máximo respeto, al confesar que las mujeres y los hombres, somos hijos de Dios y, por consiguiente, hermanos en la igualdad más profunda y más sólidamente fundada. Sin embargo, el interrogante y la duda sobre la vigencia de los derechos humanos en la Iglesia, ha existido y existe. Examinando la historia de nuestra Iglesia, en relación con los derechos humanos, si se procede con sincera objetividad, hay que confesar que son muchas más las páginas limpias, y aun brillantes, de fidelidad a la fraternidad y a la igualdad fundamental entre los hombres, que las páginas turbias, confusas o manchadas. Basta pensar en la significación de S. Ambrosio, San Juan Crisóstomo, S. Francisco de Asís, San Juan de Dios, etc., en la antigüedad y, en la época moderna, S. Vicente de Paul, Federico de Ozanan, P. Foucauld, Teresa de Calcuta, etc.

10

En Europa, reconocen el derecho a la intimidad las Constituciones de España, Bélgica, Países Bajos, Portugal y Grecia; sólo algunas vertientes de la intimidad, las Constituciones de Alemania, Italia, Suecia y Finlandia. Cf. Mantaras, ib. y especialmente, L. Rebollo Delgado, El derecho fundamental a la intimidad, Madrid 2000, pags. 221 – 242. 11

Cf. Rebollo, o. cit., pags. 99 – 131, sobre el desarrollo legislativo del art. 18 de la Constitución española.

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Pero, desgraciadamente, no han faltado a lo largo de la vieja historia de la Iglesia de Jesús, actitudes contrarias a los DF y, sobre todo, hay que decir que, tal y como los entendemos hoy, su integración en la doctrina de la Iglesia, no ha tenido un camino fácil. Sobre un punto concreto, pero que está dentro plenamente del campo de los Derechos humanos, el Vaticano II se planteó, con admirable y ejemplar sinceridad, la cuestión a la que nos referimos. En la Declaración Conciliar Dignitatis humanae, sobre el derecho fundamental a la libertad religiosa, afirma el Concilio lo siguiente: “Por consiguiente, la Iglesia fiel a la verdad evangélica, sigue el camino de Cristo y de los apóstoles, cuando reconoce y promueve el principio de la libertad religiosa como conforme a la dignidad del hombre y a la revelación de Dios. Guardó y transmitió, a lo largo de los siglos, la doctrina recibida del Maestro y de los Apóstoles. Aunque en la vida del Pueblo de Dios, que camina a través de las vicisitudes de la historia humana ha existido, algunas veces, un comportamiento menos conforme con el espíritu evangélico e incluso contrario a él, sin embargo 12 siempre se mantuvo la doctrina de la Iglesia de que nadie debe ser obligado a la fe.”

b) En la actitud de la Iglesia ante las Declaraciones de los DF, pueden distinguirse cuatro fases. 1) La primera es de prevención y recelo. Tomamos, como punto de partida, la reacción de la Iglesia ante la Declaración francesa de los DF de 1789. Gregorio XVI (1831 – 1846) representa la reacción oficial de la Iglesia ante lo que significó, dentro de sus variantes circunstanciales políticas, la Declaración de 1789 y el cambio político e ideológico a que dio lugar la Revolución francesa. Se ha dicho por historiadores de la Iglesia que Gregorio XVI fue un hombre de la Edad media, perdido en el siglo XIX. Desde luego, parece evidente que no llegó a comprender la época que le tocó vivir y las conmociones sociales y culturales de su tiempo. En relación más directa con nuestro tema, la Encíclica Mirari vos de 15 de agosto de 1832, tiene un especial significado13. El subtítulo de la Encíclica no deja lugar a duda sobre su contenido: Sobre los errores modernos. Es evidente la situación de recelo, en parte muy justificado por el tono y el sustrato anticristiano del pensamiento y la ideología a la que el Papa se refiere. Pero, en relación con los DF, se condena en la Encíclica las que el Papa denomina “libertades de perdición”, como son la libertad de conciencia a la que se califica como “pestilente error escudado en la inmoderada libertad de opiniones que, para ruina de la sociedad religiosa y de la civil, se extiende

12 13

Conc. Vaticano II, Declaración Dignitatis humanae, n. 12.

El texto castellano en P. Galindo (ed.), Colección de Encíclicas y Documentos pontificios, Edic. Acción Católica, Madrid 1955, pags. 1 – 9.

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cada día más por todas partes, llegando la imprudencia de algunos a asegurar que de ella se sigue gran provecho para la causa de la religión” (n. 10) Condena también la libertad de imprenta, entendida como el “derecho a dar a luz pública toda clase de escritos” y la separación entre la Iglesia y el Estado. También Pío IX (1846 – 1978), en su enseñanza jurídico-social, se opone a la filosofía social y política imperante ya en gran parte de Europa. En este contexto, pública en 1864, tanto la Encíclica Quanta cura, como el Syllabus.14 Combate el naturalismo que pretende que la sociedad civil se estructure y se gobierne de espaldas a lo religioso, rechaza como un error que la voluntad del pueblo, manifestada a través de la opinión pública o de otro modo, se erija en la suprema ley, exenta de toda ley, divina y humana. En el Syllabus se condenan la libertad civil de culto y la libertad de opinión. 2) La segunda fase se puede denominar de transición. León XIII (1878 – 1903) en su Encíclica Inmortale Dei, sobre la constitución cristiana de los Estados, niega que el pueblo sea “la única fuente de todos los derechos y de toda autoridad” y rechaza las libertades de conciencia, de culto, pensamiento e imprenta y entiende la libertad, como “libertad para el bien.”15 De especial importancia, desde este punto de vista, es su Encíclica Libertas, en la cual matiza y rechaza propiamente los abusos de la libertad, es decir, la libertad de cultos, como libertad para que cada uno profese la religión que más se le acomode, la libertad opinión como el derecho a expresar y difundir cualquier tipo de ideología y pensamiento, sin ningún tipo de limitación, la libertad de enseñanza como educación al margen de los valores religiosos y la libertad de conciencia como el derecho a dar culto a Dios, según le agrade a cada uno. Pero, se advierte una notable evolución y una mayor apertura al reconocimiento explícito de los DF. Nos baste aducir estas afirmaciones: “[La Iglesia] consecuente con los tiempos, debe amoldarse a mayores concesiones según las exigencias de la política moderna en el. gobierno de los pueblos[…] no es reprobable trabajar para que prevalezca una forma de gobierno libre, porque entonces no se pretende una libertad inmoderada y viciosa, sino que se busca alivio para el bien común de todos; y, con esto, únicamente se pretende que allí donde se conceda licencia para lo malo no se impida el derecho a hacer lo bueno […] tampoco está prohibido preferir para el Estado una forma moderadamente popular siempre que quede a salvo la doctrina católica sobre el origen y el ejercicio del poder. […] La Iglesia no reprueba ninguna forma de gobierno con tal de que sea apto para la utilidad de los ciudadanos; pero quiere, como también lo ordena la naturaleza, que se establezca sin

14

Cf. Galindo, o. cit., pags. 545 – 559.

15

Cf. Galindo, o. cit., pags. 49 – 66.

El derecho a la intimidad

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ofender a nadie en su derecho, singularmente dejando a salvo los derechos de la Iglesia.”16

En el tema de las relaciones Iglesia- Estado asume la célebre teoría de la “tesis e hipótesis” que abre una a un cierto régimen de tolerancia religiosa. En el campo de lo social, no se puede olvidar su Encíclica Rerum novarum de 5 de mayo de 1891, en la que defiende de modo claro y absoluto los derechos socio-económicos del hombre y la dignidad de los obreros, el derecho a una remuneración adecuada y a una condiciones dignas en el trabajo.17 Refiriéndose a esta Encíclica afirmará Juan XXIII que “mientras algunos no tenían reparos en acusar a la Iglesia católica, como si ésta, ante la cuestión social, se limitase a predicar a los pobres resignación y a los ricos la generosidad, León XIII, no vaciló en proclamar y defender abiertamente los sagrados derechos de los trabajadores.”18

3) La tercera fase es de aceptación gradual y fáctica. Ante la aparición y consolidación de regímenes totalitarios, la doctrina pontificia se enfrenta a ellos doctrinalmente, reivindicando los DF y acusando a esos regímenes de violarlos. Así Pío XI (1922 – 1939) en su célebre Encíclica Mit Brenneder Sorge en el año 1937, condena el totalitarismo nacista y defiende abiertamente los DF de la persona humana. Basados en el derecho natural de origen divino. Ante el principio y dogma nacista de que el “derecho es lo que es útil para l nación”, afirma el Papa lo siguiente: “[El derecho] desgajado de la ley ética equivale por lo que respecta a la vida internacional a un permanente estado de guerra entre las naciones, y en la vida nacional, pasa por alto, al confundir el interés y el derecho, el hecho fundamental de que el hombre, como persona, tiene derechos recibidos de Dios que han de ser defendidos contra cualquier atentado que pretendiese negarlos, abolirlos o impedir su ejercicio. Despreciando esta verdad se pierde de vista que, en último término, el verdadero bien común se determina y se conoce mediante la naturaleza del hombre con su armónico equilibrio entre derecho personal y vínculo social, como también por el fin de la sociedad, determinado por la misma naturaleza humana. El Creador ha querido que la sociedad sea el medio para el pleno desenvolvimiento de las facultades individuales y sociales y así de ella tiene que valerse el hombre, dando o recibiendo para el bien propio y el de los demás.”19

En la Encíclica Divini Redemptoris, el mismo año, sobre el comunismo ateo afirma que 16

El texto en Galindo, o. cit., nn. 46 y 52 – 54, pags. 67 – 84.

17

El texto castellano en Iribarren, o. cit., pags.19 – 56.

18

Iribarren, o. cit., n. 16, pags. 134 – 135.

19

Galindo, o. cit., n. 28, pag. 150.

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“Dios ha enriquecido al hombre con múltiples y variadas prerrogativas: el derecho a la vida y a la integridad corporal, a los medios necesarios para su existencia, el derecho a tender a su propio fin por el camino que Dios le ha señalado, el derecho, 20 finalmente, de asociación, de propiedad y del uso de la propiedad.”

El Magisterio de Pío XII (1939 – 1958) sobre el orden social y político, sobre todo, después de la última guerra mundial es amplísimo y apenas hay cuestión relevante que no haya sido objeto de su reflexión y enseñanza en sus Encíclicas, discursos y radiomensajes. En relación, más o menos directa, con los DF, se han señalado estos cuatro puntos, como más significativos en su magisterio: 1º) La afirmación clara y terminante de la dignidad de la persona humana, en la que, por voluntad de Dios tienen su origen y fundamento los derechos del hombre: “a mantener y desarrollar su vida corporal, intelectual y moral y particularmente el derecho a una formación y educación religiosa; el derecho al culto, privado y público, a Dios, incluida la acción caritativa religiosa; el derecho, en principio al matrimonio y a la consecución de su propio fin; el derecho a trabajar; el derecho a la sociedad conyugal y doméstica; el derecho de trabajar como medio indispensable para el mantenimiento de la vida familiar; el derecho a la libre elección de estado; por consiguiente, también del estado sacerdotal y religioso; el derecho a los bienes materiales consecuente de sus deberes y las limitaciones sociales.”21

2º) La defensa de los derechos de la familia, entre los que señala el derecho a la procreación, a la educación de los hijos, en conformidad con las convicciones religiosas de los padres, a constituir una unidad jurídica, a un hogar, a un trabajo digno y favorable a la unidad familiar.22 3º) La necesidad de un régimen de sana democracia que evite la aparición de un poder político absoluto, y sin limitaciones, que puede convertir al mismo poder democrático en puro y simple sistema absolutista.23 4º) La admisión de la tolerancia religiosa al afirmar que “la realidad enseña que el error y el pecado se encuentran en el mundo en amplia proporción. Dios los reprueba y, sin embargo, los deja existir. Por consiguiente, la afirmación: el extravío religioso y moral debe siempre ser impedido, en cuanto es posible, porque su tolerancia es en sí misma inmoral. […]”

20

Ib., nn. 27 – 28, pags. 144 – 145.

21

Radiomensaje de 24 de diciembre 1942. Cf. Galindo, o. cit., pags. 208 – 221.

22

Ib.

23

Radiomensaje de 1944. Galindo, o. cit., pags. 231 – 242.

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Pero la represión de las desviaciones morales y religiosas no puede ser la última norma de la acción política, sino que esa represión tiene que estar subordinada “a normas más altas y más generales, las cuales, en determinadas circunstancias, permiten e incluso hacen a veces aparecer como mejor camino no impedir el error a fin de promover el bien mayor.”24

4) Finalmente, la cuarta fase es de plena aceptación. Con Juan XXIII llega la plena aceptación y la integración en la doctrina católica de los DF. Ya en su Encíclica su primera Encíclica Ad Petri cathedram (29 de junio 1959), expresa su deseo de que “pacificados los ánimos y salvaguardados los derechos de cada uno, resplandezca en 25 todas partes, la libertad debida a los ciudadanos, a los Estados a la Iglesia.”

En Mater et Magistra, de 15 de mayo de 1961, se da ya un claro giro personalista a toda la doctrina social y política de la Iglesia, al afirmar que “el principio capital, sin duda alguna, de esta doctrina [social de la Iglesia] afirma que el hombre es necesariamente fundamento, causa y fin de todas las instituciones sociales; el hombre, repetimos, en cuanto es sociable por naturaleza y ha sido elevado al orden sobrenatural. De este principio, que afirma y defiende la sagrada dignidad de la persona, la santa Iglesia […] ha deducido […] una luminosa doctrina social para ordenar las mutuas relaciones humanas de acuerdo con los criterios generales, que responden tanto a las exigencias de la naturaleza y a las distintas condiciones de la convivencia humana como el carácter específico de la época actual, criterios que pre26 cisamente por esto pueden ser aceptados por todos.”

Pero, sin duda, la carta magna de los DF en la doctrina católica hay que buscarla en la Pacem in terris (11 de abril 1963).27 Juan XXIII centra su pensamiento en cuatro derechos básicos que constituyen la médula de los DF. Afirma el Papa que Dios quiso que la persona humana tuviese, radicados en su misma naturaleza, cuatro Derechos Fundamentales: a la verdad, a la justicia, a la solidaridad y a la libertad. El fruto de la verificación de estos cuatro derechos fundamentales no será otro que la paz, que es un anhelo de la humanidad en todos los tiempos. Juan XXIII no hizo una aplicación de estos cuatro derechos fundamentales de la persona al interior de la Iglesia, pero es una consecuencia obvia que sacarán, más tarde, los documentos

24

Discurso a los juristas católicos, 6 de diciembre 1953. Galindo, o. cit., pags.1482 – 1488. 25

AAS 51( 1959), pags. 497 – 531, n. 10.

26

Iribarren, o. cit., nn. 219 – 220, pag. 189.

27

El texto castellano en Iribarren, o. cit., pags. 211 – 258.

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conciliares y posconciliares. Por ello, entendemos que se debe al Papa Juan XXIII el comienzo de todo un movimiento para que, también en este punto, la Iglesia fuese ejemplar en el mundo y tuviese, de esta forma, un apoyo más firme para luchar por el reconocimiento y la protección efectiva de estos derechos.28 c) Los DF en el Vaticano II. La Reforma de la Iglesia iniciada por Juan XXIII, no fue ni un capricho, ni un acto irreflexivo de un anciano soñador, sino que, desde nuestra fe, hay que reconocer una auténtica inspiración del Espíritu Santo. Cualquier otra explicación del hecho del Concilio Vaticano II será necesariamente sesgada e imperfecta. Se trató, nada más, ni nada menos, que de actualizar una exigencia de la fe cristiana: encarnarse de veras en un mundo que había cambiado y que estaba, como se dirá textualmente en la Constitución “Gozo y esperanza,” en “un período nuevo de su historia, caracterizado por cambios profundos y acelerados”29 Es una exigencia del Evangelio encarnarse en la historia que van haciendo los hombres, con su libertad y su actuación, y que tienen como esencial característica su movilidad cambiante. Creemos que puede decirse que, tanto en la Constitución “Gozo y Esperanza”, como en la Declaración Dignitatis Humanae sobre la Libertad religiosa, el Concilio asumió, consagró y reforzó la Declaración Universal de los Derechos Humanos (París 10 de diciembre de 1948), que era la única que existía en aquel momento.30 De esta forma, la Iglesia aclara definitivamente su actitud ante este tipo de Declaraciones que, durante mucho tiempo pudo definirse como vacilante, en cuanto que dependía del tiempo y del lugar en el que tuviese lugar esa Declaración.31 En el Vaticano II, no existe una enumeración completa y taxativa de 28

En la Pacem in Terris se puede encontrar un auténtico elenco de los DF, desde la perspectiva de la doctrina de la Iglesia. Estos derechos mencionados por el Papa, pueden agruparse de la siguiente forma, sin intención de un elenco completo: 1º) A la vida, al respeto a la persona, a buscar la verdad, a manifestar las propias ideas, a ejercer una profesión, a ser informados, a tener acceso a la enseñanza y cultura, dar culto a Dios según el recto dictamen de la propia conciencia (nn. 11 – 14). 2º) A elegir un estado de vida, a mantener y educar a los hijos (nn. 15 – 17). 3º) A la libre iniciativa y a justas condiciones de trabajo y a un salario justo (nn. 18 – 21). 4º) A la libre reunión y asociación, a cambiar de residencia, a intervenir en la vida pública, a la seguridad jurídica (nn.23 – 27). 5º) A unas relaciones internacionales justas y solidarias (nn. 80 – 45). 29

Const. Gaudium et Spes, 4.

30

El Pacto Internacional de derechos económicos, sociales y culturales y el Pacto Internacional de derechos civiles y políticos no se firmarán hasta 1966. 31

Así, reacciona positivamente ante la Declaración de Derechos del Estado de Virginia en 1776, ya que favorecía la libertad de los católicos que, en ese tiempo y lugar, estaban en minoría y, sin embargo, la reacción de la Iglesia fue negativa en relación con la Declaración francesa de 1786, sobre los derechos del hombre y del ciudadano, dado el

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estos Derechos Humanos, como parte integrante de un Documento Conciliar. Pero, sí puede hacerse una enumeración sistemática de estos derechos tal y como los presenta el Concilio, en diversos documentos del mismo.32 En ellos aparecen claramente afirmados, además de la naturaleza y el fundamento último de estos derechos, los derechos concretos a la vida y a la integridad física, a la igualdad entre las personas, a la educación, a la libertad religiosa, al trabajo, a emigrar, a asociarse, a intervenir en la gestión pública, a fundar una familia y a una procreación responsable, a la enseñanza, etc., etc.33 El Concilio no trató de la situación de estos derechos en la vida interna de la Iglesia, pero al reclamarlos para los demás, lógicamente los tenía que aplicar en su vida y en su misión. d) Esto que, de manera implícita está en los textos conciliares que se refieren a los derechos humanos, lo aplicó, a la vida de la Iglesia el Sínodo de los Obispos del año 1971. Creemos que este Sínodo constituye un punto central en el tema que nos ocupa. Puede decirse que es uno de los acontecimientos posconciliares de mayor importancia, por lo que supone de sincero examen de la vida de la Iglesia en relación con la práctica de la justicia y, sobre todo, por la exigencia de que la Iglesia sea en el mundo un modelo de justicia. Además, creemos que este Sínodo, es importante y significativo por constituir una de las primeras experiencias eclesiales en la vivencia de la colegialidad.34 Sin embar-

clima de fuerte y absoluto antiliberalismo que la Iglesia vivía, en ese momento, y dado también el carácter sectario y antirreligioso que entrañaba esa Declaración. 32

A manera de ejemplo, puede aducirse la Constitución Gaudium et Spes (nn. 25, 26, 27, 50, 42, 51, 65, 73, 75); la Declaraciones Dignitatis humanae (nn. 6, 9, 13) y Nostra Aetate (n. 5). 33

Refiriéndonos sólo a la Constitución Gaudium et Spes, podemos establecer un elenco bastante completo de los DF, en cuanto que afirma el derecho de todas las personas a: los bienes de la tierra (n. 12); la verdadera libertad (n. 17) un orden social justo y participación en el bien común (26); conservar la vida y verse libre de mutilaciones, torturas, detención arbitraria, manipulaciones, deportaciones, tráfico de personas (27); la igualdad entre todos los hombres y a la justicia social (29). la familia (52); la educación y cultura (60 – 61); el trabajo en condiciones humanas y al descanso (67); la propiedad y dominio de los bienes (71); la participación política (73 y 75); la paz (80 y 82). – De esta forma, los Derechos Humanos, que van a ser objeto de pactos internacionales, quedan asumidos e integrados en la Doctrina de la Iglesia. 34 Nos referimos a la institución del Sínodo de los Obispos, por Pablo VI, antes de que finalizase el Concilio, por el Motu Proprio Apostolica sollicitudo de 15 de septiembre de 1965. El texto puede verse en J. A, Martínez Puche (Edit.), Documentos Sinodales, Tomo II, Madrid 1996, 17 – 22. El primer Sínodo se celebró del 19 de septiembre al 28 de octubre de 1967 y el segundo, al que nos referimos, desde el 30 de septiembre al 6 de noviembre de 1971. Es muy útil repasar el Discurso de Pablo VI, en

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go, quedó prácticamente olvidado exageradamente pronto. Y hay que lamentarlo. Porque una relectura continúa de su enseñanza sobre la justicia en el mundo, ofrece puntos de vista que no han perdido actualidad. La vigencia de la justicia y su aplicación es desgraciadamente una asignatura pendiente de nuestra civilización en este comienzo de milenio en la sociedad civil y, en alguna proporción, dentro de la misma Iglesia. Este Sínodo trató dos temas de singular importancia: 1) el sacerdocio ministerial y 2) la justicia en el mundo. En consecuencia, publicó dos documentos, uno en relación con el sacerdocio y otro sobre la justicia.35 El Documento sobre la Justicia en el mundo tiene tres partes principales que merecen una atenta lectura: 1ª) la justicia y la sociedad mundial; 2ª) el anuncio del evangelio y la misión de la Iglesia; 3ª) la práctica de la justicia. Esta tercera parte comienza por un sincero examen sobre el testimonio de la Iglesia en relación con la justicia. Señalamos sólo algunas de las afirmaciones más significativas: 1) Necesidad de que en la Iglesia sea respetados los derechos; 2) la obligación de asignar un salario justo a quienes con su trabajo colaboran en la misión de la Iglesia; 3) necesidad de que la mujer tenga su parte de responsabilidad en la vida de la Iglesia; 4) reconocimiento de una conveniente libertad de expresión y pensamiento; 5) derecho de los fieles a tener alguna participación en las decisiones; 6) derecho a saber, en los procedimientos judiciales, quiénes son sus acusadores y a la rapidez de los procesos matrimoniales; 7) obligación de administrar de tal forma el patrimonio temporal de la Iglesia, que ayude a que el Evangelio sea anunciado a los pobres. En esta sumaria e incompleta enumeración de derechos y deberes dentro de la Iglesia, no es difícil encontrar ya un esbozo de lo que será el Estatuto de los Fieles y Laicos. Ni hace falta tampoco entrar en interpretaciones sutiles, para advertir, en el mismo lenguaje que se emplea, una especie de auto acusación eclesial. Estamos, más bien, ante la exposición de un programa a cumplir, que ante la presentación de un programa realizado. Lo triste es que, a la distancia de treinta y cinco años haya que repetir el diagnóstico.36

la primera sesión del primer Sínodo, para caer en la cuenta de lo que esta institución significaba en su pensamiento y en su propósito, al instituirla y comparar sus palabras con lo que ha sido luego la realidad. Cf. el texto del Discurso del Papa el 1 de octubre de 1967, en Mtz. Puche, o. cit., pags. 36 – 38. 35 36

El texto de ambos documentos sinodales en Mtz. Puche, o. cit., pags. 69 – 122.

En la sumaria descripción que hacemos de la relación del Magisterio de la Iglesia en relación con las Declaraciones de los Derechos humanos, nos limitamos a los principales documentos pontificios hasta el Vaticano II. Las enseñanzas de los Papas Pablo VI y Juan Pablo II sobre los derechos humanos es amplia y muy rica en contenidos, pero ya son contemporáneas de la revisión y reforma del Código de Derecho Canónico, iniciada y realizada en los pontificados de estos Papas. Por tanto, ya propiamente no se

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d) Por último, y como precedente inmediato del Estatuto canónico vigente, es necesario referirse al Proyecto de Ley Fundamental de la Iglesia (= LFE). En él aparecía ya un elenco bastante completo de los DF aplicados a los fieles dentro de la Iglesia. A no haberse promulgado, no puede decirse que pertenece y forma parte de la doctrina de la Iglesia, pero no cabe duda de su importancia, aunque no se cite, como es lógico, entre las fuentes doctrinales y legales de los cc. 204 – 231.37 III. El derecho a la intimidad en el c. 22038 a) La fama es “la opinión que las gentes tienen de una persona” y la intimidad es la “zona espiritual íntima y reservada de una persona o de un grupo, especialmente de la familia.” Así define estos términos el Diccionario de la R.A.E. La doctrina jurídica entiende por intimidad “aquella parte de la vida del hombre que se pretende vivir en soledad o compartida con unos pocos elegidos, frente a todos los demás.”39 Debe tenerse en cuenta que en los textos jurídicos

puede hablar del contexto en que nace el Estatuto de los Fieles y Laicos, sino más bien de una interrelación entre el Estatuto y la enseñanza del Magisterio. Como diremos, el último documento, que nos es propiamente un documento del Magisterio, pero de indudable importancia, es el Proyecto de la Ley Fundamental de la Iglesia. Para una visión global, puede verse la valiosa síntesis que presenta el Diccionario de Eclesiología de O’Donnell-Pié-Ninot (Madrid 2001), pags. 282 – 286, con amplia bibliografía. A él nos remitimos. 37

Una comparación entre los cánones sobre los DF en la LFE y en el Código nos lleva a la siguiente conclusión: Del Estatuto de todos los fieles, salvo los c. 209 y 222, puede decirse que todos los demás pertenecen al último proyecto de la LFE. Como visión general de esta procedencia puede establecer el siguiente cuadro de correspondencia, en el que ponemos entre paréntesis el c. correspondiente de la última redacción de la LFE: 204 (1); 205 (6); 206 (8); 207 (25); 208 (9); 210 – 223 (10 – 24). Cf. P. A. Bonnet / G. Ghirlanda, De Christifidelibus. De forum iuribus, de laicis, de consoociationibus, Roma 1983, pag. 118. 38 39

Cf. CCEO, c. 23.

L. M. Fariñas Fantoni, El derecho a la intimidad, Madrid 1983, pag. 351. La intimidad como derecho subjetivo es “la facultad del hombre, esgrimible erga omnes, consistente en poder graduar el eje mismidad-alteridad que la intimidad es y que radica en la misma naturaleza esencial del hombre, anterior a la sociedad y al Estado y que comporta la posibilidad de solicitar el pertinente amparo del ordenamiento jurídico cuando dicha facultad sea transgredida o vulnerada.” (loc. cit, pag. 352) Como derecho objetivo, habría que definir el derecho a la intimidad como “el reconocimiento que el ordenamiento jurídico hace del derecho subjetivo a la intimidad, protegiéndolo adecuadamente.” (ib.). La intimidad también puede definirse, de forma sintética como aquella

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se utilizan muy frecuentemente de modo indistinto los términos “vida privada” e “intimidad” ya que, en definitiva y en relación con el derecho a que se refieren, tienen el mismo objeto. Si se quieren precisar ambos conceptos hay que afirmar que la expresión “vida privada” es más amplia y genérica y engloba todo lo que deseamos mantener oculto. La intimidad, en cambio, significa primariamente el núcleo esencial de lo privado ya que entendemos que constituye algo esencial de nuestra persona. Por consiguiente, es la persona, sólo ella, quien establece los límites entre la intimidad, propiamente dicha, y la vida privada.40 El Catecismo de la Iglesia católica se refiere al derecho de la persona a su propia intimidad, desde un punto de vista práctico y real:”Se debe guardar la justa reserva respecto a la vida privada de la gente. Los responsables de la comunicación deben mantener un equilibrio entre las exigencias del bien común y el respeto de los derechos particulares. La injerencia de la información en la vida privada de las personas comprometidas en una actividad política o pública, es condenable en la medida en que atenta contra su intimidad y libertad.”41 Por consiguiente, el derecho reconocido en el c. 220 protege a las personas humanas, y a los bautizados, contra las violaciones de la buena opinión de que se goza, tanto en la sociedad, como en la Iglesia y prohíbe cualquier intromisión en la esfera íntima que sólo libremente se puede manifestar. En concreto, junto con el derecho la propia intimidad, este derecho protege contra la injuria, la difamación y la calumnia. b) Coincide este canon, como puede verse con el citado artículo 12 de la Declaración Universal de los Derechos Humanos. Al asumirlo la Iglesia en el Estatuto de los fieles, este derecho adquiere una nueva dimensión, de esencial valor religioso y eclesial, al formar todos los bautizados una peculiar familia de los hijos de Dios, presente ya en la historia de la humanidad. Así lo expresa el Concilio Vaticano II, cuando afirma que la Iglesia es, “a la vez grupo visible y comunidad espiritual” que “avanza junto con toda la humanidad y experimenta la “esfera de la existencia en la cual nadie puede inmiscuirse, sin haber sido invitado.” F. Herreros-Tejedor, Honor, intimidad y propia imagen, Madrid 1990, pag. 79. 40

“El ordenamiento jurídico nos establece algunos límites, las convenciones sociales otros, pero el elemento consubstancial, tanto de la vida privada, como de la intimidad, hemos afirmado que es la voluntad, la libertad o la facultad de exclusión del propio sujeto y es éste quien configura el grado que deslinda la intimidad de la vida privada. De esta forma, vida privada es lo genéricamente reservado, siendo la intimidad lo radicalmente vedado, lo más personal. Ambos conceptos configuran la persona y la personalidad del sujeto, si eliminamos de él lo externo, lo conocido, nos queda lo mas interior, sin lo cual desfiguramos la personalidad, el sujeto es irreconocible como ser singular en lo anímico.” (Rebollo, o. cit., pag. 51). 41

Catecismo de la Iglesia Católica, Nueva Edic., Madrid 2002, n. 2492.

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misma suerte terrena del mundo, y existe como fermento y alma de la sociedad humana, que debe ser renovada en Cristo y transformada en familia de Dios.”42 En este contexto, exactamente teológico, los derechos y deberes fundamentales de la persona humana y los derechos y deberes fundamentales de los bautizados, no se contraponen, sino que se complementan. Porque la gracia nunca destruye la naturaleza, sino que la perfecciona y eleva al nivel superior de lo sobrenatural. Por ello, el Catecismo de la Iglesia afirma que “los fieles han de aprender a distinguir cuidadosamente los derechos y deberes que tienen como miembros de la Iglesia y los que les corresponden como miembros de la sociedad humana. Deben esforzarse en integrarlos en buena armonía, recordando que en cualquier cuestión temporal han de guiarse por la conciencia cristiana. En efecto, ninguna actividad humana, ni siquiera en los asuntos temporales, puede sustraerse a la soberanía de Dios.”43 c) La propia intimidad como expresión del derecho no aparece explícitamente en los diferentes proyectos de la Ley Fundamental de la Iglesia y que, como hemos indicado, pasaron al Código de Derecho Canónico.44 Pero sí lo mencionaba el Concilio Vaticano II, al referirse a los derechos y deberes universales e inviolables que integran “la excelsa dignidad que corresponde a la persona humana” y son “necesarios para llevar una vida verdaderamente humana”.45 d) En el c. 220, teniendo en cuenta, la trayectoria de su elaboración, la intimidad, en sentido estricto, se refiere a la intimidad psicológica y moral del

42

Vaticano II, Const. Gaudium et Spes, 40.

43

Catecismo de la Iglesia Católica, nueva edic., Madrid 2001, n. 912.

44

El origen inmediato de este canon, habría que buscarlo en el c. 33 del Schema de Popolo Dei, del año 1977, para la revisión del Código de Derecho Canónico. En ese esquema se decía: “Christifideles officium et ius habent servando secretum commercii epistolairis aliusve personalis indolis.” Cf. J. A. Fernández Moreno, Reflexión y análisis sobre los límites en el ejercicio de los Derechos fundamentales de los fieles, Salamanca 2003, pags. 100 – 101 (pro manuscrito); D. Cenalmor, Comentario al c. 220, en Instituto Martín de Azpilcueta, Facultad de Derecho Canónico, Universidad de Navarra, Comentario exegético al Código de Derecho Canónico, vol. II/1, 3ª edic., Pamplona 2002, pags. 137 – 142. 45

“Conviene, pues, que se haga accessible al hombre todo lo que necesita para llevar una vida verdaderamente humana, como es el alimento, el vestido, la vivienda, el derecho a elegir libremente un estado de vida y a formar una familia, a la educación, al trabajo, a la buena fama, a l respeto, a una adecuada información, a actuar de acuerdo con la recta norma de su conciencia, a la protección de la vida privada y a la justa libertad, también en materia religiosa.” (Const. Gaudium et Spes, 26).

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hombre. Es decir, a aquello que pertenece al ámbito concreto del fuero interno o de la conciencia. La doctrina conciliar afirma que la propia conciencia es el núcleo y sagrario más secreto, en el que la persona se encuentra a solas con Dios, no permitiendo interferencias no pedidas o no permitidas.46 Por tanto, en la Iglesia, y en virtud de este texto legal, queda reconocido y protegido el derecho a lo que podríamos denominar la intimidad cristiana, en cuanto que es un elemento esencial de la libertad de los hijos de Dios. En consecuencia, el fundamento concreto de este derecho no es sólo el respeto a una exigencia de la dignidad esencial de la persona humana, sino también el respeto a la dignidad del bautizado, hijo de Dios no sólo por naturaleza, sino también por la gracia recibida en el bautismo. Derecho y libertad que deberá ser respetada por todos los demás fieles, aun los constituidos en autoridad. Porque “nadie puede forzar el santuario de la conciencia que es absolutamente inviolable; sólo con el consentimiento deliberado y absolutamente libre es lícito acceder a él” y “en cuanto a los demás ámbitos de la vida privada, sólo puede indagarse si hay razones legítimas, y respetando este derecho.”47 d) El ejercicio de este derecho no es obviamente ilimitado, sino que puede colisionar con otros derechos, como puede ser el de recibir adecuada información sobre determinados hechos y determinadas personas, exigida por el bien común y el bien de otras personas. Pero, en esta posible colisión, hay que tener en cuenta que: 1º) lo que se presume es el derecho; 2º) hay que probar, por consiguiente, la limitación de su ejercicio por el bien común o para evitar un mal cierto a un tercero inocente.48 Por tanto, los límites que puede tener el ejercicio de este derecho del fiel cristiano tienen que fundarse en razones muy graves, muy exactamente ponderadas y exigidas por el bien común eclesial. Lo cual – insistimos – no puede presumirse, sino que hay que probarlo en cada caso.49 De lo contrario, estarí-

46

“Porque el hombre tiene una ley inscrita por Dios en su corazón, en cuya obediencia está la dignidad humana y según la cual será juzgado. La conciencia es el núcleo más secreto y el sagrario del hombre en el que está a solas con Dios, cuya voz resuena en lo más íntimo de ella.” (Const. Gaudium et Spes, 16). 47 D. Cenalmor / J. Miras, El Derecho de la Iglesia. Curso básico de Derecho canónico, Pamplona 2004, pag. 172. 48

Este principio, establecido en el canon que comentamos, deberá estar presente en la interpretación que se dé a los cánones 915, 1007 y 1184, sobre la prohibición de administrar los sacramentos o celebrar las exequias en determinados supuestos, por lo que ello puede llevar de lesión a la fama. 49 No siempre estos límites se expresan con exactitud. La afirmación de que este derecho cede siempre por razones de bien común, deberá ser debidamente matizada. Por

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amos ante un abuso condenable y punible. Se han señalado entre esos posibles abusos excederse en los límites de una discreta y respetuosa “dirección espiritual”, en las denominadas “revisiones de vida” y hasta en los exámenes de conciencia, cuando – de alguna manera – se exige que se hagan en público.50 e) Finalmente – y es importante – este derecho tiene que ser un criterio de interpretación y aplicación de determinadas normas concretas y particulares (v. gr. c. 991, 979, 239, § 2; 240).51 Y de manera muy especial del c. 642, al que nos referimos seguidamente. IV. Una aplicación concreta y problemática – el c. 642 a) En la normativa canónica vigente de la Vida Consagrada, el c. 642 obliga a los Superiores que tienen la facultad de admitir al Noviciado a ejercerla “con vigilante cuidado” y a no admitir sino a “aquellos que, además de la edad necesaria, tengan salud, carácter adecuado y cualidades suficientes de madurez para abrazar la vida propia del instituto; estas cualidades de salud, carácter y madurez han de comprobarse, si es necesario, con la colaboración de peritos, quedando a salvo lo establecido en el c. 220.”

esta razón nos parece exagerada la afirmación de que “qualora l’intimità privata comporti un pericolo per la collettività, è il bene comune che debe prevalere.” (L. Chiappetta, Il Codice di Diritto Canonico, Commento giuridico pastorale, I, Roma 1997, pag. 316). Más matizada es la afirmación de que “[…] No se considera lesión de la buena fama o de la intimidad personal la investigación delictiva o la acción penal según las normas jurídicas, ya que estas actuaciones legítimas en virtud de un bien común superior. El Derecho Canónico tipifica como delito algunos casos graves de violaciones que afectan a la conciencia (cánones 1369, 1388, 1390, 1391, etc)” (S. Bueno Salinas, Tratado General de Derecho Canónico, Barcelona 2004, pag. 350). Creemos que los límites del derecho a la intimidad se expresan exactamente, cuando se afirma que “sólo existiendo razones legítimas se podrá indagar en el marco de la vida privada de los demás. Siempre teniendo en cuenta que el fuero de la conciencia es inviolable.” ( J. A. Fernández Moreno, o. cit, pag. 132). 50 Cf. G. Feliciani, Obblighi e diritii di tutti i fedeli cristiani, en A. Longhitano (Dir.), “Il Codice del Vaticano II. 6. Il fedele cristiano: la condizione giuridica dei battezzatti”, Bologna 1989, pag. 96. 51 Cf. V. Marcozzi, S. J., I diritti alla propria intimità nel nuovo Codice di Diritto Canonico, CivCatt 134 (1983) IV, pags. 572 – 580; Id., Autorità e interiorità nell’esame all’ammisssione al sacerdozio, QDE 1990, pags. 42 – 52. A. Cauteruccio, Il diritto alla buona fama ed alla intimità. Analisi e commento del c. 220, CpR 73 (1992), pags. 39 – 81; F. Mantaras Ruiz-Berdejo, o. cit.

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La expresa mención del canon que, en el Estatuto de los fieles reconoce y protege el derecho a la propia intimidad, adquiere en este lugar una especial importancia. Hay que tener en cuenta que la intervención de los peritos (psicólogos, psiquiatras, médicos) en el c. 220 está sometido, para su justa aplicación, a dos condiciones. La primera de ella, es que tal intervención aparezca como necesaria. Esta necesidad, expresamente señalada como condicionante en el texto legal, es ciertamente susceptible de diversas interpretaciones, pero cualquiera de ellas impide que la intervención de peritos sea interpretada como un elemento necesario que, en el momento de tomar la decisión de admitir o rechazar al candidato, deba tenerse en cuenta en todos los casos. Tampoco es algo que se deja al arbitrio y buen criterio del Superior, sino que se presupone, siempre, que hay necesidad de acudir a esos peritos para tomar la decisión de que se trata. Aunque, repetimos, el término “si es necesario” es susceptible de interpretación amplia o estricta. Pero, si no ha surgido la necesidad, el acudir a peritos, entendemos que sería un fraude de ley. Más aún, teniendo en cuenta el segundo condicionante al que vamos a referirnos seguidamente, y que se refiere a un derecho fundamental de la persona y del fiel, entendemos que a la expresión “si es necesario”, debe dársele una interpretación estricta, como todo lo que puede rozar la violación posible de un derecho subjetivo y fundamental. El segundo condicionante, supuesta siempre la necesidad, es la alegación expresa del c. 220. Es decir, supuesta la necesidad, el derecho a la propia intimidad debe quedar rigurosamente a salvo. Por tanto, en la duda de si acudir a peritos (psicólogos o/y médicos) lesiona o no el derecho fundamental a la intimidad, hay que abstenerse y buscar, por otros medios, el conocimiento sobre las cualidades necesarias para la admisión en el noviciado. En conclusión, hay que afirmar, en primer lugar, que el recurso a psicólogos, psiquiatras y médicos, se presenta en el c. 642, como algo excepcional ya que al condicionar su intervención a que sea necesario, no puede entenderse de que ese recurso se dé en todos los casos y siempre. El legislador no estableció, como justificación de ese recurso, la conveniencia, sino la necesidad. b) Como complemento de lo que podríamos llamar el contexto en que se mueve la expresa referencia al c. 220 en el c. 642, hay que tener en cuenta que precisamente el derecho a la propia intimidad apareció en el elenco de los derechos (fundamentales) de los fieles, al recogerse, en este lugar de la normativa de la vida consagrada, el derecho del candidato a su propia intimidad.52 Desde 52 El significativo itinerario del c. 220, hasta su aparición definitiva en el vigente Código de Derecho Canónico, está muy bien expuesto en M. D. Colombo, La protección de la intimidad (c. 220 CIC) y el examen psicológico en la admisión a la formación sacerdotal, Roma 1995, pags. 40 – 61. Cf. también F. Mantaras Ruiz-Berdejo, o. cit, pags. 298 – 302.

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este punto de vista, es muy significativo que el derecho a la propia intimidad, aparezca en la normativa canónica vinculado a los exámenes psicológicos previstos para los novicios. De este reconocimiento del derecho a la intimidad personal, en relación con quienes se preparan para la vida religiosa, expresado en el c. 642, se dará el salto hacia el reconocimiento general de la privacy en el c. 220.53 c) La doctrina ha insistido, con razón, en la doble condición grave y absolutamente imprescindible: 1ª) Que haya necesidad. Si ésta no existe, sobran todos los peritos. Y es de desear que sobren en el mayor número posible de casos. 2ª) Que quede siempre a salvo la libertad y el derecho personal a la defensa de la propia intimidad y de la propia fama.54 Por tanto, “supuesta la existencia de necesidad y las garantías de libertad y de intimidad, el juicio sobre la intervención de los peritos depende del superior admitente: 1) o por incapacidad para formarse un juicio completo y seguro, moralmente cierto; 2) o, para los casos difíciles, por la exigencia intrínseca y técnica de éstos.”55 Pero teniendo muy en cuenta que el juicio sobre la necesidad, o no necesidad, de esas pericias, es de la competencia del Superior. Pero no se deja a la competencia del Superior salvaguardar, o no salvaguardar, el derecho fundamental de la persona a su intimidad. Esto es un precepto grave, inviolable, inalienable, obligatorio y universal. Es un deber/derecho que tiene entidad por sí mismo y su vigencia no depende del juicio discrecional del Superior. Exista, o no exista, la necesidad, intervenga, o no intervenga el perito, el derecho del candidato a su propia intimidad debe quedar siempre a salvo y plenamente garantizado y protegido.56 d) El c. 642, con su expresa referencia al c. 220, defiende el derecho fundamental del fiel que pide su ingreso en la vida consagrada y, con ello, intenta cortar ciertos abusos que, en este terreno, se han cometido en el período precodicial y que, quizás por un deficiente conocimiento y una inexacta interpretación de la normativa eclesial, no siempre se evitan en el período poscodicial. Con un sector autorizado de la doctrina, creemos que la ley vigente en la Iglesia, y hemos podido comprobarlo en las líneas que anteceden, no prohíbe las in-

53

Manteras, o. cit., pag. 301.

54

D. J. Andrés, CMF, Las formas de vida consagrada. Comentario teológico-jurídico al Código de Derecho Canónico, 5ª edic., Madrid / Roma 2005, pag. 286. 55

Ib. Conviene tener en cuenta que “la mente de la Iglesia es reiteradamente la de que nos e puede utilizar cualquier clase de peritos”, sino que deben ser verdaderamente peritos y recomendables no sólo por su saber y experiencias, sino también por sus ideas morales y religiosas. (cf. ib.). 56

Cf. Andrés, o. cit., pag. 286 – 287.

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vestigaciones de tipo psicológico y los psicodiagnósticos elaborados por especialistas.57 Lo que prohíbe es el abuso de esos medios, o porque no son necesarios, o porque se realizan con detrimento del derecho prevalente a la propia intimidad en el candidato a la vida consagrada y, en justa aplicación de la normativa, a los candidatos al ministerio sacerdotal.58 Asimismo creemos que esta normativa hay que tenerla en cuenta, tanto cuando se trata de evaluar las cualidades necesarias para emitir la profesión, temporal o perpetua, en los miembros de la vida consagrada, como cuando se trata de admitir a las órdenes sagradas a los diáconos y presbíteros diocesanos. e) Esta normativa canónica, en su referencia al derecho de la persona a su intimidad y a su conexión con las ciencias psicológicas, no arranca y se inicia con la promulgación por Juan Pablo II del Código vigente. Sin remontarnos muy atrás, mencionamos solamente dos antecedentes normativos: 1º) El 15 de Agosto de 1961 la Congregación del Santo Oficio, publica el Monitum Cum compertum, en el que: a) se prohíbe a los clérigos y religiosos ejercer como psicoanalistas; b) se rechaza la opinión de quienes creen que los candidatos a la órdenes sagradas y a la vida religiosa deben someterse a un psicoanálisis; c) se establece que los sacerdotes y los religiosos y religiosas, antes de realizar un psicoanális, deben contar con la autorización del Ordinario o de sus Superiores Mayores, quienes la concederán cuando existan razones graves.59 Son manifiestas las reservas de la autoridad 57

Es necesario distinguir entre psicodiagnósticos propiamente dichos que, de alguna manera, penetran en la intimidad de la persona y describen la personalidad total y revelan su perfil psicológico y los “test” sobre la capacidad intelectual y las aptitudes profesionales de las personas. El c. 642 se refiere propiamente sólo a los primeros y sólo tangencialmente a los segundos ya que esos “test”, salvo algunas modalidades de los mismos, dejan a salvo la intimidad de la persona. Los técnicos en las ciencias psicológicas son los que deben establecer las diferencias o coincidencias entre unos y otros. Pero, creemos que tampoco estos “test” pueden imponerse, sino que deben ser aceptados por el candidato, aunque su realización no lleve consigo una relación directa con el derecho a la propia intimidad. 58

Mantaras, o. cit., defiende, con total razón, esta aplicación en la monografía citada y acierta en su justa anotación “una falta de simetría entre los requisitos de admisión al noviciado, que se regula en el c. 642 haciendo alusión al recurso al perito y al respeto a la intimidad, y las cualidades exigidas para la admisión al seminario, que menciona una serie de aptitudes que deben darse en el aspirante (c. 241), pero no menciona de que forma éstas pueden ser comprobadas. Si tenemos en cuenta que las exigencias formativas para la vida religiosa y sacerdotal son análogas, parece que hubiera sido conveniente que el legislador hubiera reiterado la alusión al perito y al c. 220, al tratar los requisitos de la admisión al seminario” (o. cit, pag. 301). 59

AAS 53 (1961), pag. 571.

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eclesiástica en relación con el psicoanálisis, como método específico de investigación psíquica y psicoterapia que presenta serías objeciones morales, al menos en su primeras fundamentaciones, hoy quizás ya superadas en buena parte.60 2º) La Instrucción Renovationis causam de la S. Congregación para los Religiosos e Institutos seculares, sobre la renovación acomodada de la formación para la vida religiosa de 6 de enero de 1969. Entre las Normas especiales sobre la constatación de la aptitud para la vida religiosa del candidato en el período que precede a la admisión al noviciado, es decir, durante el postulantado, se dispone lo siguiente: “Si en algún caso, particularmente difícil, el Superior juzga que es necesario consultar – supuesto el libre consentimiento del interesado – a un psiquiatra verdaderamente perito, prudente y recomendable por sus principios morales, es preferible, para la mayor eficacia del examen, que esto tenga lugar transcurrida una parte notable del tiempo de probación, a fin de que el especialista, pueda dar su 61 dictamen fundado en la experiencia.”

Como es patente, ya aparecen las dos condiciones que recogerá el c. 642. f) Que, verificadas esas dos condiciones, no hay oposición entre la doctrina y normativa de la Iglesia y las investigaciones de tipo psicológico, efectuadas por peritos, ya aparece en un texto muy significativo del Concilio Vaticano II. En el Decreto sobre la Formación Sacerdotal, Optatam totius, al señalar las líneas directrices del fomento y cultivo de las vocaciones, se afirma que “no ha

60

Cf. K. Hörmann, Diccionario de Moral cristiana, Barcelona 1975, pags. 1085 – 1087; H. Gastager y otros, Dizionario di antropología pastorale, Bologna 1980, pags. 908 – 911. 61

Instrucción Renovationis causam, n. 11 – III. El texto oficial en AAS 61 (1969), pags. 103 – 130. Traducción castellana, con comentario en L. Mígueles / S. Alonso / M. Cabreros, Derecho Canónico Posconciliar, 4ª edic., Madrid 1974, pag. 412. En el Comentario de S. Alonso se afirma lo siguiente: “Tocante a la consulta al psiquiatra, por el modo como se expresa el párrafo III, se echa de ver que es un recurso del que se debe usar con suma cautela. Por lo que hace al “lbre consentimiento del interesado”, los Superiores deberán mostrarse muy respetuosos con él, sin tratar de inducirle a que se preste a la consulta con ruegos inoportunos, exhortaciones o recomendaciones que le coarten la libertad de cualquier modo.” (ib.) Este texto de la Renovationis causam está aducido entre las fuentes legales del c. 642.

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de dejarse de lado ninguno de los medios oportunos que ofrecen con gran utilidad las ciencias psicológicas sociológicas actuales.” 62 g) Creemos que, teniendo en cuenta, los precedentes normativos y la lógica interpretación de la referencia expresa al c. 220, la interpretación del c. 642 puede resumirse en las siguientes afirmaciones: 1ª) Las pericias de tipo psicológico, tanto para la admisión al noviciado o al seminario y para la concesión de la profesión o/y las órdenes sagradas, deberá siempre venir exigida por las circunstancias que concurren en cada caso. Este recurso a los peritos psicólogos y psiquiatras no puede pasar a ser una norma general y aplicable en todos los casos. 2ª) Debe quedar siempre a salvo el derecho de la persona a defender su intimidad y la decisión de aceptar ese tipo de pericia deberá siempre estar exento de imposiciones y coacciones, tanto directas, como indirectas, abiertas o solapadas. 3ª) La estimación tanto de la necesidad, o máxima conveniencia de estas pericias o diagnósticos, es un problema muy delicado, donde la sinceridad y la prudencia deberán tener su necesaria presencia. 4ª) Creemos que la expresión “colaboración de peritos” se refiere, más bien a la intervención de psicólogos que a psiquiatras y psicoanalistas. 5ª) El sujeto que acepta libremente someterse a esa pericias, puede señalar el ámbito preciso de comunicación de los resultados de las mismas a determinadas personas. Si no determina nada a este respecto, puede presumirse que accede a que el perito comunique al Superior competente los resultados de su investigación. 6ª) En cualquier supuesto, el resultado de la intervención de los peritos psicólogos, como su comunicación al Superior competente y el uso que éste puede hacer de lo que se ha comunicado, queda en el ámbito del secreto profesional, dentro de una estricta interpretación del mismo y teniendo siempre en cuenta el derecho de la persona, tanto a su intimidad, como a la buena fama (c.220). f) En consecuencia, sería un abuso leer los diagnósticos en reuniones comunitarias, más o menos abiertas, o comunicarlos con personas que no son imprescindibles que los conozcan y advirtiéndoles siempre que quedan obligadas al secreto. No puede darse a entender el resultado de esas pericias, ni tan 62

Vaticano II, Decr. “Optatam totius”, 2. Un estudio muy completo de este Decreto en J. San José Prisco, La dimensión humana de la formación sacerdotal. Aproximación histórica, aspectos canónicos y estrategias formativas, Salamanca 2002.

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siquiera cuando, hechos posteriores externos, revelen, de algún modo el contenido de las mismas. V. Final Con la relación establecida entre los DF, en su concreto reconocimiento del derecho a la intimidad, el c. 220, como eclesialización de ese DF y del c. 642, como una aplicación concreta y explícita de ese derecho en la normativa de la Vida Consagrada, creemos haber demostrado que todo lo que se refiera a la intimidad de las personas, deberá ser tratado con exquisita exactitud jurídica. No estamos ante una mera y simple ley positiva de la Iglesia, sino ante una aplicación de un derecho fundamental de la persona humana y del bautizado. Cualquier violación de este derecho no afecta sólo al orden moral, sino también al jurídico, en esa armoniosa relación y equilibrio que debe siempre existir entre derechos y deberes. Esta relación y este equilibrio califican la convivencia social como verdaderamente humana y la comunidad eclesial como auténtica fraternidad.

Das Bischofsamt innerhalb der Communio Eine Standortbestimmung anhand des bischöflichen Treueides Von Irina M. Kreusch Knapp 20 Jahre ist es her, da wurde für die Bischöfe der katholischen Kirche eine neue Formel für deren Treueid erlassen. Kaum merklich geschah dies, dabei ist die ausführliche Formel durchaus beachtenswert, spiegelt ein solches Versprechen doch Ist- und Sollstand eines Amtes wider: Von Treue und Gehorsam ist in dieser Formel die Rede, die hierarchische Gemeinschaft ist ein ebenso wichtiges Merkmal wie Wahrung und Sicherung von Einheit, Glaubensgut und Disziplin. Solche bischöflichen Versprechen in Form eines Treueides sind fest verankert in der kirchlichen Tradition, schon seit dem 6. Jahrhundert kennt die Kirche eine derartige Einrichtung.1 Allerdings haben sich die theologischen Hintergründe, die zur Eidesforderung gegenüber dem bischöflichen Amtsträger geführt haben, verändert und müssen heute differenziert werden für den staatskirchenrechtlichen Bereich einerseits und den rein innerkirchlichen Bereich andererseits. Die Formel von 1987 ist eine innerkirchliche Einrichtung und ist als solche natürlich ein Zeichen ihrer Zeit wie vorherige Formeln auch, indem sie quasi eine Summe theologischer Aussagen darstellt – will heißen: Die Versprechensinhalte sind theologische Spiegel, standortbestimmend einerseits, wie die Stellung des Bischofs gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft und gegenüber dem Papst beschrieben wird, zukunftsweisende Basis andererseits, wie sich die bischöflichen Versprechensgeber verhalten sollten. Für eine solche Standortbestimmung der Bischöfe anhand des Treueides von 1987 ist als dessen Maßstab die Lehre des II. Vatikanischen Konzils zugrunde zu legen, ebenso wie das kirchliche Gesetzbuch, der Codex Iuris Canonici von 1983 (CIC/1983), als Gesetzbuch im Geiste des Konzils. Erinnern wir uns 1

Vgl. X, II, 24, 4 und 12; c. 332 § 2 CIC/1917 und zur Geschichte Theodor Gottlob, Der kirchliche Amtseid der Bischöfe, Amsterdam 1963 (KStuT 9), S. 10 f.; Winfried Aymans, Glaubensbekenntnis und Treueid, in: Ders. / u. a. (Hrsg.), Iudicare inter fideles, FS für Karl-Theodor Geringer, St. Ottilien 2002, S. 23 – 37, hier S. 25.

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zuerst an Kernaussagen für dieses Thema aus Lumen Gentium, der konziliaren Konstitution über die Kirche: •

Christus setzte die Apostel nach Art eines Kollegiums oder eines festen Kreises ein, an dessen Spitze er den aus ihrer Mitte erwählten Petrus stellte (vgl. VatII LG 19).



Als ekklesiologische Wesenselemente bestimmt das Konzil: „Die Einzelbischöfe … sind sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit in ihren Teilkirchen, ...“ In und aus den Teilkirchen „besteht die eine und einzige katholische Kirche“ (VatII LG 23).



Das Amt des Bischofs in seiner Teilkirche wiederum aber ist, weil es „der Herr den Hirten seines Volkes übertragen hat, … ein wahres Dienen“ (VatII LG 24).

Als Zeichen der Kollegialität einerseits und Hirt und Diener seines Gottesvolkes andererseits, verwundert es nicht, dass von den Bischöfen ein entsprechendes Zeichen ihrer Verbundenheit gefordert ist. Als solches Zeichen dient der bischöfliche Treueid, dem folgend nähere Betrachtung gilt. I. Warum und wann ein bischöflicher Treueid? Das kirchliche Gesetzbuch fordert von einem angehenden Bischof: „Bevor er in kanonischer Form von seinem Amt Besitz ergreift, hat der Berufene das Glaubensbekenntnis abzulegen und den Treueid gegenüber dem Apostolischen Stuhl nach der vom Apostolischen Stuhl gebilligten Formel zu leisten“ (c. 380 CIC/1983).

Dieser Kanon findet sich im Artikel „Bischöfe im Allgemeinen“, der zum Titel „Teilkirche“ gehört. In dem kurzen Artikel wird die Theologie des Bischofsamtes wiedergegeben (c. 375) und auch eine Chronologie von der Weihe zur kanonischen Amtsübernahme vorgelegt (c. 379). D. h., nach Ernennung oder Wahl und Eignungsprüfung des Kandidaten erfolgt die Weihe, dann Ablegen von Glaubensbekenntnis und Treueid und abschließend die so genannte „Besitzergreifung“ (c. 383 § 4) der Diözese.2 Die genannte Reihenfolge hat eine bestimmte Grundlage: Zu jedem konkreten Amt gehört eine kanonische Sendung, damit die in der Weihe verliehenen Vollmachten freigegeben werden und der Vollzug des Amtes überhaupt mög-

2

Die Besitzergreifung benennt den Amtsantritt und zeigt hier ein Bild, das theologisch nicht mehr gemäß erscheint.

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lich wird.3 Denn die Verfassungsgarantie eines göttlichen Rechtes betrifft nur den Bischofsstand, nicht ein bestimmtes bischöfliches Amt.4 Derjenige, der ein solches Amt übertragen bekommt, ist deshalb ein zum Bischof Geweihter, dem nach der Weihe erstmals ein Amt übertragen wird, oder er ist ein bischöflicher Amtsinhaber, der ein weiteres oder anderes Amt antritt, quasi ein Amtswechsler. Die Bischofsweihe wird nicht ohne Aussicht auf ein bestimmtes Amt gespendet, denn der Bischof ist Hirte des Gottesvolkes einer Teilkirche, er steht dieser vor und repräsentiert sie zugleich in der Gesamtkirche (VatII LG 23, VatII CD 11). Das bedeutet umgekehrt: „die Weihe kann ihm nicht genommen werden, wohl aber das Recht, sie in der Kirche auszuüben“,5 weil der formale Akt der kirchlichen Beauftragung entsprechend seiner Übertragung auch beendet werden kann (c. 184 § 1). Dies gilt aber nicht für die Weihe, sie ist untilgbares Prägemal (c. 1008). Stellt man sich diese Einführung des neuen Hirten des Gottesvolkes praktisch vor, hat man hier wohl einen festlichen Akt vor Augen, wie der neue Diözesanbischof das Versprechen feierlich gegenüber den versammelten Gläubigen der Diözese ablegt.6 Neugierig macht dann der Inhalt der Formel. Was verspricht der neue Bischof? II. Die Formel von 1987 Für die Leistung des bischöflichen Treueides ist eine Formel vorgeschrieben (c. 380). Diese ist jedoch veränderbar, da der Kodex hier als Rahmenrecht fungiert, wobei ausformulierte Akte außerhalb geregelt werden. Bereits 1972 wurde nach dem II. Vatikanischen Konzil eine erneuerte Formel des bischöflichen Treueides eingeführt, diese aber wurde weder in Ein-

3

2

Vgl. Nota explicativa Praevia, 2 zu VatII LG 3, in: LThK.E 1, Freiburg i. B. u. a. 1966, S. 353.

4 Vgl. Alfred E. Hierold, Art. Bischofsamt II., in: EvStL 1, 31987, S. 270 – 274, hier S. 272. 5

Knut Walf, Sind die Bischöfe gehalten, sich der päpstlichen Anordnung zu unterwerfen?, in: Imprimatur 33 (2000), S. 167 – 170, hier S. 168, Anm. 2. 6

Im Fall des Bistums Passau beispielsweise hat Bischof Wilhelm Schraml am 23. 02. 2002 in einem feierlichen Pontitifikalgottesdienst den Treueid abgelegt; als designierter Bischof dagegen hat Prof. Dr. Gerhard Ludwig Müller noch vor der Bischofsweihe (am 22. 11. 2002) bei einem Besuch in der Apostolischen Nuntiatur in Berlin gegenüber dem Nuntius den Treueid gesprochen; im Bistum Magdeburg wurde durch Gerhard Feige als designierter Bischof der Treueid gegenüber dem Domkapitel abgelegt und vom Domprobst entgegengenommen, einen Tag vor der Bischofsweihe (am 16. 04. 2005).

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klang mit Bibel und Tradition noch mit der nachkonziliaren Theologie gesehen.7 Sie wurde am 1. Juli 1987 durch eine andere Formel ersetzt, die bisher nicht offiziell publiziert worden ist8 und damit inoffiziellen Charakter besitzt. Dies führte zu Rechtsunsicherheiten, sodass trotz der neuen Formel noch die alte genutzt wurde bzw. der konkrete Versprechensakt durchaus unterschiedlich gehandhabt wird.9 Der bischöfliche Treueid von 1987 lautet: „Treueid durch den Bischof vor der Besitzergreifung von seinem Bistum (gemäß 10 c. 380 CIC) (1) Ich, ..., verspreche bei der Besitzergreifung der Diözese ..., daß ich der katholischen Kirche und dem Papst als oberstem Hirten, Stellvertreter Christi, Nachfolger des heiligen Apostels Petrus im Primat und Haupt des Bischofskollegiums, immer treu sein werde. (2) Ich werde der freien Ausübung der primatialen Gewalt des Papstes in der Gesamtkirche Gehorsam leisten und seine Rechte und Autorität sorgsam stützen und verteidigen. Auch die Vorrechte und Aufgaben der Gesandten des Papstes, die ja in der Person des obersten Hirten handeln, werde ich anerkennen und beachten. (3) Ich werde Sorge tragen, die apostolischen Aufgaben, die den Bischöfen anvertraut sind, nämlich das Volk Gottes zu lehren, zu heiligen und zu leiten, in hierarchischer Gemeinschaft mit dem Haupt und den Gliedern des Bischofskollegiums mit höchster Gewissenhaftigkeit auszuüben. (4) Die Einheit mit der Gesamtkirche werde ich wahren, und ich werde eifrig darum bemüht sein, daß das von den Aposteln her überlieferte Glaubensgut rein und unversehrt bewahrt wird und daß die Wahrheiten, an denen festzuhalten ist und die auf das

7

Formula proponitur qua iusiurandum fidelitatis ab iis dandum erit qui episcopi dioecesani nominati sunt (1972), in: Ochoa, Leges 5, Sp. 6440, Nr. 4161; deutsch in: Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts 40 (1989), 27; zur Kritik Gisbert Greshake (Hrsg.), Zur Frage der Bischofsernennungen in der römisch-katholischen Kirche, München 1991, S. 10. 8

Erstmals zugänglich als „Formula Iuramenti Fidelitatis ab Episcopis praestandi“ vom 01.07.1987, in: Heribert Schmitz, „Professio fidei“ und „Iusiurandum Fidelitatis“. Glaubensbekenntnis und Treueid – Wiederbelebung des Antimodernisteneides?, in: AfkKR 157 (1988), S. 353 – 429, hier S. 378 f., Anm. 93. 9

Vgl. Schmitz, Professio (Anm. 8), S. 379, Anm. 94, der darlegt, dass der Erzbischof von Salzburg, Georg Eder, im Jahr 1989 noch die alte Formel von 1972 ablegte; vgl. zur Kritik Greshake, Einführung, in: Ders. Frage der Bischofsernennungen (Anm. 7.), S. 10, Anm. 7 und Anm. 6 dieses Artikels. 10

Unveröffentlichtes Formular; Übersetzung des lateinischen Textes durch Vizeoffizial Josef Ammer, Diözese Regensburg.

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sittliche Leben anzuwenden sind, so wie sie vom Lehramt der Kirche vorgelegt werden, allen weitergegeben und aufgezeigt werden. Den im Glauben Irrenden aber werde ich mich väterlich zuwenden und mich mit aller Kraft einsetzen, daß sie zur Fülle der katholischen Wahrheit gelangen. (5) Nach dem Ebenbild Christi, des höchsten und ewigen Priesters, werde ich ehrfürchtig und fromm handeln und den mir übertragenen Dienst so erfüllen, daß ich, von Herzen selbst zum Vorbild für die Herde geworden, die Gläubigen in der Erlangung der christlichen Vollkommenheit bestärken kann. (6) Die Disziplin der Gesamtkirche werde ich fördern und sorgsam auf die Befolgung aller kirchlichen Gesetze, besonders derer, die im Kodex des kanonischen Rechtes enthalten sind, drängen, wobei ich immer darüber wachen werde, daß sich keine Mißbräuche einschleichen, insbesondere im Dienst am Wort und bei der Feier der Sakramente. (7) Aufmerksame Sorgfalt werde ich auf die Verwaltung der zeitlichen Güter der Kirche legen, vor allem jener, die für die Durchführung des Gottesdienstes, zum angemessenen Unterhalt des Klerus und der anderen Diener sowie zur Ausübung des Apostolats und der Werke der Caritas bestimmt sind. (8) Bei der Ausübung des mir übertragenen Auftrags werde ich allen Priestern und Diakonen als den fürsorglichen Mitarbeitern der Bischöfe, sowie den Ordensmännern und -frauen, die an ein und demselben Werk teilhaben, mit besonderer Liebe nachgehen. Ebenso werde ich größte Sorge für die Förderung der geistlichen Berufe aufwenden, damit für die geistlichen Bedürfnisse in der ganzen Kirche in rechter Weise gesorgt wird. (9) Die Würde der Laien und den ihnen zukommenden Anteil in der Sendung der Kirche werde ich anerkennen und fördern. Um die Missionswerke zur Förderung der Evangelisierung der Völker aber werde ich mich mit besonderer Aufmerksamkeit kümmern. (10) Der Einladung zu den Konzilien und den übrigen rechtmäßigen kollegialen Akten werde ich selbst Folge leisten, wenn ich nicht verhindert bin, oder darauf in gebührender Weise antworten. (11) Zu den festgesetzten Zeiten oder aus gegebenem Anlaß werde ich dem Apostolischen Stuhl Rechenschaft über mein Hirtenamt geben, und ich werde dessen Aufträge und Entscheidungen gleichermaßen getreu annehmen und mit höchstem Eifer umsetzen. (12) So wahr mir Gott helfe und dieses sein heiliges Evangelium, das ich mit meinen Händen berühre.“

Die umfangreiche Formel macht ein erstes Verstehen nicht leicht. Das Genannte scheint bekannt, vor allem im Vergleich zum CIC/1983, sodass der Verdacht einige Fragen aufdrängen: Wie sinnvoll sind ausführliche Wiederholungen in solch einer Formel? Welche Aussagen aus dem CIC wurden für die Formel gewählt? Und sind damit ggf. Akzente oder Differenzierungen zu erkennen?

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1. Bischöfliche Treue An erster Stelle findet sich in der Formel die Treue, weshalb der Akt zu Recht als Treueid bezeichnet wird. Was bedeutet das für den Versprechenden? Treue beschreibt ein Vertrauensverhältnis. „Der treue Mensch steht zu seinen erklärten und übernommenen Verpflichtungen und bietet so dem Partner oder Adressaten Verläßlichkeit. Mehr als bei einzelnen Ver11 sprechungen wird die Treue bedeutsam … in einem Dienstverhältnis.“

Dabei erweist sich die Treuebezeigung immer in einem Kontext. Im Gesetzbuch wie im vorliegenden Versprechen bildet die kirchliche Gemeinschaft den Rahmen. Das Treueband selbst ist letztlich nur auf Gott zu beziehen. Die Treue Gottes zu den Menschen verlangt umgekehrt die Treue des Glaubens und die mitmenschliche Treue. Das erste Treueverhältnis der Formel benennt sehr kurz jenes zwischen Bischof und kirchlicher Gemeinschaft, das zweite die spezielle Verbindung zwischen Bischof und Papst und ist durch die Anreihung päpstlicher Titel ausführlich geschildert. Die theologische Grundlegung des Bischofsamtes und insbesondere das Verhältnis zwischen Bischöfen und Papst als Bischof von Rom hat sich mit dem II. Vatikanischen Konzil grundlegend geändert. Nach langem Ringen um eine zeitentsprechende Wiederherstellung der historisch ursprünglichen Bischofsrechte, hat das Verhältnis eine Umkehrung erfahren. Die Bischöfe „sind nicht als Stellvertreter der Bischöfe von Rom zu verstehen, denn sie haben eine ihnen eigene Gewalt inne und heißen in voller Wahrheit Vorsteher des Volkes, das sie leiten“ (VatII LG 27). Die konziliare Aussage hat sich gesetzlich niedergeschlagen: Der Bischof ist nicht mehr geistlicher Vasall, wie es lange Zeit in der kirchlichen Geschichte der Fall war.12 Er ist auch nicht mehr Vertreter des Papstes (c. 329 § 1 CIC/1917) im so genannte Konzessionssystem, sondern er leitet seine Diözese in eigener Verantwortung bis auf einige Fälle, die dem Papst vorbehalten sind (c. 381 § 1 CIC/1983), innerhalb des Reservationssystems; mit der theologischen Basis erklärt: die Bischöfe treten an die Stelle der Apostel und werden berechtigt zu den Diensten des Heiligens, Lehrens und Leitens (c. 375). Treue wird für den Bischof im Begriff des „Treueides“ (c. 380) grundsätzlich gefordert. Dass diese bischöfliche Treue gegenüber der katholischen Kirche gilt, besagt die theologische Grundlegung, in der Kirche zum Hirten bestellt zu sein 11 Alfons Riedl, Art. Treue, in: NLChM, Innsbruck / Wien 1990, S. 789 – 792, hier S. 789. 12

Das Trienter Konzil nannte „ekklesiologisch unzutreffend die Bischöfe Delegaten des Papstes“, Walf, Bischöfe (Anm. 5), S. 168.

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(c. 375 § 1). Allerdings betonen Konzilslehre und CIC die Verbindung zur Teilkirche sehr stark (vgl. exemplarisch VatII LG 23; cc. 134 § 1, 333 § 1), was hier in der Formel allerdings nicht zum Ausdruck kommt. Treue bedeutet nach der Formel von 1987 für den Bischof also Treue gegenüber der kirchlichen Gemeinschaft allgemein und vorrangig und „immer“ gegenüber dem Papst. 2. Gehorsam Der zweite Kernbegriff ist der Gehorsam. „Christlicher Gehorsam im eigentlichen Sinn hat sein Urbild im Gehorsam Jesu zu seinem Vater. ... Der Gehorsam gilt deshalb zuerst und vorzüglich dem Gott Jesu Christi. Zum Gehorsam gehört die Offenheit, auf das Wort Gottes in der Schrift wie in der Verkündigung der Kirche zu hören, ..., aber auch in den ‚Zeichen der Zeit‘, in 13 einer konkreten Situation, den Anruf Gottes zu verstehen.“

Gehorsam ist im alttestamentlichen wie im neutestamentlichen Verständnis eine Verhaltensbestimmung zwischen Mensch und Gott, die auf dem Hören basiert, ein ständiger Dialog, ein Hören und Tun und Bewahren und wird auch in der kirchlichen Tradition als solches gehütet. Auf diesem theologischen Nährboden erwächst eine Grundhaltung für alle Christen. Der von allen Gläubigen geschuldete christliche Gehorsam (c. 212 § 1) wird als Oberbegriff für verschiedene Formen von Gehorsam im Gesetzbuch normiert (cc. 750 – 754). Unter christlichem Gehorsam ist sowohl der so genannte kanonische Gehorsam, der den von der Kirche in den besonderen Dienst Genommenen obliegt, zu verstehen, als auch der religiöse Gehorsam (c. 753), der von allen Gläubigen gegenüber dem authentischen Lehramt der Bischöfe geschuldet wird (cc. 752 f.). Im bischöflichen Versprechen ist nun die Perspektive umgekehrt: Der Bischof ist derjenige, der Gehorsam leistet. Er ist nicht nur als Gläubiger wie alle anderen Gehorsam schuldig (c. 212 § 1), sondern auch als Kleriker „in besonderer Weise verpflichtet, dem Papst ... Ehrfurcht und Gehorsam zu erweisen“ (c. 273). In der Formel von 1987 gibt ein Diözesanbischof das Gehorsamsversprechen personell betrachtet gegenüber dem Papst, sodass die Gehorsamsverbindung das spezielle episkopal-papale Verhältnis betrifft. Es gäbe für den Bischof jedoch noch sehr viel mehr personale Bindungen zu berücksichtigen, hauptsächlich jene gegenüber dem Bischofskollegium (die aber erst in anderem Kontext und an späterer Stelle genannt ist) oder auch in seiner Verantwortung, die ihn gegenüber der ihm anvertrauten Teilkirche bindet (die hier explizit gar nicht genannt ist) und entsprechend als Defizit auffällt. 13

Herbert Schlögel, Art. Gehorsam VI., in: LThK3 4, 1995, Sp. 363 f., hier Sp. 363.

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Im Sinne des beschriebenen Gehorsams, wie die Kirche ihn in seinen Ursprüngen kennt, darf vor allem das dialogische Moment nicht aus den Augen verloren werden. Das gilt im konkreten Fall übertragen auf das bischöfliche Versprechen für das Miteinander von Bischof und kirchlicher Gemeinschaft und von Bischof und Papst. Für den bischöflichen Amtsinhaber ist sein Verhältnis zum Papst ein sowohl untergeordnetes als auch ein nebengeordnetes Verhältnis, da er innerhalb des Bischofskollegiums steht, „dessen Haupt der Papst ist und dessen Glieder kraft der sakramentalen Weihe und der hierarchischen Gemeinschaft mit dem Haupt und den Gliedern des Kollegiums die Bischöfe sind“ (c. 336). Der Papst ist als Bischof einer unter vielen Bischöfen mit der besonderen Stellung des Ersten unter Gleichen (c. 332 § 1). In der Formel des Treueides wird das Verhältnis des Bischofs gegenüber dem Papst dahingehend betont, dass der neue bischöfliche Amtsinhaber verspricht, päpstliche „Rechte und Autorität zu stützen und zu verteidigen“. Diese Formulierung lässt mutmaßen, dass es darum geht, das Handeln des Bischofs in seiner Diözese zu beaufsichtigen.14 Der CIC/1983 gibt aber vor, durch die päpstliche Aufsichtspflicht soll die bischöfliche „eigenberechtigte, ordentliche und unmittelbare Gewalt gestärkt und geschützt“ werden (c. 333 § 1). Dies ist aus der Formel von 1987 so nicht ersichtlich. Die konziliar und kodikarisch gestärkte Teilkirche scheint für Treue und Gehorsam nicht befriedigend berücksichtigt, ein Beigeschmack, der sich auch beim Lesen der weiteren Versprechensinhalte nicht verflüchtigt. 3. Hierarchische Gemeinschaft Nach Treue und Gehorsam verspricht der bischöfliche Amtsträger die Ausübung der hierarchischen Gemeinschaft. Sie verweist den Bischof auf das „communio-geprägte“ Kirchenbild: Er ist nicht allein Bischof seiner Teilkirche, sondern auch in das Kollegium der Bischöfe eingebunden, sein Amt ist für alle Ebenen konstitutiv: Teilkirche, Teilkirchenverbände sowie Gesamtkirche. Diese Communio hierarchica ist von daher nur im Zusammenhang mit der dreifachen Communio (fidelium, ecclesiarum, hierarchica) zu verstehen. Ansonsten wäre die Communio-Ekklesiologie „eine bedauerliche Verkürzung“.15 Der

14

So die Vermutung von Georg Bier, Die Rechtsstellung des Diözesanbischofs nach dem Codex Iuris Canonici von 1983 (FzK 32), Würzburg 2001, S. 253 f. 15

Bruno Primetshofer, Zur pro-episkopalen Tendenz des neuen Kirchenrechts, in: ThPQ 139 (1991), S. 38 – 48, hier S. 48. Vgl. Thomas Schüller, Diözesanbischöfe. Verwaltungsbeamte des Papstes?, in: StZ 7 (2002), S. 488 – 492, hier S. 489; Walter Kasper, Zur Theologie und Praxis des bischöflichen Amtes, in: Bernhard Körner u. a.

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Bischof ist als Gläubiger Teil der Communio fidelium, in der jeder durch die Taufe Christus eingegliedert und zum Volk Gottes gemacht wird, er ist Teil der Communio hierarchica als geweihter Amtsträger, der zum Dienst an der Gemeinschaft berufen ist, und er vertritt eine konkrete Teilkirche in der Communio ecclesiarum. Das hier zusätzlich tragende konziliare Stichwort ist das der Kollegialität. Als merkliches Ergebnis eines Kompromisses für die Theologie des bischöflichen Amtsverständnisses macht es bis heute Schwierigkeiten, dieses Konzilsanliegen zufrieden stellend aufzuarbeiten, was zur Folge hat, dass „Kollegium“ nicht im streng juridischen Sinne verstanden wird.16 „Man kann zum Begriff der Kollegialität von zwei verschiedenen Ansatzpunkten aus gelangen, die durchaus unterschiedliche Akzentsetzungen in der konkreten Auswirkung zeitigen. Die eine geht von der Gesamtkirche und vom Gesamtkollegium aus, dessen übergeordnete Idee die Einheit aller Bischöfe in einem gesamtkirchlichen Kollegium darstellt. Die andere kommt von der Sorge um diese verbundene Verant17 wortung für die Gesamtkirche, die sich als ‚communio ecclesiarum‘ darstellt.“

Dies beschreibt bereits kodikarisch gemachte Aussagen: die Theologie des bischöflichen Amtes (c. 375 § 1), die Erinnerung an die bischöfliche Stellung in der Communio hierarchica und in der Communio ecclesiarum (cc. 333 § 2, 336, 375 § 2). Ist damit im CIC die Kollegialität mehr betont als im Versprechen? Das verwundert, da die Formel insgesamt mit ihren 12 Absätzen doch sehr ausführlich ist. Der einzige Überschuss der Formel gegenüber dem Gesetzbuch besteht hier darin, dass der Versprechende sein Verhalten „mit höchster Gewissenhaftigkeit ausüben“ soll. Der Gewissensappell an den Versprechenden wird damit besonders betont, die Kollegialität und die Teilkirche – und damit die Communio ecclesiarum – dagegen unerwähnt gelassen. 4. Väterliche Zuwendung, in Liebe und von Herzen – zugleich Disziplin und Rechenschaft Versucht man nach diesen ersten inhaltstragenden Absätzen eine Stufung in der Formel zu sehen, ist wohl davon auszugehen, dass zentrale Inhalte an zentraler Stelle genannt sind. Die Grundelemente Treue, Gehorsam, Ausübung der hierarchischen Gemeinschaft werden konkretisiert. Ein kurzes Durchbuchsta(Hrsg.): Bischofsbestellung – Mitwirkung der Ortskirche? (Theologie im kulturellen Dialog 3), Graz u. a. 2000, S. 18 – 39, hier S. 28 ff. 16 17

Vgl. Kasper, Theologie (Anm. 15), S. 28 f; Walf, Bischöfe (Anm. 5), S. 169.

Primetshofer, Tendenz (Anm. 15), S. 47; vgl. ebenso Kasper, Theologie (Anm. 15), S. 29.

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bieren der weiteren Versprechen mit dem Gesetzbuch in der Hand zeigt dabei weitere Analogien zum CIC/1983: Der Bischof verpflichtet sich zur Einheit mit der Gesamtkirche, Bewahrung und Weitergabe von Glaubensgut und Wahrheiten (Absatz 4). Dies sind Forderungen des CIC (cc. 209 § 1, 392 § 1, 386). Nur mittelbar abzuleiten ist dagegen die „väterliche Zuwendung gegenüber den im Glauben Irrenden“. Sie sind wohl in der Sorge des Bischofs um alle Gläubigen seiner Diözese inbegriffen und könnten verglichen werden mit jenen, die „von der religiösen Praxis abständig geworden sind“ (c. 383 § 1). Die „vorbildliche Dienstführung“ (Absatz 5) verweist auf die Vorbildfunktion des Bischofs als „Beispiel der Heiligkeit“ (c. 387 § 1). Die väterliche Zuwendung und „von Herzen selbst zum Vorbild für die Herde“ zu werden, klingt erstmals nach einer persönlichen Bindung zum Gottesvolk in der Diözese. Zugleich ist die fortwährende Betonung, Disziplin zu fördern und auf ihre Befolgung zu drängen (Absatz 6), auffällig. Das Einschreiten gegen Missbräuche, „insbesondere im Dienst am Wort und bei der Feier der Sakramente“ (parallel cc. 392 § 2; 386 § 1) konkretisiert den Aufruf. Warum in der Formel eigens an die Einhaltung des Kodex erinnert werden muss, erscheint nicht nachvollziehbar. Ein liebevoller Dienstherr zu sein (Absatz 8), speziell gegenüber Klerikern und Ordenschristen, ist jener Auftrag, den der Versprechende als Diözesanbischof bereits hat (cc. 384 f.). Ähnlich wie der CIC/1983 unterscheidet auch die Formel die Gläubigen aus Sicht der bischöflichen Sorge, indem Priester und Ordenschristen eigens genannt werden (Absatz 9; cc. 383 § 1, 529 § 2). Allerdings geht die Formel hier über das Gesetzbuch hinaus, weil im CIC die Laien dazu nicht erwähnt sind, sondern implizit unter die Sorge um alle Gläubigen der Diözese fallen (vgl. c. 383 § 1). In der Formel sind sie aber eigens genannt. Das Versprechen für das neue Bischofsamt endet mit der Rechenschaft und einer erneuten Treuezusage gegenüber dem Apostolischen Stuhl (Absatz 11). „Dessen Aufträge und Entscheidungen gleichermaßen getreu anzunehmen und mit höchstem Eifer umzusetzen“, beschließt den Kreis von Treue und Gehorsam zu Treue und Gehorsam, denn diese beiden Begriffe tragen das Versprechen und rahmen es zugleich. Die Schlussfolgerung, „Gefolgschaft und Gehorsam sind damit als die Maximen des diözesanbischöflichen Handelns und der Amtsführung des Diözesanbischofs“18 zu sehen, ist daher schwerlich von der Hand zu weisen. Die Zusage des Kandidaten für das Bischofsamt schließt dann mit einer Schwurformel und einer Zeichenhandlung.

18

Bier, Diözesanbischof (Anm. 14), S. 269.

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III. Die unbeachtete Teilkirche Was lässt sich anhand des Bischofseides von 1987 ableiten? Die Doppelungen der Formel zum Gesetzbuch sind kein Widerspruch, hinterlassen aber in dieser Ausgestaltung ambivalente Fragen. Positiv formuliert: Die konkrete Versprechensformel entspricht ihrem Rahmenrecht. Negativ angefragt: Warum aber muss dies derart ausführlich geschehen? Warum sind jene Inhalte gewählt und andere nicht berücksichtigt worden? In der Anordnung der Absätze lässt sich eine Stufung innerhalb der Formel vom Primären zum Sekundären lesen, an deren oberster Stelle Treue und Gehorsam stehen. Allein drei Überschüsse haben keine direkten Vergleichspunkte zum Gesetzbuch von 1983: Das „Mehr“ besteht in der Beteuerung der bischöflichen Gewissenhaftigkeit hauptsächlich gegenüber dem Papst, in der besonderen Sorge um die im Glauben Irrenden und in der eigens genannten Beachtung der Laien. Dagegen fällt insgesamt vor allem ein Defizit auf: Die ausführliche Formel erwähnt mit keinem Wort eigens die Teilkirche, sondern berücksichtigt diese nur in einzelnen Aspekten. Einige Rechte, die dem Diözesanbischof aufgrund der Konzilstheologie auch kodikarisch zustehen, scheinen ebenfalls unberücksichtigt.19 Der Communio hierarchica wird damit ein Vorzug eingeräumt zu Ungunsten der Communio ecclesiarum; bereits bestehende „Gleichgewichtsstörungen“20 zwischen zentralen und föderalen Strukturen werden nochmals verstärkt. Inwieweit ist hier die theologisch grundgelegte Eigenständigkeit des Diözesanbischofs (c. 381 § 1) als Stellvertreter und Gesandter Christi (VatII LG 27) bedacht?21 Wären denn, wenn die Formel schon derart ausführlich ist, nicht auch Aussagen angebracht, die die theologische Grundlegung des Bischofsamtes vermehrt berücksichtigen? IV. „Wieviel“ des bischöflichen Eides bedarf die Communio? Mit wenigen Ausnahmen gibt die Formel von 1987 Normierungen des CIC/1983 wieder. Warum müssen diese Pflichten, zu denen der Bischof von Rechts wegen schuldig ist, eigens in derart detaillierter Form wiedergegeben

19 Interessanterweise beschreibt die Formel von 1989 für kirchliche Dienst- und Amtsinhaber dann aber die erstarkte bischöfliche Stellung. Dies liegt wohl daran, dass der Bischof dann der Adressat und nicht der Eidleistende ist. 20 Kurt Koch, Primat und Episkopat in der Sicht einer Trinitätstheologischen Ekklesiologie, in: Libero Gerosa / u. a. (Hrsg.), Patriarchale und synodale Strukturen in den katholischen Ostkirchen (Kirchenrechtliche Bibliothek 3), S. 9 – 30, hier S. 13.17. 21

Vgl. zu dieser Fragestellung Kasper, Theologie (Anm. 15), S. 29 f.

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werden? Diverse Spekulationen werden dazu von kanonistischer Seite angeführt: „Der Papst hält es für erforderlich, sich präventiv des Gehorsams und der Gefolgschaft detailliert zu versichern“,22 lautet eine Antwort. Das aber hieße, dass der CIC/1983 nicht genügend Sicherheit bieten würde. Tatsächlich zeigt die Formel in dieser Hinsicht Tendenzen, die über das Gesetzbuch hinausgehen, da sie den hierarchischen Communioaspekt in den Vordergrund stellt. Wenn die Communio auf einen ihrer drei Teilaspekte beschränkt wird, droht sie jedoch sinnentleert und im wahrsten Sinne des Wortes einseitig zu werden.23 Das Gesamt zur Einheit aber bedarf des Gesamt des dreifachen Communioaspektes, um im Geiste des Konzils zu stehen. Eine zweite Spekulation geht davon aus, dass der bischöfliche Treueid ein Institut der jüngeren Kirchengeschichte ist, das „klar als Ergebnis des Konzils, nämlich der Ekklesiologie der Gemeinschaft“ angesehen werden kann. Danach bedarf die kollegiale Natur des Bischofsamtes zwischen Papst und Bischofskollegium in ihrer Einheit auch eines Zeichens organischer „Einheit des Wirkens und Regierens“.24 Die Vermutung der Neueinführung ist derart nicht zutreffend, denn es gibt bischöfliche Treueide seit dem 6. Jahrhundert, wenn auch in sehr unterschiedlicher Ausgestaltung und Zielrichtung. Der Eid an sich als Ausdruck des kollegialen Aktes im konziliaren Sinn ist interpretationsbedürftig: Er kann als solcher gesehen werden, kann umgekehrt aber auch als Misstrauenszeichen gedeutet werden, indem der Eid eben die Lücken eines Vertrauensverhältnisses füllen soll. Die Hypothese des bischöflichen Treueides als konsequente Folge der Konzilstheologie ist von daher eine Gratwanderung. Der Denkansatz, der sich m. E. der Intention eines nachkonziliaren bischöflichen Treueides eher nähert, ist folgender: Inwieweit erweist sich der geforderte Treueid kohärent mit der Communio-Theologie im Gesamten? Ist in diesem Eid vielleicht eine teilweise noch nicht gänzlich ausgereifte EpiskopatsTheologie zu spüren? „Einerseits wollte das Konzil in der Spur der alten Kirche die Primatslehre des I. Vatikanums durch seine Lehre über das Bischofsamt und die Kollegialität im Bischofsamt ausbalancieren und ergänzen und so auch den kurialen Zentralismus überwinden. Andererseits hat das letzte Konzil die Lehre des I. Vatikanums mehrfach 22

Bier, Diözesanbischof (Anm. 14), S. 269.

23

Vgl. die Kritik dieser Tendenz bei Bischofsweihe und -amt durch Ludger Müller, Der Diözesanbischof – ein Beamter des Papstes?, in: AfkKR 170 (2001), S. 106 – 122, hier S. 120 f. 24

Tarcisio Bertone, Was will der Treueeid? Kirchenrechtliche Überlegungen, in: OssRom(dt.) Nr. 23, vom 09. 06. 1989, S. 6.

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wiederholt und bestätigt und so diesem bis dahin nicht abgeschlossenen Konzil erst zu seiner endgültigen Rezeption verholfen. Damit kommen in die Konzilstexte eine Reihe von ungelösten Spannungen, die bis heute weder theoretisch noch praktisch gelöst sind und die im Hintergrund vieler gegenwärtiger kirchenpolitischer Ausei25 nandersetzungen stehen.“

Der bischöfliche Treueid steht inmitten dieser Spannung. Auch die vielfältigen Konsequenzen für das diözesane Bischofsamt sind im Gesetzbuch wohl noch lange nicht zur Genüge untersucht.26 Das vorkonziliare Amtsverständnis macht diese Eidesforderung verständlicher als das neue Amtsverständnis, denn die göttliche Einsetzung war auf das Amt des Diözesanbischofs bezogen (c. 329 § 1 CIC/1917 im Vergleich zu c. 375 § 1 CIC/1983). In der aufgewerteten Amtstheologie der Bischöfe durch das II. Vatikanische Konzil dagegen kommt man leicht auf den Gedanken, dass es für die Verhältnisse innerhalb der Communio keiner derartigen zusätzlichen Beteuerung bedarf, zumal das Gesetzbuch der katholischen Kirche doch bereits diese Pflichten einfordert. Wenn an einer feierlichen Bindung festgehalten werden sollte, bleiben trotzdem Fragen bestehen: Warum wird dieses Zeichen der Verbundenheit nicht üblicherweise als Teil der Inthronisation am Kathedralsitz vollzogen und damit eben dort die Hirtenfunktion des neuen Amtsinhabers für die Communio ecclesiarum verdeutlicht? Immerhin wird empfohlen, dass die kanonische Besitzergreifung mit einem liturgischen Akt in der Kathedralkirche geschieht, bei dem Klerus und Volk anwesend sind (c. 382 § 4). Und wenn es einer solchen Loyalitätsbekundung des Bischofs innerhalb der Communio bedarf, warum muss es dann unbedingt über das Institut des Eides geschehen? Ist dann nicht ein kurzes Versprechen ausreichend für die Bischöfe, „die kraft göttlicher Einsetzung … an die Stelle der Apostel treten“ (c. 375 § 1)? „Gibt es nicht auch ... innere Schranken der Ausübung kirchlicher Vollmacht, die ausreichend sind, um die Struktur der Kirche als Communio zu sichern?“27 Nochmals aus einer anderen Perspektive durchdacht: Wie spürbar ist die Theologie des Eides, die ihm per definitionem als Anrufung des göttlichen Namens, als Zeugen für die Wahrheit (c. 1199 § 1) zukommt und wie sehr das episkopale Amtsverständnis des Konzils?

25

Kasper, Theologie (Anm. 15), S. 26 f.; vgl. ebenso Koch, Primat (Anm. 20), S. 10 f.

26

Vgl. Müller, Diözesanbischof (Anm. 23), 106; Bier, Diözesanbischof (Anm. 14), S. 13 ff. 27

Müller, Diözesanbischof (Anm. 23), S. 108.

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Der konziliar vorgegebene, aber faktisch wohl in einigen Teilbereichen noch immer ungeklärte Rechtsstatus der Diözesanbischöfe28 ist die Grundlage für das Für oder Wider eines bischöflichen Treueids. Solange nicht geklärt ist, wie der communiale Dialog zu verstehen ist, kann die Frage nach dem rechtlichen Bindemittel nicht entschieden werden. Wird die konziliar grundgelegte und im Kodex verpflichtende Theologie zur Gemeinschaftswahrung ernst genommen, so ergibt die Einforderung von Treue und Gehorsam über das Rechtsinstitut des Eides ein ungutes Gefühl. Grund dafür ist die Zweideutigkeit dieses theologisch-rechtlichen Institutes – dem Eid als Machtmittel oder gemeinschafts-stiftendem Medium. Den Eid einerseits als autoritatives Mittel einzusetzen widerspricht dem Schwurverbot Jesu und der Tradition29 und wäre wohl für die ekklesiale Communio nicht wünschenswert. Andererseits den Eid als gläubiges Bekenntnis zu verstehen, erweist sich in der jetzigen Rechtsform als überflüssiger Zusatz. Denn das Glaubensbekenntnis wird den geweihten, aber noch nicht inthronisierten Bischöfen schon zuvor abgenommen (c. 380). Die genauere Standortbestimmung des Bischofsamtes in der Communio, hauptsächlich der Communio hierarchica und ecclesiarum, bleibt wohl noch weiter zu klären und es wird spannend bleiben abzuwarten, ob es vielleicht nicht einer prägnanteren Formel oder gar anderer Form religiöser und Vertrauen schaffender Bindemittel bedarf, die ein zukunftsweisendes papal-episkopales Verhältnis widerspiegelt: Denn trotz „der unterschiedlichen Rollen und Aufgaben des römischen Papstes und der Bischöfe steht diese kollegiale Gemeinschaft im Dienst der Kirche und der Einheit im Glauben, von der in hohem Maße die Wirksamkeit der Evangelisierungstätigkeit in der Welt von heute abhängt.“30

28 Vgl. die diversen Kritiken bei Koch, Primat (Anm. 20), S. 12; Bier, Diözesanbischof (Anm. 14), S. 13 – 17; Schüller, Diözesanbischöfe (Anm. 15), S. 492. 29

Die Tradition lässt differenziert betrachtet durchaus berechtigte Zweifel an der Notwendigkeit des Schwörens, vgl. Irina M. Kreusch, Der Eid zwischen Schwurverbot Jesu und kirchlichem Recht. Verehrung oder Mißbrauch des göttlichen Namens? (KStuT 49), Berlin 2005, S. 93 – 112; 431 – 436. 30 Papst Benedikt XVI., Missa pro ecclesia, Erste Botschaft seiner Heiligkeit Benedikt XVI. bei der Eucharistiefeier mit den wahlberechtigten Kardinälen in der Sixtinischen Kapelle, 20. 04. 2005, in: Der Anfang. Papst Benedikt XVI. Joseph Ratzinger. Predigten und Ansprachen April/Mai 2005. Hrsg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, 168), Bonn 2005, S. 22.

Zur interimistischen Leitung einer Diözese wegen Vakanz oder Behinderung des bischöflichen Stuhls Von Konrad Breitsching Nach katholischem Verständnis gehört das Bischofsamt zu jenen Elementen der kirchlichen Verfassung, die göttlichen Ursprungs sind. Die Bischöfe führen die den Aposteln von Christus anvertraute Sendung als deren Nachfolger durch die Zeit hin weiter (vgl. c. 375 § 1). Seinem Wesen nach ist der Dienst eines Bischofs neben seiner überdiözesanen und weltkirchlichen Verantwortung1 „auf die Leitung einer Diözese als der originären Grund- und Vollform von Teilkirchen, in denen und aus denen die eine und einzige katholische Kirche besteht (vgl. c. 368)“2 angelegt. Das Amt des Diözesanbischofs ist somit für das Leben einer Diözese von grundlegender Bedeutung. Doch gibt es auch Zeiten, in der eine Diözese z. B. wegen Vakanz des bischöflichen Stuhls oder wegen der Tatsache, dass der Diözesanbischof an der Ausübung seines Amtes gehindert wird, ohne diesen bischöflichen Dienst auskommen muss. Wie ist nun die Leitung einer Diözese in solchen Situationen rechtlich geregelt?

1 Siehe dazu Winfried Aymans, Der Leitungsdienst des Bischofs im Hinblick auf die Teilkirche. Über die bischöfliche Gewalt und ihre Ausübung aufgrund des Codex Iuris Canonici, in: AfkKR 153 (1984), S. 35 – 55, hier S. 38 f. 2 Heribert Schmitz, Der Diözesanbischof, in: HdbKathKR2, S. 425 – 442, hier S. 427. Wegen der engen Zuordnung des Diözesanbischofs zur Diözese, ist diese nicht als ein beliebiger Verwaltungsbezirk, sondern zusammen mit ihren Ersatzformen als ein unaufhebbares Strukturelement der Kirchenverfassung zu sehen. Vgl. Aymans, Leitungsdienst (Anm. 1), S. 36.

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I. Die Leitung einer Diözese während der Vakanz des bischöflichen Stuhls 1. Eintritt der Vakanz Der häufigste Fall einer interimistischen Leitung einer Diözese tritt wohl durch die Vakanz eines bischöflichen Stuhls ein. Eine solche Vakanz kann durch die Annahme des Rücktrittsgesuches des amtierenden Diözesanbischofs, durch dessen Versetzung oder Absetzung, schließlich durch dessen Tod erfolgen (vgl. c. 416). Gemäß c. 401 § 1 ist ein Diözesanbischof gebeten, mit Vollendung seines fünfundsiebzigsten Lebensjahres – bei schwerer Beeinträchtigung der Amtsausübung wegen Krankheit oder anderer schwerwiegender Gründe auch schon früher (vgl. c. 401 § 2) – dem Papst seinen Amtsverzicht anzubieten. Der Papst entscheidet über die Annahme des Verzichts nach Abwägung aller Umstände. Wird dem Bischof die positive Annahme seines Verzichts mitgeteilt, so wird der bischöfliche Stuhl mit dem Erhalt der offiziellen Mitteilung vakant; dies trifft ebenso bei der offiziellen Benachrichtigung über die Absetzung zu. Im Falle einer Versetzung erfolgt die Vakanz erst mit der Besitzergreifung der neuen Diözese, die zwei Monate nach der offiziellen Mitteilung der Versetzung vorzunehmen ist (vgl. c. 418 § 1). Im Todesfall tritt die Vakanz natürlich sofort ein. Falls ein Bischofskoadjutor vorhanden ist, der gemäß c. 403 § 3 das Recht der Nachfolge besitzt und von seinen Amt bereits Besitz ergriffen hat,3 geht der bischöfliche Stuhl mit dem Eintritt der Sedisvakanz sofort auf diesen über (vgl. c. 409 § 1). In diesem Fall gibt es also keine Sedisvakanz im rechtlichen Sinne.4

3 Die Besitzergreifung erfolgt dadurch, dass der zum Bischofskoadjutor Ernannte sein Ernennungsschreiben persönlich oder durch einen Vertreter dem Diözesanbischof und dem Konsultorenkollegium bzw. Domkapitel in Gegenwart des Kanzlers der Kurie vorlegt. Der Kanzler hat diesen Vorgang zu protokollieren. Sollte der Diözesanbischof an seiner Amtsführung vollständig gehindert sein, genügt es, das apostolische Ernennungsschreiben dem Konsultorenkollegium bzw. dem Domkapitel in Gegenwart des Kanzlers vorzuweisen. Vgl. c. 404 § 1 u. § 3. 4 Ein Amt ist rechtlich Vakant, wenn niemand einen Rechtsanspruch darauf hat, also weder ein ius in re noch ein ius ad rem ein. Vgl. Hubert Socha, c. 153, Rdnr. 4, in: MK CIC (Stand: August 1988); Hugo Schwendenwein, Die Katholische Kirche. Aufbau und rechtliche Organisation (MK CIC. Beihefte 37), Essen 2003, S. 127 f. Vgl. auch John A. Renken, in: NCCCL, S. 552, Anm. 236.

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a) Die Vollmachten des Diözesanbischofs, des General-, Bischofsvikars, Offizials und Vizeoffizials bei Eintritt der Vakanz Selbstverständlich kann der Diözesanbischof bis zur offiziellen Mitteilung über die Annahme seines Amtsverzichts, seiner Absetzung oder seiner Versetzung gültige Maßnahmen entsprechend seiner bischöflichen Vollmachten treffen (vgl. c. 417). Ab der offiziellen Benachrichtigung5 über seine Versetzung hat der Diözesanbischof allerdings nur mehr die Rechtsstellung eines Diözesanadministrators (vgl. c. 418 § 2 n. 1). Er behält aber die bisher mit seinem Amt verbundene Vergütung in voller Höhe (vgl. n. 2). Generalvikare oder Bischofsvikare, die den bisherigen Bischof im Verwaltungsbereich vertreten haben, können bis zur Erlangung der sicheren Kenntnis über den Tod bzw. über die Annahme des Rücktritts, über die angeordnete Versetzung oder Absetzung rechtskräftige Verfügungen erlassen (vgl. c. 417).6 Danach erlöschen ihre Vollmachten (vgl. c. 481 § 1 i.V.m. c. 501 § 2 u. c. 513 § 2). Handelt es sich beim Generalvikar bzw. Bischofsvikar um einen Auxiliarbischof, so behält er allerdings die Vollmachten, die er bei Eintritt der Vakanz als Generalvikar bzw. als Bischofsvikar von Amts wegen besaß als gesetzlich delegierte Vollmachten bis zur Besitzergreifung durch den neuen Bischof, ohne jedoch Generalvikar bzw. Bischofsvikar zu sein (vgl. c. 409 § 2).7 Sollte er nicht zum Diözesanadministrator bestellt werden, hat er diese Vollmachten unter der Autorität des Diözesanadministrators auszuüben, selbst dann, wenn dieser nur Priester sein sollte (vgl. ebd. § 2). Nicht ganz geklärt ist, ob zu den Vollmachten, die dem Auxiliarbischof gemäß c. 409 § 2 für die Zeit der Vakanz erhalten bleiben, auch die Spezialman-

5 Unter der offiziellen Mitteilung bzw. Benachrichtigung des Diözesanbischofs wird im Normalfall die Einsicht in das entsprechende päpstliche Schreiben zu verstehen sein. Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 359. 6 „The obvious reason of the provisions of this canon is to provide efficacious pastoral care (valid acts of governance) for the faithful of the diocese, and to give a certain legal security to such vicars regarding the exercise of their office.“ Renken, in: NCCCL, S. 550. 7

Siehe dazu Georg Bier, c. 409, Rdnr. 6, in: MK CIC (Stand: Dezember 1998); Renken, in: NCCCL, S. 545 i.V.m. Anm. 212; Hubert Müller, Die rechtliche Stellung des Diözesanbischofs gegenüber Generalvikar und Bischofsvikar. Zur Rechtslage nach dem CIC/1983, in: AfkKR 153 (1984), S. 399 – 415, hier S. 414.

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date zu rechnen sind.8 Dies hängt letztlich davon ab, ob Spezialmandate die Amtsvollmacht eines Generalvikars oder Bischofsvikars erweitern9 oder ob sie Ergänzungen derselben auf dem Wege der Delegation10 sind. Im letztern Fall würden sie ihm nicht erhalten bleiben. Offizial und Vizeoffizial, die den Bischof im Bereich der Rechtsprechung vertreten, bleiben im Amt. Ferner verlieren der Priesterrat11 (vgl. c. 501 § 2) und der diözesane Pastoralrat mit Eintritt der Vakanz Amt und Aufgaben. Die Aufgaben des Priesterra12

8 Vgl. Georg Bier, c. 426, Rdnr. 3, in: MK CIC (Stand: Juli 1999). Hubert Müller führt 83 Fälle an, in denen die ausführende Vollmacht vom Codex ausschließlich dem Diözesanbischof zugewiesen wird. Müller, Stellung des Diözesanbischofs (Anm. 7), S. 409 – 412. 9

Winfried Aymans versteht über Spezialmandat zugeteilte Vollmachten als eine Erweiterung der Amtsvollmacht des General- bzw. Bischofsvikars. Er stützt sich dabei auf die Rechtsfigur des Bischofsvikars, dessen Kompetenzen jeweils vom Diözesanbischof zu umschreiben sind und dennoch vom Recht als ordentliche Vollmachten bezeichnet werden. „Wenn die notwendige Einzelregelung dem ordentlichen Charakter dieser Gewalt nicht widerstreitet, kann dies noch weniger für die gesetzlich umschriebenen Einzelvollmachten gelten, die dem Generalvikar durch Spezialmandat übertragen werden.“ Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 413; vgl. auch Aymans, Leitungsdienst (Anm. 1), S. 46 f. Ähnlich Hubert Socha, c. 131, Rdnr. 4, in: MK CIC (Stand November 1986). 10

So Georg Bier, der festhält, dass Spezialmandate vom Wortlaut des c. 479 §§ 1 u. 2 ausdrücklich aus der Amtsvollmacht des Generalvikars bzw. Bischofsvikars ausgenommen sind. In die gleiche Richtung weise auch c. 134 § 3. Schließlich werde die Möglichkeit der Erteilung einer Sondervollmacht in den cc. 462 § 2, 492 § 1 und 494 § 3 als Delegation qualifiziert. Vgl. Georg Bier, c. 479, Rdnr. 8, in: MK CIC (Stand: Dezember 1999). Siehe dazu auch Müller, Stellung des Diözesanbischofs (Anm. 7), S. 408 u. 413. 11

Gemäß c. 495 § 1 ist in jeder Diözese verpflichtend ein Priesterrat einzurichten, der das Presbyterium der Diözese repräsentiert und als Senat des Bischofs fungiert. Seine Aufgabe ist es, „den Bischof bei der Leitung der Diözese nach Maßgabe des Rechts zu unterstützen, um das pastorale Wohl des ihm anvertrauten Teiles des Gottesvolkes so gut wie eben möglich zu fördern“. „Der Priesterrat hat nur beratendes Stimmrecht; der Diözesanbischof hat ihn bei Angelegenheiten von größerer Bedeutung anzuhören, benötigt seine Zustimmung aber nur in den im Recht ausdrücklich genannten Fällen.“ C. 500 § 2. 12

„In jeder Diözese ist, sofern die seelsorglichen Verhältnisse es anraten, ein Pastoralrat zu bilden, dessen Aufgabe es ist, unter der Autorität des Bischofs all das, was sich auf das pastorale Wirken in der Diözese bezieht, zu untersuchen, zu beraten und hierzu praktische Folgerungen vorzuschlagen.“ C. 511.

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tes gehen jedoch auf das Konsultorenkollegium13 bzw. Domkapitel14 über und bleiben ihm bis zur Neubesetzung erhalten. b) C. 428 als Generalnorm für die Zeit der Vakanz Während der ganzen Zeit der Vakanz gilt – sozusagen als Generalnorm –, dass in der Diözese nichts verändert werden darf (c. 428 § 1).15 Dieser Verpflichtung werden vor allem diejenigen Personen unterstellt, denen die zwischenzeitliche Leitung der Diözese übertragen wird. So ist es ihnen ausdrücklich untersagt, Handlungen zu setzen, die eine Beeinträchtigung der Diözese oder der bischöflichen Rechte nach sich ziehen könnten. Wesentliches Ziel der interimistischen Leitung der Diözese ist somit die Aufrechterhaltung des Status quo bis zur Neubesetzung.16 Besonders stark hervorgehoben wird das Verbot, Dokumente der Diözesankurie heimlich zu entfernen, zu vernichten oder zu verändern (c. 428 § 2). Letzteres Verbot wird auch auf „alle anderen“ ausgedehnt. Hier ist wohl primär an jene zu denken, die Zugang zu den Akten der Diözesankurie haben (z. B. Kanzler, Diözesanarchivar). Derartige Verstöße gegen kirchliche Dokumente können auch strafrechtlich belangt werden (vgl. c. 1391 n. 1). Das Geheimarchiv der Diözese darf während der Vakanz nur vom Diözesanadministrator selbst und nur im Falle einer wirklichen Notwendigkeit geöffnet werden (vgl. 490 § 1). In der interimistischen Leitung einer Diözese wegen Vakanz des bischöflichen Stuhls sind zwei Phasen zu unterscheiden: die eher kurze Phase vom Eintritt der Vakanz bis zum Amtsantritt des Diözesanadministrators und die Zeit der Leitung durch einen Diözesanadministrator. Dies ist der vom Gesetz vorgegebene Weg. Es bleibt dem Apostolischen Stuhl natürlich vorbehalten, in einem konkreten Fall auch andere Vorkehrungen zu treffen. 13

Das Konsultorenkollegium ist ein Kollegium, das der Diözesanbischof aus den Mitgliedern des Priesterrates für fünf Jahre frei ernennt. Es dürfen nicht weniger als sechs und nicht mehr als zwölf sein. Vgl. c. 502 § 1. Den Vorsitz in diesem Kollegium hat der Diözesanbischof inne. Dieses Kollegium ist vor allem mit einigen Beispruchsrechten in vermögensrechtlichen Fragen ausgestattet. Zu den Aufgaben siehe Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 401. 14 Gemäß c. 502 § 3 können die Aufgaben des Konsultorenkollegiums von der Bischofskonferenz auch dem Domkapitel übertragen werden. In Österreich, Deutschland und der Schweiz haben die Bischofskonferenzen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. 15

Es geht vor allem um die Führung der laufenden Geschäfte. Neuregelungen dürfen nicht vorgenommen werden.“ Schwendenwein, Katholische Kirche (Anm. 4), S. 377 f. 16

Vgl. Renken, in: NCCCL, S. 556.

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2. Die Zeit vom Eintritt der Vakanz bis zum Amtsantritt des Diözesanadministrators a) Leitung einer vakanten Diözese durch einen Auxiliarbischof Gibt es in der vakant gewordenen Diözese einen Auxiliarbischof, so geht die Leitung der vakanten Diözese bis zum Amtsantritt des Diözesanadministrators auf den Auxiliarbischof über. Sind mehrere Auxiliarbischöfe vorhanden, so übernimmt der dienstälteste die Leitung.17 Der so mit der Leitung betraute Auxiliarbischof hat unverzüglich das Konsultorenkollegium, dessen Vorsitz er vorübergehend innehat,18 bzw. das Domkapitel zur Wahl des Diözesanadministrators einzuberufen (vgl. c. 419). Dieser muss innerhalb von acht Tagen gewählt werden.19 Wird der Bischofssitz durch den Tod des Amtsinhabers vakant, so hat der Auxiliarbischof den Apostolischen Stuhl (über den Apostolischen Nuntius bzw. päpstlichen Legaten) ehest möglich über das Ableben des Diözesanbischofs zu informieren (vgl. c. 422).20 Diesem Akt kommt insofern eine wichtige Bedeutung zu, da die Besetzung eines Bischofssitzes erst in Angriff genommen werden kann, wenn die Vakanz kirchenamtlich bei den für die Besetzung verantwortlichen Instanzen feststeht. Bis zum Amtsantritt des Diözesanadministrators hat der Auxiliarbischof die rechtlichen Vollmachten eines Generalvikars (c. 426). Seine Vollmacht ist nach Winfried Aymans eine ordentliche stellvertretende ausführende Vollmacht ohne gesetzgebende Befugnis,21 weshalb der Auxiliarbischof auch als Ortsordi-

17

Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde der Wunsch geäußert, einem vorhandenen Weihbischof bei Vakanz von Rechts wegen überhaupt gleich das Amt der interimistischen Diözesanleitung zu übertragen. Vgl. VatII CD 26. Diesem Wunsch kam der Gesetzgeber jedoch nicht nach. 18

Siehe dazu c. 502 § 2.

19

Näheres siehe dazu unten unter I. 2. b) u. I. 3. a).

20

Siehe dazu Renken, in: NCCCL, S. 553.

21

Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 361; dies., KanR I, S. 416. Es stellt sich die Frage, ob die Vollmacht nicht als eigenberechtigte zu bezeichnen ist, da der interimistisch leitende Auxiliarbischof den Diözesanbischof nicht bloß vertritt, sondern ihn wie der zu bestellende Diözesanadministrator, wenn auch nur für sehr kurze Zeit, ersetzt. Der Verweis auf die Vollmachten des Generalvikars in c. 426 wäre dann als Verweis auf den Umfang der Vollmachten zu verstehen und nicht zugleich auch auf deren Charakter.

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narius fungiert.22 Er ist aber nicht Generalvikar, sondern eben interimistischer Leiter. Die Vollmacht erstreckt sich auf die gesamte Diözese und auf alle Verwaltungsakte mit Ausnahme derer, die sich der abberufene Bischof vorbehalten hat oder die von Rechts wegen ein Spezialmandat des Diözesanbischofs erfordern (vgl. c. 479 § 1).23 Für Georg Bier handelt es sich jedoch nicht um eine amtliche Vollmacht, sondern um eine gesetzlich delegierte.24 In diesem Falle wäre der Auxiliarbischof nicht Ortsordinarius, sondern nur mit Befugnissen eines Ortsoberhirten im Umfang der Vollmachten eines Generalvikars ausgestattet. Allerdings spricht doch einiges dafür, dass es sich bei der interimistischen Leitung um ein Amt handelt. Denn die interimistische Leitung für die erste Phase der Vakanz erfüllt die Kriterien eines kirchlichen Amtes: den geistlichen Zweck, den Inbegriff von Pflichten und Rechten, die dauerhafte (nämlich für alle eintretenden Vakanzen) Einrichtung durch das kirchliche Recht (vgl. c. 145 § 1). Die kanonische Übertragung erfolgt dabei von Rechts wegen.25 Eine konkrete Amtsbezeichnung wie im Falle des Diözesanadministrators mag zwar ein deutlicher Hinweis für die Einrichtung eines Amtes sein, stellt aber kein Wesenserfordernis dar. b) Leitung einer vakanten Diözese durch das Konsultorenkollegium bzw. Domkapitel Gibt es keinen Auxiliarbischof und hat der Apostolische Stuhl für diesen Fall nichts anderes vorgesehen, geht die Leitung auf das Konsultorenkollegium bzw. Domkapitel als Kollegium über. Den Vorsitz übernimmt bis zur Bestellung des Diözesanadministrators der der Weihe nach älteste Priesters des Konsultorenkollegiums (vgl. c. 502 § 2). Der Vorsteher des Domkapitels übt seine Funktion weiterhin aus. Es ist gerade die Zeit der Vakanz des bischöflichen Stuhls, in der das Konsultorenkollegium seine Bedeutung gewinnt.26 Tritt die Vakanz durch den Tod des Diözesanbischofs ein, ist es eine seiner ersten Aufgaben, den Apostolischen Stuhl unverzüglich davon in Kenntnis zu setzen (vgl. c. 422). 22

Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 410.

23

Hinsichtlich etwaiger erhaltener Spezialmandate sede plena siehe oben I. 1. a).

24

Vgl. Bier, c. 426, Rdnr. 3, in: MK CIC (Stand: Juli 1999).

25

Georg May nennt den interimistisch leitenden Auxiliarbischof als ein Beispiel für eine Übertragung eines Amtes von Rechts wegen. Vgl. Georg May, Das Kirchenamt, in: HdbKathKR2, S. 175 – 187, hier S. 180. 26

Vgl. dazu Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 400.

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Der vorübergehende Vorsitzende des Konsultorenkollegiums bzw. der Vorsteher des Domkapitels hat dafür Sorge zu tragen, dass dieses innerhalb von acht Tagen nach Kenntnisnahme von der Vakanz selbsttätig einen Diözesanadministrator wählt. Verabsäumt es die Wahl innerhalb der acht Tage, so verliert es das Recht der Bestellung des Diözesanadministrators an den Metropoliten bzw. bei Vakanz des Metropolitansitzes an den dienstältesten Suffraganbischof (vgl. c. 421 § 2). Damit ist gesichert, dass bis zur Bestellung des Diözesanadministrators nicht allzu viel Zeit verstreicht. Auch das Konsultorenkollegium bzw. Domkapitel verfügt über die gleichen Vollmachten und eine weitgehend gleiche Rechtsstellung wie der die Diözese interimistisch leitende Auxiliarbischof. Im Falle der Leitung durch das Konsultorenkollegium bzw. durch das Domkapitel wird es sich dabei um Befugnisse handeln müssen, die ihrer Natur nach auch kollegial wahrgenommen werden können.27 Selbst wenn es sich bei der Vollmacht der interimistischen Leitung um eine ordentliche handeln sollte, kann das Konsultorenkollegium bzw. Domkapitel „jedoch nicht im Sinne von c. 134 (‚etsi ad interim tantum‘) als Ordinarius bezeichnet werden“28, sondern nur als Träger ortsoberhirtlicher Gewalt.29 3. Die Leitung der Diözese durch den Diözesanadministrator30 a) Die Bestellung des Diözesanadministrators Die wohl wichtigste Aufgabe des Konsultorenkollegiums während der Vakanz eines bischöflichen Stuhls ist die Wahl des Diözesanadministrators. Diese

27

Vgl. Bier, c. 426, Rdnr 4, in: MK CIC (Stand: Juli 1999); Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 361; Giangiacomo Sarzi Sartori, in: Codice di diritto canonico commentato. Testo ufficiale latino. Traduzione italiana. Fonti. Interpretazioni autentiche. Legislazione complementare della Conferenza episcopale italiana. Commento, a cura della Redazione di Quaderni di diritto ecclesiale, Mailand 2001, S. 390; Luigi Chiappetta, Il Codice di diritto canonico. Commento giuridico-pastorale I, Rom 1996, S. 548. 28

Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 413, Anm. 23.

29

Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 410, Anm. 11.

30

„Das Amt des Diözesanadministrators stellt eine Neuschöpfung der Regelungen der interimistischen Bistumsleitung durch die kirchliche Rechtsordnung dar, die nicht nur terminologisch verschieden ist von den entsprechenden Konzeptionen in der kirchlichen Rechtsgeschichte, letztlich derjenigen des CIC/1917.“ Roland Scheulen, Kanonistische Überlegungen zur Bestellung eines „Ständigen Vertreters“ durch den Diözesanadministrators auf der Grundlage des CIC/1983, in: AfkKR 162 (1993), S. 474 – 483, hier S. 475.

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hat nach den Bestimmungen der kanonischen Wahl, wie sie in den cc. 165 – 178 geregelt ist, in freier und geheimer Form zu erfolgen. Ausdrücklich wird hervorgehoben, dass nur einer zum Diözesanadministrator bestellt werden darf. Gegenteilige Gewohnheiten werden verworfen. Eine Nichtbeachtung dieser Vorschrift hat die Ungültigkeit der Wahl zur Folge (vgl. c. 423 § 1). Der Sinn dieser Bestimmung liegt wohl in der Gewährung der Einheit der Diözesanleitung in der außerordentlichen Situation der Vakanz.31 Dem Vorsitzenden des Konsultorenkollegiums – es handelt sich hierbei um das der Weihe nach älteste Mitglied des Kollegiums, wenn kein Auxiliarbischof die interimistische Leitung übernommen hat (vgl. c. 502 § 2) – kommt es zu, die Mitglieder des Kollegiums zur Wahl des Diözesanadministrators einzuberufen. Damit die Wahl gültig ist, dürfen zur Abstimmung nur die Mitglieder des Konsultorenkollegiums zugelassen werden (vgl. c. 169), also jene Priester, die vom früheren Diözesanbischof aus den Mitgliedern des Priesterrates für dieses Kollegium frei ernannt worden sind. Vor Beginn der Wahlhandlung sind wenigstens zwei Wahlprüfer zu bestellen. Diese haben die Wahlzettel einzusammeln und im Beisein des Vorsitzenden zu überprüfen, ob die Zahl der Stimmzettel mit der Zahl der Wähler übereinstimmt, die Stimmen zu prüfen und das Wahlergebnis dem Kollegium bekannt zu geben. Über alle Wahlhandlungen ist von einem Schriftführer eine genaue Niederschrift anzufertigen, die von dem Schriftführer, dem Vorsitzenden und den Wahlprüfern zu unterschreiben und im Archiv des Kollegiums aufzubewahren ist. Als gewählt gilt, wer die absolute Mehrheit auf sich vereinigen kann. Nach zwei erfolglosen Wahlgängen findet eine Stichwahl zwischen den Kandidaten statt, die den größeren Teil der Stimmen auf sich vereinigen konnten. Trifft dies auf mehrere zu, so findet die Stichwahl zwischen jenen Kandidaten statt, die dem Lebensalter nach die älteren sind. Sollte beim dritten Wahlgang Stimmengleichheit vorliegen, so gilt der als gewählt, der dem Lebensalter nach der Ältere ist. b) Kanonische (Gültigkeits-)Voraussetzungen Als kanonische Gültigkeitsvoraussetzungen für einen Diözesanadministrator werden vom Gesetz die Priesterweihe und die Vollendung des fünfunddreißigsten Lebensjahres verlangt. Auch darf er nicht bereits für den vakanten Bischofssitz gewählt, benannt oder präsentiert worden sein (c. 425 § 1). „So soll [einerseits] vermieden werden, daß ein vom Apostolischen Stuhl noch nicht

31

Vgl. Chiappetta, Il Codice di diritto canonico (Anm. 27), S. 550.

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gutgeheißener Anwärter auf den Bischofsstuhl schon bischöfliche Aufgaben wahrnimmt.“32 Anderseits schützt diese Bestimmung auch die Freiheit des Apostolischen Stuhls in der Bestätigung bzw. Einsetzung des Designierten.33 Da es sich bei den genannten Voraussetzungen um Gültigkeitsforderungen handelt, ist die Wahl bei Nichtbeachtung rechtsunwirksam und vom unrechtmäßig gewählten Diözesanadministrator bereits vorgenommene Amtshandlungen sind ungültig (c. 425 § 3).34 Da es Aufgabe des Metropoliten bzw. im Falle der Vakanz des Metropolitansitzes des ältesten Suffraganbischofs ist, die Unrechtmäßigkeit der Wahl festzustellen, wird dieser wohl vom Vorsitzenden des Konsultorenkollegiums über den Ausgang der Wahl zu informieren sein. Steht die Unrechtmäßigkeit der Wahl fest, geht das Recht der Bestellung in diesem Fall auf den Metropoliten bzw. den dienstältesten Suffraganbischof über (c. 425 § 3). Als weitere Eigenschaften für das Amt eines Diözesanadministrators hebt der Gesetzgeber Wissen und Klugheit hervor (c. 425 § 2). Aus dem Aufbau des c. 425 geht aber klar hervor, dass es sich hierbei nur um eine dringende Empfehlung handelt und nicht um eine Gültigkeitsbedingung.35 Sie wird darum auch deutlich in einem eigenen Paragraphen von den zuerst genannten Eigenschaften abgehoben. Wissen und Klugheit sind schließlich Eigenschaften, die nicht leicht justiziabel sind. Da der Kodex das passive Wahlrecht nicht auf inkardinierte Priester der vakanten Diözese einschränkt, ist theoretisch auch die Wahl eines Priesters aus einer anderen Diözese oder eines Ordensinstituts zum Diözesanadministrator möglich.36

32

Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 362.

33

Sarzi Sartori, in: Commento di diritto canonico commentato (Anm. 27), S. 392; Juan Ignacio Arrieta, in: Code of Canon Law Annotated. Latin-English edition of the Code of Canon Law and English-language translation of the 5th Spanish-language edition of the Commentary prepared under the responsibility of the Institute Martín de Azpilcueta, Montréal 1993, S. 326. 34

Dies gilt auch für jene Verwaltungsakte, die von Personen ausgeführt wurden, denen vom ungültig bestellten Diözesanadministrator ein Amt übertragen oder Vollmachten delegiert worden sind. Vgl. Renken, in: NCCCL, S. 554 f. 35 36

Vgl. Schwendenwein, Katholische Kirche (Anm. 4), S. 376.

Vgl. Georg Bier, Art. Diözesanadministrator, in: LKStKR I, 2000, S. 443 f., hier S. 433.

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c) Amtsübernahme Konnte ein Kandidat für das Diözesanadministratorenamt ermittelt werden, so hat der Vorsitzende des Konsultorenkollegiums den Gewählten davon unverzüglich in Kenntnis zu setzen. Diesem wird eine Nutzfrist von acht Tagen eingeräumt, innerhalb welcher er sich dem Vorsitzenden über die Annahme der Wahl zu erklären hat. Nimmt der Gewählte die Wahl an, so erhält er mit der Annahme sofort das Amt des Diözesanadministrators mit vollem Recht (c. 427 § 2). Um sein Amt antreten zu können, bedarf er somit keiner Bestätigung oder Beauftragung durch eine übergeordnete Autorität. Allerdings hat der Diözesanadministrator den Apostolischen Stuhl unverzüglich über seine Wahl in Kenntnis zu setzen (c. 422). Dies erfolgt über die Benachrichtigung des Apostolischen Nuntius bzw. des päpstlichen Legaten. Bei Amtsantritt muss der Diözesanadministrator vor dem Konsultorenkollegium das Glaubensbekenntnis nach der vom Apostolischen Stuhl gebilligten Formel ablegen (c. 833 n. 4). Diese Forderung betrifft aber nicht die Gültigkeit der Amtsübernahme. Diese ist bereits mit der Zustimmung des Gewählten gegeben.37 Sollte der Diözesanadministrator durch den Metropoliten bzw. dienstältesten Suffraganbischof ernannt worden sein, so empfiehlt Aymans die Vorweisung des Ernennungsschreibens vor dem Konsultorenkollegium bzw. Domkapitel.38 Hat der Diözesanadministrator in der Diözese das Amt des Ökonomen ausgeübt, so ist vom diözesanen Vermögensverwaltungsrat für die Amtszeit des Diözesanadministrators ein neuer Ökonom zu wählen (c. 423 § 2). Mit der Beendigung des Amtes als Diözesanadministrator endet die Tätigkeit des vorübergehend bestellten Ökonomen und der ursprüngliche Ökonom tritt wieder in seine Tätigkeit ein.39 Mitunter wird der bisherige Generalvikar zum Diözesanadministrator gewählt.40 Dies ist eine durchaus sinnvolle Entscheidung, da so eine kontinuierliche Leitung der Diözese ohne größere Brüche bis zur Neubesetzung allein schon wegen seines Informationsstandes am besten gesichert scheint.

37

Vgl. Arrieta, in: Code of Canon Law Annotated (Anm. 33), S. 326.

38

Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 362.

39

Vgl. Chiappetta, Il Codice di diritto canonico (Anm. 27), S. 550; Renken, in: NCCCL, S. 554. 40

So im Falle der letzten Vakanz des bischöflichen Stuhls der Diözese Innsbruck. Vgl. Diözese Innsbruck: Ernst Jäger ist Diözesanadministrator, in: kathpress Tagesdienst Nr. 15 vom 20. 01. 2003, 4 f.

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d) Rechte und Pflichten eines Diözesanadministrators Der Diözesanadministrator verfügt über die Rechte und Pflichten eines Diözesanbischofs und tritt in dessen Aufgaben ein, außer in jenen Dingen, die von der Natur der Sache oder vom Recht selbst ausgenommen sind (c. 427 § 1). Von der Natur der Sache ausgenommen sind z. B. alle jene Funktionen, die die Bischofsweihe voraussetzen (Spendung von Weihen), wenn der Diözesanadministrator kein Auxiliarbischof ist. Vom Recht ausgenommen sind: –

die Einberufung einer Diözesansynode (c. 462 § 1)



die Ernennung von Domkapitularen (c. 509 § 1)



die Ausstellung eines Weihentlassschreibens an einen Weiheanwärter, dem der frühere Diözesanbischof den Zutritt zur Weihe versagt hat (vgl. c. 1018 § 2)



die Übertragung einer Pfarre an ein klerikales Ordensinstitut oder eine klerikale Gesellschaft des apostolischen Lebens (vgl. c. 520 § 1)



die Amtsenthebung des Gerichtsvikars und des beigeordneten Gerichtsvikars (vgl. c. 1420 § 5)



die Errichtung eines diözesanen öffentlichen Vereins (vgl. c. 312 § 1). Vom Recht eingeschränkte Kompetenzen sind:



die Ernennungen von Pfarrern, die er erst nach einem Jahr nach Eintritt der Vakanz vornehmen darf (vgl. c. 525 n. 2)



Inkardinationen, Exkardinationen und Transmigrationen darf er nur nach Ablauf eines Jahres seit der Vakanz und mit Zustimmung des Konsultorenkollegiums bzw. Domkapitels vornehmen (vgl. c. 272)



die Amtsenthebung des Kanzlers und anderer Notare ist ebenfalls an die Zustimmung des Konsultorenkollegiums gebunden (vgl. c. 485) wie auch



die Ausstellung von Weiheentlassschreiben (vgl. c. 1018 § 2).

Die angeführten Beschränkungen der Vollmacht eines Diözesanadministrators haben ihren Grund darin, dass dem zukünftigen Diözesanbischof in seinen Entscheidungen nicht vorgegriffen werden soll. Sie liegen ganz auf der Linie der Generalnorm, dass zur Zeit der Vakanz nichts verändert werden darf. Der Diözesanadministrator besitzt jedoch ordentliche, eigenberechtigte und unmittelbare Vollmacht und ist für die Zeit der Vakanz Ortsordinarius.41 „Der 41

Vgl. Bier, Diözesanadministrator (Anm. 36), S. 433; Scheulen, Überlegungen (Anm. 30), S. 475; Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 410; 412, dies., KanR II, S. 362 f.; Hubert Socha, c. 131, Rdnr. 6, in: MK CIC (Stand: November 1986).

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Diözesanadministrator übt sein Amt nicht in fremden Namen, sei es eines Wahlgremiums, sei es etwa im Namen des Apostolischen Stuhls, aus, sondern in eigenem Namen.“42 Es ist davon auszugehen, dass die Vollmacht des Diözesanadministrators alle Bereiche der bischöflichen Vollmacht – Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung – umfasst.43 Da die Aufgabe des Diözesanadministrators hinsichtlich der vakanten Diözese eher eine bewahrende ist und keine großen Weichen für die Zukunft gestellt werden dürfen, wird sich allerdings seine gesetzgebende Kompetenz auf notwendige Regelungen für diese Übergangszeit beschränken müssen.44 Auch eine etwaige Amtsein- und -errichtung durch den Diözesanadministrator scheint nicht sinnvoll, wenn nicht sogar unmöglich, da ein wesentliches Kriterium des kirchlichen Amtes seine Dauerhaftigkeit, seine objektive Beständigkeit darstellt. Diese objektive Beständigkeit macht die Amtsein- und -errichtung zu einer Präjudizierung des zukünftigen Diözesanbischofs und zu einem nicht unbedeutenden Eingriff in die Verhältnisse der Diözese. Falls sich die Übertragung von Aufgaben des Diözesanadministrators – z. B. wegen der großen Zahl der Diözesanangehörigen oder der Größe der Diözese – als notwendig erweisen sollte, bietet sich dem Diözesanadministrator hier die Möglichkeit von Generalbevollmächtigungen auf dem Wege der Delegation für die Dauer der Vakanz an.45 Diese Notwendigkeit kann sich vor allem dann ergeben, wenn kein Auxiliarbischof oder kein Bischofsvikar, denen ihre ursprünglichen Vollmachten auf dem Wegen der Delegation per Gesetz erhalten geblieben sind, zur Unterstützung des Diözesanadministrators zur Verfügung stehen. Als eigens genannte Pflichten des Diözesanadministrators erwähnt der Kodex die Residenzpflicht und die Pflicht, an den Sonntagen und an den anderen in seiner Diözese gebotenen Feiertagen eine Messe für das ihm anvertraute Kirchenvolk zu feiern(c. 429). e) Der Amtsverlust eines Diözesanadministrators Von Rechts wegen erlischt das Amt des Diözesanadministrators mit der Besitzergreifung durch den neuen Diözesanbischof (vgl. c. 430 § 1).

42

Scheulen, Überlegungen (Anm. 30), S. 475.

43

Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 362 f.

44

Vgl. Bier, Diözesanadministrator (Anm. 36), S. 444; Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 363. 45

Zur Möglichkeit der Amtserrichtung durch den Diözesanadministrator siehe auch Scheulen, Überlegungen (Anm. 30), besonders S. 477 – 481.

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Der Diözesanadministrator kann jedoch auch vorzeitig von sich aus auf sein Amt verzichten. Diesen Verzicht hat er dem Konsultorenkollegium bzw. Domkapitel förmlich (schriftlich oder in Gegenwart von zwei Zeugen [vgl. c. 189 § 1]) zu erklären; mit dieser Erklärung wird der Verzicht rechtswirksam (vgl. c. 430 § 2). Es ist also kein bestätigungsbedürftiger Verzicht. Im Falle der Verleihung aufgrund von Devolution an den Metropoliten bzw. den dienstältesten Suffraganbischof, könnte sich Frage stellen, wer nun die zuständige Autorität für die Entgegennahme des Amtsverzichts sei. C. 189 § 1 schreibt für die Gültigkeit der Verzichtserklärung als Adressaten diejenige Autorität vor, der die Übertragung des Amtes zusteht. Im Devolutionsfall ist dieses Übertragungsrecht auf den Metropoliten bzw. dienstältesten Suffraganbischof übergegangen, und zwar im Sinne einer echten Devolution, also eines tatsächlichen Verlustes der Amtsverleihung.46 Müsste nicht in so einem Fall der Verzicht gegenüber dem Metropoliten bzw. dem dienstältesten Suffraganbischof erklärt werden? C. 430 § 2 als Spezialnorm für den Amtsverzicht des Diözesanadministrators nennt jedoch nur das zuständige Kollegium (Konsultorenkollegium bzw. Domkapitel), ohne auf den Devolutionsfall einzugehen. Es stehen sich generelle Bestellungszuständigkeit und spezielle/ausnahmsweise Bestellungszuständigkeit gegenüber. Wie lässt sich diese Spannung auflösen? Zur Interpretation von c. 430 § 2 lassen sich folgende Argumente heranziehen: So weist c. 155 darauf hin, dass eine stellvertretende Amtsverleihung für den Verleihenden keine Vollmacht gegenüber dem Beliehenen bewirkt. Vielmehr wird die Rechtsstellung des so Beliehenen derart bestimmt, als ob die Amtsübertragung auf dem ordentlichen Rechtsweg vorgenommen worden wäre. Damit verbleiben alle übrigen Zuständigkeiten bei der ursprünglich verleihungsberechtigten Autorität, im konkreten Fall beim Konsultorenkollegium bzw. beim Domkapitel. Weiters gilt c. 430 § 2 gegenüber c. 189 § 1 als Spezialnorm, die gegenüber der Generalnorm Vorrang hat.47 Es daher davon auszugehen, dass auch im Devolutionsfalle der Adressat für die Entgegennahme der Verzichtserklärung des Diözesanadministrators das Konsultorenkollegium bzw. das Domkapitel ist. 48 Eine Amtsenthebung, die vorgenommen wird, wenn die Amtsführung des Diözesanadministrators sich aus welchen Gründen auch immer für die Diözese

46

Vgl. May, Kirchenamt (Anm. 25), S. 179; Franz Kalde, Art. Devolution, in: LKStKR I, 2000, S. 410 f. 47

„Generi per speciem derogatur.“ Reg. iur. 34. in VI°.

48

Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 363.

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als nicht gedeihlich erweisen sollte, ist dem Apostolischen Stuhl vorbehalten (vgl. c. 430 § 2). Die allgemeinen Bestimmungen für die von Rechts wegen eintretende Amtsenthebung gemäß c. 194 gelten natürlich auch für einen Diözesanadministrator.49 Schließlich erlischt das Amt des Diözesanadministrators mit dem Tod desselben. Ist nach den drei zu letzt genannten Gründen des Amtsverlustes die Diözese noch immer vakant, so hat das Konsultorenkollegium bzw. Domkapitel erneut zur Wahl eines Diözesanadministrators zu schreiten (vgl. c. 430 § 2). II. Die Leitung einer Diözese während der Behinderung des Diözesanbischofs an der Ausübung seines Amtes 1. Tatsächliche Behinderung des Diözesanbischofs „Der bischöfliche Stuhl gilt als behindert, wenn der Diözesanbischof wegen Gefangenschaft, Ausweisung, Exil oder Unfähigkeit vollständig an der Wahrnehmung seines Hirtendienstes gehindert wird, so dass er nicht einmal in der Lage ist, schriftlich mit den Diözesanen in Verbindung zu treten.“50 Die Behinderung liegt somit einerseits in äußeren Umständen (Gefangenschaft, Ausweisung, Exil) und andererseits in persönlichen Gründen (Unfähigkeit aus physischen und/oder psychischen Umständen).51 Diese Form der Behinderung wird in der Kanonistik als tatsächliche Behinderung bezeichnet, die von einer rechtlichen Behinderung unterschieden wird, die dann eintritt, wenn dem Diözesanbischof die Ausübung seines Amtes wegen einer Kirchenstrafe untersagt ist.52 a) Feststellung der vollständigen Behinderung Der Kodex enthält keinen Hinweis, wer letztlich darüber entscheidet, ob die Situation einer vollständigen Behinderung eingetreten ist. Renken schlägt diesbezüglich eine Kontaktaufnahme mit dem Metropoliten bzw. mit dem dienstäl49

Vgl. Renken, in: NCCCL, S. 557, Anm. 260.

50

C. 412.

51

Vgl. Francesco D’Ostilio, Prontuario del Codice di diritto canonico. Tavole sinottiche. Presentazione del Card. Vincenzo Fagiolo, Presidente del Ponitficio Consiglio per l’interpretazione dei testi legislativi, Cittá del Vaticano, 1995, S. 220; Arrieta, in: Code of Canon Law Annotated (Anm. 33), S. 320; Luigi Sabbarese, La costituzione gerarchica della Chiesa universale e particolare. Commento al Codice di Diritto Canonico, libro II, parte II (= UUP Manuali 10), Città del Vaticano 1999, S. 97. 52

Vgl. Schmitz, Diözesanbischof (Anm. 2), S. 440 f.

614

Konrad Breitsching

testen Suffraganbischof vor, falls der Metropolitansitz betroffen sein sollte, sowie mit der Vertretung des Apostolischen Stuhls (Nuntius, päpstlicher Legat).53 Aus Gründen der Rechtssicherheit ist dies sicherlich zu unterstützen. Von Seiten der betroffenen Diözese könnte die Kontaktaufnahme durch einen etwa vorhanden Bischofskoadjutor, einen Auxiliarbischof, den Generalvikar oder durch einen Vertreter des Konsultorenkollegiums bzw. Domkapitels erfolgen. Das Recht lässt aber auch den Weg für eine Entscheidung in der betroffenen Diözese ohne Kontaktaufnahme zu übergeordneten Stellen offen. In diesem Falle wäre desgleichen eine Beratung unter den wichtigsten Verantwortungsträgern einer Diözese wie Bischofskoadjutor, Auxiliarbischof, Generalvikar, Bischofsvikare und dem Konsultorenkollegium bzw. Domkapitel sinnvoll. In der Kodexreformkommission wurde dieses Problem ebenfalls angesprochen und auf die gerade erwähnten Amtsträger als Entscheidungsbefugte verwiesen.54 Auf welche Variante zurückgegriffen wird, hängt nicht zuletzt auch davon ab, was in der konkreten Situation aufgrund der Umstände machbar ist. Als Entscheidungskriterium dient, wie vorhin bereits erwähnt, die Unmöglichkeit des schriftlichen Kontakts des behinderten Bischofs mit seiner Diözese.55 Als Präzisierung dieser Unmöglichkeit schlägt Georg Bier folgende Formulierung vor: „Eine Behinderung liegt vor, wenn rechtserhebliche Entscheidungen des Diözesanbischofs gefordert sind, aber innerhalb eines absehbaren und im Blick auf die anstehenden Entscheidungen auch zumutbaren Zeitraums nicht eingeholt werden können.“56 Solange solche Entscheidungen wenigstens durch brieflichen Kontakt herbeigeführt werden können, darf ein Diözesanbischof hinsichtlicht seiner Leitungsfähigkeit nicht als vollständig behindert im Sinne des c. 412 erklärt werden. Dabei ist nicht gemeint, dass der Diözesanbischof jede anstehende Entscheidung selbst brieflich entscheiden können muss. Die Briefform versetzt ihn ja in die Lage, z. B. Aufgaben, die das Recht ausdrücklich dem Diözesanbischof zuweist, per Spezialmandat an den Generalvikar oder einen Bischofsvikar zu übertragen (vgl. c. 134 § 3). Aber auch auf

53

Renken, in: NCCCL, S. 547.

54

Vgl. Communicationes 14 (1982), S. 220.

55

„Eine Behinderung des bischöflichen Stuhls liegt vor, wenn der Kontakt zwischen Bischof und den Angehörigen seiner Diözese vollständig unterbrochen ist. Der nicht mehr mögliche Schriftverkehr ist das entscheidende Kriterium für die vollständige Unfähigkeit zur Wahrnehmung der Dienstes als Diözesanbischof.“ Georg Bier, c. 412, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: Juli 1999). 56

Bier, c. 412, Rdnr. 4 (Anm. 55).

Die interimistische Leitung einer Diözese

615

andere Amtsträger der Diözese lassen sich so Aufgaben des Diözesanbischofs auf dem Wege der Delegation sogar ad universitatem causarum übertragen.57 Da der bischöfliche Stuhl im Falle der vollständigen Behinderung nicht vakant ist, bleiben Generalvikar, etwaige Bischofsvikare, Priesterrat und Pastoralrat im Amt. b) Ermittlung des interimistischen Leiters Steht die Behinderung fest, geht die Leitung der Diözese, falls der Apostolische Stuhl nichts anderes vorgesehen hat, auf den Bischofskoadjutor über, vorausgesetzt ein solcher ist in der Diözese vorhanden und ist selbst nicht in gleicher Weise wie der Diözesanbischof an der Übernahme der interimistischen Leitung gehindert (vgl. c. 413 § 1). Dem Bischofskoadjutor, der ex officio die interimistische Leitung übernimmt,58 sind der Auxiliarbischof, der Generalvikar, der Bischofsvikar oder ein anderer Priester gemäß der festgelegten Reihenfolge der Liste, die jeder Diözesanbischof ehest möglich nach der Übernahme seines Amtes aufzustellen hat, nachgereiht (vgl. c. 413 § 1).59 Diese Liste muss 57 Vgl. Arrieta, in: Code of Canon Law Annotated (Anm. 32), S. 320. Während der Kodexreform wurde von einem Konsultor vorgeschlagen, die Passage mit der Möglichkeit des Briefkontaktes zu streichen. Dagegen wurde jedoch eingewandt, dass gewiss niemand nur über Briefkontakt seine Leitung wahrnehmen könne, aber dies die Möglichkeit der Delegation von Aufgaben eröffne. Vgl. Communicationes 24 (1992), S. 130. Siehe weiters Sabbarese, Costituzione gerarchica (Anm. 51), S. 97. 58

Gemäß c. 405 § 2 würde sich auf den ersten Blick auch der mit besonderen Vollmachten ausgestattete Auxiliarbischof als ex officio Vertreter des behinderten bischöflichen Stuhls anbieten. Es heißt nämlich dort, der Bischofskoadjutor und der mit besonderen Vollmachten ausgestattete Auxiliarbischof vertreten den Diözesanbischof im Falle der Abwesenheit oder bei Verhinderung. Hier wird wohl zu Recht nur an eine vorübergehende und absehbare Verhinderung, z. B. wegen Krankheit, zu denken sein, „die ihn zwar an der Wahrnehmung konkreter Einzelaufgaben, nicht aber an der Wahrnehmung seines Hirtendienstes hindern“. Georg Bier, c. 412, Rdnr. 3, in: MK CIC (Stand: Juli 1999). Dies lässt sich auch daraus ableiten, dass die Verhinderung in c. 405 § 2 mit der vorübergehenden Abwesenheit des Diözesanbischofs auf eine Ebene gestellt wird. Vgl. ebd. 59

Arietta, in: Code of Canon Law Annotated (Anm. 33), S. 321, sieht scheinbar in der Aufzählung Bischofskoadjutor, Auxiliarbischof, Generalvikar und Bischofsvikar eine taxative absteigende Reihung der Personen, die von Rechts wegen ex officio die interimistische Leitung im Falle der Behinderung des Diözesanbischofs zu übernehmen haben. Davon hebt er die Kandidaten der vom Diözesanbischof zu erstellenden gereihten Liste von Priestern ab, auf die erst dann zurückgegriffen werden darf, wenn die zuvor genannten Amtsträger nicht vorhanden bzw. selbst behindert sind. Er beruft sich dabei auf die Kodexreformkommissionsakten in: Communicationes 5 (1973), S. 233 f.

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Konrad Breitsching

mindestens alle drei Jahre erneuert werden und ist vom Kanzler der Diözese geheim aufzubewahren. Darüber hinaus muss diese Liste dem Metropoliten zur Kenntnis gebracht werden (vgl. c. 413 § 1).60 Für den Metropolitansitz empfiehlt sich, ohne dass dies das Recht vorschreibt, die Liste auch dem dienstältesten Suffraganbischof oder einem anderen Suffraganbischof zu übermitteln.61 Kann die interimistische Leitung der Diözese nicht von einem etwa vorhandenen Bischofskoadjutor übernommen werden und sollte auch keine Liste mit für die interimistische Leitung vorgesehenen Priestern vorhanden oder die Liste ungenügend sein, so hat das Konsultorenkollegium einen Priester zu wählen, der die Leitung für die Dauer der Behinderung des bischöflichen Stuhls übernimmt (vgl. c. 413 § 2). Eine Bestätigung der Wahl ist nicht vorgesehen, so

Auch Sabbarese, Costituzione gerarchica (Anm. 51), S. 98, spricht von einer Mehrzahl von ex officio Vertretern. Renken, in: NCCCL, S. 548, hingegen sieht in der weiteren Aufzählung nach dem Bischofskoadjutor nur den Vorschlag von Möglichkeiten für die zu erstellende Liste, wobei die Reihung dem Diözesanbischof überlassen bleibt. Ein Blick in die von Arrieta zitierten Kommissionsunterlagen zeigt, dass die Interpretation von Renken die zutreffende ist. Dort heißt es nämlich. „Tandem, si deficiat aut impediatur Episcopus coadiutor, et elenchus, de quo supra, non suppetat, Collegii consultorum est sacerdotem eligere, qui dioecesim regat.“ Communicationes 5 (1973), S. 234. Daraus ist zu entnehmen, dass auch der Auxiliarbischof, der Generalvikar und Bischofsvikar zum „elenchus“ gehören, da sie nicht mehr eigens hervorgehoben werden, und daher keine ex officio Vertreter des vollständig behinderten Diözesanbischofs sind. Siehe dazu auch Aymans, der General- und Bischofsvikar zu dem Kreis jener Priester zählt, „die der Diözesanbischof für den Fall der Behinderung des bischöflichen Stuhles für seine Vertretung vorsehen kann“. Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 377; weiters Schwendenwein, Katholische Kirche (Anm. 4), S. 379; Georg Bier, c. 413, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: Juli 1999). 60 Für Georg Bier ist es unklar, warum die Liste auch dem Metropoliten übermittelt werden soll. Er vermutet einen Tribut an die Aufsichtsfunktion des Metropoliten gegenüber seinen Suffraganbischöfen. Vielleicht sollte so sichergestellt werden, dass die Listen auch tatsächlich erstellt werden. Vgl. Georg Bier, c. 413, Rdnr. 4, in: MK CIC (Stand: Juli 1999). Diese Aufsichtfunktion zusammen mit der Sicherstellung der Verfassung der Listen ist sehr wahrscheinlich mit dieser Bestimmung angezielt. Doch dürfte ferner mit der Möglichkeit gerechnet worden sein, dass es Situationen gegeben kann (z. B. im Zusammenhang mit politischen Unruhen), wo die Liste des Diözesanbischofs (etwa wegen Beschlagnahmung der diözesanen Dokumente) nicht zugänglich oder sogar verloren gegangen ist. 61

Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 357; Renken, in: NCCCL, S. 548. Renken sieht im Fehlen einer solchen Vorschrift eine Rechtslücke, ebd. Anm. 222.

Die interimistische Leitung einer Diözese

617

dass mit der Annahme der Wahl die interimistische Leitung der Diözese auf den Gewählten übergeht.62 c) Rechtliche Stellung und Aufgaben des interimistischen Leiters Wer auch immer die vorübergehende Leitung der Diözese übernimmt, „hat so bald wie möglich den Heiligen Stuhl über die Behinderung des bischöflichen Stuhls und die Übernahme der interimistischen Leitung in Kenntnis zu setzen“63. Der interimistische Leiter einer Diözese hat die Pflichten und Vollmachten, die dem Diözesanadministrator von Rechts wegen zukommen (vgl. c. 414). Er verfügt also über dieselben Verpflichtungen und Vollmachten eines Diözesanbischofs außer jenen, die von der Natur der Sache oder vom Recht ausgenommen sind (vgl. c. 427 § 1).64 Ebenso gilt für den Fall der Behinderung, dass die wesentliche Aufgabe der interimistischen Leitung die Aufrechterhaltung des Status quo der Diözese ist mit all den für den Diözesanadministrator im Fall der Vakanz geltenden Auflagen. Der interimistische Leiter der Diözese wegen vollständiger Behinderung des Diözesanbischofs führt aber nicht den Titel eines Diözesanadministrators. Dieser Titel ist dem interimistischen Leiter wegen Vakanz des bischöflichen Stuhles vorbehalten.65 Auch liegt im Falle der Behinderung keine Vakanz vor, sodass der Diözesanbischof nur vertreten und nicht ersetzt wird.66 Hinsichtlich der Frage, ob es sich bei dem interimistischen Leiter wegen vollständiger Behinderung des Diözesanbischofs um ein Amt handelt, gehen die Meinungen auseinander. So sieht Winfried Aymans die Vollmacht des interimistischen Leiters als eine ordentliche stellvertretende Gewalt an.67 Nach Georg Bier hingegen hat der interimistische Leiter seine Vollmacht nicht aufgrund eines Amtes, sondern aufgrund gesetzlicher Delegation.68 Hier können aber die gleichen Argumente für die Leitung als Amt vorgebracht werden, wie in der Frage der interimistischen Leitung der vakanten Diözese durch einen Auxiliarbischof.69 Da der Zustand der vollständigen Be-

62

Vgl. Renken, in: NCCCL, S. 548.

63

C. 413 § 3 CIC 1983.

64

Vgl. D’Ostilio, Prontuario (Anm. 51), S. 220.

65

Vgl. Arrieta, in: Code of Canon Law Annotated (Anm. 33), S. 321 f.

66

Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 358.

67

Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 358.

68

Vgl. Georg Bier, c. 414, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: Juli 1999).

69

Vgl. oben I. 2. a).

618

Konrad Breitsching

hinderung länger andauern kann als eine Vakanz, ist der Amtscharakter auch angemessener. Sollte während der Zeit der Behinderung ein Bischofskoadjutor oder ein Auxiliarbischof ernannt werden oder die Besitzergreifung dieser Ämter erst nach Eintritt der Behinderung von statten gehen, so erfolgt die Besitzergreifung durch die Vorweisung des jeweiligen Ernennungsschreiben vor dem Konsultorenkollegium in Gegenwart des Kanzlers der Kurie (vgl. c. 404 § 3). Der interimistische Leiter ist also in diesen Vorgang nicht eingebunden. d) Die Beendigung der interimistischen Leitung Über die Beendigung der interimistischen Leitung wegen Behinderung des Diözesanbischofs macht der Kodex keine Aussagen. Von der Natur der Sache her endet die interimistische Leitung der Diözese jedenfalls mit dem Zeitpunkt, wo der Diözesanbischof wieder in der Lage ist, wenigstens schriftlich mit seiner Diözese zu verkehren. Darüber hinaus kann der interimistische Leiter vom Apostolischen Stuhl abberufen werden. Ebenso ist dem interimistischen Leiter wohl auch die Möglichkeit einzuräumen, von seiner Aufgabe zurückzutreten. Mangels einer konkreten Regelung eines Rücktritts, wird dieser wie beim Diözesanadministrator dem Konsultorenkollegium gegenüber zu erklären sein. In diesem Fall ist wieder gemäß den Bestimmungen des c. 413 ein neuer Leiter zu bestellen.70 Ähnliches gilt für den Todesfall des interimistischen Leiters. 2. Rechtliche Behinderung des Diözesanbischofs Ist ein Diözesanbischof aufgrund einer Kirchenstrafe an der Ausübung seines Amtes gehindert, so muss der Metropolit oder, falls es sich um diesen selbst handelt oder ein solcher nicht vorhanden ist, der dienstälteste Suffraganbischof unverzüglich den Apostolischen Stuhl über diese Situation informieren, damit dieser selbst Vorkehrungen für die interimistische Leitung der betroffenen Diözese treffen kann (vgl. c. 415). Der Vorbehalt für den Apostolischen Stuhl liegt hier wohl in der heiklen Situation begründet.71 Kirchenstrafen setzen ein schwerwiegendes Vergehen voraus, das die Reputation des Bischofs schwer in Mitleidenschaft ziehen kann. In einem solchen Fall müssen sicher Überlegungen angestellt werden, ob der betroffene Diözesanbischof weiter mit seinem Amt, auch nach der Behebung der Kirchenstrafe, betraut werden kann.72 Hier 70

Renken, in: NCCCL, S. 548.

71

Vgl. Chiappetta, Il Codice di diritto canonico (Anm. 27), S. 544.

72

Vgl. Georg Bier, c. 415, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: Juli 1999).

Die interimistische Leitung einer Diözese

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muss der Apostolische Stuhl schnell reagieren können, weshalb der Gesetzgeber die Klärung dieser Form der Behinderung sozusagen zur Chefsache erklärt hat. Faktisch kann es sich bei den Strafen nur um Tatstrafen handeln, deren herbeiführendes Vergehen an die Öffentlichkeit gelangt ist (z. B. heimliche Weihe eines Bischofs ohne päpstliche Erlaubnis), wenn die Informationspflicht des Metropoliten einen Sinn haben soll.73 Man geht davon weiters aus, dass von dieser Behinderung auch jene mitbetroffen sind, die in stellvertretender Weise jurisdiktionelle Vollmachten des Diözesanbischofs ausüben, also insbesondere Generalvikar (als „alter ego“ des Diözesanbischofs) und Bischofsvikar.74 III. Die Leitung einer Diözese bei Vakanz oder Behinderung durch einen Apostolischen Administrator Die bisher vorgestellten Formen einer interimistischen Leitung bei Vakanz oder Behinderung eines bischöflichen Stuhls sind die von Rechts wegen eintretenden. Der Apostolische Stuhl kann aber auch etwas anderes vorsehen. So hat er in der Vergangenheit in solchen Fällen immer wieder die Leitung einem Apostolischen Administrator anvertraut.75 Vielfach hat er mit der Annahme des Rücktrittsgesuches eines Diözesanbischofs diesen gleichzeitig zum Apostolischen Administrator ernannt. Diese Vorgangsweise wählte der Apostolische Stuhl etwa bei der Nachfolge von Bischof Stecher in Innsbruck sowie bei der Nachfolge von Erzbischof Eder in Salzburg. Der Apostolische Stuhl greift hier offenbar auf eine Rechtsfigur zurück, die im CIC 1917 in den cc. 312 – 318 geregelt war. Der derzeitig geltende Kodex enthält diese Rechtsfigur nicht mehr. Er lässt dem Apostolischen Stuhl jedoch ganz allgemein eine andere Vorgehensweise als die vom Recht vorgesehene Leitung durch einen Diözesanadministrator offen (vgl. cc. 413 § 1 u. 419).

73

Spruchstrafen setzen ja zunächst eine Klärung des Straftatbestandes voraus. Dementsprechende Verfahren sind jedoch bei Bischöfen dem Papst vorbehalten. Vgl. c. 1405 § 1 n. 3. So ist der Apostolische Stuhl jedenfalls schon vor Eintritt der Strafe über den Sachverhalt informiert. Näheres dazu bei Georg Bier, c. 415, Rdnr. 3, in: MK CIC (Stand: Juli 1999). 74 75

Vgl. Arrieta, in: Code of Canon Law Annotated (Anm. 33), S. 322.

Beispiele für den Einsatz eines Apostolischen Administrators bei Behinderung des bischöflichen Stuhls siehe bei Georg May, Bemerkungen zu den Apostolischen Administratoren und Administrationen, in: Ders. Schriften zum Kirchenrecht. Hrsg. v. Anna Egler / Wilhelm Rees (= KStuT 47), Berlin 2003, S. 259 – 274, hier S. 260 – 263.

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Die Vollmachten, Rechte und Pflichten eines Apostolischen Administrators sind dem Ernennungsschreiben zu entnehmen und werden normalerweise dem Umfang der Kompetenzen eines Diözesanadministrators entsprechen. Der Apostolische Administrator verfügt als vom Papst entsandter Stellvertreter über ordentliche stellvertretende Vollmacht.76 Das Konsultorenkollegium übernimmt aber im Falle der Vakanz die Aufgaben des Priesterrates und unterstützt den Apostolischen Administrator, der für die Zeit seiner Amtsausübung Vorsitzender dieses Kollegiums ist (vgl. c. 502 § 2), bei der Leitung der Diözese. IV. Abschließende Bemerkungen Die Kirche besteht, wie das Zweite Vatikanische Konzil hervorgehoben hat, in und aus den Teilkirchen. Den Teilkirchen kommt daher in der kirchlichen Verfassungsstruktur eine wesentliche Bedeutung zu, eine Bedeutung, die auch das Gewicht der teilkirchlichen Leitung für das Leben der Kirche unterstreicht. Darum muss auch das Recht der Kirche für die reibungslose Fortführung der Leitung einer Diözese in Zeiten der Vakanz oder der Behinderung des bischöflichen Stuhls Vorsorge treffen, und zwar in der Art, dass die Leitung auch dann gesichert ist, wenn der Apostolische Stuhl nicht sofort aktiv werden kann. Dies geschieht durch eine Reihe von Rechts wegen eintretender Maßnahmen, die unmittelbar mit Eintreten der Vakanz greifen und nahtlos in eine interimistische Leitung überführen, ohne dass irgendeine übergeordnete Autorität dazwischentreten müsste. Solchermaßen wird die unentbehrliche Hirtensorge für das Leben der Teilkirche in optimaler Weise sichergestellt.

76

„Das Wort ‚apostolisch‘ deutet an, dass der Apostolische Administrator sein Amt vom Papst empfängt und im Namen des Papstes ausübt.“ May, Bemerkungen (Anm. 75), S. 259. Vgl. auch Klaus Mörsdorf, Lb I, S. 400.

Die Würzburger Synode – ein Maßstab für synodale Prozesse? Von Heribert Hallermann I. Einleitung Anlässlich des 30. Jahrestages der Beendigung der Gemeinsamen Synode1 der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland – wegen ihres Tagungsortes kurz auch als „Würzburger Synode“ bezeichnet – wurde vielfach auf die Einzigartigkeit dieser Synode hingewiesen: Nach einem „bis heute einmalige[n] Verfahren“, so betont der Journalist Christoph Renzikowski in der KNA, berieten erstmals „alle deutschen Bistümer gemeinsam über ihre Zukunft, besaßen Laien nicht nur Rede-, sondern auch Stimmrecht. Wenn Bischöfe eine Abstimmung verhindern wollten, mussten sie vorher ein Veto einlegen.“2 Offensichtlich derselbe Autor schreibt in der KNA zum „Stichwort: Würzburger Synode“: „Entgegen dem geltenden Kirchenrecht hatte der Papst die Beteiligung der Laien an verbindlichen Beschlüssen gestattet. Einziges Privileg der Bischöfe war, dass sie vor den Abstimmungen ein Veto einlegen konnten.“3 Bei einer Festveranstaltung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken anlässlich der Beendigung der Würzburger Synode vor 30 Jahren zeigte sich der Vorsit1

Die Gemeinsame Synode der Bistümer ging am 3. November 1975 gemäß Art. 10 des Statuts zu Ende. Vgl. Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Offizielle Gesamtausgabe, Bd. I: Beschlüsse der Vollversammlung, Freiburg / Basel / Wien 1976 (GSyn I), Zeittafel, 854. – Der Jahrestag wurde am 21. November 2005 mit einem festlichen Gottesdienst im Würzburger Dom und einem anschließenden Festvortrag von Kardinal Lehmann in der Würzburger Neubaukirche, zu dem die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Würzburg gemeinsam mit dem Bistum Würzburg eingeladen hatte, in Anwesenheit fast aller deutschen Ortsbischöfe begangen. Vgl. KNA-Basisdienst, Dokument 603051 vom 21.11.2005. 2

Christoph Renzikowski, Die Würzburger Synode ist in die Jahre gekommen. Jubiläum mit Fragezeichen, in: KNA-Basisdienst, Dokument 602907 vom 20.11.2005; gleichlautend in KNA-Bayern, Dokument 602898 vom 20.11.2005. 3

(ren), Stichwort: Würzburger Synode, in: KNA-Bayern, Dokument 602896 vom 20.11.2005.

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zende der DBK, Karl Kardinal Lehmann, „aufgeschlossen für eine neue Synode der Bistümer in Deutschland“ und befürwortete, „dass wie in Würzburg allen Teilnehmern – den Bischöfen wie den Laien – ein Stimmrecht zukommt.“4 Und der Pastoraltheologe Hanspeter Heinz will als den bedeutendsten Ertrag von Würzburg festhalten: „Das Statut schuf eine rechtliche Grundlage nach Maßgabe des Konzils, das weit über den CIC/1917 und auch über den CIC/1983 hinausgeht: Beschlusskompetenz der Vollversammlung, Repräsentanz und Wahl der Versammlung, Beteiligung an Bestimmung von Ziel, Themen und Rechtsordnung der Synode und vor allem Integration von Bischofskonferenz und Synode. Dieses Statut setzt Maßstäbe für künftige synodale Prozesse, …“.5 Worin besteht nun die behauptete Einzigartigkeit und Maßstäblichkeit der Würzburger Synode? Sicher nicht in der Tatsache, dass diese Synode nach Art eines Nationalkonzils überhaupt stattgefunden hat, denn Synoden in ganz unterschiedlichen Formen und Zusammensetzungen sind ein relativ häufig zu beobachtendes Phänomen in der Kirchen- und Rechtsgeschichte.6 Dabei werden im Rechtskreis der lateinischen Kirche jedoch die Begriffe „Synode“ und „Konzil“ weitgehend synonym verwendet.7 Im klassischen Sinn dienten Synoden der Gesetzgebung sowie der Anwendung und Adaption höherrangigen Rechts; sie setzten sich auf Diözesanebene ausschließlich aus Klerikern und, sofern es sich um überdiözesane Synoden handelte, aus Bischöfen als stimmbe4

(amo/cst), Lehmann kann sich neue Synode vorstellen, in: KNA-Basisdienst, Dokument 602882 vom 19.11.2005. – Nach dem Bericht von Markus Reder in der Deutschen Tagespost vom 26.11.2005 (Online-Version) „Nicht weinen, weitermachen“, äußerte sich Kardinal Lehmann bei der Würzburger Festveranstaltung zur Idee einer neuen Gemeinsamen Synode lediglich im Sinne eines „differenzierten Ja“. 5

Hanspeter Heinz, Wegweisung in die Zukunft. Die bleibende Aktualität der Würzburger Synode, in: HerKorr 59 (2005), S. 604 – 608, hier S. 608. 6

Vgl. etwa Jean Gaudemet, Storia del diritto canonico. Ecclesia et Civitas, Cinisello Balsamo 1998, S. 55 ff.; 136 ff.; 206 ff.; 438 ff.; Rüdiger Althaus, Die Rezeption des Codex Iuris Canonici von 1983 in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Voten der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn u. a. 2000, S. 118 f. – Auch einschlägige Sammlungen wie etwa G. D. Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, 53 Bd., Florenz / Venedig 1759 – 1827; Neudruck und Fortsetzung. Hrsg. v. L. Petit / J. B. Martin, 60 Bd., Paris 1899 – 1927 bestätigen auf ihre Weise die Häufigkeit von Synoden in der Geschichte der Kirche. Vgl. auch GSyn I, S. 23 f. 7 Vgl. Hermann Josef Sieben u. a., Art. Synode, Synoden, Synodalität, in: LThK3 9, 2000, Sp. 1186 – 1194 sowie Norbert Witsch, Art. Synode, II. Kath., in: LKStKR 3, 2004, S. 647 – 648, hier S. 647. Vgl. auch Gaudemet, Storia del diritto canonico (Anm. 6), S. 139 mit Anm. 13. – K. Lehmann weist in GSyn I, S. 24 besonders darauf hin, dass beide Begriffe eine Bischofsversammlung bezeichnen.

Die Würzburger Synode – ein Maßstab für synodale Prozesse?

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rechtigte Mitglieder zusammen und fanden in der Regel nicht periodisch, sondern je nach Bedarf statt.8 Seit dem 11. Jahrhundert fanden in ganz Europa zahllose Diözesansynoden statt, deren Gesetzgebung in Form von Synodalstatuten veröffentlicht wurde.9 Das Decretum Gratiani (D. 18, c. 16) schrieb dem Diözesanbischof vor, jedes Jahr eine Diözesansynode abzuhalten. Das IV. Laterankonzil (1215) ordnete an, dass der Metropolit jedes Jahr mit seinen Suffraganen zu einem Provinzialkonzil zusammenkommen sollte, und was dort zur Überwindung der Missstände und zur Reform der Sitten vor allem des Klerus beschlossen wurde, das sollte auf den jährlich stattfindenden Diözesansynoden veröffentlicht werden, damit es so tatsächlich beachtet würde.10 Das Konzil von Basel beschloss bei seiner 15. Sitzung am 26. November 1433, dass mindestens einmal im Jahr in jeder Diözese eine Diözesansynode und in den einzelnen Kirchenprovinzen wenigstens alle drei Jahre ein Provinzialkonzil stattfinden sollte.11 Das Konzil von Trient hat die Provinzialkonzilien als Instrumente der Kirchenreform wieder neu eingerichtet und angeordnet, dass sie wenigstens alle drei Jahre stattfinden sollten; Diözesansynoden hingegen sollten jährlich stattfinden.12 Der Kirchenrechtler Philipp Hergenröther kommt in seinem diesbezüglichen rechtsgeschichtlichen Überblick zu dem Ergebnis: „Verfall des synodalen Lebens war stets ein Zeichen des Niedergangs der kirchlichen Disziplin, wie umgekehrt dessen Blüte ein Zeichen kirchlichen Fortschritts.“13 Wenn aber die behauptete Einzigartigkeit der Würzburger Synode nicht darin bestehen kann, dass sie als Versammlung aller deutscher Teilkirchen überhaupt stattgefunden hat,14 und auch nicht darin, dass das Statut der Synode über die Grenzen des bis dahin wenigstens in weiten Teilen geltenden CIC/1917 8

Vgl. etwa Gaudemet, Storia del diritto canonico (Anm. 6), S. 137 f.; 206 ff.

9

Vgl. ebd., S. 439 mit Anm. 28 und 29. Vgl. auch GSyn I, S. 25.

10

Vgl. Concilium Lateranense IV, c. 6. De conciliis provincialibus, in: Josef Wohlmuth, Dekrete der Ökumenischen Konzilien, Bd. II, Paderborn u. a. 2000, S. 236 f. 11

Vgl. Concilium Basileense, Sessio XV., in: Wohlmuth, Ökumenische Konzilien II (Anm. 10), S. 473 f. 12

Vgl. Concilium Tridentinum, Sessio XXIV, c. 2 de ref., in: Wohlmuth, Ökumenische Konzilien III (Anm. 10), S. 761. 13 Philipp Hergenröther, Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts, 2. neu bearbeitete Auflage von Joseph Hollweck, Freiburg 1905, S. 342, Rn. 446. 14

Hergenröther, Lehrbuch (Anm. 13), S. 349 mit Anm. 1 nennt als Beispiele für Nationalkonzilien die Konzilien von Baltimore (1852, 1866, 1884) und das Nationalkonzil der südamerikanischen Bischöfe in Rom (1899). Stephanus Sipos, Enchiridion Iuris Canonici, Pécs 1926, S. 212 f. erwähnt in seinem kurzen rechtsgeschichtlichen Rückblick eine Reihe von National- oder Plenarkonzilien, die seit dem 3. und 4. Jahrhundert und vor allem im Mittelalter als Reformkonzilien stattgefunden haben.

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Heribert Hallermann

hinausging,15 dann muss sie wohl darin bestehen, dass Laien eine Beteiligung an verbindlichen Beschlüssen der Synode gestattet war16 und dass es von daher „ein integriertes Zusammenwirken der Bischofskonferenz und eine Beschlusskompetenz der Synodenversammlung“17 und somit „einen Ausgleich zwischen dem hierarchischen und dem synodalen Prinzip in der Kirche“18 gab. Damit sei die Würzburger Synode weit über den CIC/1917 und auch über den CIC/1983 hinausgegangen.19 Dieser These von der Einzigartigkeit und der Maßstäblichkeit der Würzburger Synode soll im Folgenden nachgegangen werden, indem sowohl die einschlägigen Normen des CIC/1917, das Statut der Gemeinsamen Synode wie auch die relevanten Rechtsnormen des CIC/1983 dargestellt und einer kritischen Analyse unterzogen werden. II. Die Plenarkonzilien in der Gesetzgebung des CIC/1917 Die Termini „Synode“ und „Konzil“ bezeichnen „im allgemeinen eine Versammlung kirchlicher Personen zur Beratung und Entscheidung geistlicher Angelegenheiten.“20 Die Kirchenrechtslehre verwendet den Begriff „Synode“ vor allem für die Diözesansynode, für die Versammlung mehrer Bischöfe hingegen verwendet sie bevorzugt den Begriff „Konzil“.21 Je nach dem Kreis der 15

Dass das im CIC/1917 kodifizierte Kirchenrecht durch das Konzil teilweise außer Kraft gesetzt bzw. im Sinne einer Reform überwunden wurde, darf den theologisch und kirchenrechtlich Informierten nicht verwundern. Schließlich hatte P. Johannes XXIII. am 25.01.1959 nicht nur eine Römische Diözesansynode und das II. Vatikanische Konzil angekündigt, sondern auch das „aggiornamento“ des Codex Iuris Canonici, das mit dem Konzil Hand in Hand gehen sollte. Vgl. P. Johannes XXIII., Sollemnis allocutio, 25.01.1959, in: AAS 51 (1959), S. 65 – 69 sowie: CIC/1983 lateinisch-deutsch, hrsg. im Auftrag der DBK, Kevelaer 52001, Vorrede S. XXXI ff. – Zur Veränderung des bis dahin geltenden kirchlichen Rechts durch einige Konzilsbeschlüsse vgl. Josef Gehr, Die rechtliche Qualifikation der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils (= MThS.K 51), St. Ottilien 1997. 16

Vgl. (ren), Stichwort: Würzburger Synode, in: KNA-Bayern, Dokument 602896 vom 20.11.2005. Vgl. auch die Darstellung um das Ringen bezüglich des Teilnehmerkreises an der Gemeinsamen Synode: GSyn I, S. 27 f. 17

Heinz, Wegweisung in die Zukunft (Anm. 5), S. 605.

18

Ebd.

19

Vgl. Heinz, Wegweisung in die Zukunft (Anm. 5), S. 608.

20

Hergenröther, Lehrbuch (Anm. 13), S. 342, Rn. 447.

21

Vgl. Winfried Aymans, Synode 1972 – Strukturprobleme eines Regionalkonzils, in: AfkKR 138 (1969), S. 363 – 388, hier S. 366.

Die Würzburger Synode – ein Maßstab für synodale Prozesse?

625

Teilnehmer wird unterschieden zwischen den allgemeinen oder ökumenischen Konzilien, den Plenarkonzilien, die gegebenenfalls auch als Nationalkonzilien bezeichnet werden, den Provinzialkonzilien und den Diözesansynoden.22 Im Hinblick auf die Vergleichbarkeit mit der Gemeinsamen Synode als einer Versammlung aller Teilkirchen, die zum Gebiet ein und derselben Bischofskonferenz gehören, interessieren in diesem Zusammenhang vor allem die Normen über die National- oder Plenarkonzilien. Die Rechtsbestimmungen über die Plenarkonzilien sind mit denen über die Provinzialkonzilien in einem gemeinsamen Kapitel mit den cc. 281 – 292 CIC/1917 zusammengefasst. Der Begriff „Plenarkonzil“ bezeichnet gemäß c. 281 CIC/1917 die Zusammenkunft der Ordinarien mehrerer Kirchenprovinzen; damit ein solches Plenarkonzil stattfinden kann, bedarf es stets der ausdrücklichen Erlaubnis des Papstes. Dieser bezeichnet das Gebiet, aus dem die Ordinarien zum Konzil zusammenkommen, und er ernennt einen Legaten, der das Konzil in seinem Namen einberuft und ihm in der Autorität des Papstes vorsteht.23 Die Teilnehmer eines Plenarkonzils besitzen also kein Selbstversammlungsrecht.24 Ein Plenarkonzil kann als „Nationalkonzil“ bezeichnet werden, wenn „die Grenzen der Kirchenprovinzen, deren Ordinarien zusammenkommen, sich mit den Grenzen eines weltlichen Reiches decken.“25 Berechtigt und verpflichtet zur Teilnahme am Plenarkonzil sind von Rechts wegen gemäß c. 282 § 1 CIC/1917 neben dem Apostolischen Legaten die Metropoliten, die residierenden Bischöfe, die sich auch durch einen Koadjutor oder durch einen Weihbischof vertreten lassen können, die Apostolischen Administratoren von Diözesen, gefreite Äbte und Prälaten, Apostolische Vikare und Präfekten sowie Kapitelsvikare; sie alle besitzen beschließendes Stimmrecht. Je nach der vom Papst empfangenen Weisung kann der Legat zudem die im betreffenden Gebiet ansässigen Titularbischöfe zur Teilnahme am Plenarkonzil einladen; diese müssen einer solchen Einladung Folge leisten und besitzen ebenfalls beschließendes Stimmrecht, sofern in der Einladung nicht ausdrücklich etwas anderes verfügt wurde.26 Andere Kleriker, und zwar solche, die dem Diözesanklerus angehören wie auch Ordenskleriker, können gegebenenfalls auch zum Plenarkonzil eingeladen werden; sie besitzen dort aber nur beratende 22

Vgl. Hergenröther, Lehrbuch (Anm. 13), S. 342 f., Rn. 447.

23

Vgl. Sipos, Enchiridion (Anm. 14), S. 213; Heribert Jone, Gesetzbuch der lateinischen Kirche. Erklärung der Kanones, Bd. I, Paderborn 21950, S. 284; Eichmann, Lb I9, S. 390. 24

Vgl. Eichmann, Lb I9, S. 390; Sipos, Enchiridion (Anm. 14), S. 213.

25

Jone, Gesetzbuch I (Anm. 23), S. 284; vgl. auch Eichmann, Lb I9, S. 390.

26

Vgl. c. 282 § 2 CIC/1917.

626

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Stimme.27 Im Unterschied zu den mit beschließender Stimme teilnehmenden Ordinarien und anderen Bischöfen wird für die mit beratender Stimme teilnehmenden Kleriker vom allgemeinen Recht keine Anwesenheitspflicht festgelegt.28 Die Aufzählung der Teilnehmer am Plenarkonzil in c. 282 CIC/1917 ist als taxativ zu verstehen; von daher ist die Teilnahme von Laien ausgeschlossen. Im Unterschied zum Provinzialkonzil, das gemäß c. 283 CIC/1917 wenigstens alle zwanzig Jahre stattfinden muss, ist für das Plenarkonzil keine periodisch stattfindende Feier vorgesehen. Die Initiative für ein Plenarkonzil geht nach der Intention des Rechts zweifelsohne vom Papst aus;29 die Wendung „petita tamen venia a Romano Pontifice“ in c. 281 CIC/1917 lässt jedoch die Möglichkeit offen, dass die Initiative zur Einberufung eines Plenarkonzils auch von den interessierten Ordinarien ausgehen kann. In jedem Fall ist aber der Papst durch die von ihm gegebene Erlaubnis der Urheber und der Herr des Plenarkonzils; er genehmigt seine Durchführung, er beruft es ein und er leitet es durch den von ihm ernannten Legaten. Der Vorsitzende des Plenarkonzils, also der hierfür ernannte und im Namen des Papstes tätig werdende Apostolische Legat, legt die Geschäftsordnung des Plenarkonzils fest und entscheidet über dessen Eröffnung, Verlegung, Vertagung oder Schließung.30 Im Unterschied zum Vorsitzenden des Provinzialkonzils bedarf der Vorsitzende des Plenarkonzils hierfür nicht der Zustimmung der stimmberechtigten Teilnehmer, denn er handelt auch in dieser Hinsicht in der Autorität des Papstes.31 Der Gegenstand der Beratungen und Entscheidungen eines Plenarkonzils wird in c. 290 CIC/1917 nur in allgemeiner Form angegeben: Vertiefung der Glaubenslehre, Ordnung des Sittenlebens, Abstellung von Missbräuchen, Beilegung von Streitigkeiten und Vereinheitlichung des kirchlichen Lebens. Indem in c. 290 CIC/1917 ausdrücklich von „decernere“ gesprochen wird, aber auch in Verbindung mit c. 291 CIC/1917 wird ersichtlich, dass das Plenarkonzil als Organ der teilkirchlichen Gesetzgebung zu verstehen ist, das jedoch, ebenso wie der Diözesanbischof gemäß c. 335 § 1 CIC/1917, an das übergeordnete Recht gebunden ist. Die Dekrete des Plenarkonzils kommen 27

Vgl. c. 282 § 3 CIC/1917.

28

Der c. 287 § 1 CIC/1917 begrenzt die Anwesenheitspflicht auf die Mitglieder eines Plenarkonzils mit beschließender Stimme; nur diese können unter den dort genannten Bedingungen einen Vertreter entsenden. Eventuell mit beratender Stimme eingeladene Kleriker unterliegen also weder der Anwesenheitspflicht noch können sie sich im Verhinderungsfall vertreten lassen. 29

Vgl. Sipos, Enchiridion (Anm. 14), S. 214.

30

Vgl. c. 288 CIC/1917.

31

Vgl. Jone, Gesetzbuch I (Anm. 23), S. 287.

Die Würzburger Synode – ein Maßstab für synodale Prozesse?

627

zustande durch den rechtmäßigen Beschluss der stimmberechtigten Konzilsteilnehmer; es handelt sich also um wirkliche Konzilsgesetze. Lediglich bezüglich der Promulgation und des damit gemäß c. 8 § 1 CIC/1917 verbundenen Eintretens der Rechtskraft besteht insofern eine Einschränkung, als alle Konzilsdekrete vor ihrer Promulgation der Konzilskongregation zur „recognitio“, das heißt zur Prüfung auf ihre Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht zugesandt werden müssen. Die mit der „recognitio“ verbundene „approbatio in forma communi“ macht die Konzilsdekrete nicht zu päpstlichen Gesetzen; sie können von daher auch von einem später folgenden Plenarkonzil verändert oder außer Kraft gesetzt werden.32 Insgesamt gesehen stellen die Plenar- oder Nationalkonzilien nach den Rechtsnormen des CIC/1917 Organe der teilkirchlichen Gesetzgebung dar, die durch einen Apostolischen Delegaten im Namen des Papstes einberufen und geleitet werden, und an denen ausschließlich Bischöfe und andere Ordinarien als zuständige Gesetzgeber mit beschließender Stimme teilnehmen können. III. Der Impuls des Konzils zur Wiederbelebung des Synodalwesens Auf die Synoden allgemein und auf die Plenarkonzilien im Besonderen geht das II. Vatikanische Konzil lediglich in VatII CD 36,1 ausdrücklich ein. Es weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Bischöfe seit den ersten Jahrhunderten der Kirche ihre Kräfte und ihren Willen verbunden haben, „um sowohl das gemeinsame Wohl als auch das Wohl der einzelnen Kirchen zu fördern. Auf diese Weise wurden Synoden, Provinzialkonzilien und schließlich Plenarkonzilien eingesetzt, in denen die Bischöfe eine für verschiedene Kirchen gleichartige Vorgehensweise festlegten, die sowohl bei der Lehre der Glaubenswahrheiten als auch bei der Ordnung der kirchlichen Disziplin einzuhalten war.“33 Mit dieser Beschreibung bleibt das Konzil sowohl der Bestimmung des Teilnehmerkreises als auch der Zwecksetzung eines Plenarkonzils gemäß der Rechtsordnung des CIC/1917 verpflichtet. Diese Feststellung gilt im Wesentlichen auch für VatII CD 36,2, wo das Konzil den ausdrücklichen Wunsch formuliert, „dass die ehrwürdigen Einrichtungen der Synoden und Konzilien mit neuer Kraft erblühen.“34 Während als Zielsetzung solcher Synoden und Konzi-

32

Vgl. Hergenröther, Lehrbuch (Anm. 13), S. 350, Rn. 458; Sipos, Enchiridion (Anm. 14), S. 216; Eichmann, Lb I9, S. 392 f. 33 VatII CD 36,1. Die Übersetzung folgt dem von Peter Hünermann und Bernd Jochen Hilberath herausgegebenen Theologischen Kommentar zum II. Vatikanischen Konzil, Bd. I, Freiburg u. a. 2004 ff. 34

VatII CD 36,2.

628

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lien wieder „das Wachstum des Glaubens und die Bewahrung der Disziplin in den verschiedenen Kirchen“35 genannt wird, wird der insgesamt rechtsbewahrende Charakter dieses Passus durch die Einfügung „je nach den Zeitumständen“ (pro temporum adiunctis) nur wenig relativiert.36 In der allgemeinen Einleitung zur offiziellen Gesamtausgabe der Beschlüsse der Gemeinsamen Synode weist Karl Lehmann auf die Aussagen des II. Vatikanischen Konzils über die kollegiale Natur und Beschaffenheit des bischöflichen Standes in VatII LG 22,1 hin;37 in diesem Zusammenhang erwähnt das Konzil in geschichtlicher Erinnerung allgemein das Zusammentreten von Konzilien, „durch die gerade auch die jeweils wichtigeren Angelegenheiten in einer durch den Rat vieler abgewogenen Entscheidung gemeinschaftlich festgelegt werden sollten.“38 Bezüglich des möglichen Teilnehmerkreises spricht das II. Vatikanische Konzil in VatII LG 22 aber von rein bischöflichen Versammlungen. Im Hinblick auf eine mögliche Ausweitung des Teilnehmerkreises an Synoden muss daher auch an die Aussagen des Konzils über das Volk Gottes und über die gemeinsame Verantwortung des ganzen Volkes Gottes für die Verwirklichung der Sendung der Kirche in VatII LG 9 – 17 erinnert werden, die gemäß VatII LG 30,1 auch für die Laien gelten. Auch wenn den Laien „der weltliche Charakter ganz besonders zu eigen“39 ist, so kann doch ihre Aufgabe und ihre Verantwortung nicht auf den Bereich des so genannten Weltapostolats eingegrenzt werden,40 so, als ob ausschließlich die Kleriker für das Leben und die Ordnung der Kirche selbst verantwortlich und zuständig wären. Im Laiendekret spricht das Konzil vom Auftrag der Kirche, das Reich Gottes auf Erden auszubreiten; jede diesbezügliche Tätigkeit der Kirche wird „Apostolat“ genannt, „das die Kirche durch alle ihre Glieder – freilich auf verschiedene Weisen – ausübt.“41 An diesem

35

Ebd. Vgl. auch c. 290 CIC/1917: „… ad fidei incrementum, … ad unam eandemque disciplinam servandam …“. 36 Guido Bausenhart weist in seinem Kommentar zu VatII CD 36 (vgl. Peter Hünermann (Hrsg.), Herders Theologischer Kommentar zum II. Vatikanischen Konzil, Bd. III, Freiburg u. a. 2005, S. 225 – 313, hier S. 287) darauf hin, dass die werbende Erinnerung an die synodale Praxis der Kirche lediglich den Horizont zeichnet, vor dem in VatII CD 37 – 38 die Bischofskonferenzen zum eigentlichen Thema werden. Tatsächlich finden sich in den Beschlüssen des Konzils keine weiteren Ausführungen zum Thema der teilkirchlichen Synoden und Konzilien. 37

Vgl. GSyn I, S. 26 f.

38

VatII LG 22,1.

39

Vat. II, LG 31, 2.

40

Vgl. Heribert Hallermann, Art. Laienapostolat, in: LKStKR 2, 2002, S. 671 – 673.

41

VatII AA 2,1.

Die Würzburger Synode – ein Maßstab für synodale Prozesse?

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Apostolat haben alle „Glieder des Volkes Gottes sowohl als Subjekte wie als Adressaten der Kirche“42 teil. Der allgemeine Impuls des Konzils zur Wiederbelebung des Synodalwesens in VatII CD 36,2 ist auch deshalb ohne direkte Wirkung geblieben, weil die unmittelbare nachkonziliare Gesetzgebung im Motu Proprio P. Paul VI. „Ecclesiae Sanctae“ vom 6. August 1966 in den Ausführungsbestimmungen zum Dekret über das Hirtenamt der Bischöfe keine diesbezüglichen Normen zu VatII CD 36 enthält; die Synoden werden also in dieser Gesetzgebung – im Unterschied etwa zu den Bischofskonferenzen43 – nicht gesetzlich geregelt. Trotz des allgemeinen Impulses des II. Vatikanischen Konzils zur Wiederbelebung des Synodalwesens muss in rechtlicher Hinsicht festgehalten werden, dass auch nach dem Konzil die diesbezüglichen Rechtsnormen des CIC/1917 weiterhin in Geltung stehen. Von einer für die Gemeinsame Synode geltenden „rechtliche[n] Grundlage nach Maßgabe des Konzils“44 kann also nur in einem sehr begrenzten Sinn gesprochen werden. IV. Die Gemeinsame Synode als ein neuer Typ von Synoden Trotz der bewussten Anknüpfung an das historische Synodalwesen in der katholischen Kirche verstand sich die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an als ein neuer Typ von Synode,45 und zwar sowohl im Hinblick auf den Charakter und die Zielsetzung als auch im Hinblick auf den Teilnehmerkreis der Synode. Aber auch bezüglich der Einberufung und Leitung stellt die Würzburger Synode einen neuen Typ von Synode dar. 1. Charakter und Zielsetzung der Würzburger Synode Während gemäß c. 281 CIC/1917 die Initiative für ein Nationalkonzil mit rechtlicher Wirksamkeit nur vom Papst ausgehen kann, ging die Initiative für die Einberufung der später so genannten „Würzburger Synode“ zunächst von den Laien aus und wurde relativ schnell von der Deutschen Bischofskonferenz aufge-

42

Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Apostolat, in: LKStKR 1, 2002, S. 128 – 131, hier S. 129. 43

Vgl. ES I,41.

44

Heinz, Wegweisung in die Zukunft (Anm. 5), S. 608.

45

Vgl. Karl Lehmann, Allgemeine Einleitung, in: GSyn I, S. 23 – 28.

630

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griffen:46 Auf dem Deutschen Katholikentag vom 4. – 8. September 1968 erhielt die Forderung, nach holländischem Vorbild ein „Nationalkonzil“ einzuberufen, einen überwältigenden Beifall. Der Nationalrat der CAJ griff am 9. Oktober 1968 diese Anregung auf und stellte an die Deutsche Bischofskonferenz den Antrag, eine „Pastoralsynode“ einzuberufen. Die Hauptversammlung des BDKJ machte sich am 9. November 1968 in Altenberg diesen Antrag im Wesentlichen zu eigen und brachte ihn in das Zentralkomitee der deutschen Katholiken ein, das zum tatkräftigen Förderer der Idee einer überdiözesanen Synode in der Bundesrepublik Deutschland wurde. Bei ihrer Vollversammlung vom 25. bis 27. Februar 1969 beschloss die Deutsche Bischofskonferenz einstimmig, eine gemeinsame Synode der Diözesen in der Bundesrepublik Deutschland vorzubereiten und die dafür erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen.47 Von Anfang an wurde die Einberufung einer „Pastoralsynode“ angestrebt48 und somit eine synodale Versammlung, die nicht, wie die Synoden und Konzilien der geltenden Rechtsordnung, überwiegend gesetzanwendenden und gesetzgebenden, sondern in erster Linie pastoralen Charakter besitzen sollte. Die Konferenz der Seelsorgeamtsleiter plädierte sogar für die Durchführung einer rechtlich weniger gebundenen „Pastoralkonferenz“, unter anderem weil die Leiter der diözesanen Seelsorgeämter befürchteten, dass eine überdiözesane Synode und die damit verbundenen kirchenrechtlichen Probleme die pastorale Intention eines solchen Unternehmens eher hemmen als fördern könnte.49 Der gemeinsame Hirtenbrief der deutschen Bischöfe zur Vorbereitung der Gemeinsamen Synode, der am 1. März 1970 in allen Gottesdiensten verlesen wurde, betont ebenso den pastoralen Charakter dieser geplanten Synode50 wie das von Klaus Hemmerle51 vor den Leitern der diözesanen Synodalbüros vorgetragene Konzept der Gemeinsamen Synode.52 Bei der Diskussion des Statuts der Synode kam im Hinblick auf die gewünschte Verbindlichkeit der Beschlüsse jedoch auch die mögliche gesetzgebe46 Die schnelle Reaktion der Bischofskonferenz lag wohl in der Erwartung begründet, „dass die Bischöfe nur durch ein baldiges Aufgreifen der verschiedenen Initiativen den Gang der öffentlichen Diskussion entscheidend mitbestimmen könnten.“: GSyn I, S. 38. 47 Vgl. GSyn I, S. 32 – 34. Vgl. auch Chronik der Vorbereitung: SYNODE 1-70-3 f. sowie den Wortlaut des Beschlusses ebd. 1-70-9. 48

Vgl. die einschlägige Begrifflichkeit in GSyn I, S. 32, 33, 34, 35.

49

Vgl. GSyn I, S. 35.

50

Vgl. SYNODE 1-70-11 ff.

51

Klaus Hemmerle, der spätere Bischof von Aachen, war damals Geistlicher Direktor des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken. 52

Vgl. SYNODE 1-70-15 – 1-70-24.

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rische Funktion der Synode in den Blick. Die Synode sollte demnach nicht nur eine beratende, sondern eine für die Gesetzgebung durch die Bischöfe, deren diesbezügliche Kompetenz nicht bestritten wurde, konstitutive Funktion besitzen.53 Nach den Vorgaben von VatII CD 38,1 und ES I,41 sollte sich die Kompetenz der Bischofskonferenzen wesentlich auf die Koordinierung des Apostolats und der Pastoral beziehen, so dass sich ein wirklicher Widerspruch zwischen der verbindlichen Beteiligung der Synode an der Gesetzgebungskompetenz der Bischofskonferenz und der pastoralen Zielsetzung der Gemeinsamen Synode eigentlich nicht ergeben kann.54 Die Zielsetzung der Synode ist in Art. 1 ihres Statuts prägnant zusammengefasst. Demnach ist es ihre „Aufgabe, in ihrem Bereich die Verwirklichung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils zu fördern und zur Gestaltung des christlichen Lebens gemäß dem Glauben der Kirche beizutragen.“55 Dabei wird die weitgehend gemeinsame Überzeugung vorausgesetzt, dass das II. Vatikanische Konzil „in besonderer Weise der pastoralen Erneuerung der Kirche diente.“56 2. Der Teilnehmerkreis der Gemeinsamen Synode Nach der geltenden Rechtsordnung der cc. 281 und 282 CIC/1917 war der Teilnehmerkreis an einem Nationalkonzil strikt auf die Ordinarien der betreffenden Teilkirchen begrenzt. Auch andere Kleriker konnten gegebenenfalls an einem Nationalkonzil teilnehmen, jedoch nur mit beratender Stimme. Die Teilnahme von Laien sowie von Ordensleuten, die nicht dem klerikalen Stand angehörten, war von daher ausgeschlossen. Nun ging es aber den Initiatoren einer deutschen Pastoralsynode, die dem Anliegen einer „Demokratisierung der Kirche“ stark verhaftet waren,57 insbesondere auch darum, die vollberechtigte

53

Vgl. GSyn I, S. 41.

54

Näher zu untersuchen bleibt jedoch, ob bzw. wie sehr das Konzept einer überdiözesanen Synode in Zusammenhang steht mit dem Selbstfindungsprozess der durch das II. Vatikanische Konzil neu geschaffenen Institution der Bischofskonferenz. Vgl. etwa diesbezügliche Hinweise in GSyn I, S. 30, 35 und 41. 55

Statut Art. 1, in: GSyn I, S. 856.

56

GSyn I, S. 29. In diesem Sinn spricht auch der gemeinsame Hirtenbrief vom 1.03.1970 programmatisch von der Erneuerung, die durch die Gemeinsame Synode geleistet werden soll. Vgl. SYNODE 1-70-11 f. 57

Vgl. GSyn I, S. 32; Althaus, Rezeption (Anm. 6), S. 120 mit Anm. 4.

632

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Teilnahme von Laien an einer solchen Synode zu ermöglichen.58 Den Bezugspunkt hierfür stellte unter anderem das so genannte „Pastoralkonzil der Niederländischen Kirche“ dar, das von 1968 bis 1970 in sechs Vollversammlungen tagte und das als ein beratendes Gremium der niederländischen Bischöfe in pastoralen Fragen sowie als Instrument der innerkirchlichen Kommunikation zwischen den Bischöfen und der so genannten „Basis“ konzipiert war; dieses Konzept einer nur beratenden Versammlung konnte jedoch nicht durchgehalten werden.59 Bei der Suche nach einem neuen Typ von Synode spielte die Frage nach dem Teilnahmerecht von Laien eine entscheidende Rolle. Den theologischen Anknüpfungspunkt für die Möglichkeit, Priester und Laien in verbindlicher Weise in den synodalen Vorgang einbeziehen zu können, bildeten die Gedanken des II. Vatikanischen Konzils vom gemeinsamen Priestertum und von der verantwortlichen Teilhabe aller Getauften an der Verwirklichung der Sendung der Kirche.60 Während die geltenden Rechtsnormen über die Plenarkonzilien für dieses Vorhaben keinen Anhaltspunkt boten, findet sich zumindest im Hinblick auf die vollberechtigte Teilnahme von Klerikern, die wenigstens die Priesterweihe empfangen haben, ein gewisser Anhaltspunkt in den Bestimmungen über die Diözesansynoden in c. 358 CIC/1917. Jedoch waren auch nach dieser Norm Laien und solche Kleriker, welche die Priesterweihe nicht empfangen hatten, nicht als Teilnehmer an einer Diözesansynode vorgesehen.61 Dennoch stellte das Modell der Diözesansynode mit ihren jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen den rechtlichen Anknüpfungspunkt und den Orientierungsrahmen für die Vorbereitung der Gemeinsamen Synode dar.62

58

Auch die Deutsche Bischofskonferenz hat bei ihrem zustimmenden Beschluss im Februar 1969 ausdrücklich gewünscht: „Bei der Zusammensetzung der Synode ist ein ausgewogenes Verhältnis von Bischöfen, Priestern, Laien und Ordensleuten anzustreben.“: SYNODE 1-70-9 sowie GSyn I, S. 36. 59

Vgl. GSyn I, S. 31 f. und 38; SYNODE 5-71-10 – 5-71-13.

60

Vgl. GSyn I, S. 27 f.

61

Vgl. Norbert Witsch, Synodalität auf Ebene der Diözese. Die Bestimmungen des universalkirchlichen Rechts der Lateinischen Kirche, Paderborn u. a. 2004, S. 57 – 69. 62

Vgl. etwa GSyn I, S. 28, 30 und 35: „Strukturell blieb in dieser Hinsicht das Modell der Diözesansynode leitend“. Im Entwurf des Statuts heißt es unter Nr. 1 der Vorbemerkungen: „Das Statut der Synode muss sich an den wesentlichen rechtlichen Bestimmungen über die Diözesansynoden orientieren.“: SYNODE 1-70-39.– Auch Klaus Hemmerle wies darauf hin, dass an den verschiedenen nachkonziliaren Diözesansynoden in erheblichem Maße Laien beteiligt waren, und vor diesem Hintergrund plädierte er dafür, in den deutschen Diözesen das Modell der Diözesansynode weiter zu entwickeln,

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Für die rechtliche Gestaltung dieses neuen Typs von Synode gewährte der Apostolische Stuhl im Vergleich zum geltenden Recht des CIC/1917 große Freiheit. Es sollten dabei zwei Bedingungen beachtet werden: Zum einen dürfe die Zahl der teilnehmenden Laien einschließlich der Ordensmänner, die nicht Priester sind, sowie der Ordensfrauen, die Zahl der teilnehmenden Priester nicht überschreiten, und zum anderen müssten die Vollmachten der Bischöfe gewahrt werden. Gegenüber dem bisher geltenden Recht wird somit die Möglichkeit eröffnet, dass Laien vollberechtigt an einer Synode teilnehmen können, und im Hinblick auf die Priester ist neu, dass diese vollberechtigt an einer überdiözesanen Synode teilnehmen können. Ebenfalls neu ist der Modus der Benennung der Synodenteilnehmer: Während beim Plenarkonzil gemäß cc. 281 ff. CIC/1917 der Apostolische Legat die ordentlichen Teilnehmer, das heißt die von Rechts wegen zur Teilnahme zugleich Berechtigten und Verpflichteten, zusammenrufen musste und darüber hinaus nur einen geringen Entscheidungsspielraum zur Einladung weiterer Teilnehmer und Berater besaß, und auch der Diözesanbischof für die Diözesansynode gemäß cc. 356 ff. CIC/1917 über den Kreis der ordentlichen Mitglieder nur wenige weitere Teilnehmer berufen konnte, versucht das Statut der Gemeinsamen Synode im Hinblick auf die Teilnehmer dem Gedanken der Repräsentativität in doppelter Weise Rechnung zu tragen: Zum einen werden Bischöfe, Priester, weibliche und männliche Ordensleute sowie weibliche und männliche Laien als Mitglieder mit jeweils gleichem, beschließenden Stimmrecht gezählt,63 zum anderen werden die Mitglieder, soweit sie nicht als Mitglieder der Bischofskonferenz geborene Mitglieder der Gemeinsamen Synode sind, nach Gruppen unterschieden von verschiedenen, mehr oder weniger repräsentativen Gremien, durch Wahl oder Berufung bestimmt; dabei überwiegt die Zahl der gewählten Mitglieder bei weitem die Zahl der geborenen und der berufenen Mitglieder.64 3. Die Einbindung der bischöflichen Gesetzgebungskompetenz in die Synode Bei der Suche nach einem neuen Typ von Synode erwies sich die Frage nach der verbindlichen Einbeziehung von Priestern und Laien in den Gesetzgebungsprozess einerseits und die Wahrung der bischöflichen Leitungsvollmacht

allerdings nicht, um einzelne Diözesansynoden, sondern um eine gemeinsame Synode durchzuführen. Vgl. SYNODE 1-70-16. 63 64

Vgl. Art. 2 i.V.m. Art. 5 (2) Statut/GSyn, in: GSyn I, S. 856 f.

Der nach diesen Kriterien zusammengesetzte Kreis von Mitgliedern der Synode ist zu finden in: SYNODE 1-70-27 – 1-70-38 sowie 2-70-31 – 2-70-38.

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andererseits als eine besondere theologische und rechtliche Herausforderung.65 Die Lösung wurde darin gesucht, dass „die gesetzgeberische Tätigkeit der Bischöfe möglichst weit in den Prozess der synodalen Beschlussfassung hereingenommen“66 wurde. Unter Beachtung des Statuts der Gemeinsamen Synode kann man jedoch nicht davon sprechen, dass die Gesetzgebungskompetenz der Bischöfe auf die Synode übergegangen oder von Bischofskonferenz und Synode ohne weiteres gemeinsam ausgeübt worden wäre.67 So wurde beispielsweise das Statut der Synode – wenngleich nach öffentlicher Diskussion68 und dadurch erreichter teilweiser Verbesserung – von der Deutschen Bischofskonferenz bei einer außerordentlichen Vollversammlung am 11. November 1969 beschlossen.69 Gemäß Art. 16 Statut/GSyn konnte das Statut ebenfalls nur durch die Deutsche Bischofskonferenz geändert werden; der Beschluss über den Beginn und über das Ende der Synode war gemäß Art. 10 Statut/GSyn ebenfalls der Deutschen Bischofskonferenz vorbehalten.70 Rechtskraft erlangte das Statut durch die Zustimmung des Apostolischen Stuhls, die mit Dekret der Kongregation für die Bischöfe vom 14. Februar 1970 als Approbation erteilt wurde.71 In diesem Zusammenhang wies der Apostolische Stuhl ausdrücklich darauf hin, dass die Bestimmungen in VatII CD 38,4) sowie in Art. 12 des Statuts der Deutschen Bischofskonferenz ihre volle Gültigkeit behalten.72 Demnach ist für Beschlüsse der Bischofskonferenz generell die Zweidrittelmehrheit der Mitglieder erforderlich. Für Beschlüsse mit verpflichtender Rechtskraft hingegen ist ebenfalls die Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Ortsoberhirten sowie die Überprüfung (recognitio) durch den Apostolischen Stuhl erforderlich. 65

Vgl. etwa GSyn I, S. 27 f., 41 sowie die Diskussion zu Art. 1 und Art. 13 des Statuts: SYNODE 1-70-43 und 1-70-52. Vgl. auch Althaus, Rezeption (Anm. 6), S. 124 – 126 mit den zugehörigen Anmerkungen. 66

GSyn I, S. 41; vgl. ebd. S. 38.

67

Vgl. Heribert Hallermann, Art. Gemeinsame Synode, in: LKStKR 2, 2002, S. 41 – 44, hier S. 42. 68

Zur Diskussion über den Entwurf des Statuts und zu den über 500 Veränderungsvorschlägen vgl. SYNODE 1-70-43 – 1-70-52 sowie 2-70-53 f. 69

Vgl. GSyn I, S. 41; SYNODE 1-70-5.

70

Das für den Beschluss über die Beendigung der Synode gemäß Art. 10 Statut/GSyn geforderte „Benehmen mit der Zentralkommission“ beeinträchtigt die Beschlusskompetenz der Deutschen Bischofskonferenz nicht, denn „Benehmen“ bedeutet weder Zustimmung noch Einvernehmen. 71 Das Dekret mit der Protokoll-Nummer 122/69 ist in GSyn I, S. 861 f. in lateinischer und deutscher Fassung abgedruckt. 72

Das Statut der DBK in der Fassung vom 2.03.1966 ist abgedruckt in: Dokumente der Deutschen Bischofskonferenz, Bd. I, Köln 1998, S. 46 – 51.

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Möglich sind solche verbindlichen Beschlüsse nur in den Fällen, in denen dies das allgemeine Recht vorschreibt oder eine besondere Anordnung des Apostolischen Stuhls das bestimmt. Mit diesem Hinweis wurde deutlich gemacht, dass die Kompetenz der Gemeinsamen Synode in keiner Weise über die Gesetzgebungskompetenz der Deutschen Bischofskonferenz hinausgehen konnte, sondern an diese gebunden war. Gegenstand des Beratungs- und Beschlussverfahrens der Gemeinsamen Synode konnten nur solche Angelegenheiten sein, die gemäß Art. 11 (1) und (2) Statut/GSyn im Einvernehmen mit der Deutschen Bischofskonferenz zugelassen worden waren. Die Vorlagen, zu denen mindestens zwei Lesungen sowie eine Schlussabstimmung stattfinden mussten, konnten gemäß Art. 12 (1) – (4) Statut/GSyn nur von den jeweils zuständigen Sachkommissionen in die Vollversammlung eingebracht werden. Für die Annahme einer Vorlage war gemäß Art. 13 (2) Statut/GSyn die Zweidrittelmehrheit aller anwesenden Mitglieder erforderlich. Vor jeder Lesung musste der Deutschen Bischofskonferenz Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden, wobei Bedenken, die in der Lehrautorität oder im Gesetzgebungsrecht der Bischöfe begründet waren, mit einer entsprechenden Begründung bekannt gegeben werden mussten.73 Hinsichtlich des Verbindlichkeitsgrades unterscheidet das Statut der Gemeinsamen Synode zum einen solche Beschlüsse, die keine „Anordnungen“ enthalten, und die trotz Bekanntgabe durch den Präsidenten der Synode und die obligatorische Veröffentlichung in den Amtsblättern der einzelnen Bistümer keine Gesetzeskraft erlangten,74 also im Sinn von Empfehlungen zu verstehen sind, und zum anderen Beschlüsse, welche „Anordnungen“ enthalten. Solche Beschlüsse in Form von Anordnungen konnten nicht gefasst werden, wenn die Deutsche Bischofskonferenz vorab erklärte, dass sie den vorgeschlagenen Anordnungen die bischöfliche Gesetzgebung versagen musste, das heißt, dass eine vorherige implizite Zustimmung der Bischofskonferenz erforderlich war. Nur Beschlüsse mit Anordnungen traten mit Veröffentlichung in den jeweiligen diözesanen Amtsblättern je nach Zuständigkeit als Gesetze der Deutschen Bischofskonferenz oder der einzelnen Diözesanbischöfe in Kraft.75 In diesem Fall

73

Vgl. Art. 12 (5) Statut/GSyn.

74

Vgl. Art. 14 (1) Statut/GSyn.

75

Vgl. Art. 14 (2) Statut/GSyn. Vgl. auch Hallermann, Gemeinsame Synode (Anm. 67), S. 42 f., dort findet sich auch eine Übersicht über den unterschiedlichen Rechtscharakter der einzelnen Synodenbeschlüsse. – Insbesondere über die Frage der Verbindlichkeit solcher Beschlüsse mit Anordnungen, aber auch über weitere strukturelle Probleme der Gemeinsamen Synode war im Vorfeld eine heftige Debatte entbrannt. Vgl. hierzu Aymans, Synode 1972 (Anm. 21), S. 363 – 388; die Stellungnahme hierzu

636

Heribert Hallermann

musste auch der Hinweis auf VatII CD 38,4) und Art. 12 des Statuts der Deutschen Bischofskonferenz beachtet werden. Daneben kennt das Statut der Gemeinsamen Synode noch die Form des „Votums an den Heiligen Stuhl“, das gemäß Art. 11 (3) Statut/GSyn in solchen Fragen abgegeben werden konnte, die einer gesamtkirchlichen Regelung vorbehalten sind. 4. Die Rechtsaufsicht des Apostolischen Stuhls über die Synode Die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland war in rechtlicher Hinsicht tatsächlich eine Synode neuen Typs, weil sie weder den gesetzlichen Vorgaben über die Plenarkonzilien entsprach, noch, trotz mancher Orientierungen an diesem Modell, eine Diözesansynode war und auch von den für diese Synoden geltenden Rechtsnormen abwich. Mit dem vom Apostolischen Stuhl approbierten Statut der Gemeinsamen Synode ist in einer Zeit des Übergangs vom CIC/1917 zum CIC/1983 mit ausdrücklicher Zustimmung des Apostolischen Stuhls partikulares Recht der Deutschen Bischofskonferenz in Kraft getreten, das für die Dauer der Gemeinsamen Synode in Geltung war. Die Approbation bezieht sich auf die so genannte Würzburger Synode, die am 3. Januar 1971 begonnen hat und gemäß Art. 10 Statut/GSyn am 23. November 1975 rechtmäßig beendet wurde. Im Unterschied zu anderen Beschlüssen der Deutschen Bischofskonferenz hat das Statut der Gemeinsamen Synode die gemäß Art. 12 des Statuts der Deutschen Bischofskonferenz erforderliche „Gutheißung durch den Apostolischen Stuhl“ nicht in der Form der „recognitio“ erhalten,76 sondern in Form der „approbatio“; mit diesem Begriff aus dem Bereich der Rechtsaufsicht wird „in formaler und inhaltlicher Hinsicht die Genehmigung, Anerkennung oder Bestätigung rechtsgeschäftlichen Handelns aufgrund rechtskonstitutiver Mitwirkung durch übergeordnete Instanzen“77 zum Ausdruck gebracht. Das Statut der Gemeinsamen Synode verdankt seinen Bestand und seine rechtliche Geltung also dem Zusammenwirken zwischen der Deutschen Bischofskonferenz als dem partikularen Gesetzgeber und dem Apostolischen Stuhl als dem für die Rechtsaufsicht zuständigen Organ.

von Karl Forster in SYNODE 7-71-27 – 7-71-36 und die Erwiderung von Winfried Aymans, Synodalstatut – Kritik einer Verteidigung, in: AfkKR 140 (1971), S. 136 – 146. 76

Vgl. VatII CD 38,4. Die „recognitio“ beinhaltet im Wesentlichen die Prüfung einer Entscheidung im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit dem geltenden übergeordneten Recht. Vgl. Ulrich Rhode, Art. Recognitio, in: LKStKR 3, 2004, S. 390 – 391. 77

Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Approbatio, in: LKStKR 1, 2000, S. 146 – 149, hier S. 146.

Die Würzburger Synode – ein Maßstab für synodale Prozesse?

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Neben der Approbation des Statuts musste der Apostolische Stuhl stets auch dann im Rahmen der Rechtsaufsicht tätig werden, wenn Beschlüsse der Synode im Sinne der Art. 13 (4) und 14 (2) Statut/GSyn in den einzelnen Diözesen als Gesetz der Bischofskonferenz oder als Diözesangesetz in Kraft treten sollten. Das Inkrafttreten solcher Beschlüsse war gemäß Art. 12 des Statuts der Deutschen Bischofskonferenz an die vorgängige „recognitio“ durch den Apostolischen Stuhl gebunden. Diese rechtsaufsichtliche Überprüfung der Synodenbeschlüsse ist bis Januar 1976 erfolgt78 und war für das rechtsgültige Zustandekommen der Synodenbeschlüsse nicht rechtskonstitutiv. V. Die Plenarkonzilien in der Gesetzgebung des CIC/1983 Das im Rahmen des Synodenbeschlusses „Verantwortung des ganzen Gottesvolkes für die Sendung der Kirche“ gemäß Art. 11 (3) Statut/GSyn verabschiedete Votum an den Apostolischen Stuhl, den deutschen Bistümern das Recht zu geben, in jedem Jahrzehnt eine gemeinsame Synode durchzuführen, hierfür unter Wahrung aller im Statut der Gemeinsamen Synode festgelegten Grundsätze ein entsprechendes Statut zu approbieren beziehungsweise in Kraft zu setzen und die deutschen Bischöfe dazu zu ermächtigen, die für die Durchführung der nächsten Synode erforderlichen Maßnahmen einzuleiten und für ihre Diözesen anzuordnen,79 ist ohne positive Antwort des Apostolischen Stuhls geblieben.80 Diese Tatsache hindert zwar gemäß geltendem kirchlichen Recht nicht daran, künftig eine neue Synode der deutschen Bistümer durchzuführen, jedoch hätte eine solche Synode andere rechtliche Maßgaben zu beachten, als sie für die so genannte Würzburger Synode als Partikularrecht in Geltung waren. Die diesbezüglich einschlägigen Normen sind vor allem in den cc. 439 – 446 CIC/1983 über die Partikularkonzilien enthalten.81 Ein Plenarkonzil ist gemäß c. 439 § 1 CIC ein Konzil für alle Teilkirchen ein und derselben Bischofskonferenz, die in der Regel als Zusammenschluss der Bischöfe einer Nation errichtet wird,82 und demnach im Sinne eines „Nationalkonzils“ eindeutiger bestimmt als nach Maßgabe des c. 281 CIC/1917.

78

Vgl. GSyn I, S. 855.

79

Vgl. GSyn I, S. 673.

80

Vgl. Althaus, Rezeption (Anm. 6), S. 157 – 165.

81

Vgl. zum folgenden Oskar Stoffel, in: MK CIC zu cc. 439 – 446; Norbert Witsch, Art. Plenarkonzil, in: LKStKR 3, 2004, S. 241 – 243. 82

Vgl. cc. 447 und 448 CIC; vgl. auch Heribert Hallermann, Art. Bischofskonferenz, II. Kath., in: LKStKR 1, 2000, S. 277 – 279.

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Heribert Hallermann

1. Charakter und Zielsetzung eines Plenarkonzils Das Plenarkonzil als eine der beiden Formen der Partikularkonzilien ist als Organ der kollegialen Ausübung des bischöflichen Amtes konzipiert83 und umfasst alle Bischöfe innerhalb des Zuständigkeitsbereiches einer Bischofskonferenz. Die Initiative zu einem Plenarkonzil geht gemäß c. 439 § 1 CIC von der jeweiligen Bischofskonferenz aus; es kann so oft stattfinden, wie es der Bischofskonferenz selbst als notwendig oder nützlich erscheint; dabei bedarf es der Genehmigung (approbatio) des Apostolischen Stuhls.84 Für die rechtmäßige Abhaltung eines Plenarkonzils ist also neben einer Ermessensentscheidung der zuständigen Bischofskonferenz die rechtskonstitutive Mitwirkung des Apostolischen Stuhls in Form der Approbation des entsprechenden Konferenzbeschlusses erforderlich.85 Eine periodische Feier eines Plenarkonzils ist in der geltenden Rechtsordnung nicht vorgesehen. Als Urheberin des Plenarkonzils obliegen der jeweiligen Bischofskonferenz alle für die Leitung dieses Konzils wesentlichen Aufgaben:86 Gemäß c. 441 CIC beruft die Bischofskonferenz das Plenarkonzil ein; sie legt einen Ort innerhalb des Gebiets der Bischofskonferenz als Tagungsort fest; sie wählt einen der Diözesanbischöfe aus ihren Reihen zum Präsidenten des Plenarkonzils, der jedoch zusätzlich der Approbation des Apostolischen Stuhls bedarf;87 sie legt die Geschäftsordnung und die Beratungsgegenstände fest und bestimmt über Beginn, Dauer, Verlegung, Vertagung und Beendigung des Plenarkonzils.88

83

Vgl. Aymans, Synode 1972 (Anm. 21), S. 374.

84

Nach Althaus, Rezeption (Anm. 6), 160 darf diese Genehmigung nur versagt werden, wenn der Apostolische Stuhl im Hinblick auf die erwartete Nützlichkeit eines Plenarkonzils zu einer von dem Urteil der Bischofskonferenz abweichenden Ergebnis kommt. 85

Das Plenarkonzil geltenden Rechts unterscheidet sich in dieser Hinsicht vom Plenarkonzil gemäß c. 281 CIC/1917, das stets der päpstlichen Erlaubnis bedurfte, und hat mit der Gemeinsamen Synode gemeinsam, dass es durch rechtskonstitutives Zusammenwirken der Bischofskonferenz und des Apostolischen Stuhl rechtmäßig zustande kommt. 86 Der Bischofskonferenz sind nun also die Aufgaben übertragen worden, die früher gemäß cc. 281 und 288 CIC/1917 dem Apostolischen Legaten vorbehalten waren, und die bei der Gemeinsamen Synode ebenfalls der Bischofskonferenz zukamen. 87 Gemäß c. 281 CIC/1917 lag der Vorsitz bei einem hierfür ernannten Apostolischen Legaten; bei der Gemeinsamen Synode war gemäß Art. 6 (2) des Statut/GSyn der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz auch der Präsident der Synode. 88 Vgl. hierzu auch Art. 10 Statut/GSyn, wonach ebenfalls die Bischofskonferenz über den Beginn und das Ende der gemeinsamen Synode zu entscheiden hatte. Die Ge-

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Die Zweckbestimmung des Plenarkonzils in c. 445 CIC lehnt sich eng an den c. 290 CIC/1917 an; sie unterscheidet sich von diesem vor allem dadurch, dass zunächst das Eingehen auf die pastoralen Erfordernisse des Gottesvolkes als generelle Zielsetzung eines Plenarkonzils genannt wird. Ansonsten soll das Konzil bestimmen, was dem Wachstum des Glaubens dient, was zum gemeinsamen pastoralen Wirken erforderlich ist und was der Ordnung der Sitten sowie der Bewahrung, der Einführung oder dem Schutz der allgemeinen kirchlichen Disziplin dient. Ausdrücklich wird die Gesetzgebungskompetenz des Plenarkonzils hervorgehoben; es kann also für das jeweilige Gebiet Partikularrecht erlassen mit Bindewirkung für alle katholischen Gläubigen, die innerhalb dieses Gebietes ihren Wohnsitz oder Nebenwohnsitz haben und sich zugleich dort aufhalten.89 Für die gesetzgebende Vollmacht des Plenarkonzils ist aber eine doppelte Grenze gegeben: Zum einen das allgemeine, das heißt das weltweit geltende universale Kirchenrecht, und zum anderen die jeweilige Zuständigkeit des einzelnen Diözesanbischofs für seine Diözese gemäß c. 381 § 1 CIC, die etwa durch c. 455 §§ 1 und 2 CIC in besonderer Weise geschützt wird. 2. Der Teilnehmerkreis eines Plenarkonzils Ordentliche und vollberechtigte, also mit entscheidender Stimme ausgestattete Teilnehmer eines Plenarkonzils, die von Rechts wegen zum Konzil eingeladen werden müssen, sind gemäß c. 443 § 1 i.V.m. c. 450 § 1 CIC die Mitglieder der jeweiligen Bischofskonferenz; falls auf Beschluss der Bischofskonferenz auch weitere, im Konferenzgebiet wohnende Titularbischöfe gemäß c. 443 § 2 CIC eingeladen werden, besitzen auch diese beschließendes Stimmrecht beim Plenarkonzil. Als ordentliche beratende Mitglieder des Plenarkonzils, das heißt als Mitglieder, die von Rechts wegen eingeladen werden müssen, allerdings auf dem Konzil lediglich beratende Stimme besitzen, nennt c. 443 § 3 CIC die General- und Bischofsvikare der Teilkirchen des Konferenzgebietes, eine bestimmte, von der Bischofskonferenz festzulegende Zahl von höheren Oberen der Ordensinstitute und Gesellschaften des apostolischen Lebens, die im Konferenzgebiet ihren Sitz haben, ferner die Rektoren der kirchlichen und katholischen Universitäten sowie die Dekane der theologischen und kanonistischen Fakultäten mit Sitz im Konferenzgebiet sowie außerdem einige Rektoren von Priesterseminaren.

schäftsordnung wurde gemäß Art. 15 Statut/GSyn von der Vorbereitungskommission im Einvernehmen mit der Bischofskonferenz beschossen. Die Beratungsgegenstände wurden gemäß Art. 11 (1) Statut/GSyn auf Vorschlag der Zentralkommission vom Präsidium im Einvernehmen mit der Bischofskonferenz festgelegt. 89

Vgl. cc. 12 § 3 und 13 CIC.

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Heribert Hallermann

Lediglich als fakultative Teilnehmer mit beratendem Stimmrecht nennt c. 443 § 4 CIC Priester und andere Gläubige.90 Ob sie zur Teilnahme an einem Plenarkonzil eingeladen werden, entscheidet die jeweilige Bischofskonferenz als Urheberin und Verantwortliche für das Plenarkonzil. Dabei ist die Bischofskonferenz jedoch an die Vorgabe gebunden, dass die Anzahl dieser fakultativen beratenden Mitglieder höchstens halb so hoch sein darf wie die Zahl der in c. 443 §§ 1 – 3 CIC genannten stimmberechtigten und ordentlichen beratenden Mitglieder.91 Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Priestern und Laien innerhalb der Gruppe der fakultativen beratenden Mitglieder legt c. 443 § 4 CIC nichts Näheres fest. Die in c. 444 § 1 CIC normierte Teilnahmeverpflichtung gilt unterschiedslos für alle eingeladenen Mitglieder, ob sie nun ordentliche oder fakultative, stimmberechtigte oder beratende Mitglieder sind. Lediglich die stimmberechtigten Mitglieder können sich gemäß c. 444 § 2 CIC bei einer Verhinderung aus gerechtem Grund vertreten lassen, wobei die Vertreter stets nur beratendes Stimmrecht besitzen. Die rechtliche Bestimmung des Teilnehmerkreises und des Stimmrechts verdeutlicht, dass das Plenarkonzil nach Maßgabe der cc. 439 f. CIC ausschließlich als Bischofsversammlung und als ein kollegiales Organ der Ausübung bischöflicher Vollmacht konzipiert ist.92 Eine stimmberechtigte Teilnahme anderer Kleriker und Laien am Plenarkonzil, wie sie gemäß Art. 2 (1) und Art. 5 (2) Statut/GSyn für die Gemeinsame Synode möglich war, ist beim Plenarkonzil nicht möglich.93 3. Die Gesetzgebungskompetenz des Plenarkonzils Die Gesetzgebungskompetenz des Plenarkonzils, die in c. 445 CIC besonders unterstrichen wird, bezieht sich auf alle dort genannten Sachbereiche und 90

Diakone werden hier nicht eigens genannt. Sie sind der Zahl der „anderen Gläubigen“ zuzurechnen, weil sie gemäß c. 266 § 1 CIC zwar Kleriker, nicht aber Priester sind. 91

Einen interessanten Vergleich zwischen dieser Norm und der faktischen Zusammensetzung der Würzburger Synode bringt Althaus, Rezeption (Anm. 6), S. 161, Anm. 3. 92 93

Vgl. Althaus, Rezeption (Anm. 6), S. 160.

Im Vergleich zu c. 282 § 3 CIC/1917 kann jedoch festgestellt werden, dass der Kreis der Berater im geltenden Recht ausgeweitet wurde und nunmehr nicht nur Kleriker, sondern auch andere Gläubige, unter ihnen Vertreter von Ordensinstituten und Gesellschaften des apostolischen Lebens, und somit neben Männern auch Frauen umfassen kann.

Die Würzburger Synode – ein Maßstab für synodale Prozesse?

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ist allgemeiner gefasst als die Gesetzgebungskompetenz einer Bischofskonferenz, die eng an ausdrückliche gesetzliche Vorgaben oder an eine besondere Ermächtigung durch den Apostolischen Stuhl gebunden ist.94 Die Gesetzgebungskompetenz der Plenarkonzilien steht zum einen unter dem Vorbehalt des allgemeinen Rechts der Kirche im Sinne des c. 135 § 2 CIC, und zum anderen müssen die Befugnisse der einzelnen Diözesanbischöfe beachtet werden. Ein für den Erlass allgemeiner Dekrete durch das Plenarkonzil erforderliches Quorum wird in den einschlägigen Canones nicht festgelegt; gemäß der Regel des c. 19 CIC kommt daher die für die Bischofskonferenz festgelegte Regelung des c. 455 § 2 CIC zur Anwendung. Wie die allgemeinen Dekrete einer Bischofskonferenz bedürfen auch die von einem Plenarkonzil beschlossenen Dekrete der Überprüfung (recognitio), das heißt der Prüfung auf ihre Übereinstimmung mit dem übergeordneten Recht seitens des Apostolischen Stuhls; sie erlangen Rechtskraft durch die Promulgation, deren Art und Weise vom Plenarkonzil ebenso festgelegt wird wie der Zeitpunkt des Inkrafttretens der Dekrete.95 VI. Ergebnis und Ausblick Ein Jubiläum wie der 30. Jahrestag der Beendigung der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland lässt bei Einzelnen die Frage aufkommen, ob nicht eine neue Synode der Bistümer in ähnlicher Form wie die Würzburger Synode stattfinden sollte.96 Aus der vergleichenden Betrachtung der jeweils einschlägigen kodikarischen Normen des CIC/1917 und des CIC/1983, des diesbezüglichen allgemeinen Impulses des II. Vatikanischen Konzils sowie des Statuts der Gemeinsamen Synode lassen sich als Ergebnis und Ausblick zugleich die folgenden Aspekte festhalten: Das II. Vatikanische Konzil hat mit VatII CD 36,2 einen nur sehr allgemein gehaltenen Wunsch nach der Wiederbelebung des Synodalwesens in der lateinischen Kirche geäußert, der in der unmittelbaren nachkonziliaren Gesetzgebung keine weitere Normierung erfahren hat. Die Revision des Codex Iuris Canonici hat diesbezüglich insofern zu einer Weiterentwicklung geführt, als den Teilkirchen und ihrem Zusammenschluss in einer Bischofskonferenz eine stärkere Stellung eingeräumt wurde. Urheber und Herr eines Partikularkonzils ist nun nicht mehr ausschließlich der Papst, sondern die jeweilige Bischofskon-

94

Vgl. c. 455 § 1 CIC. Vgl. auch die Auflistung der entsprechenden Bereiche, für die eine Bischofskonferenz allgemeine Dekrete erlassen kann, bei Hallermann, Bischofskonferenz (Anm. 82), S. 278. 95

Vgl. c. 446 i.V.m. cc. 7 und 455 §§ 2 und 3 CIC.

96

Vgl. (amo/cst), Lehmann kann sich neue Synode vorstellen (Anm. 4).

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ferenz mit Approbation des Papstes. Als beratende Mitglieder des Partikularkonzils kommen nach der geltenden Rechtsordnung neben Klerikern auch Laien in Frage, allerdings ist die Gesamtzahl dieser beratenden Mitglieder sehr gering gehalten. Die Gemeinsame Synode und ihr Statut stellen weder eine Etappe noch einen Umkehrpunkt in dieser Linie der Rechtsentwicklung dar; die Synode steht vielmehr neben dieser Entwicklungslinie und hat, ad casum, einen eigenen Typ synodalen Geschehens ausgebildet. Insofern konnte die Würzburger Synode auch keine Maßstäblichkeit für künftige Synoden und Konzilien nach Maßgabe der nun geltenden allgemeinen Rechtsordnung ausbilden. VatII CD 36,2 und ebenso die cc. 439 – 446 CIC zielen vorrangig auf die kollegiale Ausübung des Bischofsamtes zum gemeinsamen Wohl mehrerer Teilkirchen ab.97 Nur in dieser Perspektive taucht in der Rechtsordnung, und das allenfalls am Rande, die Frage nach einer beratenden Unterstützung der Bischöfe durch einige Kleriker und Laien auf. In Reaktion auf die Forderungen nach einer Demokratisierung der Kirche und unter Betonung des gemeinsamen Priestertums aller Gläubigen war die Intention der Gemeinsamen Synode hingegen, wie beispielsweise der Beschluss der Deutschen Bischofskonferenz zur Einberufung der Synode zeigt, primär darauf ausgerichtet, eine Versammlung von Gläubigen zu ermöglichen, die durch ein ausgewogenes Verhältnis von Bischöfen, Priestern, Laien und Ordensleuten gekennzeichnet war.98 Auch wenn beide Aspekte, die Kirche als Communio hierarchica wie auch die Kirche als Communio fidelium, unverzichtbar zur theologischen Lehre von der Kirche als Communio gehören und zwei verschiedene Seiten ein und derselben Wirklichkeit abbilden,99 lassen sie sich unter den geltenden rechtlichen Vorgaben für die Feier eines Plenarkonzils doch nicht ohne weiteres versöhnen.100 Wenn für eine künftige synodenähnliche Versammlung aus Bischöfen, anderen Klerikern und Laien Verbindlichkeit der Beschlüsse im Sinne bindender

97

Vgl. in diesem Zusammenhang die Überschrift vor VatII CD 36: „De Episcopis in commune plurium Ecclesiarum bonum cooperantibus“. 98

Vgl. SYNODE 1-70-9. Zugleich wurde von der Bischofskonferenz mit der Gemeinsamen Synode eine Entlastung der Katholikentage angestrebt, damit diese sich wieder stärker ihrer eigentlichen Aufgabe widmen könnten, die gesellschaftliche Relevanz der Kirche deutlich zu machen. Vgl. SYNODE, 1-70-10. 99

Vgl. Ilona Riedel-Spangenberger, Die Communio als Strukturprinzip der katholischen Kirche und ihre Rezeption im CIC/1983: TThZ 97 (1988), S. 217 – 238; Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Communio, in: LKStKR 1, S. 355 – 357. 100

Diese Feststellung gilt im Übrigen auch für die Diözesansynode gemäß cc. 460 – 468 CIC, die Heinz, Wegweisung in die Zukunft (Anm. 5), S. 608 fälschlicherweise in Anspruch nehmen will.

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Gesetze einerseits und andererseits gleichberechtigtes Stimmrecht für alle Mitglieder gefordert wird,101 dann kann dieses Ziel unter Beachtung der für die Gesetzgebungskompetenz der Bischöfe allgemein geltenden Vorgaben nicht verwirklicht werden:102 Die Bischöfe empfangen durch die Bischofsweihe selbst die für ihr Amt erforderliche ungeteilte Vollmacht, die auch die Vollmacht zur Gesetzgebung einschließt.103 Unterhalb der höchsten Autorität der Kirche kann jedoch die gesetzgebende Vollmacht gemäß c. 135 § 2 CIC nicht gültig delegiert werden; diese allgemeine Norm, die etwa in c. 391 § 2 CIC auf den Diözesanbischof hin spezifiziert wird, gilt auch für das Plenarkonzil als Gesetzgeber. Dabei ist es jedoch nicht ausgeschlossen, dass der jeweilige Gesetzgeber den fachlichen Rat anderer Gläubiger im Sinne der Beratung in Anspruch nimmt. Die Beachtung der in c. 127 § 2, 2° CIC für die Beratung genannten Kriterien kann zwar nicht eine rechtliche Verbindlichkeit eines Beratungsergebnisses sicherstellen, jedoch kann dadurch verhindert werden, dass der Rat anderer in die Beliebigkeit und Unverbindlichkeit abgleitet oder aus nicht nachvollziehbaren Gründen keine Beachtung findet. Wenn man die Weisungen des II. Vatikanischen Konzils in VatII CD 36 – 38 über das Synodalwesen und über die Bischofskonferenzen und die daran anschließende Ausgestaltung in der Gesetzgebung einschließlich der darauf aufbauenden Praxis etwa in den deutschen Teilkirchen in Rechnung stellt, dann erhebt sich die Frage, ob beziehungsweise wo es neben der Bischofskonferenz noch einen originären Ort und Zuständigkeitsbereich für ein Plenarkonzil gemäß cc. 439 – 446 CIC geben kann. Angesichts der vielfältigen Beratungsorgane und Arbeitsstrukturen, die konkret mit der Deutschen Bischofskonferenz verbunden sind, wie z. B. Kommissionen, Konferenzen, ständige und nicht ständige Arbeitsgruppen usw., wird nicht erkennbar, welchen ekklesiologischen und rechtlichen „Mehrwert“ ein Plenarkonzil gegenüber der Bischofskonferenz tatsächlich haben könnte. Wenn jedoch nicht die kollegiale Ausübung des Bischofsamtes zum gemeinsamen Wohl mehrerer Teilkirchen im Vordergrund des Interesses stehen soll, 101

Vgl. etwa Renzikowski, Die Würzburger Synode ist in die Jahre gekommen (Anm. 2), sowie (amo/cst), Lehmann kann sich neue Synode vorstellen (Anm. 4). 102 Dies ist kein Rückschritt gegenüber der Würzburger Synode, denn bei nüchterner Betrachtung des Statuts wird auch dort ersichtlich, dass man eben nicht von einer gemeinsam ausgeübten Gesetzgebung durch die Synode und von einer diesbezüglichen Integration der Bischofskonferenz in die Synode sprechen kann. Vgl. Althaus, Rezeption (Anm. 6), S. 124: „Die Bischofskonferenz stimmte also zunächst den Entwürfen zu, die anschließend die gesamte Synode verabschiedete.“ 103

Vgl. VatII LG 21,2 i.V.m. NEP 2, 2; cc. 129 § 1, 375 und 381 § 1 CIC. Vgl. auch Lothar Wächter, Art. Gesetzgebung, II. Kath., in: LKStKR 2, 2002, S. 121 – 123.

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sondern im Sinne der Gemeinsamen Synode die im gemeinsamen Priestertum der Gläubigen gründende Mitverantwortung aller Getauften für die Verwirklichung der Sendung der Kirche,104 dann könnte sich die Frage erheben, ob nicht, ad tempus oder auch als eine dauernde Einrichtung, ein dem diözesanen Pastoralrat gemäß cc. 511 – 514 CIC105 ähnlicher Pastoralrat auf der Ebene der Bischofskonferenz einen Lösungsweg eröffnen könnte.106 Pastoralräte sind als fakultative, verfassungsrechtlich verankerte Beratungsorgane der zuständigen Hirten sowohl auf der Ebene der Pfarrei gemäß c. 536 CIC als auch auf der Ebene der Diözese gemäß cc. 511 – 514 CIC vorgesehen. Sie verdanken Ihre rechtliche Existenz der Empfehlung des II. Vatikanischen Konzils in VatII LG 37 und stellen gegenüber der zur Zeit der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechtsordnung eine wirkliche Neuerung dar, die sich jedoch angesichts der überkommenen und von der Würzburger Synode bestätigten Rätestruktur107 bislang kaum in der beabsichtigten Form entfalten konnte.

104

Vgl. cc. 96, 204 § 1, 208, 210, 212 § 3, 228 § 2 usw. CIC. Vgl. auch Ilona RiedelSpangenberger, Art. Gemeinsames Priestertum, II. Kath., in: LKStKR 2, 2002, S. 44 – 45. 105

Vgl. Norbert Witsch, Art. Diözesanpastoralrat, in: LKStKR 1, 2000, S. 447 – 449.

106

Von seiner Genese und Verfassung sowie von seinem Selbstverständnis und seiner primären Zielsetzung her kann das Zentralkomitee der deutschen Katholiken die Funktion eines Pastoralrates auf Ebene der Deutschen Bischofskonferenz nicht erfüllen. Ebenso wenig kann die so genannte „Gemeinsame Konferenz“ (vgl. Althaus, Rezeption [Anm. 6], S. 158 mit Anm. 3 f.) die Funktion eines solchen Pastoralrates erfüllen. 107

Vgl. Norbert Witsch, Art. Räte, in: LKStKR 3, 2004, S. 329 – 331.

Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ – eine Territorialprälatur? Von Peter Stockmann In Jerusalem, nahe des westlichsten Eckpunktes der Altstadtmauer und nördlich, direkt vis-à-vis deren Neuen Tores liegt an der Paratrooper’s Road das offiziell so genannte Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“. Der Annuario Pontificio verzeichnet es gegenwärtig weit hinten, nämlich in der Rubrik Istituzioni culturali nach dem Istituto per le Opere di Religione und vor der Fondazione Pio XII per l’Apostolato dei Laici.1 In den diesbezüglichen Note storiche heißt es: „I Padri Agostiniani dell’Assunzione di Francia (Assunzionisti) iniziarono nel 1884 la costruzione del Centro ,Notre Dame de France‘, con lo scopo di favorire ed aiutare i pellegrinaggi francesi in Terra Santa. Paolo VI nel 1973 ne decise il restauro e la trasformazione in Centro Internazionale della Santa Sede in favore dei pellegrini nei ,Luoghi Santi‘, ampliandone le finalità con la creazione di sezioni: culturale e di promozione professionale. Giovanni Paolo II ha eretto canonicamente il Centro in Pontificio Istituto con il nome di ,Notre Dame of Jerusalem Center‘, in data 13 dic. 1978. Gli Statuti sono stati approvati il 2 febb. 1981. Il ,Notre Dame of Jerusalem Center‘ è da considerarsi un Luogo Santo Ecumenico; esso è esente e la giurisdizione spirituale nel Centro viene esercitata dal Delegato Apostolico in Gerusalemme, che ha come Vicario Generale l’Incaricato della Santa 2 Sede.“

Vor dem Hintergrund sowohl der erwähnten derzeitigen Einordnung als auch der zitierten historischen Anmerkungen im Annuario Pontificio ist es umso erstaunlicher, dass der Kanonist Oskar Stoffel das Pontificium Institutum

1 Vgl. AnPont 2005, S. 1811. Der Verfasser dankt Offizial Domkapitular Msgr. Dr. Stefan Killermann (Eichstätt) und Professor Dr.Dr. Helmuth Pree (München) für ihre Unterstützung. 2

AnPont 2005, S. 1913.

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Peter Stockmann

„Notre Dame of Jerusalem Center“ als Gebietsprälatur „neueren Datums“3 qualifiziert hat. Im Folgenden ist zuerst aus kirchenrechtlicher Perspektive die geschichtliche Genese und die gegenwärtige Gestalt dieses Päpstlichen Instituts zu skizzieren, ehe eine Antwort auf die erkenntnisleitende und in der einschlägigen Literatur bisher offenbar noch nicht eingehender behandelte Frage gesucht werden soll, ob das Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ eine gefreite Prälatur (praelatura nullius) gemäß c. 319 § 14 CIC/1917 bzw. Territorialprälatur (praelatura territorialis) gemäß c. 3705 CIC/1983 ist oder nicht. I. Geschichtliche Genese6 Mit dem Segen Papst Leos XIII. (1810 – 1903; Pontifikat: 1878 – 1903) führten französische Assumptionisten7, namentlich zunächst der Generalobere Pater François Picard (1831 – 1903), nachfolgend Pater Vincent de Paul Bailly (1832 – 1912), in den Jahren 1882, 1883 und 1884 die ersten drei großen so genannten Bußwallfahrten – „mit denen das katholische Frankreich die Sünden, die zur Niederlage von 1871 geführt hatten, sühnen wollte“8 – von jeweils mehreren hundert Pilgern aus Frankreich zu den Heiligen Stätten in Palästina. Aber

3

Oskar Stoffel, Art. Praelatura territorialis (P.) und Abbatia territorialis (A.), in: Lexikon des Kirchenrechts. Hrsg. von Stephan Haering / Heribert Schmitz (= Lexikon für Theologie und Kirche kompakt), Freiburg / Basel / Wien 2004, Sp. 774 – 775, hier Sp. 775 (= Oskar Stoffel, Art. Praelatura territorialis [P. t.] u. Abbatia territorialis [A. t.], in: LThK3 8, 1999, Sp. 483 – 484, hier Sp. 483). 4

C. 319 § 1 CIC/1917: „Praelati qui praesunt territorio proprio, separato ab omni dioecesi, cum clero et populo, dicuntur Abbates vel Praelati nullius nempe dioecesis, prout eorum ecclesia dignitate abbatiali vel simpliciter praelatitia gaudet.“ 5

C. 370 CIC/1983: „Praelatura territorialis aut abbatia territorialis est certa populi Dei portio, territorialiter quidem circumscripta, cuius cura, specialia ob adiuncta, committitur alicui Praelato aut Abbati, qui eam, ad instar Episcopi dioecesani, tamquam proprius eius pastor regat.“ 6

Literatur siehe Literatur am Ende des Beitrages.

7

Zu den Assumptionisten vgl. Karl Suso Frank, Art. Assumptionisten, in: LThK3 1, 1993, Sp. 1092; Raymond Janin, Art. Assumptionisten, in: LThK 1, 1930, Sp. 731 f.; Raymond Janin, Art. Assumptionisten, in: LThK2 1, 1957, Sp. 947; M. Lombard, Art. Assomptionnistes, in: DHGE 4, 1930, Sp. 1136 – 1142; Monval, Assomptionnistes (s. Anhang); Religieux (s. Anhang); Pierre Touveneraud, Art. Agostiniani dell’Assunzione, Assunzionisti, in: DIP 1, 1974, Sp. 381 – 387. 8

Friedrich Heyer, Art. Jerusalem V. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, in: TRE 16, 1987, S. 624 – 635, hier S. 632. Vgl. Soetens, Congrès (s. Anhang), S. 163, 165 und 169.

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in Jerusalem gab es damals keine Gemeinschaftsunterkunft für solche vielköpfigen Pilgergruppen. So wurde 1884 in Frankreich mit der systematischen Sammlung von Spenden für das vom Lateinischen Patriarchat9 und von der franziskanischen Kustodie10 des Heiligen Landes approbierte Projekt des Erwerbs eines Grundstückes und des Baus eines Pilgerhospizes begonnen. 1885 gelang der Kauf eines geeigneten Areals (das 1890 um eine Fläche von 5.000 Quadratmeter erweitert werden konnte). Am 10. Juni 1886 erfolgte die Grundsteinlegung für die Pilgerherberge, welche auf Vorschlag des im Dienst des Lateinischen Patriarchats stehenden Monsignore Louis Victor Poyet (1815 – 1893) den Namen Notre-Dame de France erhielt. Die feierliche Benediktion der hauseigenen Notre-Dame-de-l’Assomption-Kapelle – deren Grundstein am 22. Mai 189311 der päpstliche Legat für den Vorsitz beim Internationalen Eucharistischen Kongress 1893 in Jerusalem, der Reimser Erzbischof BenoîtMarie Kardinal Langénieux (1824 – 1905), gelegt hatte – fand am 21. November 1894 statt. 1896 waren die monumentale E-förmige, viergeschossige, nach Plänen des Architekten Abbé Pierre-Paul Brisacier (1831 – 1923) entstandene Anlage im Großen und Ganzen fertig gestellt,12 1899 auch die Sacré-Cœur-

9 Zum Lateinischen Patriarchat von Jerusalem vgl. AnPont 2005, S. 1820 f.; Roger Aubert, Art. Jérusalem II. Le diocèse II. Le patriarcat latin, in: DHGE 27, 2000, Sp. 1124 – 1130; Pierre Médebielle, Das Lateinische Patriarchat von Jerusalem, Jerusalem 1962; Pierre Médebielle, Noch einmal etwas über das Lateinische Patriarchat von Jerusalem, Jerusalem 1962; Pierre Médebielle, Le diocèse patriarcal latin de Jérusalem, Jérusalem 1963. 10

Zur Kustodie des Heiligen Landes vgl. AnPont 2005, S. 1827 f.; Caecilianus Brlek, De Custode Terrae Sanctae in legislatione Ordinis Fratrum Minorum (Studium historico-iuridicum), Hierosolymis 1958; Patrocinio García Barriuso, Art. Jérusalem I. Ville IV. La Custodie franciscaine, in: DHGE 27, 2000, Sp. 1106 – 1110; Andrea Giovannelli, La Santa Sede e la Palestina. La Custodia di Terra Santa tra la fine dell’impero ottomano e la guerra dei sei giorni (= Religione e Società. Storia della Chiesa e dei movimenti cattolici 35), Roma 2000; Francesco Lozupone, Sulla natura della Custodia e dei Commissariati di Terra Santa, in: DirEccl 106 (1995), S. 1048 – 1058. Vgl. auch Pieraccini, Gerusalemme (s. Anhang), S. 168: „Oltre a una diminuzione di prestigio, questa operazione aveva dei risvolti economici di non poco conto, dato che le elemosine dei pellegrini francesi sarebbero definitivamente sfuggite alla Custodia.“ 11

Eine Photographie aus dem Jahre 1893, auf der auch das Hospiz Notre-Dame de France abgebildet ist, findet sich in: Pieraccini, Cattolici (s. Anhang), S. 133. 12

Vgl. Soetens, Congrès (s. Anhang), S. 168, Anm. 1: „Dans leur enthousiasme, les assomptionistes voyaient déjà en Notre-Dame de France, une résidence pour le pape dans le cas où celui-ci eût été obligé de quitter Rome.“

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Kapelle und die zwei oktogonalen Türme vollendet.13 Am 19. Mai 1901 wurden vier Turmglocken aufgehängt und 1904 die sechs Meter hohe Statue der Gottesmutter Maria mit dem segnenden Christuskind zwischen den beiden Türmen aufgestellt. Der türkische Sultan verlieh der Pilgerunterkunft NotreDame de France – übrigens das erste elektrifizierte Gebäude Jerusalems – nach entsprechenden Bemühungen französischer Diplomaten die offizielle Existenzberechtigung14 und weitreichende Privilegien15. In Notre-Dame de France entfaltete der dort16 seit 1887 niedergelassene Konvent der Assumptionisten ein vielfältiges Wirken: Eine Bibliothek und ein archäologisches Museum wurden geschaffen, verschiedene publizistische Unternehmungen gestartet und 1891 ein (bis 1904 bestehendes) Studienhaus mit Bibelschule für rund dreißig junge Assumptionisten eröffnet. Die Hauptsorge galt jedoch einer umfassenden Betreuung der zahlreichen zumeist französischen, aber auch aus anderen Ländern anreisenden Pilger – von denen in ungefähr 450 Zimmern bis zu 500 Personen beherbergt werden konnten – durch Gottesdienste, Seelsorge, Vorträge, Führungen, Exkursionen und sonstige Dienstleistungen. Nicht die anno 1900 in Frankreich von staatlicher Seite verfügte Auflösung der Kongregation der Assumptionisten, sondern der 1. Weltkrieg, dessen Ausbruch die geplante 48. Bußwallfahrt französischer Katholiken nach Jerusalem verhinderte, brachte die Pilgerströme zum Versiegen. Zudem mussten nach Kriegsbeginn Assumptionisten französischer Nationalität Palästina verlassen, da das Osmanische und das Deutsche Reich Verbündete waren, und nur ein deutscher Assumptionist durfte in Notre-Dame de France bleiben, um

13

Vgl. Soetens, Congrès (s. Anhang), S. 168: „Ainsi, quelques années avaient suffi pour que les pèlerins, français pour la plupart, se trouvent un ,chez soi‘, une ,auberge de France‘ qui ,assure aux pèlerinages leur indépendance‘ et qui soit surtout un monument national, la Maison de la France; elle porte, d’un bout de l’année à l’autre, bien haut et bien en vue, le pavillon aux trois couleurs, pour dire aux amis: ,La France est là, comptez sur elle!‘ et aux ennemis: ,La France est là, comptez avec elle!‘“ 14 Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 29 und 37; Soetens, Congrès (s. Anhang), S. 168 Anm. 1: „En 1890, un premier iradé du sultan … reconnut la propriété de la maison au P. Vincent de Paul; un second acte officiel la transféra à la congrégation, en 1907.“ 15

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 29: „dispense des droits de douane, de tous impôts fonciers et personnels, diverses autres indemnités, droit enfin, tant désiré, à l’église publique, autrement dit, droit à la chapelle de l’édifice“. 16

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 32: „Non loin enfin, séparée cependant de l’hôtellerie, prend place la Maison Sainte-Monique où se retire la communauté conventuelle, les jours de grande affluence, de manière à laisser aux hôtes toute la place à l’hôtellerie.“

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in den Kapellen und dem Museum nach dem Rechten zu sehen. In das Haus zogen während des Krieges türkische Militärdienststellen und -stäbe ein. Erst 1922 – Palästina stand mittlerweile unter britischer Mandatsherrschaft – war es möglich, den Pilgerbetrieb wieder vollständig aufzunehmen und somit erneut Bußwallfahrer und andere Pilger unterzubringen. Im 2. Weltkrieg belegte die Royal Air Force das Gebäude. Im Anschluss an das Ende der britischen Mandatszeit und die Proklamation des Staates Israel am 14. Mai 1948 begann der erste arabisch-israelische Krieg 1948/49, in dessen Verlauf das Bauwerk heftig umkämpft, schwer beschädigt und am 17./18. Mai 1948 von israelischen Truppen erobert wurde. Auch wenn am 15. August 1950 in Notre-Dame de France die erste Heilige Messe nach Beendigung der Kampfhandlungen gefeiert werden konnte, war an eine ungestörte Beherbergung und reibungslose Betreuung der ohnehin zahlenmäßig weniger gewordenen Pilger nicht zu denken, da der Komplex nun zum Teil von Flüchtlingen bewohnt, an der Demarkationslinie zwischen israelischem und jordanischem Sektor gelegen und von der israelischen Armee als Beobachtungsposten genutzt war. Im Sechs-Tage-Krieg von 1967 hatte Notre-Dame de France neuerliche Schäden zu erleiden. Trotz israelischer Entschädigungsleistungen ließen die zu erwartenden hohen Reparaturund Renovierungskosten sowie das verlustreich gewordene Pilgergeschäft die Assumptionisten Anfang der 1970er Jahre einen Plan fassen, der dann die so genannte Notre-Dame-de-France-Affäre auslösen sollte: Nachdem das ursprüngliche Vorhaben, die Immobilie an eine andere Ordensgemeinschaft zu veräußern, gescheitert war, fiel die Entscheidung,17 das Objekt der Hebräischen Universität Jerusalem, welche die Räumlichkeiten sanieren und zu einem Wohnheim für etwa 300 Studierende machen wollte, zu verkaufen. So kam es am 16. Oktober 1970 im israelischen Konsulat in New York zum Abschluss eines Kaufvertrages zwischen der Kongregation der Assumptionisten als Verkäufer und der Immobiliengesellschaft Ha’amuta – einer hierbei im Namen und für Rechnung der Hebräischen Universität Jerusalem tätigen Unterorganisation des Jewish National Fund – als Käufer, durch den Notre-Dame de France für den Kaufpreis von 600.000 Dollar den Eigentümer wechselte. Als die Transaktion zwei Wochen später bekannt wurde, brandete eine Welle von massiven arabischen Protesten auf, die von der Sorge bestimmt

17

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 82: „Du côté des assomptionnistes, on fait valoir qu’après de multiples démarches auprès de toutes les autorités ecclésiastiques, il a fallu constater qu’aucune aide n’était possible; que la congrégation était dans l’impossibilité d’entreprendre la reconstruction et de supporter la charge des procédures nécessaires pour libérer les locaux loués. D’autre part, une fois le bâtiment reconstruit et libéré, se serait posé le problème de son utilisation, et, là non plus, on ne voyait s’ouvrir aucune perspective.“

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waren, die katholische Kirche zöge sich aus Jerusalem zurück, indem sie einen Ausverkauf ihrer Güter betriebe.18 Daraufhin sah der Heilige Stuhl sich zum Eingreifen veranlasst, zumal die Assumptionisten es entgegen der entsprechenden Bestimmung des kanonischen Rechts (vgl. c. 534 § 119 CIC/1917) unterlassen hatten, die für eine derartige Veräußerung – welche den als so genannte Romgrenze festgelegten Betrag von 50.000 Dollar überschritt – als Gültigkeitsvoraussetzung erforderliche Genehmigung20 des Heiligen Stuhls einzuholen. „De plus, les statuts diocésains de Jérusalem stipulent que les propriétés ecclésiastiques des communautés religieuses en Terre Sainte ne peuvent être vendues en dehors de l’Eglise.“21 Im Dezember 1970 erhob der Heilige Stuhl über die Apostolische Delegation in Jerusalem und Palästina unter Verweis auf das zivile22, vor allem aber auf das kanonische Recht23 bei einem israelischen Ge-

18

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 87: „L’élément décisif en cette affaire fut cependant la vague de protestations qui se sont élevées dans la population arabe accusant l’Église et la France de ,céder leurs biens aux juifs‘ et d’abandonner les Arabes.“ Vgl. auch Montoisy, Vatican (s. Anhang), S. 92. 19

C. 534 § 1 CIC/1917: „Firmo praescripto can. 1531, si agatur de alienandis rebus pretiosis aliisve bonis quorum valor superet summam triginta millium francorum seu libellarum, vel de contrahendis debitis et obligationibus ultra indicatam summam, contractus vi caret, nisi beneplacitum apostolicum antecesserit; secus, requiritur et sufficit licentia, in scriptis data, Superioris ad normam constitutionum cum consensu sui Capituli seu Consilii per secreta suffragia manifestato; sed si agatur de monialibus aut sororibus iuris dioecesani, accedat necesse est consensus, in scriptis praestitus, Ordinarii loci, necnon Superioris regularis, si monialium monasterium eidem subiectum sit.“ 20 Von einer angeblichen Genehmigung durch die Kongregation für die Ostkirchen weiß Hieronymus, Vatikan (s. Anhang), S. 211 f. Vgl. Affaire (s. Anhang), S. 76: „Bien des choses restent assez mystérieuses dans cette vente. En tout état de cause il semble clair que, tout en faisant quelques démarches à Rome auprès de la Congrégation orientale et de la Secrétairerie d’État du Vatican, les Pères Assomptionnistes n’ont pas obtenu l’autorisation en bonne et due forme, nécessaire, d’après les normes du droit canonique, pour l’aliénation d’un bien immeuble d’une telle importance.“ 21

Montoisy, Vatican (s. Anhang), S. 92. Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 87.

22

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 81: „La vente, a argué la Délégation, n’avait pas de validité, n’ayant pas été enregistrée sur la base du cadastre de Jérusalem.“ 23

Der Kaufvertrag wäre gemäß c. 534 § 1 CIC/1917 ungültig,

„– parce que le Saint-Siège est le supérieur suprême des ordres et des congrégations religieuses (et donc aussi des assomptionnistes) (Cf. can. 499); – parce que la congrégation des assomptionnistes n’est qu’une personne morale subordonnée à la personne morale de l’Eglise dont elle fait partie intégrante (Cf. can. 100 et 536);

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richt Klage auf Annullierung des Kaufvertrages.24 Nach einer Zusammenkunft zwischen dem Apostolischen Delegaten in Jerusalem und Palästina, Titularerzbischof Pio Laghi (∗ 1922), und der israelischen Premierministerin Golda Meïr (1898 – 1978) sowie einem Treffen zwischen dem Substituten des Staatssekretariats, Titularerzbischof Giovanni Benelli (1921 – 1982), und dem israelischen Justizminister Yaakov Shimshon Shapira im Januar 1972 in Jerusalem zeichnete sich eine außergerichtliche25 Lösung – an deren Zustandekommen auch der Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek26 (∗ 1911), dessen Stellvertreter André Chouraqui27 (∗ 1917) und andere28 beteiligt waren – ab, weil der israelischen – parce que le Saint-Siège est la personne juridique qui dispose définitivement des biens d’une congrégation religieuse (Cf. can. 493, 1501); – parce que le Saint-Siège et le Pontife romain sont ,l’administrateur et le dispensateur suprême de tous les biens ecclésiastiques‘ (can. 1518) et les biens appartenant à une congrégation religieuse sont des biens ecclésiastiques (can. 1497); – enfin parce que le Pontife romain est l’autorité suprême dans l’Église catholique“ (Chalendard, Jérusalem [s. Anhang], S. 82 f.). 24

Vgl. Montoisy, Vatican (s. Anhang), S. 92: „Le représentant du Saint-Siège, qui ne reconnaît pas Israël, demandait à un tribunal israélien de juger un différend portant sur des biens ecclésiastiques, la cause étant jugée selon le droit canon!… Pour corser encore l’humour de l’affaire, le tribunal siégeait dans la partie arabe de la ville alors que le Vatican n’avait pas reconnu l’unification de Jérusalem. … Quoi qu’il en soit de ce dénouement qui demanderait plus de commentaires, l’élément important de toute cette affaire est que l’autorité israélienne a été considérée par le Vatican sinon comme un interlocuteur reconnu, du moins comme un interlocuteur ,de fait‘.“ Vgl. auch Affaire (s. Anhang), S. 76: „Le tribunal de district de Jérusalem a consacré de nombreuses séances au débat et ce fut un plaisir, pour les ecclésiastiques qui sont venus nombreux assister aux séances, de voir avocats et témoins s’opposer différents textes du droit canonique, dûment traduits en hébreu, et discutant telle ou telle subtilité, rappelant plus une exercitatio dans une faculté de droit canonique qu’un débat devant un tribunal civil, et qui plus est, israélien.“ 25 Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 85: „En effet, la législation israélienne reconnaît l’autorité du droit canon et la compétence des tribunaux ecclésiastiques en ce qui concerne le statut des personnes, mais non en ce qui concerne le statut des biens mobiliers ou immobiliers.“ 26

Vgl. Pieraccini, Gerusalemme (s. Anhang), S. 614: „La questione venne poi risolta con la mediazione del sindaco di Gerusalemme, Teddy Kollek (1965 – 1993), il quale fece in modo che la Santa Sede potesse entrare direttamente in possesso del prezioso immobile.“ 27

Vgl. Chouraqui, Reconnaissance (s. Anhang), S. 222: „Après d’inévitables négociations, je fus chargé, en ma qualité de vice-maire de Jérusalem, de transmettre un accord de principe à Mgr Benelli, en charge de la secrétairerie d’Etat. Il en fut bien aise et fit même un voyage à Jérusalem du 13 au 16 janvier 1972, pour nous exprimer sa gratitude.“ Vgl.

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Regierung daran gelegen war, ihren guten Willen und ihren Wunsch nach guten Beziehungen zum Heiligen Stuhl zu demonstrieren. Die Hebräische Universität Jerusalem verzichtete dann auf politische Einflussnahme hin auf ihre Ansprüche; der Heilige Stuhl ließ das laufende Gerichtsverfahren beenden und trat in die Rechtsnachfolge der Assumptionisten als den einstigen Eigentümern von Notre-Dame de France ein. Am 2. März 1972 wurde schließlich eine gütliche Einigung erzielt, die dem Rechtsstreit ein Ende bereitete. Die getroffene Vereinbarung29 sah vor, dass der Heilige Stuhl 960.000 Dollar30 an die Hebräische Universität Jerusalem zahlte, um die Immobilie sein Eigen nennen und wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung zuführen zu können. Nach Angabe des Annuario Pontificio traf Papst Paul VI. (1897 – 1978; Pontifikat: 1963 – 1978) 1973 die Entscheidung, den Bau instand zu setzen und ein erweitertes Nutzungskonzept zu entwickeln.31 In der Adhortatio Apostolica „Nobis in animo“ vom 25. März 1974 an den Episkopat, den Klerus und die Gläubigen der ganzen Welt über die erhöhte Notlage der Kirche im Heiligen Land machte der Papst seinen Entschluss publik: „Im Laufe der Jahrhunderte war der Zustrom der Pilger von den wechselnden geschichtlichen Ereignissen abhängig: es gab Zeiten der Blüte und andere, die weniger erfreulich waren. Seit dem letzten Jahrhundert kann man ein stetiges Anwachsen der Pilger feststellen, ermöglicht durch die modernen Verkehrsmittel und gefördert durch ein lebendigeres Glaubensbewußtsein.

auch http://www.andrechouraqui.com/biog/bio2.htm: „Juin [1971; Anm. d. Verf.]: Les relations entre Israël et le Vatican sont tendues. Le Pape a écrit une lettre inquiète au Président de l’Etat d’Israël, avant Pâques, lettre demeurée sans réponse pendant plusieurs mois. [André Chouraqui; Anm. d. Verf.] A le privilège d’annoncer au Secrétaire d’Etat qu’Israël renonce aux droits qu’il s’était acquis sur Notre Dame de France, restituée au Vatican. Le lieu prendra, avec son statut le nom de Notre Dame de Jérusalem. Dans ce contexte, les 3 et 4 juin [1971; Anm. d. Verf.], à Rome, André Chouraqui a des audiences avec le Secrétaire d’Etat Mgr. Villot, son substitut, Mgr. Benelli, Mgr. Gaspari, Mgr. Maximilien de Furstemberg et le président Véronèse. Ses entretiens avec Mgr. Benelli sont décisifs pour faciliter la solution de la crise.“ 28

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 85 f.

29

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 85: „Il ne s’agit donc pas d’une nouvelle vente, mais simplement de la résiliation du contrat contesté par le Saint-Siège.“ 30

Die Differenz von 360.000 Dollar zum Kaufpreis von 1970 wurde „mit Zinsen, Inflationsausgleich und der Entschädigung bereits dort wohnender Studenten der Hebräischen Universität“ (Koltermann, Päpste [s. Anhang], S. 179 Anm. 164) erklärt. 31

Eine Photographie aus dieser Zeit mit der Bildunterschrift „L’aile endomagée de l’hôtellerie Notre-Dame (ex N.-D. de France) à Jérusalem, vue de la Porte neuve“ findet sich auf der Titelseite von: La Documentation Catholique 71 (1974), S. VIII.

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Weiter ist erwähnenswert, daß während des Zweiten Vatikanischen Konzils zahlreiche Konzilsväter eine Wallfahrt zu den Heiligen Stätten machten, und es ist ermutigend, zu sehen, wie viele Priester und Ordensleute anläßlich ihrer heiligen Weihe oder bei besonderen Anlässen zu Einkehrtagen in Jerusalem weilen. Gern hätten Wir, daß solche Besuche und Aufenthalte im Heiligen Land noch zahlreicher wären. Zu diesem Zweck haben Wir Anweisung gegeben, daß das Pilgerheim ,Notre Dame‘ in Jerusalem wieder geöffnet werde und auch Gruppen von Priestern aufnehme. Diese Pilgerfahrten haben die Begegnung mit Völkern verschiedener Glaubensbekenntnisse begünstigt, da nach jenem gesegneten Land, im besonderen nach Jerusalem, nicht nur die christlichen Gemeinschaften, die nichtkatholischen miteingeschlossen, sondern überdies die hebräischen und islamischen als ihrem geistlichen Zentrum blicken und dorthin zusammenströmen. Es ist Unser lebhafter Wunsch, daß diese Kontakte sich verstärken und beitragen – so denken und wünschen Wir – zu gegenseitigem Verstehen, zu wechselseitiger Wertschätzung, zur Annäherung der Mitmenschen, die Kinder des gleichen Vaters sind, und zu einem tieferen Verständnis des elementaren Bedürfnisses nach Frieden unter den Völkern.“32

Das Projekt Notre-Dame in Jerusalem war die letzte der nachhaltigen Initiativen33 von Papst Paul VI. für die Christen im Heiligen Land, die er nach seiner vielbeachteten Pilgerreise zu den Heiligen Stätten im Jahr 1964 ergriffen hatte. Die nicht zuletzt von zahlreichen Spendern – besonders aus den Vereinigten Staaten von Amerika – finanziell ermöglichten Renovierungs- und Umbaumaßnahmen dauerten von 1973 bis 1978 (in einzelnen Bereichen sogar bis 1983) und wurden von dem amerikanischen Architekten Frank Montana (1912 – 2001) zusammen mit dem einheimischen Ingenieur Josef Khoury geleitet; als Abgesandter des Heiligen Stuhles trug vor Ort erst der österreichische Monsignore Franz Wasner (1905 – 1992), seit 1977 der deutsche Priester Richard Mathes (1940 – 2005) Verantwortung für den Fortgang der Arbeiten. Am 2. Februar 1978 konnte der Substitut des Staatssekretariats, Titularerzbischof Giuseppe Caprio (1914 – 2005), im Namen von Papst Paul VI. bereits einen Teil des provisorisch eröffneten Pilgerhospizes benedizieren. Der Erzbischof von New York, Terence J. Kardinal Cooke (1921 – 1983), nahm dann am 27. Dezember

32 Das Heilige Land 106 (1974), II/S. 17 – 25, hier S. 22. Vgl. Papst Paul VI., Wort und Weisung im Jahr 1974, Città del Vaticano 1975, S. 484 – 493, hier S. 489. Vgl. auch AAS 66 (1974), S. 177 – 188, hier S. 182 f. 33 Vgl. Ökumenisches Institut Tantur, Hospiz „Maison d’Abraham“ in Jerusalem, Institut Paul VI. „Ephpheta“ für gehörlose Kinder in Bethlehem, Universität Bethlehem und arabische Wohnungsbaugesellschaft „Heiliges Land“ in Beit Hanina. Vgl. auch Annuaire de l’Église catholique en Terre Sainte, Jérusalem 1985, S. 10; Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 92 f.

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1978 die Benediktion der renovierten, nun interrituellen Kapelle sowie die Altarweihe vor; bei diesem Anlass verlas er in Gegenwart der katholischen Würdenträger Jerusalems auch das Dekret Papst Johannes Pauls II. (1920 – 2005; Pontifikat: 1978 – 2005) vom 13. Dezember 1978, mit dem dieser das Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ errichtet hatte.34 II. Gegenwärtige Gestalt35 1. Errichtungsdekret Das nicht in den Acta Apostolicae Sedis publizierte Errichtungsdekret des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ vom 13. Dezember 1978 hat folgenden Wortlaut: „Decree of Erection for Notre Dame of Jerusalem Center Considering that the Popes have always had a special interest in the Holy Land; Noting the initiatives of our predecessor Pope Paul VI; Guided by the spirit of his Apostolic Exhortation on the Holy Land Nobis in Animo of 25 March 1974; We hereby erect Notre Dame of Jerusalem Center as a Pontifical Institute in accordance with Latin Canon Law. We create it as a legal entity with full capacity to deal, to proceed and to act as a legal person. 1. The aims of the Pontifical Institute, Notre Dame of Jerusalem Center‘ are of a religious, cultural and educational nature. The Center, which will be divided into different sections (such as a guesthouse for religious and pilgrims, a center for artistic and pro-

34 35

Eine Photographie dieses Aktes findet sich in: Das Heilige Land 111 (1979), I/S. 16.

Vgl. AnPont 1981, S. 1466; AnPont 1982, S. 1487 und 1570; AnPont 1983, S. 1154, 1507 und 1593 f.; AnPont 1984, S. 1151, 1509 und 1597 f.; AnPont 1985, S. 1155, 1517 und 1604 f.; AnPont 1986, S. 1178, 1544 und 1633 f.; AnPont 1987, S. 1176, 1544 und 1634 f.; AnPont 1988, S. 1183, 1555 und 1646 f.; AnPont 1989, S. 1223, 1593 und 1691 f.; AnPont 1990, S. 1245, 1621 und 1718 f.; AnPont 1991, S. 1272, 1660 und 1759 f.; AnPont 1992, S. 1286, 1682 und 1783; AnPont 1993, S. 1305, 1701 und 1801 f.; AnPont 1994, S. 1302, 1700 und 1802 f.; AnPont 1995, S. 1300 f., 1707 und 1813 f.; AnPont 1996, S. 1322, 1769 und 1881 f.; AnPont 1997, S. 1326, 1792 und 1902 f.; AnPont 1998, S. 1338, 1810 und 1923; AnPont 1999, S. 1337, 1820 und 1932; AnPont 2000, S. 1407, 1912 und 2027; AnPont 2001, S. 1141, 1567 und 1661; AnPont 2002, S. 1140, 1572 und 1665; AnPont 2003, S. 1223 f., 1674 und 1771 f.; AnPont 2004, S. 1226 f., 1682 und 1782; AnPont 2005, S. 1316, 1811 und 1913.

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fessional promotion, a center for religious and cultural animation, etc), is situated on our own property in Jerusalem, known as Notre Dame, opposite New Gate. 2. Notre Dame of Jerusalem Center depends directly on the Holy See and will therefore be directed and represented as an institution in every respect and regard exclusively by a special Chargé of the Holy See. Notre Dame of Jerusalem Center, being a body with religious and cultural aims, the Chargé of the Holy See is to be considered as a Cultural Attaché of the Apostolic Delegation. The Chargé may from time to time delegate powers to third parties and revoke such delegation. 3. The Chargé of the Holy See will be advised by a local committee, the members of which will be taken from the Christian communities in Jerusalem and appointed by the Apostolic Delegate in Jerusalem. 4. Notre Dame of Jerusalem Center is to be considered an Ecumenical Holy Place; therefore it is exempted like a ,praelatura nullius‘. The spiritual jurisdiction will be exercised by the Apostolic Delegate as the ,praelatus‘, who has as his Vicar General the Chargé of the Holy See. We dedicate this Center to our Lady of Jerusalem, Regina Pacis, and offer it to the world as a place of fruitful spiritual development. From the Vatican, 13 December 1978. Joannes Paulus PP. II“36

Inhaltlich behandelt dieses vom Papst unterzeichnete Dekret nach einer Präambel und vor einer Weiheformel mit Widmungsadresse folgende Punkte: Name, Rechtsform, Zwecke, Betriebe, Sitz, Leitung, Beratungsgremium und Rechtsstellung des Notre Dame of Jerusalem Center. –

Der offizielle Name der zuvor laut Annuario Pontificio als Centro Internazionale della Santa Sede (in favore dei pellegrini nei „Luoghi Santi“) bezeichneten Einrichtung lautet nun: Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“. Als Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ wurde es erstmalig im Annuario Pontificio von 1982 erwähnt.37



Die Rechtsform des Notre Dame of Jerusalem Center ist die eines Päpstlichen Instituts gemäß lateinischem Kirchenrecht – wobei jedoch weder der CIC/1917 noch der CIC/1983 die Rechtsmaterie Institutum Pontificium regeln –, einer kirchlichen Körperschaft (body), der durch das Dekret Rechts-

36 Annuaire (Anm. 33), S. 11 f. Das Original des Errichtungsdekrets ist in englischer Sprache abgefasst (vgl. La Documentation Catholique 76 [1979], S. 336; Chalendard, Jérusalem [s. Anhang], S. 99). Französische Übersetzung in: La Documentation Catholique 76 (1979), S. 336; Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 99 f.; Ochoa, Leges V, Sp. 7489 – 7490 (Nr. 4594). Italienische Übersetzung in: Juan Ignacio Arrieta, Il sistema dell’organizzazione ecclesiastica. Norme e documenti. In particolare, la Chiesa in Italia e la diocesi di Roma, Roma 22003, S. 237 f. 37

Vgl. AnPont 1982, S. 1487 und 1570.

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persönlichkeit (als persona iuridica publica) verliehen wird. Bemerkenswert scheint, dass das Notre Dame of Jerusalem Center im Annuario Pontificio erstmals 1981 begegnet, und zwar unter der Rubrik Ospizi.38 –

Das Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ dient der Verfolgung religiöser, kultureller und erzieherischer Zwecke. Es handelt sich hierbei um spezielle kirchliche Teilzwecke, nicht um die Verwirklichung der gesamten Sendung der Kirche, das heißt der umfassenden Seelsorge (plena animarum cura).



Zur Erfüllung der angeführten Zwecke ist das Institut in verschiedene Sektionen bzw. diverse (Zweck-)Betriebe unterteilt: Gästehaus für Religiosen und Pilger, Kunst- und Berufsschule, religiöses und kulturelles Zentrum usw. Konkret waren ein 3-Sterne-Pilgerhospiz mit rund 140 Zimmern für 250 Pilger, ein ökumenisches Pastoralzentrum, ein Sozial- und Kulturzentrum, eine Schule für christliches Kunstgewerbe und Tourismus bzw. Hotelgewerbe, ein Büro-, Geschäfts- und Konferenzzentrum sowie eine Bibliothek vorgesehen.39



Das Päpstliche Institut hat seinen Sitz auf dem Territorium in Jerusalem, welches gegenüber dem Neuen Tor gelegen und im Eigentum des Heiligen Stuhls befindlich ist.



Was die Leitung betrifft, so können drei hierarchische Ebenen unterschieden werden. Die Oberleitung hat der Heilige Stuhl – insbesondere das Staatssekretariat40 – inne, in dessen direkter Abhängigkeit das Päpstliche Institut steht. Die Einrichtung ist also immediatamente soggetta alla Santa Sede, wie es im Annuario Pontificio in Bezug auf zahlreiche kirchliche Zirkumskriptionen heißt,41 und nicht etwa dem Lateinischen Patriarchen von Jerusalem unterstellt. Auf der mittleren Leitungsebene zeichnet der Apostolische Delegat in Jerusalem und Palästina verantwortlich. Die faktische Leitung liegt in den Händen eines speziellen Beauftragten des Heiligen Stuhls („Chargé“; im Annuario Pontificio stets Incaricato della Santa Sede genannt). Dieser auf dem Territorium des Päpstlichen Instituts resi-

38

Vgl. AnPont 1981, S. 1466: „(fond. da Giovanni Paolo II, 13 dic. 1978) per fini religiosi, culturali ed educativi“. Monsignore Richard Mathes wird als Incaricato della Santa Sede tituliert. 39

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 91 f. und 101.

40

Vgl. Art. 47 § 1 PastBon.

41

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 101: „L’institut est unique en ce qu’il a également un statut comparable à celui d’un diocèse sous la supervision directe du Saint-Siège.“

Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“

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dierende Geschäftsträger besitzt keine kumulative, sondern die exklusive Kompetenz, das Institut umfassend zu leiten und nach außen zu vertreten. Er hat das Recht zur zeitweiligen Delegation seiner Vollmachten an Dritte bzw. zum Widerruf solch einer Delegation. Unter Verweis auf die religiösen und kulturellen Zwecke des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ bestimmt das Dekret außerdem, dass der Chargé zugleich das Amt eines Kulturattachés (im Annuario Pontificio immer als Addetto Culturale bezeichnet)42 an der Apostolischen Delegation „Jerusalem und Palästina“43 bekleidet. Diese Stellung als Kulturattaché wird im Annuario Pontificio zum ersten Mal 1983 erwähnt.44 Die ehemaligen Geschäftsträger waren der Priester (ab 1980: Monsignore; ab 1995: Ehrenprälat Seiner Heiligkeit) Richard Mathes45 (1978 – 1999) und der Priester Aldo Tolotto46 (1999 – 2004). –

Dem Chargé steht ein örtliches Beratungsgremium zur Seite, dessen Mitglieder aus den christlichen Gemeinschaften Jerusalems berufen und vom Apostolischen Delegaten in Jerusalem und Palästina ernannt werden. Auffällig ist, dass ein Beratungsgremium im Annuario Pontificio (hier stets Collegio dei Consultori genannt) nur von 1990 bis 2004 Erwähnung findet47 und in diesem Zeitraum durchgehend dieselben drei Konsultoren umfasst, namentlich Pater Giacomo Danesi C.S., Dr.-Ing. Cavaliere di Gran

42 Zur Zeit gibt es einen Addetto Culturale auch an der Apostolischen Nuntiatur in Kirgisistan (vgl. AnPont 2005, S. 1320), einen Consigliere Culturale an der Apostolischen Nuntiatur auf den Philippinen (vgl. AnPont 2005, S. 1315). 43 Die Apostolische Delegation Gerusalemme e Palestina wurde am 11. Februar 1948 errichtet (vgl. AAS 41 [1949], S. 298 und 322 f.). Als Apostolischer Delegat „wird der ständige päpstliche Gesandte, ohne diplomatischen Rang bez., i.d.R. ein Titularerzbischof, dessen Legation nur für die Teilkirchen eines bestimmten Gebietes (einer od. mehrere Staaten) erfolgt“ (Udo Breitbach, Art. Apostolischer Delegat, in: LKStKR 1, 2000, S. 139 – 141, hier S. 139). Vgl. AnPont 2005, S. 1885. Zum päpstlichen Gesandtschaftswesen vgl. Wilhelm Rees, Päpstliche Legaten. Berater und Diplomaten, in: Leitungsstrukturen der katholischen Kirche. Kirchenrechtliche Grundlagen und Reformbedarf. Hrsg. von Ilona Riedel-Spangenberger (= QD 198), Freiburg / Basel / Wien 2002, S. 145 – 178. 44

Vgl. AnPont 1983, S. 1154.

45

Vgl. Rainer Zimmer-Winkel, Art. Mathes, Richard, in: BBKL 27, 2006, [im Druck]. Vgl. auch http://www.bautz.de/bbkl/m/mathes_r.shtml. Mathes erhielt „CD status in 1978“ (Breger, Accords [s. Anhang], S. XVI). 46 47

Vgl. http://www.lpj.org/Priests/ATolotto.htm.

Das Konsultorenkollegium wird erstmals im AnPont 1990, S. 1621, und letztmals im AnPont 2004, S. 1682, erwähnt.

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Croce Massimo Stoppa und Ragioniere Commendatore Angelo Sironi, von denen zwei Personen, nämlich Stoppa und Sironi, gleichzeitig auch mit verantwortungsvollen Aufgaben im Vatikan betraut waren.48 –

Die Rechtsstellung des Päpstlichen Instituts betreffend betont das Dekret eigens, dass das Notre Dame of Jerusalem Center als ökumenische Heilige Stätte zu betrachten und aus diesem Grund (vom Lateinischen Patriarchat) exempt wie eine praelatura nullius sei. Von einer Errichtung des Instituts als gefreite Prälatur ist jedoch nirgends die Rede. Der Apostolische Delegat in Jerusalem und Palästina wird zum – „spiritual jurisdiction“, das heißt Jurisdiktion in geistlichen Angelegenheiten ausübenden – praelatus und der Chargé zu dessen Generalvikar bestellt. Dies bedeutet, dass der nicht auf dem Gebiet des Päpstlichen Instituts wohnende Apostolische Delegat, dem das offensichtlich kompatible Amt des (Gebiets-)Prälaten in Personalunion übertragen wird, die potestas iurisdictionis in spiritualibus, der Chargé hingegen die potestas iurisdictionis in temporalibus ausübt; eine präzise Beschreibung bzw. Abgrenzung der jeweiligen Vollmacht und ihrer Ausübung unterbleibt aber. Für den Fall einer Vakanz des Prälatenamtes sind im Dekret keine rechtlichen Vorkehrungen getroffen. Die vormaligen Apostolischen Delegaten in Jerusalem und Palästina, die alle den Rang eines Titularerzbischofs hatten,49 waren Pio Laghi (1969 – 1973), William Aquin Carew (1974 – 1983), Carlo Curis (1984 – 1990), Andrea Cordero Lanza di Montezemolo (1990 – 1998) und Pietro Sambi (1998 – 2005).50 Am 21.

48 Im Annuario Pontificio von 2004 wird Dr.-Ing. Cavaliere di Gran Croce Massimo Stoppa als Direktor der Direzione dei Servizi tecnici des Governatorato dello Stato della Città del Vaticano, als Direktor ad interim der Direzione delle Telecomunicazioni des Governatorato, als Mitglied des Comitato per la sicurezza des Governatorato und als Mitglied der Commissione permanente per la tutela dei monumenti storici ed artistici della Santa Sede des Stato della Città del Vaticano (vgl. AnPont 2004, S. 1279, 1281 und 1283) verzeichnet, Ragioniere Commendatore Angelo Sironi als Mitglied des Consiglio di Amministrazione der Pontificia Amministrazione della Patriarcale Basilica di S. Paolo und als Mitglied des Consiglio di Amministrazione der Pontificia Delegazione per la Basilica di S. Antonio in Padova (vgl. AnPont 2004, S. 1215 und 1218). 49

Vgl. Juan Ignacio Arrieta, Governance Structures within the Catholic Church (= Collection Gratianus Series. Section Handbooks), Montreal 2000, S. 174: „From 1977, however, with some exceptions, the prelates of the territorial prelatures have been ordained bishops and have received the title of ,bishop prelate‘ of the proper prelature, instead of receiving a titular diocese.“ Vgl. auch Sacra Congregatio pro Episcopis, De titulo tribuendo Praelatis (nullius), in: Communicationes 9 (1977), S. 224. 50

Vgl. http://www.catholic-hierarchy.org/diocese/dxxps.html. Seit 1994 wird der jeweilige Apostolische Delegat in Jerusalem und Palästina auch als Apostolischer Nuntius in Israel entsandt (vgl. http://www.catholic-hierarchy.org/diocese/dxxil.html).

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Januar 2006 wurde Antonio Franco zum Apostolischen Delegaten in Jerusalem und Palästina ernannt. Im Annuario Pontificio ist die Rechtsstellung des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ gemäß dem Errichtungsdekret interessanterweise nur ein einziges Mal, nämlich 1983, ausführlicher dargelegt: „esso è, pertanto, esente come una Praelatura nullius. La giurisdizione spirituale nel Centro sarà esercitata dal Delegato Apostolico in Gerusalemme, come Praelatus, che avrà come Vicario Generale l’Incaricato della Santa Sede.“51 Die Errichtung des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ warf auch einige staatskirchenrechtliche Fragen auf: „In 1979 talks were held at the Israeli Foreign Ministry on the founding of the Pontifical Institute of Notre Dame of Jerusalem Center.“52 Teilnehmer dieser Gespräche waren unter anderen Botschafter David Ephrati, der im israelischen Außenministerium für religiöse Angelegenheiten zuständig zeichnete, und Kulturattaché Richard Mathes.53 Schließlich wurde „Notre Dame ... ein Dauerstreitobjekt, da die israelischen Behörden das Pilgerzentrum als Hotelbetrieb besteuern wollten, der Hl. Stuhl als Eigentümer aber betonte, daß es als kirchliche Institution von den Steuern befreit sei“54. Den Bestimmungen des Errichtungsdekrets zufolge ist das Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ insgesamt als „Kultur-Inst.[itut] u.[nd] Pilgerhaus“55 zu charakterisieren, als Gästehaus des Papstes56 mit ökumenischer57 Ausrichtung.

51

AnPont 1983, S. 1594.

52

Richard Mathes, Forerunner to the Accord: A Personal Recollection on Issues of Pilgrimage, in: Breger, Accords (s. Anhang), S. 373 – 377, hier S. 373. 53

Vgl. Mathes, Forerunner (Anm. 52), S. 373.

54

Koltermann, Päpste (s. Anhang), S. 292. Vgl. Pieraccini, Gerusalemme (s. Anhang), S. 606 f.: „Notre Dame de France: essi lo consideravano un hotel, che come tale doveva essere sottoposto a un normale regime fiscale; la Santa Sede, invece, lo vedeva come un ospizio cristiano e chiedeva che gli fosse riconosciuto uno status simile a quello di un monastero. Questo contenzioso è ancora irrisolto e continua a costituire motivo di grave risentimento delle comunità cristiane verso lo stato d’Israele.“ Vgl. auch Colbi, History (s. Anhang), S. 215. 55

Richard Mathes, Art. Jerusalem B. Nachbiblisch (Stadt u. Patriarchat) III. Gegenwärtige Situation, in: LThK3 5, 1996, Sp. 784 – 785, hier Sp. 785. 56 57

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 93.

Vgl. z. B. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 96: „L’événement le plus remarqué a été la fête de l’intronisation du patriarche grec orthodoxe, Diodoros I, en date du 1er mars 1981; après la prise de possession de la cathédrale du Saint-Sépulcre (de l’Anastasis), le

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2. Statuten Die von Staatssekretär Agostino Kardinal Casaroli58 (1914 – 1998) zunächst ad triennium59 approbierten Statuten des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ vom 2. Februar 1981 sind nicht in den Acta Apostolicae Sedis veröffentlicht, sondern nur in einer französischsprachigen Zusammenfassung zugänglich:60 „Sous la direction exclusive d’un chargé du Saint-Siège, qui exerce aussi la fonction d’attaché culturel à la délégation apostolique, Notre Dame of Jerusalem Center représente la mission culturelle du Saint-Siège à Jérusalem. La juridiction spirituelle est réservée au délégué apostolique en tant que prélat de cette Prélature Nullius. Il y a un vice-chargé appartenant au clergé latin résidant à Jérusalem. Un comité de conseillers aidera et représentera l’œcuménisme. Dès lors, ce centre est un organisme un et indivisible, dirigé par le chargé, qui est aidé par une administration centrale; laquelle contrôle le budget des sections et gère les services communs. En résumé, le centre compte les sections suivantes: – Hôtellerie pour pèlerins et religieux (avec les divers services de restauration, et autres). C’est, en somme, la maison d’hôte du Saint-Père, aux Lieux saints. – Section d’art chrétien pour la promotion de l’art classique, – Section sociale, sorte de petit Secours catholique qui soutient en même temps les propriétés du Saint-Siège, en difficulté, – Section culturelle qui tient le rôle proprement dit de mission culturelle à Jérusalem, – Section religieuse.“61

Verglichen mit dem Errichtungsdekret lassen sich in den Statuten einige Änderungen bzw. Ergänzungen erkennen: –

Es wird hervorgehoben, dass das Päpstliche Institut dem Zweck dient, die kulturelle Mission des Heiligen Stuhls in Jerusalem zu repräsentieren.

patriarche reçut les invités à Notre-Dame, et présida, dans le réfectoire, le grand déjeunergala.“ Im Verlauf der Jubiläumspilgerreise von Papst Johannes Paul II. in das Heilige Land fand am 23. März 2000 im Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ eine interreligiöse Begegnung mit dem Papst statt (vgl. http://www.vatican.va/holy_father/john_ paul_ii/travels/documents/hf_jp-ii_spe_20000323_jerusalem-notre-dame_ge.html). 58

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 98.

59

Vgl. AnPont 1982, S. 1570; AnPont 1983, S. 1594; AnPont 1984, S. 1598.

60

Der wiederholte Versuch des Verfassers, den vollständigen Text der Statuten von zuständigen Stellen zu erhalten, blieb leider erfolglos. 61

Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 98 f.

Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“

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Im Hinblick auf die Leitung ist von einem stellvertretenden Beauftragten („Vice-Chargé“; im Annuario Pontificio immer als Vice Incaricato bezeichnet) die Rede, der dem in Jerusalem wohnhaften lateinischen Klerus angehört. Die einstigen stellvertretenden Geschäftsträger waren die Priester Norman G. Metsy (1982 – 1984), William Thomas (1984 – 1985), Albert Steinvorth (1989 – 1993) und Aldo Tolotto (1998 – 1999).



Die Rechtsform des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ erfährt insofern eine Präzisierung, als die Einheit und Unteilbarkeit des Organismus akzentuiert wird.



Als ein weiteres Organ tritt die Zentralverwaltung in Erscheinung, deren Aufgaben die Unterstützung des Beauftragten, die Kontrolle des Haushaltsplans der Sektionen und die Führung der gemeinsamen Dienstzweige sind.



Die abschließende Aufzählung der (Zweck-)Betriebe nennt das Gästehaus für Pilger und Religiosen, die Sektion für christliche Kunst, die soziale Sektion, die kulturelle Sektion und die religiöse Sektion.

Damit war die Realisierung dessen gelungen, was Papst Paul VI. einst intendiert hatte: „donner aux chrétiens qui resteront au pays de leurs ancêtres un foyer d’union et de ressourcement, … établir un centre de vie et de culture où Orientaux et Latins puissent se rencontrer fraternellement, sur un pied de complète égalité, dans une ,maison du Pape‘“62. 3. Neueste rechtliche Entwicklung Man kann nur spekulieren, ob der Heilige Stuhl sich infolge der im Jahre 2001 aufgetretenen erheblichen ökonomischen Schwierigkeiten63 des Pontifici62 63

Annuaire (Anm. 33), S. 10.

Vgl. http://www.katolsk.no/nyheter/2001/08/06-0008.htm: „Jerusalem: Arbeitskonflikt um Vatikan-Gästehaus. Entlassene palästinensische Mitarbeiter randalierten – Lateinischer Patriarch um Vermittlung bemüht. Jerusalem, 3.8.01 (KAP) Die dramatische Wirtschaftslage der Tourismusindustrie im Heiligen Land betrifft auch vatikanische Einrichtungen. Am Donnerstag demonstrierten entlassene palästinensische Angestellte am vatikanischen Gästehaus ,Notre-Dame-Center‘ in Jerusalem. Dabei kam es auch zu Ausschreitungen und Beschädigungen in der Lobby, dem Speisesaal und der Cafeteria des Hotelkomplexes. Wie der Ordinariatskanzler des Lateinischen Patriarchats, Raed Abusahlia, bestätigte, wurden mehrere der Demonstranten von der Polizei inhaftiert und befinden sich seitdem in Gewahrsam. Der Leiter des Zentrums, der aus Italien stammende Priester Aldo Tolotto, sprach auf Anfrage von einer ‚Reihe von Problemen‘, um deren Lösung man sich bemühe. Angesichts des fast zum Erliegen gekommenen Pilger-

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um Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ oder wegen anderweitiger Gründe veranlasst sah, die Verantwortung für das Institut in andere Hände zu legen. Jedenfalls vertraute Papst Johannes Paul II. mit dem bislang nicht in den Acta Apostolicae Sedis, sondern lediglich auf der Homepage des Heiligen Stuhls publizierten Motuproprio „In continuazione“ vom 26. November 2004 der Kongregation der „Legionäre Christi“64 die Verwaltung und Leitung des

tourismus sei die Auslastung des 250-Betten-Hauses zuletzt auf sieben Prozent gesunken. Deshalb sei es nicht möglich gewesen, die komplette Belegschaft zu halten. Andere Gästehäuser und Hotels auf palästinensischer Seite hätten bereits in weit größerem Umfang Mitarbeiter entlassen müssen. Das ,Notre-Dame-Center‘ ist damit nach Angaben kirchlicher Beobachter das prominenteste kirchliche Beispiel für die wirtschaftlichen Auswirkungen der anhaltend unsicheren Lage. Das Österreichische Hospiz und das Gästehaus der Lutheraner sind zwar noch geöffnet, verzeichnen aber nur noch wenige Gäste. Die ebenfalls in der Altstadt gelegene franziskanische Herberge ,Casa Nova‘ ist seit Wochen komplett geschlossen. Tolotto hatte in mehreren Stufen jeweils zehn Angestellte entlassen. Diese kritisierten bei der Demonstration, sie stünden wirtschaftlich vor dem Nichts. Nach Angaben Abusahlias bemüht sich der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Michel Sabbah, um eine Beruhigung der Auseinandersetzung. Kathpress 3. August 2001.“ Vgl. auch http://archives.tcm.ie/businesspost/2001/12/30/story953769728.asp# (Eric Silver, Plenty of room at the inns in Bethlehem [30. Dezember 2001]): „Notre Dame, the Vatican’s huge, ornate Jerusalem pilgrim centre outside the Old City walls, closed its 270-bed hotel in September [2001; Anm. d. Verf.]. Father Aldo Tolotto, the Italian priest who supervises the centre and serves as the Holy See’s cultural attaché, said: ,We were obliged to close because of lack of pilgrims. Keeping it open was catastrophic for our budget.‘ In the autumn of 1999, as the Holy Land prepared for the millennium and a papal visit, occupancy at Notre Dame peaked at 86 per cent. By last December [2000; Anm. d. Verf.] it had slithered to 11 per cent. ,Many of our friends and group leaders,‘ lamented Father Aldo, ,say they have tried to gather groups, but at the last moment everybody cancelled. People are afraid to come here.‘“ 64

Vgl. Javier García, Art. Legionari di Cristo (Missionari del Sacro Cuore di Gesú e della Vergine Addolorata), in: DIP 5, 1978, Sp. 578 – 580; Eamon Kelly, Art. Legionäre Christi, in: LThK3 6, 1997, Sp. 745 – 746. Vgl. auch http://www.legionariesofchrist. org/; http://regnumchristi.org/. Der 26. November 2004 war der 60. Jahrestag der Priesterweihe von Pater Marcial Maciel LC (vgl. Javier García, Art. Maciel Degollado, Marcial, in: DIP 5, 1978, Sp. 799), dem Gründer der Kongregation der „Legionäre Christi“. Unter dem gleichen Datum erfolgte auch die definitive Approbation der Statuten der mit der Kongregation der „Legionäre Christi“ verbundenen internationalen katholischen Apostolatsbewegung Regnum Christi durch den Heiligen Stuhl. Vgl. ferner http://www.atrio.org/d1217REGALO.htm (El regalo: El papa confía a los „Legionarios de Cristo“ el prestigioso Instituto „Notre Dame“ de Jerusalén): „Promoción con todas las de la ley para los Legionarios de Cristo, a los cuales el papa, casi como regalo por los sesenta años de sacerdocio de su fundador – discutido en muchos ambientes – el mexicano

Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“

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Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ an.65 Der Text des Motuproprios lautet folgendermaßen: „In Fortführung der wertvollen Arbeit Papst Pauls VI. seligen Gedenkens für die heiligen Stätten haben Wir am 13. Dezember 1978 das Päpstliche Institut ,Notre Dame of Jerusalem Center‘ mit religiöser, kultureller, karitativer und erzieherischer Zielsetzung eingerichtet. Seitdem war das Päpstliche Institut immer ein bedeutsamer Ausdruck Unserer Sorge und Unserer geistlichen Nähe zu allen kirchlichen und menschlichen Gegebenheiten im Heiligen Land, das Uns wie auch Unseren Vorgängern immer am Herzen lag. Zum Zwecke der Stabilität und der Kontinuität des Päpstlichen Instituts ,Notre Dame of Jerusalem Center‘ halten Wir es für angebracht, dessen Verwaltung und Leitung der Kongregation der ,Legionäre Christi‘ anzuvertrauen. Es ist bekannt, daß die genannte Kongregation als besondere Zielsetzung den Aufbau des Reiches der Liebe Unseres Herrn Jesus Christus verfolgt, gemäß den Anforderungen der Gerechtigkeit und der christlichen Liebe. Wir meinen daher, daß die Kongregation der Legionäre Christi in der Lage ist, Sorge zu tragen: – für die Beherbergung der Pilger, die aus allen Teilen der Welt zu Besuch ins Heilige Land kommen, mit besonderer Berücksichtigung des Klerus und der Personen des geweihten Lebens; – für Initiativen des ,Notre Dame of Jerusalem Center‘ als bevorzugtem Ort der Begegnung und des Dialogs zwischen den Religionen, Kulturen und Völkern; – für Bildungstätigkeiten in Fortsetzung der bislang erfolgten Arbeit bei dem Päpstlichen Institut; – für alles, was zur besseren Verwaltung und Leitung des ,Notre Dame of Jerusalem Center‘ als notwendig erachtet wird. Seine Eminenz Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano ist von Uns beauftragt worden, mit dem dazu bestimmten Dekret die Übergabe vorzunehmen. Er wird Sorge tragen für die Erlassung der notwendigen und zweckmäßigen Normen und Richtlinien, in Übereinstimmung mit Unserem Errichtungsdekret und unter Berücksichtigung der Statuten und der anderen geltenden Gesetze und Verfügungen, die das Päpstliche Institut ,Notre Dame of Jerusalem Center‘ betreffen. Wir vertrauen dieses neue Apostolat der Kongregation der Legionäre Christi im Heiligen Land der mütterlichen Fürsprache der Jungfrau Maria, der Königin des Friedens, an, unter deren Schutz das Päpstliche Institut seit jeher gestellt ist.

padre Marcial Maciel, les confía el Pontificio Instituto ,Notre Dame of Jerusalem Center‘, el más importante centro vaticano en la Ciudad santa que era deseado por muchas congregaciones religiosas católicas. ... Por esto, eligiendo a los Legionarios de Cristo come ,gestores‘ del prestigioso Instituto, el pontífice les otorga una posición de particular relieve incluso a nivel internacional. Prueba evidente que las críticas contra el padre Maciel en los últimos años ... han sido consideradas en el Vaticano inmotivadas y no fundadas.“ 65

Der Kongregation der „Legionäre Christi“ ist gegenwärtig unter anderem auch die Sorge für die Territorialprälatur Cancún-Chetumal in Mexiko übertragen (vgl. AnPont 2005, S. 1020).

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Gegeben zu Rom, aus dem Apostolischen Palast, am 26. November des Jahres 2004, dem 26. Unseres Pontifikates. Ioannes Paulus II“66

Im Vergleich zu dem Errichtungsdekret und zu den Statuten weist das Motu Proprio, welches an keiner Stelle das Wort „Territorialprälatur“ gebraucht, nachstehende Eigenheiten auf: –

Es gibt als Zwecke des Päpstlichen Instituts solche religiöser, kultureller, karitativer und erzieherischer Art an. Darunter fallen die auf Kleriker und Mitglieder von Instituten des geweihten Lebens besonders Bedacht nehmende Führung der Pilgerherberge, die Anregung und Förderung interreligiöser, interkultureller und internationaler Zusammenkünfte und Gespräche sowie die Weiterentwicklung der begonnenen Bildungsarbeit. Diese Wirkungsfelder werden zusammenfassend als „Apostolat“ gekennzeichnet.



Verwaltung und Leitung des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ sind von nun an der Kongregation der „Legionäre Christi“ übertragen.67 Dem Annuario Pontificio zufolge ist seit 2004 Pater Juan María Solana Rivero L.C. Beauftragter des Heiligen Stuhls und Pater Héctor Guerra Ibarra L.C. stellvertretender Beauftragter.68



Das Beratungsgremium des Instituts kommt im Motuproprio nicht vor. Es fällt auf, dass der Annuario Pontificio von 2005 das Collegio dei Consultori unerwähnt lässt.69



Auch die bestehenden (Zweck-)Betriebe des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ werden im Motuproprio mit Ausnahme des Pilgerhospizes übergangen. Dabei waren Anfang 2005 unter dem Dach des Päpstlichen Instituts die öffentliche Bibliothek der „Päpstlichen Mission

66

http://www.vatican.va/holy_father/john_paul_ii/motu_proprio/documents/hf_jp-ii_ motu-proprio_20041126_legionaries-jerusalem_ge.html. 67

Vgl. Juan Ignacio Arrieta, Diritto dell’organizzazione ecclesiastica (= Trattati di Diritto 3), Milano 1997, S. 352: „Pur trattandosi di circoscrizioni di regime ordinario … buona parte delle prelature territoriali – ciascuna con proprie particolarità – risulta disciplinata da un regime in parte analogo a quello della commissio, tipico … delle strutture di missione. Tali strutture sono configurate sulla base di un accordo previo tra la Santa Sede ed un istituto religioso … che si impegna a prestare con i propri chierici la necessaria assistenza pastorale.“ 68

Vgl. AnPont 2005, S. 1811.

69

Vgl. AnPont 2005, S. 1811.

Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“

665

für Palästina“, eine Hotelschule70, der Sitz der „Versammlung katholischer Ordinarien des Heiligen Landes“, das „Sekretariat für Solidarität“, die Bü-

70

Vgl. http://www.thisweekinpalestine.com/details.php?id=1155&ed=96 (Pontifical Institute Notre Dame of Jerusalem Centre [November 2004]): „The Professional Promotion Hospitality Section (PPHS) was established in September 1990 at the Notre Dame Centre in coordination with the Institute of Hotel Management and Tourism at Bethlehem University. The programme received a grant from ,Fondo Mondo Unito,‘ awarded by his Holiness Pope John Paul II. A team of academics, supported by the Dublin Institute of Technology and including professional instructors from the local hospitality industry, assisted in formulating the PPHS’s structure and its programmes. PPHS aims at increasing awareness of the hospitality industry in the local market by educating and training students and enhancing their prospects of a secure career within that industry. Hospitality professionals are also encouraged to enhance their professional knowledge and development through the programmes offered by the PPHS. PPHS is the address for obtaining quality education, training and professional certification in the hospitality industry. The section offers two-year educational courses in Hospitality Management and Culinary Arts. The first is designed to provide education and practical training for those who wish to pursue a career in the rooms division and front desk operations while the second is designed to educate students in professional ethics and methods of food preparation and service. In addition, PPHS has special afternoon courses in accounting, languages, computer science, and professional cooking courses by qualified and prominent local chefs. Graduates of both courses offered by the PPHS obtain a certificate accredited by Bethlehem University and the Dublin Institute of Technology. Those who wish to pursue their education further have the opportunity of enrolling at Bethlehem University towards a Bachelor’s degree in hotel management or acquiring a professional Certificate from the Educational Institute of the American Hotel and Lodging Association in the USA. Almost seventy-five percent of PPHS’s graduates are currently pursuing their career paths in different fields of the hospitality industry in the region. Since the hospitality and tourism industries are an important sector and are at the core of the Holy Land’s economy, PPHS opens doors to high school graduates, providing them with employment opportunities for remaining in their country. Between the years 1995 – 1998 a six-month cooking and service training course was developed for the ExDetainees Rehabilitation Programme, a programme undertaken by the Palestinian Ministry of Social Affairs and which was offered in Nablus, Ramallah and Jerusalem. Over the years, the Professional Promotion Hospitality Section has been keen to develop its courses to meet European standards. Several training courses for various sectors were successfully implemented in the charcuterie, hot kitchen and pastry sections. Furthermore, the PPHS is a member in several international organizations including the International Association of Hotel School Directors (EUHOFA), the International Council on Hotel, Restaurant & Institutional Education (CHRIE), the International Hotel & Restaurant Association (IH&RA), and the World Association for Hospitality and Tourism Education and Training (AMPHORT).“

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ros der „Caritas Jerusalem“ und das Sekretariat der „Kommission Iustitia et Pax“ angesiedelt.71 Das aktuelle Tätigkeitsprofil des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ ist im Internet abrufbar.72 III. Praelatura nullius bzw. praelatura territorialis?73 Die Ausgangsfrage der vorliegenden Darlegungen war: Ist das Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ eine gefreite Prälatur gemäß c. 319 § 1 CIC/1917 bzw. Territorialprälatur gemäß c. 370 CIC/1983 oder ein rechtliches aliud? Die wenigen und noch dazu knappen Stellungnahmen zu dieser Frage zeigen ein uneinheitliches Meinungsbild: Xaverius Ochoa74 und Juan Ignacio Arrieta75 halten das Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ für eine Einrichtung ad instar praelaturae nullius; Richard Mathes sieht in ihm „une unité canonique autonome“76, wobei „le centre a été homologué à une prélature nullius“77; Marie Chalendard betrachtet es als „une quasi Prélature Nullius“78; der Annuaire de l’Église catholique en Terre Sainte

71

Vgl. Proche-Orient Chrétien 55 (2005), S. 182.

72

Vgl. http://www.notredamecenter.org/index.phtml.

73

Vgl. AnPont 2005, S. 1822; Juan Ignacio Arrieta, Chiesa particolare e circoscrizioni ecclesiastiche, in: IE 6 (1994), S. 3 – 40, hier S. 14 – 16; Arrieta, Diritto (Anm. 67), S. 351 f.; Arrieta, Structures (Anm. 49), S. 173 f.; Juan Ignacio Arrieta, in: Comentario exegético3 II/1, S. 692 – 694; Aymans-Mörsdorf KanR II, S. 323 f.; Georg Bier, c. 370, in: MK CIC (Stand: April 1996); Arturo Cattaneo, Le diverse configurazioni della Chiesa particolare e le comunità complementari, in: IE 15 (2003), S. 3 – 38, hier S. 8 f.; Daniel Cenalmor / Jorge Miras, El Derecho de la Iglesia. Curso básico de Derecho canónico (= Manuales de Teología 23), Pamplona 2004, S. 278 f. = Daniel Cenalmor / Jorge Miras, Il Diritto della Chiesa. Corso di Diritto Canonico (= Sussidi di Teologia), Roma 2005, S. 255 f.; Severin Lederhilger, Art. Territorialprälat, in: LKStKR 3, 2004, S. 672 – 673; Severin Lederhilger, Art. Territorialprälatur, in: LKStKR 3, 2004, S. 673 – 674; Jorge Miras, Tradición canónica y novedad legislativa en el concepto de prelatura, in: IusCan 39 (1999), S. 575 – 604; Hugo Schwendenwein, Die Katholische Kirche. Aufbau und rechtliche Organisation (= MK CIC. Beihefte 37), Essen 2003, S. 324 – 327. 74

Vgl. Ochoa, Leges (Anm. 36), Sp. 7489.

75

Vgl. Arrieta, Sistema (Anm. 36), S. 237.

76

Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 101.

77

Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 101.

78

Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 96.

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betitelt den Chargé „Vicaire Général de la ,Praelatura Nullius‘“79; und Oskar Stoffel ordnet das Päpstliche Institut zusammen mit der „Mission de France“ wie eine Gebietsprälatur „neueren Datums“80 ein. Da das Errichtungsdekret lediglich davon spricht, dass das Pontificium Institutum „exempted like a ,praelatura nullius‘“ sei und die Jurisdiktion in geistlichen Angelegenheiten vom Apostolischen Delegaten „as the ,praelatus‘“ ausgeübt werde, kann eine Antwort nur in Auseinandersetzung mit den rechtlichen Inhalten gefunden werden. Das Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ ist am 13. Dezember 1978, das heißt unter Geltung des CIC/1917 errichtet worden. Die Materie der gefreiten Prälaturen wurde in den cc. 215 f. und 319 – 327 CIC/1917 geregelt,81 denen zufolge gefreite Prälaturen „bistumsähnliche Gebietskörperschaften [sind], die aus dem Verband der Diözese, der sie früher angehört haben oder nach ihrer geographischen Lage angehören würden, herausgenommen und verselbständigt sind (daher: ... praelatura nullius, sc. dioecesis). Im Unterschied zu den höheren Klosteroberen exemter priesterlicher Verbände, die eine bloß personal bestimmte und in mancher Hinsicht durch die Gebietshoheit des Ortsoberhirten eingeschränkte Oberhirtengewalt über ihre Gemeinschaften besitzen, haben die ... Praelati nullius wie ein Diözesanbischof oberhirtliche Gewalt über ein bestimmtes Gebiet mit Klerus und Volk. Sie sind in jeder Hinsicht von der bischöflichen Gewalt frei und werden, um diese Vollfreiheit zum Ausdruck zu bringen, als freie oder gefreite ... Prälaten bezeichnet. Allein wenn die gefreite ... Prälatur aus weniger als drei Pfarreien besteht, ist sie wegen ihrer geringen Größe nicht einer Diözese gleichgestellt und wird durch Sonderbestimmungen des Apostolischen Stuhles geordnet.“82 Laut Errichtungsdekret ist das Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ ausdrücklich exempt wie eine praelatura nullius, und zwar vom Lateinischen Patriarchat von Jerusalem. Der Apostolische Delegat in Jerusalem und Palästina übt als praelatus die iurisdictio in spiritualibus, der Chargé des Heiligen Stuhls als Generalvikar des Prälaten die iurisdictio in temporalibus in einem genau abgegrenzten Gebiet aus, nämlich dem im Eigentum des Heiligen Stuhls befindlichen Territorium, auf dem das Päpstliche Institut liegt. Mit dem Chargé und dem Vice-Chargé haben mindestens zwei Priester ihren Wohnsitz

79

Annuaire (Anm. 33), S. 11.

80

Vgl. Stoffel, Praelatura (Anm. 3), Sp. 775. Vgl. auch Colbi, History (s. Anhang), S. 214. 81 Vgl. Philipp Hofmeister, Gefreite Abteien und Prälaturen, in: ZRG Kan.Abt. 50 (1964), S. 127 – 248; Erwin von Kienitz, Die Rechtsstellung der gefreiten Äbte und Prälaten, in: ThGl 25 (1933), S. 590 – 604. 82

Mörsdorf, Lb. I, S. 402.

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in diesem Gebiet; das Institut ist aber kein geistlicher Heimatverband. Die Anwesenheit eines bestimmten Teils des Gottesvolks ist durch den im Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ untergebrachten Schwesternkonvent83 gegeben. Da auf dem Territorium des Päpstlichen Instituts keine Pfarrei errichtet wurde, sind gemäß c. 319 § 284 CIC/1917 nicht die Vorschriften der cc. 320 – 327 CIC/1917, sondern die rechtlichen Vorgaben des Errichtungsdekrets und der Statuten zu beachten. Daraus folgt, dass das Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ materiell tatsächlich einer gefreiten Prälatur gemäß c. 319 § 1 CIC/1917 bzw. Territorialprälatur gemäß c. 370 CIC/1983 weitestgehend gleichgestellt ist, auch wenn es diesen formell nicht zugeordnet wurde. Dennoch dürfte es sich empfehlen, das Päpstliche Institut nicht als Gebietsprälatur zu bezeichnen, da das Institut nicht explizit als gefreite Prälatur errichtet worden ist und auch nicht unter der entsprechenden Rubrik im Annuario Pontificio erscheint. Am zutreffendsten wäre es wohl, das Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ als Quasiterritorialprälatur (Chalendard) zu titulieren, als Gebietskörperschaft ad instar praelaturae nullius dioeceseos ad normam c. 319 § 2 CIC/1917. Das Päpstliche Institut stellt eine autonome kanonische Einheit (Mathes), ein Rechtsinstitut sui generis dar, das einer Territorialprälatur homolog (Mathes), jedoch keine Teilkirche im Vollsinn ist, weil es zwar eine territorial umschriebene portio populi Dei mit pastor proprius und Presbyterium bildet, aber nur besondere kirchliche Teilzwecke verfolgt und nicht der gesamten Sendung der Kirche, dass heißt der plena animarum cura dient.85 Anleihen für die rechtliche Konzipierung des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ wurden vermutlich bei den gefreiten Prälaturen Pompei o Beata Maria Vergine del S. Rosario86 und Loreto87, aber auch Missi83

Zuerst französische Benediktinerinnen, dann Sionsschwestern und schließlich seit dem 8. September 1982 Konvent der Sœurs de Saint-Jean-Baptiste (vgl. Chalendard, Jérusalem [s. Anhang], S. 93, 95 und 97). 84

C. 319 § 2 CIC/1917: „Abbatia vel praelatura nullius, tribus saltem paroeciis non constans, singulari iure regitur, nec eidem applicantur quae canones statuunt de abbatiis vel praelaturis nullius.“ 85 86

Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 323.

Vgl. AAS 18 (1926), S. 403 – 406, hier S. 404 f.: „1. Institutio a Leone XIII Apostolicis Litteris Qua Providentia peracta, nomen ac dignitatem Praelaturae Nullius dioecesis suscipiet et assumet, a Beatissima Virgine Maria a Ssmo Rosario in Valle Pompeia nuncupandae. 2. Ad honestam Praelati sustentationem, ipsi propria erit annua pensio duodecim millium libellarum, ex oblationibus fidelium, quae quotannis Sanctuario fieri solent, desumenda. 3. Ceteras oblationes omnes, sive iam collectas sive colligendas nec non bona omnia quae in exsecutionem Decreti diei 20 mensis martii, iam per

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publicum instrumentum in forma legali confectum die 9 aprilis nuper elapsi, legitime translata sunt, Praelatus administrabit cum consilio de quo infra ut plene ac fideliter erogentur in fines ad quos datae sunt, scilicet pro cultus et fabricae expensis et pro sustentatione sacerdotum nec non puerorum ac puellarum qui prope Sanctuarium aluntur ac educantur et eidem Sanctuario, salva eorum educatione, quadamtenus deserviunt. 4. Praelatus a S. Sede designandus potestatem suam, immediate S. Sedi subiectam, exercebit in territorio nedum primitivo sed etiam actuali Aedium Marialium, itemque in aedibus et territorio filiis et filiabus in carceribus detentorum adsignatis. 5. Haec Praelati potestas tum ordinis tum iurisdictionis eadem erit ac ea quae spectat ad ceteros locorum Ordinarios, ad tramitem iuris communis. 6. Quinto quoque anno Praelatus relationem faciet ad Sacram Congregationem Consistorialem de statu ipsius Praelaturae, servatis servandis et iuxta praescriptum ss. canonum, prout ceteri Episcopi, Abbates et Praelati nullius dioecesis adiguntur; sed insuper singulis omnino annis integram relationem de statu oeconomico omnium bonorum quorum administrationem gerit ad S. Sedem mittere debebit, iniuncta pariter obligatione recurrendi quoties cuiusque generis negotiorum gravitas, etiam quoad spectat temporalem administrationem, id exigat, et firmo sarctoque iure ipsius S. Sedis pro libitu quandoque interveniendi in omnia quae respiciunt sive statum moralem Praelaturae rerumque omnium quae Praelati potestati ac iurisdictioni subiacent, sive temporalem administrationem omnium bonorum quae ad finem singulis proprium cum suis proventibus tributa sunt vel in posterum erunt tribuenda. 7. Sicuti iam mos erat cum Marialibus Aedibus Delegatus Apostolicus praesideret, ita Praelato Pompeiano adsidebunt tres viri ex ordine clericali, a Sacra Congregatione Consistoriali eligendi, qui eum consilio et opere adiuvent in ordinario Praelaturae regimine ac in ordinaria oblationum nec non bonorum, ut supra, administratione et erogatione iuxta debitos fines. Ex istis unus, qui ad rem designabitur, Praelati absentis vices geret cum potestate Vicarii Generalis ad tramitem iuris communis; ac, Praelatura vacante, potestatem Vicarii Capitularis assumet, sub immediata tamen S. Sedis directione et vigilantia, usque dum alius Praelaturae regendae sit praepositus. 8. Munus tandem advigilandi ut rite Sanctuarium tum in spiritualibus tum in temporalibus regatur ac ut oblationes ac bona in finem ad quem singula ordinata sunt dirigantur ac administrentur, quodque hactenus particulari Patrum Cardinalium Coetui seu Commissioni concreditum fuit, etiam in posterum adhuc exercebitur ab illis Patribus Cardinalibus quibus a Summo Pontifice commissum erit.“ – Vgl. auch AnPont 2005, S. 1028, 1305 und 1883; Dieter Girgensohn, Art. Pompei, in: LThK2 8, 1963, Sp. 604; Hofmeister, Abteien (Anm. 81), S. 166; Enrico Josi, Art. Pompei, in: Enciclopedia Cattolica 9, 1952, Sp. 1730 – 1731; von Kienitz, Rechtsstellung (Anm. 81), S. 595 f., vor allem S. 596: „Es handelt sich ... bei der gefreiten Prälatur Pompei eigentlich um eine Fiktion: der ,Vikar‘ eines nicht vorhandenen Kapitels, die Art des ,Territoriums‘ und des ,Volkes‘ zeigen das besonders klar.“ Vgl. ferner http://www. santuario. it/. 87

Vgl. AAS 58 (1966), S. 265 – 268, hier S. 266 f.: „Eadem praeterea auctoritate Nostra praelaturam ,nullius‘ condimus, Nobis et Apostolicae Sedi immediate subiectam, Ab Alma Domo Lauretana appellandam, cuius territorium civitas ipsa Lauretana eiusque districtus efficient, iuxta praesentes fines Municipii Lauretani, cum quattuor curiis ibidem exstantibus. Quod territorium a dioecesi Recinetensi perpetuo et definitive detrahimus,

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on de France o Pontigny88 genommen, mit denen es gewisse Ähnlichkeiten gibt, etwa das relativ kleine Territorium, die besonderen Leitungsstrukturen, das in Personalunion mit einem anderen Amt wahrgenommene Prälatenamt89

dum, ab anno MDCCCCXXXV usque adhuc, in idem territorium iurisdictio Ordinarii Recinetensis mere erat suspensa. Proinde Episcopus Recinetensis, pro tempore exsistens, posthac non fruetur titulo Episcopi Lauretani, qui ei per Apostolicas Litteras additus est, die XV mensis septembris, anno MDCCCCXXXIV datas. Noviter condita praelatura saecularis ad normam iuris communis gubernabitur, cuius praelaticium templum ipsa Basilica Pontificia Almae Domus Lauretanae erit cum iuribus et privilegiis congruis; sacrorum praeterea Antistes, praeterquam quod debitis iuribus fruetur, obligationibus etiam tenebitur, ex iure eidem obvenientibus. Mensam praelaticiam, quam dicunt, constituent Curiae emolumenta et ceterae fidelium collationes, in quorum praecipue bonum praelaturam hanc condidimus, quae praeberi Praelato solent, quaeque declaramus annuis vicibus esse septies centena milia. Ob cleri saecularis in praesens inopiam, Canonicorum loco Consultores praelaturae deligantur, ad normam iuris communis. Ad clerum quod attinet statuimus ut, simul ac hae Litterae Nostrae ad effectum adductae fuerint, sacerdotes Ecclesiae illi addicantur adscripti in cuius territorio officium ecclesiasticum habeant; ceteri vero clerici ei, in qua legitimo domicilio degant. Documenta insuper et acta quae novam praelaturam nullius quovis modo respiciant, a Recinetensi ad Curiam novae praelaturae transmittantur, in tabulario religiose custodienda. Etiamsi munus Delegati Pontificii in Sanctuario Lauretano et officium Praelati Ordinarii ab Alma Domo Lauretana uni eidemque personae conferantur, modo condita praelatura iuridicam suam habet personalitatem, independenter a Sanctuario, et a Praelato repraesentatur.“ – Vgl. auch AnPont 2005, S. 1026, 1306 und 1883 f.; Hofmeister, Abteien (Anm. 81), S. 147 f.; Maria Lupi, Art. Loreto. 2) Territorialprälatur, in: LThK3 6, 1997, Sp. 1053; Pio Paschini, Art. Loreto, in: Enciclopedia Cattolica 7, 1951, Sp. 1556 – 1562. Vgl. ferner http://www.santuarioloreto.it/. 88 Vgl. AAS 46 (1954), S. 567 – 574; AnPont 2005, S. 871; Javier Canosa, La legge propria della ,Mission de France‘, in: IE 3 (1991), S. 767 – 780; Jacques Denis, La prélature ,nullius‘ de la Mission de France, in: AnnéeC 3 (1954 – 1955), S. 27 – 36; Jacques Denis, La loi propre de la Mission de France, in: AnnéeC 4 (1956), S. 21 – 29; Jacques Faupin, La Mission de France. Histoire et Institution, Tournai 1960; Hofmeister, Abteien (Anm. 81), S. 191; Émile Jombart, La réorganisation actuelle de la Mission de France, in: RDC 4 (1954), S. 420 – 429; Dominique Le Tourneau, La Mission de France: passé, présent et avenir de son statut juridique, in: StudCan 24 (1990), S. 357 – 382; Daniel Perrot, Les fondations de la Mission de France (= L’histoire à vif), Paris 1987; Gregor Siefer, Art. Mission de France, Mission de Paris, in: LThK3 7, 1998, Sp. 295 – 296; Patrick Valdrini, La nouvelle Loi propre de la Mission de France. Quelques aspects canoniques, in: AnnéeC 31 (1988), S. 269 – 289. Vgl. auch http://www. mission-de-france.com/. 89

Vgl. Valdrini, Loi (Anm. 88), S. 276 Anm. 28: „Depuis le 18 décembre 1988, la Mission de France a un prélat sans autre charge épiscopale. Ce fait est nouveau, en application de l’article 6 de la Loi propre. Depuis 1954, le statut du prélat a évolué. La constitution de 1954 (art. IV) décide qu’il sera choisi parmi les évêques de la Commis-

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und die speziellen Zielsetzungen. Die Gebietsprälatur war und ist eben nicht nur „als mögliche Vorstufe einer Diözese“90, sondern auch „als Provisorium zur Lösung teilkirchlicher Verfassungsprobleme“91 geeignet, so dass man sich an dieser geschmeidigen Rechtsfigur auch im Fall des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ weitestgehend orientiert hat, galt es ja, eine tragfähige Lösung im Kontext diverser kirchlicher wie politischer Schwierigkeiten zu schaffen. IV. Fazit Bei den vorliegenden Ausführungen kann es sich lediglich um den Versuch einer ersten Annäherung an die Thematik handeln. Vieles liegt noch im Dunkeln und ließe sich wahrscheinlich nur durch intensive Archivstudien erhellen. Insbesondere die genaue innerkirchliche Positionierung des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ – beispielsweise die Stellung des Apostolischen Delegaten als Prälat des Päpstlichen Instituts in der „Versammlung katholischer Ordinarien des Heiligen Landes“ („Assembly of Catholic Ordinaries of the Holy Land“92) und der „Konferenz der lateinischen Bischöfe in den arabischen Regionen“ („Conférence des Evêques Latins dans les Régions Arabes“93) –, die exakte staatskirchenrechtliche Verankerung94 vor dem sion épiscopale. Jusqu’en 1974, la charge a été exercée par un évêque diocésain. En 1974, on nomme un prélat sans autre charge épiscopale. En 1975, sans doute dans le but de mieux fixer les liens de la Mission de France à l’épiscopat français, on nomme prélat le président de la Conférence des évêques de France, à partir de 1975 avec un auxiliaire. En 1981, on se pose la question de l’origine d’une telle pratique. Le nonce apostolique en France, consulté, répond dans une lettre adressée, le 4 juillet 1981, au cardinal Etchegaray: ,Le principe de l’union des charges de président de la Conférence épiscopale et de prélat n’est pas défini expressément. Il existe une certaine „praxis“, mais pas de décret qui sanctionne cette pratique.‘ En 1982, c’est alors le vice-président de la Conférence des évêques qui est nommé prélat.“ Seit dem 2. August 1996 ist der jeweilige Erzbischof der Erzdiözese Sens gleichzeitig auch Erzbischof-Prälat der Territorialprälatur Mission de France o Pontigny. 90

Franz Kalde, Diözesane und quasidiözesane Teilkirchen, in: HdbKathKR2, S. 420 – 425, hier S. 422. 91 Kalde, Teilkirchen (Anm. 90), S. 422 f. Vgl. Arrieta, Structures (Anm. 49), S. 174: „In some cases, the technical structure of the territorial prelature has been used to resolve juridical-pastoral problems unable to be resolved according to the canonical norms in force.“ 92 93

Vgl. AnPont 2005, S. 1099.

Vgl. AnPont 2005, S. 1091. Diese Bischofskonferenz gibt als Anschrift übrigens das Notre Dame of Jerusalem Center an.

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Hintergrund der besonderen Haltung des Heiligen Stuhls in Bezug auf den Status von Jerusalem oder auch die Bedeutung der Apostrophierung des Päpstlichen Instituts als ökumenische „Heilige Stätte“95 bedürfen noch der weiteren Aufklärung. Im Grunde ist die rechtliche Gestalt des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ genauso verworren wie dessen Geschichte. Der Heilige Stuhl hat mit der Errichtung des Instituts und dessen Angleichung an die Rechtsfigur der gefreiten Prälatur vor allem aber ein diplomatisches Meisterstück abgeliefert. Einerseits wurde ein Schlussstrich unter die Notre-Dame-deFrance-Affäre gezogen, die der Heilige Stuhl zwar nicht ausgelöst hatte, in der er jedoch zum Eingreifen gezwungen worden war.96 Andererseits hat der Heilige Stuhl sich durch die Errichtung einer ihm direkt unterstellten Gebietskörperschaft auf seinem eigenen Grund und Boden in die Lage versetzt, in Jerusalem unmittelbar territorial – das heißt nicht nur über die Ortskirche – präsent zu sein

94 Vgl. m. w. N. Breger, Accords (s. Anhang); Helmuth Pree, Der Grundlagenvertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Staat Israel (1993) im Kontext der neueren Konkordate, in: Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. Festschrift für Wolfgang Rüfner zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Stefan Muckel (= Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 42), Berlin 2003, S. 639 – 651. Vgl. auch Arrieta, Sistema (Anm. 36), S. 237: „di fatto non risulta menzionata nel ,Legal Personality Agreement‘ del 14 novembre 1997 tra la Santa Sede e lo Stato di Israele.“ 95 Vgl. u. a. Bernardin Collin, Pour une solution au problème des Lieux saints, Paris 1974; Bernardin Collin, Rome, Jérusalem et les Lieux saints, Paris 1981; Montoisy, Vatican (s. Anhang); Sélim Sayegh, Le Statu Quo des Lieux-Saints. Nature juridique et portée internationale (= Corona Lateranensis 21), Roma 1971. 96

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 87: „affirmer la présence visible de l’Eglise en ce point de Jérusalem“; Irani, Papacy (s. Anhang), S. 94: „The direct involvement of the Holy See was meant to cool the fears of local Christian minorities, especially the Palestinians. In a sense, Rome wanted to establish concrete proof that it was not abandoning Arab Christians to their fate by bowing to the Israeli authorities“; Khouri, Jerusalem (s. Anhang), S. 154: „thus both demonstrating its support of the Arab Christian community and affirming its continued existence in the Jerusalem area“; Koltermann, Päpste (s. Anhang), S. 180: „Im Fall von Notre Dame rückte der Hl. Stuhl kurzfristig von dem Prinzip ab, keine Beziehungen zu Institutionen des israelischen Staates aufzunehmen – mit dem Ziel, gegen dessen Interessen die eigenen zu verteidigen. Diese überschnitten sich faktisch mit den Interessen der Palästinenser, die Immobilienhandel mit israelischen Käufern als Verrat an ihrem Volk betrachteten“; Montoisy, Vatican (s. Anhang), S. 92: „Ainsi, à la fois pour faire respecter le droit canon, garder à l’Eglise son patrimoine, rassurer le monde arabe et affirmer la présence physique et matérielle de l’Eglise à Jérusalem, le Vatican demanda de faire annuler la vente“; Pieraccini, Gerusalemme (s. Anhang), S. 614.

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und so zum Beispiel bei die katholische Kirche in Jerusalem betreffenden oder berücksichtigenden Verhandlungen selbst mit am Konferenztisch sitzen zu können.97 Das gewählte kirchenrechtliche Konstrukt ist nur aus der speziellen lokalen Gesamtsituation heraus erklärlich, weltweit einzigartig und offen für eine flexible kanonistische Weiterentwicklung. Der Heilige Stuhl hat die rechtliche Seite des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ stets diskret behandelt und hauptsächlich den pastoral-kulturellen Charakter des Instituts hervorgehoben. Beides, die rechtliche Gestalt und die faktische Arbeit des Pontificium Institutum „Notre Dame of Jerusalem Center“ unterstreichen und symbolisieren98 die besondere Sorge des Heiligen Stuhles für das Heilige Land und Jerusalem mit deren heiligen Stätten, die dort lebenden Katholiken sowie den Frieden unter den Völkern, Kulturen und Religionen.

97

Vgl. Irani, Saint-Siège (s. Anhang), S. 118: „L’Église catholique, avec la présence de plusieurs ordres et institutions, s’assure que sa voix ne sera pas négligée.“ 98

Vgl. Chalendard, Jérusalem (s. Anhang), S. 84 : „Notre-Dame … demeure … le symbole d’une fidélité. En Orient, les symboles ont un poids dont les occidentaux ne soupçonnent en général pas l’importance.“

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Peter Stockmann

Kopp, Matthias, Pilgerspagat: Der Papst im Heiligen Land. Eindrücke, Analysen, Wirkungen zur Reise von Papst Johannes Paul II. (März 2000). Mit ausführlicher Dokumentation der Ansprachen und der wichtigsten Schritte vatikanischer Nahostdiplomatie (= Theologie 32), Münster / Hamburg / Berlin / London 2001, S. 11 – 65. Kreutz, Andrej, Vatican Policy on the Palestinian-Israeli Conflict. The Struggle for the Holy Land (= Contributions in Political Science, Bd. 246), New York / Westport / London 1990. Mathes, Richard, Art. Palästina V. Gegenwärtige kirchliche Situation, in: LThK3 7, 1998, Sp. 1287 – 1289. Pieraccini, Paolo, Cattolici di Terra Santa (1333 – 2000) (= Collana di Studi, Ricerche, Documenti 32), Firenze 2003. – (Hrsg.), La questione di Gerusalemme. Profili storici, giuridici e politici (1920 – 2005) (= Religione e Società 28), Bologna 2005.

Das Kathedralkapitel zum hl. Martin in Eisenstadt Dargestellt anhand der geltenden Statuten Von Johann Hirnsperger Der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich über die Erhebung der Apostolischen Administratur Burgenland zur Diözese vom 23. Juni 1960 legte in Art. 4 fest: „Der Diözese Eisenstadt wird ein Kathedralkapitel, bestehend aus einem Propst und der für die ordnungsgemäße Ausübung der Funktionen erforderlichen Zahl von Dignitären und Kanonikern, beigegeben werden.“1 Unter Bezugnahme auf diese Bestimmung errichtete Papst Johannes XXIII. (1958 – 1963) mit der Bulle „Solet catholica“ vom 1. Mai 1963 das Kathedralkapitel zum hl. Martin in Eisenstadt, lateinisch „Capitulum ad S. Martinum Dioecesis Sideropolitanae“ genannt.2 Die „Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin in Eisenstadt“ wurden nach dem Erscheinen des Codex Iuris Canonici von 1983 revidiert und vom Kapitel mehrere Jahre lang in der Praxis erprobt, ehe sie Diözesanbischof Dr. Paul Iby endgültig approbierte und mit 10. Juni 1994 in Kraft setzte.3 Das Domkapitel in Eisenstadt ist nicht nur das jüngste Domkapitel in Österreich, sondern auch das einzige, das im 20. Jahrhundert errichtet wurde, und stellt daher ein Kapitel neuerer Prägung dar. In den folgenden Ausführungen geht es zunächst um die allgemeinrechtlichen Vorschriften zu den Kanonikerkapiteln, anschließend wird ausgehend von den derzeit geltenden Statuten die rechtliche Gestalt des Eisenstädter Domkapitels skizziert.

1

AAS 52 (1960), S. 941 – 945, hier S. 942 f.; BGBl. Nr. 196/1960.

2

Der Text der Bulle wurde publiziert in: Amtliche Mitteilungen der Diözese Eisenstadt, Nr. 34 v. 15. Juli 1963, S. 45 f. Sie ist abgedruckt in: ÖAKR 14 (1963), S. 303 f. 3

Die Statuten wurden veröffentlicht in: Amtliche Mitteilungen der Diözese Eisenstadt, Nr. 408 v. 25. Juni 1994, S. 47 – 49; auch abgedruckt in: ÖAKR 43 (1994 – 1995), S. 348 – 354.

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Johann Hirnsperger

I. Bestimmungen des Codex Iuris Canonici Der am 27. November 1983 in Kraft getretene Codex Iuris Canonici fasst im zweiten Buch („De populo Dei“) unter dem Titel „Innere Ordnung der Teilkirchen“ in den cc. 503 bis 510 die wichtigsten Rechtsvorschriften zu den Kanonikerkapiteln zusammen.4 Auffällig ist, dass die Zahl der einschlägigen Bestimmungen zu den Kapiteln gegenüber dem vormaligen Kodex, der in den cc. 391 bis 422 ausführliche Regelungen enthielt, deutlich reduziert wurde. Die auch bei vielen anderen Materien im erneuerten Rechtsbuch greifbare Tendenz, nur rahmenrechtliche Vorgaben zu machen, ist beim Kanonikerwesen besonders markant ausgeprägt.5

4

Das Kanonikerinstitut scheint im Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium nicht auf. Parallelbestimmungen zu den cc. 503 bis 510 CIC fehlen daher. 5

Zur umfangreichen Spezialliteratur zum Kanonikerwesen siehe u. a. Heribert Schmitz, Priesterrat oder Domkapitel „Senat des Bischofs in der Leitung der Diözese“?, in: AfkKR 139 (1970), S. 125 – 131; Richard Potz, Pastoralrat und Domkapitel. Überlegungen zur Stellung bischöflicher Beratungsorgane, in: ÖAKR 23 (1972), S. 69 – 96; Jean Beyer, De Capitulis cathedralibus servandis vel supprimendis, in: PerRMCL 63 (1974), S. 477 – 487; Alexander Dordett, Domkapitel – Priesterrat, in: ÖAKR 27 (1976), S. 91 – 106; Paul Wesemann, Domkapitel nach dem II. Vatikanum. Abschaffung oder Reform?, in: Investigationes Theologico-Canonicae. Festschrift für Wilhelm Bertrams. Hrsg. v. Pontificia Università Gregoriana, Rom 1978, S. 501 – 531; Maria Teresa Regueiro Garcia, Los Cabildos Catedrales (su reforma legislativa), in: La Synodalité. La participation au gouvernement dans l’Église. Hrsg. v. Congrès de la Consociatio Internationalis Studio Iuris Canonici Promovendo (= L’année canonique. Hors série, vol. 2), Paris 1992, S. 815 – 826; Johann Hirnsperger, Statuten der österreichischen Domkapitel (= SICA 3), Metten 1992; Eva Jüsten, Das Domkapitel nach dem Codex Iuris Canonici von 1983 unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage in Deutschland und Österreich (= Europäische Hochschulschriften, Reihe 2: Rechtswissenschaft 1386), Frankfurt a. M. u. a. 1993; Heribert Schmitz, Domkapitel in Deutschland nach der Vatikanischen Wende. Skizzen – Infos – Stolpersteine. Vollfassung des Beitrags zum Tag der Domkapitel am 10. September 1998 im Rahmen der 750-Jahrfeier der Hohen Domkirche Köln. Hrsg. v. Presseamt des Erzbistums Köln, Köln o. J.; Heribert Schmitz, Die Rechtsfigur des nichtresidierenden Domkapitulars, in: Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Josef Isensee / Wilhelm Rees / Wolfgang Rüfner (= Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 33), Berlin 1999, S. 875 – 892; Richard Puza, Die Dom- und Stiftskapitel, in: HdbkathKR2, S. 475 – 479; Jürgen Wätjer, Das katholische Domkapitel zu Hamburg von den Anfängen bis zur Reformation und seine Wiedererrichtung 1996. Eine kanonistische Untersuchung (= AIC 19), Frankfurt a. M. u. a. 2001; Andreas Franitza, Das Domkapitel zu Hildesheim in der Zeit zwischen Preußenkonkordat (1929) und Niedersachsenkonkordat (1965) und seine Statuten von 1984 (= AIC 22), Frankfurt a. M. u. a. 2001; Stephan

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1. Begriff und Aufgaben Gemäß c. 503 versteht man unter dem Kanonikerkapitel ein Kollegium von Priestern, dem die Durchführung der feierlichen liturgischen Funktionen in der Kapitelkirche aufgetragen ist. Das Kanonikerkapitel wird demnach als Kollegium von Priestern (sacerdotum collegium) konzipiert, d. h. von Personen, die die Priesterweihe empfangen haben. Diakone und Laien sind daher von der Mitgliedschaft im eigentlichen Sinn ausgeschlossen; Diakone können jedoch Aufgaben im Dienst des Kapitels übernehmen (vgl. c. 507 § 2). Der CIC von 1917 definierte in c. 391 § 1 das Kanonikerkapitel als Klerikerkollegium (clericorum collegium), wobei der Klerikerstand mit der ersten Tonsur erworben wurde (vgl. c. 108 CIC/1917). Gemäß c. 404 § 1 CIC/1917 durften aber Kanonikate nur an Priester übertragen werden. Kapitel bedürfen der Errichtung durch die zuständige kirchliche Autorität (vgl. c. 504). Aus der Verfasstheit als Kollegium ergibt sich, dass die Mitglieder das Handeln des Kapitels bestimmen und bei seinen Entscheidungen in kollegialer Form mitwirken (vgl. c. 115 § 2). Bei Wahlhandlungen und sonstigen kollegialen Akten gelten die Bestimmungen des c. 119.6 Wie sein Vorgänger von 1917 spricht das Gesetzbuch von 1983 die Rechtsfähigkeit der Kanonikerkapitel nicht direkt aus. Lehre und Praxis gehen jedoch davon aus, dass die Kathedralkapitel kanonische Rechtspersönlichkeit besitzen, bei den Kollegiatkapiteln wird dies allgemein angenommen.7 Sie sind den öffentlichen juristischen Personen zuzuordnen, für die kennzeichnend ist, dass sie

Haering, Bußkanoniker der deutschen Domkapitel. Can. 508 § 1 CIC und seine partikulare Anwendung, in: Flexibilitas Iuris Canonici. Festschrift für Richard Puza zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Andreas Weiß / Stefan Ihli (= AIC 28), Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 179 – 202; Stephan Haering / Burghard Pimmer-Jüsten / Martin Rehak, Statuten der deutschen Domkapitel (= SICA 6), Metten 2003 (mit weiteren Literaturangaben). 6

Grundlegend dazu Winfried Aymans, Kollegium und kollegialer Akt im kanonischen Recht. Eine rechtsbegriffliche Untersuchung insbesondere aufgrund des Codex Iuris Canonici (= MthStkan 28), München 1969. Siehe auch Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 352 – 369; Heribert Schmitz, Relative Mehrheit bei Wahlentscheidungen. Zur Interpretation von c. 119 n. 1 CIC, in: AfkKR 157 (1988), S. 39 – 72. 7

Vgl. Mörsdorf, Lb. I, S. 438; Helmut Schnizer, Schuldrechtliche Verträge der Katholischen Kirche in Österreich, Graz / Köln 1961, S. 77 f.; Hans Heimerl / Helmut Pree, unter Mitwirkung v. Bruno Primetshofer, Handbuch des Vermögensrechts der katholischen Kirche unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsverhältnisse in Bayern und Österreich, Regensburg 1993, bes. S. 95, 382 f. Puza, Dom- und Stiftskapitel (Anm. 5), S. 475, schlägt vor, bei der Neuerrichtung von Kanonikerkapiteln die Rechtsfähigkeit ausdrücklich zuzuerkennen.

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Aufgaben im Hinblick auf das öffentliche Wohl der Kirche und in ihrem Namen ausüben (vgl. c. 116 § 1). Kapitelvermögen ist daher Kirchengut und unterliegt den Bestimmungen des kirchlichen Vermögensrechts (vgl. c. 1258). Ob bzw. unter welchen Voraussetzungen die staatliche Rechtspersönlichkeit zuerkannt wird, richtet sich nach den staatsrechtlichen Vorschriften. In Österreich kommt den Kapiteln aufgrund des Konkordats die staatliche Rechtspersönlichkeit von Rechts wegen zu, sofern sie bei dessen In-Kraft-Treten am 1. Mai 1934 bereits kanonische Rechtspersonen waren. Werden sie nach diesem Datum errichtet, erlangen sie die staatliche Rechtspersönlichkeit dadurch, dass der zuständige Diözesanbischof die Anzeige über die kirchliche Errichtung bei der obersten staatlichen Kultusverwaltungsbehörde (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur) hinterlegt.8 Sitz des Kathedralkapitels ist die Kathedrale bzw. Domkirche, der des Kollegiatkapitels die Kollegiat(Stifts-)kirche. Was den Aufgabenbereich betrifft, ordnet c. 503 an, dass den Kanonikerkapiteln die Durchführung der feierlichen Gottesdienste in der Kathedral- bzw. Kollegiatkirche obliegt. Für die Kollegiatkapitel sind universalrechtlich keine weiteren Aufgaben genannt, im Teilkirchenrecht bzw. in den Statuten sind jedoch regelmäßig weitere Kompetenzen vorgesehen. Kathedralkapitel haben über die liturgischen Pflichten hinaus jene Aufgaben zu erfüllen, die im Recht oder vom Diözesanbischof übertragen werden. Von Rechts wegen entsenden sie Vertreter zum Provinzialkonzil (vgl. c. 443 § 5) und Domherren nehmen an der Diözesansynode teil (vgl. c. 463 § 1 n. 3). Einige Kanoniker sind bezüglich möglicher Anwärter für das Amt des Diözesanbischofs und Bischofskoadjutors zu befragen (vgl. c. 377 § 3). Auf teilkirchlicher Ebene erfüllen die Domkapitel und ihre Mitglieder seit jeher bedeutende Aufgaben. Im deutschsprachigen Raum wirken sie aufgrund vertragsstaatskirchenrechtlicher Regelungen bei der Bestellung der Diözesanbischöfe mit, in vielen Diözesen haben sie das Recht der Bischofswahl.9 Domkapitulare sind traditionell an der bischöflichen Kurie

8

Vgl. Art. 2, Art.10 § 2 u. Art. 15 § 7 des Konkordats vom 5. Juni 1933 zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich samt Zusatzprotokoll. Siehe dazu Hugo Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (= MK CIC. Beihefte 6), Essen 1992, S. 526 – 538; Herbert Kalb / Richard Potz / Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 458 f. 9 In Deutschland besteht mit Ausnahme der Bistümer in Bayern und von Speyer ein Bischofswahlrecht der Domkapitel. Vgl. Art. 6 des Preußischen Konkordats v. 14. Juni 1929; Art. 14 des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich v. 20. Juli 1933; Art. 3 des Badischen Konkordats v. 12. Oktober 1932. – Zu den Domkapiteln in den neu errichteten Bistümern siehe Art. 3 des Vertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und den Ländern Sachsen-Anhalt, Brandenburg und dem Freistaat Sachsen

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tätig bzw. üben leitende diözesane Ämter aus.10 Anders als z. B. in Italien haben die Bischofskonferenzen in Deutschland und Österreich von der in c. 502 § 3 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht und die Aufgaben des Konsultorenkollegiums an die Domkapitel übertragen.11 Daher sind in diesen Ländern die Kathedralkapitel auch nach der Kodexreform bedeutende diözesane Beratungs- und Entscheidungsorgane geblieben. Im Unterschied zu c. 391 § 1 CIC/1917 bezeichnet das neue Gesetzbuch das Domkapitel jedoch nicht mehr als den Senat und Rat des Bischofs. Diese Bezeichnung und Funktion sind auf den Priesterrat bzw. das Konsultorenkollegium übergegangen (vgl. cc. 495 § 1, 502 § 1). 2. Errichtung, Autonomie, Statuten Gemäß c. 504 sind Errichtung, Änderung und Aufhebung des Kathedralkapitels, nicht mehr jedoch des Kollegiatkapitels dem Apostolischen Stuhl reserviert (vgl. c. 392 CIC/1917). Zuständig für Kanonikerkapitel an der Römischen Kurie ist die Kongregation für den Klerus.12

vom 13. April 1994 über die Errichtung des Bistums Magdeburg; Art. 3 des Vertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Freistaat Thüringen über die Errichtung des Bistums Erfurt vom 14. Juni 1994; Art. 6 des Vertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und der Freien und Hansestadt Hamburg, dem Land Mecklenburg-Vorpommern und dem Land Schleswig-Holstein vom 22. September 1994 über die Errichtung von Erzbistum und Kirchenprovinz Hamburg; Art. 3 des Vertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Brandenburg sowie dem Freistaat Sachsen über die Errichtung des Bistums Görlitz vom 4. Mai 1995. – In Österreich hat das Salzburger Domkapitel das Recht der Bischofswahl. Vgl. Art. 4 § 1 Abs. 3 des Konkordats zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich v. 5. Juni 1933. – In der Schweiz besitzen die Domkapitel in Basel, St. Gallen und Chur das Bischofswahlrecht. – Zur neueren Literatur siehe bes. Bruno Primetshofer, Die Ernennung von Bischöfen in Österreich, Deutschland und der Schweiz, in: ZKTh 118 (1996), S. 169 – 189; Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 406 f.; Heribert Schmitz, Der Diözesanbischof, in: HdbkathKR2, S. 425 – 442 (mit weiteren Literaturangaben). Zu den Rechtsverhältnissen in der Schweiz siehe Heinz Maritz, Das Bischofswahlrecht in der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung im Bistum Basel nach der Reorganisation (= MthStkan 36), St. Ottilien 1977. 10

Vgl. dazu u. a. Jüsten, Domkapitel (Anm. 5), S. 36 – 46.

11

Vgl. Amtsblatt der Österreichischen Bischofskonferenz, Nr. 1 v. 25. Jänner 1984, S. 6, Dekret 8; Amtsblatt der Österreichischen Bischofskonferenz, Nr. 3 v. 15. April 1989, S. 25, Dekret 33; Heribert Schmitz / Franz Kalde, Partikularnormen der deutschsprachigen Bischofskonferenzen (= SICA 2), Metten 1990, S. 20 f. 12

Vgl. Papst Johannes Paul II., Ap. Konst. „Pastor Bonus“ vom 28. Juni 1988, Art. 97, Nr. 1, in: AAS 80 (1988), S. 841 – 912 [913 – 934], S. 884.

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Nach c. 505 sind die Kapitel verpflichtet, sich autonom durch rechtmäßigen Beschluss die Satzung zu geben, die aber der Bestätigung durch den Diözesanbischof bedarf. Insoweit es sich um bestehendes Recht handelt, hat die bischöfliche Approbation lediglich rechtsbestätigende Wirkung.13 Für die Änderung oder Aufhebung von Statutennormen sind ebenfalls Kapitelbeschluss und oberhirtliche Genehmigung erforderlich. Nach c. 410 § 3 CIC/1917 war der Bischof befugt, bei Säumigkeit des Kapitels selbst die Statuten zu redigieren und zu erlassen. Diese Bestimmung scheint im neuen Kodex nicht mehr auf. Geschäftsordnungen, Weisungen zur Durchführung der Satzung oder ähnliche den Statuten nachgeordnete Normen bedürfen nicht der bischöflichen Genehmigung.14 Kapitelsatzungen sind Statuten im eigentlichen Sinn gemäß c. 94 und müssen daher Vorschriften bezüglich Zielsetzung, Verfassung, Leitung und Vorgehensweise des Kapitels enthalten. Präzisierend werden in c. 506 §§ 1 u. 2 einzelne Bereiche aufgezählt, die in der Satzung jedenfalls zu normieren sind: An erster Stelle wird die Verfassung genannt, die unter Wahrung der Stiftungsbestimmungen zu umschreiben ist, ohne dass sich der Gesetzgeber zu den Materien äußert, die darin zu regeln sind. In der Lehre geht man davon aus, dass zur Verfassung jene Normen gerechnet werden, die sich auf die rechtliche Grundstruktur des Kapitels beziehen. Neben der begrifflichen Definition gehören dazu vor allem Bestimmungen, in denen Zusammensetzung, Mitgliedschaft, Autonomie, organisatorische Gliederung und das Verhältnis von Kapitel und Pfarre normiert werden.15 Die Zusammenstellung der Verfassungsnormen in einem eigenen Statutenabschnitt erscheint als sinnvoll, wird vom Gesetzgeber jedoch nicht gefordert.16 Ferner ist in der Satzung die Zahl der Kanoniker festzulegen, die liturgischen und sonstigen Aufgaben des Kapitels und seiner Mitglieder sind zu benennen. Gemeint sind sowohl Aufgaben, die das Kapitel selbst bestimmt, als auch Agenden, die vom Recht oder aufgrund oberhirtlicher

13

Vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 380. Für Luigi Chiappetta, Prontuario di diritto canonico e concordatario, Rom 1994, S. 149, ist die Approbation ein Akt der Billigung (benestare) und der Zustimmung (consenso). Der Bischof darf sie nur verweigern, wenn die Statuten gegen Rechtsnormen verstoßen oder dem Geist des Kanonikerwesens widersprechen. 14

Siehe dazu u. a. Jüsten, Domkapitel (Anm. 5), S. 64 – 79.

15

Vgl. Mörsdorf, Lb. I, S. 438 – 442. Siehe auch Jüsten, Domkapitel (Anm. 5), S. 47 –

63. 16 Viele Domkapitel in Österreich und Deutschland widmen der Verfassung einen eigenen Abschnitt in den Statuten. Dabei fällt die unterschiedliche Praxis der Kapitel bei der Auswahl der Normen auf, die der Verfassung zugeordnet werden. Vgl. Hirnsperger, Statuten der österreichischen Domkapitel (Anm. 5); Haering / Pimmer-Jüsten / Rehak, Statuten der deutschen Domkapitel (Anm. 5).

Das Kathedralkapitel zum hl. Martin in Eisenstadt

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Zuweisung übertragen werden. Das Sitzungswesen ist zu normieren, unter Beachtung der universalrechtlichen Vorgaben sind die Bedingungen für die Gültigkeit und Erlaubtheit der Rechtsgeschäfte des Kapitels zu definieren. Weiters müssen in den Statuten Regelungen zu den Einkünften der Kanoniker aufscheinen, wobei zwischen ständigen und funktionsbezogenen Einkommen differenziert werden soll. Das frühere Recht ordnete an, einen Teil des Einkommens an die Mitwirkung beim Chorgebet zu binden und als so genannte Choranteile (distributiones quotidianae) zu reichen (vgl. cc. 395, 420 §§ 1 u. 2 CIC/1917). Fragen dieser Art sind jetzt in der Satzung zu klären oder, soweit sie den Vollzug der gottesdienstlichen Feiern selbst betreffen, in besonderen Ordnungen zu normieren (vgl. c. 95). Schließlich sind unter Beachtung der einschlägigen Weisungen des Heiligen Stuhls Vorschriften zu den Abzeichen der Kanoniker in die Statuten aufzunehmen.17 Die Hinzunahme weiterer, im Gesetzbuch nicht eigens aufgezählter Regelungsfelder wird jedenfalls dann erforderlich sein, wenn das Kapitel seine Lebensordnung in den Statuten in möglichst vollständiger Weise normieren will. Die Satzungen enthalten daher keineswegs nur vom Kapitel autonom erlassene Bestimmungen, sondern regelmäßig Normen, die aus dem Recht zu übernehmen sind. Es kann sich z. B. um Vorschriften aus dem allgemeinen Recht handeln oder um Beschlüsse der Bischofskonferenz, diözesanrechtliche Weisungen bzw. oberhirtliche Anordnungen, Vorgaben durch die Stiftung und staatliche Rechtsnormen. Änderungen im übergeordneten Recht verlangen Anpassungen in den Statuten. Für Kathedralkapitel ist kennzeichnend, dass ihr Recht in hohem Maß eigengeprägt ist und sowohl strukturelle als auch inhaltliche Unterschiede zum Recht der anderen Kapitel bestehen. Der CIC von 1983 eröffnet zudem größere Spielräume für die eigenständige statutarische Normsetzung und für teilkirchliche Rechtsgestaltungen als der CIC/1917 und lässt dadurch erkennen, dass der Gesetzgeber Interesse daran hat, das Kanonikerrecht auch in der Zukunft gemäß den jeweiligen Traditionen weiterzuentwickeln.18 3. Ämter im Kapitel Die wenigen Vorgaben, die im neuen Gesetzbuch zu den Kapitelämtern verblieben sind, sehen vor, dass ein Kanoniker den Vorsitz im Kollegium einnimmt (vgl. c. 507 § 1). Die Art und Weise der Bestellung des praeses capituli, 17

Siehe dazu den Rundbrief der Kleruskongregation über die Vereinfachung der Chorkleidung vom 30. Oktober 1970, in: AAS 63 (1971), S. 314 f. 18

Vgl. Communicationes 5 (1973), S. 232 f.

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der nach c. 509 § 1 der Bestätigung durch den Diözesanbischof bedarf, ist in der Satzung zu normieren. Sie kann, muss aber nicht durch Kapitelwahl geschehen.19 Der Vorsitzende ist primus inter pares und besitzt keine Jurisdiktionsgewalt über die Kanoniker.20 Die mit dem Amt verbundenen Rechte und Pflichten werden in den Statuten festgelegt. Neben koordinierenden Aufgaben kommen dem Vorsitzenden häufig spezielle Befugnisse als Kapitelsorgan zu wie z. B. Einberufung und Leitung von Sitzungen bzw. Durchführung der Beschlüsse, Vertretungs- und Zeichnungsbefugnisse und weitere Vollmachten. Verpflichtend beibehalten wird universalrechtlich das Amt des Bußkanonikers (paenitentiarius canonicus). Er besitzt von Amts wegen Beichtvollmacht und hat sowohl an der Kathedral- als auch an der Kollegiatkirche die nicht weiter delegierbare Befugnis (facultas), im sakramentalen Bereich von Beugestrafen zu befreien, sofern sie nicht festgestellte Tatstrafen sind und keine päpstlichen Reservationen bestehen. Seine Vollmacht ist territorial und personell determiniert und erstreckt sich innerhalb der Diözese auch auf Auswärtige, außerhalb des Bistums nur auf Diözesanangehörige (vgl. cc. 508 § 1; 968 § 1). Besteht in der Diözese kein Kanonikerkapitel, muss der Diözesanbischof gem. c. 508 § 2 einen Priester bestellen, der die Aufgaben des Bußkanonikers erfüllt. Nach c. 478 § 2 ist das Amt des Bußkanonikers mit denen von Generalvikar und Bischofsvikar nicht kompatibel. Das Gesetzbuch von 1917 enthielt in c. 401 § 2 die Vorschrift, wonach der Bußkanoniker zu einer für die Gläubigen günstigen Zeit in einem bestimmten Beichtstuhl der Kapitelkirche anwesend sein musste, um das Bußsakrament zu spenden. Der neue CIC wiederholt diese Bestimmung zwar nicht, es erscheint aber aus seelsorglichen Gründen geboten, mittels rechtlicher Regelungen sicherzustellen, dass die Gläubigen den Dienst des Bußkanonikers wirklich in Anspruch nehmen können. Außerdem könnte der Bischof dem Bußkanoniker zusätzlich besondere Aufgaben etwa im Zusammenhang mit der Beichtseelsorge übertragen.21 Neben Kapitelpräses und Pönitentiarkanoniker können weitere Ämter in den Statuten eingerichtet werden. Dabei sollen die Gebräuche der betreffenden Region zur Geltung kommen (vgl. c. 507 § 1). Traditionell begegnen vielfach folgende Ämter: Propst, Dekan (Dechant), Archidiakon, Kustos, Kantor und Scholastikus. Häufig nehmen Inhaber dieser Ämter auch die Stellen der Wür-

19

Vergleiche dazu die Responsio des Päpstlichen Rates zur Interpretation von Gesetzestexten vom 24. Jänner 1989 [20. Mai 1989], in: AAS 81 (1989), S. 991; vgl. AfkKR 158 (1989), S. 134 f. 20 21

Vgl. Oskar Stoffel, c. 507, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: April 1997).

Zum aktuellen Recht siehe die Ausführungen bei Haering, Bußkanoniker (Anm. 5), S. 179 – 202.

Das Kathedralkapitel zum hl. Martin in Eisenstadt

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denträger (Dignitäten, Dignitäre) ein, mit denen der Vorrang vor den einfachen Kanonikern verbunden ist (vgl. c. 393 § 2 CIC/1917).22 Der Codex Iuris Canonici von 1983 kennt diese Unterscheidung nicht mehr, auf Statutenbasis können jedoch weiterhin Würdenstellen vorgesehen sein. Kapitelämter sollen nur weitergeführt bzw. neu eingerichtet werden, wenn konkrete Aufgaben mit ihnen verbunden sind, die auch in der Gegenwart Bedeutung haben. Nach Konkordatsrecht vorgeschriebene Ämter sind beizubehalten (vgl. c. 3), aber auch in sonstigen Rechtsnormen z. B. aufgrund bestehender Stiftungsverbindlichkeiten kann die Beibehaltung von Ämtern gefordert sein. Eine alte Tradition aufgreifend legt c. 507 § 2 fest, dass die Kapitel Hilfsämter einrichten können, in denen Kleriker, die nicht Mitglieder im Kapitel sind, Dienste für die Kanoniker leisten. Zu denken ist z. B. an Domchorvikare, Psalteristen und andere Hilfsgeistliche, die bestimmte liturgische Aufgaben und Funktionen bei den Gottesdiensten ausführen. Im außerliturgischen Bereich kommen u. a. die Ämter von Ökonom, Schriftführer (Kapitelnotar, -sekretär) und Archivar in Betracht.23 Die Verleihung steht sowohl bei den Kapitelämtern als auch bei den Hilfsämtern dem Diözesanbischof zu, sofern im Recht nichts anderes ausdrücklich festgelegt ist (vgl. c. 157). 4. Emeritierte Kanoniker und Ehrenkanoniker Die Kapitelsatzungen sehen regelmäßig einen speziellen Status für emeritierte Kanoniker (canonici emeriti) vor. Die Emeritierung bringt den Verlust von Sitz und Stimme im Kapitel mit sich, belässt aber die ehemaligen Kapitelmitglieder zumeist im Besitz bestimmter Kanonikerrechte, vor allem der Ehrenrechte. Das Institut der Ehrenkanoniker (canonici honorarii, canonici ad honorem) scheint zwar im erneuerten Codex Iuris Canonici nicht mehr auf, kann aber auf Grundlage der Statuten weiter bestehen (vgl. bes. cc. 406 – 409, 411 CIC/1917). Der wesentliche Unterschied zu den wirklichen Kanonikern besteht darin, dass die Ehrenkanoniker Sitz und Stimme in der Kapitelsitzung nicht haben und sie daher bei den kollegialen Entscheidungen des Kapitels nicht mitwirken. Ihnen kommen lediglich bestimmte, in den Statuten näher zu definierende Kanoniker-

22

Vgl. Mörsdorf, Lb. I (Anm. 7), S. 438.

23

Vgl. Mörsdorf, Lb. I (Anm. 7), S. 439.

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rechte bzw. -pflichten zu. Zumeist handelt es sich um Ehrenrechte wie das Tragen von Kanonikerkleidung und Abzeichen oder Vortrittsrechte.24 5. Vergabe der Kapitelstellen Was die Besetzung der Kanonikate betrifft, statuiert der neue CIC unter Aufhebung gegenteiliger Privilegien eine ausschließliche Kompetenz des Diözesanbischofs (vgl. c. 509 § 1). Ausdrücklich wird der Diözesanadministrator von der Verleihungsvollmacht ausgenommen. Mitwirkungsrechte des Apostolischen Stuhls sind zur Gänze weggefallen. Der Bischof ist allerdings verpflichtet, vor der Ernennung des Kanonikers die Meinung des Kapitels zu hören. Zu berücksichtigen sind gegebenenfalls konkordatsrechtliche Bestimmungen oder sonstige einschlägige rechtliche Vorgaben z. B. aufgrund der Stiftung.25 Kanonikate dürfen nur an Priester übertragen werden, die sich durch Rechtgläubigkeit und unbescholtenen Lebenswandel auszeichnen und die ihren Dienst bisher lobwürdig ausgeübt haben (vgl. c. 509 § 2). Wenn man davon ausgeht, dass der Gesetzgeber den Dienst als Priester im Auge hat, kommen für Kanonikate im Allgemeinen wohl nur Kandidaten in Frage, die schon längere Zeit als Priester gewirkt und sich in herausragender Weise bewährt haben. Die Österreichische Bischofskonferenz ordnete im Zusammenhang mit der Betrauung der Domkapitel mit den Agenden des Konsultorenkollegiums an, in die Statuten Bestimmungen aufzunehmen, die ermöglichen, priesterliche Leiter

24

Vgl. Communicationes 13 (1981), S. 137 f. Siehe dazu Johann Hirnsperger, Der Codex Iuris Canonici von 1983 und die „Canonici Honorarii“. Überlegungen zur künftigen Rechtsgestalt des Ehrenkanonikerwesens, in: ÖAKR 44 (1995 – 97), S. 73 – 87. 25

Nach dem Bayerischen Konkordat vom 29. März 1924 geschieht die Besetzung abwechselnd durch den Diözesanbischof nach Anhörung des Kapitels und aufgrund der Wahl des Domkapitels mit bischöflicher Bestätigung. Im Geltungsbereich des Preußischen Konkordats vom 14. Juni 1929 und des Badischen Konkordats vom 12. Oktober 1932 werden die Domkapitulare abwechselnd nach Anhörung und mit Zustimmung des Domkapitels vom Diözesanbischof ernannt. Die Errichtungsverträge der neuen Bistümer Erfurt, Görlitz und Magdeburg übernehmen ausdrücklich die Bestimmungen des Preußischen Konkordats, der Hamburger Vertrag ist inhaltlich ebenfalls diesem Konkordat nachgebildet. Vgl. z. B. Jüsten, Domkapitel (Anm. 5), S. 52 – 59; Stephan Haering, Die Verträge zwischen dem Heiligen Stuhl und den neuen Bundesländern aus den Jahren 1994 bis 1998, in: Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. Festschrift für Joseph Listl zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Josef Isensee / Wilhelm Rees / Wolfgang Rüfner (= Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 33), Berlin 1999, S. 761 – 794; Stefan Korta, Der katholische Kirchenvertrag Sachsen (= AIC 18), Frankfurt a. M. u. a. 2001.

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von diözesanen Ämtern eventuell ad tempus officii in das Kapitel aufzunehmen und die Domherren durch eine Altersklausel zu verpflichten, bei Erreichen des 75. Lebensjahres um Emeritierung anzusuchen.26 Gegen die Koppelung von Kapitelmitgliedschaft und Übertragung weisungsgebundener Ämter bestehen allerdings insofern gravierende Bedenken, als dadurch das Domkapitel in eine enge Abhängigkeit vom Bischof gerät.27 Vom kodikarischen Konzept her sollte aber das Konsultorenkollegium im Hinblick auf seinen Aufgabenkreis ein vom Bischof möglichst unabhängiges, extrakuriales, nicht weisungsgebundenes Beratungsgremium sein.28 Anders als im vormaligen Recht sind Ablegung des Glaubensbekenntnisses und Amtseinführung bzw. Besitzergreifung vom Kanonikat im CIC von 1983 nicht mehr vorgeschrieben, können aber im teilkirchlichen Recht oder in den Statuten weiterhin vorgesehen sein (vgl. bes. cc. 405 §§ 1 u. 2; 1406 § 1 n. 5 CIC/1917). 6. Kapitel und Pfarre Gemäß c. 510 § 1 dürfen in Zukunft Pfarren nicht mehr mit Kanonikerkapiteln vereinigt sein. Wo solche Vereinigungen bestehen, sind sie vom Diözesanbischof aufzulösen. Da nach c. 520 § 1 juristische Personen nicht mehr Pfarrer sein können, ist künftig ausgeschlossen, dass das Kapitel als Pfarrer fungiert. Das Gesetzbuch bringt damit den beim Zweiten Vatikanischen Konzil formulierten Grundsatz zur Geltung, nach dem die Pfarre primär eine Einrichtung im Dienst der Seelsorge ist, was entsprechende Anpassungen bei den rechtlichen Strukturen inkludiert (vgl. VatII CD, Art. 32). Nach c. 510 § 2 ist auch an einer Kapitelkirche, die zugleich Pfarrkirche ist, ein Pfarrer zu bestellen, der aus den Kapitularen ausgewählt werden kann, aber nicht muss und der Pfarrer im Voll26

Vgl. Amtsblatt der Österreichischen Bischofskonferenz, Nr. 1 v. 25. Jänner 1984, S. 6, Dekret 8; Amtsblatt der Österreichischen Bischofskonferenz, Nr. 3 v. 15. April 1989, S. 25, Dekret 33; Schmitz / Kalde, Partikularnormen (Anm. 11), S. 21, 100. 27

Heribert Schmitz, Domkapitel in Deutschland nach der Vatikanischen Wende (Anm. 5), S. 65, merkt dazu kritisch an: „Wenn und wo die Mitgliedschaft im Domkapitel an Ämter im Ordinariat gekoppelt wird, scheint das Domkapitel zu einem nicht geringen Teil zu einem Gremium degradiert zu sein, um kuriale Amtsinhaber wenigstens in etwa mit Titel und Farbe ausstatten zu können und um das Domkapitel sich gefügig zu machen. Die Domkapitel sollten aber unabhängige, in sich selbst stehende Institutionen sein, nicht Gremien von befristet berufenen Amtsträgern.“ 28

Vgl. Heribert Schmitz, Die Konsultationsorgane des Diözesanbischofs, in: Handbuch des katholischen Kirchenrechts, hrsg. v. Joseph Listl / Heribert Schmitz, Regensburg 21999, S. 447 – 463, bes. 457 ff.

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sinn mit allen Rechten und Pflichten ist (vgl. bes. cc. 528 ff.).29 Sache des Diözesanbischofs ist es, Regelungen zu erlassen, in denen die seelsorglichen Verpflichtungen des Pfarrers und die Agenden des Kapitels so aufeinander abgestimmt werden, dass sich pfarrliche Erfordernisse und Kapitelfunktionen gegenseitig nicht behindern. Bei allfälligen Konflikten entscheidet der Diözesanbischof, der darauf zu achten hat, dass die Seelsorgebedürfnisse der Gläubigen keinen Schaden nehmen (vgl. c. 510 § 3). Nach c. 510 § 4 wird präsumiert, dass die in einer Kapitelkirche, die zugleich Pfarrkirche ist, gemachten Spenden der Pfarre gegeben sind, sofern nicht die gegenteilige Intention des Spenders feststeht. Auch diese vermögensrechtliche Bestimmung verdeutlicht, dass die Pfarre und nicht das Kanonikerkapitel die übergeordnete Einrichtung bildet, und deshalb die pfarrliche Seelsorge stets Vorrang hat. II. Rechtsstrukturen im Kathedralkapitel zum hl. Martin in Eisenstadt 1. Rechtliche Vorgaben Im Unterschied zu vielen anderen Kathedralkapiteln kann das Eisenstädter Domkapitel nicht auf eine lange Geschichte zurückblicken. Die historische Einleitung, wie sie sonst als Vorspann bzw. Präambel in zahlreichen Satzungen begegnet, fehlt daher in den Statuten von Eisenstadt. Die Kanoniker begnügen sich damit, im ersten Punkt jene Rechtsdokumente aufzuzählen, die beim Erlass der Statuten zu berücksichtigen waren: der Codex Iuris Canonici von 1983; das einschlägige Dekret, mit dem die Österreichische Bischofskonferenz die Aufgaben des Konsultorenkollegiums an die Domkapitel übertragen hat; die Errichtungsbulle „Solet catholica“ vom 1. Mai 1963. Der Hinweis auf diese Dokumente macht indirekt deutlich, dass die autonomen Gestaltungsmöglichkeiten der Kanoniker insofern an Grenzen stoßen, als die rechtlichen Strukturen des Kapitels in vielen Punkten vom Recht her vorgezeichnet sind.30 2. Verfassung, Begriff und Aufgaben Das Kathedralkapitel zum hl. Martin in Eisenstadt ist eine Gemeinschaft von Priestern, deren Aufgabe es ist, gemäß c. 503 die feierlichen Gottesdienste in

29

Die Bestimmungen in c. 510 §§ 1 u. 2 geben inhaltlich im Wesentlichen jene Normen wieder, die Papst Paul VI. (1963 – 1978) in dem am 6. August 1966 erlassenen MP „Ecclesiae Sanctae“, I 21, § 2, festgelegt hat. Vgl. AAS 58 (1966), S. 757 – 787, hier S. 769. 30

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 1; S. 47.

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der Domkirche durchzuführen. Seine Mitglieder werden in den Statuten „Kanoniker“ genannt, an einigen Stellen heißen sie „Kapitulare“ oder „Domkapitulare“, die traditionelle Bezeichnung „Domherren“ wird vermieden. Sie unterstehen der Jurisdiktion des Diözesanbischofs. Wie die Satzung ausdrücklich festhält, besitzt das Kapitel Rechtspersönlichkeit für den kirchlichen und den staatlichen Bereich.31 Die Aufgaben der Eisenstädter Kanoniker bestimmen sich nach dem kodiziellen Recht, den einschlägigen Beschlüssen der Österreichischen Bischofskonferenz, den Aufträgen des Diözesanbischofs und nach der Kapitelsatzung. In bemerkenswert detaillierter Form benennen die Statuten die Aufgabenfelder, die dem Kapitel als collegium consultorum zukommen. Im Einzelnen sind das: Wahl des Diözesanadministrators im Fall von Sedisvakanz (vgl. cc. 419, 421 § 1, 422); Anhörung vor der Bestellung des Diözesanökonomen (vgl. c. 494 § 1); Ausübung der Funktionen des Priesterrats bei Sedisvakanz (vgl. c. 501 § 2); Anhörungsrecht bei Angelegenheiten der diözesanen Wirtschaftsverwaltung größeren Gewichts (vgl. c. 1277) sowie allgemein die Übernahme von Agenden, die der Diözesanbischof dem Kapitel in der Eigenschaft als Konsultorenkollegium überträgt. Die Statuten zitieren eigens die Norm des c. 463 § 1 Nr. 3, wonach die Mitglieder des Kathedralkapitels zur Teilnahme an der Diözesansynode berechtigt und verpflichtet sind. Aus der Satzung wird damit klar ersichtlich, dass die Hauptaufgabe des Eisenstädter Kathedralkapitels neben der Feier der Gottesdienste darin besteht, als Konsultorenkollegium den Bischof bei der Leitung der Diözese durch Rat und konkrete Hilfe zu unterstützen sowie bei Vakanz des Bischofsamts die im Recht vorgesehenen Agenden wahrzunehmen.32 3. Kanonikate und ihre Besetzung Unter Hinweis auf einschlägige Vorgaben im Diözesanerrichtungsvertrag vom 23. Juni 1960 und in der Errichtungsbulle „Solet catholica“ legen die Statuten fest, dass das Domkapitel von Eisenstadt aus den zwei Dignitäten Dompropst und Domdechant besteht sowie aus Kanonikern in der für die ordnungsgemäße Ausübung der Funktionen erforderlichen Anzahl. In der Regel soll das Kapitel sieben Mitglieder umfassen, grundsätzlich ist ihre Anzahl jedoch variabel. Geht man von sieben Kanonikern aus, dann ist das Eisenstädter Kapitel das zahlenmäßig kleinste Domkapitel in Österreich. Die Kathedralkapitel von Salz-

31 32

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 2.1; Nr. 3; S. 47.

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 2.2 – 2.4; Nr. 21; S. 47, 49.

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burg und Wien umfassen jeweils zwölf Kanonikate, das von Graz zehn und jene in Klagenfurt, Linz und St. Pölten je acht.33 Das Eisenstädter Kapitel bildet auch insofern eine Ausnahme, als sich alle anderen österreichischen Domkapitel aus einer festen Anzahl von Kanonikaten zusammensetzen, also so genannte geschlossene Kapitel sind.34 Die Vergabe der Kanonikate geschieht in Eisenstadt durch den Diözesanbischof nach den einschlägigen Bestimmungen im Codex Iuris Canonici (vgl. c. 509 § 1). Entsprechend dem Beschluss der Österreichischen Bischofskonferenz sehen die Statuten vor, dass priesterliche Leiter diözesaner Ämter eventuell auch ad tempus officii in das Kapitel aufgenommen werden können. Bei den Ernennungen ist weiters darauf Rücksicht zu nehmen, dass nach Möglichkeit stets ein Priester, der Kroatisch als Muttersprache hat, der Kanonikergemeinschaft angehört.35 Die Kroaten bilden eine zahlenmäßig relativ starke ethnische Minderheit in der Diözese Eisenstadt, sodass unter seelsorglichen Aspekten sehr zu begrüßen ist, wenn ein Priester aus dieser Volksgruppe im Domkapitel vertreten ist.36 4. Rechte der Kanoniker Mit der Amtseinführung erlangen die Kapitulare das Recht auf einen bestimmten Platz im Chor, Sitz und Stimme im Kapitel und Anspruch auf das in der diözesanen Priesterbesoldungsordnung vorgesehene Einkommen, das sich aus dem Gehalt gemäß dem Grundoffizium und der Kanonikerzulage zusammensetzt. Die Satzung geht demnach davon aus, dass die Domkapitulare hauptsächlich in einem anderen kirchlichen Amt tätig sind, zu dem das Kanonikat hinzukommt. Rechtsanspruch auf eine Dienstwohnung besteht nur, wenn aufgrund eines Amtes, das der Kanoniker innehat, Rechte dieser Art gegeben sind. Die Kapitelstelle als solche begründet keinen Anspruch auf Wohnversorgung.37

33 Vgl. Hirnsperger, Statuten der österreichischen Domkapitel (Anm. 5), S. 12, 21, 29, 41, 51, 58. 34

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 4.1; S. 47.

35

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 4.2 – 4.5; S. 47.

36

Eine ähnliche Regelung besteht im Domkapitel von Dresden im Hinblick auf die Minderheit der Sorben. Vgl. Statuten des Domkapitels St. Petri zu Dresden, § 4, in: Haering / Pimmer-Jüsten / Rehak, Statuten der deutschen Domkapitel (Anm. 5), S. 95 – 110, hier S. 97. 37

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nrn. 6 u. 7; S. 47 f.

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Gemäß der Errichtungsbulle „Solet catholica“ besitzen die Eisenstädter Domkapitulare Ehrenrechte hinsichtlich der Kleidung. Diese besteht aus Mozett, Birett, Zingulum in violetter Farbe und dem violett paspelierten schwarzen Talar. Als Abzeichen tragen sie das Kreuz an einer vergoldeten Kette, die Dignitäten dazu den Ring. Die Regelungen zum Gebrauch von Kleidung und Abzeichen sind in der liturgischen Ordnung verbindlich festgelegt.38 5. Gottesdienstliche Aufgaben Seit die Domkanoniker neben dem Kanonikat hauptsächlich in anderen Ämtern tätig sind, ist das gemeinsame Chorgebet in den Kathedralkirchen, das in früheren Jahrhunderten die Hauptaufgabe der Domkanoniker darstellte, meistens notgedrungen sehr stark reduziert worden. Das trifft auch für Eisenstadt zu. Die Kanoniker feiern einmal im Monat gemeinsam die Konventmesse mit anschließender Terz, wobei sie abwechselnd nach dem festgesetzten Turnus zelebrieren. Darüber hinaus sind sie an bestimmten, in den Statuten taxativ aufgezählten Tagen bzw. Anlässen zur Teilnahme oder Vertretung bei den Gottesdiensten des Diözesanbischofs verpflichtet: Weihnachtsfest, Palmsonntag, Missa chrismatis in der Karwoche, Gründonnerstag, Karfreitag, Osternacht, Ostersonntag, Fronleichnam, Priesterweihe, Tag des hl. Martin. Verpflichtend ist zudem die Teilnahme an der Kerzen- und Aschenweihe. Nur eigene Seelsorgeaufgaben, die nicht aufschiebbar sind, können als Entschuldigungsgründe geltend gemacht werden.39 6. Dompfarre und Domkirche Das Errichtungsdokument „Solet catholica“ ordnet an, dass die Stelle des Dompfarrers mit einem Domkapitular zu besetzen ist. Ansonsten sind Domkapitel und Seelsorge in der Dompfarre entsprechend den kodiziellen Bestimmungen getrennt, die Kapitulare haben jedoch die Liebespflicht, bei den seelsorglichen Arbeiten in der Domkirche in angemessener Weise mitzuwirken.40 Die Kathedralkirche zum hl. Martin ist zugleich Pfarrkirche, ihre Verwaltung geschieht entsprechend den einschlägigen Rechtsnormen für die Pfarren durch die zuständigen diözesanen Stellen, den Pfarrgemeinderat und den Ver-

38

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 8; S. 48.

39

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 9; S. 48.

40

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nrn. 5 u. 10; S. 47 f.

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waltungsausschuss. Das Domkapitel hat keine Mitwirkungsbefugnisse, soll aber bei größeren baulichen Änderungen oder Renovierungen gehört werden.41 7. Ämter im Domkapitel In „Solet catholica“ legte Papst Johannes XXIII. fest, dass die Ämter von Dompropst, Domkustos, Bußkanoniker und Domtheologe in Eisenstadt einzurichten sind. Mit Ausnahme des Domtheologen bestehen diese Ämter gegenwärtig, zusätzlich ist das Amt des Kapitelnotars eingeführt worden. a) Dompropst Der Dompropst ist die erste Dignität im Kapitel. Sieht man vom Tragen des Ringes ab, äußert sich die Satzung nicht zu den Vorrechten der Dignitäten bzw. findet sich auch kein diesbezüglicher Verweis auf interne Ordnungen. Zu denken ist etwa an weitere Ehrenrechte wie die Präzedenz im Chor und bei Kapitelsitzungen, wie sie Würdenträgern in Kapiteln allgemein zukommen. Der Eisenstädter Dompropst wird vom Diözesanbischof frei ernannt. Da sich die Statuten zur Amtsdauer nicht äußern, ist davon auszugehen, dass es dem Bischof freisteht, das Amt entweder befristet oder auf Dauer zu besetzen.42 Die Aufgaben des Dompropsts umfassen die Vertretung des Diözesanbischofs bei feierlichen Gottesdiensten und die Leitung der Wahl des Vorsitzenden des Kapitels. Das Amt ist mit dem des Vorsitzenden kompatibel. Sollte der Propst zum praeses capituli gewählt werden, hat er neben den Propstagenden die Aufgaben des Vorsitzenden auszuüben. Der Propst wird bei Verhinderung vom Domkustos vertreten, bei Vakanz dieses Amts vom rangältesten Kanoniker.43 b) Domkustos Der Domkustos nimmt die zweite Dignitärstelle ein. Mit seinem Amt sind die Aufgaben des praeses collegii verbunden. Er wird jeweils auf die Dauer von fünf Jahren vom Domkapitel aus dem Kreis seiner Mitglieder gewählt, wobei

41

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 11.1 – 11.2; S. 48.

42

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 12.1; S. 48.

43

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 12.2 – 12.5; S. 48.

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die Wahl der Bestätigung durch den Diözesanbischof bedarf. Bei Verhinderung fällt die Vertretung dem rangältesten Kanoniker zu.44 Als Präses beruft und leitet der Kustos die Sitzungen und die Wahlen (ausgenommen die des Vorsitzenden), unterzeichnet die amtlichen Schriftstücke, führt das Siegel, verwahrt die Kapitelakten, verwaltet unter Aufsicht des Kapitels dessen Vermögen und vertritt das Kapitel nach außen. Ferner gehört zu seinen Amtspflichten, für die Ordnung beim Chordienst zu sorgen. Der Kustos ist daher Inhaber des wichtigsten Amts im Domkapitel und trägt als ein mit umfangreichen Vollmachten ausgestattetes Kapitelsorgan besondere Verantwortung für die geistlichen und materiellen Belange der Kanonikergemeinschaft.45 c) Bußkanoniker Ein Mitglied des Domkapitels ist zum „canonicus poenitentiarius“ zu bestellen. Er wird vom Diözesanbischof frei ernannt. Zur Amtsdauer äußern sich die Statuten nicht, sodass auch hier der Bischof entscheidet, ob er das Amt auf Dauer überträgt oder nicht. Wie die Statuten ausdrücklich festhalten, besitzt der Bußkanoniker gemäß c. 968 § 1 von Amts wegen Beichtvollmacht, die er nicht delegieren kann, und nach Maßgabe von c. 508 § 1 die Befugnis zur Befreiung von Kirchenstrafen.46 d) Kapitelnotar Der Notar (Schriftführer) wird von den Kanonikern durch Wahl ermittelt. Auch er kann auf Dauer oder für eine bestimmte Amtszeit bestellt werden. Er ist zuständig für den Schriftverkehr des Kapitels, die Archivierung der Korrespondenz, Erstellung der Sitzungsprotokolle, offizielle Schriftstücke werden von ihm mitunterzeichnet.47 8. Kapitelsitzungen Folgende Materien sind der Behandlung in den Sitzungen vorbehalten: Angelegenheiten, für die das Kapitel von Rechts wegen zuständig ist oder die vom 44

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 13.1; S. 48.

45

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 13.2 – 13.4; S. 48.

46

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 14; S. 48.

47

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 15; S. 49.

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Bischof vorgelegt werden; Agenden der Domkirche, soweit Kapitelingerenzen bestehen, und eigene Kapitelangelegenheiten.48 Ordentliche Sitzungen werden mit Ausnahme von Juli und August monatlich durchgeführt, außerordentliche Sitzungen nur, wenn der Bischof, der Vorsitzende oder die Hälfte der Kanoniker dies wünschen. Materien, die der Behandlung in außerordentlichen Sitzungen vorbehalten sind, nennt die Satzung nicht. Zu außerordentlichen Sitzungen wird eigens eingeladen. Nur in dem Fall, dass eine Sitzung nicht zustande kommt, Dringlichkeit besteht und der Bischof zustimmt, erlaubt die Satzung, die Meinungsäußerungen der Kapitulare in schriftlicher Form einzuholen. Das Vorgehen im so genannten Umlaufverfahren stellt daher einen seltenen Ausnahmefall dar.49 Die Kanoniker sind zur Sitzungsteilnahme berechtigt und verpflichtet, Beschlussfähigkeit ist gegeben, wenn mehr als die Hälfte von ihnen anwesend sind (vgl. c. 119). Geheim abzustimmen ist bei den Wahlen von Diözesanadministrator und Domkustos bzw. sooft ein Kanoniker dies verlangt. Beschlüsse werden unter Einhaltung der Bestimmungen des c. 119 mit absoluter Mehrheit gefasst, Wahlhandlungen geschehen nach den Normen des allgemeinen Rechts (vgl. cc. 164 ff.).50 9. Ausscheiden aus dem Domkapitel Die universalrechtlichen Bestimmungen, die den Verlust von Kirchenämtern regeln, gelten selbstverständlich auch für die Eisenstädter Domkapitulare. Die Satzung beschränkt sich darauf, zwei spezielle Formen zu normieren: den vorgeschriebenen Verzicht und den von Rechts wegen eintretenden Verlust des Kanonikats. Mit Verweis auf den einschlägigen Beschluss der Österreichischen Bischofskonferenz ordnen die Statuten an, dass die Kanoniker eingeladen sind, mit Vollendung des 75. Lebensjahres oder aus gesundheitlichen Gründen schon früher den Verzicht auf das Kanonikat dem Bischof anzubieten. Im Fall der Annahme erlangt der betreffende Kapitular eo ipso den Status des canonicus emeritus.51

48

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 16.1; S. 49.

49

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 16.2 – 16.4; S. 49.

50

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 16.5 – 16.7; S. 49.

51

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 17.1 – 17.2; S. 49.

Das Kathedralkapitel zum hl. Martin in Eisenstadt

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Von Rechts wegen erlischt die Mitgliedschaft im Kapitel, „wenn ein Kanoniker von der Leitungsaufgabe in der Diözese oder von der Aufgabe, die Grund für seine Aufnahme in das Kapitel war [...], ausscheidet, außer der Bischof entscheidet anders“52. Das Kanonikat geht daher nur dann nicht verloren, wenn der Bischof die Verlängerung ausdrücklich anordnet. Dies kann anlässlich der Entbindung von der betreffenden Aufgabe geschehen oder bereits zu einem früheren Zeitpunkt. Wird die Verlängerung nicht ausgesprochen, tritt die Erledigung des Kanonikats mit dem Wegfall der Aufgabe ohne weiteres Zutun des Bischofs von Rechts wegen ein. Diese Regelung ist meiner Meinung nach nicht ganz zufrieden stellend, weil vorauszusehen ist, dass in der Praxis Situationen begegnen, in denen unklar bleibt, ob Amtserledigung eingetreten ist oder nicht bzw. der Zeitpunkt unsicher ist. Dem könnte meiner Meinung nach z. B. dadurch vorgebeugt werden, dass die Statuten den Entzug der Aufgabe als einen Tatbestand normieren, der nicht selbsttätig wirkt, sondern den Erlass eines Verwaltungsdekrets erfordert, in dem der Zeitpunkt der Kanonikatserledigung zu bestimmen ist. In diesem Fall würde sich die Amtsinhaberschaft bis zu dem vom Bischof festzulegenden Termin automatisch verlängern. Eine Regelung dieser Art fände eine Analogie in c. 186, nach dem der Amtsverlust infolge des Ablaufs der Zeit und bei Erreichen der Altersgrenze erst von dem Zeitpunkt an Rechtswirksamkeit erlangt, der von der kirchlichen Autorität festgelegt und schriftlich mitgeteilt wird. Zum weiteren Status des auf diese Weise ausgeschiedenen Kanonikers äußern sich die Statuten nur insofern, als sie anordnen, nach Geist und Sinn der Rechtsordnung und unter Beachtung der aequitas canonica zu verfahren. Jedenfalls ist der betreffende Kapitular nicht automatisch canonicus emeritus wie beim Amtsverzicht aus Alters- oder Gesundheitsgründen.53 10. Ehrenkanoniker Das Institut der Ehrenkanoniker, das im Codex Iuris Canonici von 1983 nicht mehr aufscheint, besteht so wie bei den anderen österreichischen Kanonikerkapiteln auch in Eisenstadt auf Statutenbasis weiter. Der Diözesanbischof ist bei der Ernennung von Ehrendomherren frei, muss aber zuvor die Meinung des Kapitels einholen. Er darf nur Priester ernennen, die sich außerordentliche Verdienste um die Diözese Eisenstadt erworben haben. Da die Satzung Ausschlussbestimmungen nicht enthält, kommen auch Priester, die nicht in der Diözese Eisenstadt inkardiniert oder tätig sind, in Betracht. Die Entscheidung darüber, ob Verdienste in außerordentlicher Weise gegeben sind, liegt letztlich 52

Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3 ), Nr. 17.3; S. 49.

53

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 17.3; S. 49.

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beim Bischof selbst. Die Zahl der Ehrenkanoniker soll die Hälfte der Domkapitulare, die sich im Amt befinden, nicht übersteigen. Es können daher nur sehr wenige Priester zu Ehrenkanonikern ernannt werden, was den außerordentlichen Charakter dieser Auszeichnung unterstreicht. Ehrenkanoniker haben das Recht, Kapitelkleidung zu tragen, weitere Rechte oder Pflichten nennt die Satzung nicht.54 11. Canonici emeriti Mit der Emeritierung werden die Domkapitulare von allen Amtspflichten entbunden, behalten aber das Recht auf Gebrauch von Kanonikerkleidung und Kapitelabzeichen. Außerdem beziehen sie weiterhin die Zulage nach Maßgabe der diözesanen Priesterbesoldungsordnung.55 12. Tod und Begräbnis der Kanoniker Während die Statuten der anderen österreichischen Domkapitel Bestimmungen zu Exequien und Begräbnis der verstorbenen Kapitelmitglieder enthalten, findet sich in der Satzung des Eisenstädter Kapitels lediglich der Verweis auf eine interne Ordnung, die den zeremoniellen Ablauf regelt.56 13. Statutenänderung Satzungsänderungen sind durchzuführen, sooft der Diözesanbischof dies wünscht oder wenn veränderte Zeitverhältnisse es erforderlich machen. Die Änderungen sind in der Kapitelsitzung zu beschließen und dem Diözesanbischof zur Genehmigung vorzulegen. Auffallend ist, dass die Behandlung dieser gewichtigen Materie nicht einer außerordentlichen Sitzung vorbehalten ist, zu der die Kapitulare eigens geladen werden.57 III. Schlussbemerkungen Das Kathedralkapitel zum hl. Martin ist auch nach Durchführung der postkonziliaren Rechtsreform eine bedeutende Einrichtung in der Diözese Ei54

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 18.1 – 18.3; S. 49.

55

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 19.1 – 19.2; S. 49.

56

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 20; S. 49.

57

Vgl. Statuten des Kathedralkapitels zum hl. Martin (Anm. 3), Nr. 22; S. 49.

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senstadt geblieben. Es nimmt aufgrund des einschlägigen Beschlusses der Österreichischen Bischofskonferenz die Stellung des Konsultorenkollegiums ein und ist somit neben dem Priesterrat das bedeutendste Beratungsgremium des Diözesanbischofs bzw. übernimmt es in der Sedisvakanz höchstwichtige Aufgaben bei der interimistischen Leitung der Diözese. Seine Mitglieder sind häufig in leitenden diözesanen Ämtern und Funktionen tätig und zählen zu den engsten Mitarbeitern des Diözesanbischofs. Die Domkanoniker tragen Verantwortung für die Gestaltung und Feier der Liturgie in der Bischofskirche, die vorbildlich sein muss und von der Impulse für das gottesdienstliche Leben in der ganzen Diözese ausgehen sollen. Kritisch ist anzumerken, dass allein schon die geringe Zahl an Kanonikern und der Umstand, dass sie regelmäßig neben den Kanonikaten in anderen Ämtern tätig sind, es unmöglich machen, das gemeinsame Chorgebet in der Domkirche zu pflegen und regelmäßig durchzuführen. Das Kapitel kann daher jene Funktion leider nicht mehr erfüllen, die von den Kathedralkapiteln viele Jahrhunderte lang als primäre Aufgabe betrachtet wurde und den ersten Stiftungszweck darstellte. Das Eisenstädter Kapitel umfasst in der Regel nur sieben Kanoniker und ist gemessen an der Zahl der Mitglieder das kleinste Domkapitel in Österreich. Es ist aber auch das einzige österreichische Domkapitel, bei dem die Anzahl der Kanonikate variabel ist, wobei weder im übergeordneten Recht noch in den Statuten eine Höchstzahl festgelegt wird. Daher besteht die Möglichkeit, die Anzahl der Kanoniker zu erhöhen, sofern mit den Kapitelstellen entsprechende Funktionen verbunden sind, die z. B. dem liturgischen Aufgabenfeld zugeordnet sein könnten. Die Erhöhung der Zahl würde Stellung und Einfluss des Domkapitels in der Diözese stärken und wäre eine Voraussetzung dafür, dass sich die Kanoniker dem gottesdienstlichen Aufgabenkreis in größerem Umfang widmen und auf diese Weise deutlicher als geistliche Gemeinschaft in Erscheinung treten könnten. Ob die vom Recht her eröffneten Möglichkeiten ausgeschöpft werden, hängt letztlich von der Kanonikergemeinschaft selbst und vom Diözesanbischof ab.

Die Führung der Bezeichnung „katholisch“ nach dem Recht der lateinischen Kirche Von Reiner Tillmanns Die Befugnis des einzelnen Christgläubigen, sich „katholisch“ zu nennen, setzt der Codex Iuris Canonici unausgesprochen voraus. Soweit ein Gläubiger jedoch als „katholisch“ bezeichnen möchte, was er oder andere geschaffen oder gegründet haben, bedarf er der Zustimmung der zuständigen Kirchenautorität. In allgemeinster Form kommt dies in c. 216, 2. Halbsatz CIC zum Ausdruck.1 Hiernach darf sich keine apostolische Unternehmung (inceptum) von Gläubigen ohne Zustimmung der zuständigen kirchlichen Autorität „katholisch“ nennen. Ähnlich formulierte Zustimmungserfordernisse finden sich in c. 300 CIC für das Vereinswesen, in c. 803 § 3 CIC für das Schulwesen und in c. 808 CIC für das Hochschulwesen. Diese Zustimmungserfordernisse gelten nicht für altrechtliche oder altkodikarische Unternehmungen, insbesondere Vereine, Schulen und Hochschulen, welche die Bezeichnung „katholisch“ bei Inkrafttreten des neuen Codex rechtmäßig und unbeanstandet geführt haben. Da Gesetze gemäß c. 9 CIC nicht in die Vergangenheit wirken, bleiben einmal erworbene Rechte zur Führung der Bezeichnung „katholisch“ als iura quaesita gemäß c. 4 CIC ungeschmälert erhalten. Einer erneuten Zustimmung bedarf es nicht.2 Ein wohlerworbenes, durch c. 4 CIC konserviertes Recht zur Führung der Bezeichnung „katholisch“ kann durch eine ausdrückliche oder konkludente 1

Die parallele Vorschrift des c. 19 im Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen lautet in der von Gerd Ludwig und Joachim Budin besorgten Übersetzung für die von Libero Gerosa und Peter Krämer herausgegebene lateinisch-deutsche Ausgabe des Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium nahezu identisch: „Da alle Christgläubigen an der Sendung der Kirche teilhaben, haben sie das Recht, durch eigene Unternehmen je nach ihrem Stand und ihrer Stellung eine apostolische Tätigkeit in Gang zu setzen oder zu unterhalten; keine Unternehmung darf sich jedoch ohne Zustimmung der zuständigen kirchlichen Autorität katholisch nennen.“ 2

Winfried Aymans, Kirchliche Vereinigungen im Gebiet der Deutschen Bischofskonferenz, in: AfkKR 158 (1989), S. 369 (385).

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Zustimmung der Kirchenbehörde begründet oder als Gewohnheitsrecht entstanden sein.3 Denkbar ist zudem, die cc. 216, 300, 803 § 3 und 808 CIC mit dem Privilegienbegriff zu verbinden und in der kirchenamtlichen Zustimmung einen Gnadenerweis im Sinne des c. 76 § 1 CIC zu sehen.4 Dann wäre eine hundertjährige oder unvordenkliche Namensführung nach c. 76 § 2 CIC nur unzulässig, wenn sich ausdrückliche Verbote nachweisen ließen. I. Der spezielle Namensschutz gemäß cc. 300, 803 § 3 und 808 CIC 1. C. 300 CIC über das Vereinswesen Nach c. 300 CIC darf sich kein Verein ohne Zustimmung der gemäß c. 312 CIC zuständigen kirchlichen Autorität die Bezeichnung „katholisch“ zulegen.5 a) Vereine von Gläubigen Nach zutreffender und auch herrschender Auffassung6 unterscheidet das kanonische Recht drei Arten von Laienvereinigungen. Von der kirchlichen Autorität errichtete Vereine von Laien sind öffentliche Vereine im Sinne der cc. 312 ff. CIC. Von Laienhand gegründete Vereinigungen sind private Vereine im Sinne der cc. 321 ff. CIC, wenn ihre Statuten gemäß c. 299 § 3 CIC von der zuständigen Kirchenautorität geprüft sind. Laiengründungen ohne recognitio statutorum

3

Winfried Schulz, Der neue Codex und die kirchlichen Vereine, Paderborn 1986, S. 52; ders., c. 300, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: Mai 1989). 4 So Helmut Schnizer, Allgemeine Fragen des kirchlichen Vereinsrechts, in: HdbkathKR2, S. 563 (578); Adrian Loretan, Das Grundrecht der Vereinsfreiheit in der Kirche, in: Andreas Weiß / Stefan Ihli (Hrsg.), Flexibilitas Iuris Canonici. Festschrift für Richard Puza zum 60. Geburtstag, Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 165 (176). 5 6

Zur Pflicht kanonischer Vereine, sich einen Namen zu geben, siehe c. 304 § 2 CIC.

Zahlreiche Nachweise bei Reiner Tillmanns, Die Mitgliedschaft von Nichtkatholiken in katholischen Vereinigungen, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat. Joseph Listl zum 75. Geburtstag, Berlin 2004, S. 479 (496 in Fußn. 73). Aus dem neueren Schrifttum zudem Thomas A. Amann, Wie autonom sind kirchliche Lebensverbände und Vereine in der Gestaltung ihres Arbeitsrechts wirklich?, in: Ulrich Kaiser / Ronny Raith / Peter Stockmann (Hrsg.), Salus Animarum Suprema Lex. Festschrift für Offizial Max Hopfner zum 70. Geburtstag, Frankfurt a. M. u. a. 2006, S. 39 (41 f.); Loretan, Das Grundrecht der Vereinsfreiheit in der Kirche (Anm. 4), S. 165 (168 ff.); Hugo Schwendenwein, Die Katholische Kirche. Aufbau und rechtliche Organisation, Essen 2003, S. 662 f.

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701

sind so genannte freie Zusammenschlüsse auf der Grundlage des c. 215 CIC oder des c. 216 CIC7. Freie Zusammenschlüsse unterliegen nicht den Vorschriften über kanonische Vereine in cc. 298 ff. CIC. Daher ist auch c. 300 CIC für sie nicht einschlägig.8 Eine analoge Anwendung dieser Bestimmung auf freie Zusammenschlüsse kommt nicht in Betracht, da es an der hierfür erforderlichen Regelungslücke9 fehlt. Gruppierungen, deren Statuten nicht kirchenamtlich geprüft sind, fallen unter den Begriff des inceptum.10 Für sie gilt c. 216 CIC. b) Antrag Die zuständige Kirchenautorität kann einer physischen oder juristischen Person die Bezeichnung „katholisch“ nicht aufdrängen. Die Zustimmung zur Führung dieser Bezeichnung setzt einen dahingehenden Antrag der betreffenden Person voraus,11 ist also ein mitwirkungsbedürftiges kirchliches Verwaltungshandeln. Zur Antragstellung befugt ist bei juristischen Personen das für die Außenvertretung vorgesehene Organ. Erteilt die zuständige Kirchenautorität ihre Zustimmung auf Antrag eines intern unzuständigen Organs, berührt dies die Wirksamkeit der Zustimmung nicht, da die Rechtmäßigkeit des zugrunde liegenden Verwaltungsaktes nicht von der Einhaltung körperschafts-, anstaltsoder stiftungsinterner Zuständigkeitsregeln abhängt. 7

So Schwendenwein, Die Katholische Kirche (Anm. 6), S. 662 in Fußn. 588.

8

Reiner Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend und seine Mitgliedsverbände. Erster Teilband: Der BDKJ in historischer und kirchenrechtlicher Betrachtung, Berlin 1999, S. 200 mit Fußn. 198. 9

Zur Schließung von Gesetzeslücken im Wege der Analogie siehe Georg May / Anna Egler, Einführung in die kirchenrechtliche Methode, Regensburg 1986, S. 233 ff.; Heinz Pack, Methodik der Rechtsfindung im staatlichen und kanonischen Recht. Relations- und Urteilstechnik im kanonischen Recht, Essen 2004, S. 22. 10

Helmut Schnizer, Zur Rechtsdogmatik des kanonischen Vereinsrechts. Begriffe, Abgrenzung von anderen gemeinschaftlichen Aktivitäten und Fragen der Rechtsüberleitung, in: Winfried Aymans / Karl-Theodor Geringer / Heribert Schmitz (Hrsg.), Das konsoziative Element in der Kirche. Akten des VI. Internationalen Kongresses für Kanonisches Recht, St. Ottilien 1989, S. 421 (431). 11

Winfried Aymans, Kirchliche Vereinigungen. Ein Kommentar zu den vereinigungsrechtlichen Bestimmungen des Codex Iuris Canonici, Paderborn 1988, S. 93; Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 529; Schulz, c. 300, Rdnr. 3, in: MK CIC (Anm. 3); Heribert Schmitz, Fragen der Rechtsüberleitung der bestehenden kirchlichen Vereinigungen in das Recht des CIC, in: AfkKR 156 (1987), S. 367 (377); Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (Anm. 8), S. 201.

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c) Zuständige Kirchenautorität Hinsichtlich der zuständigen Autorität verweist c. 300 CIC auf c. 312 CIC über die Zuständigkeit für die Errichtung öffentlicher Vereine. Nach c. 312 § 1 CIC ist für gesamtkirchlich oder international tätige Vereine der Heilige Stuhl, für nationale Vereine die Bischofskonferenz und für diözesane Vereine der jeweilige Diözesanbischof kompetent. Für Vereine, deren Tätigkeit sich satzungsgemäß auf mehrere, nicht aber auf alle Diözesen eines Konferenzgebiets erstreckt, trifft c. 312 CIC keine ausdrückliche Regelung. Da insoweit eine Regelungslücke vorliegt, bietet sich nach Maßgabe des c. 19 CIC eine analoge Anwendung der entsprechenden Regelungen aus dem Recht der Institute des geweihten Lebens an. Einen vergleichbaren Sachverhalt regelt c. 595 § 1 CIC, der die Genehmigung der Konstitutionen von Instituten, die über mehrere Diözesen verbreitet sind, zur Sache des Bischofs des Hauptsitzes erklärt. In dieser Bestimmung spiegelt sich der allgemeine und auf das Vereinigungsrecht übertragbare Grundsatz, dass für überdiözesane und mehrdiözesane Zusammenschlüsse von Personen grundsätzlich der Bischof jener Diözese zuständig sein soll, in dem der Hauptsitz der Vereinigung belegen ist.12 In diesem Sinne hat die Deutsche Bischofskonferenz in ihren „Kriterien für die kirchenamtliche Genehmigung von Satzungen und Satzungsänderungen von katholischen Vereinigungen“ vom 23. September 199313 den Diözesanbischof des Hauptsitzes für zuständig erklärt, die Satzung oder Satzungsänderungen einer mehrdiözesanen Vereinigung zu autorisieren. Die Satzungszuständigkeit umfasst die Kompetenz, der Führung der Bezeichnung „katholisch“ zuzustimmen. Nach den vorgenannten Kriterien14 wird der Diözesanbischof bzw. der Bischof des Hauptsitzes dem Diözesanrat Gelegenheit zur Stellungnahme geben, bevor er dem Antrag einer Vereinigung, sich „katholisch“ zu nennen, stattgibt; entsprechendes gilt für die Deutsche Bischofskonferenz in Bezug auf das Zent-

12

So auch Schulz, c. 300, Rdnr. 7, in: MK CIC (Anm. 3); Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (Anm. 8), S. 201 f. 13

Abgedruckt in den Amtsblättern der deutschen Diözesen (etwa im ABl. Köln 133 [1993], S. 248 ff.) sowie in: AfkKR 162 (1993), S. 507 ff., und bei Reiner Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend und seine Mitgliedsverbände. Zweiter Teilband: Rechts- und Grundlagentexte zur katholischen Jugendverbandsarbeit, Berlin 1999, S. 435 ff. 14 Deutsche Bischofskonferenz, Kriterien für die kirchenamtliche Genehmigung von Satzungen und Satzungsänderungen von katholischen Vereinigungen vom 23. September 1993, Nr. 3, in: ABl. Köln 133 (1993), S. 248 (249) und im AfkKR 162 (1993), S. 507 (509) sowie bei Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (Anm. 13), S. 435 (436).

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ralkomitee der deutschen Katholiken. Die zurückhaltende Formulierung dieser Beteiligungspflichten in den Kriterien lässt zweifeln, ob die Anhörung der Diözesanräte oder des Zentralkomitees lediglich erwartet wird oder ob die Bischöfe bzw. die Bischofskonferenz hierzu rechtlich verpflichtet sein soll.15 Die Verwendung des Hilfsverbs „werden“ macht jedenfalls deutlich, dass den Diözesanräten oder dem Zentralkomitee aus den Kriterien keine Beispruchsrechte im Sinne des c. 127 CIC – etwa Anhörungs- oder Zustimmungsrechte – erwachsen. d) Zustimmung Die Bezeichnung „katholisch“ wird nicht oberhirtlich verliehen. C. 300 CIC fordert keinen Akt der Verleihung, sondern – wie auch die cc. 216, 803 § 3 und 808 CIC – den „consensus“ der zuständigen Kirchenautorität. Gemeint ist damit die vorausgehende Zustimmung,16 nicht eine nachfolgende Genehmigung oder Billigung. Die kirchenamtliche Zustimmung muss also erteilt sein, bevor ein kanonischer Verein als „katholisch“ in Erscheinung tritt. Zwar kann ein Verein die Bezeichnung „katholisch“ auch nachträglich wirksam genehmigen lassen; diese Vorgehensweise entspricht jedoch nicht dem Leitbild des c. 300 CIC. Dies hat zur Folge, dass die Namensführung bis zur Genehmigung auch nach weltlichem Recht unbefugt erfolgt und Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche nach § 12 BGB begründet. Bei schuldhafter Verletzung des Namensrechts kommen zudem Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung gemäß § 823 Abs. 1 BGB in Betracht. Die Zustimmung zur Führung der Bezeichnung „katholisch“ ist ein Verwaltungsakt im Sinne der cc. 35 ff. CIC und, da er den äußeren Bereich betrifft, als solcher nach c. 37 CIC schriftlich auszufertigen. Die Schriftlichkeit ist allerdings keine Voraussetzung für die Gültigkeit eines Verwaltungsaktes für Einzelfälle, sofern nicht sonderrechtlich oder partikularrechtlich ausnahmsweise etwas anderes bestimmt ist.17 Da ein Verein, der die Bezeichnung „katholisch“

15

Eine ausgesprochen kritische Einschätzung des Rechtscharakters und der rechtlichen Verbindlichkeit der Kriterien liefert Heribert Hallermann, Die Vereinigungen im Verfassungsgefüge der lateinischen Kirche, Paderborn u. a. 1999, S. 463 ff.; zusammenfassend auch ders., in: LKStKR 2, 2002, S. 406 (407). 16

Siehe Thomas A. Amann, Der Verwaltungsakt für Einzelfälle. Eine Untersuchung aufgrund des Codex Iuris Canonici, St. Ottilien 1997, S. 101. 17

Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 230; Hans Heimerl / Helmuth Pree, Kirchenrecht. Allgemeine Normen und Eherecht, Wien / New York 1983, S. 61; Hubert Socha, c. 37, Rdnr. 8, in: MK CIC (Stand: April 1992).

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führt, eine entsprechende Zustimmung im Bestreitensfall nachweisen muß, empfiehlt es sich in der verbandlichen Praxis gleichwohl, von der zuständigen Autorität eine schriftliche Zustimmung zur Führung der Bezeichnung „katholisch“ zu erwirken. Lässt sich eine ausdrücklich erklärte Zustimmung zur Führung der Bezeichnung „katholisch“ im Einzelfall nicht nachweisen, ist weiter zu prüfen, ob die zuständige Autorität der Namensführung inzident zugestimmt hat. Eine einschlussweise Zustimmung könnte insbesondere in der Überprüfung der Vereinsstatuten gemäß c. 299 § 3 CIC zu sehen sein. Zwar schreibt der Codex nicht vor, dass der Name in den Statuten festzulegen ist,18 dennoch enthalten die Statuten zumeist eine Bestimmung über den Vereinsnamen. Bleibt ein solcher Statutenentwurf, der einen Namen mit dem Bestandteil „katholisch“ vorsieht, in der recognitio statutorum insgesamt unbeanstandet, kann die diesbezügliche Erklärung der Kirchenautorität zugleich als Zustimmung zur Namensführung im Sinne des c. 300 CIC anzusehen sein. Dies hängt vom genauen Inhalt der kirchenamtlichen Erklärung ab, die gegebenenfalls nach den Grundsätzen des c. 36 CIC auszulegen ist. Eine reine recognitio als bloßes Negativ-Testat mit dem Inhalt, dass die betreffenden Statuten weder gegen die kirchliche Lehre oder Ordnung noch gegen der Unversehrtheit der Sitten verstoßen,19 lässt sich kaum als Zustimmung im Sinne des c. 300 CIC qualifizieren.20 Der Begriff des consensus verlangt mehr.21 Ein Konsens setzt ein willentliches Einverständnis der zuständigen Leitungsautorität im Sinne einer positiven Übereinstimmung mit dem Antrag auf Zustimmung zur Führung der Bezeichnung „katholisch“

18

Siehe c. 304 CIC.

19

Zu Begriff und Inhalt der recognitio Ulrich Rhode, Die recognitio von Statuten, Dekreten und liturgischen Büchern, in: AfkKR 169 (2000), S. 433 ff.; Giorgio Feliciani, Il diritto di associazione e le possibilità della sua realizzazione nell’ordinamento canonico, in: Aymans / Geringer / Schmitz (Hrsg.), Das konsoziative Element in der Kirche (Anm. 10), S. 397 (408); Helmut Schnizer, Das Vereinsrecht, seine canones und die kanonische Praxis. Reflexionen und Notizen zum VI. Kongreß der Consociatio Internationalis in München 1987, in: AfkKR 156 (1987), S. 385 (403); Hallermann, Die Vereinigungen im Verfassungsgefüge der lateinischen Kirche (Anm. 15), S. 415. 20

Gleichwohl wird – worauf Schwendenwein, Die Katholische Kirche (Anm. 6), S. 658 zu Recht hinweist – die Kirchenautorität die Zustimmung im Sinne des c. 300 CIC nicht ohne weiteres verweigern können, wenn eine recognitio statutorum mit positivem Ausgang vorliegt. 21

Zur Steigerungsreihe „recognitio“ – „approbatio“ – „consensus“ siehe Schnizer, Vereinsrecht (Anm. 19), in: AfkKR 156 (1987), S. 385 (404 Fußn. 32).

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voraus.22 Gefordert ist ein subjektives, persönliches Beitreten. Mit der Zustimmung zur Namensführung setzt die zuständige Autorität ihre Glaubwürdigkeit gegenüber den Christgläubigen und der ganzen Umwelt ein.23 Lässt sich der kirchenamtlichen Stellungnahme zu den Statuten hinreichend deutlich eine solch positive Haltung der Leitungsautorität (auch) zum Vereinsnamen entnehmen, erschiene es als bloße Förmelei, zusätzlich eine hiervon gesonderte Zustimmung zur Namensführung zu fordern. Allein aus Gründen der Rechtssicherheit mag es sich gleichwohl empfehlen, die Zustimmung auch ausdrücklich zu erteilen oder einzuholen. C. 300 CIC sagt nicht, warum die Führung der Bezeichnung „katholisch“ einem Zustimmungsvorbehalt unterliegt. Der Grund wird in der Verbindung zur verfassten Kirche zu sehen sein, die durch den Namensbestandteil „katholisch“ öffentlich zum Ausdruck gebracht wird.24 Da ein katholischer Verein in aller Regel mit der Kirche in Verbindung gebracht, wenn nicht gar identifiziert wird, hat die Öffentlichkeit ebenso wie die Kirche selbst ein Interesse daran, dass nur solche Vereine als „katholisch“ in Erscheinung treten, deren Kirchlichkeit sich in der Praxis bewährt hat oder durch geeignete Vorkehrungen in der Satzung25 hinreichend gesichert ist.26 Die Kirchlichkeit27 des antragstellenden Vereins bildet 22

Vgl. Heinrich Mussinghoff / Hermann Kahler, c. 808, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: November 2000). 23

Schnizer, Vereinsrecht (Anm. 19), in: AfkKR 156 (1987), S. 385 (403 f.).

24

Aymans, Kirchliche Vereinigungen (Anm. 11), S. 93; Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 529; Schnizer, Vereinsrecht (Anm. 19), in: AfkKR 156 (1987), S. 385 (402); Schulz, c. 300, Rdnr. 3, in: MK CIC (Anm. 3). 25

Zu denken ist insbesondere an statutarisch gesicherte Aufsichts- und Eingriffsrechte der zuständigen Kirchenautorität (so genannte Drittrechte, hierzu eingehend Stefan Muckel, Kirchliche Vereine in der staatlichen Rechtsordnung, in: HdbStKirchR2 I, S. 827 [838 f.]; vgl. auch Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend [Anm. 8], S. 180). 26

Aymans, Kirchliche Vereinigungen (Anm. 11), S. 93; Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 529. So auch die Deutsche Bischofskonferenz, Novellierung der Grundsätze für die Anerkennung katholischer Organisationen im Sinne des Dekretes des Zweiten Vatikanischen Konzils über das Apostolat der Laien (n. 24), abgedr. in: AfkKR 150 (1981), S. 182, zudem bei Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (Anm. 13): unter a): „Als katholische Organisationen können sich nur solche Zusammenschlüsse von Katholiken bezeichnen, die sich zur katholischen Glaubensüberzeugung bekennen und die im Rahmen der Sendung der Kirche tätig werden wollen.“ 27

Zu den Kriterien der Kirchlichkeit von Verbänden siehe für den Rechtsraum der Deutschen Bischofskonferenz deren „Wort zur Stellung der Verbände in der Kirche“, herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz als Nr. 45 der Reihe „Die Deutschen Bischöfe; zudem abgedruckt (etwa) im Kirchlichen Amtsblatt für das

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zugleich den maßgebenden Gesichtspunkt, an dem die zuständige Autorität ihre Entscheidung über die Erteilung der Zustimmung zur Namensführung auszurichten hat. Kanonischen Vereinen, die beharrlich gegen die kirchliche Lehre und Ordnung oder gegen das Sittengesetz verstoßen oder zu verstoßen bereit sind, kann die Führung der Bezeichnung „katholisch“ nicht gestattet werden. Erscheint die Kirchlichkeit des Vereins gesichert, muss die zuständige Autorität ihre Zustimmung im Regelfall erteilen. Dies folgt aus der Teilhabe aller Gläubigen an der Sendung der Kirche28. Indem der Gesetzgeber dieses Teilhaberecht in c. 216 CIC zur dogmatischen Grundlage für das Recht der Laien, apostolische Unternehmungen zu betreiben, erklärt und im unmittelbaren Zusammenhang damit die Benennung dieser Unternehmungen als „katholisch“ lediglich an die Zustimmung der kirchlichen Autorität bindet, bringt er die Erwartung zum Ausdruck, dass die Zustimmung nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig erteilt wird, wenn die Gläubigen mit eigenen Unternehmungen an der Sendung der Kirche teilnehmen. Wer durch eine apostolische Unternehmung an der Sendung der Kirche teilnimmt, soll diese Unternehmung – vorbehaltlich kirchenamtlicher Zustimmung – grundsätzlich auch katholisch nennen dürfen. Dieser Zusammenhang zwischen dem konsoziativen Apostolat der Laien und der Führung der Bezeichnung „katholisch“ kommt bereits in den Konzilsdokumenten zum Ausdruck.29 Im Codex findet er in c. 216 CIC seinen allgemeinsten Ausdruck, gilt als allgemeiner Grundsatz aber auch für die Förderung der kirchlichen Sendung durch katholische Laienvereine gemäß cc. 298 ff. CIC. Mit der Pflicht der zuständigen Kirchenautorität, der Führung des Namensbestandteils „katholisch“ zuzustimmen, korrespondiert grundsätzlich jedoch kein Rechtsanspruch des beantragenden Vereins oder einer sonstigen Unternehmung. Weder c. 216 CIC noch c. 300 CIC gibt ein subjektives Recht, sich öffentlich „katholisch“ zu nennen.30 Ein solcher Anspruch folgt im Übrigen auch nicht aus c. 803 § 3 CIC oder c. 808 CIC. Der fehlende Anspruchscharakter gelangt in c. 216 CIC besonders deutlich dadurch zum Ausdruck, dass er den Laien ausdrücklich ein „Recht“ zuspricht, apostolische Unternehmungen zu betreiben, dieses „Recht“ aber nicht – was redaktionell nahe gelegen hätte – auf die Führung des Namens erstreckt. Die von c. 216, 1. Halbsatz CIC abgesonderte Reglung der Namensführung und die Formulierung des c. 216, 2. HalbBistum Trier 1990, S. 89 ff., sowie bei Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (Anm. 13), Dok. 11, S. 427 (431 f.). 28

VatII LG, Art. 31; VatII AA, Art. 2.

29

VatII AA, Art. 24 Abs. 2.

30

Aymans, Kirchliche Vereinigungen (Anm. 11), S. 93; Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 529; zweifelnd für den Fall, dass die erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind, Schulz, c. 300, Rdnr. 3, in: MK CIC (Anm. 3).

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satz CIC geben zu erkennen, dass ein subjektives Recht auf Führung der Bezeichnung „katholisch“ nicht gegeben sein soll. Dies gilt, wie der Wortlaut der cc. 803 § 3 und 808 CIC bestätigt, auch dann, wenn die Unternehmung „tatsächlich katholisch ist“, ihre Kirchlichkeit also außer Zweifel steht. Der Grund ist darin zu sehen, dass letztlich nur der Papst und die Bischöfe authentisch erklären können, was als katholisch anzusehen ist.31 Hinzu kommt, dass eine Unternehmung von Laien die Sendung der Kirche aus übergeordneten Gründen, die mit der Unternehmung selbst nichts zu tun haben, unter Umständen wirksamer verfolgen kann, wenn sie keinen konfessionellen Namen führt.32 In diesem Fall müsste der Ordinarius einen Antrag, den Namensbestandteil „katholisch“ führen zu dürfen, in Ausübung seiner Hirtensorge ablehnen. Die Entscheidung, ob einem Antrag nach c. 216, 2. Halbsatz CIC resp. c. 300 CIC zu entsprechen ist, erfordert somit eine umfassende Prüfung und Abwägung aller relevanten Umstände und Interessen in einer komplexen Gesamtentscheidung, die den Beurteilungshorizont der einzelnen Unternehmung oder eines Vereins in aller Regel übersteigt. Auch dies spricht gegen den Rechtsanspruch eines einzelnen Vereins, sich katholisch nennen zu dürfen. Die Entscheidung über die öffentliche Verwendung der Bezeichnung „katholisch“ liegt vielmehr im Ermessen der jeweils zuständigen Kirchenautorität. Dies erscheint im Ergebnis auch durchaus sachgerecht, da der öffentliche Gebrauch des Namensbestandteils „katholisch“ einen Verein oder eine sonstige Unternehmung mit der verfassten Kirche in Zusammenhang bringt und damit auch deren Interessen berührt. Ein Anspruch eines Vereins gegen die zuständige Kirchenautorität, dem Antrag auf Führung der Bezeichnung „katholisch“ zuzustimmen, ist folglich nur denkbar, wenn das Ermessen der kirchlichen Autorität sich im Einzelfall in der Weise auf Null reduziert hat, dass nur die Zustimmung zur Namensführung als ermessensfehlerfrei anzusehen ist.33 Eine solche Ermessensreduzierung auf Null dürfte indes nur ausnahmsweise gegeben sein. Sie setzt voraus, dass die Kirchlichkeit der antragstellenden Gemeinschaft gesichert ist, ihre Ziele sich deutlich im Rahmen der in c. 298 § 1 CIC umschriebenen Zielsetzungen halten, die öffentliche Bezeichnung als „katholisch“ das apostolische Wirken der Gemeinschaft fördert und kein beachtlicher Grund ersichtlich ist, der gegen die Namensführung spricht. Vor allem dürfte ein Anspruch auf Zustimmung zu bejahen sein, wenn die Ausübung des Grundrechts auf Vereinigungsfreiheit aus 31

Mussinghoff / Kahler, c. 808, Rdnr. 1, in: MK CIC (Anm. 22).

32

Beispiele bei Schnizer, Vereinsrecht (Anm. 19), in: AfkKR 156 (1987), S. 385 (406).

33

Zur Rechtsfigur der „Ermessensreduzierung auf Null“ im deutschen Verwaltungsrecht siehe nur Hans J. Wolff / Otto Bachof / Rolf Stober, Verwaltungsrecht, Band 1, 11. Aufl., München 1999, § 31 IV 6, mit weiteren Nachweisen in Rdnr. 56.

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c. 215 CIC ohne die Möglichkeit, sich als „katholisch“ zu bezeichnen, wesentlich erschwert wäre, wenn die betreffende Gemeinschaft für ihr apostolisches Wirken also wesentlich darauf angewiesen ist, öffentlich als katholisch in Erscheinung zu treten. e) Bezeichnung als katholisch C. 300 CIC bezieht den Zustimmungsvorbehalt auf die Bezeichnung „katholisch“ (nomen catholicae). Vom Zustimmungsvorbehalt erfasst wird jedenfalls die Führung des Adjektivs „katholisch“ zur Kennzeichnung der Vereinigung im Vereinsnamen. Bezeichnet das Adjektiv im Vereinsnamen nicht den Verein als solchen, sondern die Konfession seiner Mitglieder, soll c. 300 CIC nach Auffassung des kanonistischen Schrifttums34 hingegen keine Anwendung finden. Der Name „Vereinigung katholischer Arbeitnehmer“ unterfiele demnach nicht dem Vorbehalt kirchenamtlicher Zustimmung, wohl aber der Name „Katholische Arbeitnehmervereinigung“.35 Eine derartige Differenzierung begegnet Bedenken. Zweifelhaft erscheint bereits, ob diese subtil anmutende Differenzierung von den angesprochenen Verkehrskreisen überhaupt wahrgenommen wird. Im Übrigen dürfte bei der Namensgebung in der Praxis keineswegs immer oder auch nur zum überwiegenden Teil die Überlegung leitend gewesen sein, ob der Verein selbst als „katholisch“ benannt sein soll oder lediglich seine Mitglieder als „katholisch“ ausgewiesen werden sollen. Entscheidender für die konkrete Ausformung des Vereinsnamens dürften vielfach sprachliche und klangliche Aspekte sein. So verdient etwa die Bezeichnung „Sozialdienst katholischer Frauen“ schon unter sprachästhetischen Gesichtspunkten den Vorzug vor einer Benennung als „Katholischer Sozialdienst der Frauen“. Selbst wenn in diesem Beispiel in bewusster Entscheidung die Frauen und nicht der Sozialdienst als „katholisch“ benannt worden sein sollten, ließe sich daraus nicht der Schluss ziehen, dass der Sozialdienst selbst nicht auch als katholisch zu gelten habe, da die hierfür erforderliche Bezeichnung als „Katholischer Sozialdienst katholischer Frauen“ als sprachlich verunglückt a priori nicht in Betracht käme. Ein unbefangener Beobachter würde eine wiederholende Nennung des Adjektivs „katholisch“ in Bezug auf den Verein auch gar nicht erwarten. Denn wenn die Katholizität der Mit-

34

Winfried Aymans, Kirchliche Vereinigungen (Anm. 2), in: AfkKR 158 (1989), S. 369 (380); ders., Kirchliche Vereinigungen (Anm. 11), S. 92 mit Fußn. 183; Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 529; Schulz, c. 300, Rdnr. 5, in: MK CIC (Anm. 3). 35

Beispiel aus Aymans, Kirchliche Vereinigungen. Kommentar (Anm. 11), S. 92 mit Fußn. 183; Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 529.

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glieder so wesentlich ist, dass sie im Vereinsnamen zum Ausdruck gebracht wird, ist ohnehin anzunehmen, dass der Verein und das Vereinsleben insgesamt auf konfessioneller Grundlage betrieben werden und somit der Kirche zuzuordnen sind. Im Ergebnis stellt daher der Name „Bewegung katholischer Landfrauen“ in der öffentlichen Wahrnehmung eine ähnliche Zuordnung zur katholischen Kirche her wie die Bezeichnung „Katholische Landfrauenbewegung“. Die vom kanonistischen Schrifttum vertretene Differenzierung findet auch im Wortlaut des c. 300 CIC keine Stütze. Zwar bezieht c. 300 CIC das Adjektiv “katholisch” grammatisch unmittelbar auf den Verein. (Die Wendung nomen „catholicae“ meint nomen „consociationis catholicae“.) Dieser grammatische Zusammenhang bildet jedoch keine tragfähige Grundlage für die These, dass c. 300 CIC den Namen „katholisch“ nur insoweit regelt, als er den Verein und nicht dessen Mitglieder bezeichnet. Einer solchen Deutung ließe sich bereits entgegen halten, dass die Norm den Begriff consociatio im Zusammenhang mit dem Adjektiv catholicae – anders als die cc. 803 § 3, 808 CIC – gerade nicht wiederholt. Ob der Gesetzgeber diesen Unterschied zwischen c. 300 CIC und den cc. 803 § 3, 808 CIC bewusst gesetzt hat, um Unterschiedliches zum Ausdruck zu bringen, ist allerdings fraglich. Desgleichen ist unklar, ob die Verben assumere in c. 300 CIC und gerere in cc. 803 § 3, 808 CIC weitgehend synonym verwandt werden oder Verschiedenes zum Ausdruck bringen sollen. Diese sprachlichen Nuancierungen legen nahe, dass der Gesetzgeber bei der Gestaltung dieser Vorschriften eine gewisse Freiheit der Formulierung hat obwalten lassen. Daher darf der genaue Normtext bei der Interpretation des Norminhalts nicht überfordert werden. Dies gilt auch für die konkrete Verwendung und grammatische Einbettung des Adjektivs „katholisch“ in den Textzusammenhang des c. 300 CIC. Weitgehende Rückschlüsse auf die Reichweite des Zustimmungsvorbehalts dürften sich hieraus somit kaum ableiten lassen. Die enge Auslegung des Zustimmungsvorbehalts im Schrifttum wird auch der ratio legis des c. 300 CIC nicht gerecht. Dessen Zweck, die Reputation der Kirche zu schützen und die Gläubigen vor Irreführungen zu bewahren,36 legt vielmehr nahe, einen Vereinsnamen unabhängig davon der kirchenamtlichen Zustimmung zu unterwerfen, ob der Bestandteil „katholisch“ sich auf den Verein selbst oder auf dessen Mitglieder bezieht. Denn beide Namensgestaltungen sind in gleicher Weise geeignet, den Ruf der Kirche zu schädigen oder die Gläubigen irrezuleiten. So wird etwa ein „Verband Katholischer Juristen“ in der Öffentlichkeit mit der verfassten Kirche in gleicher Weise in Verbindung gebracht wie ein „Katholischer Juristenverband“. Wie zweifelhaft und unpraktikabel eine namensrechtliche Differenzierung nach „Katholischen Vereinen“

36

Hierzu oben, Gliederungspunkt I. 1. d) mit Anm. 24.

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und „Vereinen katholischer Mitglieder“ ist, zeigt sich besonders bei einem „Dachverband Katholischer Mitgliedsvereine“. Hier wären nach der Auffassung des Schrifttums die Namen der Mitgliedsvereine zustimmungspflichtig, nicht aber der Name des Verbandes. Die im Schrifttum vertretene, soweit ersichtlich auch normgenetisch nicht begründbare Differenzierung fordert im übrigen dazu heraus, die Regelung des c. 300 CIC durch eine geschickte Platzierung des Attributs „katholisch“ im Verbandsnamen zu umgehen, und öffnet einer missbräuchlichen Verwendung dieses Namensbestandteils damit Tür und Tor. Hiergegen bietet auch das weltliche Namensrecht keinen Schutz, da eine kirchenrechtlich erlaubte Namensführung nicht unbefugt im Sinne des § 12 BGB erfolgt. Daher erscheint es geboten, den Zustimmungsvorbehalt des c. 300 CIC unterschiedslos auf alle Vereinsnamen zu beziehen, die das Attribut enthalten. Der Anwendungsbereich des c. 300 CIC ist ferner nicht auf Selbstbezeichnungen beschränkt, die statutarisch oder tatsächlich als Vereinsname geführt werden. Zwar lässt sich der in c. 300 CIC und in den cc. 216, 803 § 3 und 808 CIC verwandte Ausdruck nomen durchaus in einem engen, ausschließlich auf den Vereinsnamen bezogenen Sinne verstehen; der Begriff wird im Codex aber auch im Sinne von „Selbstbezeichnung“37, „Amtsbezeichnung“38 oder „Ruf“39 verwendet. Ein erweitertes, über den eigentlichen Vereinsnamen hinausreichendes Verständnis des Begriffs nomen im Sinne von „Selbstbezeichnung“ ist auch für c. 300 CIC – und in gleicher Weise für die cc. 216, 803 § 3 und 808 CIC – geboten, denn für die ratio legis spielt keine Rolle, ob ein Verein sich im Namen oder in namensgleicher Weise als „katholisch“ darstellt. In der öffentlichen Wahrnehmung macht es für die Einschätzung des Vereins und seines Verhältnisses zur Kirche keinen grundsätzlichen Unterschied, ob ein Verein sich nach der Vereinssatzung „Katholische Pfadfinderschaft Sankt Georg“ nennt oder sich den Namen „Deutsche Pfadfinderschaft Sankt Georg“ gibt, in der Öffentlichkeit aber plakativ als „der katholische Pfadfinderverband in der Bundesrepublik“40 in Erscheinung tritt. Die Öffentlichkeit nimmt den Verein in dem einen wie in dem anderen Fall als „katholisch“ wahr und ordnet ihn der Kirche und ihrer Lehre zu. Für den Zweck des c. 300 CIC ist allein entscheidend, dass der Verein demonstrativ und dauerhaft als „katholisch“ auftritt. Wie 37

So, nach der autorisierten Übersetzung, in c. 803 § 3 und 808 CIC.

38

So in cc. 482 § 2, 1420 § 3 CIC.

39

So in c. 1717 § 2 CIC.

40

So ausdrücklich in Ziffer 1 der Satzung der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg vom 16.6.1990, abgedr. bei Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (Anm. 13), S. 483.

Die Führung der Bezeichnung „katholisch“

711

dieser Anspruch nach außen getragen wird, ob im Vereinsnamen selbst oder lediglich in Verbindung mit diesem, spielt eine untergeordnete Rolle. Im Lichte des Normzwecks ist ein Verein, der die Bezeichnung „katholisch“ namensgleich nach außen kehrt, somit nicht anders zu behandeln als ein Verein, der in dieser Lage die gebotene Konsequenz zieht und dieses Attribut zum Bestandteil seines Namens macht. Folglich ist auch die namensgleiche oder namensähnliche Verwendung des Adjektivs „katholisch“ nach c. 300 CIC,41 und ebenso nach den cc. 216, 803 § 3 und 808 CIC, zustimmungspflichtig. Damit wird zugleich die Möglichkeit verbaut, den Zustimmungsvorbehalt dieser Vorschriften durch Selbstbezeichnungen als „katholisch“ außerhalb des Namens, aber mit namensgleicher oder -ähnlicher Wirkung geschickt zu unterlaufen. Selbstbeschreibungen als „katholisch“, die keine dem Namensbestandteil „katholisch“ vergleichbare Wirkung in der Öffentlichkeit zeitigen, werden von c. 300 CIC oder den cc. 216, 803 § 3 oder 808 CIC hingegen nicht erfasst. Hierauf deutet bereits die Verwendung des Begriffs nomen hin, den der Codex – wie gezeigt – durchgängig42 in der Bedeutung „Namen“, „Bezeichnung“ oder „Ruf“ verwendet. Nach diesem Sprachgebrauch des Codex werden bloße Selbstbeschreibungen ohne Namens- oder Bezeichnungsfunktion vom Begriff nomen nicht erfasst. Ein solches ist vom Zweck des Zustimmungsvorbehalts auch nicht gefordert. So berührt etwa die vereinsinterne Selbstbezeichnung als „katholisch“ den Schutzzweck des c. 300 CIC und der übrigen genannten Kanones regelmäßig nicht, es sei denn, man wollte diesen Bestimmungen einen in die einzelnen Vereine hineinreichenden Auftrag zum Schutze der Mitglieder vor ihrem eigenen Verein entnehmen. Die damit verbundenen Einmischungen in den Binnenbereich der Vereine griffen jedoch schwerwiegend in die durch c. 215 CIC gewährleistete Vereinigungsfreiheit ein. Letztlich könnte die zuständige Kirchenautorität unter dieser Prämisse selbst auf vereinsinterne Diskussionen über den katholischen Charakter des Vereins Einfluss nehmen, indem sie die gesprächsweise geäußerte oder schriftlich formulierte Verwendung der Bezeichnung „Katholischer Verein“ untersagt. Derartige Eingriffe in die Vereinigungsfreiheit lassen sich weder durch den Schutzweck des c. 300 CIC rechtfertigen, noch überhaupt wirksam durchsetzen. Der vereinsinterne Bereich wird von c. 300 CIC folglich nicht erfasst.43

41

Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (Anm. 8), S. 204.

42

Feste Wortverbindungen, wie nomen dare in cc. 307 § 3, 1374 CIC, bleiben hier außer Betracht. 43

Auf die cc. 803 § 3 und 808 CIC lässt sich dieses Ergebnis nicht ohne weiteres übertragen, da Schulen und Hochschulen mit Vereinen insofern nicht vergleichbar sind.

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Zustimmungsfrei dürften auch einmalige oder seltene Selbstbezeichnungen als „katholisch“ mit Außenbezug sein, solange ihnen nicht die Wirkung eines Namens oder einer namensähnlichen Bezeichnung zukommt. Hiervon wird in der Regel selbst dann nicht auszugehen sein, wenn ein Verein sich auf einer Großveranstaltung plakativ als „katholisch“ bezeichnet. Problematischer ist hingegen jede dauerhafte Selbstbezeichnung als „katholisch“ in nach außen wirkenden Darstellungen, etwa in der Ordnung eines Vereins. Entscheidend sind die jeweiligen Umstände des Einzelfalles. f) Widerruf Die zuständige Kirchenbehörde ist an die einmal erteilte Zustimmung, die Bezeichnung „katholisch“ zu führen, gebunden, wenn der zustimmende Verwaltungsakt rechtmäßig ist. Eine rechtswidrig erteilte Zustimmung ist demgegenüber unbeachtlich, soweit sie das wohlerworbene Recht eines Dritten verletzt oder mit einem Gesetz oder einer gebilligten Gewohnheit in Widerspruch steht. Ein derartiger Verwaltungsakt ist nicht – wie im deutschen Verwaltungsrecht – anfechtbar oder aufhebbar, sondern gemäß c. 38 CIC von vorn herein rechtlich unwirksam.44 Da von ihm keine Rechtswirkungen ausgehen, bildet er keine rechtliche Grundlage für die Führung des Namensbestandteils „katholisch“. Die Namensführung erfolgt daher unbefugt, soweit sie in der Zwischenzeit nicht zu einem wohlerworbenen Recht im Sinne des c. 4 CIC erstarkt ist. Hierauf sollte die Erlassbehörde den namenführenden Verein hinweisen, um Rechtsklarheit herzustellen. Eine solche Mitteilung hat jedoch keine rechtsgestaltende Wirkung; sie ist rein deklaratorischer Natur. Möchte sich die Erlassbehörde von einer rechtswirksam erteilten Zustimmung lösen, muss sie den zugrunde liegenden Verwaltungsakt außer Kraft setzen. Der Codex sieht hierfür in c. 47 die Möglichkeit des Widerrufs vor. Der Widerruf erfolgt üblicherweise durch Verwaltungsakt, ausnahmsweise durch Gesetz. Als Verwaltungsakt ist der Widerruf an die Vorschriften der cc. 35 ff. CIC gebunden und muss insbesondere schriftlich ergehen. Die Einhaltung der Schriftform ist beim Widerruf aber ebenso wenig Voraussetzung für die rechtliche Wirksamkeit45 wie beim ursprünglichen Verwaltungsakt.46 Der Widerruf 44

Die Nichtigkeitsfolge tritt nach c. 38 CIC ausnahmsweise dann nicht ein, wenn die zuständige Autorität dem Verwaltungsakt ausdrücklich eine Abänderungsklausel beigefügt hat. 45

Heimerl / Pree, Kirchenrecht. Allgemeine Normen und Eherecht (Anm. 17), S. 60; Socha, c. 47, Rdnr. 4, in: MK CIC (Anm. 17). 46

Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (Anm. 8), S. 202. Zum Schriftform nach c. 37 CIC im Übrigen bereits oben, unter Gliederungspunkt I. 1. d).

Die Führung der Bezeichnung „katholisch“

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kann ausdrücklich erfolgen, indem der ursprüngliche Verwaltungsakt expressis verbis aufgehoben wird, oder stillschweigend, etwa durch Erlass eines Verwaltungsaktes mit gegenteiligem Inhalt.47 Zuständig ist in erster Linie die Behörde, die den Ausgangsverwaltungsakt, also die Zustimmung zur Namensführung, erteilt hat.48 Der Widerruf wird nach c. 47 CIC mit der amtlichen Bekanntgabe an den betroffenen Verein wirksam. Da der Widerruf das Prinzip der Unabänderlichkeit des Verwaltungsaktes49 durchbricht und dadurch die Rechtssicherheit berührt, ist für seine wirksame Erklärung ein wichtiger Grund50 erforderlich. Ein wichtiger Grund für den Widerruf der Zustimmung kann insbesondere gegeben sein, wenn Voraussetzungen, die für die Erteilung der Zustimmung tragend waren, entfallen sind51 oder wenn neue Umstände hinzugetreten oder sichtbar geworden sind, die einer erneuten Erteilung der Zustimmung entgegenstünden. Wegen des schutzwürdigen Vertrauens, den eine rechtmäßig erteilte Zustimmung zur Namensführung hervorruft, und wegen der Bedeutung eines eingeführten Namens für die Identität und Identifizierbarkeit eines Vereins darf eine Zustimmung nicht schon dann widerrufen werden, wenn sie nicht mehr erteilt werden müsste, sondern nur dann, wenn sie nicht mehr erteilt werden dürfte. Dies setzt voraus, dass die den Widerruf tragenden Gründe das Interesse des Vereins an der Fortführung seines Namens so eindeutig überwiegen, dass ihre Erteilung nach jeder denkbaren Betrachtung ermessensfehlerhaft wäre. Diese Konstellation dürfte regelmäßig gegeben sein, wenn der sich „katholisch“ nennende Verein tatsächlich nicht katholisch ist, etwa indem er beharrlich gegen die kirchliche Glaubens- und Sittenlehre verstößt, die kanonische Rechtsordnung verletzt oder die kirchliche Disziplin nachhaltig stört.52 In diesem Fall gehen das Interesse der Kirche, eine 47

Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 235 f. Ebenso bereits Mörsdorf, Lb. I, S. 146 in Bezug auf den alten Codex. 48

Socha, c. 47, Rdnr. 3, in: MK CIC (Anm. 17). – Neben der Erlassbehörde kommt für den Widerruf auch eine übergeordnete Autorität in Betracht (Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 235; Beispiele bei Mörsdorf, Lb. I, S. 146). 49

Hierzu Herbert Kalb, Verwaltungsakt und Verwaltungsverfahren, in: HdbKathKR2, S. 118 (125). 50 Vgl. auch Socha, c. 47, Rdnr. 3, in: MK CIC (Anm. 17), ähnlich Mörsdorf, Lb. I, S. 146: „gerechter Grund“. 51

So Schmitz, Fragen der Rechtsüberleitung (Anm. 11), in: AfkKR 156 (1987), S. 367 (377). 52

Schulz, Der neue Codex und die kirchlichen Vereine, Paderborn 1986, S. 52; ders., c. 300, Rdnr. 3, in: MK CIC (Anm. 3), ders., Die vereinsrechtlichen Kategorien des neuen Codex Iuris Canonici, in: Klaus Lüdicke / Hans Paarhammer / Dieter A. Binder (Hrsg.), Recht im Dienste des Menschen. Eine Festgabe. Hugo Schwendenwein zum 60.

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Verdunkelung ihres Zeugnisses zu vermeiden, und das Interesse der Öffentlichkeit, über den katholischen Charakter des Vereins und sein Verhältnis zur Kirche nicht getäuscht zu werden, dem Interesse des Vereins, sich öffentlich weiter als „katholisch“ zu gerieren, eindeutig vor, zumal der Verein es regelmäßig in der Hand hat, den Anforderungen der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre zu genügen, das Kirchenrecht einzuhalten und die kirchliche Disziplin zu beobachten. Selbiges gilt, wenn ein Verein seine apostolische Zielsetzung im Sinne des c. 298 § 1 CIC aufgibt oder nicht mehr praktiziert. Ein Widerrufsgrund kann ferner gegeben sein, wenn ein Verein seinen katholischen Charakter dadurch einbüßt, dass die überwiegende Zahl seiner Mitglieder nicht der katholischen Kirche angehört.53 Soweit der Codex die Mitwirkung von Nichtkatholiken am Vereinsleben erlaubt,54 hindert deren Teilnahme die Führung der Bezeichnung „katholisch“ allerdings nicht. Ein Widerruf der Namensführung kommt erst in Betracht, wenn der Anteil der Nichtkatholiken am Mitgliederbestand so hoch ist oder ihre Mitarbeit das Vereinsleben konfessionell so weitgehend prägt, dass der Verein und seine Tätigkeit insgesamt nicht mehr als katholisch wahrgenommen werden. Demgegenüber dürften Gründe außerhalb des Vereins, etwa gesellschaftlicher oder (kirchen)politischer Art, einen Widerruf im Allgemeinen nicht rechtfertigen. Insgesamt ist somit festzustellen, dass ein Widerruf der Zustimmung zur Führung der Bezeichnung „katholisch“ regelmäßig nur dann in Betracht kommt, wenn der Verein sich durch sein Erscheinungsbild oder Verhalten so weitgehend von der Kirche oder ihren Lehren absetzt, dass er nicht mehr als kirchlich oder zumindest katholisch wahrgenommen wird. Eine einmal erteilte Zustimmung nach c. 300 CIC erweist sich in der Praxis damit als weitgehend rechtsbeständig, soweit der Verein die Gründe für einen Widerruf nicht selbst herbeiführt. Die deutschen Bischöfe haben von der Drohung, einer Gemeinschaft den Namensbestandteil „katholisch“ zu entziehen, in der Vergangenheit denn auch nur zurückhaltend Gebrauch gemacht.55 Gegen einen etwaigen Ent-

Geburtstag, Graz / Wien / Köln 1986, S. 517 (524); Schmitz, Fragen der Rechtsüberleitung (Anm. 11), in: AfkKR 156 (1987), S. 367 (377); Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (Anm. 8), S. 202. 53 Vgl. Schwendenwein, Die Katholische Kirche (Anm. 6), S. 658; Schulz, Die vereinsrechtlichen Kategorien des neuen Codex Iuris Canonici (Anm. 52), S. 517 (524) mit Fußn. 48 (S. 530). 54 Hierzu eingehend Tillmanns, Die Mitgliedschaft von Nichtkatholiken in katholischen Vereinigungen (Anm. 6), S. 479 (497 ff.) mit weit. Nachw. 55

Ein Beispiel aus jüngerer Zeit bildet die Drohung des Kölner Kardinals Meisner, dem Jugendverband „Katholische Junge Gemeinde“ die Befugnis zur Führung des Namensbestandteils „katholisch“ zu entziehen, weil dieser zum Abschluss der zweijährigen

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zug könnte sich der betroffene Verein kirchenrechtlich im Wege des hierarchischen Rekurses nach den cc. 1732 ff. CIC sowie weltlich-rechtlich im Wege der Zivilklage wegen Verletzung des Namensrechts aus § 12 BGB zur Wehr setzen. 2. C. 803 § 3 CIC über das Schulwesen Gemäß c. 803 § 3 CIC darf keine Schule, selbst wenn sie tatsächlich katholisch ist, die Bezeichnung „Katholische Schule“ führen, es sei denn mit Zustimmung der zuständigen kirchlichen Autorität. a) Katholische Schule Der Rechtsbegriff der „katholischen Schule“ ist in c. 803 § 1 CIC legaldefiniert. „Katholische Schule“ ist demnach eine Schule, welche die zuständige kirchliche Autorität oder eine kirchliche öffentliche juristische Person führt oder welche die kirchliche Autorität durch ein schriftliches Dokument als solche anerkennt.56 Entscheidend für den katholischen Charakter einer Schule ist in erster Linie somit der Rechtsträger. Als Schulträger kommen in Betracht kirchliche Autoritäten und öffentliche juristische Personen. „Kirchliche Autorität“ im Sinne des c. 803 § 3 CIC ist ein kirchenamtliches Organ, insbesondere der Papst oder die päpstlichen Behörden, der Ortsordinarius oder seine Behörden, der Ortspfarrer (auch Personalordinarius oder Personalpfarrer) oder ein

Aktion „Wirbelsturm im Kirchenturm“ im September 1994 ein kirchenpolitisches Papier verabschieden wollte, in dem u. a. die Zulassung von Frauen zum Priesteramt, die Anerkennung der Homosexualität als gleichwertige Lebensform und demokratische Wahlen zu den Leitungsämtern in Gemeinden und Bistümern gefordert wurde (hierzu: Kirsten Boldt, Der Kardinal und die Jugend, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 29.9.1994; Michael Brockerhoff, Katholische Jugend gab Illusionen auf, in: Rheinische Post vom 17.9.1994; Petra Dierkes, Kardinal Meisner warnt KJG in letzter Minute, in: BDKJ Journal 3 [1994], S. 10 [16]). Weitere Beispiel bei Tillmanns, Der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (Anm. 8), S. 202 in Fußn. 215. 56

Ähnlich Art. 2 § 3 des Vertrages zwischen dem Hl. Stuhl und der Republik Österreich vom 9. Juli 1962 zur Regelung von Schulfragen, in: AAS 54 (1962), S. 641 ff., sowie in: AfkKR 131 (1962), S. 466, hier S. 472: „Unter katholischen Schulen im Sinne dieses Artikels sind jene Schulen zu verstehen, die von der Kirche oder den nach kirchlichem Recht bestehenden Einrichtungen erhalten werden sowie die von Vereinen, Stiftungen und Fonds geführten Schulen, wenn und solange sie vom zuständigen Diözesanordinarius als katholische Schulen anerkannt sind.“

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Religioseninstitut.57 „Öffentliche juristische Personen“ sind in c. 116 § 1 CIC definiert als Gesamtheiten von Personen und Sachen, die von der zuständigen kirchlichen Autorität errichtet werden, damit sie innerhalb der für sie festgesetzten Ziele nach Maßgabe der Rechtsvorschriften im Namen der Kirche die ihnen im Hinblick auf das öffentliche Wohl übertragene eigene Aufgabe erfüllen. Hierzu gehören etwa die Bischofskonferenzen, die Bistümer und Pfarreien,58 aber auch öffentliche Vereine von Gläubigen gemäß cc. 312 ff. CIC.59 „Öffentliche juristische Personen im Sinne des c. 803 § 3 CIC sind zudem die katholische Kirche und der Apostolische Stuhl, die nicht erst durch hoheitlichen Akt ins Dasein treten, sondern schon aufgrund göttlicher Anordnung den Charakter juristischer Personen tragen, c. 113 § 1 CIC. b) Antrag C. 808 § 3 CIC regelt die Voraussetzungen, unter denen eine Schule sich die Bezeichnung „Katholische Schule“ aus eigenem Entschluss zulegen darf. In der schulischen Praxis denkbar ist aber auch der umgekehrte Fall, in dem die zuständige Kirchenautorität einer Schule den Namensbestandteil „katholisch“ durch einen Verleihungsakt gleichsam von außen überstülpt. Diese Möglichkeit ist durch c. 808 § 3 CIC keineswegs ausgeschlossen. Dies würde voraussetzen, dass die Norm die Erlangung der Bezeichnung „katholisch“ abschließend regelte und hierfür nur den Weg der Beantragung und kirchenamtlichen Zustimmung vorsähe. Dass eine Verleihung der Bezeichnung „Katholische Schule“ aus freier Initiative der Kirchenautorität ohne vorangehenden Antrag der Schule ausgeschlossen sein soll, lässt sich dem Wortlaut des c. 803 § 3 CIC indes nicht entnehmen und ist auch vom Schutzzweck der Norm, Kirche und Öffentlichkeit vor irreführenden Selbstbezeichnungen als „Katholische Schule“ zu schützen, nicht geboten. Diese Gestaltung wird von c. 803 § 3 CIC mithin nicht erfasst. Über die Möglichkeit der zuständigen Behörde, die Bezeichnung „katholisch“ einer Schule ohne deren Antrag, womöglich gegen ihren Willen zu verleihen, sagt die Bestimmung nichts aus. In Bezug auf die Schulen, die von der Kirche selbst, insbesondere von den Bistümern, getragen werden, könnte sich ein einseitiges Bestimmungsrecht der zuständigen Kirchenhoheit über den Namen der Schule aus c. 800 § 1 CIC

57

Mussinghoff / Kahler, c. 803, Rdnr. 1, in: MK CIC (Anm. 22).

58

Aymans / Mörsdorf, KanR I, S. 311; James A. Coriden, An Introduction to Canon Law, New York / Mahwah N.J., 1991, S. 151; Richard Puza, Katholisches Kirchenrecht, Heidelberg 21993, S. 149. 59

Vgl. c. 301 § 1 CIC.

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717

ergeben. Hiernach hat die Kirche das Recht, Schulen jedweden Wissenszweiges, jedweder Art und Stufe zu gründen und zu leiten. Dieses Recht erstreckt sich auf die Gründung und Einrichtung, Leitung und Führung eigener Schulen,60 und umfasst damit prinzipiell auch das Recht auf Namensgebung, soweit dem nicht vorrangige Rechte der Schulen oder Dritter entgegenstehen. Die aus der Vereinigungsfreiheit fließende Vereinsautonomie, die der Verleihung der Bezeichnung „katholisch“ an kirchliche Vereine ohne entsprechenden Antrag der betroffenen Gemeinschaft entgegen steht,61 spielt für das Schulwesen keine Rolle. Der Codex kennt auch keine der Vereinsautonomie vergleichbare Schulautonomie. Ein von den Schulen eigenverantwortlich auszugestaltender Innenbereich, der einzig der kirchenamtlichen Rechtsaufsicht unterworfen wäre, wäre mit dem der Kirche von Gott aufgetragenen Recht und der Pflicht zur Erziehung gemäß c. 794 CIC schwerlich zu vereinbaren. Die Erziehungspflicht aus c. 794 CIC richtet sich auf das fundamentale Recht aller Gläubigen auf eine christliche Erziehung62 aus c. 217 CIC. Das Grundrecht auf Erziehung beinhaltet einen Rechtsanspruch gegen die Hirten der Kirche, alles ihnen mögliche zu tun, um eine christliche Erziehung sicherzustellen.63 Diesem Anspruch würde die Kirche nicht gerecht, wenn sie den einzelnen Schulen eine der Vereinsautonomie vergleichbare Autonomie einräumte. Eine einseitige Verfügung über den Schulnamen ist auch mit dem in c. 796 § 2 CIC grundgelegten Gedanken der christlichen Erziehungsgemeinschaft 64 vereinbar. Aus der Pflicht der Lehrer, mit den Eltern eng zusammenzuarbeiten, erwächst den Eltern zwar ein Anspruch, in Fragen der Erziehung ihres Kindes gehört zu werden, und das Recht, in Elternvereinigungen und -versammlungen ihren Erziehungswillen zu äußern.65 Mitwirkungs- oder Mitentscheidungsrechte in Bezug auf den Schulnamen, der mit der Erziehung der Kinder nur in sehr mittelbarem Zusammenhang steht, lassen sich aus dem Kooperationsgebot indes nicht ableiten.

60

Heinrich Mussinghoff, c. 800, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: Mai 1986).

61

Hierzu oben, Gliederungspunkt I. 1. b).

62

Siehe auch VatII GE, Art. 2.

63

Mussinghoff, c. 794, Rdnr. 2, in: MK CIC (Anm. 60).

64

Hierzu Manfred Baldus, Katholische Freie Schulen im staatlichen und kirchlichen Recht (Schriftenreihe „Pädagogik und Freie Schule“ der Fördergemeinschaft für Schulen in freier Trägerschaft, Heft 58), Köln 2001, S. 32 f.; ders., Die katholische Schule im kirchlichen Recht, in: Rainer Ilgner (Hrsg.), Handbuch Katholische Schule, Band 4, Köln 1992, S. 15 (25 ff.). 65

Mussinghoff, c. 796, Rdnr. 4, in: MK CIC (Anm. 60).

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Bei Schulen, die von anderen kirchlichen Einrichtungen, insbesondere Orden, getragen werden, könnten der einseitigen Verleihung der Bezeichnung „Katholische Schule“ durch die kirchliche Autorität Autonomierechte des Schulträgers66 entgegenstehen. Für die schwierige Abstimmung der bischöflichen Leitungsgewalt im Schulwesen mit der Autonomie der Ordensverbände weist c. 806 § 1 CIC die Richtung, indem er einerseits das Recht des Bischofs bestätigt, Ordensschulen zu beaufsichtigen, zu visitieren und für sie Vorschriften zur allgemeinen Ordnung zu erlassen, diese allgemeinen Ordnungsvorschriften andererseits aber nur unbeschadet der Autonomie der Ordensinstitute hinsichtlich der inneren Leitung ihrer Schulen gelten.67 Vorschriften zur allgemeinen Ordnung im Sinne des c. 806 § 1 CIC sind solche, die nicht für einzelne oder einige, sondern für alle katholischen Schulen im jeweiligen Bistum Geltung beanspruchen.68 Der Bischof kann einzelne Schulen, die sich nicht in der Trägerschaft des Bistums befinden, demnach nicht zur Führung der Bezeichnung „katholisch“ verpflichten. Ob er im Wege der allgemeinen Ordnungsvorschrift anordnen könnte, dass alle katholischen Schulen, die in seinem Bistum belegen sind, sich als „Katholische Schulen“ bezeichnen müssen, hängt davon ab, ob eine solche Benennung der Schulen ein Aspekt der „allgemeinen Ordnung“ im Sinne des c. 806 § 1 CIC ist. Der Begriff der „allgemeinen Ordnung“ umfasst „die allgemeine Verteilung der katholischen Schulen in der Diözese, ihre Zusammenarbeit und die Aufsicht über sie, damit sie nicht weniger als andere Schulen geeignet sind zur Erreichung der kulturellen und sozialen Ziele.“69 Die einheitliche Benennung aller Schulen als „katholisch“ macht die Verteilung der katholischen Schulen im Bistum sichtbar und kann zur Erreichung der speziellen kirchlichen Zielsetzungen im kulturellen und sozialen Bereich beitragen. Insoweit lässt sich die Namensgebung durchaus unter den Begriff der „allgemeinen Ordnung“ subsumieren und stellt somit einen möglichen Regelungsgegenstand einer bischöflichen Ordnungsvorschrift im Sinne des c. 806 § 1 CIC dar. Das bischöfliche Ordnungsrecht nach c. 806 § 1 CIC wird allerdings durch die Autonomie der inneren Leitung begrenzt. Zur inneren Leitung der Schule gehört z. B. die Gestaltung des Schullebens nach der Spiritualität des Instituts, der Erziehungsstil, die Anstellung der Lehrkräfte, die Bil66

Zur Autonomie der Ordensinstitute Audomar Scheuermann, Das Grundrecht der Autonomie im Ordensrecht, in: Ordenskorrespondenz 25 (1984), S. 31 ff. 67 Vorläufer dieser Bestimmung ist Art. 35 Nr. 4 Satz 2 des Konzildekrets „Christus Dominus“, in: AAS 58 (1966), S. 673 (692): „Religiosorum quoque scholae catholicae Ordinariis locorum subsunt ad earum generalem ordinationem et vigilantiam quod attinet, firmo tamen iure Religiosorum quoad earundem moderamen.“ 68 69

Mussinghoff / Kahler, c. 806, Rdnr. 2, in: MK CIC (Anm. 22).

Motu Proprio „Ecclesiae Sanctae“ vom 6.8.1966, sub I. 39 § 1, in: AAS 58 (1966), S. 757 (773).

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dung von Unterrichtsschwerpunkten und die Ausübung disziplinarischer Gewalt.70 Soweit sich ein Aspekt der inneren Leitung, etwa die Spiritualität des Instituts, im Namen der Schule spiegelt, wird man die Namensgebung dem Bereich der durch c. 806 § 1 CIC geschützten inneren Leitung zurechnen können, der dem Zugriff des Bischofs entzogen ist. Da ein religiösprogrammatischer Name den katholischen Charakter der Schule in aller Regel schon hinreichend deutlich macht, besteht an der Zuweisung des Namensbestandteils „katholisch“ regelmäßig auch kein Interesse. Bringt der Name hingegen kein Spezifikum des schulischen Innenlebens zum Ausdruck, kann der Bischof durch eine Vorschrift zur allgemeinen Ordnung nach c. 806 § 1 CIC fordern, dass die Schule sich als „Katholische Schule“ bezeichnet. c) Zuständige Kirchenautorität Die Zustimmung zur Führung der Bezeichnung „Katholische Schule“ erteilt gemäß c. 803 § 3 CIC die „zuständige kirchliche Autorität“. Für das Schulwesen zuständig ist nach c. 806 CIC der jeweilige Diözesanbischof, dessen Aufsichtsund Visitationsrecht sich auf alle in den cc. 800 bis 805 genannten Materien bezieht,71 mithin auch auf das Zustimmungsrecht nach c. 803 § 3 CIC. Dieses Zustimmungsrecht erstreckt sich auch auf Schulen, die nicht vom Bistum selbst, sondern von anderen kirchlichen Einrichtungen, etwa Orden, getragen werden. d) Zustimmung und Widerruf Hinsichtlich der Zustimmung zur Führung der Bezeichnung „Katholische Schule“ gemäß c. 803 § 3 CIC und deren Widerruf gemäß c. 47 CIC gelten die korrespondierenden Ausführungen zu c. 300 CIC entsprechend.72 In den Ermessensentscheidungen, ob eine beantragte Zustimmung erteilt werden muss oder eine erteilte Zustimmung widerrufen werden kann, ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Codex kein der Vereinigungsfreiheit entsprechendes Fundamentalrecht auf Gründung und Leitung katholischer Schulen normiert und daher auch keine der Vereinsautonomie vergleichbare Schulautonomie kennt. Die rechtliche Position der Schule hat im Abwägungsvorgang daher ein vergleichsweise geringeres Gewicht als die Position eines kanonischen Vereins.

70

Mussinghoff / Kahler, c. 806, Rdnr. 2, in: MK CIC (Anm. 22).

71

Mussinghoff / Kahler, c. 806, Rdnr. 1, in: MK CIC (Anm. 22). – Zur bischöflichen Aufsicht über kirchliche Privatschulen eingehend Manfred Baldus, Katholische Freie Schulen im staatlichen und kirchlichen Recht (Anm. 64), S. 46 ff. 72

Gliederungspunkte I. 1. d) u. f).

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3. C. 808 CIC über das Hochschulwesen Nach c. 808 CIC darf keine Universität, selbst wenn sie tatsächlich katholisch ist, die Bezeichnung „katholische Universität“ führen, es sei denn mit Zustimmung der zuständigen kirchlichen Autorität. C. 814 CIC erstreckt die Vorschrift auf „andere Institute der höheren Studien“, also insbesondere auf Gesamthochschulen, Fachhochschulen und wissenschaftliche Akademien. a) Katholische Universität Der Codex definiert den Begriff der Universität zwar nicht, setzt in c. 809 CIC immerhin aber als Ziel der Universität „Forschung und Lehre“ und als ihr Grundprinzip „wissenschaftliche Autonomie“ voraus. Der Codex sagt auch nicht, was unter einer „Katholischen Universität“ im Sinne der cc. 807 ff. CIC zu verstehen ist. Allein die Verfolgung der in c. 807 CIC genannten kirchlichen Zwecke reicht nicht, um eine Universität als „katholisch“ erscheinen zu lassen. In Anlehnung an c. 803 § 1 CIC über das Schulwesen wird man zudem zu fordern haben, dass die Universität von der zuständigen kirchlichen Autorität oder einer öffentlichen juristischen Person des Kirchenrechts geführt wird oder durch die kirchliche Autorität ausdrücklich als „Katholische Universität“ anerkannt ist. b) Antrag C. 808 CIC regelt – ebenso wie c. 803 § 3 CIC für das Schulwesen – nur die Selbstbezeichnung einer Universität als „Katholische Universität“, nicht hingegen die von der zuständigen Kirchenautorität verordnete Annahme des Namensbestandteils „katholisch“. Ob und unter welchen Voraussetzungen die zuständige Autorität von einer Universität fordern kann, ihren katholischen Charakter im Namen auszuweisen, sagt der Codex nicht. C. 809 CIC lassen sich immerhin aber die maßgebenden Gesichtspunkte entnehmen, nach denen sich die Ausübung der kirchenamtlichen Hoheitsrechte über die Universitäten auszurichten hat. Die Vorschrift garantiert der Universität einerseits „wissenschaftliche Autonomie in Forschung und Lehre“ und legt sie andererseits auf die „Berücksichtigung der katholischen Lehre“ fest. Sie sichert der Universität die nötige Autonomie, um das ihr eigene Wesen zu entfalten und ihre Aufgabe zu erfüllen.73 Diese Autonomie umfasst zum einen, wie der Normtext schon sagt, die Freiheit von Forschung

73

Vgl. Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Ex Corde Ecclesiae“ vom 15.8.1990, Teil II, Art. 2 § 5 Satz 1, in: AAS 82 (1990), S. 1475 (1504).

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und Lehre, zum anderen aber auch die freie Selbstverwaltung.74 Die freie, von der Kirchenautorität unbeeinflusste Namensgebung lässt sich als Aspekt der Selbstverwaltung ansehen und den universitären Autonomierechten nach c. 809 CIC zurechnen. Insoweit gilt für kirchliche Universitäten im Prinzip nichts anderes als für staatliche. Im Gegensatz zur staatlichen Universität ist die katholische Universität jedoch weltanschaulich gebunden.75 Sie darf ihren katholischen Charakter nicht verbergen oder gar verleugnen, sondern muss ihn nach außen deutlich werden lassen, entweder durch die Erklärung ihrer Aufgabe oder durch ein anderes geeignetes öffentliches Instrument.76 In welcher Weise die katholische Universität dieser Anforderung nachkommt, liegt in ihrer autonomen Entscheidung. Genügt sie ihrer Verpflichtung, bleibt für die kirchenamtliche Anordnung, zusätzlich den Namensbestandteil „katholisch“ zu führen, kein Raum. Ein entsprechender Handlungsbedarf ist für die Kirchenautoritäten derzeit jedoch weder in Deutschland noch in Österreich gegeben. Die „Katholische Universität Eichstätt“77 als einzige kirchliche Hochschule im deutschen Raum trägt das Attribut „katholisch“ in Namen. Selbiges gilt, soweit ersichtlich, für die in größerer Zahl bestehenden „Katholischen Fachhochschulen“.78 In Österreich wurde als bislang einzige katholische Universität im Juli 2000 die „Katholisch-Theologische Privatuniversität“ in Linz akkreditiert, die ebenfalls schon durch ihren Namen als „katholisch“ ausgewiesen ist.

74

Peter Krämer, Die Katholische Universität. Kirchenrechtliche Perspektiven, in: Michael Seybold (Hrsg.), Katholische Universität. Wesen und Aufgabe, Eichstätt 1993, S. 107 (111); Mussinghoff / Kahler, c. 809, Rdnr. 2, in: MK CIC (Anm. 22). 75

Dies ändert nichts daran, dass die Bischöfe sich grundsätzlich nicht unmittelbar in die innere Leitung der Universität einmischen dürfen. Da die Bischöfe die Katholischen Universitäten andererseits aber zu fördern, zu begleiten und ihnen in der Bewahrung und Stärkung ihrer katholischen Identität beizustehen haben, dürfen sie allerdings nicht als von außen her wirkend angesehen werden, sondern als Teilhaber am Leben der Katholischen Universität (so ausdrücklich „Ex Corde Ecclesiae“ [Anm. 73], Teil I Nr. 28). 76

„Ex Corde Ecclesiae“ (Anm. 73), Teil II Art. 2 § 3.

77

Kanonisch errichtet durch Dekret der Kongregation für das katholische Bildungswesen vom 1.4.1980, abgedr. in AfkKR 149 (1980), S. 157 f. Zur „Katholischen Universität Eichstätt“ näherhin Krämer, Die Katholische Universität. Kirchenrechtliche Perspektiven (Anm. 74), S. 107 (121 ff.). 78

Überblick im Adressbuch für das katholische Deutschland, Ausgabe 2004/2005, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Paderborn 2004, S. 355 ff.

722

Reiner Tillmanns

c) Zuständige Kirchenautorität C. 808 CIC bindet das Führen der Bezeichnung „Katholische Universität“ an die Zustimmung der zuständigen kirchlichen Autorität, macht aber keine Angaben, welche Autorität als zuständig anzusehen ist. Konkreter äußert sich die Apostolische Konstitution Ex Corde Ecclesiae vom 15. August 1990, indem sie dem Heiligen Stuhl, den Bischofskonferenzen und den Diözesanbischöfen das Recht zuerkennt, eine katholische Universität zu errichten oder anzuerkennen.79 Mit Zustimmung des Diözesanbischofs kann eine Katholische Universität auch von einem Ordensinstitut oder von einer anderen öffentlichen juristischen Person eingerichtet werden.80 Eine katholische Universität kann ferner von anderen Personen, Geistlichen oder Laien, eingerichtet werden, als „Katholische Universität“ aber nur mit Billigung der zuständigen kirchlichen Autorität gelten.81 Dies wird in der Regel die Kongregation für das katholische Bildungswesen sein, der die oberste Leitung des gesamten Schul- und Hochschulwesens obliegt.82 Sie erteilt in der Regel die nach c. 808 CIC erforderliche Zustimmung.83 Soweit es wegen der besonderen hochschulrechtlichen, politischen oder gesellschaftlichen Lage angezeigt ist, kann auch eine Bischofskonferenz, ein anderes Organ der katholischen Hierarchie oder ein einzelner Bischof die Zustimmung aussprechen.84 In diesem Fall ist die Kongregation für das katholische Bildungswesen zu beteiligen. d) Zustimmung und Widerruf In Bezug auf die Zustimmung zur Führung der Bezeichnung „Katholische Schule“ gemäß c. 808 CIC und deren Widerruf nach c. 47 CIC gelten – mutatis 79

Vgl. „Ex Corde Ecclesiae“ (Anm. 73), Teil II, Art. 3 § 1. Hierzu Manfred Baldus, Kirche und Universität im kanonischen Recht. Zur Apostolischen Konstitution „Ex Corde Ecclesiae“ über die katholischen Universitäten vom 15. August 1990, in: Wissenschaftsrecht 24 (1991), S. 193 ff. 80

„Ex Corde Ecclesiae“ (Anm. 73), Teil II, Art. 3 § 2.

81

„Ex Corde Ecclesiae“ (Anm. 73), Teil II, Art. 3 § 3.

82

Siehe Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Pastor Bonus“ vom 28.6.1988, Art. 116, in: AAS 80 (1988), S. 841 (889); Krämer, Die Katholische Universität. Kirchenrechtliche Perspektiven (Anm. 74), S. 107 (110). 83

Peter Krämer, Die katholische Universität. Kirchenrechtliche Perspektiven, in: AfkKR 160 (1991), S. 25 (28). 84

Mussinghoff / Kahler, c. 808, Rdnr. 2, in: MK CIC (Anm. 22), in Analogie zu Johannes Paul II., Apostolische Konstitution „Sapientia Christiana“ v. 15.4.1979, Teil II, Art. 61, in: AAS 71 (1979), S. 469 (490).

Die Führung der Bezeichnung „katholisch“

723

mutandis – die entsprechenden Ausführungen zu c. 300 CIC.85 Die den Universitäten nach c. 809 CIC zukommende Autonomie und die dahinter stehende Forschungsfreiheit gemäß c. 218 CIC lassen sich grosso modo mit der Vereinsautonomie als Ausfluss der Vereinigungsfreiheit aus c. 215 CIC vergleichen. Wegen ihrer herausragenden Stellung und der großen Bedeutung der Wissenschaft für die Kirche steht die Katholische Universität jedoch in einer engeren Verbindung mit der Kirche als das kanonische Vereinswesen.86 So sind die Bischöfe, denen die Sorge um die Universitäten aufgetragen ist, nicht als von außen her wirkend anzusehen, sondern als Teilhaber am Leben der Katholischen Universität.87 Demgemäß ist auch das in der Abwägungsentscheidung zu berücksichtigende Interesse der Kirche, dass eine Universität nicht unbefugt als „katholisch“ in Erscheinung tritt, ungleich größer als im Falle einer Laienvereinigung. II. Der allgemeine Namensschutz gemäß c. 216, 2. Halbsatz CIC Soweit keine spezielle Vorschrift über die Verwendung der Bezeichnung „katholisch“ einschlägig ist, richtet sich deren Zulässigkeit nach der allgemeinen Bestimmung des c. 216, 2. Halbsatz CIC. Hiernach darf sich keine Unternehmung von Gläubigen ohne Zustimmung der zuständigen kirchlichen Autorität katholisch nennen. 1. Der Begriff inceptum Die Reichweite des Zustimmungsvorbehalts in c. 216, 2. Halbsatz CIC hängt maßgebend davon ab, was unter dem rechtlich schwer zu fassenden Begriff inceptum zu verstehen ist. Der Codex verwendet den Begriff an anderen Stellen zumeist im Zusammenhang mit der Evangelisierung, dem Apostolat, der Katechese, und der Missionstätigkeit,88 daneben wird er einmal auf die Förderung von Priesterberufen bezogen,89 ein anderes Mal auf kirchliche Ziele in allgemeiner Form.90 Inhaltlich scheint inceptum im Codex somit wesentlich mit dem

85

Gliederungspunkte I. 1. d) u. f).

86

Zum Verhältnis der Katholischen Universität zur Kirche siehe „Ex Corde Ecclesiae“ (Anm. 73), Teil I, Nr. 27 ff. 87

So ausdrücklich „Ex Corde Ecclesiae“ (Anm. 73), Teil I Nr. 28.

88

Cc. 301 § 2, 315, 548 § 3, 775 § 1, 782 § 1 und 2, 790 § 1 1°, 791 1° und 1266 CIC.

89

C. 233 § 1 CIC.

90

C. 298 § 1.

724

Reiner Tillmanns

Apostolat verbunden zu sein.91 In den Konzilstexten erscheint der Begriff inceptum ebenfalls im Zusammenhang mit freien apostolischen Unternehmungen der Gläubigen.92 Besondere Aufmerksamkeit verdient Art. 24 Abs. 2 Satz 5 Apostolicam Actuositatem 93, auf den die Regelung des c. 216, 2. Halbsatz CIC94 nahezu wörtlich zurückgeht. Auch c. 216 CIC selbst verwendet das Wort inceptum im ersten Halbsatz in Bezug auf apostolische Tätigkeiten der Gläubigen, so dass der Begriff auch im zweiten Halbsatz inhaltlich auf das Apostolat der Christgläubigen ausgerichtet sein dürfte. Das inceptum teilt somit die apostolische Zielsetzung einer consociatio im Sinne des c. 215 CIC, geht im Übrigen aber über den Begriff der consociatio hinaus. Der Terminus inceptum stellt insbesondere keine Anforderungen an die innere Verfasstheit oder den Organisationsgrad, wohingegen als consociatio nur eine Personengesamtheit anzusprechen ist, die – im Unterschied zur Versammlung – ein gewisses Maß an Struktur und Bindung aufweist.95 Diesem weiten Begriffsverständnis lässt sich nicht entgegen halten, dass inceptum in einigen Vorschriften gemeinsam mit Begriffen wie consociatio96 oder opera97, die auf strukturierte Handlungsformen hinweisen, genannt wird. Denn inceptum wird hier nicht als Gegensatz, sondern als Ergänzung, mitunter auch als Synonym verwendet.98 Der Begriff des inceptums im Sinne des c. 216, 2. Halbsatz CIC ist insgesamt somit weit auszulegen und umfasst sämtliche Aktionen und 91

Hallermann, Die Vereinigungen im Verfassungsgefüge der lateinischen Kirche (Anm. 15), S. 377. 92

VatII LG 37, VatII PO 9.

93

Nullum autem inceptum nomen catholicum sibi vindicet, nisi consensus accesserit legitimae auctoritatis ecclesiasticae. 94

Nullum tamen inceptum nomen catholicum sibi vindicet, nisi consensus accesserit competentis auctoritatis ecclesiasticae. 95

Zu den konstitutiven Elementen einer „consociatio“ im Sinne des c. 215 CIC siehe Aymans, Kirchliche Vereinigungen (Anm. 11), S. 15 ff.; Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 467 ff.; Hallermann, Die Vereinigungen im Verfassungsgefüge der lateinischen Kirche (Anm. 15), S. 353 ff.; 376; Dirk Künzel, Die kirchliche Vereinsaufsicht. Eine Untersuchung der Aufsicht der katholischen Kirche über Vereinigungen von Gläubigen nach dem Codex Iuris Canonici und deren Umsetzungsmöglichkeit für eingetragene Vereine im Recht der Bundesrepublik Deutschland, Diss iur. Bonn 1999, S. 13 f.; Schnizer, Allgemeine Fragen des kirchlichen Vereinsrechts (Anm. 4), S. 563 (569 f.); Schulz, Der neue Codex und die kirchlichen Vereine (Anm. 3), S. 17 ff. 96

Cc. 301 § 2, 315 CIC.

97

Cc. 790 § 1 1°, 791 2° CIC.

98

Zutreffend Hallermann, Die Vereinigungen im Verfassungsgefüge der lateinischen Kirche (Anm. 15), S. 377.

Die Führung der Bezeichnung „katholisch“

725

Werke im karitativen, seelsorglichen oder pädagogischen Bereich oder in der Verkündigung.99 2. Antrag C. 216, 2. Halbsatz CIC regelt, wie auch die cc. 300, 803 § 3 und 808 CIC nur den Fall der kirchenamtlichen Zustimmung auf den Antrag von Gläubigen, ihre Unternehmung „katholisch“ nennen zu dürfen. Der umgekehrte Fall, in dem die zuständige Kirchenautorität eine Unternehmung verpflichtet, den Namensbestandteil „katholisch“ zu führen, wird von c. 216, 2. Halbsatz CIC nicht erfasst. Eine derart aufgedrängte Namensführung setzt eine entsprechende Kompetenz der handelnden Autorität voraus, wobei zunächst nach einer speziellen Kompetenzzuweisung für das jeweilige Sachgebiet Ausschau zu halten ist. Fehlt eine solche, bietet sich ein Rückgriff auf die allgemeine Pflicht des Diözesanbischofs zur Förderung des Apostolats aus c. 394 § 1 CIC an. Eine solch allgemeine Befugnisnorm gibt dem Bischof indes nicht das Recht, kanonische Grundrechte der Gläubigen ohne weiteres zu überspielen. So verstieße die kirchenamtliche Verpflichtung eines freien Zusammenschlusse von Gläubigen, sich als „katholisch“ zu bezeichnen, gegen das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit aus c. 215 CIC und die daraus fließende Autonomie der Vereinigung. Dies gilt in gleicher Weise für die Wahrnehmung der übrigen kanonischen Freiheitsrechte. 3. Zuständigkeit, Zustimmung und Widerruf Welche Kirchenautorität der Benennung einer Unternehmung von Laien als „katholisch“ zuzustimmen hat, beurteilt sich nach den zu c. 300 CIC ausgeführten Kriterien.100 Der Begriff consensus ist in c. 216, 2. Halbsatz CIC nicht anders auszulegen als in c. 300 CIC.101 Die nach c. 216, 2. Halbsatz CIC erteilte Zustimmung kann unter den dort genannten Voraussetzungen widerrufen werden.102 Welche rechtlich geschützten Interessen in die Ermessensentscheidung über die Zustimmung oder den Widerruf einzustellen und wie diese zu gewichten sind, hängt vom Charakter des inceptums ab. Der einzelnen Unternehmung von Gläubigen kommt hierbei ein umso größeres Gewicht zu, je zentraler sie 99

Reinhild Ahlers, Die rechtliche Grundstellung der Christgläubigen, in: HdbKathKR2, S. 220 (228); Schulz, c. 216, Rdnr. 1, in: MK CIC (Anm. 3). 100

Gliederungspunkt I. 1. c).

101

Gliederungspunkt I. 1. d).

102

Gliederungspunkt I. 1. f).

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der Verwirklichung eines kanonischen Fundamentalrechts nach den cc. 208 ff. CIC dient. So genießt – um ein bereits erwähntes Beispiel aufzugreifen103 – eine Vereinigung von Laien, die in Ermangelung einer recognitio statutorum nicht als kanonischer Verein nach den cc. 298 ff. CIC anzusprechen ist, als inceptum im Sinne des c. 216, 2. Halbsatz CIC den Schutz des Grundrechts auf Vereinigungsfreiheit aus c. 215 CIC und ist in der Abwägung entsprechend zu gewichten. Wer eine Forschungseinrichtung gründet, um die theologische Wissenschaft zu fördern, verwirklicht durch dieses inceptum sein Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit aus c. 220 CIC, was seinem Antrag, die Einrichtung „katholisch“ zu nennen, in der Abwägung über die Erteilung der Zustimmung zusätzliches Gewicht verleiht. III. Zivilrechtliche Durchsetzbarkeit des Rechts auf Führung der Bezeichnung „katholisch“ Die vorstehenden Überlegungen haben ergeben, dass der Codex einer apostolischen Laieninitiative nach c. 216, 1. Halbsatz CIC, einer kanonischen Vereinigung nach cc. 215, 298 ff. CIC, einer katholischen Schule im Sinne des c. 803 § 1 CIC oder der einer katholischen Universität gemäß cc. 807 ff. CIC grundsätzlich kein subjektives Recht gibt, sich „katholisch“ zu nennen. Ein solcher Anspruch entsteht erst durch die rechtmäßige Zustimmung der zuständigen Kirchenautorität. Rechtliche Grundlage dieser Berechtigung ist der kirchenamtliche Zustimmungsakt. Das durch zustimmenden Verwaltungsakt verliehene Recht, öffentlich als „katholisch“ in Erscheinung zu treten, kann nur aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für einen Widerruf gemäß c. 47 CIC vorliegen. Hierfür bedarf es insbesondere eines wichtigen Grundes. Ein solcher dürfte in aller Regel gegeben sein, wenn die Initiative, Gemeinschaft oder Einrichtung, die sich als „katholisch“ bezeichnet, so nachhaltig und schwerwiegend gegen die kirchliche Lehre, Sitte oder Disziplin verstößt, dass sie tatsächlich nicht mehr katholisch ist oder in der Öffentlichkeit nicht mehr als katholisch wahrgenommen wird. Gründe für einen Widerruf können sich durchaus aber auch aus den allgemeinen Verhältnissen, etwa religiöser oder politischer Art, ergeben. In diesen Fällen hat die kirchliche Autorität jedoch genau darauf zu sehen, ob der jeweilige Widerrufsgrund das berechtigte Interesse der Unternehmung, weiter als „katholisch“ auftreten zu dürfen, und ihr schutzwürdiges Vertrauen in den Fortbestand der rechtmäßig erteilten Zustimmung ausnahmsweise derart überwiegt, dass nur der Widerruf als ermessensfehlerfreie Entscheidung in Betracht kommt. Hiervon wird selten auszugehen sein. Eine einmal erteilte Zustimmung erweist sich 103

Oben, bei Anm. 10.

Die Führung der Bezeichnung „katholisch“

727

damit als verhältnismäßig rechtsbeständig. Gegen den Verwaltungsakt, mit dem das Recht zur Führung der Bezeichnung „katholisch“ widerrufen wird, ist die Beschwerde nach cc. 1732 ff. CIC gegeben. Bestreitet die zuständige Kirchenautorität die Befugnis, sich „katholisch“ zu nennen, ohne eine rechtmäßig erteilte Zustimmung wirksam widerrufen zu haben, kann die betroffene Initiative, Gemeinschaft oder Einrichtung ihr Namensrecht gegen die Kirche unter Berufung auf § 12 des Bürgerlichen Gesetzbuchs vor den deutschen Zivilgerichten geltend machen. Dies gilt auch im umgekehrten Fall: Führt eine Initiative, Gemeinschaft oder Einrichtung den Namen „katholisch“ ohne wirksame Zustimmung der zuständigen Autorität nach den cc. 216, 2. Halbsatz, 300, 808 § 3 oder 808 CIC, kann die Kirche hiergegen – ebenfalls gestützt auf § 12 BGB – auf dem Zivilrechtsweg vorgehen. Erfolgt die Namensanmaßung schuldhaft, kommen zudem Schadenersatzansprüche in Betracht. In Österreich bietet § 43 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) einen vergleichbaren Schutz. Ratsam ist eine Befassung der Zivilgerichte mit innerkirchlichen Streitigkeiten freilich nur als ultima ratio.

Neue Rechtsentwicklungen im Bereich der gemischten Institute des geweihten Lebens Von Bruno Primetshofer I. Begriffliches 1. Der Begriff des gemischten oder indifferenten Instituts (Institutum mixtum, indifferens) ist mehrdeutig. Zum einen wird damit eine Frage angesprochen, die im Anschluss an eine Aussage des Zweiten Vatikanischen Konzils1 und insbesondere nach Promulgation des CIC/1983 mehrfach erörtert worden war, nämlich ob die bereits im CIC/1917 (c. 488, 4) erwähnte und vom CIC/1983 (c. 588 §§ 1 – 3), wenngleich mit anderen Akzentsetzungen übernommene Unterscheidung in klerikale und laikale Ordensinstitute als erschöpfend (taxativ) anzusehen sei oder ob es im Rahmen des gesatzten Rechts eine dritte Kategorie geben könne2. Hierbei wurde zunächst ausschließlich ein männliches Institut ins Auge gefasst, in dem Kleriker- wie Laienmitgliedern völlig gleiche Rechte in Bezug auf ihre ordensrechtliche Stellung, insbesondere was das Amt des Oberen betrifft, eingeräumt werden sollten3. Im Zuge der Arbeiten der CIC-Kommission tauchte in diesem Zusammenhang eine von der damals so genannten Religiosenkongregation stammende Formulierung auf, derzufolge es prinzipiell allen Ordensgemeinschaften freigestellt sein sollte, sich im Rahmen des Eigenrechts als klerikales, laikales oder „gemischtes“

1

VatII PC 15 hatte folgende Festlegung getroffen: „Virorum autem monasteria et instituta non mere laicalia pro indole sua clericos et laicos, ad normam constitutionum, admittere possunt, pari ratione paribusque iuribus et obligationibus, salvis iis quae ex ordine sacro proveniunt.“ 2

Im CCEO fehlt eine Unterscheidung dieser Art vollständig. Sie fand sich noch, allerdings eingeschränkt auf (nichtmonastische) Orden und Kongregationen in c. 314 § 3 CICO/PA, wobei inhaltlich c. 488, 4 CIC/1917 übernommen wurde. 3

Bruno Primetshofer, Instituta nec clericalia nec laicalia. Möglichkeiten und Konsequenzen, in: Ordenskorrespondenz 30 (1989), S. 34 – 48.

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Bruno Primetshofer

(„indifferentes“) Institut zu definieren4. Dieser Vorschlag fand allerdings in der CIC-Kommission keine Mehrheit, wobei eine Begründung für die Ablehnung nicht ersichtlich ist5. 2. Ein weiterer Schritt im Zusammenhang mit der Möglichkeit einer Errichtung von „gemischten“ Instituten erfolgte durch ein Dekret der Religiosenkongregation vom 27. November 1969. Darin wird allerdings primär die Frage erörtert, ob und inwieweit Laienmitglieder in einem klerikalen Verband an Leitungsaufgaben teilhaben können6; das Problem der sog. gemischten Institute wird gleichsam nur in einem „obiter dictum“ angesprochen. Ausdrücklich wird im Dekret zunächst festgelegt, dass Laienmitglieder in klerikalen Verbänden das Amt des General-, Provinz- oder Hausoberen bzw. das Amt des Vikars eines der Genannten nicht übernehmen können. Diese Beschränkungen finden aber, so heißt es weiter, keine Anwendung auf die in Nr. 15 des Konzilsdekrets „Perfectae caritatis“ erwähnten Instituta non mere laicalia7. – Es fällt auf, dass das Dekret der Religiosenkongregation nur auf eine der beiden in „Perfectae caritatis“ angesprochenen Kategorien von Verbänden Bezug nimmt, nämlich auf die Instituta non mere lacalia. Das Konzilsdekret hatte aber an der betreffenden Stelle, und zwar ganz offensichtlich mit Bedacht, primär von den „virorum monasteria“ gesprochen, für die aber nun im Dekret der Kongregation keine Ausnahmeregelung getroffen wird, es sei denn, sie würden stillschweigend den „instituta non mere laicalia“ zugerechnet. Dabei stößt die derzeit bestehende jedenfalls faktische Subsumierung der Mönche unter die Kategorie der Instituta clericalia und das damit verbundene Erfordernis, wonach die Oberen Kleriker sein müssen (c. 588 § 2), zunehmend auf Widerstand von Seiten der Betroffenen. So hat der Äbtekongress der benediktinischen Konföderation im Jahre 2000 eine beinahe einstimmige Petition an den Apost. Stuhl verabschiedet, es möge die Wahl eines Mönches, der nicht Priester ist, zum Amt des Oberen gestattet werden. Damit solle die Bedeutung der „Mönchsweihe“ her-

4

Der Vorschlag hatte folgenden Wortlaut: „Cuiuscumque Instituti est suis in Constitutionibus determinare utrum clericale sit vel laicale vel „indifferens“. Communicationes 11 (1969), S. 61. 5

In der kanonistischen Literatur wurde der Vorschlag der Religiosenkongregation teilweise kritisch kommentiert. So meint etwa Sebott, es sei bei diesem Vorschlag unklar geblieben „ob es sich dabei nicht um Chimären handeln würde“. Reinhold Sebott, Ordensrecht, Frankfurt/M., 1995, S. 51. 6 „De ratione qua sodales laici regimen institutorum clericalium participare possint“ AAS 61 (1969), S. 739 f.; Xaverius Ochoa, Leges Ecclesiae post Codicem Iuris canonici editae, vol. IV (1974), Nr. 3808. 7

Zitiertes Dekret Nr. 4.

Neue Rechtsentwicklungen im Bereich der gemischten Institute

731

vorgehoben werden. Denn die klösterliche Profess gründe im Sakrament der Taufe und nicht im Empfang des Weihesakramentes8. Das Dekret der Religiosenkongregation von 1969 enthält einen weiteren Vorbehalt, dass nämlich dadurch dem Partikularrecht einiger Institute nicht derogiert werde, die, obwohl sie Klerikerinstitute seien, bezüglich ihrer Laienmitglieder mit Zustimmung des Apostolischen Stuhles Sonderregelungen getroffen haben9. 3. Trotz aller dieser Vorgaben ist in der Endredaktion des CIC/1983 kein Hinweis darauf enthalten, dass es außer den beiden Formen von Instituten, nämlich klerikalen oder laikalen, auch noch etwas anderes geben könnte10. Geblieben ist der in seinem normativen Gehalt nicht gerade aussagekräftige Hinweis des c. 588 § 1, wonach der Stand des geweihten Lebens seiner Natur nach weder klerikal noch laikal sei11. Daraus werden aber im gegebenen Zusammenhang keine weiter reichenden Schlüsse gezogen, es werden vielmehr die Merkmale der einen wie der anderen Kategorie von Instituten (klerikal – laikal) umschrieben (c. 588 §§ 2 und 3). Dies hat einige Kanonisten zu der Annahme geführt, mit der Zweiteilung seien alle Möglichkeiten erschöpft, und

8

Henri Leroy, Chronique de la vie consacrée, in: AnnéeC 43 (2001), S. 403.

9

Ein Beispiel einer solchen Regelung ist das klerikale Institut der Marianisten (Societas Mariae – SM), in deren von der Religiosenkongregation bestätigtem Eigenrecht die Bestimmung enthalten ist, dass auch ein Laienmitglied Provinzial sein kann. In diesem Fall müsse der Vize-Provinzial (Vikar des Provinzials) Priester sein. Dieser „nimmt die Jurisdiktionsakte vor, für die das Priestertum erforderlich ist“. Konstitutionen der Marianisten Nr. 102. – Einem Vorstoß des Generalkapitels (1985) der Franziskaner (OFM), sich selbst als Institut zu deklarieren, das für Kleriker- wie Laienmitglieder völlig gleiche Rechte und Pflichten festlegt, hat die Religiosenkongregation nur eine modifizierte Zustimmung erteilt. Es wurde dem betreffenden Artikel der Konstitutionen eine Klausel beigegeben „unbeschadet dessen, was aus der heiligen Weihe hervorgeht.“ Überdies wurde durch die Religiosenkongregation den Konstitutionen der Franziskaner ein Satz hinzugefügt: „Der Orden der Minderbrüder wird von der Kirche den klerikalen Instituten zugezählt“. Bruno Primetshofer, Ordensrecht auf der Grundlage des CIC 1983 und des CCEO, Freiburg/Br 42003, S. 55. 10

Auch in der Textgeschichte des CIC/1983, d. h. in den der endgültigen Formulierung vorausgehenden Entwürfen wird diese Frage nicht angesprochen. Die einzelnen Textvorschläge finden sich im Wortlaut bei Eduardus N. Peters, Incrementa in progressu 1983 Codicis Iuris Canonici. (Collection Gratianus – Gratianus Series), Québec 2005, S. 540 f. 11

Zur Kritik dieser Aussage Rudolf Henseler, Ordensrecht. Sonderdruck aus MK CIC, Essen 21998, S. 124 f.

732

Bruno Primetshofer

für eine dritte Kategorie bestehe weder Nutzen noch Notwendigkeit12. – Generell verweist c. 605 auf die ohnedies selbstverständliche Möglichkeit hin, dass neue Formen des geweihten Lebens anerkannt werden können; dies sei aber letztlich ausschließlich Sache des Apostolischen Stuhles. 4. Zum anderen aber ist unter dem in Rede stehenden Begriff des institutum mixtum (indifferens) eine Gemeinschaft zu verstehen, die Männer (Kleriker, Laien) und Frauen in einem einzigen Institut des geweihten Lebens zusammenfasst, wobei diese neue Form des Zusammenschlusses über den vom kodikarischen Ordensrecht vorgegebenen Rahmen hinausgeht13. Freilich kennt diese zuletzt genannte Variante schon seit längerer Zeit gewisse Vorläufer zwar nicht im Recht des CIC, wohl aber im Eigenrecht einiger Institute. So gibt es z. B. im Bereich der monastischen Kongregationen (Föderationen), die ja unmittelbar aus rechtlich selbständigen Abteien (monasteria sui iuris, c. 613 § 1), also aus juristischen Personen bestehen14, Formen, die männliche und weibliche Abteien in einer einzigen Föderation zusammenfassen, deren Vertreter bzw. Vertreterinnen mit Sitz und Stimme am Generalkapitel 12

So etwa Domingo J. Andrés in der 1. Auflage seines Buches Il diritto dei Religiosi, Roma 1984, S. 36 „…di fatto, due grandi tipi esauriscono tutte le forme possibili“. – Differenzierter drückt sich Andrés schon in der zweiten (italienischen) Auflage dieses Buches (Roma 1996, S. 32), aus: „...una eventuale categoria di IVC misti presenta grandi difficoltà …sebbene siano risolubili dalla suprema Autorità, poiché si tratta di disposizioni positive mutabili ed adattabili“ (Hervorhebung im Original). – Besonders pointiert Henseler, Ordensrecht (Anm. 11), S. 126: Die Unterscheidung zwischen klerikalen und laikalen Instituten genüge völlig, und die Gründung indifferenter Institute sei „nicht einmal ein Ziel für die Zukunft“. 13 So beschreibt der Annuario Pontificio 1999, S. 1912 diese Gemeinschaften als neue Institute des geweihten Lebens, die zwar deren wesentliche Elemente beibehalten, aber zugleich eine Struktur aufweisen, die von den Normen des Codex des kanonischen Rechts (vgl. cc. 604 – 605) abweicht. „Ai precedenti Istituti di vita consacrata si aggiungono le nuove forme di vita evangelica, con cui la bontà di Dio arricchisce la sua Chiesa perché segua il suo Signore in perenne slancio di generosità, attenta agli appelli di Dio che si rivela mediante i segni dei tempi’ (cfr. Esortazione Postsinodale di Giovanni Paolo II Vita Consecrata del 25. mar. 1996, nr. 62). Dette Forme hanno una struttura che, inglobando gli elementi essenziali della consacrazione, si organizzano tuttavia in maniera diversificata dalle norme del C.I.C., (cfr. Cann. 604 – 605)“. (Hervorhebungen im Original). 14 Der CIC/1983 enthält keine Definition der Monastischen Kongregation (Föderation). Richtunggebend ist immer noch die in c. 488, 2 CIC/1917 enthaltene Begriffsbestimmung der Congregatio monastica als „…plurium monasteriorum sui iuris inter se coniunctio sub eodem Superiore“. Bruno Primetshofer, Föderation, in: LKStKR 1, 2000 S. 702 – 704; ders., Art. Kongregation (Monastische Kongregation), in: LThK3 6, 1997, Sp. 246 – 248.

Neue Rechtsentwicklungen im Bereich der gemischten Institute

733

teilnehmen15. – Eine Sonderform von Verbindung des männlichen und weiblichen Zweigs einer Ordensgemeinschaft besteht im Rahmen des Deutschen Ordens. Dem (männlichen) Orden ist die Kongregation der Schwestern vom Deutschen Haus St. Mariens in Jerusalem (Deutschordensschwestern) inkorporiert. Es besteht ein gemeinsames „Ordensbuch, Regeln und Statuten des Deutschen Ordens“; die Generalleitung der Brüder wie der Schwestern obliegt dem Hochmeister mit seinem Rat16. Es liegt hier nicht nur eine Verbindung eines männlichen und weiblichen Instituts vor, sondern auch eine Verbindung zweier Typen von Instituten, nämlich eines Ordens mit einer Kongregation17. II. Neue Kategorie von Instituten des geweihten Lebens 1. Seit mehreren Jahren enthält der Annuario Pontificio nach den üblichen Kategorisierungen in männliche und weibliche Institute eine weitere Rubrik „Altri istituti di vita consacrata“18. Hier werden Vereinigungen angeführt, die zumindest in Teilbereichen kanonistisches Neuland betreten. Allerdings ist zunächst einmal festzustellen, dass das Päpstliche Jahrbuch den Begriff „Institut des geweihten Lebens“ in einem weit gefassten Sinn verwendet, der mit dem Recht des Codex nicht zur Gänze übereinstimmt. Denn es wird unter der Kategorie von Instituten des geweihten Lebens u. a. eine „Associazione delle Vergini consacrate“, dette „Servidoras“ mit Sitz in Buenos Aires (Argentinien) angeführt, für deren rechtlichen Status auf c. 604 § 2 CIC verwiesen wird. C. 604 § 1 spricht vom Stand der gottgeweihten Jungfrauen („ordo virgi-

15

So z .B. Die Zisterzienserkongregation von Mehrerau und die Beuroner Benediktinerkongregation. Vgl. Die Zisterzienserkongregation von Mehrerau. Geistliche Grundlagen – Konstitutionen – Geschichte – Klöster, Wettingen-Mehrerau 1995. Die Beuroner Benediktinerkongregation. Eigenrecht – Directorium spirituale – Geschichte, Maria Laach 2003. – Zur Problematik hinsichtlich der Möglichkeit solcher Föderationen Gommarus Van den Broeck / Michel Dortel-Claudot, Art. Unione di istituti, in: DIP IX, 1997, Sp. 1562. 16

Das Ordensbuch; Regeln und Statuten des Deutschen Ordens. Wien 22001, S. 129. Dem aus dem früheren Benefizialrecht stammenden Begriff „Inkorporation“ wird hier ein vom üblichen kanonistischen Sprachgebrauch abweichender Sinn gegeben. 17

Dass die Begriffe Orden und Kongregation dem Ordensrecht des CIC/1983 nicht mehr bekannt sind, ist im gegebenen Zusammenhang ohne Belang, da die Unterscheidung aufgrund des Eigenrechts der einzelnen Verbände, wie übrigens auch im Recht des CCEO, weiter besteht. 18

Es handelt sich dabei nur um Institute päpstlichen, nicht auch diözesanen Rechts.

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Bruno Primetshofer

num“)19, die ja nur ein Gelübde, nämlich das der Keuschheit ablegen20. Dieser Stand tritt zu den Formen des geweihten Lebens hinzu („accedit“), die gottgeweihten Jungfrauen bilden aber kein Institut des geweihten Lebens21. Denn dafür ist die Übernahme aller drei evangelischen Räte in Form von Gelübden oder anderen heiligen Bindungen (c. 587 § 2) erforderlich22. Im zitierten § 2 des c. 604 ist davon die Rede, dass die gottgeweihten Jungfrauen Vereinigungen können. Diese Vereinigungen werden aber, selbst wenn ihnen nach Maßgabe von c. 312 der Charakter eines öffentlichen Vereins zukommen sollte, damit nicht zu einem Institut des geweihten Lebens23.

19 Das Recht des CIC/1983 eröffnet übrigens – im Gegensatz zum CCEO – dem Partikularrecht keine (ausdrückliche) Möglichkeit, den Stand der gottgeweihten Witwen und gegebenenfalls der Witwer einzuführen, die, wie die gottgeweihten Jungfrauen, ein öffentliches Keuschheitsgelübde ablegen (CCEO c. 570). – Der Erzbischof von Paris hat vor einiger Zeit einen Ritus der Witwenweihe eingeführt, der von der SCCult am 2.2.1984 approbiert wurde. Diese gottgeweihten Witwen bilden einen Verein unter der Bezeichnung „Fraternité Notre Dame de la Résurrection“. Primetshofer, Ordensrecht (Anm. 9), S. 32, Anm. 19. – Zur Weihe von Witwen und Witwern verweist Vita consecrata Nr. 7 auf die jüngst erfolgte Wiederbelebung einer bereits seit der Zeit der Apostel bekannten Praxis (vgl. 1 Tim 5,5.9 – 19; 1 Kor 7,8): „Durch das Gelöbnis ewiger Keuschheit als Zeichen des Reiches Gottes heiligen diese Personen ihren Stand, um sich dem Gebet und dem Dienst an der Kirche zu widmen“. 20

Es wird mehrfach von einem inneren, gleichsam zwingenden Konnex zwischen dem Keuschheitsgelübde der gottgeweihten Jungfrauen mit den beiden anderen evangelischen Räten (Armut, Gehorsam) in der Weise gesprochen, dass die Ablegung des Keuschheitsgelübdes auch die Befolgung der übrigen evangelischen Räte einschließe. Jean Beyer, Le droit de la vie consacrée. Commentaire de Code de droit canonique. II, 3, Roma 1988, S. 150. Ebenso sprechen die „Empfehlungen der Österreichischen Bischofskonferenz für die Spendung der Jungfrauenweihe“ davon, dass keiner der drei evangelischen Räte isoliert gelebt werden könne, weil sie Ausdruck der Lebensweise Jesu seien. ABl. der österr. Bischofskonferenz 39 (2005), Nr. 21, S. 22. – Das kann aber nichts an der Tatsache ändern, dass formal nur ein einziges Gelübde abgelegt wird. 21 Aitor Jiménez, El Ordo „Vírgenes consagradas“ a la luz del Código vigente, in: ComRelMiss 75 (1994), S. 229. 22 23

Anastasius Gutiérrez, Art. Vincoli sacri, in: DIP X, 2003, Sp. 96.

Zutreffend sprechen daher die Empfehlungen der österr. Bischofskonferenz (Anm. 20), Nr. 19, S. 22 davon, dass die gottgeweihten Jungfrauen weder Mitglieder in einem Institut des geweihten Lebens noch in einer geistlichen Gemeinschaft anderer Ordnung seien.

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2. Im Annuario Pontificio 2005 sind unter der angeführten Rubrik insgesamt sechs Institute des geweihten Lebens24 angeführt25, die je einen männlichen und weiblichen Zweig aufweisen. In einem Fall bestehen sogar drei Zweige, weil bei den männlichen Mitgliedern die Kleriker und Laien je eigene Untergliederungen des einen Instituts darstellen26. Es stellt sich die Frage, inwieweit das im CIC/1983 entwickelte Modell von Instituten des geweihten Lebens auf die im Annuario Pontificio so bezeichneten „anderen Institute“ anwendbar ist. 3. Als Charakteristikum eines Instituts des geweihten Lebens ist die Verpflichtung auf die drei evangelischen Räte anzusehen, die durch Gelübde oder andere heiligen Bindungen übernommen werden (c. 573 § 2). Eine Differenzierung im Bereich dieser Institute erfolgt in der Systematik des CIC/1983 nach zwei Gesichtspunkten: Zum einen nach der Art und Weise der Bindung an die evangelischen Räte und zum anderen nach der Lebensform, d. h. ob ein „brüderliches Lebens in Gemeinschaft“ (c. 607 § 2) verpflichtend vorgesehen ist oder nicht. Demzufolge wird unterschieden zwischen den Ordensinstituten (Instituta religiosa) mit öffentlichen (kirchenamtlichen) Gelübden und verpflichtendem Gemeinschaftsleben auf der einen und den Säkularinstituten auf der anderen Seite, die sich auf die evangelischen Räte nicht aufgrund von öffentlichen Gelübden, sondern durch Bindungen anderer Art verpflichten und grundsätzlich kein gemeinsames Leben führen. – Man könnte also sagen, dass dort, wo im Rahmen eines Instituts des geweihten Lebens ein Gemeinschaftsleben verpflichtend vorgesehen ist27, auch eine Bindung an die evangelischen Räte aufgrund von Gelübden besteht, die nach Maßgabe von c. 1192 § 1 als öffentliche (kirchenamtliche) anzusprechen sind. 4. Unter kanonistischen Gesichtspunkten besteht die besondere Eigenart der „altri Istituti“ darin, dass sie grundsätzlich ein Gemeinschaftsleben verpflichtend vorsehen, ohne aber andererseits, wie die Ordensinstitute (Instituta religiosa), die evangelischen Räte in Form von öffentlichen (kirchenamtlichen) Gelübden zu übernehmen. Sie unterscheiden sich von den Säkularinstituten durch die Verpflichtung zum Gemeinschaftsleben, von den Gesellschaften des aposto24

Im Bereich der Gesellschaften des apostolischen Lebens gibt es meines Wissens bisher keine gemischten Verbände. 25

Annuario Pontificio 2005, S. 1706 f.; dazu Domingo Andrés, Le forme di vita consacrata. Commentario teologico-giuridico al Codice di diritto canonico, Roma 52005, S. 802 f. 26 So beim Institut „Opera della Chiesa (Obra del la Iglesia)“ mit dem Hauptsitz in Rom, Via Vigna Due Torri, 90. Annuario Pontificio 2004, S. 1586. 27

Die Gesellschaften des apostolischen Lebens kennen das brüderliche Leben in Gemeinschaft, allerdings grundsätzlich ohne formelle Gelübdebindung (c. 731 § 1).

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lischen Lebens, die zwar ein Gemeinschaftsleben, aber keine formelle Bindung an die evangelischen Räte vorsehen, durch die ausdrückliche Verpflichtung auf die evangelischen Räte28. 5. Die Unterscheidung in klerikale und laikale Institute, die sich zufolge c. 588 §§ 2 und 3 auf alle Institute des geweihten Lebens und Gesellschaften des apostolischen Lebens erstreckt (c. 732)29, ist auf die in Rede stehenden Institute nicht (mehr) ohne weiteres anwendbar. Ein Institut des geweihten Lebens als solches ist entweder klerikal oder laikal. Bei den gemischten Instituten wäre allerdings eine Variante denkbar, dass selbständige Zweige bestehen, nämlich ein klerikaler und ein laikaler, wobei es im Bereich der letzteren wieder getrennte männliche und weibliche Abteilungen geben könnte30. Jeder dieser Zweige wäre dann aber ein eigenes Institut des geweihten Lebens, das mit dem anderen nach Art einer monastischen (kanonikalen) Föderation von rechtlich selbständigen Klöstern (monasteria sui iuris gem. c. 613) unter einem eigenen Oberen (c. 620, 2. Satz) zusammengeschlossen ist. Es wurde bereits in anderem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Mitglieder einer solchen Föderation auch Nonnenklöster sein können31. Die Kategorisierungen „klerikal“ und „laikal“ sind aber weder auf die genannten Föderationen noch auf Zusammenschlüsse von „Zweigen“ anderer Institute des geweihten Lebens anwendbar. Klerikal bzw. laikal ist der Zweig als solcher, aber nicht das gesamte, aus den Zweigen bestehende Institut. Dieses bildet vielmehr eine eigene 28

Zufolge c. 731 § 2 gibt es Gesellschaften des apostolischen Lebens, bei denen die Mitglieder durch eine in den Konstitutionen festgelegte Bindung die evangelischen Räte übernehmen. Auf diese Kategorie von Gesellschaften ist aber die Begriffsbestimmung des c. 731 § 1 („…ohne Gelübdebindung“) nicht mehr anwendbar. Systematisch richtig stellen diese Gesellschaften daher im Recht des CCEO eine eigene Kategorie dar, nämlich die „Societates vitae communis ad instar religiosorum“ (cc. 554 – 562 CCEO). Primetshofer, Ordensrecht (Anm. 9), S. 73. Clemente Pujol, La vita religiosa orientale. Commento al Codice del Diritto Canonico Orientale (Canoni 410 – 572), Roma 1994, S. 395 – 400. 29

Der Annuario Pontificio hält sich allerdings nicht an diese Systematik, sondern führt die Mönche unter einer eigenen, nicht näher bezeichneten Kategorie. Der CCEO nimmt die Mönche von vornherein aus der Kategorie der übrigen Mitglieder von Instituten des geweihten Lebens heraus. Vgl. dazu Tit. XII des CCEO „De monachis ceterisque religiosis et de sodalibus aliorum institutorum vitae consecratae“. Bruno Primetshofer, Streiflichter zum Ordensrecht des CCEO, in: FS Richard Puza, Frankfurt a. M., 2003, S. 245 f. 30

So besteht etwa das Institut „Opera della Chiesa“ (Obra de la Iglesia) aus einem ramo sacerdotale, ramo laicale femminile und einem ramo laico maschile. Annuario Pontificio 2004, S. 1586. Ebenso kennt die „Famiglia monastica di Betlemme, dell’assunzione della beata Vergine Maria e di S. Bruno“ einen ramo femminile und einen ramo maschile. Annuario Pontifio, ebd., S. 1585. 31

Siehe oben Nr. I., 4.

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Kategorie, nämlich das gemischte (indifferente) Institut32, für dessen nähere rechtliche Ausgestaltung c. 605 eine Fülle von Möglichkeiten eröffnet33. III. Rechtsformen der neuen Institute 1. Obere und Kapitel dieser Institute besitzen ausschließlich die in c. 596 § 1 umschriebene (allgemeine) Vollmacht, die früher als Dominativgewalt (c. 501 § 1 CIC/1917) bezeichnet wurde34; Jurisdiktionsgewalt i. S. v. c. 596 § 2 kommt den Oberen und Kapiteln dieser Institute nicht zu, weil eine solche nur im Rahmen klerikaler Ordensinstitute päpstlichen Rechts vorgesehen ist. Abgesehen davon, dass die praktische Bedeutung der Unterscheidung zwischen diesen beiden Formen von „potestas“ eher als gering zu veranschlagen ist35, werden auch die Grenzen als solche infrage gestellt36.

32

Der Selbstdarstellung der Geistlichen Familie „Das Werk“, wonach das Werk zugleich ein klerikales und laikales Institut sei (S. 24), kann nicht gefolgt werden. Kleriker sowie (männliche und weibliche) Laien sind in einem Institut zusammengeschlossen, woraus aber nicht folgt, dass dieses zugleich ein klerikales und laikales Institut bildet. 33 Antonio Neri, Nuove forme di vita consacrata (c. 605 CIC). Profili giuridici, in: ComRelMiss 75 (1994), S. 295 – 308. 34

Manche Autoren gehen davon aus, dass Begriff und Inhalt der Dominativgewalt weiter bestehe, auch wenn die Bezeichnung als solche im Wortschatz des CIC/1983 nicht mehr aufscheint. Henseler, Ordensrecht, (Anm. 11), S. 140; Sebott, Ordensrecht (Anm. 5), S. 63. 35 Zur Frage Primetshofer, Ordensrecht (Anm. 9), S. 60 – 62. – Es wäre im Übrigen wünschenswert, wenn im Zuge neuer Überlegungen bezüglich der Positionierung der Institute des geweihten Lebens auch die Frage einer Abgrenzung und Zuordnung der in c. 596 angesprochenen Gewalten Platz greifen würde. Selbst wenn man von der durchaus nicht unbestrittenen und in der Rechtsgeschichte der Orden keinesfalls haltbaren These ausgeht, dass Jurisdiktionsgewalt unbedingt den Besitz von Weihegewalt zur Voraussetzung haben müsse (vgl. c. 129 § 1), wäre zu fragen, warum aufgrund der geltenden Rechtslage nicht auch dem Klerikeroberen und den Kapiteln eines klerikalen Ordensinstituts diözesanen Rechts Jurisdiktionsgewalt zukommt. Dass der Besitz dieser potestas auf die Oberen eines klerikalen Ordensinstituts päpstlichen Rechts eingeschränkt ist (c. 596 § 2), entbehrt einer ausreichenden Begründbarkeit. – Zur schwankenden Textgeschichte des c. 129 CIC/1983, insbesondere zum erheblich anders lautenden Entwurf des c. 126 Schema CIC 1980 vgl. Peters, Incrementa (Anm. 10), S. 90. 36

So wird in der Kanonistik seit einiger Zeit die These vertreten, dass es sich auch bei der potestas nach c. 596 §1 um Jurisdiktionsgewalt handle, die allerdings auf den Bereich der Verwaltung eingeschränkt sei (potestas iurisdictionis administrativa). Dazu Andrea Boni, Gli istituti religiosi e la loro potestà di governo (c. 607/c. 596), Roma

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Eine Besonderheit im Eigenrecht eines der neuen gemischten Institute wirft eine Frage von grundsätzlicher Relevanz auf. Nach den Konstitutionen der Geistlichen Familie „Das Werk“ besteht das Institut, was dessen Gesamtleitung betrifft, aus einem international Verantwortlichen für die Priestergemeinschaft und einer international Verantwortlichen der Schwesterngemeinschaft. Die beiden international Verantwortlichen tragen gemeinsam die Verantwortung für das Gesamtinstitut; die Entscheidungen werden mit Zustimmung oder nach Befragung des Familienrates von den beiden international Verantwortlichen „in Einheit“ getroffen37. – Abgesehen davon, dass die Unterscheidung, wann Zustimmung oder bloßer Rat (consensus bzw. consilium gem. c. 127) erforderlich ist, offen gelassen wird, fällt vor allen Dingen auf, dass das Institut als ganzes keinen individuellen Generaloberen besitzt, sondern genau genommen deren zwei, die – wie immer dies im Einzelnen aussehen mag – „in Einheit“ vorzugehen haben. Damit wird aber in ein dem geltenden Kirchenrecht zugrunde liegendes Verfassungsprinzip der Institute des geweihten Lebens (Gesellschaften des apostolischen Lebens) ein völlig neues Modell hinzugefügt, nämlich eine gemeinschaftliche Führung durch zwei Personen, die sich auf eine gemeinsame Vorgangsweise einigen müssen38. Eine derart neue „ordensrechtliche“ Verfassungsform scheint aber nicht unbedenklich und ist, wie schon gesagt, dem derzeitigen universalen und, soweit ersichtlich, auch dem partikularen Recht unbekannt. Unter dem Oberen auf allen ordensrechtlichen Leitungsebenen wird immer eine Einzelperson verstanden, deren individueller Handlungsspielraum zwar durch verschiedene Formen von Beispruchsrechten (Zustimmung und Rat) begrenzt ist, die aber innerhalb des gezogenen Rahmens, von wenigen Ausnahmefällen einer strikt kollegialen Beschlussfassung abgesehen39, eine höchstpersönliche Entscheidungskompetenz besitzt. Denn auch in den Fällen, in denen der Obere zum 1989, S. 499: „…la distinzione tra il paragrafo primo ed il paragrafo secondo del c. 596 si deve ricondurre ad una distinzione semplicemente di ordine ‚quantitativo‘“. 37

Eigenrecht der Geistlichen Familie „Das Werk“, hektografierter Text o.J.

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Die Frage, wie im Falle einer nicht zustande kommenden Einigung vorzugehen ist, wird im Eigenrecht nicht geregelt. Natürlich kann der Apostolische Stuhl in jedem einzelnen Fall einer solchen Pattsituation um eine Entscheidung angegangen werden. Es wäre aber auch im Sinne des Subsidiaritätsprinzips primär eine Sache des Eigenrechts, von vornherein eine Vorgangsweise vorzusehen, die im Rahmen der „iusta autonomia“ (c. 586) für einen potentiellen Konfliktfall dieser Art ein Lösungsmodell anbietet. 39

Der CIC/1983 kennt einen einzigen Fall, in dem der Oberste Leiter (Supremus Moderator) und seine Konsultoren eine streng kollegiale Entscheidung mit Stimmenmehrheit zu treffen haben. Dies ist bei der Entlassung eines Mitglieds gem. c. 699 § 1 der Fall. Hier ist der Obere nur primus inter pares. Seine Stimme zählt nicht mehr als die der übrigen Mitglieder des Kollegiums, und der Obere hat, unabhängig von seinem eigenen Stimmverhalten, den Mehrheitsbeschluss durchzuführen.

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rechtsgültigen Handeln an Zustimmung bzw. Rat gebunden ist, liegt damit kein kollegialer Akt von Oberen und Beispruchsberechtigten vor, sondern es ist vielmehr Sache des Oberen, einen wenngleich an den Konsens bestimmter Personen bzw. Gremien gebundenen Akt vorzunehmen oder nicht. Zustimmung bzw. Rat sind zwar, je nach Sachlage, zum gültigen Handeln erforderlich; ob aber der Rechtsakt überhaupt gesetzt wird, entscheidet der Obere allein. Diesem im universalen (kodikarischen) Ordensrecht vorgezeichneten Bild des Individualoberen widerspricht das im Eigenrecht von „Das Werk“ festgelegte Modell einer prinzipiell dualistischen Leitung des Gesamtinstituts. Hier hat nämlich keiner der beiden für die jeweilige Gemeinschaft „Verantwortlichen“ eine individuelle Entscheidungskompetenz; er (sie) ist in allen Fragen an das gemeinsame Vorgehen („in Einheit“) mit dem (der) jeweils anderen gebunden. Dieses idealistisch anmutende Modell mag für den Elan der Gründungszeit als Form einer Leitungsstruktur durchaus geeignet erscheinen. Ob sich diese Struktur aber, insbesondere in Krisensituationen, bewährt, wird die Zukunft erst zeigen müssen. Formal ist für eine Einführung dieser neuen Verfassungsform m. E. die Römische Kongregation nicht mehr zuständig; diesbezüglich bedürfte es einer Approbation in besonderer Form durch den Papst (PastBon Art. 18, 2). 2. Die Bindung an die drei evangelischen Räte erfolgt bei den in Rede stehenden Instituten in einer Form, die keine öffentlichen (kirchenamtlichen) Gelübde im Sinne von c. 1192 § 1 darstellen. Dies auch dann nicht, wenn sie „öffentlich“ abgelegt und von einem kirchlichen Hoheitsträger entgegengenommen werden. Der Begriff der öffentlichen (kirchenamtlichen) Gelübde ist taxativ dahingehend zu verstehen, dass dadurch eine Eingliederung (Inkorporation) in ein Ordensinstitut (Institutum religiosum) bewirkt wird40. Wenn dies nicht der Fall ist, liegt auch kein öffentliches Gelübde i. S. v. c. 1192 § 1 vor. – Für die Bindung an die evangelischen Räte bei den in Rede stehenden Instituten kommen jene Formen in Betracht, die auch bei den Säkularinstituten Anwendung finden, d. h. nichtöffentliche Gelübde, Versprechen, Bekenntnis; es können selbstverständlich auch neue Ausdrucksformen verwendet werden41, sofern unter theologischen und kanonistischen Gesichtspunkten kein Einwand dagegen erhoben werden kann. 40 Nur die Ablegung eines ewigen öffentlichen (kirchenamtlichen) Keuschheitsgelübdes in einem Ordensinstitut (Institutum religiosum) stellt ein (trennendes) Ehehindernis gem. c. 1088 dar; eine Gelübdeablegung in einem anderen Institut des geweihten Lebens bzw. einer Gesellschaft des apostolischen Lebens zieht diese Rechtsfolge ebenso wenig nach sich wie das Keuschheitsgelübde der gottgeweihten Jungfrauen (c. 604 § 1). 41

So werden in der Geistlichen Familie „Das Werk“ – einem aus Männern und Frauen bestehenden (neuen) Institut päpstlichen Rechts – die evangelischen Räte in Form eines „Bündnisses mit dem Herzen Jesu“ übernommen. Das Werk, S. 14.

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3. Die Frage, ob Institute der genannten Art Inkardinationsverbände sein können, ist durch die Praxis längst beantwortet, wobei nicht nur Instituten päpstlichen, sondern auch solchen diözesanen Rechts das Inkardinationsrecht verliehen wurde42. In diesem Zusammenhang stellt sich aber eine Reihe von Fragen: Zunächst einmal geht die Erteilung des Inkardinationsrechts an die in Rede stehenden Institute insofern über die von c. 266 §§ 2 und 3 gezogenen Grenzen hinaus, als hier grundsätzlich nur das Ordensinstitut (Institutum religiosum)43 und die klerikale Gesellschaft des apostolischen Lebens44 als Inkardinationsträger ins Auge gefasst werden, während bei Säkularinstituten eine Inkardination in das Institut nur aufgrund einer besonderen Verleihung durch den Apost. Stuhl erfolgen konnte. Die Akzentverlagerung erfolgt nunmehr insofern, als das in c. 266 als solches nicht genannte Institut des geweihten Lebens als Inkardinationsträger genannt wird. Da allgemeine Normen für die Approbation solcher Institute offensichtlich noch nicht vorhanden sind, muss das Inkardinationsrecht von Fall zu Fall durch den Apost. Stuhl verliehen werden. Eine derartige Verleihung seitens der Römischen Kongregation bleibt m. E. innerhalb der für diese gezogenen kodikarischen Grenzen. Denn c. 266 § 3 fasst über die in § 2 dieses Canons bereits festgelegten Grenzen hinaus die Verleihung des Inkardinationsrechts an Säkularinstitute durch den Apostolischen Stuhl als grundsätzliche Möglichkeit ins Auge. Daher ist ein Analogieschluss (c. 19) berechtigt, dass die Verleihung des Inkardinationsrechts an die gemischten Institute des geweihten Lebens durch die Römische Kongregation45 möglich ist

42 So nicht nur das Institut päpstlichen Rechts „Das Werk“, sondern sogar die diözesanrechtliche „Società francescana di Betania“ Antonio Neri, L’istituto unico maschile e femminile di vita consacrata. Maschinschriftliche Diss. eingereicht an der Kath.-theol. Fakultät der Universität Wien 2005. 43

Während der Gesetzestext nur den klerikalen Gesellschaften des apostolischen Lebens das Inkardinationsrecht zuweist, wird bei den Ordensinstituten nicht zwischen klerikalen und laikalen Verbänden differenziert. In beiden Fällen erfolgt überdies keine Unterscheidung zwischen Verbänden päpstlichen bzw. diözesanen Rechts. Daraus ist zu folgern, dass aufgrund des CIC/1983 auch einem laikalen Ordensinstitut päpstlichen wie diözesanen Rechts sowie einer klerikalen Gesellschaft diözesanen Rechts das Inkardinationsrecht zukommt. Bruno Primetshofer, Inkorporation und Inkardination von Ordensklerikern, in: Festg. Pototschnig, S. 326, 336, Anm. 13. 44

Bei diesen besteht allerdings ein Vorbehalt zugunsten anders lautenden Eigenrechts (c. 266 § 2). 45

Das könnte je nach Sachlage nicht nur die Kongregation für die Institute des geweihten Lebens etc. sein, sondern auch die Kongregation für die Orientalischen Kirchen oder die Kongregation für die Verbreitung des Glaubens.

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und keiner besonderen Approbation durch den Papst gem. Art. 18, 2 PastBon bedarf46. 4. Mit der Inkardination verbunden ist die Frage, welcher Obere Weiheentlassschreiben ausstellen kann. Zufolge c. 1019 § 1 ist dafür nur der höhere Obere eines klerikalen Ordensinstituts päpstlichen Rechts oder einer klerikalen Gesellschaft des apostolischen Lebens päpstlichen Rechts zuständig. Die hier angesprochenen Oberen fallen unter den Begriff des Ordinarius gem. c. 134 § 1. Die höheren Klerikeroberen eines Instituts des geweihten Lebens der in Rede stehenden Art sind weder Ordinarien, noch können sie aufgrund von c. 1019 § 1 Weiheentlassschreiben ausstellen. Es ergibt sich daher die auch aufgrund der kodikarischen Rechtslage unbefriedigende Situation, dass ein Verband zwar Inkardinationsträger ist (z. B. klerikales Ordensinstitut diözesanen Rechts), dass dessen (höherer) Oberer aber kein Weiheentlassschreiben ausstellen kann. Diese Situation wird auch für die neuen Institute des geweihten Lebens Geltung haben. Denn auch wenn sie das Inkardinationsrecht besitzen, können ihre höheren Oberen, sofern sie nicht besondere Vollmachten seitens des Apostolischen Stuhles erhalten haben, keine Weiheentlassschreiben ausstellen, sondern auch auf sie wird c. 1019 § 2 angewendet werden, d.h. sie werden auf das für Weltkleriker geltende Recht verwiesen. Demzufolge könnten der nach c. 1016 zuständige Diözesanbischof bzw. die in c. 1018 § 2 genannten Vorsteher von Teilkirchen, sofern sie nicht selber die Weihe erteilen (c. 1015 § 3), Entlassschreiben ausstellen, wobei allerdings in jedem Fall der zuständige höhere Obere des Instituts die Voraussetzungen für den Weiheempfang prüft und unter einer im Eigenrecht vorgesehenen Mitwirkung seiner Räte über den Weiheempfang entscheidet47. Insbesondere hat er zu bestätigen, dass der Weihekandidat dem Institut dauernd eingegliedert ist (c. 1052 § 2). Erst nachdem die Inkorporation in das Institut durch die Ablegung einer dauernden ewigen oder endgültigen Bindung vorliegt, kann der Weihewerber durch den Empfang

46

Der dem gemischten Institut inkardinierte Kleriker besitzt aber, wie bereits aufgezeigt wurde, keinen institutseigenen Oberen, dem die Eigenschaft des Ordinarius gem. c. 134 § 1 zukommt. Denn institutseigene Ordinarien sind nur die höheren Oberen klerikaler Ordensinstitute päpstlichen Rechts und klerikaler Gesellschaften des apostolischen Lebens päpstlichen Rechts. 47

Dieser höhere Obere müsste selbst nicht Kleriker sein. Dies könnte etwa dann der Fall sein, wenn der (Laien)obere eines laikalen Instituts, das in seinen Reihen auch Kleriker hat (z. B. die Barmherzigen Brüder des hl. Johannes von Gott), für einen Professen seines Instituts den Bischof um die Weihespendung ersucht.

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der Diakonatsweihe dem Institut inkardiniert werden48. Ferner legt der Obere dem Bischof die erforderlichen Zeugnisse und Dokumente (c. 1050 f.) vor49. Es bleibt die Frage offen, ob bei diesen neuen Formen von Instituten des geweihten Lebens die Inkardination in das Institut die einzige Möglichkeit darstellt oder ob das Eigenrecht auch eine andere Alternative vorsehen kann, etwa eine Inkardination in eine Teilkirche, wie dies bei den Gesellschaften des apostolischen Lebens vorgesehen ist, deren Eigenrecht eine derartige Inkardination festlegen kann (c. 266 § 2). Die nähere Regelung des Bezugsverhältnisses des einer Diözese inkardinierten Mitglieds zum Bischof wird in den Bereich des Eigenrechts oder besonderer Vereinbarungen verwiesen (c. 738 § 3)50. – Auch bezüglich der Säkularinstitute sind zwei Varianten der Inkardination von Klerikermitgliedern vorgesehen: Grundsätzlich erfolgt die Inkardination in eine Teilkirche; für eine Inkardination in das Säkularinstitut bedürfte es einer besonderen Verleihung seitens des Apostolischen Stuhles (c. 266 § 3)51. 5. Zufolge c. 605 ist die Anerkennung neuer Formen des geweihten Lebens dem Apostolischen Stuhl reserviert. Das bedeutet, dass die ansonsten vorhandene Zuständigkeit des Diözesanbischofs zur Errichtung eines (diözesanrechtlichen) Instituts des geweihten Lebens (c. 579) in Bezug auf die neuen Formen nach c. 605 nicht gegeben ist. Wenn der Diözesanbischof daher eine solche neue Form errichten will, bedarf er dazu einer besonderen Ermächtigung seitens des Apostolischen Stuhles, während er bei sonstigen Instituten des geweihten Lebens nach vorausgehender Beratung mit dem Apostolischen Stuhl die Errichtung kraft eigenen Rechts vornehmen kann52. Die Vorgangsweise wurde 48

Bruno Primetshofer, La relazione fra incorporazione ed incardinazione di chierici negli IVC e nelle SVA, in: ComRelMiss 82 (2001), S. 303 – 316. 49 Heinrich J. F. Reinhardt, c. 266, Rdnr. 4, in: MK CIC. – In der Praxis besteht somit kaum ein Unterschied zwischen einem höheren Oberen, der ein Weiheentlassschreiben im eigentlichen Sinn ausstellen kann und einem anderen, dem diese Befugnis zwar nicht zukommt, der aber bezüglich des dem Institut inkorporierten Mitglieds die Entscheidung über dessen Zulassung zur Weihe trifft. 50

Allerdings weist diese Form der Inkardination einige Besonderheiten auf, die sich erheblich von den sonstigen Wirkungen der Inkardination in eine Teilkirche unterscheiden. Oskar Stoffel, Die katholischen Missionsgesellschaften. Historische Entwicklung und konziliare Erneuerung, Immensee 1984, S. 132 – 135.; ders., Die “doppelte Inkardination“ bei den Missionsgesellschaften, in: Festg. Schwendenwein, S. 547 – 560; Bruno Primetshofer, Inkorporation, (Anm. 43), S. 327 f. 51

Hinsichtlich der Beziehungen des Klerikermitglieds eines Säkularinstituts zum Vorsteher einer Teilkirche im einen wie im anderen Fall vgl. c. 715. 52 Durch diese gesonderte Ermächtigung seitens des Apostolischen Stuhles wird das Institut aber nicht zu einem solchen päpstlichen Rechts. Die Ermächtigung stellt keine

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etwa bei der Errichtung der diözesanrechtlichen „Società francescana di Betania“, einer aus Männern (Klerikern, Laien) und Frauen bestehenden neuen Form eines Instituts des geweihten Lebens eingehalten: Der zuständige Diözesanbischof wurde durch die Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und Gesellschaften des apostolischen Lebens ermächtigt, die Fraternità als Institut des geweihten Lebens anzuerkennen („riconoscere“) und die Konstitutionen „ad experimentum“ für 5 Jahre zu approbieren53. Der Società wurde auch das Inkardinationsrecht verliehen54. 6. Die Errichtung neuer Formen des geweihten Lebens wird zufolge c. 605 in die Kompetenz des Apostolischen Stuhles verwiesen. In diesem Zusammenhang wurde die Frage aufgeworfen, ob damit nur der Papst persönlich angesprochen sei oder auch die Römischen Dikasterien (vgl. c. 361). So meint etwa De Paolis, dass im gegenständlichen Fall unter dem Apostolischen Stuhl nur der Papst persönlich, nicht aber auch die Dikasterien der Kurie gemeint sein können55. Das scheint allerdings unter mehreren Gesichtspunkten nicht gerechtfertigt. Zum einen besteht der Tenor der Aussage des c. 361 offensichtlich darin, dass unter der Bezeichnung Apostolischer Stuhl neben der selbstverständlich immer gegebenen Kompetenz des Papstes auch die angeführten Dikasterien gemeint sind. Der in Rede stehende Canon bringt m. E. eine Rechtsvermutung zum Ausdruck, wonach im Bereich der Verwaltung grundsätzlich kumulative Kompetenz des Papstes zugleich mit den angeführten Dikasterien besteht. Sollte in einem Einzelfall der Papst persönlich gemeint sein, dann müsste dafür eine rechtlich eindeutige Ausdrucksweise gewählt werden. Zum anderen ist im gegebenen Zusammenhang auch die Frage nach der Verhältnismäßigkeit zu stellen. Ist die Errichtung einer neuen Form eines Instituts des geweihten Lebens wirklich von solcher Bedeutung, dass jeder einzelne Fall dem Papst persönlich zugewiesen werden muss? Dies ist ja auch nicht der Fall, wenn sonst ein Institut des geweihten Lebens gemäß c. 589 etwa vom Apostolischen Stuhl direkt errichtet wird. Abgesehen davon ist die Errichtung neuer

päpstliche Errichtung und auch keine Approbation i. S. V. c. 589 dar. Das vom Bischof, wenngleich mit päpstlicher Ermächtigung errichtete Institut ist diözesanen Rechts und bleibt dies bis zum Anerkennungsdekret (c. 589) seitens des Apostolischen Stuhles. 53

Umfassend dokumeniert bei Neri, L’istituto unico (Anm. 42).

54

Daraus folgt aber nicht, wie bereits dargelegt wurde, auch das Recht, Weiheentlassschreiben auszustellen. 55

Velasio de Paolis, La vita consacrata nella Chiesa, Bologna 1991, S. 81 f.: „… Sede apostolica in questo caso si intende solo il Romano Pontefice…L’approvazione… di nuove forme nel senso inteso va al di là delle competenze che spettano ai dicasteri della Curia romana“.

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Institute eine Angelegenheit, die an sich von der Grundtendenz her sowieso in die Kompetenz der Bischöfe (c. 579) fällt56! Freilich ist die Kompetenz der Kongregation(en) im vorliegenden Fall im Rahmen von Art. 18, 2 PastBon zu sehen. Gelegentlich der Approbation der Konstitutionen können keine Bestimmungen in Kraft gesetzt werden, die mit dem universalen Recht des CIC in Widerspruch stehen, sofern sie nicht vom Papst in besonderer Form approbiert wurden57. Im Einzelnen ist m. E. Folgendes zu beachten: C. 605 spricht von der Anerkennung neuer Formen des geweihten Lebens58. Daraus ergibt sich, dass das neu zu errichtende Institut jedenfalls die Grundelemente eines solchen Instituts aufweisen muss59. Dazu zählt die Verpflichtung auf die drei evangelischen Räte durch Gelübde oder andere heilige Bindungen (c. 573 § 2). Dieser Rahmen würde über- bzw. unterschritten, wenn ein neues Institut geschaffen werden sollte, das keine Bindung an die evangelischen Räte vorsieht, wie dies etwa bei den Gesellschaften des apostolischen Lebens der Fall ist (c. 731 § 1). Das wäre dann aber kein Institut des geweihten Lebens mehr; die Zuständigkeit der Kongregation(en) gem. c. 605 wäre damit überschritten, und eine derartige Errichtung müsste bei sonstiger Nichtigkeit gem. Art. 18, 2 PastBon vom Papst in besonderer Weise approbiert werden. Auch sonst kann bei Gelegenheit der (gewöhnlichen) Approbation des Eigenrechts einer neuen Form eines Instituts des geweihten Lebens nicht etwas festgelegt werden, das den Normen des kodikarischen Rechts, insbesondere Ordensrechts widerspricht. So stellen etwa die Bestimmungen über die Vermögensverwaltung in einigen Grundelementen zweifellos zwingendes Recht (ius cogens) dar, denen das Eigenrecht eines einzelnen Instituts nur dann derogieren könnte, wenn es eine besondere päpstliche Bestätigung gem. Art 18, 2 PastBon erhalten hätte. Zu diesen Grundelementen der kirchlichen (klösterlichen) Vermögensverwaltung zählt etwa die Bestimmung des c. 638 § 3, wonach eine Veräußerung (alienatio) klösterlichen Stammvermögens vom zuständigen Obe56 Mit Recht bemerkt Neri, Nuove forme (Anm. 33), S. 284: „…sarebbe…. sproporzionato intendere per Sede Apostolica addirittura il Papa“. 57

Bruno Primetshofer, Approbatio in forma specifica, in: AfkKR 169 (2000), S. 408 –

432. 58

Es fällt auf, dass in Bezug auf die Gesellschaften des apostolischen Lebens die generelle Verweisungsnorm des c. 732 auf das für die Institute des geweihten Lebens Gesagte den c. 605 nicht inkludiert. Dies schließt allerdings keineswegs aus, dass sich auch im Bereich der Gesellschaften des apostolischen Lebens neue Formen entwickeln und kirchliche Anerkennung finden. 59

Andrés, Le forme (Anm. 25), S. 801 – 810.

Neue Rechtsentwicklungen im Bereich der gemischten Institute

745

ren nur dann gültig vorgenommen werden kann, wenn die Zustimmung seines Rates vorliegt60. 7. Art. 125 §§ 1 und 2 des RGCR (1999) hebt nochmals hervor, dass die Kompetenz der Kongregationen auf die Erlassung von Allgemeinen Ausführungsdekreten und Instruktionen gem. cc. 31 – 34 des CIC eingeschränkt ist. Sie können weder Gesetze oder Allgemeine Dekrete (c. 29) erlassen noch können sie ohne dessen ausdrückliche Approbation dem vom Papst festgelegten Recht derogieren. In Einzelfällen können sie aber nach Maßgabe des Rechts Dispensen gewähren61. Es stellt sich nun die Frage, ob eine Römische Kongregation gelegentlich der Approbation des Eigenrechts eines Instituts eine Dispens von Bestimmungen des kodikarischen Rechts vornehmen kann, so dass diese für das betreffende Institut für dauernd außer Kraft gesetzt wären. Zweifellos kann gelegentlich der Approbation des Eigenrechts eines Instituts bei Vorliegen eines entsprechenden Dispensgrundes62 und für die Dauer desselben63 eine Dispens von Bestimmungen des universalen Kirchenrechts, soweit diese dispensierbar sind (vgl. c. 86), vorgenommen werden. Dazu sind aber an formalen Voraussetzungen sowohl eine hinreichende Kennzeichnung

60

Das Eigenrecht könnte m. E. im gegenständlichen Fall auch nicht festlegen, dass bei Fragen der Veräußerung von Stammvermögen der Obere mit seinen Räten in der Rechtsform des kollegialen Aktes vorgeht. Denn bei diesem ist der Obere nur primus inter pares, er könnte daher bei einer Veräußerung überstimmt werden und hätte dann den Mehrheitsbeschluss unabhängig von seinem eigenen Stimmverhalten durchzuführen. – Das kodikarische Recht räumt ihm aber eine primäre Entscheidungskompetenz in dem Sinne ein, dass es von seinem Willen abhängt, ob überhaupt veräußert wird oder nicht. Zur gültigen Vornahme der Veräußerung braucht er zwar die Zustimmung der Konsultoren. Diese bindet ihn aber nicht in dem Sinne, dass er bei gegebener Zustimmung auch veräußern muss. Primetshofer, Ordensrecht (Anm. 9), S. 161; ders., Der Rechtscharakter des Eigenrechts in Ordensgemeinschaften, in: Anzelm Szuromi (Hrsg.), Parare viam Domino. FS für Polykarp Zakar, Budapest 2005, S. 91 – 124. 61

Vgl. Art. 109 des früheren RGCR/1992.

62

Eine ohne Grund erteilte Dispens ist auf jeden Fall unerlaubt und, sofern sie nicht vom Gesetzgeber selbst oder dessen Oberen erteilt wird, auch ungültig (c. 90 § 1). Da die Kongregation nicht selber Gesetzgeber ist, bedarf sie zur Gültigkeit der Dispens eines entsprechenden Grundes. Im Zweifel über das Vorliegen eines hinreichenden Grundes wird die Dispens gültig und erlaubt gewährt (c. 90 § 2). 63

Diese Dispens kann nur für so lange gewährt werden, als der Grund andauert. Gommarus Michiels, Normae generales Iuris Canonici, Parisiis / Tornaci / Romae 21949, II, S. 679.

746

Bruno Primetshofer

des Dispensaktes selbst als auch der außer Kraft gesetzten Rechtsnorm64 erforderlich. Eine ohne einen solchen Hinweis auf einen Dispensvorgang seitens der Kongregation vorgenommene einfache Approbation des (höherrangigen) Eigenrechts (c. 587 § 2), sofern dieses vom universalen Recht abweichende Bestimmungen enthält, stellt keine gleichsam implizit erteilte Dispens dar und hätte daher nicht die Wirkung, das universale Recht, soweit dieses zwingendes Recht (ius cogens) darstellt, für das betreffende Institut außer Kraft zu setzen. Ausgenommen ist natürlich der Fall einer vom Papst vorgenommenen Approbation in forma specifica (Art. 18, 2 PastBon). Dem Eigenrecht käme daher selbst nach einer seitens der Römischen Kongregation in der gewöhnlichen Form erteilten Approbation in Bezug auf den zum universalen Recht in Widerspruch stehenden Teil von vornherein keine Verbindlichkeit zu (c. 135 § 2). Dies gilt auch, wenn die Kongregation eine Entscheidung trifft, die mit einer vom PCI gegebenen Interpretation einer Bestimmung des universalen Gesetzes (CIC, CCEO) in Widerspruch steht65. Der Päpstliche Rat zur Interpretation von Gesetzestexten (PCI) könnte von jedem Interessenten mit dem Ersuchen angegangen werden, auch nach erfolgter Bestätigung durch die Römische Kongregation die Konformität des Eigenrechts mit dem universalen Recht zu überprüfen66, um gegebenenfalls die Ungültigkeit des Eigenrechts feststellen zu lassen 64

Diese Rechtsnorm kann m. E. nicht nur Gesetzesrecht sein, worauf der Wortlaut des c. 85 (…legis…..relaxatio) hindeutet, sondern ebenso eine Bestimmung des Gewohnheitsrechts, soweit dieses zu bindendem Recht geworden ist. 65

Die Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und Gesellschaften des apostolischen Lebens hat in einem Reskript an den Generaloberen der Redemptoristen (25. 11. 1988) entschieden, dass bei Abstimmungen aller Art im Bereich der Kongregation der Redemptoristen der an den Konsens seiner Konsultoren gebundene Obere zwar nicht mit abstimmt, bei Stimmengleichheit aber ein Dirimierungsrecht besitzt. – Das steht aber in offenem Widerspruch zur Entscheidung des PCI vom 5. 7. 1985, wonach dem Oberen bei Stimmengleichheit der Konsultoren generell kein Dirimierungsrecht zukommt (AAS 77/1985, S. 771). Da die Interpretation durch das PCI zwingendes (universales) Recht darstellt, ist die gegenteilige Entscheidung der Kongregation rechtswidrig und ungültig. S. Dubrowsky, El consentimiento de un „personarum coetus“ y el acto de un superior, in: IusCan 26 (1986), S. 287; Primetshofer, Ordensrecht (Anm. 9), S. 101. 66

Auch wenn Art. 158 PastBon nur von partikularen Gesetzen und Allgemeinen Dekreten der Gesetzgeber unterhalb der höchsten kirchlichen Autorität spricht, ist die Zuständigkeit des PCI auch bezüglich der von Instituten des geweihten Lebens (Gesellschaften des apostolischen Lebens) ausgehenden Akten der Rechtssetzung (Satzungsrecht) ohne weiteres anzunehmen und zwar ohne Rücksicht darauf, ob diese Satzungen i. S. v. c. 94 §§ 1 – 3 kraft gesetzgebender Vollmacht erlassen wurden (Satzungsgesetz) oder nicht (autonomes Satzungsrecht). Pio Vito Pinto (Hrsg.), Commento alla „Pastor bonus“ e alle norme sussidiarie della Curia Romana, Città del Vaticano 2003, S. 226; Primetshofer, Rechtscharakter (Anm.60), S. 100 f. Zur Unterscheidung zwischen auto-

Neue Rechtsentwicklungen im Bereich der gemischten Institute

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(Art. 158 PastBon)67. Die Entscheidung des PCI muss dem Papst vorgelegt werden, ist aber insofern endgültig, als sie keinem hierarchischen Rekurs und keiner Überprüfung durch die Zweite Sektion der Signatura apostolica unterworfen ist68. IV. Gottgeweihtes Leben für Eheleute? Abschließend stellt sich die Frage, ob es eine neue Form von Instituten des geweihten Lebens geben kann, die für Eheleute in der Weise zugänglich ist, dass diese als Vollmitglieder und nicht bloß als in irgendeiner Weise Assoziierte aufgenommen werden können. Derzeit können Verheiratete nicht gültig in das Noviziat aufgenommen und infolgedessen auch nicht zur Profess zugelassen werden (c. 643 § 1, 2) Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn bei aufrechter Ehe die Lebens- und Geschlechtsgemeinschaft der Ehegatten nicht mehr besteht, etwa im Falle einer staatlichen Scheidung oder einer dauernden kirchlichen sog. Trennung von Tisch und Bett (cc. 1151 – 1155). In diesem Fall kann vom Apostolischen Stuhl unter bestimmten Voraussetzungen Dispens vom Hindernis des c. 643 § 1, 2 gewährt werden69. Einer Aufnahme Verheirateter als Vollmitglieder in ein Institut des geweihten Lebens wurde aber bisher, solange die eheliche Lebens- und Geschlechtsgemeinschaft aufrecht ist, eine deutliche Absage erteilt70.

nomem Satzungsrecht (c. 94 § 2) und hoheitlichem Satzungsrecht (Satzungsgesetz, c. 94 § 3) vgl. Aymans / Mörsdorf, KanR, I, S. 215. 67

Es stellt sich die Frage, ob im gegenständlichen Fall c. 124 § 2 zur Anwendung kommt, wonach die bezüglich ihrer äußeren Elemente vorschriftsmäßig vorgenommene Rechtshandlung, in unserem Fall also die Beschlussfassung durch das Kapitel, die Bestätigung durch den Apostolischen Stuhl bzw. Diözesanbischof und die Promulgation des Eigenrechts, nicht die Rechtsvermutung der Gültigkeit zur Folge hat. – Dies ist grundsätzlich zu bejahen, wobei möglicherweise aber auch gegebenenfalls schadenersatzrechtliche Probleme auftauchen könnten (c. 128). – Bei offenkundigem Widerspruch zwischen dem Eigenrecht und dem universalen kanonischen Recht greift m. E. die Rechtsvermutung des c. 124 § 2 nicht. 68 Pinto, Commento (Anm. 66), S. 227 unter Berufung auf das Regolamento proprio des PCI. 69

Zur Kontroverse, ob auch der Diözesanbischof aufgrund der ihm kraft c. 87 § 1 zukommenden Vollmacht von diesem Hindernis Dispens erteilen kann, vgl. Primetshofer, Ordensrecht (Anm. 9), S. 186 f. 70

Vgl. Lineamenta für die Bischofssynode über das geweihte Leben, in: ComRelMiss 75 (1994), S. 41 und die Propositio 13 für die Bischofssynode über das geweihte Leben vom 30.10. 1994: „..coniuges… sub categoria vitae consecratae comprehendi nequeunt.“

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Bruno Primetshofer

Der neuralgische Punkt in dieser Frage ist das Gelübde der Keuschheit, das von Eheleuten in der Regel wohl nicht in der Form vollständiger geschlechtlicher Enthaltsamkeit, wohl aber als eheliche Keuschheit, d.h. als Verpflichtung zur Enthaltung von jeder Form geschlechtlichen Missbrauchs abgelegt werden könnte71. Ein derartiges Privatgelübde können Eheleute gegenwärtig jederzeit auf sich nehmen. Es besteht m. E. kein zwingender systemimmanenter Grund, warum ein solches Keuschheitsgelübde zusammen mit den beiden anderen Gelübden (Armut, Gehorsam) nicht auch zur Grundlage eines Lebens nach den evangelischen Räten gemacht werden kann und somit Verheirateten der (Voll)eintritt in ein Institut des geweihten Lebens (am ehesten wohl in der Form eines Säkularinstituts) ermöglicht wird. Eine solche neue Form würde einerseits den Wünschen nicht weniger im Ehestand lebender Männer und Frauen entgegenkommen, es würde andererseits auch eine Bereicherung der vielfältigen Erscheinungsformen des gottgeweihten Lebens nach den evangelischen Räten darstellen. Auch darin könnte eine der Kirche vom Heiligen Geist anvertraute neue Gabe des geweihten Lebens erblickt werden, die zu erkennen insbesondere den Bischöfen ans Herz gelegt wird (c. 605).

Eutimio Sastre Santos, Las condiciones y posibilidades de nuevas formas de vida consagrada, Vatican City 1999, S. 287. 71 An sich könnten Eheleute in gegenseitiger Übereinkunft auch ein Gelübde vollständiger geschlechtlicher Enthaltsamkeit ablegen. Das in c. 1135 festgelegte Recht auf Gemeinschaft des ehelichen Lebens umfasst zweifellos auch das Recht des einzelnen Ehegatten auf Geschlechtlichkeit. Ein Übereinkommen der Ehegatten, auf dieses Recht zu verzichten und (künftig) in Josefsehe zu leben, ist dadurch aber nicht ausgeschlossen.

Die Abtwahl in den Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation Von Philipp Helm OCist „De ordinatione abbate In abbatis ordinatione illa semper consideretur ratio, ut hic constituatur quem sibi omnis concors congregatio secundum timorem Dei, sive etiam pars quamvis parva congregationis saniore consilio elegerit.“1 I. Vorbemerkungen 1. Demokratie in der Kirche? Dass die Römisch-katholische Kirche viele mit demokratischen Wahlvorgängen zu vergleichende Wahlen durchführt und ihr eigen nennt, wurde einer breiten Menge von Menschen erst zuletzt durch die, von vielen Medien weitergetragene Berichterstattung über das Konklave und damit der Wahl von Joseph Kardinal Ratzinger zum Papst Benedikt XVI. wieder bewusst. Dabei kennt die Kirche eine stattliche Anzahl solcher Meinungsbildungsvorgänge unter Einbeziehung vieler Verantwortlicher oder einer großen Anzahl von Gläubigen. Es sei hier auf Pfarrgemeinderatswahlen, Dechantenwahlen, partikularrechtlicher bzw. privilegienrechtlicher Wahlrechte von verschiedenen Gremien oder Domkapiteln etc. hingewiesen. Und nicht zuletzt auf die schon immer praktizierten Wahlmodalitäten innerhalb von Orden und kirchlichen Gemeinschaften.

1

Georg Holzherr, Die Benediktsregel. Eine Anleitung zu christlichem Leben, Zürich / Einsiedeln / Köln 21982, S. 298. – Übersetzung. Ebd. S. 299: „Von der Einsetzung des Abtes: Bei der Einsetzung eines Abtes gelte immer der Grundsatz, dass der aufgestellt wird, den sich die ganze Gemeinschaft einmütig, in Gottesfurcht oder dann ein auch noch so kleiner Teil der Gemeinschaft auf Grund einer wirklich gesunden Einsicht wählt.“

750

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2. Kirchliches Wahlrecht? Der Begriff Wahlrecht findet sich im kirchlichen Recht nicht in jener Art und Weise, wie das staatliche Recht ihn kennt.2 Versteht man doch den Begriff Wahlrecht im umgangssprachlichen Sinn und in der heute geläufigen, staatlichen Rechtssprechung als ein Grundrecht zur Mitbestimmung in einem demokratisch verfassten Staat. Wahlrecht bedeutet aber im deutschsprachigen Raum sehr wohl auch die Menge der rechtlichen Vorgaben für einen gültigen Wahlvorgang. In diesem Sinne kennt das Katholische Kirchenrecht den Begriff Wahlrecht.3 Innerhalb des CIC 1983 wird dieses Regelwerk über Abhaltung, Durchführungsweise und Möglichkeiten von Wahlen vor allem im Zusammenhang mit dem Erlangen eines Kirchenamtes in Verbindung gebracht. Im Buch I des CIC – Allgemeine Normen – werden in Titel IX – Kirchenämter – jene Normen und Richtlinien genannt, die für die Vergabe kirchlicher Ämter im Ordenswesen relevant sind. 3. Historischer Rückblick Es sei noch ein kurzer Rückblick für die im Titel genannte Thematik gestattet: Der Hl. Benedikt von Nursia4 hat in seiner Mönchsregel (vgl. Eingangszitat) schon im 5. Jahrhundert – im Gegensatz zur Magisterregel5 – die Wahl eines Abtes durch die Kommunität vorgesehen. Zuvor (Magisterregel) war noch die Regelung üblich gewesen, dass die „Ernennung des würdigsten Bruders durch den Vorgänger“6 erfolgen sollte. „In Rom kam im 6. Jahrhundert die Bestellung des Bischofs durch den Vorgänger vor. In der Pachomius-Vita liest man von einem Wahlverzicht der Brüder und der Ernennung des Petronius durch den sterbenden Pachomius (…). Kassian erwähnt den Wahlvorschlag eines sterbenden Abtes. Auch in den Juraklöstern gab es die Ernennung des Nachfolgers durch den Vorgänger.“7 Benedikt wollte wohl ganz bewusst, auch

2

Ausgenommen folgende Canones: 1177 § 2, 1180 § 2 Wahl der Begräbniskirche und des Friedhofes; 523; 525 n. 1 Besetzung des Pfarramtes; 377 § 5 in Bezug auf die Bischofswahl; 565, 572 Ernennung eines Kaplans, ... 3

Vgl. Bruno Primetshofer, Ordensrecht, Codex Iuris Canonici, Codex Canonicum Ecclesiarium Orientalium, Freiburg i. Br., 2003, S. 133 ff. 4

Vgl. Walter Nigg / Hans Norbert Loose, Benedikt von Nursia, Freiburg i. Br., 1979.

5

Vgl. Karl Suso Frank, Basilius von Cäsarea. Die Mönchsregeln. Hinführung und Übersetzung, St. Ottlien 1972. 6

Holzherr, Benediktsregel (Anm. 1), S. 301.

7

Ebd., S. 394.

Die Abtwahl in den Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienser

751

durch die eigene Biografie, ein Mehrheitsvotum durch die betroffenen Kleriker als bestmögliche Voraussetzung für das Leitungsamt einer kirchlichen Gemeinschaft gesehen haben.8 Jedoch setzte Benedikt dieser demokratischen Entscheidung auch klare Grenzen. War ihm doch die Verbindung seiner Klöster zur Orts- und Gesamtkirche sehr wichtig. „Auf den Vorgang der Wahl folgt nämlich ein zweiter, nicht bloß formeller Schritt: die ordinatio oder Amtseinsetzung des Erwählten durch den Bischof.“9 Es bestand wohl schon zur Lebenszeit des Heiligen die Gefahr des Missbrauchs dieser demokratischen Entscheidungsbefugnis, welche in der Regel des Heiligen Benedikt öfters anklingt.10 Für Generationen von Mönchen in der benediktinischen Tradition war die Regelung für die Wahl des Abtes in der von Benedikt verfassten Mönchsregel bindend und ist es bis heute, wenngleich die Bestimmungen im Lauf der Geschichte immer konkreter und genauer verfasst wurden. „Eine gewisse juridische Struktur und eine durch Gesetze geregelte Lebensordnung sind (…) für eine klösterliche Gemeinschaft durchaus notwendig: sie sind jedoch keineswegs Selbstzweck, sondern bloß bedeutsame Hilfsmittel, die den Zielen des monastischen Lebens dienen.“11 II. Die Abtwahl in den Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation12 1. Geschichte der Konstitutionen Die Notwendigkeit, Konstitutionen für die (damals noch nicht im heutigen Zustand existente) Österreichische Zisterzienserkongregation zu verfassen, hing historisch mit der Überwindung des Staatskirchentums Joseph II. zusammen.13 Es sollte zur Wiedereinführung der 1784 zerstörten Ordensprovinzen kom-

8

Vgl. Julius Franz Tschudy, Frumentius Renner. Der Heilige Benedikt und das benediktinische Mönchtum, St. Ottilien, 1979, S. 41 f. 9

Holzherr, Benediktsregel (Anm. 1), S. 301.

10

Z. B.: Benediktsregel Kapitel 64 und 65 (Von der Einsetzung des Abtes, Vom Prior des Klosters). 11

Maurus Esteva, Den Zisterzienserorden besser kennen lernen, Rom 2001, S. 139.

12

Dominik Nimmervoll (Hrsg.), Konstitutionen, Österreichische Zisterzienserkongregation, Zisterzienserorden, Wilhering 1988, S. 59 – 65. 13

Vgl. Meinrad Josef Tomann, Österreichische Zisterzienserkonstitutionen, Zeitdokumente einer Kongregation, ihre Geschichte und Entwicklung (1859 – 1984) (Heiligenkreuzer Studienreihe 6), Heiligenkreuz 1987, S. 41.

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men.14 So entstanden die ersten Konstitutionen unter dem Titel Prager Statuten im Jahr 1859.15 1897 und 1920 entstanden wieder neue Ordenskonstitutionen, notwendig geworden durch zeitliche, politische und kirchliche Veränderungen und Umstände. Das Projekt, gleiche Konstitutionen für alle Kongregationen, angeregt von Generalabt Sighard Kleiner nach dem Zweiten Weltkrieg, scheiterte. Infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils mit seiner Forderung nach Erneuerung des Ordenslebens und dessen Anpassung an die veränderten Zeitumstände war es nötig geworden, sowohl die Ordenskonstitutionen als auch die Kongregationskonstitutionen neu zu erarbeiten. Für die Österreichische Zisterzienserkongregation wurde nach einem Kongregationskapitel im Jahr 1969 und einer Befragung aller Mitbrüder ein neuer Textentwurf verfasst. Dieser fußte auf den bisher existierenden Konstitutionen und Der Erklärung des Generalkapitels über die wesentlichen Elemente des heutigen Zisterzienserlebens. „In seiner sechsten und letzten Sitzung approbierte das spezielle Kapitel der Kongregation, die seither den Namen Österreichische Zisterzienserkongregation führt, am 17. Februar 1971 die neuen Konstitutionen ad experimentum.“16 Mit der Promulgation des CIC 1983 war eine neuerliche Adaptierung der Konstitutionen notwendig geworden. Eine Neufassung des Textes wurde 1984 vom Kongregationskapitel approbiert und im selben Jahr dem Heiligen Stuhl vorgelegt, da Konstitutionen einer monastischen Kongregation vom Heiligen Stuhl approbiert werden müssen.17 Nach weiteren, zahlreichen Änderungen erfolgte schließlich am 4. April 1987 die Approbation der Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation durch die Kongregation für Ordensleute und Säkularinstitute.18 2. Die Abtwahl in den Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation19 Die Bestimmungen über die Wahl des Abtes20 befinden sich innerhalb der Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation in Teil II – Die 14

Ebd., S. 42.

15

Ebd., S. 49.

16

Nimmervoll, Konstitutionen (Anm. 12), S. 14.

17

Ebd., S. 15

18

Ebd.

19

Vgl. zum gesamten Abschnitt ebd.

20

Vgl. Stephan Haering / Heribert Schmitz (Hrsg.), Lexikon des Kirchenrechts (= LThK kompakt), 2004, S. 9 f.

Die Abtwahl in den Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienser

753

Klöster in der Kongregation. Abschnitt IV behandelt unter dem Titel Die Leitung des Klosters in Kapitel I das Abtamt. An Abschnitt A – Amt und Vollmachten schließen unter Abschnitt B – Die Abtwahl die eigentlichen Bestimmungen für die Wahl des Abtes. Darauf folgt Abschnitt C – Die Dauer des Abtamtes, welcher in Zusammenhang mit den Regelungen für die Wahl steht. Abschnitt D – Die Sedisvakanz behandelt dann noch die Regelungen für die Übergangszeit bis zu einer Neuwahl. Im Folgenden soll besonders auf den Abschnitt B und relevante Teile des Abschnittes C eingegangen werden. a) Die Abtwahl Art. 106 verweist gleichsam als Präambel auf die Bestimmungen bezüglich Wahl auf die cc. 164 und 626 des CIC. Art. 107 handelt von der Dauer der Vakanz.21 Binnen fünfzehn Tagen soll eine Neuwahl stattfinden, jedoch erlaubt § 2 einen Aufschub der Wahl auf sechzig Tage, sofern der Abtpräses dies aus gerechtem Grund für nötig findet. Während der CIC in c. 165 eine Frist von höchstens drei Monaten vorsieht, blieb man hier bei der Regelung, welche in den Konstitutionen von 197122 vorgesehen ist, ohne im Anhang Gründe dafür anzugeben. Art. 108 nennt die aktiv Wahlberechtigten, alle Mitbrüder mit feierlicher Profess, sofern sie nicht durch allgemeines oder besonderes Recht von der Wahl ausgeschlossen sind23 und jene, die das aktive Wahlrecht in diesem Kloster erworben haben (z. B. ein Mitbruder aus einem anderen Kloster, der aber eine längere Aufgabe in diesem Kloster übernommen hat – art. 59 § 3). § 2 präzisiert als aktiv wahlberechtigt alle, die am Tag der Wahl im Kloster anwesend sind, vorausgesetzt die Einladung ist nachweislich an alle Wahlberechtigten ergangen.24 Die Konstitutionen sprechen von keinem nötigen Präsenzquorum, das für eine gültige Wahl vonnöten wäre. Außerdem ist bei Verhinderung eine Delegation des Stimmrechtes an einen Prokurator möglich. Diese Regelung war in den Konstitutionen von 1966, art. 4625, noch ausdrücklich ausge-

21

Vgl. ebd., S. 887.

22

Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation, Heiligenkreuz bei Wien, 1971, art. 41 § 2. 23

Vgl. Bruno Primetshofer, Ordensrecht. Codex Iuris Canonici. Codex Canonicum Ecclesiarium Orientalium, Freiburg i. Br., 2003, S. 139. 24 25

Vgl. Primetshofer, Ordensrecht, (Anm. 23), S. 136.

Vgl. Constitutiones Congregationis Sacratissimi Cordis Jesu S. Ordinis Cisterciensis, maschingeschriebenes Manuskript, S. 9.

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schlossen worden. Jeder Wahlberechtigte darf maximal eine Stimmvertretung übernehmen, außerdem muss er seine eigene Stimme und die des von ihm Vertretenen demselben Kandidaten geben. Diese Bestimmung erweist sich hinsichtlich des Wahlgeheimnisses26 in der praktischen Durchführung als schwierig und unkontrollierbar. Ebenso vermisst man in art. 108 die im allgemeinen Recht vorgesehene Möglichkeit einer schriftlichen Stimmabgabe für einen Wahlberechtigten, der zwar im Haus anwesend ist, aber wegen seines Gesundheitszustandes nicht zur Wahl erscheinen kann.27 Art. 109 übergibt die Leitung der Wahl dem Abtpräses bzw. einem von ihm Bevollmächtigten. Im Kloster des Abtpräses übernimmt dies der Erste Assistent der Kongregation. § 2 regelt die Vorsitzführung der Wahl in der Situation einer drohenden Gefahr. Diese kann das Konventkapitel mit absoluter Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen feststellen. In diesem Fall kann ein anderer Abt des Ordens, ein Abt eines anderen Ordens oder sogar jeder kirchliche Amtsträger die Leitung der Wahl vornehmen. Aus den Erfahrungen der wechselhaften Geschichte so mancher Klöster und Stifte der Kongregation, hat man diesen Passus in den Konstitutionen belassen. Art. 110 beschreibt die Voraussetzungen für das passive Wahlrecht. Jenes erlangen Mitbrüder, die das 30. Lebensjahr vollendet haben, seit mindestens 5 Jahren dem Kloster durch ihre feierliche Profess angehören und die Priesterweihe empfangen haben. In den Konstitutionen von 1971 war man noch von einem Zeitraum von 10 Jahren Klosterzugehörigkeit ausgegangen, allerdings berechnet vom Zeitpunkt der feierlichen Profess.28 Der CIC spricht von einer angemessenen Zeit.29 Postuliert werden kann bei fehlendem Alter bzw. bei der ungenügend langen Zugehörigkeit zum Kloster. Laut den Konstitutionen von 1971 konnte auch bei fehlender Priesterweihe postuliert werden!30 Art. 111 behandelt den eigentlichen Wahlvorgang. Demnach ist gültig zum Abt gewählt, wer im ersten Wahlgang zwei Drittel der gültig abgegebenen Stimmen erhält, im zweiten, dritten, vierten und fünften Wahlgang ist die absolute Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen erforderlich. Wird auch im fünften Wahlgang keine absolute Mehrheit erreicht, wählt das Kapitel einen

26

Vgl. c. 172 § 1 n 2 CIC.

27

Vgl. c. 167 § 2 CIC.

28

Vgl. Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation, Heiligenkreuz bei Wien, 1971, art. 94. 29 30

Vgl. c. 623 CIC.

Vgl. Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation, Heiligenkreuz bei Wien, 1971, art. 94.

Die Abtwahl in den Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienser

755

Administrator auf ein Jahr. Diese Wahl wird als Stichwahl zwischen jenen beiden Kandidaten durchgeführt, welche beim fünften Wahlgang die relativ meisten Stimmen hatten. Diese beiden verlieren bei diesem Wahlgang ihr aktives Wahlrecht. Im Falle einer Stimmenparität im fünften Wahlgang oder bei der Stichwahl entscheidet der Ablegungstermin der feierlichen Profess, sollte dieser gleich sein, das physische Alter. Art. 111 versucht also möglichst rasch und unter allen Umständen die Leitungsfrage im Kloster zu klären. Während im allgemeinen Recht nur drei Wahlgänge vorgesehen sind, geben die Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation hier mehr Zeit und Raum für eine Meinungsbildung innerhalb des Wahlkörpers.31 Interessant scheint dabei, dass der Passus mit der Stimmengleichheit sich in den Konstitutionen von 1971 noch nicht findet.32 Hier dürften wohl die Erfahrungen aus der Praxis eine Klarstellung erfordert haben. Art. 112 bestimmt, dass die Postulation33 eines Mitbruders aus dem eigenen Klosters nur mit der Vereinigung von zwei Drittel der abgegeben gültigen Stimmen möglich ist, wobei fünf Wahlgänge möglich sind. Nach Bekanntgabe der erfolgten Wahl und der Zustimmung des Kandidaten, richtet der Abtpräses innerhalb von drei Tagen die Bitte um Zulassung der Postulation an die Religiosenkongregation. § 2 regelt die Postulation eines gewählten Kandidaten aus einem anderen Kloster. In diesem Fall gilt dasselbe Procedere, jedoch muss vor Eingabe an die Religiosenkongregation der Abtpräses beim Abt des betroffenen Klosters zuerst die Zustimmung seines Konventkapitels einholen. Stimmt jenes Konventkapitel aber nicht zu, kann das postulierende Kapitel an das Kongregationspräsidium rekurrieren. Die Einbeziehung der Möglichkeit der Postulation in das Wahlrecht der Konstitutionen war wohl eine besonders gelungene Einführung, eröffnet sie doch besonders kleineren Konventen die Möglichkeit, einen geeigneten Oberen zu finden. Andererseits lässt sie dem betroffenen Konvent, der einen Mitbruder für das Leitungsamt in ein anderes Kloster entlassen muss, kaum eine realistische Möglichkeit, dagegen Einspruch zu erheben. Art. 113 spricht dem Wahlvorsitzenden das Recht zu, in besonders gelagerten Fällen vor Beginn der Wahl dem Konventkapitel die Frage zur Abstimmung vorzulegen, ob zunächst ein Administrator auf höchstens drei Jahre gewählt werden soll. Stimmt das Konventkapitel mit der absoluten Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen zu, wird mit der absoluten Mehrheit ein Administra-

31

Vgl. c. 119 CIC.

32

Vgl. Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation, Heiligenkreuz bei Wien, 1971, art. 95. 33

Vgl. Primetshofer, Ordensrecht, (Anm. 23), S. 149 ff.

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tor gewählt. Wird diese Mehrheit im ersten und zweiten Wahlgang nicht erreicht, findet eine Stichwahl zwischen jenen beiden Kandidaten statt, die im zweiten Wahlgang die relativ meisten Stimmen erhalten hatten. Sollte wiederum Stimmengleichheit herrschen, ist das gleiche Procedere wie in art. 11 § 2 vorgesehen. Dies eröffnet dem Wahlleiter die Möglichkeit, in einer schwierigen Lage eines Konventes, bei der die Wahl eines Abtes dem Wohl der Gemeinschaft eher schaden zufügen würde, eine Übergangslösung zu finden und dem betroffenen Konvent mehr Zeit zur Reifung einer einhelligeren Mehrheitsfindung zu geben. Art. 114 widmet sich dem Procedere nach der erfolgten Wahl. Sollte der Gewählte anwesend sein, muss er innerhalb von vierundzwanzig Stunden bekannt geben, ob er die Wahl annimmt. Tut er dies, kann der Abtpräses seine Wahl bestätigen, wenn er den Gewählten laut c. 149 § 1 CIC für geeignet hält. Die Bestätigung muss schriftlich erfolgen. Sodann legt der Gewählte die pofessio fidei nach der vom Heiligen Stuhl approbierten Formel ab. Wird die Wahl vom Gewählten nicht angenommen, verliert er jedes Recht, welches er durch die Wahl erworben hat. Sollte der Gewählte nicht anwesend sein – so § 2 –, muss er nach Benachrichtigung durch den Abtpräses innerhalb von drei Tagen bekannt geben, ob er die Wahl annimmt. Sollte, so regelt § 3, ein vom Abtpräses Beauftragter die Wahl geleitet haben, so verkündet er das Wahlergebnis, enthält sich aber der übrigen Akte und übergibt dem Abtpräses die Wahlakten, damit dieser die Wahl bestätigen kann. § 4 verlangt sodann die Meldung der Bestätigung der Wahl an den Generalabt und den höheren Oberen der Kongregation. Bezüglich der Bestätigung der Wahl ist festzuhalten, dass diese in den Ordenskonstitutionen von 1902 allein dem Generalabt zukam, nach den Ordenskonstitutionen von 1926 bestätigt der Generalabt nur mehr die Wahl der Oberen der Kongregationen, die Wahl der Äbte der jeweilige Abtpräses.34 Art. 115 weist darauf hin, dass jemand, der gewählt ist, jedoch noch nicht bestätigt ist, keine Leitungsgewalt besitzt und daher unfähig ist, Jurisdiktionsakte zu setzen. Nach Bestätigung der Wahl soll er jedoch möglichst rasch vom Abtpräses installiert werden. Art. 116 verlangt die Abtbenediktion innerhalb dreier Monate nach der Bestätigung der Wahl.

34

Nimmervoll, Konstitutionen (Anm. 12), S. 95.

Die Abtwahl in den Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienser

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b) Die Dauer des Abtamtes Folgende ausgewählte Artikel aus dem Abschnitt C der Konstitutionen betreffen zwar nicht die Wahl des Abtes im engeren Sinn. Dennoch empfiehlt sich eine Betrachtung einiger Artikel, da sie im engen Zusammenhang mit der eigentlichen Abtwahl stehen. Art. 117 besagt, dass der Abt auf unbestimmte Zeit gewählt wird und präzisiert: solange er der Kommunität dienen kann. Art. 118 jedoch räumt ein, dass vor jeder Abtwahl das Konventkapitel mit absoluter Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen entscheiden muss, ob sich der Gewählte, präziser der zu Wählende, im vom Konventkapitel festzusetzenden periodischen Zeitabständen einer Abstimmung über die Weiterführung des Abtamtes stellen muss. Eine solche Regelung findet sich erstmals in den Konstitutionen von 1971.35 Insofern stellt diese Abstimmung vor der Abtwahl einen Teil dieser da. III. Anmerkungen 1. Schwierigkeiten Das Regelwerk für die Wahl des Abtes in den Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation hat in seiner konkreten Ausführung so manchen Mangel aufzuweisen. Sollen die Konstitutionen doch nicht ein Regelwerk für Juristen, sondern für jeden einzelnen einfach anzuwenden sein. So wäre es im geschilderten Zusammenhang vielleicht wünschenswert, eine neue, übersichtlichere Strukturierung anzudenken. Die derzeitige fußt immer noch auf den Konstitutionen von 1971, welche einfach adaptiert und erweitert wurden. Einige Details bedürften einer Erwähnung bzw. einer Klärung, so beispielsweise, ob und bei welchem Präsenzquorum eine gültige Wahl zustande kommt. Wäre es nicht sinnvoll, eine Briefwahl bei einer Abtwahl für im Haus Anwesende festzuschreiben, ohne diese unter Nichterwähnung und Hinweis auf das allgemeine Recht für den Einzelnen offen zu lassen. Ein weiterer Mangel besteht in der fehlenden Regelung für den genauen Ablauf der Abtwahl. Zwar werden in der Praxis nach dem gültigen Kirchenrecht Protokollführer und Scrutatoren benannt, jedoch wäre es wünschenswert und 35

Vgl. Konstitutionen der Österreichischen Zisterzienserkongregation, Heiligenkreuz bei Wien, 1971, art. 102 und 103.

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für jeden leichter nachvollziehbar, wäre dies auch in den Konstitutionen festgelegt. Auch der Modus der Stimmabgabe bleibt völlig offen und wird in der Praxis ganz verschieden durchgeführt. Auch hier würde eine klare Festlegung mehr Sicherheit bringen. Auch die in der Praxis geübte, rechtlich nicht vorgesehene und daher auch nicht bindende, informelle Vorwahl am Vorabend einer Abtwahl sollte in eine solche Überarbeitung Eingang finden. Ebenfalls überdacht gehörten im Zeitalter von Internet und Handy gewisse Fristen, welche heute nicht mehr unbedingt von Nöten zu sein scheinen. 2. Resümee Die Regelung der Abtwahl in den Konstitutionen des Zisterzienserordens kann im Gesamten gesehen dennoch als eine gelungene und gewachsene kanonische Regelung für das Recht im Zisterzienserorden betrachtet werden. Wenn man weiß, unter welchem Zeitdruck und unter der Mitarbeit nur einiger weniger Engagierter sie entstanden sind, kann man diese praktikable Handreichung nur würdigen. Zugleich muss man sich aber auch bewusst sein, dass Recht, welches praktiziert und angewandt wird, natürlich immer wieder vor neuen Herausforderungen und Änderung, Anpassung an neue Situationen steht. Bisher zählt zur Österreichischen Zisterzienserkongregation noch kein weibliches Zisterzienserkloster als Mitglied, nach den letzten Generalkapiteln des Ordens könnte dies in absehbarer Zukunft Realität werden. Zugleich werden dann auch diese Konstitutionen überarbeitet und adaptiert werden müssen. Es wäre wünschenswert, in diesem Zusammenhang so manche Rechtsunsicherheit zu beseitigen, so manchen Mangel auszuräumen, so manche Adaptierung vorzunehmen.

Die Lebensführung im Säkularinstitut gemäß c. 714 CIC Möglichkeiten und Entwicklungen Von Christoph Ohly I. Säkularinstitute: Weihe in Welt 1. Wesen und Ermöglichung einer spezifischen Berufung Die Säkularinstitute stehen im sechzigsten Jahr ihrer kirchenrechtlichen Anerkennung. Am 2. Februar 1947 ordnete Papst Pius XII. mit der Apostolischen Konstitution Provida Mater Ecclesia (ProvMatEccl) und einer darin enthaltenen Lex particularis die bis dahin gewachsenen Gemeinschaften in das Kanonische Recht der Kirche ein.1 Deren Mitglieder hatten insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert mit Hilfe verschiedener Vereinigungen Wege gesucht, sich (durch private Gelübde) Gott zu weihen und gleichzeitig in der Welt für den Aufbau des Reiches Gottes zu arbeiten.2 Die beiden im darauf folgenden Jahr promulgierten Dokumente, das MP Primo feliciter vom 12. März 19483 und die Instruktion Cum Sanctissimus (CumSanct) vom 19. März 19484, ergänzten die Konstitution durch

1 Pius XII., Ap. Konst. „Provida Mater Ecclesia“ v. 2. Februar 1947, in: AAS 39 (1947), S. 114 – 124; in dt. Übersetzung in: Joseph-Marie Perrin, Geist und Aufgabe der Säkularinstitute, Mainz 1960, S. 82 – 111. Rudolf Weigand, Die Säkularinstitute, in: HdbKathKR2, S. 633 – 642, bezeichnet die Konstitution als „Grundgesetz für die Säkularinstitute“ (S. 634). Kritisch hingegen: Friedrich Wulf, Die Säkularinstitute nach dem II. Vatikanischen Konzil, Freising 1968, S. 7 – 15. 2

Eine erste, wenn auch nicht weitreichende kirchenamtliche Anerkennung fanden diese in einem Dekret des Apostolischen Stuhls von 1889, das aber nur eine private Weihe ermöglichte. Vgl. S. C. Episcoporum et Regularium, Decretum „Ecclesia Catholica“ v. 11. August 1889, in: ASS 23 (1889), S. 634. 3 Pius XII., MP „Primo feliciter“ v. 12. März 1948, in: AAS 40 (1948), S. 282 – 286. Dt. Übersetzung in: Perrin, Säkularinstitute (Anm. 1), S. 112 – 121. 4

S. C. de Religiosis, Instructio „Cum Sanctissimus“ v. 19. März 1948, in : AAS 40 (1948), S. 293 – 297. Dt. Übersetzung in: Perrin, Säkularinstitute (Anm. 1), S. 122 – 135.

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lehrhafte Überlegungen zur Welthaftigkeit und durch die Zusammenfassung der geltenden Bestimmungen zur praktischen Handhabung seitens der Bischöfe. Das, was in diesen beiden Jahren kirchenrechtlich normiert wurde, eröffnete in der Folgezeit eine weit reichende Entwicklung der Säkularinstitute. Dies zeigt sich zum einen in ihrer Ausbreitung. Heute existieren etwa 200 kirchlich anerkannte Säkularinstitute, die über 40.000 Mitglieder umfassen.5 Zum anderen haben eine Vielzahl von rechtstheologischen Dokumenten zu einer inhaltlichen Vertiefung im Verständnis der oft als „Weltinstitute“ oder „Weltgemeinschaften“ bezeichneten Säkularinstitute geführt6. Dazu gehören grundlegend Art. 11 des Dekrets Perfectae caritatis des II. Vatikanischen Konzils, der die Wesenselemente der Säkularinstitute benennt7 und diese in Abgrenzung zu den Orden als ursprüngliche Berufung und Lebensform würdigt, sowie die Normen des Codex Iuris Canonici von 1983 zu den Instituta vitae consecratae (cc. 573 – 730 CIC, spezifisch: cc. 710 – 730 CIC), welche die Säkularinstitute zusammen mit den Ordensgemeinschaften als Institute gottgeweihten Lebens verstehen.8 Zur Fortführung dieses Prozesses haben in den vergangenen Jahrzehnten Zusammenkünfte und Dokumente beigetragen, unter denen die 9. ordentliche Vollversammlung der Bischofssynode vom Oktober 1994 mit dem nachsynodalen Apostolischen Schreiben Vita Consecrata von Papst Johannes Paul II. herausragt.9

5

Angaben nach: Christusnachfolge mitten in der Welt. Säkularinstitute in Deutschland: Selbstdarstellungen, mit einem Einleitungstext von Peter Wolf. Hrsg. v. Zentrum für Berufungspastoral, Freiburg 2004, hier S. 3. Vgl. Gertrud Pollak, Der Aufbruch der Säkularinstitute und ihr theologischer Ort, Vallendar-Schönstatt 1986. 6

Vgl. dazu ausführlich Juan Manuel Cabezas Cañavate, Los Institutos Seculares: ser y quehacer. Condición canónica y misión de los Institutos Seculares, Valencia 1999 (Lit. !). 7

Vgl. dazu Kongregation für die Institute des gottgeweihten Lebens und für die Gemeinschaften apostolischen Lebens, Die Säkularinstitute v. 24. März 1984, in: VApSt 73, hier I, 3 sowie Weigand, Säkularinstitute (Anm. 1), S. 635 – 638. 8

Die systematische Einordnung wird aufgrund größerer Ähnlichkeiten zwischen den Religioseninstituten und den Gesellschaften apostolischen Lebens durch ein geordnetes Gemeinschaftsleben in einem Kloster unterschiedlich bewertet. Negativ: Aymans – Mörsdorf KanR II, S. 540 – 547, hier S. 545 ff. Aymans legt in diesem Zusammenhang auch die Gründe für eine terminologische Korrektur von Instituta (Institut) zu Societas (Verband) dar und unterbreitet den Vorschlag, alle „Verbände“ unter den Oberbegriff „Kanonische Lebensverbände“ zusammenzuführen (S. 541). – Positiv: Hubert Müller, Grundfragen der Lebensgemeinschaften der evangelischen Räte, in: HdbKathKR1, S. 476 – 486, bes. S. 477 (Anm. 5) und Gerhard Fahrnberger, Die Säkularinstitute im neuen Kirchenrecht, in: ÖAKR 38 (1988/89), S. 85 – 105, hier bes. S. 87 f. und 96. 9 Johannes Paul II., Nachsynodales Schreiben „Vita Consecrata“ v. 25. März 1994, in: AAS 88 (1996), S. 377 – 486; in dt. Übersetzung in: VApSt 125. Hinzu kommen

Die Lebensführung im Säkularinstitut gemäß c. 714 CIC

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In Übereinstimmung mit Art. 11 VatII PC (auch Art. 35.2 VatII LG) definiert sich ein Säkularinstitut als societas des geweihten Lebens von Männern oder von Frauen, in welcher „in der Welt lebende Gläubige nach Vollkommenheit der Liebe streben und sich bemühen, zur Heiligung der Welt, vor allem von innen her, beizutragen“ (c. 710 CIC; c. 563 § 1 CCEO). Die Welt umfasst hierbei all jene Bereiche, in denen der Mensch lebt und wirkt. In sie dringt das Mitglied des Säkularinstituts durch das private, berufliche und kirchliche Leben ein, „um auf diese Weise innerhalb des kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Lebens Sauerteig der Weisheit und Zeugen der Gnade zu sein“10. Ziel ist es dabei zugleich, „der Kirche je nach der spezifischen Gabe eines jeden Instituts eine ausgeprägte Präsenz in der Gesellschaft zu gewährleisten“11. In der Zusammenführung der benannten Quellentexte lassen sich zwei Wesenselemente des Säkularinstituts ausmachen, die durch zwei grundlegende Dimensionen erweitert werden. Wesenhaft ist für das Mitglied einerseits die Weihe (consecratio) als wahre und vollkommene Verpflichtung auf die evangelischen Räte. Die Art und Weise der Übernahme wird gemäß c. 712 CIC (c. 563 § 1 n. 1 CCEO) unter Wahrung des Weltcharakters durch die jeweiligen Konstitutionen festgelegt. Zur Weihe kommt die Welthaftigkeit (saecularitas) hinzu, die als spezifische Eigenschaft der Säkularinstitute zu sehen ist. Die Mitglieder leben in der Welt und bemühen sich, diese auch mit den Mitteln der Welt zu heiligen.12 Das bedeutet, dass die Weihe sie nicht aus dem Leben von Kirche und Welt herausnimmt und ihnen einen spezifischen, zumeist abgesonderten Ort der Heiligung zuordnet, wie dies vor allem in den kontemplativ ausgerichteten Ordensgemeinschaften der Fall ist. Im Gegenteil: die Weihe bindet die Mitglieder der Säkularinstitute noch stärker in Kirche und Welt hin-

Vollversammlungen der zuständigen Kongregation, Internationale Kongresse der Säkularinstitute seit 1970 (in vierjährigem Abstand) sowie die Bildung der Weltkonferenz der Säkularinstitute (1974) und nationaler Zusammenschlüsse. Vgl. dazu Weigand, Säkularinstitute (Anm. 1), S. 634 f. – Ebenso wurden die Säkularinstitute durch namhafte Kanonisten wissenschaftlich begleitet, u. a. durch Jean Beyer, Berufung – Apostolat – Weihe. Welthaftigkeit und Weihe des Lebens in den Säkular-Instituten, Freising 1970 sowie Hubert Müller, Liebend in der Welt. Erwägungen über die apostolische Welthaftigkeit der Säkularinstitute, Leutesdorf a. Rh. 1968. Siehe auch: Feliciano Rodríguez, Levadura Nueva, La espiritualidad de los Institutos seculares, Madrid 1995. 10

Johannes Paul II., „Vita Consecrata“ (Anm. 9), Nr. 10.

11

Johannes Paul II., „Vita Consecrata“ (Anm. 9), Nr. 10.

12

Vgl. Pius XII., „Primo feliciter“ (Anm. 3), Nr. 2: „Aber die Vollkommenheit ist in der Welt zu üben und zu bekennen und muß infolgedessen an das Leben in der Welt mit allem, was erlaubt und mit den Verpflichtungen und Übungen dieser Vollkommenheit vereinbar ist, angepaßt werden“.

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ein. Sie umfängt und bestärkt die allgemeine Verantwortung jedes Getauften für die Anliegen der Kirche und der Welt mit dem Siegel der geweihten Inanspruchnahme. Beide wesenhaften Grundkonstanten werden ergänzt durch die Dimension des Apostolates. Die Weihe sucht ihre Verwirklichung in der Mitarbeit am Aufbau des Reiches Gottes, die zumeist in einem weltlichen Beruf vollzogen wird. Das Apostolat ist bestrebt, „wie ein Sauerteig alles mit dem Geist des Evangeliums zu durchdringen zur Stärkung und zum Wachstum des Leibes Christi“ (c. 713 § 1 CIC; c. 563 § 1 n. 2 CCEO). Die Bindung an die Gemeinschaft des Instituts regelt schließlich die Konkretisierung von Welthaftigkeit und Apostolat. Eine enge Bindung kann sich auf die Festlegung des Arbeitsplatzes, Arbeitsumfang und anderes auswirken. Eine weniger enge Bindung eröffnet hingegen eine größere Autonomie in den Fragen der weltlichen Realisierung der Berufung und betrifft zumeist nur den religiösen und geistlichen Bereich. 2. Frage der Lebensführung Mit den benannten Kriterien ist die Frage verbunden, in welcher konkreten Lebensform das geweihte Leben und damit die beständige, wechselseitige und vollständige Bindung an das Institut geführt wird.13 Das kirchliche Gesetzbuch eröffnet dazu in c. 714 CIC drei voneinander verschiedene Möglichkeiten, die dem Charakter des Säkularinstituts gerecht werden wollen. Danach haben die Mitglieder ein Leben unter den gewöhnlichen Bedingungen der Welt zu führen, das als solches gemäß den Konstitutionen allein, in der Familie oder in einer Wohngemeinschaft mit anderen Mitgliedern verrichtet wird.14 Jeder von ihnen ist verpflichtet, „gemäß dem Eigenrecht am Leben des Instituts tätigen Anteil [zu] nehmen“ (c. 716 § 1 CIC) sowie die Gemeinschaft untereinander zu wahren, „indem sie eifrig die Einheit des Geistes und echte Brüderlichkeit pflegen“ (c. 716 § 2 CIC). Die Aufzählung vollzieht sich ohne vernehmbare Qualifizierung. Die Möglichkeiten erscheinen gleichberechtigt nebeneinander und eröffnen unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips einen großen Spielraum für das jeweilige Eigen-

13 14

Vgl. Pius XII., „Provida Mater Ecclesia“ (Anm. 1), Art. III, § 3.

C. 714 CIC: „Sodales vitam in ordinariis mundi condicionibus vel soli, vel in sua quisque familia, vel in vitae fraternae coetu, ad normam constitutionum ducant“. Die Parallelnorm des Gesetzbuches der katholischen Ostkirchen formuliert diesen Sachverhalt allgemeiner: „Ein Säkularinstitut ist eine Gesellschaft, in der die Mitglieder … die Art des Lebens der Ordensleute nicht nachahmen, aber das Leben der Gemeinschaft untereinander gemäß den eigenen Statuten führen“ (c. 563 § 1 n. 2 CCEO).

Die Lebensführung im Säkularinstitut gemäß c. 714 CIC

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recht. Die geschichtliche Entwicklung der Säkularinstitute offenbart jedoch gerade in ihren Anfängen einen deutlichen Schwerpunkt auf dem Einzelleben mit der Verpflichtung zu regelmäßigen Gemeinschaftstreffen. Vereinzelt findet sich dabei das geweihte Leben auch in einer Familie, die Wohngemeinschaft bildet offensichtlich die Ausnahme. Spätestens mit dem Inkrafttreten des Codex sind mitunter jedoch Entwicklungen zu beobachten, die aus unterschiedlichen Gründen eine Akzentverschiebung innerhalb dieses kodikarischen Spektrums andeuten. Ihnen soll im Folgenden unter Würdigung der kodikarischen Norm nachgegangen und ihre Auswirkung auf eine mögliche Veränderung im Selbstverständnis der Säkularinstitute bedacht werden. II. Genese und Zielrichtung des c. 714 CIC Die Norm des c. 714 CIC geht hinsichtlich ihrer Zielrichtung auf die Instruktion Cum Sanctissimus aus dem Jahre 1948 zurück. Diese hatte in Übereinstimmung mit Art. 2 § 1 ProvMatEccl als Kriterium für eine rechtliche Anerkennung als „weltliches Institut“ die Vermeidung aller mit der Natur und dem Ziel der Weltlichen Institute nicht zu vereinbarenden Charakteristika gefordert. Dazu zähle – so die Instruktion – neben der Ordenstracht15 insbesondere „ein äußerlich organisiertes Gemeinschaftsleben ... nach dem Vorbild des Gemeinschaftslebens der Orden oder etwas dem Entsprechendes“16. Vorbehaltlich der vorgeschriebenen gemeinsamen Niederlassungen und ihrer besonderen Funktionen17 kam damit eine strikte Ablehnung kommunitärer Lebensstrukturen für die Institute zum Tragen. Das gottgeweihte Leben des Mitgliedes eines Säku-

15

Dieser Gedanke hält sich – wenn auch nicht kodikarisch – stringent durch, obgleich Ausnahmen, wie die Schönstätter Marienschwestern, bekannt sind. Rudolf Henseler, c. 714, Rdnr. 2, in: MK CIC (Stand: Mai 1986), sieht in den Ausnahmen eine „Inkonsequenz“ gegenüber dem Wesenselement der „Welthaftigkeit“. Vgl. dazu Kongregation für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens, Schreiben „Neubeginn in Christus. Ein neuer Aufbruch des geweihten Lebens im Dritten Jahrtausend“ v. 19. Mai 2002 (= VApSt 155), Nr. 45: „Gerade kraft ihrer Weihe, die sie ohne äußere Kennzeichen als Laien unter Laien leben, können sie Salz und Licht auch in solchen Situationen sein, in denen eine Erkennbarkeit ihrer Weihe ein Hindernis oder gar eine Ablehnung bewirken würde“. 16 17

S. C. de Religiosis, „Cum Sanctissimus“ (Anm. 4), Nr. 7 d.

Vgl. Pius XII., „Provida Mater Ecclesia“ (Anm. 1), Art. III, § 4. Rudolf Henseler, c. 714, Rdnr 2, in: MK CIC (Stand: Mai 1986), führt in diesem Zusammenhang an: Leitung, Ausbildung, Krankheitsfälle, andere Umstände.

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larinstituts sollte sich im Lebensalltag des allein Lebenden oder innerhalb der eigenen Familie verwirklichen. Dieses rechtlich fixierte Wesensmerkmal ging zunächst auch in den Normvorschlag der zuständigen Arbeitsgruppe der Codexreform ein, der keine Ausnahme davon zuließ.18 In der Diskussion der Vorlage wurde jedoch die Strenge der Formel von mehreren Mitgliedern hinterfragt. Dabei wurde die Möglichkeit einer Art vita communis in Betracht gezogen, gleichzeitig aber auf die einschlägige Regelungskompetenz des jeweiligen Eigenrechts verwiesen.19 Aus diesen Überlegungen ging schließlich c. 124 des Schema canonum de institutis vitae consecratae per professionem consiliorum evangelicorum (1977) hervor, der die Formel „vitae temporalis rationem christifidelibus communem servant“ aus der vorausgehenden Norm aufnahm: „Diese Institute sind nicht an ein gemeinschaftliches Leben gebunden und die Mitglieder, die in den zeitlichen Dingen des Lebens die den Christgläubigen angemessene Ausrichtung gemäß ihrer eigenen Stellung wahren, werden nicht verpflichtet, irgendein (äußeres) Zeichen der Weihe zu tragen“20. Auf der Grundlage der aus dem Konsultationsprozess hervorgegangenen Stellungnahmen erstellte schließlich eine kleine Studiengruppe21 in der Zeit vom 21. bis 26. April 1980 die überarbeiteten Canones für den Normbereich der Säkularinstitute, die daran anschließend in der gesamten Arbeitsgruppe zur Diskussion gestellt wurden. Der für die Lebensführung einschlägige c. 6 erfuhr

18 Coetus studii De Institutis Perfectionis, Sessio XVI (dd. 6 – 9 maii 1974 habita), in: Comm 28 (1996), S. 71 – 85 und S. 97 – 98 – C. 2 § 1: „Haec Instituta lege vitae communis non tenentur nec signa externa consecrationis habent sodales“ (76). Zu dieser Gruppe gehörten: Kardinal Pericle Felici (Präsident) sowie acht Bischöfe, neun Priester und ein Konsultor sowie P. Maro Said OP als Relator (Comm 28 [1996], S. 71). 19

Vgl. Comm 28 (1996), S. 76.

20

Pontificia Commissio Codici Iuris Canonici Recognoscendo, Schema canonum de institutis vitae consecratae per professionem consiliorum evangelicorum. Reservatum, Typis Polyglottis Vaticanis 1977 – can. 124 SchemaInstVitCons: „Haec Instituta lege vitae communis non tenentur neque ullum consecrationis signum deferre obstringuntur sodales, qui in temporalibus vitae rationem christifidelibus congruentem iuxta propriam cuiusque conditionem servant“. Das Schema wurde am 2. Februar 1977 zusammen mit den Praenotanda an alle Konsultationsorgane versendet (Comm 9 [1977], S. 53 – 61). 21 Dazu gehörten Rosalius I. Castillo Lara (Sekretär), P. Maro Said OP (Relator), Julian Herranz (Aktuar) sowie vier weitere Mitglieder (Elio Gambari als Subsekretär der Religiosenkongregation, P. Jean B. Beyer SJ von der Päpstlichen Universität Gregoriana, Cecil L. Parres CM und Agnes Sauvage von den Töchtern der Liebe (Comm 13 [1981], S. 366).

Die Lebensführung im Säkularinstitut gemäß c. 714 CIC

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dabei eine formale und inhaltliche Veränderung.22 In zwei Paragraphen unterteilt normierte § 1 die drei Möglichkeiten der Lebensführung in der Fassung des geltenden c. 714 CIC23, während § 2 den Verzicht auf ein äußeres Zeichen der Weihe beispielsweise in Form einer Tracht bestätigte.24 Mit Zustimmung der Arbeitsgruppe ging dieser Normvorschlag unverändert als c. 640 in das SchemaCIC/1980 ein.25 In der Relatio vom 16. Juli 1981 wurde der Konsultationsvorschlag zur Streichung von § 2 negativ beantwortet, da das Tragen eines äußeren, allgemeinen Zeichen der Weihe „contra naturam saecularem Instituti“ sei; dies hindere jedoch kein Mitglied, persönlich irgendein Zeichen der Weihe zu tragen26. Ohne erkennbaren Grund wurde § 2 dennoch in SchemaCIC/1982 gestrichen und als c. 714 in den schließlich promulgierten Codex überführt.27 Die Genese des Canons macht deutlich: Die Grundregel, dass das kommunitäre Leben kein Wesensmerkmal des Säkularinstituts darstellt, in ihm vielmehr prinzipiell das gegenüber dem Religioseninstitut und der Gesellschaft apostolischen Lebens Unterscheidende gesehen werden kann, ist insofern übernommen

22 Coetus studiorum de Institutis vitae consecratae per professionem consiliorum Evangelicorum, (28.04. – 03.05.1980), in: Comm 13 (1981), S. 366 – 376, hier S. 368. 23

C. 5 § 1: „Sodales vitam in ordinariis mundi condicionibus vel soli, vel in sua quisque familia, vel in vitae fraternae coetu, ad normam Constitutionum, ducant“. 24

C. 5 § 2: „Nullum externum, quo distinguantur, consecrationis suae signum defe-

rant“. 25

Pontificia Commissio Codici Iuris Canonici Recognoscendo, Schema Codicis Iuris Canonici iuxta animadversiones S. R. E. Cardinalium, Episcoporum Conferentiarum, Dicasteriorum Curiae Romanae, Universitatum Facultatumque ecclesiasticarum necnon Superiorum Institutorum vitae consecratae recognitum. Patribus Commissionis reservatum, Libreria Editrice Vaticana 1980 (SchemaCIC/1980). 26

Pontificia Commissio Codici Iuris Canonici Recognoscendo, Relatio complectens synthesim animadversionum ab Em.mis atque Exc.mis Patribus Commissionis ad novissimum schema Codicis Iuris Canonici exhibitarum, cum responsionibus a Secretaria et Consultoribus datis v. 16. Juli 1981, Typis polyglottis Vaticanis 1981, hier auch: Comm 15 (1983), S. 80. 27

Pontificia Commissio Codici Iuris Canonici Recognoscendo, Codex Iuris Canonici. Schema novissimum post consultationem S. R. E. Cardinalium, Episcoporum Conferentiarum Dicasteriorum Curiae Romanae, Universitatum Facultatumque ecclesiasticarum necnon Superiorum Institutorum vitae consecratae recognitum, iuxta placita Patrum Commissionis deinde emendatum atque Summo Pontifici praesentatum, E Civitate Vaticana, 25 Martii 1982 – can. 714 SchemaCIC/1982: „Sodales vitam in ordinariis mundi condicionibus vel soli, vel in sua quisque familia, vel in vitae fraternae coetu, ad normam constitutionum ducant“.

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worden, als die benannten Formen der Lebensführung jeweils die vollständige Gegenwart in der Welt sicherstellen sollen. Das Wesen des gottgeweihten Lebens im Säkularinstitut besteht nicht in einer klösterlichen Absonderung von der Welt, sondern seines Tätigwerdens in der Welt und in deren diversen Lebensbereichen. Andererseits wird eine gemeinschaftliche Lebensform nicht mehr vollständig abgelehnt, sondern kirchenrechtlich ermöglicht, ohne damit in die Verantwortung des jeweiligen Instituts einzugreifen. Folgerichtig hat die kodikarische Norm auch die aus Provida Mater Ecclesiae stammende universalkirchliche Verpflichtung zur Führung von gemeinschaftlichen Niederlassungen oder Häusern fallengelassen und sie in die Entscheidungskompetenz des jeweiligen Instituts zurückverwiesen.28 III. Formen der Lebensführung Die Verwirklichung der kodikarischen Norm zur Lebensführung soll im Folgenden anhand kirchenrechtlich anerkannter Säkularinstitute päpstlichen und bischöflichen Rechts untersucht werden. In Deutschland sind derzeit ca. 35 Säkularinstitute vertreten, die in den Formen ihrer Lebensführung nicht grundverschiedene, wohl aber zu differenzierende Wege gehen.29 Für die Untersuchung werden aus ihnen diejenigen ausgewählt, die eine Niederlassung in der

28 29

Vgl. Anm. 16.

Vgl. dazu als Überblick: Säkularinstitute in Deutschland (Anm. 5). Neben den ausführlicher behandelten Säkularinstituten gibt es Säkularinstitute, in denen sowohl die einzelne als auch gemeinschaftliche Lebensführung möglich sind: Ancellen der Göttlichen Barmherzigkeit (S. 5), Gemeinschaft der Augustinusschwestern e.V. (S. 7), Benignitas-Gemeinschaft (S. 8), Frauenkommende (S. 13), Gesellschaft der hl. Ursula (S. 17), Institut Notre-Dame de Vie (S. 18), Missionsbenediktinisches Säkularinstitut St. Bonifatius (S. 19), Missionsoblatinnen Mariens (S. 20), Säkularinstitut der Frauen im Opus Spiritus Sancti (S. 25), Säkularinstitut der Immaculata Mutter der Kirche (S. 27), Schönstatt-Institut Marienbrüder (S. 32), Servitium Christi (S. 35) – Daneben gibt es Säkularinstitute, die allein die Lebensführung als Einzelperson kennen: Caritas Christi (S. 9), Franziskanisches Säkularinstitut der Missionarinnen des Königtums Christi (S. 11), Gemeinschaft der Kamillianischen Schwestern · Freunde der Kranken und Leidenden – St. Kamillus (S. 14), Gemeinschaft U. L. Fr. vom Wege (S. 16), Säkularinstitute für Diözesanpriester im Opus Spiritus Sancti (S. 23), Säkularinstitut des hl. Franz von Sales (S. 24), Säkularinstitut der Frauen von Schönstatt (S. 26), Säkularinstitut der Priester vom Königtum Christi (S. 28), Schönstatt-Institut Diözesanpriester (S. 31), Servitianisches Säkularinstitut (S. 34), Volontarie Don Boscos (S. 36) – Säkularinstitute, die sich durch gemeinschaftliches Leben auszeichnen: Gemeinschaft der Missionshelferinnen (S. 15), Säkularinstitut der Scalabrini Missionarinnen (S. 29).

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Erzdiözese München und Freising besitzen.30 Mit Hilfe dieses Auswahlkriteriums soll ein annähernd repräsentatives Ergebnis erzielt werden, um eine wachsende Bedeutung des kommunitären Aspektes für das Leben im Säkularinstitut zu verdeutlichen.31 1. Säkularinstitute päpstlichen Rechts a) Säkularinstitut „Ancillae Sanctae Ecclesiae“32 aa) Entstehung Das Säkularinstitut „Ancillae Sanctae Ecclesiae“ unterscheidet in seiner Geschichte drei größere Perioden.33 Die Periode der Gründungsidee ist verbunden mit Ellen Ammann geb. Sundström (1870 – 1932), die als Ehefrau und Mutter im Jahre 1911 dafür eintrat, neben der Berufung als Ehefrau und als Ordensschwester einen dritten Weg zu ermöglichen, durch den gottgeweihte Frauen in einer weltlichen Lebensform der Kirche und den Menschen dienen könnten. Zusammen mit dem Kapuzinerpater Cölestin Schwaighofer (1863 – 1934) sammelte sie Frauen, die sich für diesen Berufungsweg begeisterten. Die zweite Phase ist durch die kirchliche Anerkennung geprägt, die durch den Erzbischof von München und Freising, Michael Kardinal Faulhaber, am 10. Oktober 1919 erfolgte – zunächst als „Vereinigung katholischer Diakoninnen“, zwei Jahre später in der Rechtsform einer Pia Unio.34 Mit dem Anwachsen der Vereinigung erfolgte in der dritten Periode der Institutsgeschichte schließlich die Erhebung zum Säkularinstitut. Am 20. August 1952 erteilte die Religiosenkongregation das Nihil obstat zur Errichtung der Gemeinschaft als Säkularinstitut unter dem erneuerten Namen „Ancillae Sanctae Ecclesiae“. Kardinal Faulhaber errichtete mit Dekret vom 11. August 1953 die „Dienerinnen der Heiligen Kirche“ als Säkularinstitut bischöflichen Rechts und approbierte die Satzungen. 30

Die Aufführung und Unterscheidung in Säkularinstitute päpstlichen und bischöflichen Rechts erfolgt gemäß Schematismus 2005/2006. Erzdiözese München und Freising, 152. Ausgabe. Hrsg. v. Erzbischöflichen Ordinariat München, München 2005, S. 647 und 666 f. 31

An dieser Stelle dankt der Verfasser für die zumeist unkomplizierte Bereitstellung der Satzungen bzw. Konstitutionen durch die Verantwortlichen der Säkularinstitute. 32

Eine Homepage im Internet ist leider noch nicht verfügbar.

33

Vgl. Satzungen des Säkularinstitutes „Dienerinnen der Heiligen Kirche“ (Ancillae Sanctae Ecclesiae) v. 25. März 1981 mit beigefügtem Zusatzrecht, St. Ottilien 1988 [Satzungen/1988]. 34

Vgl. Ancillae Sanctae Ecclesiae, Satzungen/1988 (Anm. 33), Präambel (S. 5).

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Nach Überarbeitungen, die durch das II. Vatikanische Konzil notwendig geworden waren, wurde den Anträgen der Institutsleitung vom 30. August 1980 und des Erzbischofs von München und Freising, Kardinal Joseph Ratzinger, vom 1. September 1980 durch die Kongregation für die Orden und die Säkularinstitute stattgegeben. Mit Dekret vom 25. März 1981 wurde das Institut als Säkularinstitut päpstlichen Rechts anerkannt und die revidierten Satzungen approbiert.35 bb) Lebensführung Der Gemeinschaft des Säkularinstituts können neben unverheirateten auch verheiratete Frauen angehören. Letztere sind gemäß Statut Mitglieder im weiten Sinne und durch den Willen geprägt, in der Kraft der Weihe eine christliche Ehe zu führen und in der Familie die Kirche darzustellen.36 Grundsätzlich lebt das Mitglied für sich in der jeweiligen Lebensform, sei es unverheiratet, sei es verheiratet (Nr. 57) und wirkt je nach Berufung in Familie, Beruf oder in den Bereichen von Kirche, Gesellschaft und Kultur. Die „Dienerinnen der Heiligen Kirche“ schließen sich nach Wohnsitz oder Region zu Gruppen aus wenigstens fünf bis sieben, höchstens jedoch 20 Mitgliedern zusammen37, deren Bildung von der Institutsleiterin genehmigt werden muss (Nr. 56). In den Gruppen kommen sie regelmäßig zu Gebet, geistlicher Weiterbildung und Gedankenaustausch zusammen (Nr. 58) und nehmen an den jährlich vom Institut veranstalteten Exerzitien und Einkehrtagen teil (Nr. 28). Hauptsächlicher Lebensort für das Mitglied im engen Sinn ist demnach die Berufswelt, für das Mitglied im weiten Sinn Ehe und Familie. Neben den gemeinschaftlichen Veranstaltungen sehen die Satzungen ein dauerhaft kommunitäres Leben nicht vor. Allerdings ist in neuerer Zeit insbesondere aufgrund des Nachwuchsmangels und einer Überalterung der Mitglieder eine stärkere Betonung des „Familienlebens“ zu beobachten, das sich in Zukunft möglicherweise auch stärker in kommunitären Lebensformen ausdrücken kann. Dies geschieht nicht zuletzt aus der Erkenntnis heraus, dass die Zusammengehörigkeit im Säkularinstitut wesentliche Grundlage seiner Existenz ist.38 Sie muss beständig

35

Vgl. Ancillae Sanctae Ecclesiae, Satzungen/1988 (Anm. 33), Dekret (S. 11 – 13).

36

Ancillae Sanctae Ecclesiae, Satzungen/1988 (Anm. 33), A, I, Nr. 5 und 34. Die Unterscheidung von Mitgliedern im engen und weiten Sinn geht zurück auf Art. 3 § 2 ProvMatEccl sowie Nr. 7a CumSanct. 37

Ancillae Sanctae Ecclesiae, Satzungen/1988 (Anm. 33), Zusatzrecht (III, 1).

38

Gemäß telefonischer Auskunft der Institutsleiterin Jutta Schößler vom 16. Januar

2006.

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den Bedürfnissen der Zeit angepasst werden und in entsprechenden Formen ihren Ausdruck finden. b) Säkularinstitut der Schönstätter Marienschwestern39 aa) Entstehung Die Schönstätter Marienschwestern wurden am 1. Oktober 1926 von Pater Josef Kentenich (1885 – 1968) gegründet.40 Zunächst 20 Jahre lang ohne kirchenrechtliche Einordnung wirkend erhielten die Schwestern bereits ein Jahr nach der Apostolischen Konstitution Provida Mater Ecclesia im Jahre 1948 die Anerkennung als Säkularinstitut päpstlichen Rechts. Es gilt als erstes Säkularinstitut in Deutschland und stellt eines der vielen Gemeinschaften und Säkularinstitute innerhalb der sog. „Schönstatt-Bewegung“41 dar. Diese besteht aus über 20 eigenständigen Gemeinschaften und Gruppierungen für Priester und für Laien (Familien, Männer, verheiratete Frauen und Mütter, unverheiratete Frauen, Akademikerinnen, weibliche und männliche Jugend). Die Säkularinstitute Schönstatts, auch „Verbände“ genannt, sind zusammen mit den „Bünden“ die Kerngemeinschaften des ganzen Werkes. Ihnen kommt dabei die Aufgabe zu, die Bewegung zu beseelen sowie inspirierend und führend in diesen Gruppierungen zu wirken. Der inhaltliche Schwerpunkt der gesamten „Schönstatt-Bewegung“ liegt darin, in der Gottesmutter das Vorbild des Menschen in seinem Verhältnis zu Gott zu sehen und diesen „neuen“ marianischen Menschen in den unterschiedlichen Berufungen der Kirche zu formen. Die Mitglieder des Säkularinstituts bemühen sich dabei um eine Durchdringung von geistlichem und weltlichem Leben, von Innerlichkeit und Weltverantwortung. Charakteristisch ist dafür eine Lebensgemeinschaft mit Maria („Liebesbündnis“), das die Mitglieder des Säkularinstituts auf dem Weg der Christusnachfolge durch die drei evangelischen Räte leben. Sie wirken vor allem in den verschiedenen Zentren der „Schönstatt-Bewegung“, aber auch in kirchlichen und weltlichen Berufen (Pfarreien, Kindergärten).

39

Vgl. die dazugehörige Homepage: www.schoenstaetter-marienschwestern.de. Darauf beruhen zu einem Großteil die folgenden Ausführungen, da die geltenden Satzungen des Säkularinstituts nicht zur Verfügung gestellt werden konnten. 40

Vgl. Peter Wolf, Art. Kentenich, Josef, in: LThK3 5, 1996, Sp. 1398 (Lit.).

41

Vgl. Peter Wolf, Art. Schönstatt-Bewegung, in: LThK3 9, 2000, Sp. 213 f.

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bb) Lebensführung Gemäß den Satzungen des Säkularinstituts stehen den Mitgliedern grundsätzlich zwei verschiedene Formen der Lebensführung zur Verfügung. Einerseits können sie allein in der Arbeitswelt leben und die Verbindung zum Institut durch zahlreiche Veranstaltungen und Begegnungen pflegen; andererseits können sie auf Zeit oder auf Dauer ein intensives Gemeinschaftsleben pflegen, das – vor allem durch die Anbindung an Einrichtungen der „Schönstatt-Bewegung“ – die untereinander gelebte Verbundenheit vertiefen und auf die pastoralen Ziele ausgerichtet sein soll. c) Säkularinstitut der Schönstatt-Patres42 aa) Entstehung Als letztes der sechs Säkularinstitute der „Schönstatt-Bewegung“43 wurde am 18. Juli 1965 das Säkularinstitut der Schönstatt-Patres von P. Josef Kentenich gegründet. Dabei war die Einsicht federführend, dass die SchönstattBewegung eine eigene Priestergemeinschaft benötigt, deren Mitglieder den priesterlichen Dienst in und für die Gemeinschaft sowie aus ihrer eigenen Spiritualität heraus leben. Diese spezifische Berufung verwirklicht sich in der seelsorglichen, pädagogischen und inspirierenden Arbeit als Priester für die verschiedenen Gemeinschaften und Gruppierungen, die im Schönstätter Charisma verwurzelt und rechtlich eingegliedert sind. Die Anerkennung als Säkularinstitut päpstlichen Rechts erfolgte am 24. Juni 1988, die Approbation der zunächst „ad experimentum“ geltenden Satzungen am 22. Februar 1994. bb) Lebensführung Die Satzungen der Schönstatt-Patres sehen nach Auskunft der Internetpräsenz (Sion Provinz) vor, dass die Patres apostolisch wirken, zugleich aber in der Lebensform einer Dach- und Tischgemeinschaft organisiert sind. Diese ist als Wohngemeinschaft von mindestens drei bis sechs oder sieben Patres vorgesehen, die in einem Schönstattzentrum arbeiten oder für die Mitglieder der Schönstatt-Bewegung innerhalb einer bestimmten Region Dienst tun. Dabei

42 Vgl. die dazugehörige Homepage: www.schoenstatt-patres.de. Dazu: Satzungen des Säkularinstituts „Schönstatt-Patres“ vom 22. Februar 1994 (Privatdruck 1994), hier bes. Teil V, C. 43

Vgl. Anm. 40 und 41.

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wird Wert darauf gelegt, dass der internationale Charakter deutlich hervortritt, sei es durch internationale Wohngemeinschaften, sei es durch entsprechende Aufenthalte in Ländern, in denen die Schönstatt-Bewegung vertreten ist. Die priesterliche Berufung und der apostolische Dienst des einzelnen Mitglieds werden demzufolge durch die vita communis innerhalb der Wohngemeinschaft mitbestimmt und vertieft, die nicht klösterlich abgeschieden, sondern unter den Bedingungen des jeweiligen Dienstes in den Strukturen der Welt gelebt und vollzogen werden. Die Mitgliedschaft innerhalb des Säkularinstituts verdeutlicht durch die spezifische Berufung für das Leben in einem Institut des gottgeweihten Lebens sowohl die Kollegialität des priesterlichen Amtes in Wesen und Ausübung als auch dessen Weltcharakter in Sendung und Wirkungsort. d) Christkönigs-Institut44 aa) Entstehung Das Christkönigs-Institut wurde am 27. Juni 1919 als „Missionsgesellschaft vom Weißen Kreuz“ in Graz/Steiermark gegründet.45 Es geht als „lebendige Zelle katholischer Laien“ auf das Wirken des Freiburger Diözesanpriesters Dr. Max Josef Metzger zurück, der als Pionier der katholischen Friedensbewegung und der Una-Sancta-Bewegung in Deutschland gilt. Ihm zur Seite stand in der Zeit vor der offiziellen Gründung des Instituts der Steyler Pater Wilhelm Josef Impekoven, der am 7. Dezember 1918 verstarb. Die Mitglieder – ledige und verheiratete Frauen und Männer sowie Weltpriester mit unterschiedlichen Verpflichtungsgraden – machten es sich zur Aufgabe, „aus dem Geiste liturgischer Erneuerung, auf der Grundlage des Evangeliums, dienend mitzuwirken am Aufbau und an der Vollendung des Reiches Gottes auf Erden“46. Ausdrückliche Ziele waren verbunden mit dem Einsatz für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Einheit der Menschheitsfamilie. 1928 wurde der offizielle Sitz der nach Einführung des Christkönigsfestes in Societas Christi Regis (Christkönigsgesellschaft) umbenannten Vereinigung nach Meitingen (Diözese Augsburg) verlegt. Durch die publizistische Tätigkeit des Gründers wurde der Kyrios-Verlag initiiert und

44 Vgl. hierfür Ralf Putz, Das Christkönigs-Institut, Meitingen, und sein Gründer Dr. Max Josef Metzger (1887 – 1944). Für den Frieden der Welt und die Einheit der Kirche (= THEOS, Studienreihe Theologische Forschungsergebnisse 26), Hamburg 1998. 45 Vgl. dazu Satzungen des Christkönigs-Institut (Institutum Christi Regis) Meitingen v. 18. Juni 1982, Verb. Neuauflage, Abensberg 1982 [Satzungen/1982], S. 11. Ein Hinweis auf die Einordnung unter die Säkularinstitute päpstlichen Rechts findet sich darin nicht. 46

Institutum Christi Regis, Satzungen/1982 (Anm. 45), S. 11.

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ins Leben gerufen, in dem seit 1946 die Vierteljahresschrift „Una Sancta – Zeitschrift für ökumenische Begegnung“ erscheint. Metzger wurde am 14. Oktober 1942 vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt und am 17. April 1944 in Brandenburg-Görden durch das Fallbeil hingerichtet. In Folge der Konstitution Provida Mater Ecclesia konnte die Societas Christi Regis mit Dekret vom 15. Januar 1953 durch den Augsburger Diözesanbischof Dr. Joseph Freundorfer als Pia Unio und einen Tag später als Sodalitium diözesanen Rechts errichtet werden. Nach der Erteilung des Nihil obstat durch die Kongregation für Orden und Säkularinstitute am 14. Oktober 1969 errichtete Bischof Dr. Josef Stimpfle am Christkönigsfest des Jahres 1969 das Christkönigs-Institut als Säkularinstitut diözesanen Rechts. Die dabei approbierten Satzungen wurden am 18. Juni 1982 in überarbeiteter Form durch bischöfliches Dekret rechtlich anerkannt. bb) Lebensführung Das Säkularinstitut besteht aus zwei Kreisen. Der innere Kreis umfasst all jene Mitglieder, die sich durch Gelübde zu einem Leben in Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit verpflichten.47 Sie verbleiben in ihren Berufen oder stellen sich gemeinsamen Aufgaben des Instituts (z. B. apostolische Aufgaben, Buchhandel) zur Verfügung. Im äußeren Kreis sammeln sich all jene Mitglieder, die dem inneren Kreis durch den gleichen Geist verbunden sind und versprechen, die Spiritualität des Instituts in ihrem Leben zu verwirklichen. Dazu können Laien aller Berufsstände und Priester je nach ihren Möglichkeiten gehören.48 Die Geschichte des Instituts offenbart anfangs für den inneren Kreis stärker klösterlich geprägte Formen, die das Zusammenleben der Mitglieder vorherrschend prägten.49 Aus Entwicklungsgründen und bedingt durch einen Nachwuchsmangel haben sich diese Zentren jedoch in den vergangenen Jahrzehnten aufgelöst. Lediglich im Bedarfsfall – beispielsweise im Fall älterer oder kranker Mitglieder – werden neue „Stationen“, Wohngemeinschaften oder ähnliches gebildet. Grundsätzlich bestehen im Institut jedoch alle drei vom kirchlichen Gesetzbuch vorgesehenen Lebensformen. Sie sollen jeweils der Lebensform jener Menschen des eigenen Lebensbereiches entsprechen; so leben die Mitglieder 47

Vgl. Institutum Christi Regis, Satzungen/1982 (Anm. 45), Erster Teil, I, Nr. 3, auch Zweiter Teil, I, Nr. 36 f. 48 Vgl. Institutum Christi Regis, Satzungen/1982 (Anm. 45), Erster Teil, I, Nr. 4, auch Dritter Teil, I, Nr. 88 und 92. 49

Dies wird in einem Brief der Generalleiterin Annemarie Bäumler vom 28. Dezember 2005 an den Verfasser bestätigt.

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entweder allein, in ihren Familien oder in „Gruppen schwesterlicher Gemeinschaft“50. In den Regionen des Instituts treffen sich die Mitglieder des inneren Kreises regelmäßig zu gemeinschaftlichen Zusammenkünften (geistliche Vertiefung, Fortbildung und Begegnung).51 Damit liegt hier offensichtlich eine entgegengesetzte Entwicklungslinie vor: von eher klösterlichem Zusammenleben hin zu einer verstärkten Einzelpräsenz im normalen Berufsleben. e) Säkularinstitut „Cruzadas de Santa María“52 aa) Entstehung Gründer des noch jungen Säkularinstituts „Cruzadas de Santa María“ ist der spanische Jesuit P. Tomás Morales SJ (1908 – 1994). Nach seiner juristischen Promotion trat er mit 23 Jahren in das Noviziat der Jesuiten in Chevetogne (Belgien) ein und wurde im Jahre 1942 zum Priester geweiht. 1946 kehrte er nach Madrid zurück und begann mit einer intensiven pastoralen Arbeit unter den Arbeitern und Angestellten der schnell anwachsenden Hauptstadt Spaniens. Er hielt für sie ignatianische Exerzitien, geistliche Vorträge und Einkehrtage und gründete eine Arbeiterbewegung „Hogar del Empleado“53. Dabei stellte er sich als Priester in den Dienst des gemeinsamen Priestertums aller Getauften in der Überzeugung, dass diese einen unverzichtbaren Anteil an der einen missionarischen Sendung der Kirche besitzen. Unter einigen von ihnen wuchs der Wunsch heran, sich durch die Übernahme der evangelischen Räte Gott zu weihen und die Weihe in der Welt der Arbeit und der Gesellschaft zu leben. Aus diesen Bemühungen ging zunächst das männliche Säkularinstitut „Cruzados de Santa María“, im Zusammenwirken mit der heutigen Generalleiterin 50

Institutum Christi Regis, Satzungen/1982 (Anm. 45), Zweiter Teil, I, Nr. 37.

51

Vgl. Institutum Christi Regis, Satzungen/1982 (Anm. 45), Erster Teil, VI, Nr. 27 – 29.

52

Vgl. die dazugehörige Homepage: www.cruzadas.de sowie www.cruzadasdesanta maria.org (Spanisch). Siehe auch Feliciano Rodríguez, Tomás Morales. Sacerdote, Carisma y Profecia, Madrid 1998 sowie Miguel Ángel Velasco, Tomás Morales. Sacerdote de Jesucristo. Crónica inacabada de un amor inacabable, Burgos 2004 und die Dokumentation Kongressband „P. Tomás Morales S.J. – Internationaler Kongress ‚Prophet unserer Zeit’“ (viersprachig), Madrid 2005. 53

Seine späteren Schriften künden von dieser regen Tätigkeit, so u. a.: Tomás Morales, Tesoro Escondido, Madrid 1983 – Ders., Laicos en marcha, Madrid 1984 – Ders., Forja de hombres, Madrid 41987 – Ders., Semblanzas de testigos de Cristo para los nuevos tiempos, Ed. Encuentro, Madrid 1993 – Ders., Hora de los laicos, Madrid 22003.

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Lydia Jiménez schließlich das weibliche Säkularinstitut „Cruzadas de Santa María“ hervor. So sammelten sich seit 1961 geweihte Frauen als „Cruzadas de Santa María“ in der Erzdiözese Madrid. Am 8. Dezember 1965 erhielten sie durch den Erzbischof von Madrid-Alcalá, Casimiro Morcillo, zunächst die Anerkennung als Pia Unio. 24 Jahre später errichtete Erzbischof Ángel Suquía die Vereinigung als Säkularinstitut bischöflichen Rechts. Am 13. Mai 2000 empfing das bereits in vielen Ländern vertretene Institut des geweihten Lebens die Anerkennung als Säkularinstitut päpstlichen Rechts.54 Verbunden mit dem durch die ignatianische und theresianische Spiritualität geprägten Säkularinstitut sind gemäß Art. 7 der Konstitutionen eine Reihe verschiedener apostolischer Bewegungen: die Jugendbewegung „Milicia de Santa María“, das „Instituto Berit“ für Familien sowie die Priestergemeinschaft „P. Tomás Morales“, die sich aus Diözesanpriestern zusammensetzt.55 Das vorrangige Ziel des Säkularinstituts im Dienst Jesu Christi besteht in der Vervollkommnung seiner Mitglieder in der Heiligkeit und in der Liebe sowie in der Mithilfe am Heil der Menschen, insbesondere der Jugend, durch die Christianisierung der Welt und ihrer inneren Strukturen.56 Das geistliche Prinzip „Kontemplativ in der Aktion“ durchwaltet das damit verbundene Handeln. Grundgelegt und gefördert wird es zunächst durch die Pflege eines intensiven „inneren Lebens“, das geprägt ist durch Gebet, Betrachtung, geistliche Lektüre und das beständige Leben aus den Sakramenten. Zugleich begründet sich damit eine prinzipielle Offenheit des Apostolats in Bezug auf jeden Personenkreis und jedes Alter, auch wenn das Institut einen Schwerpunkt auf die pädagogisch-spirituelle Arbeit mit der weiblichen Jugend und der Familie legt, in denen die Zukunft von Kirche und Welt begründet liegt.57 Für die Verwirklichung dieser Berufung arbeiten die Mitglieder entweder in weltlichen Berufen und Institutionen oder arbeiten in Aufgabenbereichen, die den Erfordernissen des Instituts entsprechen.58

54

Vgl. Constituciones „Cruzadas de Santa María“, o.O. 2000 [Constituciones/2000], S. 7 f. In Deutschland besitzt das Säkularinstitut eine Niederlassung in der Erzdiözese München und Freising (München-Pasing) und in der Erzdiözese Köln (Bonn-Röttgen). Aufgenommen werden können gemäß Art. 8 und 10 der Konstitutionen alle Frauen, die volljährig sind und Gesundheit, adäquaten Charakter und ausreichende Reife besitzen, das Leben als Cruzada zu führen. Durch Gelübde in anderen kanonischen Lebensverbänden gebundene oder verheiratete Frauen können kein Mitglied werden – vgl. dazu Art. 7. 55

Vgl. Cruzadas de Santa María, Constituciones/2000 (Anm. 54), Art. 7.

56

Vgl. Cruzadas de Santa María, Constituciones/2000 (Anm. 54), Art. 1.

57

Vgl. Cruzadas de Santa María, Constituciones/2000 (Anm. 54), Art. 3.

58

Vgl. Cruzadas de Santa María, Constituciones/2000 (Anm. 54), Art. 4.

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bb) Lebensführung Gemäß Art. 35 der Konstitutionen errichtet das Säkularinstitut Niederlassungen, in denen die Mitglieder in Gruppen von nicht weniger als fünf ein gemeinsames Leben führen.59 Daneben gibt es die Möglichkeit, dass eine Cruzada alleine lebt. Sie unterhält dabei jedoch einen engen Kontakt zur Regionalleiterin und hinsichtlich des geistlichen und apostolischen Lebens auch zu einem Mitglied jener Gruppe von Cruzadas, in deren Nähe sie lebt.60 Auch wenn zwei der drei Möglichkeiten zur Lebensführung im Säkularinstitut gemäß c. 714 CIC in den Konstitutionen rechtliche Anwendung finden, so ist ein spürbarer Schwerpunkt auf dem kommunitären Lebensstil auszumachen. Dieser ist jedoch nicht mit einer klösterlichen Einrichtung zu verwechseln. Um auf diesem Hintergrund die Eigenart der geistlichen Berufung der Cruzada als gottgeweihte Berufung in der Welt zu verdeutlichen und gleichzeitig die Relevanz gemeinschaftlichen Lebens im Charisma seines Gründers hervorzuheben, spricht das Direktorium des Säkularinstituts nicht vom „Gemeinschaftsleben“ oder von der „vita communis“, sondern stellt den Begriff des „Familienlebens“ („vida de familia“) in den Mittelpunkt.61 Mit dem geistlichen Bezug auf das Leben der hl. Familie in Nazareth verbindet die Liebe der einzelnen Cruzada zu Christus wiederum alle untereinander zu einer geistlichen Familie, die sich durch das Vorbild der Gottesmutter in Hingabe und Liebe zu ihrem Sohn prägen lässt. Auch wenn jede Cruzada als Mitglied der geistlichen Familie ihrem weltlichen Beruf nachgeht und somit ihre gottgeweihte Berufung ganz in der Welt verwirklicht, kehrt sie jeden Tag stets in den Zusammenhalt der Familie zurück, die konkret in der Niederlassung sichtbar wird. Deshalb ist das familiäre Leben sowohl in der Niederlassung (sie wird auch „Nazareth“ genannt) als auch in den übergreifenden Begegnungen aller Cruzadas innerhalb des Säkularinstituts ein Wesensbestandteil des damit verbundenen Charismas. Das Familienleben ist für alle „das Bindeglied der Einheit, die Garantie der Beharrlichkeit

59 Vgl. Cruzadas de Santa María, Constituciones/2000 (Anm. 54), Art. 35: „Las Cruzadas establecerán casas en las que puedan vivir sus miembros en grupos de vida fraterna, procurando que no sean en número inferior a cinco“. 60 Vgl. Cruzadas de Santa María, Constituciones/2000 (Anm. 54), Art. 35: „La Directora Regional cuidará de que la cruzada que viva sola se mantenga en contacto con ella y esté vinculada a alguno de los grupos de vida fraterna más cercano, de forma que encuentre apoyo y ayuda tanto para la vida espiritual como para su actividad apostólica“. 61

Vgl. Directorio de las Cruzada de Santa María, Madrid 1996 [Directorio/1996], hier Kap. V. Siehe dazu auch die zur Verfügung gestellten institutsinternen Schriften „Vida de familia“ und „Comunicación y vida de familia“.

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und der Schlüssel zur Fruchtbarkeit“62, das bedeutet der Einheit untereinander, der Beharrlichkeit in der persönlichen Berufung und der Fruchtbarkeit im apostolischen Wirken. Die Cruzada ist vor allem „Familie“, deren Lebensweise von Einheit im gleichen Charisma und Vielfalt in den verschiedenen Mitgliedern verwirklichtes Spiegelbild der einen Kirche ist.63 Diese Einsicht versteht sich in Übereinstimmung mit einem Gedanken von Papst Johannes Paul II. aus einer Ansprache an Ordensleute und Mitglieder der Säkularinstitute vom 8. November 1982 in Madrid: „Seid überzeugt, dass das Leben in Gemeinschaft, das in Liebe und Abtötung gelebt wird, die beste Hilfe darstellt, die ihr euch gegenseitig gewähren könnt, und das beste Gegenmittel gegen alle Versuchungen, die eurer Berufung nachstellen“64. Hiermit wird jene innere, geistliche Verbindung der Mitglieder, die für jedes Säkularinstitut charakteristisch sein soll, auf das „Leben in Gemeinschaft“ hin konkretisiert. Das mag in verschiedenen Formen möglich sein, die dem Charakteristikum der „Weihe in Welt“ zu entsprechen haben. Doch das Kriterium der vita communis wird dadurch nicht länger als wesensgemäßes Unterscheidungsmerkmal zu den Orden und Kongregationen gesehen. Es bekommt vielmehr die Aufgabe zugewiesen, auch für das Säkularinstitut ein, wenn auch in verschiedenen Weisen gelebtes, aber unaufgebbares Merkmal zu sein – Merkmal deshalb, weil es auf Dauer, in der gelebten Form von Liebe und Abtötung, eine Garantie für das Bestehen der Berufung und darüber hinaus für die Existenz des Säkularinstituts darstellt.65

62 Cruzadas de Santa María, Directorio/1996 (Anm. 61), S. 39: „Así, esta vida de familia será para todas ‘eslabón de unidad, garantía de perseverancia y clave de fecundidad’“. Übersetzung durch Verfasser. 63 Vgl. Cruzadas de Santa María, Directorio/1996 (Anm. 61), S. 45: „Todos persiguen un mismo objetivo: adorar al Padre en Cristo Jesús, con la Virgen, cerquita de san José, a impulsos del Espíritu Santo. Contemplar amando la Trinidad en la Unidad hasta consumarse en Ella“. 64

„Estad seguras que la vida en comunidad, vivida en caridad y abnegación, es la mejor ayuda que podéis prestaros mutuamente y el mejor antídoto contra las tentaciones que insidian vuestra vocación“ (zit. nach Cruzadas de Santa María, Directorio/1996 [Anm. 61], S. 39). Übersetzung durch Verfasser. 65

In Weiterführung dieses Gedankens müsste die in Anm. 8 erwähnte Kritik an der kodikarischen Zusammenführung der Orden und Säkularinstitute unter der „Institute des geweihten Lebens“ möglicherweise zu überdenken sein.

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f) Säkularinstitut „Fraternität Jesus Caritas“66 aa) Entstehung Das Säkularinstitut „Fraternität Jesus Caritas“ ist aus dem Charisma des seligen Charles de Foucauld (1858 – 1916) hervorgegangen.67 Unter den zahlreichen Menschen, die sich von seiner radikalen Nachfolge Christi ansprechen ließen, ist auch jene Frauengruppe zu sehen, die in den 50er Jahren um Marguerite Poncet entstand. Ohne Trennung von ihrem bisherigen Lebensbereich bemühten sie sich, die Spiritualität de Foucaulds im beruflichen Alltag zu leben. Sie verpflichteten sich zur Übernahme der drei evangelischen Räte und schlossen sich zu einer Gemeinschaft zusammen, die im Jahre 1952 als „Fraternität Jesus Caritas“ begründet wurde. Im Jahre 1978 wurde die Associatio Perfectionis der pastoralen Sorge des Bischofs von Bayonne anvertraut. Gemäß dem Gesuch der Generalverantwortlichen vom 9. August 1991 und der Billigung der Statuten durch die zuständige römische Kongregation am 26. Januar 1996 erfolgte am 11. Februar 1996 zunächst die Anerkennung als Säkularinstitut bischöflichen Rechts durch Bischof Pierre Molères von Bayonne, Lescar und Oloron. Im Jahre 2000 wurde die Fraternität schließlich als Säkularinstitut päpstlichen Rechts anerkannt68. Ihr heutiges Ziel ist es, im Berufsleben aus der Spiritualität Charles de Foucaulds zu leben; das bedeutet, kontemplativ besonders für benachteiligte und ausgegrenzte Menschen in der eigenen Umgebung zu wirken. bb) Lebensführung In das Säkularinstitut aufgenommen werden können ledige oder verwitwete Frauen zwischen 25 und 45 Jahren. Ausnahmen von dieser Grundregel sind nur mit Zustimmung der Generalverantwortlichen möglich.69 In der Frage der Lebensführung sieht das Säkularinstitut grundsätzlich vor, dass die Mitglieder nicht zusammenwohnen. Das Verbleiben am alltäglichen Lebensstandort erfasst den „Ort der Weihe“, an dem Gott „auf verborgene Weise mit anderen 66

Vgl. die dazugehörige Homepage: www.charlesdefoucauld.de.

67

Vgl. dazu Statuten der „Fraternität Jesus Caritas“ v. 11. Februar 1996 (Privatdruck 1996) [Statut/1996] sowie Direktorium der „Fraternität Jesus Caritas“ v. 11. Februar 1996 (Privatdruck 1996) [Direktorium/1996]. Zu Charles de Foucauld siehe Gisbert Greshake, Art. Foucauld, Charles-Eugène, in: LThK3 3, 1995, Sp. 1372 f. (Lit.) sowie Jürgen Rintelen, Art. Geistliche Familie v. Charles de F., in: LThK3 3, 1995, Sp. 1373. 68

Information gemäß Säkularinstitute in Deutschland (Anm. 5), S. 12.

69

Vgl. Fraternität Jesus Caritas, Statut/1996 (Anm. 67), IV, 32.

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zusammen in einer demütigen und ehrfurchtsvollen Freundschaft“ gesucht, die Solidarität mit allen Menschen gelebt und dadurch das Evangelium verkündet werden kann.70 Allerdings wollen die Mitglieder den Weg der Nachfolge mit anderen zusammen gehen. In der sog. „Fraternität“ als kleiner örtlichen Gruppe, die aus fünf bis sieben Mitgliedern besteht und von einer „Verantwortlichen“ geleitet wird, kommen diese einmal monatlich für einen Tag zusammen (révision de vie).71 Sie stellt in vielfacher Hinsicht eine Hilfe für die Verwirklichung der Berufung des einzelnen Mitglieds dar.72 Darüber hinaus nehmen sie einmal jährlich an einwöchigen Exerzitien teil. Zweimal jährlich treffen sich die Fraternitäten einer Region (die Vorstufe wird „Sektor“ genannt), um die Kontakte innerhalb des Säkularinstituts zu vertiefen.73 Die Formulierung der Grundregel hält jedoch ein gewisses kommunitäres Leben offen, das über die monatlichen Treffen hinausgeht. Wenn gesagt wird, dass die Mitglieder „im allgemeinen nicht zusammen wohnen“74, werden damit Formen der vita communis zumindest ermöglicht, die der Situation der Beteiligten angepasst sein müssen. Die Gründe dafür können in der örtlichen Nähe ebenso liegen wie in gemeinschaftlichen (apostolischen) Engagements, die zumindest ein zweiteiliges Zusammenwohnen sinnvoll machen.75

70

So in Fraternität Jesus Caritas, Statut/1996 (Anm. 67), I, 2.

71

Vgl. Fraternität Jesus Caritas, Statut/1996 (Anm. 67), III, 28 sowie V, 48. Dazu näherhin Fraternität Jesus Caritas, Direktorium/1996 (Anm. 67), III, 33 – 35, bes. 34: „In diesem Sinn ist die Basisfraternität der Ort, an dem wir lernen, über Grenzen hinweg zu lieben. Auch wenn die einzelne ihren eigenen Rhythmus hat, gehen wir den Weg gemeinsam“. 72 Vgl. Fraternität Jesus Caritas, Direktorium/1996 (Anm. 67), II, 29: „Wir suchen die Hilfe der Fraternität, um in unseren Entscheidungen den Willen Gottes für unser ganzes Leben zu erkennen“. 73

Vgl. Fraternität Jesus Caritas, Statut/1996 (Anm. 67), III, 27 – 29.

74

Fraternität Jesus Caritas, Statut/1996 (Anm. 67), I, 2.

75

Vgl. dazu den Hinweis in Fraternität Jesus Caritas, Direktorium/1996 (Anm. 67), I, 15.

Die Lebensführung im Säkularinstitut gemäß c. 714 CIC

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2. Säkularinstitute bischöflichen Rechts a) Säkularinstitut „Ancillae“ (Benediktbeuren)76 aa) Entstehung Das Säkularinstitut „Ancillae“ hat seinen Hauptsitz in Benediktbeuren und trägt daher den Beinamen „Benediktbeuren“.77 Im Jahr vor der Promulgation der Konstitution Provida Mater Ecclesia wurde die geistliche Gemeinschaft für Frauen von Maria Perpetua Radlmair in der Diözese Augsburg gegründet. Diese war 1946 als Konventoberin der Franziskanerinnen nach deren Rückruf in das Mutterhaus in Au am Inn in Dürrlauingen im heutigen Landkreis Günzburg geblieben, um mit dem damaligen Direktor der Katholischen Jugendfürsorge, Msgr. Max Schneller, eine Schwesterngemeinschaft nach dem Vorbild der Ancilla Domini (Lk 1,38) zu gründen. Nach Übertragung weiterer Aufgaben in Erziehung, Kindergarten und Hauswirtschaft errichtete im Jahre 1957 der damalige Augsburger Bischof Dr. Joseph Freundorfer die Gemeinschaft „Ancillae caritatis Jesu“ in der Rechtsform einer Kongregation und wandelte sie dann in ein Säkularinstitut um. Gleichzeitig konnten Niederlassungen in Ostdeutschland und seit 1962 in Südindien errichtet werden. Nach weiteren Aufbaujahren trennte sich im Jahre 1969 die Gemeinschaft in eine Kongregation und in ein Säkularinstitut. Die in Dürrlauingen tätigen Schwestern nannten sich „Christliche Jugendhilfe – Schwestern der Liebe Christi“ mit Sitz des Mutterhauses in Kempten. Das Säkularinstitut behielt den Namen „Ancillae caritatis Jesu“ mit Sitz des Mutterhauses in Benediktbeuern bei.78 Die Anerkennung der Satzungen durch den Apostolischen Stuhl erfolgte schließlich im Jahre 1971. In jüngerer Zeit haben sich dem Säkularinstitut auch Frauen angeschlossen, die ohne feste Bindung an das Institut das Lebensideal der dienenden Liebe mitleben wollen. Sie treffen sich regelmäßig untereinander und auch mit den Mitgliedern des Instituts.

76

Vgl. die dazugehörige Homepage: www.ancillae.de. Darauf beruhen zu einem Großteil die folgenden Ausführungen, da die geltenden Satzungen des Säkularinstituts nicht zur Verfügung gestellt werden konnten. 77

Vgl. dazu Erich Puzik, Über die Kunst, in unserer Welt heilig zu werden (= Der neue Weg 6), Einsiedeln 1982, S. 17 – 87. Die Darstellung „Das Heiligkreitsstreben in einem weltlichen Institut“ geht spezifisch auf das Leben der evangelischen Räte im Säkularinstitut der Ancillae ein, sind aber dennoch so allgemein gehalten, dass sie für andere Institute gelten können. 78

Seit der Wahl von Ingrid Rotter zur Generalleiterin im Jahre 1995 hat die Generalleitung des Instituts ihren Sitz in Cottbus.

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bb) Lebensführung Die Frage der Lebensführung wird im Institut gemäß der kodikarischen Norm geregelt. Die Mitglieder leben entweder allein, in ihren Familien oder in kleinen Wohngemeinschaften. Sie sind zumeist in weltlich-sozialen Berufen tätig, übernehmen darüber hinaus aber auch im kirchlichen Bereich seelsorgliche Aufgaben wie pfarrliche Mitarbeit und geistliche Orientierungstage. Regelmäßige gemeinschaftliche Begegnungen, Gespräch und Fortbildung sollen die Zusammengehörigkeit innerhalb des Instituts stärken. b) Säkularinstitut „Ancillae Christi Regis“79 aa) Entstehung Der Gründer des heutigen Säkularinstituts „Ancillae Christi Regis“ („Dienerinnen Christi des Königs“), Leopold Engelhart, wurde am 15. November 1892 in Wien geboren und im Jahre 1917 zum Priester geweiht.80 Bereits 1919 wurde er an der Dompfarrei St. Stephan Domkurat und Domprediger. Im Auftrag von Kardinal Theodor Innitzer baute er die Katholische Aktion auf und übernahm bis zu seinem Tod am 4. August 1950 die Pfarrei Neu-Ottakring in Wien. Als geistlicher Leiter einer Gruppe von jungen Frauen aus der „Marianischen Kongregation“ konnte er für seine Arbeit an besonders armen Menschen einige Mitglieder gewinnen, sich in einem ehelosen Leben an Christus zu binden und durch Hausbesuche der materiellen und geistlichen Armut der Menschen entgegenzuwirken. Am 16. Dezember 1926 versammelte er sechs sog. „Laienapostel“, die er zu einer verbindlichen Gemeinschaft zusammenführen und an der Seelsorge beteiligen wollte. Sie sollte den Namen des 1925 neu eingeführten Herrenfestes „Christus König“ tragen und insbesondere die Sendung der Priester durch die Trias Gebet, Apostolat und Lebenseinsatz in der Welt unterstützen. Zunächst im Verborgenen wirkend, wurde die Gemeinschaft nach seinem Tod am 17. Juni 1955 von Kardinal Innitzer gemäß Art. V und VI § 2

79 80

Vgl. die dazugehörige Homepage: www.ancillae-christiregis.net.

Siehe Franz Loidl, Kanonikus Leop. Engelhardt (1892 – 1950). Leben und Wirken im Dienst an Diözese u. Pfarre, Wien 1971 sowie Aus den Wurzeln leben – Leben aus den Wurzeln. 75 Jahre Säkularinstitut Ancillae Christi Regis (1926 – 2001). Hrsg. v. Säkularinstitut Ancillae Christi Regis, Salzburg 2001.

Die Lebensführung im Säkularinstitut gemäß c. 714 CIC

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ProvMatEccl als Säkularinstitut „Ancillae Christi Regis“ bischöflichen Rechts in der Erzdiözese Wien anerkannt81. bb) Lebensführung In das Institut aufgenommen werden können unverheiratete oder verwitwete Frauen im Alter zwischen 18 und 50 Jahren, die sich sowohl durch die Fähigkeit zur Selbstverantwortung als auch durch einen notwendigen Gemeinschaftssinn auszeichnen.82 Die Mitglieder des Säkularinstituts, die in Berufen unterschiedlicher Art arbeiten, leben gemäß den Konstitutionen im Kreis der Familie oder alleinstehend.83 Ein dauerhaftes gemeinschaftliches Zusammenleben sehen die Konstitutionen nicht vor. Die Mitglieder treffen sich monatlich in den sog. „Kollegien“, die bis zu 18 Mitglieder umfassen können und in Regionen zusammengefasst sind.84 Die Teilnahme am Leben des Instituts und des entsprechenden Kollegiums ist in Anlehnung an c. 716 § 1 CIC das Anliegen eines jeden Mitglieds.85 IV. Formen der vita communis als notwendige Hilfen 1. Entwicklung In seinen kanonistischen Überlegungen zur Welthaftigkeit und Weihe in den Säkularinstituten sprach Jean Beyer SJ unmittelbar in den Jahren nach dem II. Vatikanischen Konzil von der Vermeidung jeder Zweideutigkeit in der Herausarbeitung und Verwirklichung ihres Wesens. Gefordert seien nun alle Kräfte, die das „Weitergehen der Säkular-Institute auf eine größere Welthaftigkeit hin“ ermöglichen könnten.86 Der anerkannte Kirchenrechtsprofessor der Päpstlichen Universität Gregoriana, der seine Position in dieser Frage später kleine-

81

Heute leben Mitglieder des Instituts in Österreich (Wien, Ober-/Niederösterreich, Salzburg, Tirol, Vorarlberg), Deutschland (Würzburg, Speyer, München und Freising) sowie in Südtirol, Ungarn, Südkorea und Tanzania. 82

Konstitutionen des Säkularinstitutes „Ancillae Christi Regis“ in der Fassung v. 1. Februar 2000, approbiert von Kardinal Dr. Christoph Schönborn, (Privatdruck) Wien 2000 [Konstitutionen/2000], hier S. 34. 83

Vgl. Ancillae Christi Regis, Konstitutionen/2000 (Anm. 82), S. 8.

84

Vgl. Ancillae Christi Regis, Konstitutionen/2000 (Anm. 82), S. 22 f.

85

Vgl. Ancillae Christi Regis, Konstitutionen/2000 (Anm. 82), S. 22.

86

Vgl. Beyer, Berufung (Anm. 9), bes. S. 70 – 78.

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ren Korrekturen unterzog87, sah das wirksamste Mittel für das Voranschreiten der Säkularinstitute in deren kontinuierlichen Loslösung aus dem prägenden Umfeld der Orden und Kongregationen. Nur der eindeutige Verzicht auf äußere Zeichen des klösterlichen Lebens (Ordenstracht, Zusammenleben, Niederlassungen), auf ein verpflichtendes geregeltes Leben (das die Verschiedenheit der Personen und der Arbeit aufhebt), auf gemeinsame Werke und Tätigkeiten sowie andere die Eigenheit der säkularen Berufung gefährdenden Umstände (z. B. finanzielle Macht durch zusammengeführte Einkünfte und Vermögen) könnten Existenz und Zukunft der Säkularinstitute sichern und profilieren.88 Diese Auffassung steht ohne Zweifel in Kontinuität zu den ersten lehramtlichen Aussagen über die Säkularinstitute. Papst Pius XII. hatte in Provida Mater Ecclesia die Freiheit von der „Verpflichtung zu gemeinsamem Leben mit Dachgemeinschaft“ herausgestellt, gleichzeitig aber die Errichtung gemeinsamer Niederlassungen und Häuser für die Institutsleitung, für die Aus- und Fortbildung sowie für die Versorgung älterer oder kranker Mitglieder vorgeschrieben.89 Auf dem Weg zum Codex Iuris Canonici, der die Frage der Lebensführung schließlich mit der Aussage des c. 714 grundsätzlich auf verschiedene Formen hin öffnete und deren Umsetzung vollständig in den Kompetenzbereich der Konstitutionen stellte, betonte jedoch Papst Paul VI. im Jahre 1972 in einer Ansprache an Mitglieder der Säkularinstitute mit Bezug auf die Aussagen in Art. 15 – 22 VatII AA die vielfältigen Möglichkeiten der Lebensführung im Säkularinstitut.90 In der bereits zitierten Ansprache von Papst Johannes

87

Vgl. u. a. Jean Beyer, De Institutorum Vitae Consecratae novo iure, in: PerMCL 64 (1975), S. 363 – 392. 533 – 588; 65 (1976), S. 13 – 57.243 – 296.; Ders., De novo iure circa vitae consecratae Instituto et eorum sodales quaesita et dubia solvenda, in: PerMCL 75 (1986), S. 525 – 596; Ders., Riflessioni sugli Istituti Secolari. Il loro avvenire post-conciliare, in: Vita consacrata 26 (1990), S. 746 – 759. 88 Vgl. Beyer, Berufung (Anm. 9), S. 71 f. Ähnlich: Tiziano Vanzetto, I secolari consacrati, ovvero: vocazione ad essere laici, in: QDE 2 (1989), S. 363 – 379. 89

Vgl. Pius XII., „Provida Mater Ecclesia“ (Anm. 1), Art. II, § 1 und Art. III, § 4. Als Kriterium in: S. C. de Religiosis, „Cum Sanctissimus“ (Anm. 4), Nr. 7 d. 90

Paul VI., Allocutio Institutorum Saecularium sodalibus qui Romae, coetui interfuerunt, quinto et vigesimo exacto anno ab edita Constitutione Apostolica „Provida Mater“ v. 2. Februar 1972, in: AAS 64 (1972), S. 206 – 212, hier bes. S. 210: „Essendo molto variate le necessità del mondo e le possibilità di azione nel mondo e con gli strumenti del mondo, è naturale che sorgano diverse forme di attuazione di questo ideale, individuali e associate, nascoste e pubbliche, secondo le indicazioni del Concilio. Tutte queste forme sono parimente possibili agli Istituti Secolari e ai loro membri. La pluralità delle vostre forme di vita vi permette di costituire diversi tipi di comunità e di dar vita al

Die Lebensführung im Säkularinstitut gemäß c. 714 CIC

783

Paul II.91 wurde schließlich die lehramtliche Betonung eines gewissen gemeinschaftlichen Lebens noch offenkundiger. Dieses könne als besonders wirksames Mittel zur Existenzsicherung des Instituts sowie zur inneren Förderung der einzelnen Berufungen beitragen. Mit anderen Worten besagt die skizzierte Entwicklung: Das kanonisch verpflichtende Gemeinschaftsleben stellt zwar ein herausragendes Charakteristikum der Ordensverbände (und der Gesellschaften apostolischen Lebens) dar, das Gemeinschaftsleben als solches ist jedoch nicht ihr exklusives Eigentum. Im Gegenteil, Formen einer vita communis werden – und das machen die päpstlichen Ansprachen deutlich – in der Entwicklungsgeschichte der Säkularinstitute der vergangenen Jahre offensichtlich in steigendem Maße als notwendig für den inneren Zusammenhalt und die geistliche Vertiefung der einzelnen Berufung erachtet. Das bedeutet jedoch keineswegs eine Geringschätzung jenes gottgeweihten Lebens, das sich im Alleinleben innerhalb des beruflichen Alltags verwirklicht und die innere Verbundenheit mit den anderen Mitgliedern des Instituts durch Begegnungen und Zusammenkünfte pflegt. Die Form der Lebensführung muss dem Charakter und der Situation des Mitglieds entsprechen. Der Gesetzgeber hat deshalb mit c. 714 CIC dem jeweiligen Institut auch in dieser Frage die eigene Prägung und deren rechtliche Verwirklichung zugestanden. 2. Gründe für eine Neuentdeckung Die Säkularinstitute auf dem Territorium der Erzdiözese München und Freising offenbaren in der Frage der Lebensführung ein relatives Gleichgewicht in der Anwendung des c. 714 CIC. Neben der Verwirklichung der Weihe in Welt durch das alleinlebende Mitglied gibt es zahlreiche Formen gemeinschaftlichen Lebens, die aus unterschiedlichen Gründen möglich sind. So sinnvoll es ist, diese Gründe voneinander zu unterscheiden und in ihrer Bedeutung zu würdigen, so unmöglich ist es, sie voneinander klar zu trennen. Sie bieten das Gesamt eines Ganzen, das die Notwendigkeit einer stärkeren Beachtung des kommunitären Aspektes fordert.

vostro ideale in diversi ambienti e con diversi mezzi, anche là dove si può dare testimonianza alla Chiesa soltanto in forma individuale, nascosta e silenziosa“. Vgl. Ders., Allocutio Institutorum Saecularium moderatoribus qui Romae internationali Coetui interfuerunt v. 20. September 1972, in: AAS 64 (1972) 615 – 620, bes. S. 618. 91

Vgl. Anm. 64.

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a) Nachwuchsmangel In mehr formaler Hinsicht spielt zunächst der Nachwuchsmangel in einigen Säkularinstituten eine wichtige Rolle. Der Rückgang der Mitgliederzahlen fordert nicht selten eine Konzentration auf Grundaufgaben des Instituts und eine Verinnerlichung seines Charismas, das in gemeinschaftlichen Lebensformen bewahrt und vertieft wird. Einher geht der Nachwuchsmangel häufig mit einer Überalterung der Mitglieder, die ein örtliches Zusammenrücken notwendig macht. Nachwuchsmangel und Überalterung können geistlich dann nutzbar gemacht werden, wenn sie zur Bündelung der Kräfte und zu einer kommunitären Bewährung des Institutscharismas führen, das bis dahin an verschiedenen Lebens- und Arbeitsorten verwirklicht wurde. b) Geistliche Vertiefung Grundsätzlich sind alle Mitglieder der Säkularinstitute gemäß c. 716 § 2 CIC verpflichtet, die Gemeinschaft unter sich zu wahren, indem sie die Einheit und die fraternitas pflegen. Dies findet in den angeführten Säkularinstituten unterschiedliche Anwendung, von regelmäßigen Begegnungen und geistlichen Zeiten alleinlebender Mitglieder bis hin zum täglichen Familienleben in einer Niederlassung, das sich – ohne Schmälerung des säkularen Einsatzgebietes – in der Gemeinsamkeit von Gebet, Liturgie und Veranstaltungen des Apostolats verwirklicht. Prinzipiell ist jedoch für alle die Betonung der institutsinneren Verbundenheit bemerkenswert. Die einzelne Berufung muss im Gesamt des Instituts und seines Charismas gelebt werden, auch und gerade dann, wenn das Mitglied seine Berufung in der gewohnten Umgebung von Alltag und Beruf lebt. Die erkennbare Entwicklung hin zu einer stärkeren Beachtung kommunitärer Strukturen wird insbesondere durch das jüngste der genannten Säkularinstitute deutlich. Das „Familienleben“ der Cruzadas de Santa María ist nicht mehr nur eine formale Notwendigkeit gemäß c. 716 CIC, sondern stellt darüber hinaus ein inneres Wesensmerkmal des Instituts dar. Als solches ist es im Sinne der Ansprache von Johannes Paul II. sowohl gelebter Ausdruck der Berufung des jeweiligen Mitgliedes und seiner communio-ekklesiologischen Einordnung als auch entscheidendes Hilfsmittel der geistlichen Vertiefung und Fruchtbarmachung der Berufung in der einen Sendung der Kirche. Diese Form der Lebensführung, die auffallend dem Impuls des päpstlichen Lehramtes entspricht, vermag vieles mit Blick auf den Dienst am Menschen der Welt zu bewirken: die gegenseitige familiäre Unterstützung im Auftrag der Berufung, die Förderung wahrer und beständiger Liebe, die Bewahrung vor Gefahren innerhalb der Isolation, die alltägliche Hilfestellung zum geistlichen Leben.

Die Lebensführung im Säkularinstitut gemäß c. 714 CIC

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c) Rückkehr zu kommunitären Ursprüngen Der Blick in die Geschichte der älteren Säkularinstitute vermag das Urteil zu legitimieren, dass in der spürbaren Rückbesinnung auf das gemeinschaftliche Leben innerhalb der Säkularinstitute eine Rückkehr zu den vielfach kommunitären Ursprüngen gesehen werden kann. Nicht selten sind die Säkularinstitute aus einer Gruppe von Frauen entstanden, die sich zusammenschlossen, um nach Ablegung der (zunächst privaten) Gelübde auf die evangelischen Räte ihrer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Die Entwicklung der Säkularinstitute hat sowohl die Weihe als auch die Welthaftigkeit als Wesenselemente pointiert herausgestellt, dabei jedoch das gemeinschaftliche Element als Kennzeichen jeder kirchlichen Existenz zum Teil vernachlässigt. Möglicherweise kann in der aufkommenden Neubewertung der vergangenen Jahrzehnte ein Ausgleich hin zu einem sinnvollen Gleichgewicht ausgemacht werden. 3. Ausblick „Es scheint, daß ein echtes Säkular-Institut arm sein soll in den Mitteln, diskret in seiner Aktion, leidenschaftlich in der Gottvereinigung und voll Eifer in dem Verlangen, daß Christus besser gekannt, mehr geliebt und überall verkündet werde“.92 Die Trias „Armut – Diskretion – leidenschaftlicher Eifer“ verwirklicht sich in den Säkularinstituten auf unterschiedliche Weise, je nach dem Zusammen von Charisma und rechtlicher Struktur. Man kann in einer beständigen Stärkung der formalen kommunitären Strukturen bzw. des institutseigenen und wesenhaften Familienlebens entscheidende Voraussetzungen dafür sehen, dass diese Trias sinnentsprechend gelebt werden kann. Die angezeigte Entwicklung wird dazu ihren Beitrag leisten.

92

Beyer, Berufung (Anm. 9), S. 75.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge in einer globalisierten Welt Von Gerlinde Katzinger Niemals in der Geschichte der Menschheit waren so viele Menschen1 von Migration betroffen wie heute. Zwar ist das Phänomen der Migration so alt wie die Menschheit selbst,2 allerdings geschehen die meisten Wohnsitzverlagerungen, wie die Migration umschrieben wird,3 heute unter veränderten Vorzeichen und stellen die Staaten und Gesellschaften vor immer komplexere politische, soziale, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Probleme: „… Il mondo è diventato piccolo, le frontiere tendono a cadere, lo spazio è ridimensionato, le distanze svaniscono, la vita fa sentire le proprie ripercussioni fin nelle zone più lontane: viviamo tutti in solo villagio.“, so umschrieb die Päpstliche Kommission für die Seelsorge am Menschen unterwegs in ihrem Rundschreiben an die

1

Nach Erhebungen der Vereinten Nationen gibt es auf der Welt ca. 175.119.000 Migranten, das entspricht ungefähr 2,9 % der Weltbevölkerung. Diese Zahl hat sich seit der Mitte der 70er Jahre verdoppelt. Die Zahl der Menschen, die sich jährlich auf den Weg in reichere Länder machen, wird mit 2,3 Millionen angegeben. Zu den Migranten kommen noch die Flüchtlinge hinzu, deren Zahl ca. mit 16 Millionen beziffert wird. Auch die Zahl der so genannten „Binnenvertriebenen“, das sind Menschen, die ihre Häuser verlassen müssen, aber nicht außer Landes gehen, ist gestiegen und liegt bei ca. 50 Millionen Menschen. Aufgeteilt auf die Kontinente leben in Europa ca. 56 Millionen Migranten, in Asien ca. 50 Millionen, in Nordamerika ca. 14 Millionen, in Mittel- und Lateinamerika sowie in Ozeanien ca. 6 Millionen und in Afrika ca. 16 Millionen Migranten. Vgl. www.scalabrini.org/ita/Messaggio%20Centenario%20Tedesco.htm (abgerufen am 09. 08. 2005). 2 „El fenómeno de la migración es tan antiguo como el hombre …“ Johannes Paul II., Allocutio ad migratores temporis elapsi et praesentis habita, in: AAS 80 (1988), S. 2005. 3

Migration vom lateinischen migrare – wegziehen bezeichnet eine längerfristige oder dauernde Wohnsitzverlagerung in eine andere Region oder in ein anderes Land. Erfasst sind sowohl freiwillige Migration als auch unfreiwillige Flucht aus Angst vor Verfolgung. Diese Abgrenzung ist im Einzelfall oft nicht eindeutig möglich. Erfolgt die Migration im Rahmen staatlicher Verträge oder völkerrechtlicher Abkommen, spricht man von Umsiedlung. Vgl. Georg Cremer, Art. Migration, in: LThK3 7, 1998, Sp. 248 f.

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Bischofskonferenzen „Chiesa et mobilità umana“4 1978 die Situation, mit der die Menschen unterwegs zurecht kommen müssen. Verschiedene Ursachen können für diese Entwicklung genannt werden: Kriege, Naturkatastrophen, Hunger, totalitäre Regime und Verfolgung haben die Menschen schon zu allen Zeiten zur Flucht gezwungen. Daneben gibt es aber auch eine Vielzahl anderer Motive, die Menschen veranlassen, aus ihrer gewohnten Umgebung wegzuziehen: die Bildung multinationaler Unternehmen, die ein starkes Ansteigen der beruflich bedingten Mobilität mit sich bringt, die wechselseitige Abhängigkeit der Staaten, besonders auf wirtschaftlichem Gebiet und die zunehmende Bedeutung des kulturellen Austausches, um nur einige Momente zu nennen.5 Aus der Unterschiedlichkeit der Ursachen wird deutlich, dass es sich beim Phänomen der Migration um ein sehr differenziertes und vielschichtiges Problem handelt, das eine Vielzahl von Fragestellungen aufweist. Die Kirche begreift die zunehmende Mobilität der Menschen als Aufgabe und Herausforderung und sieht sich verpflichtet, diesen Menschen seelsorglich beizustehen.6 Die pastorale Fürsorge der Kirche für diese Personen spiegelt sich in zahlreichen Initiativen wider, die in der Folge zur Errichtung von Dikasterien und zur Veröffentlichung von zahlreichen Dokumenten führten. I. Päpstlicher Rat der Seelsorge für die Migranten und „Menschen unterwegs“ 1. Ursprung und Geschichte Die „Pontificia Commissio de Spirituali Migratorum atque Itinerantium Cura“ wurde von Papst Paul VI. im Jahre 1970 gegründet7 und sollte sich intensiv dem Studium und der pastoralen Umsetzung der „Seelsorge am Menschen unterwegs“ widmen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Kompetenzen für die unterschiedlichen Bereiche menschlicher Migration auf verschiedene Dikaste-

4

AAS 70 (1978), S. 357 – 378, hier S. 360.

5

Chiesa e mobilità umana (CMu) 4.

6

Vgl. VatII CD 18: „Eine besondere Sorge werde den Gläubigen gewidmet, die wegen ihrer Lebensbedingungen die allgemeine ordentliche Hirtensorge der Pfarrer nicht genügend in Anspruch nehmen können oder sie vollständig entbehren. Dazu gehören zahlreiche Auswanderer, Vertriebene und Flüchtlinge, Seeleute und Luftfahrer, Nomaden und ähnliche Gruppen. …“ 7

MP „Apostolicae Caritatis“ vom 19. März 1970, in: AAS 62 (1970), S. 193 – 197.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

789

rien aufgeteilt.8 So lag bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hauptzuständigkeit für einschlägige Fragen bei der „Sacra Congregatio de Propaganda Fide“. Während in den früheren Jahrhunderten die Propagandakongregation nur indirekt mit Migrationsfragen befasst war, entwickelte sich diese spezielle Zuständigkeit vor allem im 19. Jahrhundert, als viele Europäer in anderen Kontinenten, die der Kongregation „Propaganda Fide“ unterstellt waren, eine neue Heimat suchten. Unter dem Einfluss des Bischofs von Piacenza, Giovanni Battista Scalabrini,9 richtete Papst Pius X. im Jahre 1912 ein eigenes „Büro für die spirituelle Sorge der Emigranten“ ein,10 das bei der Konsistorialkongregation, der Vorgängerin der heutigen Bischofskongregation angeschlossen wurde. In der Verantwortung dieses neuen Amtes lag es, alles Notwendige zu unternehmen, um die Bedingungen für eine Pastoral an den Migranten des lateinischen Ritus zu optimieren. Die Zuständigkeit für die Angelegenheiten der Angehörigen orientalischer Riten wurde dagegen ausdrücklich bei der Propagandakongregation belassen.11 Die Hauptaufgaben dieser Abteilung lagen vor allem in der Ausarbeitung von wissenschaftlichen Analysen und Studien und in der Ausübung der Aufsicht über emigrierende Priester, für die sie die letztentscheidende Ausreiseerlaubnis auszustellen hatte.12 Weiters hatte das Büro die Aufsicht über ein Priesterkolleg inne, das 1914 mit dem Ziel gegründet worden war, Priester für die Seelsorge an italienischen Auswanderern auszubilden.13

8 Vgl. dazu ausführlich Georg Holkenbrink, Die rechtlichen Strukturen für eine Migrantenpastoral. Eine rechtshistorische und rechtssystematische Untersuchung, Vatikan 1995, S. 131 ff. 9 Scalabrini (geb. 8. Juli 1839) ging als „Vater der Migranten“ und einer der Initiatoren der Migrantenseelsorge in die Geschichte ein. Zur Unterstützung von Auswanderern in den Häfen gründete er 1887 die Kongregation der Missionare vom heiligen Karl und 1895 die Schwesterngemeinschaft vom heiligen Karl. Seine Sorge galt vor allem den Massenauswanderungen, die im 19. Jahrhundert zum größten sozialen Problem Europas geworden waren. Scalabrini starb am 1. Juni 1905 und wurde am 9. November 1997 selig gesprochen. Vgl. Vera Schauber / Hans Michael Schindler, Bildlexikon der Heiligen, Seligen und Namenspatrone, München 1999, S. 644. 10

MP „Cum omnes“ vom 15. August 1912, in: AAS 4 (1912), S. 526 f.

11

Ebd.: „…salvo tamen iure Sacrae Congregationis Fidei Propagandae in emigrantes ritus orientalis, quibus eadem Congregatio pro suo instituto opportune consulat.“ 12

Vgl. Holkenbrink, Die rechtlichen Strukturen für eine Migrantenpastoral (Anm. 8), S. 145 – 148. 13

MP „Iam pridem“ vom 19. März 1914, in: AAS 6 (1914), S. 173 – 176. Zur Finanzierung der genannten Aktivitäten hatte das Büro für die spirituelle Sorge der Emigranten Anspruch auf eine eigene Kollekte, die einmal jährlich von den italienischen Bischöfen durchgeführt werden musste.

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Nach dem 2. Weltkrieg wurde von Papst Pius XII. der „Obere Rat für die Einwanderung“ bei der Konsistorialkongregation eingerichtet und eine Abteilung geschaffen, die sich dem Apostolat der Seeleute widmen sollte.14 Die technische Weiterentwicklung der modernen Beförderungsmittel und vor allem die wachsende Bedeutung des Flugverkehrs machten es notwendig, den seelsorglichen und spirituellen Bedürfnissen sowohl der im Flugverkehr Beschäftigten als auch der Passagiere Rechnung zu tragen. So wurde im Jahr 1958 bei der Konsistorialkongregation das Institut „Opera dell’ Apostolatus Coeli et Aeris“ geschaffen. Unter Papst Paul VI. kam im Jahr 1965 das „Internationale Sekretariat für die Leitung des Apostolates für die Nomaden“ dazu.15 Papst Paul VI. hat den Tourismus als „soziales Ereignis des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet.16 Die Anforderungen, die an die Mitarbeiter in der Tourismusseelsorge gestellt werden, sind vielfältig: seelsorgliche Begleitung der Arbeitnehmer im Tourismus unter besonderer Rücksicht auf ihre Arbeitszeiten, Spendung der Sakramente, kulturelle und katechetische Vermittlung christlicher Kunststätten, Angebote zur Einkehr und spirituellen Vertiefung etc. Zur Erarbeitung allgemeiner Richtlinien wurde 1967 an der Kleruskongregation ein Büro gegründet, das für die Belange aller Menschen, die in irgendeiner Weise vom Phänomen des Tourismus erfasst sind, zuständig sein sollte. Diese Zersplitterung der verschiedenen Kompetenzen erwies sich als ungünstig, weshalb mit dem MP „Apostolicae Caritatis“17 die verschiedenen Bereiche in einer Kommission zusammengefasst und der Kongregation für die Bischöfe unterstellt wurden. Mit der Kurienreform von Papst Johannes Paul II. wurden die Sekretariate und Kommissionen weitgehend zu Räten umgestaltet,18 die in der Verwaltungsstruktur den Kongregationen nachgebildet sind und kei-

14

Die Gründung dieser Räte erfolgte im Jahr 1952. Vgl. Note storiche, in: Annuario Pontificio 2005, S. 1850 f. 15

Als Nomaden gelten jene Personen, Familien und Gruppen, die ein Nomaden- oder Wanderleben führen. Die Gründe dafür können ethnisch bedingt sein (z. B. Sinti und Roma) oder auch sozialwirtschaftlich, das sind jene Personen, die im Zirkus oder in Vergnügungsparks arbeiten und nicht die Seelsorge einer Pfarrei nützen können. Den Sinti und Roma als einer ethnischen Minderheit, die sich hinsichtlich ihrer Sprache, Mentalität, Traditionen und Bräuche stark von den Völkern, unter denen sie leben und auch von den anderen Nomadenvölkern unterscheiden, kommt innerhalb des Apostolates für die Nomaden eine besondere Aufmerksamkeit zu. Vgl. Selbstbeschreibung des Päpstlichen Rates für die Migranten und „Menschen unterwegs“. 16

Osservatore Romano vom 17. September 1963.

17

Siehe FN 7.

18

Vgl. Art. 131 – 170 Pastor bonus.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

791

ne hoheitliche Verwaltungsvollmacht haben.19 Auch die frühere „Pontificia Commissio de Spirituali Migratorum atque Itinerantium“ wurde durch Pastor bonus20 in einen Rat mit der Bezeichnung „Pontificium consilium de spirituali migrantium atque itinerantium cura“ umgewandelt. Als Päpstlicher Rat untersteht die ehemalige Kommission nicht mehr der Bischofskongregation, sondern bildet ein selbständiges Dikasterium, das rechtlich den klassischen Kongregationen gleichgestellt ist.21 2. Kompetenzen Der Migrantenrat beschäftigt sich mit allen Erscheinungsformen menschlicher Mobilität, sein besonderes Interesse gilt aber den Flüchtlingen und Heimatlosen. Nach Art. 149 Pastor bonus hat sich der Rat vor allem derer anzunehmen, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen oder überhaupt heimatlos sind.22 Unter den Christen soll das Bewusstsein für die besonderen Nöte der Migranten und Flüchtlinge geweckt werden. Zusätzlich ist dem Rat die Auseinandersetzung mit allen Themen aufgetragen, die sich im Zusammenhang mit Migration ergeben. Ein wichtiges Anliegen ist es, in den Teilkirchen das nötige Verständnis für solche außergewöhnliche Lebenssituationen zu wecken und die Schaffung geeigneter pastoraler Strukturen für Flüchtlinge, Asylsuchende, Migranten, Nomaden und Schausteller zu fördern. Eigens erwähnt wird das Apostolat des Meeres, dessen oberste Leitung der Päpstliche Rat der Seelsorge für Migranten und „Menschen unterwegs“ ausübt sowie die Sorge für das Apostolat der zivilen Luftfahrt. Art. 150 macht deutlich, dass dem Dikasterium eine subsidiäre Funktion zukommt. Für die konkrete Ausgestaltung der Seelsorge in den Teilkirchen sind die jeweiligen Ortsordinarien zuständig, die auch mit den entsprechenden Vollmachten ausgestattet sind. Aufgabe der päpstlichen Behörde ist es, auf der Ebene der Weltkirche bewusstseinsbildend zu wirken und an die Bischofskonferenzen sowie die Verantwortlichen in den Diözesen und quasidiözesanen Teilkirchen Informationen und Erkenntnisse weiter-

19

Vgl. Francis Arinze, Neuordnung der Kurie, in: Osservatore Romano Nr. 37 vom 9. September 1988 (deutsche Ausgabe). 20

AAS 80 (1988), S. 841 – 912.

21

Pastor bonus 2, §§ 1, 2.

22

Vgl. Jean Beyer, Il pontificio consiglio della pastorale per i migranti e gli itineranti, in: Piero Bonnet / Carlo Gullo (Hrsg.), La curia romana nella Cost. Ap. „Pastor Bonus“ (= Studi Giuridici 21), Città del Vaticano 1990, S. 455 – 466, hier S. 459.

792

Gerlinde Katzinger

zugeben. Rechtsnormen darf der päpstliche Rat nur dann erlassen, wenn der Papst diese zuvor gebilligt hat.23 Nach Pastor bonus sind dem Rat die Sorge für die Bildung der Christen durch Wallfahrten, Studienreisen und ähnliche Unternehmungen anvertraut, sowie die Unterstützung der Teilkirchen im Apostolat für alle Gläubigen, die sich außerhalb ihres Wohnsitzes aufhalten.24 Eine weitere Zuständigkeit, die Pastor bonus allerdings nicht ausdrücklich nennt, ist die Aufsicht über die Ordensgemeinschaften, die zum Zweck der Migrantenseelsorge gegründet worden sind.25 Allerdings ist diese Kompetenz ausschließlich auf die Ausübung des Apostolates beschränkt. Fragen bezüglich des konkreten Ordenslebens fallen allein in die Zuständigkeit der Kongregation für die Institute des geweihten Lebens.26 Der Migrantenrat steht außerdem in ständigem Kontakt und pflegt eine enge Kooperation mit der Internationalen Katholischen Kommission für die Migration.27

23

Art. 18 Pastor bonus. Vgl. Holkenbrink, Die rechtlichen Strukturen für eine Migrantenpastoral (Anm. 8), S. 331. 24

Pastor bonus Art. 151.

25

Vgl. Nemo est 2 n. 16 § 5, in: AAS 61 (1969), S. 614 – 643, hier S. 622. Art. 22 § 2 n. 6 Rechtlich-pastorale Weisungen der Instruktion „Erga migrantes caritas Christi“ (EMCC), in: AAS 96 (2004), S. 762 – 822. – Deutsche Übersetzung: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Instruktion Erga migrantes caritas Christi (Die Liebe Christi zu den Migranten), Bonn 2004 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 165). Vgl. den detaillierten Aufgabenkatalog in Art. 22 § 2 der Rechtlichpastoralen Weisungen: Studium der eingesandten Berichte, Herausgabe von Instruktionen gemäß c. 34 CIC, Empfehlungen für die Entwicklung von Strukturen, Institutionen und Programmen (insbesondere in ökumenischer und interreligiöser Hinsicht), Förderung des Informationsaustausches zwischen den Bischofskonferenzen, insbesondere im Hinblick auf Versetzungen der Migrantenseelsorger, … 26 27

Holkenbrink, Die rechtlichen Strukturen für eine Migrantenpastoral (Anm. 8), S. 332.

Der ICMC (International Catholic Migration Commission) ist auf internationaler Ebene in der Flüchtlingsarbeit tätig. Ziele in der Arbeit des ICMC sind vor allem die Förderung der Rückkehr und Reintegration in die Herkunftsländer, die Integration vor Ort sowie die Umsiedlung in Drittländer. Sitz des ICMC ist in Genf. Vgl. www.icmc.net (abgerufen am 10. 08. 2005).

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

793

II. Von „Exsul familia“ bis „Erga migrantes caritas Christi“ – Entwicklung rechtlicher Strukturen für die Migrantenseelsorge 1. Die Migrantenpastoral in den päpstlichen Dokumenten bis zum CIC 1983 a) Exsul familia Die Apostolische Konstitution „Exsul familia“ (EF), von Papst Pius XII. am 1. August 195228 promulgiert, gilt als Magna Charta des Denkens der Kirche über die Migration und ist das Dokument, in dem erstmals in der Geschichte der Kirche Ansätze und Ausführungen zu einer Seelsorge für die Migranten in globaler und systematischer Weise erfasst und sowohl in historischer als auch in kanonistischer Hinsicht ausführlich dargestellt werden.29 Anlass für die Abfassung von Exsul familia war die Massenbewegung, die durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg ausgelöst worden

28

AAS 46 (1952), S. 649 – 704.

29

Erga migrantes caritas Christi (EMCC) Nr. 20.

Vorgeschichte von Exsul Familia: Als eine der frühesten einschlägigen Bestimmungen gilt c. 9 des 4. Laterankonzils 1215 (X 1,31,14), der im Hinblick auf die Einheit der römisch-lateinischen und der griechischen Kirche erlassen worden war und die seelsorgliche Betreuung von Gläubigen einer Diözese, die unterschiedlichen Sprachgruppen bzw. Riten angehören, regelte. C. 9 verpflichtete den Ortsbischof, für diese Sprach- bzw. Ritengruppen geeignete Seelsorger zu bestellen. Diese Norm führte zur Errichtung von Nationalpfarreien bzw. besonderen Personalpfarreien. Auf der Ebene der Diözese räumte c. 9 dem Bischof die Möglichkeit ein, einen Prälaten als seinen Vikar zu bestellen, der sich um die Besorgung der Seelsorge für die Gläubigen seiner Nation zu kümmern hatte. Vgl, Holkenbrink, Die rechtlichen Strukturen für eine Migrantenpastoral (Anm. 8), S. 99 ff. In Exsul familia II wird an die Orden, Hospize, Waisenhäuser und Bruderschaften erinnert, die sich in der Vergangenheit der Gefangenen, Verschleppten und Auswanderer angenommen haben. Mit dem MP „Cum omnes“ (Anm. 10) und mit der Gründung des römischen Priesterkollegs für römische Auswanderer zählt Papst Pius X. zu den geistigen Vätern in der Organisation der Auswandererseelsorge. Unter diesem Papst wurden die kirchlichen Normen zur Auswanderung, die ursprünglich nur für Italien Geltung hatten, in ihrem Wirkungsbereich auf die Gesamtkirche ausgedehnt. Der CIC 1917 enthält nur wenige einschlägige Bestimmungen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang c. 91 (Begriffsbestimmungen), cc. 94, 334 und 464 (Zuständigkeiten des Ortsordinarius und Ortspfarrers) und vor allem c. 216 § 4 (Sprach- und Nationalpfarreien für Minderheiten dürfen nur mit apostolischem Indult errichtet werden. Vgl. Motu proprio über die Wandererseelsorge. Instruktion der Bischofskongregation über die Seelsorge unter den Wandernden. Motu proprio über die Errichtung der Päpstlichen Kommission für Auswanderer- und Touristenseelsorge, S. 13 ff. (= Nachkonziliare Dokumentation 24 [1971]).

794

Gerlinde Katzinger

war. Die Konstitution gliedert sich in eine umfangreiche historische Analyse30 und einen normativen Teil. Dieser umfasst sechs Kapitel: 31 allgemein geltende Normen –

Die Zuständigkeit der heiligen Konsistorialkongregation für die Auswandernden



Der Delegat für die Werke der Auswanderung



Die Direktoren, Auswanderermissionare und Schiffskapläne



Die von den Ortsbischöfen für die Fremden auszuübende Seelsorge

und besondere Normen für Italien –

Die Seelsorgepflicht der Bischöfe Italiens für die Auswanderer



Das päpstliche Priester-Kolleg für die italienischen Auswanderer.

Der normative Teil von Exsul familia enthält die erste systematische Kodifikation des Kirchenrechts zum Phänomen der Auswanderung. Grentrup bezeichnet daher diese Apostolische Konstitution als „Codex emigrationis“.32 Hauptanliegen von Exsul familia ist es, Grundlagen für eine gut geordnete Seelsorge für die „Auswanderer“33 zu erstellen. Bei der Konsistorialkongrega30

Beginnend mit dem heiligen Ambrosius, der liturgische Geräte opferte, um Gefangene zu befreien, wird der Bogen über die Orden, die im Mittelalter in der Befreiung von Christensklaven tätig waren und das Sprachen- und Ritengesetz des 4. Laterankonzils in die neuere Zeit gespannt, wo vor allem die Fürsorge für die französischen Flüchtlinge während der Revolution und die Gründung der italienischen Nationalkirche, die auf die Initiative von Vinzenz Pallotti zurückging, hervorgehoben werden. Vgl. Exsul familia, Teil 1, I – III. 31

Übersetzung nach Theodor Grentrup, Die Apostolische Konstitution „Exsul familia“ zur Auswanderer- und Flüchtlingsfrage, München 1955. 32 33

Ebd., S. 131.

In Exsul familia werden (vor allem in den historischen Ausführungen) unter den Überbegriff „Emigration“ die unterschiedlichsten Formen menschlicher Mobilität subsumiert: Flüchtlinge, Vertriebene, Ausgewiesene, gewaltsam Verschleppte, zwangsweise Umgesiedelte, Insassen von Konzentrationslagern, genauso aber auch friedliche Pilger und Reisende, Personen, die aus wirtschaftlichen Gründen ins Ausland ziehen oder aus denselben Gründen innerhalb ihres Landes den Wohnsitz wechseln und Seefahrer. In cap. 1 n. 5 des normativen Teils werden folgende Personengruppen genannt: Auswanderer im engeren Sinn, Passagiere auf den transozeanischen Schiffen, das Schiffspersonal und die Angestellten in den Häfen. Während das staatliche Recht den Begriff „Emigration“ ausschließlich auf die Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland anwendete, war für die kirchliche Auffassung das Überschreiten von Staatsgrenzen kein notwendiges Erforder-

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

795

tion wurden ein Oberster Auswanderungsrat und ein Generalsekretariat zur Leitung des Apostolats des Meeres eingerichtet. Ein besonderes Anliegen war die Organisation der muttersprachlichen Seelsorge und der Schutz des nationalen Ritus.34 Zur Gewährleistung einer entsprechenden Seelsorge für die Auswanderer bedurfte es allgemeiner rechtlicher Voraussetzungen: Getrennt nach Zuständigkeitsbereichen wurden die Seelsorger in zwei Klassen eingeteilt: in die Auswanderermissionare auf dem Festland und in die Schiffskapläne auf den Ozeandampfern. Die Seelsorger wurden nach Nation bzw. Sprache zusammengefasst und einem Direktor unterstellt. Oberste Instanz blieb die Konsistorialkongregation, allerdings in enger Zusammenarbeit mit den Ortsbischöfen.35 b) Das Zweite Vatikanische Konzil Das Phänomen der Migration wurde bereits in den Vorbereitungskommissionen des Konzils, besonders in der Kommission für die Bischöfe und Diözesen, intensiv diskutiert. Unter der Überschrift „De animarum cura in particulari“ versuchten die Kommissionsmitglieder den Fragenkomplex rund um alle Erscheinungsformen menschlicher Mobilität stichwortartig aufzunehmen und darzustellen.36

nis. Auswanderung im kirchlichen Sinn meinte eine Bewegung von der Heimat in die Fremde, ohne dass notwendigerweise Staatsgrenzen überschritten werden mussten. Vgl. Grentrup, Die Apostolische Konstitution „Exsul familia“ (Anm. 31), S. 151 f. 34

Vgl. 2. Abschnitt, 1. Kapitel, Nr. 4: „Nur die Hl. Konsistorialkongregation vermag entsprechend dem Kanon 216 § 4 des Kirchlichen Gesetzbuches ein Apostolisches Indult zu gewähren, damit Pfarreien auf Grund der Verschiedenheit von Sprache oder Nation zugunsten der Ausgewanderten errichtet werden können.“ 35 36

Ebd., Nr. 5.

LThK, Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen, Bd. 3, Freiburg / Basel / Wien 1968, S. 681. Pars II, cap. 1 bis 5: cap. 1 De emigrantium cura: Aktualität des Problems, Sorge für das geistige und soziale Wohl dieser Personengruppe, Verurteilung aller politischen Systeme, die das Recht zur freien Emigration entweder einschränken oder Einzelpersonen oder Völker zwingen, ihre Heimat zu verlassen, Respekt vor dem Recht der Gläubigen auf den eigenen Ritus und die eigene Sprache in der Liturgie, Lob für die Emigrantenseelsorger, Beachtung der Vorschriften von Exsul familia, Ausbildung von Klerikern, Richtlinien für die Errichtung von Personalpfarreien oder -diözesen, für den Empfang des Bußsakramentes, das Sakrament der Ehe, die Flüchtlinge, Binnenwanderung, zeitweilige Auswanderung, soziale Betreuung durch katholische Organisationen. – Cap. 2 De maritimorum cura seu de Opere Apostolatu Maris: besondere Situation der Seeleute, Schiffs- und Hafenseelsorger. – Cap. 3 De aeronavigantium cura seu de Apostulatu coeli: Errichtung von Kapellen und Sorge für den Sonntagsgottesdienst in Zivilflughäfen, Beauftragung von Kaplänen oder anderen

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Bei der Lektüre dieses Schemas entsteht der Eindruck, dass in diesem frühen Stadium der Vorbereitung des Konzils eine tiefer gehende inhaltliche Auseinandersetzung noch nicht in Angriff genommen wurde und vermutlich auch noch nicht angegangen werden konnte. Unter den einzelnen Überschriften findet sich eine Aneinanderreihung von Schlagworten, die zum Teil unzusammenhängend nebeneinander stehen. Dieses Schema wurde dann auch im Laufe der Verhandlungen noch mehrmals umgearbeitet und fand in völlig veränderter Form Aufnahme in die Konzilsdokumente. Wegen der großen Vielschichtigkeit und der inhaltlichen Bandbreite der zur Diskussion stehenden Fragen und Probleme mussten sich die Konzilsväter damit begnügen, allgemeine Anweisungen und Leitlinien für diesen speziellen Bereich der Seelsorge vorzugeben, ohne auf Einzelheiten eingehen zu können. Das Phänomen der Migration hat vor allem in vier Konzilsdokumente Eingang gefunden: Gaudium et spes (VatII GS), Ad gentes (VatII AG), Christus Dominus (VatII CD) und Apostolicam actuositatem (VatII AA). Die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts sah sich stärker als jemals zuvor mit einem rasanten Wandel der Lebensbedingungen konfrontiert. Denk- und Lebensformen, die über Jahrhunderte Geltung hatten, wurden in kurzer Zeit als veraltet abgelöst. Neben der zunehmenden Industrialisierung, der Verstädterung, der Zunahme der Bedeutung der Massenmedien ist vor allem auch die Mobilität der Menschen als eine Ursache für diesen Prozess zu nennen.37 VatII GS 65 bekräftigt unter der Überschrift „Der Mensch Herr des wirtschaftlichen Fortschritts“ das persönliche Recht auf Emigration.38 Dieses Recht ist in der Pastoralkonstitution als Vorbehalt formuliert, um einem Missbrauch durch totalitäre Staaten, die ihren Staatsbürgern die Auswanderung verweigern, keinen Vorschub zu leisten. VatII GS 66 geht von einem Mobilitätsbegriff im wirtschaftswissenschaftlichen Sinn aus. Als solche ist sie für einen ökonomischen Fortschritt notwendig. Die Achtung vor der menschlichen Person gebiePriestern. – Cap. 4 De nomadum cura: Problem der seelsorglichen Betreuung von Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben, Ausbildung von Kaplänen und Errichtung von Seelsorgezentren an frequentierten Orten. – Cap. 5 De peregrinatorum seu turistarum cura: Vorteile und Gefahren des Tourismus, Initiativen sind mit den Bischöfen vor Ort abzustimmen, Priester sollten die Sprachen beherrschen und sorgfältig vorbereitet werden, die Touristen sollten auch außerhalb des Gottesdienstes der Kirche näher gebracht werden, besondere pastorale Aufmerksamkeit für das Personal in den Gaststätten. 37 38

VatII GS 6.

Vgl. Pacem in terris 25: „Jedem Menschen muss das Recht zugestanden werden, innerhalb der Grenzen seines Staates seinen Wohnsitz zu behalten oder zu ändern; ja, es muss ihm auch erlaubt sein, sofern gerechte Gründe dazu raten, in andere Staaten auszuwandern und dort seinen Wohnsitz aufzuschlagen.“

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

797

tet es, dem Mitmenschen mit Respekt zu begegnen und Bedacht auf seine Lebensgrundlagen zur Gestaltung einer menschenwürdigen Lebensweise zu nehmen. Das Konzil verbietet daher jede Form der Diskriminierung eingewanderter Arbeiter, die durch ihre Arbeitsleistung zum wirtschaftlichen Aufstieg beitragen.39 Unter den Personengruppen, denen nach dem Wort Jesu „Was ihr einem der Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“40 besonders die Nächstenliebe zu erweisen ist, nennt VatII GS 27 ausdrücklich die Fremdarbeiter,41 denen oftmals mit ungerechtfertigter Geringschätzung begegnet wird, und die Flüchtlinge. In diesem Zusammenhang muss auch das Dekret über das Apostolat der Laien Erwähnung finden, das die Laien eindringlich auffordert, ihre Mitarbeit nicht auf Pfarrei und Bistum zu beschränken, sondern sich angesichts der immer stärker werdenden Mobilität der Menschen und ganzer Völker mit ihren Fähigkeiten auf allen Ebenen der menschlichen Gesellschaft einzubringen.42 VatII GS 84 verpflichtet die Völkergemeinschaft und die internationalen Organisationen, die Leiden der Flüchtlinge in der ganzen Welt zu lindern und den Auswanderern und ihren Familien in ihrer besonderen Situation beizustehen. Den Pfarrern wird die Sorge für all jene Gläubige nachdrücklich aufgetragen, die wegen ihrer besonderen Lebensumstände von der ordentlichen Pfarr-

39

Vgl. Kommentar von Oswald von Nell-Breuning zu VatII GS 65 und 66, in: LThk², Das Zweite Vatikanische Konzil, Bd. 3, S. 494 ff. 40

Matt 25,40.

41

In der Übersetzung wird „alienigena operarius“, mit dem Ausdruck „Fremdarbeiter“ übersetzt, mit dem im Deutschen oftmals eine gewisse Verachtung verbunden wird. Auch im Kommentar wird dieser Terminus lediglich übernommen, ohne auf die Wortwahl näher einzugehen. Um die Verwendung der Begriffe Fremdarbeiter – Gastarbeiter sind immer wieder Diskussionen entbrannt. Puschmann schlägt in seinem Kommentar vor, von „ausländischen Arbeitnehmern“ zu sprechen, um solche Diskussionen zu vermeiden. Vgl. Motu proprio über die Wandererseelsorge. Instruktion der Bischofskongregation über die Seelsorge unter den Wandernden. Motu proprio über die Errichtung der Päpstlichen Kommission für Auswanderer- und Touristenseelsorge. Eingeleitet und kommentiert von Bernhard Puschmann, Trier 1971, S. 27. 42

Vgl. VatII AA 10: „…um den Bedürfnissen von Stadt und Land zu entsprechen, mögen sie ihre Mitarbeit nicht auf die engen Grenzen ihrer Pfarrei oder ihres Bistums beschränken, sondern sie auf den zwischenpfarrlichen, interdiözesanen, nationalen und internationalen Bereich auszudehnen bestrebt sein; dies um so mehr, als die von Tag zu Tag zunehmende Wanderung der Menschen und Völker, die Zunahme der gegenseitigen Verbundenheit und die Leichtigkeit des Nachrichtenaustausches nicht mehr zulassen, dass irgendein Teil der Gesellschaft in sich abgeschlossen weiterlebt. So sollen sie sich um die Nöte des über den ganzen Erdkreis verstreuten Volkes Gottes kümmern.“

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seelsorge nicht erreicht werden können.43 Genannt werden Migranten, Flüchtlinge, Seeleute und im Flugwesen beschäftigte Personen, aber auch Touristen. Die pastoralen Anliegen und Probleme dieser Personengruppen sind je nach Land so unterschiedlich akzentuiert, dass sich die Konzilsväter genötigt sahen, sich in Christus Dominus mit allgemeinen Anregungen zu begnügen und die konkrete Verantwortung den nationalen Bischofskonferenzen zu übertragen, die die geistliche Betreuung dieser Personengruppen mit tauglichen Mitteln und der Errichtung eigener Seelsorgseinrichtungen – aber unter Beachtung der Normen des Apostolischen Stuhls – fördern sollten. Beiläufig wird das Problem der Migration und ihrer Auswirkungen auf die Verkündigung im Missionsdekret „Ad gentes“ und im Dekret über das Apostolat der Laien „Apostolicam actuositatem“ gestreift. VatII AG 20 spricht vom bischöflichen Auftrag in der Verkündigung. Um seinem Dienst am Wort gut nachkommen zu können, muss der Bischof sich mit der Lebens- und Glaubenssituation seiner Gläubigen vertraut machen und alle Veränderungen registrieren, die unter anderem auch durch Migration ausgelöst werden.44 VatII AA 10 trägt allen Laien auf, am Apostolat der Kirche aktiv Anteil zu nehmen. Über die Mitarbeit in der konkreten Pfarrei hinaus sollen sie ihre Fähigkeiten im Dienst an der Diözese und in über- und interdiözesanen Bereichen einbringen, da bedingt durch die zunehmende Migration und die Verbesserung des Nachrichtenaustausches die Menschheit immer näher zusammenrückt und kein Volk mehr in sich abgeschlossen weiterleben kann und dadurch Probleme entstehen, die die Möglichkeiten einer einzelnen Pfarrei oder eines einzelnen Bistums weit übersteigen. c) Der Ertrag des Zweiten Vatikanischen Konzils – Nachkonziliare Dokumente zum Phänomen der Migration Als bedeutendstes nachkonziliares Dokument ist die Instruktion der Bischofskongregation „De pastorali migratorum cura – Nemo est“ (NE)45 anzusehen, in dem die Bestimmungen von Exsul Familia und einschlägiger Instruktionen der Konsistorialkongregation den konziliaren Neuerungen angepasst und systemati-

43

VatII CD 18.

Vgl. Anm. 6. 44

Vgl. Kommentar zu Art. 20, der diesem Umstand allergrößte Bedeutung zuerkennt. Kommentar von Suso Brechter, in: LThK2, Das Zweite Vatikanische Konzil, Bd. 3, S. 77. 45

AAS 61 (1969), S. 614 – 643. Nemo est wurde mit dem MP Pauls VI. ‚Pastoralis Migratorum Cura‘ vom 15. August 1969 promulgiert und ist mit 1. Oktober 1969 in Kraft getreten. Deutsche Übersetzung: Nachkonziliare Dokumentation 24 (1971), S. 62 – 141.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

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siert wurden und dessen Richtlinien zum größten Teil Eingang in den CIC 1983 fanden, was eine ausführliche Darstellung dieses Dokumentes rechtfertigt. Die besonderen Bedürfnisse von Migranten46 verlangen nach geeigneten Organisationsformen der Seelsorge, die den lokalen Gebräuchen und Gewohnheiten angepasst sein müssen. NE sieht verschiedene Organisationsformen der Migrantenseelsorge vor47 und nennt an erster Stelle48 die Personalpfarrei,49 deren Errichtung durch den Ortsordinarius50 von zwei Voraussetzungen abhängig gemacht wird: Es muss in einem Gebiet eine entsprechende Anzahl von Migranten derselben Sprache geben, die konstant bleibt. NE 33 enthält „Kann-Bestimmungen“, d. h. der Bischof ist bei Erfüllung der genannten Voraussetzungen nicht verpflichtet, eine solche Personalpfarrei zu errichten. Weitere Erfordernisse werden nicht vorgeschrieben, allerdings impliziert der Hinweis auf das MP „Ecclesiae Sanctae“, dass vor der Errichtung einer Personalpfarrei der Priesterrat gehört werden muss.51 Der Seelsorger, der mit einer Personalpfarrei betraut ist, besitzt die Vollmachten eines Pfarrers. Ihm kommen alle Rechte und Pflichten zu, wie sie nach den Vorschriften des universalen Kirchenrechts festgelegt sind.52 Die näheren Modalitäten der Errichtung werden in das Ermessen des Diözesanbischofs gestellt. NE 33 § 1 bildet eine Rahmenbestimmung und gewährleistet so die nötige Flexibilität, um der Situation vor Ort in ihren Besonderheiten gerecht werden zu können.

46 NE unterscheidet zwischen Einwanderer- und Auswandererseelsorgern (vgl. NE 33 und NE 35 ff). Hinsichtlich der rechtlichen Ausgestaltung dieses Amtes ist diese Unterscheidung unerheblich. 47

NE 33.

48

Aus der gewählten Reihenfolge lässt sich keine Präferenz für eine bestimmte Organisationsform erkennen. 49

„Ubi magnus est numerus migratorum eodem utentium sermone, qui illic vel stabiles incolunt vel continuo mutantur, opportuna potest esse paroeciae personalis erectio, ab Ordinario loci apte praefinienda.“ 50

Vgl. VatII CD 32; Ecclesiae Sanctae I, 21, § 3, in: AAS 58 (1966), S. 757 – 787.

51

Ebd., I, 21, § 3: „Pfarreien errichten oder aufheben oder sie in irgendeiner Weise verändern kann, nach Anhörung des Priesterrates, der Diözesanbischof aus eigener Machtvollkommenheit. Wenn jedoch in diesem Punkt Vereinbarungen zwischen dem Apostolischen Stuhl und einer Staatsregierung oder wohlerworbene Rechte physischer oder moralischer Personen bestehen, so soll die Angelegenheit von der zuständigen Autorität in geeigneter Weise mit diesen geregelt werden.“ 52

NE 38. Auch wenn ihm keine territoriale Jurisdiktion zukommt, hat er das Recht und die Befugnis, seinen Gläubigen in Todesgefahr das Sakrament der Firmung zu spenden.

800

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Nach der Personalpfarrei schlägt NE als weitere Möglichkeit der Organisation der Migrantenseelsorge die Errichtung einer so genannten „missio cum cura animarum“53 vor, die entweder völlig unabhängig sui iuris bestehen kann oder mit einer Territorialpfarrei verbunden ist.54 Diese Rechtsform geht von der Situation aus, dass es in einem Gebiet zwar viele Migranten mit der gleichen Sprache gibt, die sich dort aber noch nicht endgültig niedergelassen haben.55 In diesem Fall wird dem Bischof nicht die Errichtung einer Personalpfarre, sondern einer so genannten „Mission mit fester Seelsorge“ empfohlen. Für die Errichtung einer solchen „missio cum cura animarum“ wird in NE eine genaue territoriale Umschreibung verlangt. Die territoriale Umschreibung einer solchen Mission ist nicht an Pfarr- und Diözesangrenzen gebunden.56 Ebenso wenig ist die Errichtung einer Mission vom Vorhandensein einer eigenen Kirche oder Kapelle abhängig. Dem zuständigen Seelsorger soll jedoch – nach Möglichkeit – eine Kirche oder Kapelle zur Feier der Liturgie zugewiesen werden.57

53

NE 33 § 2: „Etiam missio cum cura animarum, cuius fines sunt recte circumscribendi, ab Episcopo erigi poterit iis praesertim locis, ubi nondum migratores stabiliter incolunt; huiusmodi missio ad peculiares hominum coetus pertinet, qui per cuiusvis temporis spatium, quavis de causa, ibidem commorantur.“ – § 3: „Pro rerum opportunitate missio cum cura animarum, intra unius paroeciae pluriumve etiam paroeciarum fines erecta, alicui paroeciae territoriali annecti potest, praesertim cum haec ab eiusdem religiosae Congregationis sodalibus, qui spiritualem migratorum curam agunt, regatur.“ 54

Die zweite Variante wird vor allem dann empfohlen, wenn die Territorialpfarrei vom selben Orden oder Institut seelsorglich betreut wird, dem auch die Seelsorge für die Mission anvertraut wird. Der Pfarrer einer Territorialpfarrei wird gleichzeitig Seelsorger einer Mission. Wenn diese über die Grenzen seines Pfarrgebietes hinausreicht – was in der Regel der Fall ist – kommen dem Pfarrer auch außerhalb seiner Pfarrei amtliche Vollmachten zu, aber nur für diese Personengruppe, die zur Mission gehört. Holkenbrink, Die rechtlichen Strukturen für eine Migrantenpastoral (Anm. 8), S. 202. 55

Holkenbrink unterscheidet hier die so genannten ‚incolae‘, das sind jene Migranten, die sich an einem Ort fest niedergelassen haben, mit der Absicht, dort zu bleiben, von den ‚advenae‘, die diese Absicht nicht haben. Als dritte Gruppe nennt er die ‚peregrini‘, bei denen von Anfang an feststeht, dass sie sich nur vorübergehend in einem bestimmten Gebiet aufhalten wollen. Vgl. Holkenbrink, Die rechtlichen Strukturen für eine Migrantenpastoral (Anm. 8), S. 200. 56

Bei der Errichtung einer interdiözesanen Mission müssen selbstverständlich beide Diözesanbischöfe zusammenwirken. 57

NE 34 § 1. Diese Kirche kann auch die Pfarrkirche sein.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

801

Der zuständige Seelsorger für eine solche Mission übt sein Amt mit potestas propria,58 potestas personalis59 und potestas cumulata60 aus. Ihm kommen folgende Rechte und Pflichten zu: –

Spendung der Firmung in Todesgefahr



Trauungsassistenz innerhalb des ihm anvertrauten Gebietes unter Beachtung der Vorschriften des Universalrechts61



die Erfüllung all jener Pflichten, die nach den Vorschriften des kirchlichen Rechts auch den Pfarrern auferlegt sind62 v. a. die Residenzpflicht und die Verpflichtung zur Führung der Bücher,63 nicht aber die Applikationspflicht, von der diese Seelsorger ausdrücklich befreit sind.64

Als wesentliche Neuerung von NE ist die Einführung des Amtes des Cappellanus65 oder Missionars, wie diese Rechtsfigur in cap. 33 § 466 bezeichnet wird, in das universale Kirchenrecht zu bewerten. Im Unterschied zur Personalpfarrei und zur „missio cum cura animarum“ kommt dem Cappellanus nach NE eine subsidiäre Funktion zu: Die Seelsorge für die Migranten soll nur dann einem Cappellanus anvertraut werden, wenn weder die Errichtung einer Personalpfar-

58

NE 39 § 1. Der Seelsorger erhält seine Vollmachten kraft des verliehenen Amtes und ist rechtlich dem Pfarrer gleichgestellt. 59

NE 39 § 2. Von der Amtsvollmacht des Missionars sind die ihm anvertrauten Migranten derselben Sprache erfasst. 60

NE 39 § 3. Durch die Vollmacht des Missionars wird die Vollmacht des Ortspfarrers in keiner Weise beschnitten. Es steht jedem Migranten frei, sich hinsichtlich des Empfangs der Sakramente entweder an den Ortspfarrer oder an den Missionsseelsorger zu wenden. 61

Vgl. c. 1097 CIC 1917.

62

Cc. 467 – 469 CIC 1917.

63

Am Jahresende muss dem Ortspfarrer eine authentische Abschrift der Bücher übermittelt werden. 64

NE 39 § 4. Vgl. c. 466. Damit unterscheidet sich der Seelsorger einer Mission mit fester Seelsorge vom Personalpfarrer, der zu den applikationspflichtigen Pfarrern gehört. Vgl. August Hagen, Pfarrei und Pfarrer nach dem Codex Iuris Canonici, Regensburg 1934, S. 208. 65

Im Aufsatz wird der Terminus „Cappellanus“ beibehalten, da die Übersetzung „Kaplan“ leicht mit zu Verwechslungen mit dem Kooperator bzw. Pfarrvikar führt. 66

„Quoties neque paroeciae personalis neque missionis cum cura animarum, sive sui iuris sive alicui paroeciae annexae, erectio opportuna esse videtur, tum spirituali migratorum curae consulatur per Cappellanum seu Missionalem eiusdem sermonis, territorio ad ministerium exercendum praefinito.“

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rei noch einer „missio cum cura animarum“ zweckmäßig erscheinen. Die Entscheidung darüber obliegt dem Ortsordinarius, ebenso die nähere Festlegung der Rechte und Pflichten des Cappellanus,67 allerdings unter Berücksichtigung der universalrechtlichen Bestimmungen. Hinsichtlich der Vollmachten, die einem Cappellanus zukommen, fällt bei der Lektüre des lateinischen Textes ein rechtssprachlicher Unterschied ins Auge: Während dem Seelsorger einer „missio cum cura animarum“ „potestas“68 zukommt, spricht NE beim Cappellanus von „facultas“,69 exakt von „facultates opportunae“. Nach Klaus Mörsdorf ist bei potestas von einem allgemeineren Begriff auszugehen, dem facultas in einer engeren Bedeutung gegenübersteht. Facultas bezeichnet eine obrigkeitliche Einzelbefugnis, die für einen oder mehrere Fälle gegeben wird, während mit potestas ein umfassenderer Machtbereich bezeichnet wird.70 Nach Holkenbrink ist bei der facultas des Cappellanus die Vollmacht, Beichte zu hören71 und die Predigterlaubnis72 angesprochen, nicht aber eine allgemeine Vollmacht zur Eheschließungsassistenz.73 Bevor die Rechtsfigur einer „missio cum cura animarum“ und das Amt des Cappellanus kirchenrechtlich umschrieben und in die Seelsorge eingeführt worden sind, sah der CIC 1917 neben der Möglichkeit, eine Personalpfarrei zu errichten, nur noch eine Variante vor, nämlich einem Pfarrer, in dessen Pfarrei eine größere Anzahl von Migranten beheimatet waren, einen so genannten „vicarius cooperator“ zur Seite zu stellen.74 Diese Möglichkeit wird auch in NE 33 § 5 erneut aufgegriffen. Die Instruktion geht dabei von dem Fall aus, dass an einem Ort eine größere Anzahl von Migranten derselben Sprache lebt, aber die Errichtung einer Personalpfarrei oder einer Mission mit fester Seelsorge für den Bischof aus welchem Grund auch immer nicht in Betracht kommt. Für diesen Fall sieht

67 Zweckmäßigerweise sollen die Ortsordinarien jene Vorrechte und Vollmachten, die sie gemäß Pastorale munus (AAS 56 [1964], S. 6 – 12) den Diözesanpriestern erteilen können, auch den Cappellani gewähren. NE 43 § 3. 68

NE 38, 39.

69

Ebd., 40 § 1.

70

Klaus Mörsdorf, Die Rechtssprache des Codex Iuris Canonici, Paderborn 1967, S. 99. Mörsdorf gibt zu bedenken, dass auch der Gesetzgeber diese Unterscheidung nicht konsequent durchhält und beide Begriffe zuweilen synonym gebraucht (z. B. cc. 66 § 3, 80, 2289 CIC 1917); Rudolf Köstler, Wörterbuch zum Codex Iuris Canonici, München 1927, S. 158. 71

Vgl. cc. 872, 878 § 1, 881 CIC 1917.

72

Vgl. cc. 1328, 1337 CIC 1917.

73

Holkenbrink, Die rechtlichen Strukturen für eine Migrantenpastoral (Anm. 8), S. 209 f.

74

Vgl. c. 476 CIC 1917.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

803

NE die Möglichkeit vor, den Migrantenseelsorger zum Vikar für die betreffende Pfarrei zu bestellen, allerdings im Vergleich zu c. 472 § 2 CIC 1917 in erweiterter Form: Während der Codex nur die Ernennung eines Vikars für eine Pfarrei vorsieht, kann diese nach NE auch für mehrere Pfarreien erfolgen. Als möglichen Vorteil einer solchen Lösung nennt die Literatur eine verbesserte Integration der Migranten in das Leben der Gemeinde, die durch die Anbindung des vicarius cooperator an eine Pfarrei erleichtert werden könnte. Auf der anderen Seite sind aber auch das Gefahrenpotential, das in der Abhängigkeit des Vikars vom Pfarrer liegen könnte und die Möglichkeit, dass die Integration der Migranten zu sehr erzwungen wird, realistisch abzuwägen.75 Ein großes Verdienst von Nemo est ist die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils. Das Konzil sieht die Seelsorge ausdrücklich als ein Handeln der ganzen Kirche, das nicht nur auf die Priester als Träger beschränkt ist. Während in Exsul familia die Mitarbeit von Laien in der Seelsorge überhaupt noch keine Rolle spielt, wird dieses Mitwirken in NE in einem eigenen Kapitel entfaltet und gewürdigt. Folgende seelsorgliche Wirkungsbereiche für Laien werden in der Instruktion angeführt: –

Unterstützung der Cappellani beim Herstellen von Kontakten zu den Migranten



Aktive Mitwirkung bei der Gestaltung und Feier der Gottesdienste



Verkündigung des Wortes Gottes, wo die Migranten in abgelegenen Gebieten wohnen oder keine Priester vorhanden sind.76

Umkehrt werden auch die Migranten aufgefordert, den Kontakt zur Ortskirche zu suchen. Durch das Konzil wurde eine pfarrliche und diözesane Räteund Gremienstruktur geschaffen. Die Migranten sind eingeladen, sich nach Möglichkeit in diesen Räten und Gremien einzubringen77 und durch ihre Mitarbeit zu bestätigen, dass ordentliche und außerordentliche Seelsorge zueinander nicht in einem Gegensatz und Konkurrenzverhältnis stehen sollen, sondern aufgerufen sind, sich gegenseitig zu ergänzen.

75

Vgl. Holkenbrink, Die rechtlichen Strukturen für eine Migrantenpastoral (Anm. 8), S. 214; Velasio de Paolis, Die Seelsorge für die Menschen unterwegs nach dem Motu Proprio „Pastoralis migratorum cura“ und nach der Instruktion „De pastorali migratorum cura“, Rom 1981, S. 71 f. 76

NE 58.

77

Ebd., 60.

804

Gerlinde Katzinger

Auf die Instruktion „De pastorali migratorum cura“ folgte im Jahr 1977 das Dekret „Apostolatus maris“78 und 1978 das Rundschreiben an die Bischofskonferenzen „Chiesa et mobilità umana“ (CMu),79 das von der „Päpstlichen Kommission für die Seelsorge am Menschen unterwegs“80 herausgegeben wurde. In CMu wird das Anliegen verfolgt, in der Tradition des Zweiten Vatikanischen Konzils und in der Fortsetzung von NE die Erscheinungsformen der Migration unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnisse darzustellen. CMu geht von folgenden Migrantengruppen aus: –

Emigranten im eigentlichen Sinn, welche in der Fremde neue Lebensgrundlagen suchen



Seeleute



Menschen im Flugwesen (Passagiere, Beschäftigte in der Luftfahrt, …)



Touristen (Vergnügungsreisende, Studienreisende, Wallfahrer).81

Nach einführenden Bemerkungen zur menschlichen Mobilität, die sich immer schneller entwickelt und es unmöglich macht, gegenüber anderen Rassen, Gesellschaften und Kulturen gleichgültig zu bleiben, werden die Gefahren und Problemfelder menschlicher Mobilität dargestellt: Entwurzelung aus der ursprünglichen Umgebung, Isolierung und Anonymität und besonders die Zerstörung der Verbindung von Kultur und Glaube werden als dramatisch beschrieben.82 Um dieser Situation gerecht werden zu können, müssen neue pastorale Modelle entwickelt werden. In der Organisation einer Migrantenpastoral wird in der Fortschreibung von NE weiterhin dem Cappellanus83 und auch dem ständigen Diakon eine tragende Rolle zugesprochen. Ein solcher Cappellanus soll in der Ortskirche gut eingegliedert sein. Seine Arbeit wird nur dann Früchte bringen, wenn er mit dem Diözesanklerus gleich berechtigt wird und eine 78

AAS 69 (1977), S. 737 – 746.

79

Vgl. Anm. 5.

80

Vgl. CMu 38.

81

CMu 2.

82

CMu 7. Vgl. Evangelii nuntiandi 20: „Der Bruch zwischen Evangelium und Kultur ist ohne Zweifel das Drama unserer Zeitepoche, wie es auch das anderer Epochen gewesen ist. Man muss somit alle Anstrengungen machen, um die Kultur, genauer die Kulturen auf mutige Weise zu evangelisieren. Sie müssen durch die Begegnung mit der Frohbotschaft von innen her erneuert werden. Diese Begegnung findet aber nicht statt, wenn die Frohbotschaft nicht verkündet wird.“ 83

Vgl. CMu 31, wo wegen der steigenden Bedeutung des Straßenverkehrs angeregt wird, eine neue Figur des Apostolats zu schaffen, einen so genannten „Cappellanus der Straße“.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

805

wechselseitige Zusammenarbeit zwischen dem Cappellanus und den Ortspfarrern aufgebaut werden kann. Besondere Würdigung erfährt das Engagement der Ordensfrauen.84 Menschen, die vom Phänomen der Migration betroffen sind, sehen sich häufig ungerechter Behandlung ausgesetzt. Ausgehend von der Würde der menschlichen Person sieht sich die Kirche als eine „Expertin der Menschlichkeit“ und verpflichtet, die fundamentalen Menschenrechte zu verkünden und ihre Stimme zu erheben, wenn diese verletzt werden.85 Elementare Bedeutung wird von den Autoren des Rundschreibens der Vorbereitung der Gläubigen auf den Umgang mit Migration und menschlicher Mobilität zugesprochen. In Katechese, Predigt und pastoraler Unterweisung muss ein Bewusstsein für die religiösen Verpflichtungen der Christen geschaffen werden. Das verlangt von den Klerikern eine solide und beständige Ausund Weiterbildung, die ihre Wurzeln in der Ausbildung in den Seminaren hat. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Mobilität sind eine Einladung an die Kirche, ihre eigene Identität und Berufung zu verwirklichen. Das Dokument unterstreicht besonders die Bedeutung der Laien und Ordenschristen für eine gelingende Migrantenpastoral. Die Sendung der Laien gründet nach der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils in der gemeinsamen priesterlichen, prophetischen und königlichen Würde der Mitglieder des Volkes Gottes.86 Sie sollen durch ihr Leben und ihre Arbeit Zeugen der Hoffnung sein. Besondere Bedeutung kommt ihnen dort zu, wo die Gläubigen in Isolation und Diaspora leben müssen. Besondere Beachtung verdient das Dokument „Pro Materna“, das von der „Päpstlichen Kommission für die Seelsorge am Menschen unterwegs“ mit Datum 19. März 1982 herausgegeben wurde.87 In diesem Dokument werden die 84

Genannt werden die klassischen Seelsorgsfelder, in denen Frauenorden tätig sind: Kinder, alte Menschen, Kranke und Einsame. Vgl. CMu 37. 85

In CMu 17 werden folgende Rechte aufgezählt: Das Recht, sich frei im eigenen Land aufzuhalten, ein Vaterland zu haben, die Freiheit, sich innerhalb und außerhalb eines Landes zu bewegen und sich aus legitimen Motiven niederzulassen, mit der eigenen Familie zusammen leben zu können, über die notwendigen Lebensgrundlagen zu verfügen, das Recht der Menschen, eine eigene ethnische, kulturelle und sprachliche Identität zu entwickeln, öffentlich die eigene Religion zu bekennen und dass unter allen Umständen die Würde der menschlichen Person respektiert wird. 86 87

Vgl. Lumen gentium 31 – 38; Evangelii nuntiandi 70; CMu 30.

AAS 74 (1982), S. 742 – 745. Deutsche Übersetzung in: Kirchliches Amtsblatt für das Bistum Trier 6 (1983), S. 67 – 69.

806

Gerlinde Katzinger

Erfahrungen, die Seelsorger und Missionare der Emigranten und des „Apostulatus Maris“ mit den ihnen vom kirchlichen Recht her zugestandenen Vollmachten bisher sammeln konnten, aufgearbeitet und in einem neuen Verzeichnis alle Vollmachten und Vorrechte, die Seelsorgern und Gläubigen aller Sektoren der menschlichen Mobilität zuerkannt werden, zusammengestellt. Pro materna will Mängel in der seelsorglichen Betreuung von Menschen beseitigen, die vom Phänomen der Mobilität betroffen sind und umreißt ein genaues Profil des Seelsorgers: –

ein Seelsorger, der „ordnungsgemäß berechtigt“, d. h. vom Ortsbischof ernannt wird. Das Arbeitsfeld und die Grenzen des seelsorglichen Amtes werden vom Diözesanbischof bestimmt



in Ausübung der Seelsorge



während der Dauer seines Auftrages



unter Beachtung der entsprechenden kirchenrechtlichen Vorschriften. Relevant sind nicht nur die liturgischen, sondern selbstverständlich auch alle sakramentenrechtlichen Voraussetzungen. Ausdrücklich wird festgehalten, dass der Bischof der maßgebliche Verantwortliche des seelsorglichen Amtes ist und – besonders im Hinblick auf das Sakrament der Firmung – der eigentliche Firmspender bleibt.



Der Gebrauch dieser Vollmachten ist immer an die Erlaubnis des Bischofs gebunden.88

Die Vollmachten für Seelsorger, die mit der pastoralen Betreuung von Emigranten, Seeleuten, Schiffsreisenden, Nomaden, Zirkusleuten, Schaustellern, Personen, die mit dem Flugwesen in Berührung kommen, Touristen und Pilgern89 beauftragt sind,90 und die korrelierenden Privilegien der Gläubigen91 lassen deut-

88

Vgl. Hinweise zu „Pro materna“ in der deutschen Übersetzung.

89

Vgl. CMu 2.

90

Pro materna nennt im Detail folgende Vollmachten: – Feier der Eucharistie an Werktagen zweimal und an Sonn- und gebotenen Feiertagen dreimal, wenn ein berechtigter Grund vorliegt und die Seelsorge es verlangt. – Am Gründonnerstag kann am Abend eine zweite heilige Messe gefeiert werden und im Notfall auch in den Morgenstunden; dies ist aber nur für jene Gläubigen erlaubt, die tatsächlich verhindert sind, die Abendmesse mitzufeiern. – Statt Kerzen dürfen elektrische Lampen benutzt werden, wenn das Kerzenlicht verboten oder keine Kerzen vorhanden sind.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

807

lich das Bemühen und die notwendige Flexibilität erkennen, den besonderen Umständen, mit denen sowohl Gläubige als auch Seelsorger „unterwegs“ konfrontiert werden, zu begegnen. 2. Die Migrantenseelsorge in den Bestimmungen des geltenden lateinischen Kirchenrechts Die Normen zur Migrantenseelsorge in den beiden kirchlichen Gesetzbüchern basieren zu einem großen Teil auf den Richtlinien, die in NE enthalten sind. Der CIC 1983 verpflichtet die Pfarrer in c. 529 § 1 zu besonderer Aufmerksamkeit gegenüber „den aus ihrer Heimat Verbannten“. Dieser Bereich der –

Pro materna gestattet die Aufbewahrung der Eucharistie auf Schiffen oder in Wohnwägen. Die Aufbewahrung muss an einem sicheren und würdigen Ort erfolgen und die Vorschriften beachten, die das Ewige Licht betreffen. – Die Beichte darf an jedem beliebigen Ort gehört werden. – Zensuren „latae sententiae“, die nicht dem Apostolischen Stuhl reserviert sind, können in der Beichte absolviert werden, unter Beachtung der entsprechenden Vorschriften des Kirchenrechts. – Die Seelsorger dürfen ihren Gläubigen (bei rechter Disposition und nach entsprechender Vorbereitung) und Pilgern, die sich in Lebensgefahr befinden, das Sakrament der Firmung spenden. 91 Den Gläubigen gestattet „Pro materna“ folgende Privilegien: – Die Seeleute und das Flughafenpersonal sowie die Passagiere auf Schiffen oder in Flugzeugen sind vom Fasten- und Abstinenzgebot gemäß der Apostolischen Konstitution „Paenitemini“ dispensiert. Nach Möglichkeit soll das Fasten- und Abstinenzgebot aber wenigstens am Karfreitag beachtet werden bzw. diese Verpflichtung durch einen Liebesdienst zu ersetzen. – Die gleichen Dispensen gelten für Zirkusleute, Schausteller und Nomaden. – Für Schiffspassagiere besteht die Möglichkeit, am Festtag des Patrons der Kapelle und am 2. August unter den üblichen Bedingungen (Beichte, Kommunionempfang, Gebet auf Meinung des Heiligen Vaters) einen vollkommenen Ablass zu gewinnen. Am 2. November kann dieser Ablass zum Heil der armen Seelen gewonnen werden. – Unter denselben Bedingungen kann dieser Ablass von Seeleuten, ihren Familienangehörigen, Mitarbeitern des „Apostolatus Maris“ in den Gebetsstätten der „Stella-Maris“-Zentren und in anderen Gebetsstätten des „Apostolates des Meeres“ gewonnen werden; ebenso von Angestellten auf Flughäfen, ihren Familien und Flugreisenden am 10. Dezember, am 2. November und am Fest des Patrons der Flughafenkapelle. – Die heilige Eucharistie, die rechtmäßig auf Schiffen und in Wohnwägen aufbewahrt wird, darf, wenn der ordentliche Spender nicht anwesend ist, vom bevollmächtigten außerordentlichen Spender unter Beachtung der entsprechenden kanonischen Vorschriften ausgeteilt werden.

808

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Hirtensorge ist Teil der caritativen Diakonie, die neben der Verkündigung des Wortes und der Feier der Sakramente unverzichtbarer Bestandteil der Pfarrseelsorge ist.92 a) Möglichkeiten der „ordentlichen“ Pfarrseelsorge Im Rahmen der Organisation der ordentlichen Pfarrseelsorge93 finden sich im CIC zwei Organisationsformen, die innerhalb der pfarrlichen Strukturen ein großes Potential für den Aufbau einer Migrantenpastoral aufweisen: C. 517 § 1 CIC führt mit dem so genannten „Teampfarramt“ eine ganz neue Leitungsform in das Kirchenrecht ein: Wo die Umstände es verlangen, können eine oder mehrere Pfarreien einer Priestergruppe übertragen werden, wobei einer aus dieser Gruppe zum Moderator bestellt werden muss.94 Diese Rechtsfigur enthält viele reizvolle pastorale Möglichkeiten. Im konkreten Zusammenhang mit der Migrantenpastoral ist der Einsatz dieses Teampfarramtes, vor allem wenn fremdsprachige Priester zur Mitarbeit gewonnen werden können, in Städten mit einem hohen Migrantenanteil interessant. Holkenbrink erkennt in dieser Lösung folgende Vorteile: –

Die Migrantenseelsorge kann innerhalb der Wohnsitz-Pfarrei geschehen und damit zu einer besseren Integration beitragen.

92

Vgl. Hans Paarhammer, c. 529, in: MK CIC

93

Im CIC wird zwar nicht ausdrücklich zwischen ordentlicher und außerordentlicher Seelsorge unterschieden. Vgl. aber c. 568 CIC 1983, der offensichtlich von einer solchen Unterscheidung ausgeht. Heribert Schmitz bestimmt die ordentliche Seelsorge als die pfarrliche bzw. gemeindebezogene Seelsorge, während die außerordentliche Seelsorge (spezielle, funktionale oder kategoriale) Zielgruppen in besonderen Lebensumständen erfasst. Heribert Schmitz, Officium animarum curam secumferens. Zum Begriff des seelsorgerischen Amtes, in: André Gabriels / Heinrich J. F. Reinhardt, Ministerium Iustitiae. Festschrift für Heribert Heinemann zur Vollendung des 60. Geburtstages, Essen 1985, S. 127 – 137, hier S. 133. 94

Im Detail siehe: René Löffler, Gemeindeleitung durch ein Priesterteam. Interpretation des can. 517 § 1 CIC/1983 unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Rechtslage, Essen 2001; Hans Paarhammer, c. 517, in: MK CIC; Hans Paarhammer / Gerhard Fahrnberger, Pfarrei und Pfarrer im neuen CIC. Rechtliche Ordnung der Seelsorge, der Verkündigung des Wortes Gottes und der Feier der Sakramente in der Christengemeinde, Wien 1983.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge



809

Der Migrantenseelsorger hat dieselben Vollmachten wie seine „MitPfarrer“, Parallelstrukturen werden vermieden.95

Neben dem Teampfarramt existiert im CIC ein weiteres Amt, das Möglichkeiten für die Gestaltung einer guten Migrantenpastoral enthält: In der Fortsetzung von c. 476 CIC 1917 und NE 33 § 5 beschreibt c. 545 CIC 1983 den „vicarius paroecialis“, als einen Priester, der einem Pfarrer als Mitarbeiter, aber unter seiner Autorität in der pfarrlichen Seelsorge zur Seite gestellt ist. Das Universalrecht legt das konkrete Tätigkeitsfeld eines solchen Pfarrvikars nicht näher fest;96 nach NE wird die Ernennung eines solchen Vikars als Möglichkeit vorgeschlagen, wenn es in einer oder in mehreren benachbarten Pfarreien eine ausreichende Anzahl von Migranten gibt. Der Einsatzbereich eines Pfarrvikars bietet nach c. 545 § 2 sehr flexible Einsatzmöglichkeiten: –

ein Pfarrvikar kann entweder für eine einzige Gemeinde bestellt werden oder in mehreren Gemeinden eingesetzt werden,



sein Seelsorgeauftrag umfasst entweder alle Gläubigen der Pfarrei oder kann auf eine bestimmte Personengruppe beschränkt werden, z. B. die in einer Pfarrei wohnhaften Migranten,



der Pfarrvikar kann den Pfarrer bei der Gesamtheit seiner Aufgaben unterstützen oder mit einem kategorialen Bereich der Seelsorge betraut werden.97 b) Möglichkeiten der „außerordentlichen“ Pfarrseelsorge

Zusätzlich zu den Möglichkeiten innerhalb der ordentlichen Seelsorge bietet das kirchliche Recht spezifische Strukturen, die ausdrücklich auf Wahrnehmung der Migrantenpastoral zugeschnitten sind. Neben der Errichtung von Personalpfarreien ist hier an die Ernennung von Bischofsvikaren und v. a. an die Bestellung eines Cappellanus zu denken. Die „missio cum cura animarum“ wird im CIC und auch im CCEO nicht mehr erwähnt.

95

Holkenbrink, Die rechtlichen Strukturen für eine Migrantenpastoral (Anm. 8), S. 294 f. 96

Vgl. c. 545 § 1: „Quoties ad pastoralem paroeciae curam debite adimplendam necesse aut opportunum sit…“ 97

Vgl. Hans Paarhammer, c. 545, in: MK CIC.

810

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aa) Die Personalpfarrei Das geltende Recht nimmt gegenüber der Errichtung von Personalpfarreien eine offenere Position ein: Im Gegensatz zu c. 216 § 4 CIC 1917, wo die Gründung einer Personalpfarrei von einem Apostolischen Indult abhängig war, kennt c. 518 CIC 1983 keine Einschränkung der bischöflichen Vollmacht zur Errichtung, Veränderung oder Aufhebung von personal umschriebenen Pfarreien mehr. Nach dem Willen des Gesetzgebers kann der Bischof kraft eigener Autorität Pfarren errichten, aufheben oder verändern, nachdem er den Priesterrat angehört hat.98 Die Errichtung von Personalpfarreien kann aus pastoralen Erwägungen geboten sein. Das Gesetz nennt drei kanonische Gründe, die aber weitere Möglichkeiten zulassen: Ritus, Sprache, Nationalität. Dem Personalpfarrer kommen die gleichen Rechte, Pflichten und Vollmachten wie jedem anderen Pfarrer zu. Den Gläubigen einer Personalpfarrei steht es frei, ob sie sich an ihren Personalpfarrer oder an den Pfarrer der Territorialpfarrei, in der sie ihren Wohnsitz oder Nebenwohnsitz haben, wenden.99 Solche Personalpfarreien, die gemäß c. 518 errichtet wurden, bilden einen integrierenden Bestandteil der Diözese. Die Personalpfarrer sind Mitglieder des diözesanen Presbyteriums des lateinischen Bischofs, auch wenn sie einem anderen Ritus angehören. Der Bischof des lateinischen Ritus ist gehalten, bevor er Personalpfarreien errichtet, sowohl mit der Kongregation für die Orientalischen Kirchen als auch mit der zuständigen Hierarchie, besonders mit dem Patriarchen in Dialog zu treten.100 bb) Ernennung eines Bischofsvikars Das Recht trägt dem Diözesanbischof in der Ausübung seiner Hirtensorge eine ausdrückliche Verantwortung für Menschen in besonderen Lebenssituationen auf.101 Dieser Verantwortung wird er durch die Schaffung geeigneter Strukturen, wie sie das Recht innerhalb der Diözese vorsieht, gerecht werden. Das Amt des Bischofsvikars, wie es vom Zweiten Vatikanum neu geschaffen und ins Recht eingeführt wurde,102 kann gewinnbringend in der Organisati98

C. 515 § 2.

99

C. 518 i.V.m. c. 107.

100

EMCC 55.

101

C. 383.

102

VatII CD 23, 27.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

811

on der Migrantenseelsorge zur Geltung kommen. In der Fortsetzung von VatII CD 27 werden in c. 476 drei Zuständigkeitsbereiche eines Bischofsvikars unterschieden: Der Diözesanbischof kann Bischofsvikare für ein bestimmtes Gebiet seiner Diözese, für einen näher umschriebenen Geschäftsbereich oder für die Gläubigen eines bestimmten Ritus oder eines bestimmten Personenkreises bestellen und mit den erforderlichen Vollmachten ausstatten.103 Als Angehörige eines solchen bestimmten Personenkreises können – besonders in Gebieten mit mehreren Amtssprachen – in Betracht kommen: ausländische Katholiken, Migranten, Nomaden, Seeleute, Touristen, … Für die Wahrnehmung der Seelsorge an diesen Personengruppen ist im Recht zwar das Amt des Cappellanus vorgesehen, was aber die Ernennung eines Bischofsvikars nicht ausschließt. Eine solche Bestellung wird sich vor allem dann nahe legen, wenn wegen der besonderen personalen Situation einer Diözese mehrere Cappellani benötigt werden, deren Tätigkeit durch einen Bischofsvikar koordiniert werden könnte.104 cc) Der Cappellanus Dieses Amt wurde vor allem in den Dokumenten NE und Pro materna bereits kanonistisch aufbereitet und hat ebenfalls in den Codex Eingang gefunden. Nach c. 568 sollen für diejenigen, die aufgrund besonderer Umstände die ordentliche Pfarrseelsorge nicht in Anspruch nehmen können, wie z. B. Auswanderer, Vertriebene, Flüchtlinge, Nomaden und Seeleute, nach Möglichkeit Cappellani ernannt werden. C. 568 greift in kompakter Form auf, was schon in VatII CD 18 zum Phänomen der Migration festgestellt wurde. In c. 564 findet sich eine Definition des Cappellanus, die folgende Elemente enthält: Ein Cappellanus ist ein Priester,105 dem auf Dauer ein Seelsorgsauftrag für einen besonderen Kreis von Gläubigen zumindest teilweise anvertraut wird. Diesem Auftrag muss er nach Maßgabe des Universal- und Partikularrechts nachkommen. Die einschlägigen Normen enthalten nur ganz allgemeine Vorgaben. Es ist überwiegend in die Kompetenz des partikularrechtlichen Gesetzgebers gestellt, detaillierte Vorschriften, die die konkrete Situation vor Ort berücksichtigen können, zu erlassen. Nach dem Willen des Gesetzgebers werden Cappellani vom Ortsordinarius ernannt. Ausnahmen von dieser Regel können sich durch wohlerworbene Rech-

103

C. 479 § 2.

104

Georg Bier, c. 476, in: MK CIC.

105

C. 564 spricht vom „sacerdos“, d. h. ein Diakon kann nicht zum Cappellanus ernannt werden.

812

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te oder abweichendes Gewohnheitsrecht ergeben.106 Zur Erfüllung seiner pastoralen Aufgaben muss der Cappellanus mit entsprechenden Vollmachten ausgestattet werden, die aus drei verschiedenen Titeln kommen können: aus dem Universalrecht, aus dem Partikularrecht oder durch spezielle Delegation. Auf der Grundlage des Universalrechts kommen dem Cappellanus folgende Vollmachten zu:107 –

Beichtvollmacht für die ihm anvertrauten Gläubigen



Verkündigung des Wortes Gottes und Predigtvollmacht



Vollmacht zur Spendung der Wegzehrung und Krankensalbung



Spendung des Sakraments der Firmung in Todesgefahr.108

Die genannten Vollmachten gehören zur „Minimalausstattung“ eines Cappellanus und kommen ihm von Amts wegen zu. Die Ausstattung mit weiteren Vollmachten kann durch partikularrechtliche Bestimmungen und vor allem aufgrund spezieller Delegation erfolgen. Dies gilt besonders für die Vollmacht, einer Eheschließung zu assistieren.109 C. 566 § 1 spricht von spezieller Delegation, füllt diesen Begriff aber mit einer anderen Bedeutung als c. 1111 § 2. Die spezielle Delegation beim Cappellanus bezeichnet nicht das Gegenstück zur generellen Delegation, sondern meint die Zuweisung von Vollmachten über gesetzliche Bestimmungen hinaus. Es hängt vom Ortsordinarius bzw. vom Pfarrer des Ortes ab, in dem der Cappellanus wirkt, welche konkreten Rechte und Pflichten ihm zukommen. Von Rechts wegen wird den Cappellani ausdrücklich die Vollmacht verliehen, in Krankenhäusern, Gefängnissen und auf Schiffen von Zensuren „latae sententiae“, sofern diese nicht reserviert sind und nicht festgestellt wurden zu absolvieren.110 Im Unterschied zu c. 1357 kann nach c. 566 § 2 diese Absolution auch außerhalb der Beichte gewährt werden. Bei Gläubigen, die in Todesgefahr geraten, kommen dem Cappellanus wie jedem anderen Priester alle not106

Vgl. Hans Paarhammer, c. 565, in: MK CIC.

107

C. 566 in Verbindung mit einschlägigen Normen (cc. 764, 1003 § 1, 911 § 1, 883 n. 3).

108

Diese Vollmacht ist durch das MP „Stella Maris vom 31. Jänner 1997 auf alle Gläubigen ausgedehnt worden, wenn sich auf dem Schiff kein Bischof befindet. AAS 89 (1997), S. 209 – 216. 109 Vgl. Art. 8 § 3 Stella Maris: Die Delegation ist vom gem. c. 115 zuständigen Ortsordinarius bzw. Ortspfarrers eines der beiden Partner einzuholen, bei Wohnsitzlosen vom Ortspfarrer des Hafens, wo sich einer der beiden Partner eingeschifft hat. 110

Hans Paarhammer, c. 566, in: MK CIC.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

813

wendigen Vollmachten zur Lossprechung von allen Sünden und von jeder Kirchenstrafe zu.111 3. Das Apostolische Schreiben „Erga migrantes caritas Christi“ – Kanonistische Anmerkungen Mit dem Apostolischen Schreiben „Erga migrantes caritas Christi“ (EMCC), das am 3. Mai 2004 vom Päpstlichen Rat der Seelsorge für die Migranten und „Menschen unterwegs“ herausgegeben wurde, soll die Migrantenseelsorge der aktuellen Situation angepasst werden. Anliegen von EMCC ist es, 35 Jahre nach dem Erscheinen von NE, Lösungen zur Befriedigung der neuen pastoralen Bedürfnisse von Migranten anzubieten. Ein ausdrückliches Ziel dieses Dokumentes ist es, Hilfestellung zu einer sorgfältigen Anwendung der in den kirchlichen Gesetzbüchern vorgegebenen Rechtsordnung zu geben,112 wobei besonderes Gewicht auf das Recht der katholischen Ostkirchen gelegt wird, sowie auf die Förderung der Ökumene und des interreligiösen Dialogs. In der Vorstellung des Apostolischen Schreibens113 werden die Migrantenströme als ein Phänomen charakterisiert, das aus „sozialer, kultureller, politischer, religiöser, wirtschaftlicher und pastoraler Sicht ein immer komplexeres Problem“ darstellt. Es fällt auf und verwundert, dass in einem Dokument, das die rechtliche Entwicklung einer Migrantenseelsorge darstellen will und schließlich auch in ausführlichen rechtlich-pastoralen Weisungen mündet, an dieser Stelle nicht auf die rechtliche Dichte dieses Problems verwiesen wird, obwohl in der heutigen rechtlichen Wirklichkeit Fragen der Menschenrechte, des Asyl-, Arbeits- und Sozialrechts etc. zu den brennendsten gehören. EMCC ist wie folgt aufgebaut: In der Einleitung wird die Migration in ihrer aktuellen Erscheinungsform analysiert. Es gibt in der Gegenwart kaum mehr ein Land, das nicht in irgendeiner Form mit der Migration in Kontakt kommt, sei es durch internationale oder innerstaatliche Migration.114 Das Apostolische Schreiben betont das Recht zur Migration zur besseren Verwirklichung der eigenen Fähigkeiten und Lebensplanung des Einzelnen und beklagt die wirtschaftlichen, sozialen und demografischen Ungleichgewichte, den übertriebenen Nationalis-

111

C. 976.

112

EMCC 3.

113

Ebd.

114

Vgl. EMCC 1, 4 – 11. Auch in diesem Abschnitt bleibt die rechtliche Dimension der Migration unerwähnt, angeführt wird die gesellschaftliche, ökonomische, politische und religiöse Konfrontation.

814

Gerlinde Katzinger

mus, politische, ethnische und religiöse Konflikte, die häufig ursächlich für die Migrantenströme sind, sowie den Menschenhandel, der eine neue Form der Sklaverei ist und zu den beschämendsten Tatsachen unserer Zeit gehört. Jeder Migrant besitzt unveräußerliche Grundrechte, die in jedem Fall respektiert werden müssen. Zum besseren Schutz dieser Rechte hat Papst Johannes Paul II. die Ratifizierung der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, die am 1. Juli 2003 in Kraft getreten ist, offiziell empfohlen.115 Diese Aufforderung wurde in jüngster Zeit erneut von der bischöflichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden „Justitia et Pax“ aufgegriffen.116 Der erste Teil von EMCC steht unter der Überschrift „Migration als Zeichen der Zeit und als Sorge der Kirche“ und stellt die Migration in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Das Thema der Wanderschaft zieht sich, ausgehend von Abraham, durch die ganze Heilige Schrift. In der Konkretisierung von Mt 25, 35 „Ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen“ ist die Kirche aufgefordert, sich der Migranten anzunehmen und ihr Los verbessern zu helfen. Im Anschluss an die biblischen Ausführungen enthält EMCC einen geschichtlichen Exkurs, der die Sorge der Kirche für Migranten und Flüchtlinge in den kirchlichen Dokumenten, ausgehend vom Dekret „Ethnografica studia“, über Exsul familia und die Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils bis hin zu NE und den Bestimmungen des Kirchenrechts bezeugt.117 In besonders großem Ausmaß werden Gläubige der katholischen Ostkirchen von der zunehmenden Mobilität erfasst. Dieses Faktum fordert gebieterisch dazu auf, die notwendigen rechtlichen und pastoralen Schritte zur Schaffung geeigneter Strukturen in die

115

Die Konvention sichert Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten – unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status – grundlegende politische, persönliche und soziale Menschenrechte zu, so z. B. das Recht auf Freiheit, auf Familieneinheit, auf Bildung, auf körperliche Unversehrtheit und medizinische Behandlung, auf angemessene Bezahlung und rechtsstaatliche Verfahren. Österreich hat diese Konvention noch nicht ratifiziert. 116

Kathpress-Tagesdienst Nr. 219 vom 20. September 2005. Die Kritik richtete sich vor allem gegen die Regierungen der europäischen Führungsmächte, die sich dieses Problems nicht ausreichend annehmen würden und „verdächtig abwesend seien, wenn es darum gehe, die Rechte der Gastarbeiter zu stärken“. Laut „Justizia et Pax Europa“ haben bislang 46 Länder das Abkommen ratifiziert, davon nur drei aus der so genannten „Ersten Welt“. 117

EMCC 19 – 27. Zu den kirchenrechtlichen Bestimmungen siehe oben II. 2.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

815

Wege zu leiten. Die entsprechenden spezifischen Regelungen sind im CCEO118 enthalten. Auffallend ist, dass im CCEO das Amt des Cappellanus keine Erwähnung findet.119 Empfohlen wird – dies ist eine Besonderheit des Ostkirchenrechts – die Errichtung von Kirchen sui iuris und die Förderung und Beachtung der Riten der orientalischen Kirchen.120 Als eine Kirche sui iuris bezeichnet der CCEO eine Gemeinschaft von Christgläubigen, die mit der Hierarchie nach der Maßgabe des Rechts verbunden ist und von der höchsten Autorität als Kirche eigenen Rechts anerkannt wird.121 Dem Eparchialbischof trägt c. 192 § 1 CCEO122 die pastorale Sorge für alle Christgläubigen auf, unabhängig von Alter, Stand und Nationalität. Besonders hat er sich um all jene zu kümmern, die wegen ihrer Lebensumstände nicht die ordentliche Seelsorge genießen können. Auch ist er dafür verantwortlich, dass die Gläubigen, die zu einer anderen eigenberechtigten Kirche gehören, ihren eigenen Ritus beibehalten können, wenn möglich durch Priester bzw. Pfarrer derselben eigenberechtigten Kirche oder durch die Ernennung eines Synkellos.123 Wo die Situation dies erfordert, empfiehlt c. 280 § 1 CCEO124 die Errichtung von Personalpfarreien, die z. B. nach Nationalität, Sprache oder Zugehörigkeit von Christgläubigen zu einer anderen eigenberechtigten Kirche bestimmt werden. Vorgesehen ist auch die Möglichkeit zur Errichtung einer Exarchie, der der Charakter einer quasidiözesanen Teilkirche des lateinischen Rechts zukommt. Definiert wird die Exarchie als ein Teil des Gottesvolkes, der wegen besonderer

118 Deutsche Übersetzung: Libero Gerosa u. a. (Hrsg.), Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium – Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen. Lateinisch – deutsche Ausgabe, Paderborn 2000. 119 Zu den cc. 564 – 572 CIC gibt es im CCEO keine Entsprechung. Vgl. Carl Gerold Fürst, Canones Synopse zum Codex Iuris Canonici und Codex Canonum Ecclesiarum Orientalium, Freiburg im Breisgau 1992, S. 37 f. 120 Der Ritus ist nach c. 28 § 1 das liturgische, theologische, geistliche und disziplinäre Erbe, das sich durch die Kultur und die Geschichte der Völker unterscheidet und seinen Ausdruck im eigengeprägten Glaubensleben einer jeden Kirche sui iuris findet. Cc. 39 – 41 CCEO. 121

C. 27 CCEO

122

Vgl. c. 383 § 1 CIC.

123

Cc. 193 § 2 CCEO. Ein Synkellos entspricht dem Amt des Bischofsvikars in der lateinischen Kirche (vgl. c. 246 CCEO). 124

Vgl. c. 518 CIC.

816

Gerlinde Katzinger

Umstände nicht als Eparchie errichtet werden kann.125 Diese Normen stimmen inhaltlich weitgehend mit den einschlägigen Vorschriften des CIC überein.126 Die Präsentation der theologischen und pastoralen Leitlinien des Lehramtes und der spezifischen Einrichtungen des Apostolischen Stuhles runden den ersten Teil ab. Die gegenwärtigen Wanderbewegungen bringen es mit sich, dass kulturell und religiös völlig unterschiedliche Welten miteinander in Berührung kommen: niemals zuvor mussten sich die Christen in einer solchen Intensität dem kulturellen und religiösen Pluralismus stellen. Daraus ergeben sich im Hinblick auf die Aufnahme und Annahme von Migranten auch Forderungen an das Kirchenrecht: auf der einen Seite steht das Bemühen, die Universalität und Einheit zu bewahren, die aber nicht in einen Widerspruch zum Angebot einer notwendigen kategorialen Seelsorge vor Ort treten darf.127 Diese Spannung gilt es auszuhalten und positiv aufzulösen. Die Priester werden ermutigt, in der Liturgie die Möglichkeit, die das Recht anbietet zu nützen und „die Laien in den nicht geweihten Diensten zu schätzen“: Unter Hinweis auf c. 1248 § 2 CIC sollen auch in den Gemeinden der Immigranten, wo ein Priester nicht zur Verfügung steht, Wortgottesdienste abgehalten werden, bei denen unter der Leitung eines Diakons oder eines dafür rechtmäßig beauftragten Laien, das Wort Gottes verkündet und die Eucharistie ausgeteilt wird.128 Mit der Umsetzung von c. 1248 § 2 in die Praxis sieht EMCC eine Möglichkeit, den Mangel an geeigneten Priestern für die Migrantenseelsorge auszugleichen und – in Übereinstimmung mit dem Kirchenrecht – bestimmte Dienste eigens vorbereiteten Laien anzuvertrauen.129 Eigens zu würdigen ist die Aufmerksamkeit, die in EMCC der Volksfrömmigkeit130 beigemessen wird.131 Zahlreiche Migrantengemeinden zeichnen sich

125

C. 311 § 1 CCEO.

126

Vgl. cc. 370, 371 CIC.

127

EMCC 38 i.V.m. NE 11.

128

Ebd., 45 i.V.m. Christifideles Laici 23 (AAS 81 [1989], S. 429 – 433).

129

Vgl. cc. 228 § 1 CIC, 230 § 3, 517 § 2.

130

Zum Begriff vgl. Wolfgang Brückner, Art. Volksfrömmigkeit. Begriffsgeschichtlich, in: LThK3 10, 2001, Sp. 858 f; Andreas Heinz, Art. Volksfrömmigkeit. Liturgisch, in: LThK3 10, 2001, Sp. 859 f.; Ernst Henau, Art. Volksfrömmigkeit. Praktisch-theologisch, in: LThK3 10, 2001, Sp. 860. 131

Vgl. EMCC 46 ff.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

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durch eine intensiv praktizierte und lebendige Volksfrömmigkeit132 aus. Gelebte Bräuche und Frömmigkeitsformen bilden für viele Migranten eine Brücke zu ihrer ursprünglichen Herkunft und wirken identitätsstiftend. Für die Gemeinden im Aufnahmeland können neu eingebrachte Elemente der Volksfrömmigkeit eine wesentliche spirituelle Bereicherung darstellen. Voraussetzung dafür wird sein, dass solche neuen Formen behutsam eingeführt werden, damit die Pfarrgemeinde mit den Bräuchen der Migranten vertraut werden kann.133 Eigens hervorgehoben werden die Bedeutung und der Schutz der spirituellen Identität der Migranten aus den katholischen Ostkirchen, die zahlenmäßig stark im Wachsen begriffen sind. Wo immer es möglich ist,134 soll die Liturgie im Ritus der eigenen Kirche sui iuris unter Verwendung der eigenen liturgischen Sprache gefeiert werden.135 Migranten aus den katholischen Ostkirchen haben das Recht und die Pflicht, den eigenen Ritus zu bewahren. Dieser Idealzustand wird häufig nicht erreicht werden können, in der Praxis werden katholische Migranten eines ostkirchlichen Ritus oftmals von Pfarrern einer anderen eigenberechtigten Kirche betreut. Der CCEO spricht ausdrücklich von der tätigen Teilnahme die Laien an den liturgischen Feiern jeder Kirche sui iuris, d. h. auch der lateinischen Kirche.136 C. 916 § 4 und 5 CCEO verpflichten den Eparchialbischof, für Gläubige einer eigenberechtigten Kirche, die keinen Pfarrer zur Verfügung haben, den Pfarrer einer anderen Kirche sui iuris mit der Seelsorge zu beauftragen, wobei das Recht selbstverständlich die Einholung der Zustimmung des Eparchialbischofs des ausgewählten Pfarrers vorsieht.137 Gegebenenfalls wird sogar eine Zuordnung der Gläubigen zu einem Amtsträger der lateinischen Kirche vorgesehen.138 Dies ändert aber nichts an ihrer Rituszugehörigkeit. Es erfolgt keine Aufnahme in die andere Kirche sui iuris, auch dann nicht, wenn dort die Sakramente empfangen werden. Ebenso ist die Entstehung von Gewohnheitsrecht in

132

Vgl. Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie. Grundsätze und Orientierungen, Bonn 2001 (= Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 160). 133

Vgl. c. 41 CCEO.

134

EMCC 52 erinnert an die rechtliche Verpflichtung, den eigenen Ritus zu beachten.

135

Vgl. Dekret über die katholischen Ostkirchen Orientalium Ecclesiarum 4, 6; c. 28 § 1 CCEO. 136

C. 403 § 1 CCEO.

137

Vgl. CD 23, 27.

138

Dies kommt vor allem dann in Betracht, wenn in einem Gebiet nicht einmal eine Exarchie für die Angehörigen einer eigenberechtigten Kirche errichtet ist. Vgl. c. 916 § 5 CCEO.

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diesem Fall ausgeschlossen. Ein solcher Übertritt ist nur mit Erlaubnis des Apostolischen Stuhles möglich.139 In ökumenischer Hinsicht erinnert das Apostolische Schreiben an die Möglichkeiten, die das kirchliche Recht für das Zusammenleben mit Migranten, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen, anbietet. Als Grundlage ist das Ökumenische Direktorium heranzuziehen.140 Aus kanonistischer Sicht interessieren vor allem die Voraussetzungen für die gemeinsame Nutzung von kirchlichen Gebäuden und die interkonfessionelle Sakramentendisziplin. Der Diözesanbischof hat die Möglichkeit, Gemeinden, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen und keinen Raum zur Feier des Gottesdienstes zur Verfügung haben, in eine katholische Kirche oder ein anderes kirchliches Gebäude einzuladen und auch die notwendigen liturgischen Geräte für Gottesdienste zu entleihen. Gestattet wird auch die Möglichkeit, die Beerdigung auf katholischen Friedhöfen zu gestatten.141 Auch wenn in Art. 56 EMCC kein ausdrückliches Verbot ausgesprochen ist, so formuliert Art. 61 klar, dass es nicht gewünscht ist,142 katholische Einrichtungen und Kultstätten Anhängern nichtchristlicher Religionen zur Verfügung zu stellen. 139

Vgl. c. 112 CIC, c. 32 CCEO. Es fällt auf, dass in den beiden Kanones unterschiedliche Begriffe verwendet werden. Während c. 112 CIC eine „licentia“, eine Erlaubnis des Apostolischen Stuhls vorsieht, geht c. 32 § 1 CCEO vom „consensus“, der Zustimmung des Apostolischen Stuhls aus. Nach Primetshofer wird in diesem Fall mit „licentia“ entgegen der Aussage von c. 10 CIC ein Gültigkeitserfordernis normiert und in c. 32 § 1 CCEO eine authentische Interpretation des CIC vorgenommen. Vgl. Bruno Primetshofer, Interrituelles Verkehrsrecht im CCEO, in: AfkKR 160 (1991), S. 346 – 366, hier S. 353. Anzumerken bleibt, dass der Gesetzgeber einem Rituswechsel grundsätzlich sehr reserviert gegenüber steht. Dies macht vor allem c. 31 i.V.m. c. 1465 CCEO deutlich, wo unter Androhung einer angemessenen Strafe ein Verbot ausgesprochen wird, jemanden zum Übertritt in eine andere eigenberechtigte Kirche zu bewegen. Der Normzweck ist in der Verhinderung von Proselytismus und im Schutz der Identität kleinerer Rituskirchen zu suchen. Vgl. Helmuth Pree, c. 112, in: MK CIC. 140 AAS 85 (1993), S. 1039 – 1119. Deutsche Übersetzung: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 110. 141

Vgl. Ökumenisches Direktorium 137 i.V.m. EMCC 56. Der Simultangebrauch von Kirchen war nach c. 823 § 1 CIC 1917 ausdrücklich verboten. Rechtmäßig bestehende Gewohnheiten wurden geduldet. Bedingt durch die Not nach dem 2. Weltkrieg wurde die Benutzung von Kirchen durch Gläubige anderer Konfessionen ermöglicht und schließlich im Ökumenischen Direktorium von 1967 von katholischer Seite rechtlich geregelt. Diese Möglichkeit wurde im Ökumenischen Direktorium 1993 und in EMCC aufgegriffen und bestätigt. Ein Simultanverhältnis entsteht dadurch nicht. Vgl. Heinrich J. F. Reinhardt, Art. Simultaneum, in: LThK3 9, 2000, Sp. 615 f. 142

„…non riteniamo opportuno…“

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In der Frage der interkonfessionellen Sakramentendisziplin ruft EMCC in Erinnerung, dass Nichtkatholiken unter bestimmten Umständen berechtigt sind, die Eucharistie gemeinsam mit Katholiken zu empfangen.143 Als einschlägige Normen müssen c. 844 §§ 3 und 4 CIC bzw. c. 671 §§ 3 und 4 CCEO144 sowie die Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“ herangezogen werden, wo festgestellt wird: „Wenn die volle Gemeinschaft fehlt, ist die Konzelebration in keinem Fall statthaft. Dies gilt nicht für die Spendung der Eucharistie unter besonderen Umständen und an einzelne Personen, die zu Kirchen oder kirchlichen Gemeinschaften gehören, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen. In diesem Fall geht es nämlich darum, einem schwerwiegenden geistlichen Bedürfnis einzelner Gläubiger im Hinblick auf das ewige Heil entgegenzukommen, nicht aber um die Praxis einer Interkommunion, die nicht möglich ist, solange die sichtbaren Bande der kirchlichen Gemeinschaft nicht vollständig geknüpft sind.“ 145 Unter der Überschrift „Mitarbeiter einer Pastoral der Communio“ bietet der dritte Teil von EMCC einen Überblick über die Ämter und Dienste in diesem Bereich der kategorialen Seelsorge. Neue Ämter werden nicht eingeführt, EMCC schließt an die vorangegangenen Dokumente an, vor allem an NE und bringt kompakte Zusammenfassungen. Erwähnung finden der Kaplan bzw. Missionar der Migranten,146 der nationale Koordinator147 sowie die besonderen

143

EMCC 57.

144

§ 3 der beiden Kanones betrifft die Erlaubtheit der Spendung der genannten Sakramente an Nichtkatholiken. Als Empfänger sind die Mitglieder der orientalischen Kirchen und die Mitglieder anderer Kirchen, die nach dem Urteil des Apostolischen Stuhles dasselbe Sakramentenverständnis wie die katholische Kirche haben, angesprochen. Die erlaubte Spendung setzt die freiwillige Bitte und die rechte Disposition des Empfängers voraus. Es muss aber in jedem Fall die Ordnung der orientalischen Kirchen beachtet und jeder Anschein von Proselytismus vermieden werden. (Ökumenisches Direktorium 107, 125). § 4 spricht vor allem die reformatorischen kirchlichen Gemeinschaften an. Die Voraussetzungen für eine erlaubte Sakramentenspendung sind hier strenger, weil es – abgesehen von der Taufe – am gemeinsamen Sakramentenverständnis mangelt. Die erlaubte Sakramentenspendung verlangt folgende Voraussetzungen: Todesgefahr oder eine andere schwere Notlage, Unmöglichkeit für den Bittenden, einen Sakramentenspender der eigenen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft aufsuchen zu können, freiwillige Bitte und rechte Disposition, der Glaube hinsichtlich des erbetenen Sakramentes muss mit dem katholischen Glauben übereinstimmen. 145

AAS 95 (2003), S. 433 – 475, hier S. 462.

146

EMCC 75 – 79.

147

Ebd., 73, 74. Die Funktion dieses Amtes ist die Unterstützung der Cappellani bzw. Missionare einer bestimmten Sprache oder eines bestimmten Landes, er ist nicht ihr

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Möglichkeiten, die Ordenschristen und Laien im Einsatz für die Migranten offen stehen.148 Positiv hervorzuheben und besonders zu würdigen ist der Stellenwert, den EMCC einer fundierten Aus- und Weiterbildung zuspricht. Die Bischofskonferenzen werden beauftragt, die Fakultäten und katholischen Universitäten innerhalb ihres Gebietes mit der Erforschung der verschiedenen Aspekte der Migration zu betrauen.149 Die Empfehlung, Pflichtkurse zur theologischen Spezialisierung innerhalb der Studienrichtungen vorzusehen, sollte bei künftigen Schwerpunktsetzungen an Theologischen Fakultäten unbedingt Beachtung finden und lässt sich vorzüglich dafür einsetzen, Studienrichtungen und damit auch den Fakultäten ein eigenes Profil zu verleihen. Nicht zu vernachlässigen sind auch die vielfältigen Möglichkeiten, die dieses Forschungsgebiet wegen seiner unterschiedlichen Dimensionen für interdisziplinäre Zusammenarbeit bietet. Bei der Analyse der Strukturen einer Migrantenpastoral unterscheidet das Apostolische Schreiben zwei Ebenen: die kirchenrechtlich-strukturelle und die theologisch-pastorale.150 Mehr als bisher muss noch ins Bewusstsein gebracht werden, dass die mittlerweile weltweite Dimension menschlicher Mobilität sich auch in der pastoralen Organisation der Teilkirchen auswirken und zu einer Überwindung der „mono-ethnischen Pastoral“ führen muss. Bisherige seelsorgliche Strukturen waren häufig mit der Vorstellung einer vorübergehenden Migration verbunden und greifen in der aktuellen Pastoral, die mit Migranten zu tun hat, die sich in den verschiedenen Stadien der Integration in ein Aufnahmeland befinden, oftmals zu kurz. Neue Organisationsformen, die ausgearbeitet werden, müssen sowohl die Ansprüche erfüllen, die eine ethnischsprachlich ausgerichtete Seelsorge stellt, als auch sich harmonisch in das Gefüge des gesamten pastoralen Konzeptes einfügen.151 Es kann sich die Situation ergeben, dass die Errichtung klassischer Seelsorgestrukturen, wie einer „Missio cum cura animarum“, einer Personalpfarrei oder die Bestellung eines Cappellanus sich als schwierig erweist. Auf jeden Fall

Repräsentant. Ihm kommt auch keine Jurisdiktionsgewalt zu, wie dies bei einem Bischofsvikar der Fall wäre. Seine Aufgaben liegen hauptsächlich in der Moderation und in der Förderung der Kommunikation zwischen den Cappellani. Mit den Migranten kommt er nur mittelbar in Kontakt, diese unterstehen weiterhin der Jurisdiktion, die sich kraft ihres Wohnsitzes bzw. Nebenwohnsitzes begründet. 148

EMCC 80 – 88.

149

Ebd., 71.

150

Ebd., 90 ff.

151

Vgl. Pastores gregis 72.

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nimmt EMCC die Verantwortlichen in die Pflicht, auch ohne eigene kanonische Errichtung von Seelsorgestrukturen, die katholischen Einwanderer, so intensiv als möglich seelsorglich zu betreuen. Neben dem allgemeinen Seelsorgsauftrag haben die Autoren besonders auch die Hintanhaltung von Improvisationen durch ungeeignete Mitarbeiter und die Vermeidung eines Engagements durch Sekten im Blick. Den Abschluss von EMCC bilden „rechtlich-pastorale Weisungen“, die eine Zusammenfassung und Interpretation der einschlägigen Normen des CIC bzw. CCEO und der übrigen Dokumente darstellen und für die Seelsorger und alle übrigen Personen, die sich in der Migrantenpastoral engagieren, eine Handreichung bieten sollen. Daher bleiben die einschlägigen Vorschriften, die bisher erlassen wurden, voll in Geltung und müssen zur Auslegung der rechtlichpastoralen Weisungen in EMCC herangezogen werden. Das Vorwort statuiert in Art. 1 eine Verpflichtung der Diözesan- bzw. Eparchialbischöfe sowie der Pfarrer, sich in geeigneter Form der Migrantenpastoral anzunehmen und den Migranten die gleiche angemessene und wirksame Seelsorge zu gewährleisten, die sie den einheimischen Gläubigen zugute kommen lassen. Zur besseren Bewältigung dieser Aufgabe empfiehlt Art. 1 § 3 dass die Kirchen der Herkunftsländer mit den Kirchen der Aufnahmeländer in Dialog treten. Diese Verpflichtung hat ihre Grundlage in c. 213 CIC bzw. c. 16 CCEO, die den Gläubigen das elementare Christenrecht zusprechen, aus der Verkündigung des Wortes und der Spendung der Sakramente Hilfe von den geistlichen Hirten zu empfangen.152 Cc. 224 bis 231 CIC bzw. cc. 399 bis 409 CCEO handeln von der Rechtsstellung der Laien. Durch Taufe und Firmung berufen sollen die Laien durch das Beispiel ihres Lebens und durch ihr Wort das Evangelium bezeugen. In den rechtlich-pastoralen Weisungen werden in Art. 2 und 3 die Rechte und Pflichten der Laien, wie sie in den beiden kirchlichen Gesetzbüchern formuliert sind, aufgegriffen und an die besonderen Erfordernisse der Migrantenseelsorge angepasst. Art. 2 § 2 bildet eine lex specialis zu c. 225 §1 CIC bzw. c. 406 CCEO und ruft die Laien zur Evangelisierung der Migranten durch das Vorbild ihrer Lebensführung sowie durch die Verkündigung des Wortes Gottes auf. Besondere Bedeutung kommt dem Apostolat der Laien dort zu, wo bedingt durch Kriege, Priestermangel, Diaspora oder – im konkreten Fall – durch Migration die Seelsorge nicht aufrechterhalten werden kann.153 Es muss beachtet werden, 152 Im CIC 1917 war dies das einzige Recht, das den Laien ausdrücklich zugestanden worden war. LG 37 hat dieses Recht auf alle Christgläubigen ausgedehnt. Vgl. Heinrich J. F. Reinhardt, c. 213, in: MK CIC. 153

Vgl. VatII LG 33.

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dass durch diese besonderen Umstände den Laien keine zusätzlichen Vollmachten zukommen; hinzuweisen ist aber auf jene Sonderbestimmungen, die der Codex vor allem im Sakramentenrecht für Notsituationen vorsieht.154 Eine wesentliche Rolle wird im Zusammenhang mit der Migrantenseelsorge der kulturellen Dimension zuerkannt, deren Bedeutung lange Zeit unterschätzt wurde. So werden die Migranten, die künftig unter einem anderen Volk leben wollen, aufgerufen, das kulturelle Erbe dieser Nation zu schätzen. Auch von den Mitarbeitern in diesem Seelsorgebereich wird neben der spirituellen Bereitschaft vor allem eine kulturelle Bildung und Vorbereitung erwartet. Im Anschluss an die Ausführungen über die Laien finden die Cappellani bzw. Missionare Erwähnung. In acht Artikeln werden die rechtlichen Grundlagen zusammengefasst und die verschiedenen Organisationsformen, wie z. B. Personalpfarrei155 oder „Missio cum cura animarum“, kurz dargestellt. Die Diözesanbzw. Eparchialbischöfe sind gehalten, Priester, die sich in der Migrantenseelsorge engagieren wollen und dafür auch geeignet erscheinen, für diesen Dienst freizustellen.156 Dahinter steht das Anliegen, sowohl bei den Bischöfen als auch bei den Priestern die Verantwortung für die Gesamtkirche zu stärken.157 Die Erlaubnis für diesen Dienst darf der Bischof nur dann verweigern, wenn begründete Interessen der eigenen Teilkirche dagegen stehen. Die Koordination der Einsätze solcher freigestellter Priester wird der Bischofskonferenz aufgetragen, die dafür zu sorgen hat, dass der Kontakt zu den Diözesen bzw. Eparchien, in denen der Einsatz erfolgen soll, hergestellt wird.158 In Gebieten, wo viele Cappellani bzw. Missio154

C. 861 § 2 Nottaufe, c. 1116 Noteheschließung.

155

Rechtlich-pastorale Weisungen 6. Wird eine Personalpfarrei errichtet, so kommt den Diözesan- bzw. Eparchialbischöfen die besondere Verpflichtung zu, für eine geordnete Führung der pfarrlichen Bücher zu sorgen. Vgl. c. 535 CIC bzw. c. 296 CCEO. Neben den aufgezählten Büchern, haben sowohl die Bischofskonferenz als auch der Diözesanbischof das Recht, die Führung weiterer Bücher zu verlangen. Solche Bücher können z. B. sein: Katechumenenbücher, Pfarrchronik, Konvertitenbücher, Verkündbücher, etc. Vgl. Hans Paarhammer, c. 535, in: MK CIC. 156

Vgl. Franz Kalde, Kirchlicher Finanzausgleich. Kanonistische Aspekte zu einem gesamtkirchlich neu entdeckten Mittel kirchlicher Finanzverteilung, Würzburg 1993, S. 162 ff. Der Autor schlägt vor, die Finanzausgleichsmodelle, die er in seiner Dissertation entworfen hat, auch außerhalb des finanziellen Bereichs anzuwenden, vor allem im Hinblick auf die gerechte Verteilung anderer knapper „Güter“. Als ausdrückliches Beispiel nennt Franz Kalde die Klerikerverteilung, besonders die Priesterverteilung. Unter dem Aspekt des horizontalen Finanzausgleichs können sich klerikerarme und klerikerreiche Teilkirchen ergänzen. 157

Vgl. VatII CD 6, VatII PO 10.

158

Rechtlich-pastorale Weisungen 11 i.V.m. c. 271 CIC bzw. cc. 361 f. CCEO.

Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Migrantenseelsorge

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nare im Einsatz sind, empfiehlt EMCC die Ernennung eines nationalen Koordinators, dessen Aufgabenbereich sich ausschließlich auf organisatorische Belange erstreckt und dem kraft seines Amtes keine eigene Jurisdiktionsgewalt zukommt.159 In der seelsorglichen Betreuung der Migranten kommen den Ordensangehörigen160 große Verdienste zu. Vor allem Gemeinschaften, die Mission und Apostolat am „Menschen unterwegs“ in ihren Statuten festgeschrieben haben, können in diesen Bereich der Seelsorge langjährige Erfahrung und ein großes Fachwissen einbringen. Wenn es solche Institute in einer Diözese bzw. Eparchie gibt, werden sie sich verstärkt um die Migranten annehmen und ihr besonderes Charisma einbringen können. Die Diözesan- bzw. Eparchialbischöfe haben dafür Sorge zu tragen, dass diese Gemeinschaften mit geistlicher Betreuung und den notwendigen materiellen Mitteln in ihrem Dienst unterstützt werden. Vereinbarungen, die mit dem zuständigen Oberen getroffen werden, sind immer schriftlich abzufassen; wird mit der Migrantenseelsorge nur ein einzelner Ordensangehöriger beauftragt, ist vorher die Zustimmung seines Oberen einzuholen und ebenfalls eine schriftliche Vereinbarung über die näheren Modalitäten zu verfassen.161 Das Apostolat der Ordensleute wird unter der Autorität und Leitung des Diözesanbzw. Eparchialbischofs ausgeübt. Dies stellt keinen Eingriff in die Rechte der Oberen dar, die über das religiöse Leben ihrer Mitbrüder und -schwestern zu wachen haben.162 Den Abschluss der rechtlich pastoralen Weisungen bilden Normen über die Verantwortung der kirchlichen Autoritäten im Bereich der Migrantenseelsorge. Es geht hier um den Diözesan- bzw. Eparchialbischof, die Bischofskonferenzen und die entsprechenden hierarchischen Strukturen der katholischen Ostkirchen und den Päpstlichen Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen163

159

Ebd., 11.

160

Gemäß Art. 15 finden diese Bestimmungen auch auf die Gesellschaften des apostolischen Lebens und auf die Säkularinstitute Anwendung. 161 Vgl. c. 678 CIC bzw. c. 415 § 1 CCEO, die als leges generales für das Verhältnis zwischen dem Bischof und den klösterlichen Verbänden im Bereich des Apostolates heranzuziehen sind.

Vgl. Bruno Primetshofer, Ordensrecht, Freiburg im Breisgau 1988, S. 158 f.; Rudolf Henseler, c. 678, in: MK CIC. 162

Vgl. c. 677 § 1 CIC, der neben den Oberen auch die Ordensmitglieder auffordert, ihre Sendung und die dem Institut eigenen Aufgaben treu zu bewahren. Kein Ordensmitglied kann die Verantwortung für das religiöse Leben auf einen Oberen abschieben. Diese wechselseitige Dimension ist in Art. 14 der rechtlich-pastoralen Weisungen nicht angesprochen. 163

Vgl. oben I. 2.

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unterwegs. Art. 16 bis 18 skizzieren die Aufgaben des Diözesan- bzw. Eparchialbischofs, der sich in der Regel mittelbar der Migrantenseelsorge annehmen wird und vor allem den Auftrag hat, geeignete Strukturen zu schaffen: durch Unterstützung des seelsorglichen Wirkens der Pfarrer und Cappellani, durch Ernennung von Bischofsvikaren bzw. die Einrichtung eigener Referate, durch Förderung einer recht verstandenen Ökumene, durch die Forcierung einschlägiger Themen in der theologischen Ausbildung, vor allem der Seminaristen. Innerhalb der Bischofskonferenzen soll je nach Anzahl der Migranten entweder eine besondere nationale Kommission164 errichtet werden oder ein eigener Bischof als Promotor bestimmt werden, dem folgende Aufgaben zukommen. –

Information der Diözesan- und Eparchialbischöfe über das Phänomen der Migration



Kontakte zu den entsprechenden diözesanen und pfarrlichen Kommissionen zu pflegen



Unterstützung in der Koordination beim Einsatz von Cappellani



Aufbau von Kontakten zu den katholischen Ostkirchen



Pflege des Kontaktes mit dem Päpstlichen Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs und Förderung des wechselseitigen Informationsaustausches.

Für die Seelsorge vor Ort wird die bewährte Methode empfohlen, ein Datum festzulegen, an dem ein „Tag / eine Woche der Migranten und Flüchtlinge“ begangen wird. Die konkrete Organisation und Vorbereitung dieses Tages wird sich nach den Gegebenheiten vor Ort zu richten haben. Primäres Ziel ist es, die Gläubigen für diese große und aktuelle Aufgabe, die sich in nahezu allen Pfarreien stellt, zu sensibilisieren und Möglichkeiten zur Begegnung zwischen den Kulturen zu schaffen. EMCC spricht auch noch ein weiteres Ziel an: mit Hilfe von Kollekten eine ökonomische Grundlage für die Erfüllung der pastoralen Verpflichtungen zu schaffen.165 Mit EMCC liegt ein Kompendium zur Seelsorge für die Migranten und „Menschen unterwegs“ vor, das sich durch eine fundierte Sachkenntnis der Realität auszeichnet. Positiv hervorzuheben ist, dass – entgegen verbreiteter Auffassungen –

164

Für diese Kommission ist ein eigener Sekretär vorgesehen, der die Funktion des Nationalen Direktors übernimmt. Seine Pflicht ist es, die Kontakte zu den Bischöfen herzustellen und zu pflegen und einen Jahresbericht über die Situation der Seelsorge für die Migranten zu erstellen, der dem Päpstlichen Rat zu übermitteln ist. Rechtlich pastorale Weisungen 19 und 20. 165

Ebd., 21.

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das Phänomen der Migration nicht als Bedrohung beschrieben, sondern als Chance, sich durch die Begegnungen unterschiedlicher Kulturen bereichern zu lassen. Sehr bedauerlich ist, dass dieses Dokument in den Massenmedien kaum verbreitet wurde. Wo dies geschehen ist, wurde das Apostolische Schreiben meist in grob verzerrender Darstellung auf eine angebliche Verurteilung von Ehen mit Muslimen reduziert. Tatsächlich lautet der inkriminierte Artikel, der im gesamten Wortlaut von EMCC eher ein Nebenthema darstellt: „Für den Fall, dass eine katholische Frau um die Eheschließung mit einem Muslim ersucht, wird – unter Wahrung dessen, was in Nr. 63166 gesagt ist und auch unter Berücksichtigung der örtlichen pastoralen Beurteilung – auch als Ergebnis bitterer Erfahrungen eine besonders genaue und vertiefte Vorbereitung erfolgen müssen, in deren Verlauf die Verlobten dahin geführt werden, die großen kulturellen und religiösen Unterschiede zu erkennen und sich ganz bewusst darauf „einzustellen“, womit sie konfrontiert sein werden – sei es untereinander, sei es in Beziehung zu den Familien und dem Herkunftsland des muslimischen Partners, in das sie eventuell nach einem Aufenthalt im Ausland zurückkehren werden.“

III. Schlussbetrachtung Für Christen ist die Aufnahme von Fremden und eine gelebte Solidarität mit ihnen ein moralischer Auftrag, der sich aus der Lehre Christi ergibt und im jeweiligen kulturellen Umfeld auch zur rechtlichen Verpflichtung werden kann. Sorge für Migranten bedeutet für die Gläubigen, sich dafür einzusetzen, dass jeder Mensch so behandelt wird, wie es seiner Würde als Person entspricht. Der Kirche als „Expertin der Menschlichkeit“ kommt eine besondere Verantwortung zu im Hinblick auf ihre Möglichkeiten, mit den Verantwortlichen der Völker und der internationalen Gemeinschaft, mit Institutionen und Organen, die mit dem Migrationsphänomen zu tun haben, in Kontakt zu treten und ihren Einfluss auszuüben.167 Bei Begegnungen mit Migranten treffen immer auch verschiedene Kulturen aufeinander. Es ist Aufgabe der Kirche und speziell der mit der Migrantenseelsorge beauftragten Geistlichen und Laien, zwischen den unterschiedlichen

166 Nr. 63 EMCC: „Von einer Heirat zwischen Katholiken und nichtchristlichen Migranten wird man mit unterschiedlichem Nachdruck je nach Religion abraten müssen, mit Ausnahme der besonderen Fälle, die in den Vorschriften des CIC und des CCEO beschrieben sind. …“ 167

Botschaft vom 9. November 1997 zum 84. Welttag der Migranten und Flüchtlinge, in: Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Der Apostolische Stuhl 1998. Ansprachen, Predigten und Botschaften des Papstes, Erklärungen der Kongregationen, Köln 2001.

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Kulturen und Mentalitäten zu vermitteln, Barrieren abzubauen und gegenseitigen Respekt und Toleranz zu fördern. Paul VI. hat die Bedeutung der Kultur im Zusammenhang mit der Evangelisierung in der Welt von heute im Apostolischen Schreiben „Evangelii nuntiandi“ hervorgehoben: „Das Evangelium und somit seine Verkündigung identifizieren sich natürlich nicht mit der Kultur und sie sind unabhängig gegenüber den Kulturen. Dennoch wird das Reich, das das Evangelium verkündet, von Menschen gelebt, die zutiefst an eine Kultur gebunden sind und kann die Errichtung der menschlichen Kultur und Kulturen zu bedienen. Unabhängig zwar gegenüber den Kulturen, sind Evangelium und der Vollzug der Evangelisierung jedoch nicht notwendig unvereinbar mit ihnen, sondern fähig, sie alle zu durchdringen, ohne sich einer von ihnen zu unterwerfen.“168

Seelsorge am „Menschen unterwegs“ ist somit nicht nur unter dem Aspekt der Verpflichtung der Kirche zu einer gelebten caritativen Diakonie zu sehen, sondern muss genauso unter verschiedene Bereiche der kulturellen Diakonie, wie sie von der Kirche geleistet wird, subsumiert werden, z. B. im Schul- und Bildungswesen. Eine fruchtbare Migrantenpastoral kann von einer Teilkirche und deren gemeindlichen Substrukturen nicht alleine geleistet werden. Es bedarf auf den verschiedenen Ebenen der Pastoral der Kooperation und Koordination. Der kirchliche Gesetzgeber sieht seine Aufgabe darin, durch entsprechende Normen die Schaffung einer „pastoralen Infrastruktur“ im partikularrechtlichen Bereich zu ermöglichen und auf diese Weise dazu beizutragen, dass die Seelsorge für Migranten und „Menschen unterwegs“ gelingen und dem Auftrag Jesu „… ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen.“169 gerecht werden kann.

168

Evangelii nuntiandi 20.

169

Mt 25, 35.

Wer darf wann die Kommunion unter beiden Gestalten empfangen? Die römischen Regelungen vom Zweiten Vatikanischen Konzil bis heute Von Rudolf Pacik I. Blick in die Geschichte1 1. Vom Kelchverzicht zum Dekret des Konstanzer Konzils (1415) Das Denken über die Kommunion unter beiden Gestalten ist in der Westkirche bis heute von der früheren restriktiven Gesetzgebung geprägt (die genau genommen nicht nur die Laien betraf, sondern ebenso die Priester, die der Messe nicht vorstehen, und die Assistenz). Dass allein der Zelebrant die Kelchkommunion nahm, beruhte ursprünglich nicht auf Gesetzen, sondern auf der Praxis: Seit dem 12. Jahrhundert kam im Westen die Ausspendung des eucharistischen Weins an die Gemeinde allmählich ab; dafür gibt es verschiedene Gründe: Angst vor Verunehrung, seltene Kommunion der Laien, auf die Hostie konzentrierte Schaufrömmigkeit, mangelnder Sinn für das sakramentale Zeichen. Dieser Kelchverzicht wurde später festgeschrieben. Gegen Jacobellus von Mies, der in Prag die Heilsnotwendigkeit der Kommunion unter beiden Gestalten predigte und für seine Idee auch Jan Hus samt dessen Anhängern gewann, verfügte das Konzil von Konstanz in der 13. Sitzung (15. 6. 1415): Die Kommunion an Laien nur unter einer Gestalt auszuteilen müsse „als Gesetz gelten, das man nicht verwerfen oder ohne die Autorität der Kirche nach Belieben ändern darf“. Neben der Tradition zog das Konzil die – wohl aufgrund der Kommunionspraxis entstandene – Konkomitanzlehre heran: „daß Christi Leib

1

Zur Geschichte vgl. Balthasar Fischer, Die Kelchkommunion im Abendland. Eine historische Skizze, in: LJ 17 (1967), S. 18 – 32; Josef Andreas Jungmann, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe, Freiburg i. Br. 51962, Bd. 2, S. 474 – 479; Hans Bernhard Meyer, Eucharistie. Geschichte, Theologie, Pastoral. Mit einem Beitrag von Irmgard Pahl (= Gottesdienst der Kirche, Teil 4), Regensburg 1989, S. 498 – 500.

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Rudolf Pacik

und Blut ganz sowohl unter der Gestalt des Brotes als auch unter der Gestalt des Weines wahrhaft enthalten sind“.2 Dies zu bekennen war die Bedingung dafür, dass für Böhmen 1436 der Laienkelch gestattet wurde.3 Das Dekret des Konstanzer Konzils bedeutete also kein absolutes Verbot des Laienkelches, wurde aber weithin so gehandhabt. 2. Konzil von Trient (21. und 22. Sitzung, 1562) Das Konzil von Trient bekräftigte die Aussagen von Konstanz im Dekret über die Kommunion unter beiderlei Gestalten und die Kinderkommunion (21. Sitzung, 16. 7. 1562, cap. 1 – 3 und can. 1 – 3).4 Am Ende von cap. 2 wird sinngemäß der Konstanzer Text zitiert: „et pro lege habendam decrevit, quam reprobare aut sine ipsius Ecclesiae auctoritate pro libito mutare non licet“ und ihm – wohl das „sine ecclesiae auctoritate“ erläuternd – ein Argument vorangestellt, das später eine wichtige Rolle spielen sollte: „Außerdem erklärt die Synode, in der Kirche habe es immer die Vollmacht gegeben, bei der Verwaltung der Sakramente – wenn nur ihre Substanz unangetastet blieb – das festzulegen oder zu verändern, was nach ihrem Urteil dem Nutzen der Empfangenden oder der Verehrung der Sakramente je nach Veränderung der Dinge, Zeiten und Orte zuträglicher ist.“5

(Man hat den Eindruck, dass später die Unterwerfung unter die kirchliche Autorität – durch Annehmen des faktischen Kelchverbots – wichtiger wurde als der Gehorsam gegenüber der Stiftung Jesu.) 2

„[...] integrum Christi corpus et sanguinem tam sub specie panis, quam sub specie vini veraciter contineri.“„[...] habenda est pro lege, quam non licet reprobare, aut sine eclesiae auctoritate pro libito innovare.“ Deutsche Übersetzung: Dekrete der Ökumenischen Konzilien. Bd. 2: Konzilien des Mittelalters. Vom Ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512 – 1517). Im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus von Josef Wohlmuth, Paderborn 2000, S. 418 – 419, hier S. 419. 3

Diese Übereinkunft des böhmischen Landtags mit dem Basler Konzil (Prager Kompaktaten) erfolgte allerdings ohne Zustimmung von Papst Eugen IV; Pius II. widerrief die Erlaubnis 1462. Vgl. Winfried Eberhard, Art. Prager Kompaktaten, in: LThK3 8, Sp. 498. 4 5

DH 1725 – 1729. 1731 – 1733; COD S. 726 – 728.

DH 1728; COD S. 726. Deutsche Übersetzung: Dekrete der Ökumenischen Konzilien. Bd. 3: Konzilien der Neuzeit. Konzil von Trient (1545 – 1563). Erstes Vatikanisches Konzil (1869/70). Zweites Vatikanisches Konzil (1962 – 1965). Indices. Im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und herausgegeben unter Mitarbeit von Gabriel Sunnus und Johannes Uphus von Josef Wohlmuth, Paderborn 2002, S. 726.

Wer darf wann die Kommunion unter beiden Gestalten empfangen?

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In der 22. Sitzung (vom 17. 9. 1562) verabschiedeten die Väter das Dekret über die Bitte um Gewährung des Kelches6: Den Laienkelch zu gestatten bleibt „unserem heiligsten Herrn“ (also dem Papst) vorbehalten. Tatsächlich gab es in der Folge Indulte für rheinische Diözesen, für Bayern und für ÖsterreichUngarn; sie wurden aber bald wieder zurückgezogen, u. a. wohl wegen heftiger Reaktionen der Kelchgegner, welche die Kommunion unter beiden Gestalten als Protestantismus-Symbol betrachteten. 3. Motive Die offiziellen Aussagen des 15. und 16. Jahrhunderts – welche auch die zur Zeit des II. Vaticanums neu entstandene Diskussion prägten – lassen sich so zusammenfassen: 1) Die Kelchkommunion ist nicht notwendig. Denn Christus wird sowohl im Brot wie im Wein ganz empfangen; bei der Kommunion unter einer Gestalt erhält man nicht weniger Gnaden als bei der Kommunion sub utraque specie. 2) Die kirchliche Autorität hat die Vollmacht, über die Spendung der Sakramente zu verfügen – sofern deren Wesen unangetastet bleibt. 3) Die Kelchkommunion kann von der kirchlichen Autorität gewährt / erlaubt werden. II. Zweites Vatikanisches Konzil: vorsichtige Öffnung 1. Aussagen im dritten Schema (11. – 13. 1. 1962) und im Konzils-Schema der Liturgiekonstitution Dass die Schemata der Liturgiekonstitution (10. 8. 1961, 15. 11. 1961, 11. – 13. 1. 1962) die Kommunion unter beiden Gestalten behandelten, verwundert nicht. Denn unter den Antworten an die Commissio Antepraeparatoria waren etliche Forderungen, die Kommunion unter beiden Gestalten wieder zuzulassen.7 – Im dritten Liturgie-Schema lautet der betreffende Artikel:

6 7

DH 1760; COD S. 741.

Vgl. Reiner Kaczynski, Die Wiedereinführung der Kelchkommunion im römischen Ritus, in: „...und trinket alle daraus“. Zur Kelchkommunion in unseren Gemeinden. Hrsg. v. Heinrich Spaemann (= Gemeinde im Gottesdienst), Freiburg i. Br. 1986, S. 74 – 97, hier S. 74 – 76.

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„42. [Kommunion unter beiden Gestalten] Die Kommunion unter beiden Gestalten kann, nachdem die Gefahr für den Glauben beseitigt ist, für bestimmte und genau umschriebene Fälle nach dem Ermessen der Bischöfe sowohl Klerikern und Ordensleuten wie auch Laien gewährt werden . [Erläuterung] Da in unserer Zeit die Gefahr für den Glauben eher fern zu sein scheint, bezüglich welcher das heilige Konzil von Trient, Sess. 21, can. 1 – 3, auf sehr gute Weise Vorkehrungen getroffen hatte, wünschten mehrere Bischöfe, dass die Kommunion unter beiden Gestalten gewährt werde, gewiss nicht unterschiedslos und allen – denn es gibt große praktische Nachteile, und die Anpassung von Frömmigkeit und Denken der Gläubigen wird schwierig sein –, doch ‚für bestimmte und genau zu umschreibende Fälle‘, zum Beispiel: den konzelebrierenden Priestern; der Assistenz im Hochamt; bei der Erteilung der heiligen Weihen; beim Ordensgelübde; bei der Taufe eines Erwachsenen und der Aufnahme eines Konvertiten; bei der Feier der Trauung und ähnlichem. Durch diese Erneuerung, auch wenn sie selten zugelassen wird, würde sich die Liebe der Kirche gegenüber den getrennten Brüdern und die Einheit der östlichen mit den westlichen Riten zeigen; die christliche Andacht zum kostbaren Blut Christi würde gefördert; die Gläubigen verstünden besser, dass die Eucharistie Vergegenwärtigung des Kreuzesopfers und Ankündigung jenes ewigen Reiches ist, in dem die neue Frucht des Weinstocks getrunken werden wird. Handelt es sich aber um die Kommunion der in der Messe konzelebrierenden Priester, so würde deutlicher aufscheinen, dass diese mit dem Hauptzelebranten zusammen wahrhaft konsekrieren und opfern. Was die Vorsichtsmaßnahmen betrifft, halte man die Rubriken im Caeremoniale sanctae Romanae Ecclesiae über die Kommunion des Blutes [Christi] bei der Papstmesse ein.“8

Dieses dritte Schema ist nicht die Fassung, die den Konzilsvätern vorlag. Denn die Zentrale Subkommission für Verbesserungen hatte den Entwurf der Vorbereitenden Liturgiekommission geändert. Vor allem fehlten die Erläuterungen (und damit wertvolle Informationen für die Konzilsväter). Der Artikel 42 hat nun folgenden Text: „Die Kommunion unter beiden Gestalten kann, nachdem die Gefahr für den Glauben beseitigt ist, für bestimmte, vom Hl. Stuhl genau umschriebene Fälle, wie z. B. in der Messe anlässlich der heiligen Weihe, nach dem Ermessen der Bischöfe sowohl Klerikern und Ordensleuten wie auch Laien gewährt werden.“9

8

ADCOV Ser. 2, Vol. 3,2, Vatikanstadt 1969, S. 7 – 68, hier S. 32 f. – Der Originaltext des Artikels lautet: „Communio sub utraque specie, sublato fidei periculo, pro certis et bene determinatis casibus, iudicio Episcoporum, tum clericis et religiosis, tum laicis concedi potest.“ 9 „Communio sub utraque specie, sublato fidei periculo, pro certis casibus a Sancta Sede bene determinatis, uti, v. g., in Missa sacrae Ordinationis, iudicio Episcoporum,

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Sachlich ist alles gleich geblieben. Dazu kommen zwei Präzisierungen: 1) die Anlässe für die Kommunion unter beiden Gestalten sind vom Hl. Stuhl festzulegen; 2) ein Beispiel wurde (wohl als Ersatz für die weggefallene Erläuterung) eingefügt: die Messe der Priesterweihe. 2. Debatte in der Konzilsaula (29. 10. bis 6. 11. 1962) / Neuer Artikel 55,2 Auf dem Konzil diskutierte man über Kapitel II „De sacrosancto Eucharistiae mysterio“ des Schemas in den Generalkongregationen 9 bis 13 (zwischen 29. 10. und 6. 11. 1962). Die Ansichten zu Artikel 42 waren geteilt: Von den 66 Rednern und Verfassern schriftlicher Eingaben lehnten 16 jede Änderung der bestehenden Disziplin ab, z. T. ohne Argumente, z. T. wegen praktischer und/oder hygienischer Schwierigkeiten, z. T. unter Hinweis auf die Aussagen des Konstanzer und des Trienter Konzils, einmal sogar mit Berufung auf die neutestamentlichen Abendmahlsberichte, denen zufolge Jesus nur den zuvor Ordinierten den Kelch gereicht habe (!)10; viele andere traten dafür ein, die Kelchkommunion prinzipiell zu ermöglichen, wollten sie jedoch auf bestimmte Anlässe und/oder Personengruppen beschränken; nur ganz wenige Väter forderten eine komplette Freigabe. Entscheidend wurden die Reden, die stichhaltige Argumente – biblisch, historisch, gesamtkirchlich, ökumenisch, pastoral – zugunsten einer (vorsichtigen) Öffnung enthielten.11 Der durch die Konzils-Liturgiekommission erstellte neue Text – nun der zweite Absatz von Art. 55 – brachte wenige, aber wichtige Verbesserungen: „Unbeschadet der durch das Konzil von Trient festgelegten dogmatischen Prinzipien kann in Fällen, die vom Apostolischen Stuhl zu umschreiben sind, nach Ermessen der Bischöfe sowohl Klerikern und Ordensleuten wie auch Laien die Kommunion unter beiden Gestalten gewährt werden, so etwa den Neugeweihten in der Messe ihrer heiligen Weihe, den Ordensleuten in der Messe bei ihrer Ordensprofess und den Neugetauften in der Messe, die auf die Taufe folgt.“12

tum clericis et religiosis, tum laicis concedi potest.“ ADCOV Vol. 1,1, Vatikanstadt 1970, S. 280. 10

Ramón Iglesias Navarri (Urgell, Spanien): ADCOV Vol. 1,2, Vatikanstadt 1970, S. 62. 11 12

Vgl. Kaczynski, Wiedereinführung (Anm. 7), S. 79 – 82.

„Communio sub utraque specie, firmis principiis dogmaticis a Concilio Tridentino statutis, in casibus ab Apostolica Sede definiendis, tum clericis et religiosis, tum laicis concedi potest, de iudicio Episcoporum, veluti ordinatis in Missa sacrae suae ordinationis, professis in Missa religiosae suae professionis, neophytis in Missa quae Baptismum subsequitur.“

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1) Der – u. a. die Ostkirchen beleidigende – Passus „Nachdem die Gefahr für den Unglauben beseitigt ist“ wurde durch den Verweis auf die Lehren des Trienter Konzils ersetzt. 2) Statt „für bestimmte, vom Hl. Stuhl genau umschriebene Fälle“ heißt es nun offener: „in Fällen, die vom Apostolischen Stuhl zu umschreiben sind“. Ob sie angewendet werden, darüber entscheiden die Bischöfe. 3) Drei Anlässe der Kelchkommunion sind erwähnt, je einer für Kleriker, Ordensleute und Laien, und zwar durch das Wort „veluti“ als Beispiele gekennzeichnet; dadurch wurden spätere Erweiterungen möglich.13 III. Nachkonziliare Gesetzgebung bis 1970: Vermehrung der Anlässe Die Gesetzgebung nach dem II. Vaticanum bezüglich der Kommunion unter beiden Gestalten beschränkte sich zunächst darauf, mehr Anlässe und Personengruppen zu nennen. 1. Ritus für Konzelebration und Kommunion unter beiden Gestalten (7. 3. 1965) Im „Ritus servandus in concelebratione Missae et ritus Communionis sub utraque specie“ von 196514 wendet der Hl. Stuhl nun Art. 55 der Liturgiekonstitution an und zählt (taxativ) elf Anlässe bzw. Personengruppen auf, für welche die Kommunion – nach Entscheidung des Bischofs – gewährt werden kann. Der Passus der Liturgiekonstitution „unbeschadet der durch das Konzil von Trient festgelegten dogmatischen Prinzipien“ wird anschließend – unter dem Titel „Die vorbereitende Unterweisung“ – durch wörtliche und sinngemäße Zitate aus dem

13

Vgl. dazu Josef Andreas Jungmann, Einleitung und Kommentar zur Liturgiekonstitution, in: LThK2.E Bd. 1, Freiburg i. Br. 1966, S. 9 – 109, hier S. 57 – 59; Hans Bernhard Meyer, Wann ist Kelchkommunion möglich? Die kirchlichen Dokumente und ihre Interpretation, in: Heiliger Dienst 44 (1990) Nr. 3, S. 27 – 35, hier S. 29 f; Reiner Kaczynski, Theologischer Kommentar zur Konstitution über die heilige Liturgie Sacrosanctum Concilium, in: Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Hrsg. v. Peter Hünermann / Bernd Jochen Hilberath, Bd. 2, Freiburg i. Br. 2004, S. 1 – 227, hier S. 133 f. 14 Ritus servandus in concelebratione Missae et ritus Communionis sub utraque specie, Vatikanstadt 1965; deutsch: Dokumente zur Erneuerung der Liturgie, Bd. 1: Dokumente des Apostolischen Stuhls 1963 – 1973. Hrsg. v. Heinrich Rennings / Martin Klöckener, Kevelaer 1983 [= DEL Bd. 1], Nr. 392a – 392t, hier Nr. 392r – t. Dekret: AAS 57 (1965), S. 410 – 412; deutsch: DEL Bd. 1, Nr. 387 – 392.

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Trienter Dekret der 21. Sitzung erläutert, d. h. die Konkomitanzlehre (cap. 3) und die Vollmacht der Kirche, über die Sakramente zu verfügen (cap. 2). Dieser Abschnitt schließt mit dem Satz (der auch ganz knapp den Sinn der Kelchkommunion erwähnt): „Gleichzeitig soll man die Gläubigen auffordern, das heilige Geschehen, in welchem das Zeichen des eucharistischen Mahles deutlicher sichtbar wird, mit größerer Anteilnahme mitzufeiern.“ Die Hinweise zu den benötigten Geräten zeigen, dass – neben dem Trinken aus dem Kelch – weitere drei Arten der Kommunion vorgesehen sind: durch Eintauchen, mit Röhrchen und mit Löffel. 2. Instruktion „Eucharisticum mysterium“ (25. 5. 1967) Die Instruktion der Ritenkongregation „Eucharisticum mysterium“15 bleibt in Nr. 32 auf der Linie des Ritus servandus von 1965 und beruft sich auf ihn. D. h. es werden wieder nur Fälle benannt, aus denen die Bischöfe wählen können, nun allerdings 18 – die in 13 Punkten zusammengezogen sind. Der einleitende Absatz erläutert die Bedeutung der Kommunion unter beiden Gestalten ausführlicher als der Ritus servandus von 1965 und weist auf das Trienter Konzil hin: „Die heilige Kommunion wird zu einem deutlicheren Zeichen, wenn sie unter beiden Gestalten empfangen wird. Denn in dieser Form ist das Zeichen des eucharistischen Mahles leichter erkennbar; es kommen klarer zum Ausdruck: die Absicht, daß der neue und ewige Bund im Blute des Herrn geschlossen werden sollte und die Beziehung zwischen dem eucharistischen Mahl und dem endzeitlichen Mahl im Reiche des Vaters (Mt 26,27 – 29). (Dabei bleiben die vom Konzil von Trient festgelegten Prinzipien bestehen, nach denen der ganze und ungeteilte Christus und das wahre Sakrament unter jeder der beiden Gestalten empfangen wird.)“

3. Ordo Missae (6. 4. 1969) und Missale Romanum (26. 3. 1970) In der Zeit, da das erneuerte Missale Romanum vorbereitet wurde, konnte man sich in der Kurie auf eine großzügigere Regelung nicht einigen. Zwar hatte die Ritenkongregation schon im Juni 1968 den Entwurf für ein Dekret erstellt,

15

Ritenkongregation / Rat zur Durchführung der Liturgiekonstitution, Instruktion über Feier und Verehrung des Geheimnisses der Eucharistie ,,Eucharisticum mysterium“ (25. 5. 1967), in: AAS 59 (1967), S. 539 – 573; Notitiae 3 (1967), S. 225 – 260; deutsch: DEL Bd. 1, Nr. 899 – 965; Art. 32: DEL 1, Nr. 930.

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das die Möglichkeiten für die Kommunion unter beiden Gestalten ausweiten sollte. Doch sonst geschah zunächst nichts.16 Die erste Fassung der Institutio generalis Missalis Romani (= IGMR) vom 6. 4. 1969, die zusammen mit dem neuen Ordo Missae (also noch ohne Missale) veröffentlicht wurde, enthielt in Nr. 242 die Liste von „Eucharisticum mysterium“, wobei im Vorspann eine entsprechende Belehrung verlangt wird („et debita catechesi praemissa“). Dazu kommt ein weiterer Anlass, den nur Nr. 76 erwähnt: die als Konzelebration gefeierte Konventmesse. Alle Mitglieder der Gemeinschaft, auch nicht konzelebrierende Priester und Laien, dürfen da die Kommunion unter beiden Gestalten empfangen, und zwar offenbar ohne eigene Genehmigung durch den Diözesanbischof.17 Das komplette Missale Romanum vom 26. 3. 1970 hat den in IGMR Nr. 242 aufgeführten Anlässen einen 14. Punkt hinzugefügt: die – vorher lediglich in Nr. 76 genannte – Konvent- und (nun auch:) Kommunitätsmesse. Sonst blieb der Artikel, wie er war. Hier der Text:18 „Gemäß dem Urteil des Bischofs und nach entsprechender Unterweisung wird die Kelchkommunion in folgenden Fällen gestattet: 1. Erwachsenen in der Messe, die auf ihre Taufe folgt; Erwachsenen in der Messe ihrer Firmung; Getauften, die in die volle Gemeinschaft der Kirche aufgenommen werden; 2. Brautleuten in der Brautmesse; 3. Diakonen in der Weihemesse; 4. der Äbtissin in der Messe ihrer Weihe; Jungfrauen in der Messe der Jungfrauenweihe; Ordensleuten mit ihren Eltern, Verwandten, Bekannten19 und Mitbrüdern in der Messe der ersten oder erneuerten oder ewigen Profess, sofern die Gelübde innerhalb der Messe abgelegt oder erneuert werden;

16

Zu den Vorgängen vgl. Annibale Bugnini, La riforma liturgica (1948 – 1975). Nuova edizione riveduta e arricchita di note e di supplementi per una lettura analitica (= BEL.S, Bd. 30), Rom 1997, S. 612 – 614. 17

Darauf weist Bugnini, ebd., S. 611 hin.

18

Missale Romanum ex decreto sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli pp. VI promulgatum. Editio typica. Vatikanstadt 1970, S. 69 f. – Statt des deutschen Messbuchs verwende ich hier z. T. eine eigene Übersetzung. 19

Das lateinische „propinqui“ wird allgemein, auch in den offiziellen deutschen Fassungen, mit „Verwandte und Bekannte“ wiedergegeben.

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5. allen, die eine Beauftragung empfangen, in der Messe, bei der sie beauftragt werden: Laienmissionshelfern in der Messe, in der sie öffentlich ihre Sendung erhalten; desgleichen anderen, die innerhalb einer Messe eine kirchliche Sendung erhalten; 6. Kranken und allen Anwesenden bei der Spendung der Wegzehrung, wenn die Messe im Haus des Kranken gefeiert wird; 7. Diakonen und Dienstträgern, in der Messe ihren Dienst versehen; 8. bei Konzelebrationen: a) allen, die ein wirklich liturgisches Amt ausüben, sowie allen Seminaristen; b) allen Mitgliedern von Ordensgemeinschaften und anderen Vereinigungen mit Gelübden, Weihen oder Versprechen in ihren Kirchen oder Kapellen; ferner allen, die in Häusern der genannten Gemeinschaften und Vereinigungen wohnen; 9. Priestern, die an großen Feierlichkeiten teilnehmen und selbst nicht zelebrieren oder konzelebrieren können; 10. allen, die an Exerzitien teilnehmen, in der Messe, die für sie als Gemeinschaftsmesse gehalten wird; ebenso allen, die an einer Tagung mit pastoraler Thematik teilnehmen, in der Messe, die sie in Gemeinschaft feiern; 11. den unter Nr. 2 und 4 genannten Personen in ihrer Jubiläumsmesse; 12. Paten, Eltern, Ehegatten und Laienkatecheten von getauften Erwachsenen in deren Taufmesse; 13. Eltern, Verwandten (familiaribus) sowie Wohltätern eines Neupriesters in der Primizmesse; 14. Mitgliedern von Gemeinschaften in der Konvents- bzw. Kommunitätsmesse entsprechend Nr. 76 der Allgemeinen Einführung.“

In den übrigen Artikeln zur Kommunion unter beiden Gestalten wird der Sinn der Kelchkommunion erläutert (Nr. 240; fast wörtlich der Nr. 32 von „Eucharisticum mysterium“ entnommen), die Unterweisung der Gläubigen über die Aussagen des Trienter Konzils (Konkomitanz, Vollmacht der Kirche) eingeschärft (Nr. 241; aus dem Ritus servandus von 1965), die vier Formen der Spendung (Trinken aus dem Kelch, Eintauchen, Röhrchen, Löffel) beschrieben (Nr. 243 – 252). 4. Instruktion über Gruppenmessen „Actio pastoralis“ (15. 5. 1969); deutsche und österreichische Richtlinien für Gruppenmessen (24. 9. 1970 / 1. 7. 1971) Schon früher, mit Datum vom 15. 5. 1969, war die Instruktion der Gottesdienstkongregation über Messfeiern mit besonderen Gruppen „Actio pastora-

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lis“20 erschienen. Für die Kommunion unter beiden Gestalten verweist das Dokument auf das Messbuch (IGMR Nr. 240 – 243). Merkwürdigerweise wird sie in Hausmessen verboten, ausgenommen die Wegzehrung. Die deutschen und die österreichischen Bischöfe dagegen empfahlen in ihren Richtlinien für Gruppenmessen21 die Kelchkommunion: „Die Kommunion unter beiden Gestalten ist gerade in einer Messfeier im kleinen Kreis angezeigt. Dabei sollen alle aus dem einen Kelch trinken, soweit das praktisch möglich ist.“

IV. Nachkonziliare Gesetzgebung seit 1970: Mehr Anlässe, aber auch Dezentralisierung und grundsätzliche Regelung 1. Instruktion „Sacramentali communione“ (29. 6. 1970) Nach längeren Auseinandersetzungen unter den Kongregationen und persönlichem Eingreifen von Papst Paul VI.22 erschien mit Datum vom 29. 6. 1970 die Instruktion „Sacramentali Communione“ über die Erweiterung der Vollmacht, die heilige Kommunion unter beiden Gestalten zu spenden.23 Diese Instruktion geht erstmals über das kasuistische Aufzählen von Anlässen hinaus. Zwar enthält ein Anhang die 14-gliedrige Liste der IGMR Nr. 242 nach der Ausgabe von 1970. Doch der Haupttext bietet in sechs Punkten grundsätzliche Richtlinien: „1. Die Kommunion unter beiden Gestalten kann, nach dem Urteil des Ordinarius, in den vom Apostolischen Stuhl festgelegten Fällen entsprechend der beiliegenden Aufstellung gereicht werden. 20 Gottesdienstkongregation, Instruktion über die Messfeiern mit besonderen Gruppen „Actio pastoralis“ (15. 5. 1969), in: AAS 61 (1969), S. 806 – 811; Notitiae 6 (1970), S. 50 – 55; deutsch: DEL Bd. 1, Nr. 1843 – 1857. 21 Richtlinien für Messfeiern kleiner Gemeinschaften (Gruppenmessen). Approbiert von der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 24. 9. 1970, veröffentlicht in den Amtsblättern der Diözesen; von der Österreichischen Bischofskonferenz approbiert am 1. 7. 1971, veröffentlicht in: Texte der Liturgischen Kommission für Österreich, Heft 1, Salzburg 1974, S. 45 – 53, hier S. 52; 31992, S. 61 – 73, hier S. 72. Internet: http:// www.liturgie.de/richtliniengruppenmessen.html. 22 23

Vgl. Bugnini, Riforma (Anm. 16), S. 612 – 614.

Gottesdienstkongregation, Instruktion über die Erweiterung der Vollmacht, die heilige Kommunion unter beiden Gestalten zu spenden „Sacramentali Communione“ (29. 6. 1970), in: AAS 62 (1970), S. 664 – 666; Notitiae 6 (1970), S. 322 – 324; deutsch: DEL Bd. 1, Nr. 2144 – 2153.

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2. Außerdem können die Bischofskonferenzen bestimmen, in welchem Ausmaß, aus welchen Gründen und unter welchen Bedingungen die Ordinarien die Kommunion unter beiden Gestalten in anderen Fällen genehmigen können, die für das geistliche Leben einer Gemeinschaft oder einer Gruppe von Gläubigen von großer Bedeutung sind. 3. Innerhalb dieser Grenzen können die Ordinarien besondere Fälle benennen, jedoch unter der Bedingung, daß die Vollmacht nicht unterschiedslos gegeben, sondern die Feiern genau bestimmt und die zu berücksichtigenden Umstände genannt werden. Außerdem sollen Anlässe ausgespart werden, bei denen viele Gläubige zur Kommunion gehen. Die Gruppen, denen diese Vollmacht gewährt wird, sollen genau umschrieben, geordnet und homogen sein. 4. Der Ortsordinarius kann diese Vollmachten für alle Kirchen und Oratorien innerhalb seines Gebietes gewähren, der Ordensordinarius für die von ihm abhängigen Häuser. Beide haben aber dafür zu sorgen, daß die vom Apostolischen Stuhl oder von der Bischofskonferenz erlassenen Normen eingehalten werden. Bevor sie die Vollmacht gewähren, müssen sie sich vergewissern, daß alles wirklich so vollzogen werden kann, daß die Heiligkeit des Sakramentes sicher gewahrt bleibt. 5. Bevor die Gläubigen zur Kommunion unter beiden Gestalten zugelassen werden, soll immer eine entsprechende Unterweisung vorausgehen, in der ihnen die Bedeutung dieses Ritus umfassend dargelegt wird. 6. Damit die Kommunion unter beiden Gestalten würdig gereicht wird, ist sorgfältig darauf zu achten, daß alles mit gebührender Ehrfurcht geschieht und der in Nr. 244 – 251 der Allgemeinen Einführung in das Römische Meßbuch beschriebene Ritus eingehalten wird. Man wähle die Art und Weise, in der aller Voraussicht nach die Kommunion würdig, ehrfurchtsvoll und geziemend gereicht werden kann und die Gefahr der Ehrfurchtslosigkeit vermieden wird. Man achte dabei auf die Eigenart jeder liturgischen Versammlung sowie auf das Alter, die Voraussetzungen und die Vorbereitung der Empfänger. Unter den von der Allgemeinen Einführung in das Römische Meßbuch vorgesehenen Formen nimmt die Kommunion aus dem Kelch selbst den ersten Platz ein. Jedoch ist auch diese nur dann zu wählen, wenn alles in geziemender Ordnung und ohne jede Gefahr der Ehrfurchtslosigkeit gegen das Blut Christi verlaufen kann. Daher sollen – falls anwesend – andere Priester oder Diakone oder Akolythen den Kelch reichen. Nicht zu billigen erscheint das Weiterreichen des Kelches von einem zum anderen oder das unmittelbare Herantreten der Kommunizierenden zum Kelch, um das Blut zu nehmen. Sooft die oben genannten Kommunionspender nicht zur Verfügung stehen, soll – bei einer geringen Zahl von Kommunikanten und wenn die Kommunion unter beiden Gestalten durch unmittelbares Trinken aus dem Kelch geschieht – der Priester selbst die Kommunion austeilen, zuerst unter der Gestalt des Brotes, dann unter der des Weines. Andernfalls gebe man der Kommunion unter beiden Gestalten in der Form des Eintauchens den Vorzug, damit so besser den praktischen Schwierigkeiten begegnet und

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die dem Sakrament schuldige Ehrfurcht passender bewahrt werden kann. Diese Art erleichtert und sichert den Gläubigen jeden Alters und jeden Standes den Zugang zur Kommunion unter beiden Gestalten. Gleichzeitig wird die Echtheit des volleren Zeichens gewahrt.“

In der Einleitung, die auch auf die Vorgeschichte seit dem II. Vatikanischen Konzil eingeht, wird der Sinn der erweiterten Erlaubnis gemäß IGMR Nr. 240 so erklärt: Den Gläubigen soll „die Fülle des Zeichens im eucharistischen Mahl klarer vor Augen gestellt“ werden. Die neuen Richtlinien bringen eine Dezentralisierung mit sich, was die Gesetzgeber betrifft. Nun liegt die Zuständigkeit bei den Bischofskonferenzen und bei den (Orts- und Ordens-)Ordinarien. Die Bischofskonferenzen können Beschlüsse fassen und die römische Liste um weitere Fälle erweitern – über die dann für ihren Bereich wieder die Ordinarien entscheiden; doch außerdem dürfen die einzelnen Ordinarien besondere, genau umgrenzte Fälle benennen. (Allerdings: Wenn die Bischofskonferenzen keinen Beschluss fassen, dann gilt weiterhin nur die Liste von IGMR Nr. 242.24) 2. Durchführungserlässe der deutschsprachigen Bischofskonferenzen Die Bischofskonferenzen des deutschsprachigen Raumes erließen 1971 bzw. 1972 Durchführungsbestimmungen zur Instruktion.25 Die Kommunion unter beiden Gestalten wird darin ermöglicht: (1) für alle Anlässe, welche die Nr. 242 der Institutio Generalis Missalis Romani und die Instruktion vom 29. 6. 1970 aufzählen; (2) darüber hinaus „können die Ordinarien gemäß der Instruktion vom 29. 6. 1970 und nach Beschluss der Bischofskonferenz die Kelchkommunion in folgenden Fällen gestatten: 24

So die offiziösen Erläuterungen: Notitiae 6 (1970), S. 326 – 328, hier S. 326. (Diese „Notulae“ stehen nur in Notitiae, nicht aber in AAS.). 25

Richtlinien der deutschen Bischofskonferenz zur Kommunionspendung. Ausführungsbestimmungen zur römischen Instruktion vom 29. 6. 1970 über die Kommunion unter beiden Gestalten, in: NKD Heft 31, Trier 1972, S. 74 – 76; Kommunionspendung unter beiden Gestalten. Richtlinien der Österreichischen Bischofskonferenz. A. Ausführungsbestimmungen zur Römischen Instruktion vom 29. Juni 1970 über die Kommunion unter beiden Gestalten, in: Diözesanblatt Wien 109 (1971) 144 f. – Von den Bischofskonferenzen Deutschlands (1. – 4. 3. 1971), Österreichs (1. 7. 1971), der Schweiz (5. – 7. 7. 1971), von der Berliner Ordinarienkonferenz (15. – 16. 6. 1971) und vom Bischof von Luxemburg (17. 10. 1972) inhaltlich übereinstimmend beschlossen. Vgl. Der Gottesdienst im deutschen Sprachgebiet. Liturgische Dokumente, Bücher und Behelfe. Unter Mitarbeit von J.[osef] Schermann hrsg. und eingeleitet von H.[ans] B.[ernhard] Meyer (= Studien zur Pastoralliturgie, Bd. 5), Regensburg 1982, S. 307.

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a)

Bei Meßfeiern kleiner Gemeinschaften, wenn die volle Zeichenhaftigkeit des Mahls für das christliche Leben der Teilnehmer besonderen Wert hat;

b)

Bei Meßfeiern an hervorgehobenen Festtagen, wenn die Zahl der Teilnehmer nicht zu groß ist.

Die zur Deutschen Bischofskonferenz gehörenden Ordinarien geben diese Erlaubnis für alle Kirchen und Oratorien. Im Einzelfall steht das Urteil dem zelebrierenden Priester, in Pfarrkirchen dem Pfarrer, zu.“

Weiters wird auf die Ehrfurcht hingewiesen, mögliche Themen der Unterweisung (entsprechend dem Anhang der Instruktion) angegeben sowie die Formen der Kommunionspendung beschrieben. „6. Die Prüfung eventueller anderer Formen und in der Allgemeinen Einführung nicht vorgesehener liturgischer Geräte für die Kommunion unter beiden Gestalten behält sich die Bischofskonferenz vor.“

Die deutschsprachigen Bischofskonferenzen haben die Anlässe der Kommunion unter beiden Gestalten also auf zweifache Weise erweitert, wobei kleine Gemeinschaften schon in den Richtlinien für Gruppenmessen von 1970/1971 berücksichtigt sind.26 Die Liturgiewissenschaftler Reiner Kaczynski und Hans Bernhard Meyer legten die neuen Regelungen – römische Instruktion und deutschsprachige Richtlinien – weit aus: Letztlich sei nun in jeder Messe mit Gemeinde die Kelchkommunion (oder eine andere Form der Kommunion unter beiden Gestalten) möglich. Die Argumente dafür: −

Werktagsmessen sind normalerweise Messfeiern kleiner Gemeinschaften, und das volle Zeichen des Sakraments hat für die Teilnehmenden großen Wert.



Sonn- und Feiertagsmessen fallen eindeutig unter die Kategorie „hervorgehobene Festtage“, zumal doch der Sonntag in der Liturgiekonstitution (Art. 106) als Ur-Feiertag (primordialis dies festus) bezeichnet wird.27

26

In den Erläuterungen (Anm. 24) S. 327 wird wegen der zu großen Kommunikantenzahl die Kommunion unter beiden Gestalten für die Osternacht und die Weihnachtsmette verboten! 27

Kaczynski, Wiedereinführung (Anm. 7), S. 91; Meyer, Wann ist Kelchkommunion möglich? (Anm. 13), S. 32 – 35 (Abschnitt „Zur Interpretation der kirchlichen Dokumente“).

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3. Missale Romanum – Editio typica 2a (27. 3. 1975) In der zweiten Editio typica des Missale Romanum von 27. 3. 1975 sind bei Nr. 242 der IGMR Teile der neuen Instruktion, nämlich die Nummern 2. und 3., an die Aufzählung der Fälle angefügt. Die aufgrund des CIC 1983 bearbeitete Fassung der Institutio generalis (Messbuch deutsch: 21988) ist in Nr. 242 nur unwesentlich verändert. 4. Andere Ritusbücher Ich bringe hier Beispiele für weitere Ordnungen, welche die Kelchkommunion zwar nicht für alle, aber für bestimmte Personen anführen:28 Im Ritus der Erwachseneninitiation von 197229 wird unter Nr. 234 gesagt: „Es empfiehlt sich, dass die Neugetauften die hl. Kommunion unter beiden Gestalten empfangen, zusammen mit den Paten, Patinnen, Eltern und Ehepartnern sowie den Laienkatecheten.“ Der Ritus der Ordensprofess, ebenfalls aus 197230, gibt in Nr. 75 die Anweisung: „Nachdem der Zelebrant Leib und Blut Christi empfangen hat, gehen die Neuprofessen zum Altar, um die Kommunion zu empfangen, die ihnen unter beiden Gestalten gespendet werden kann. Nach ihnen können Eltern, Verwandte, Bekannte, Mitbrüder [bzw. Mitschwestern] auf dieselbe Weise die Eucharistie empfangen.“

Besonders viele Anlässe für die Kommunion unter beiden Gestalten führt das Caeremoniale Episcoporum von 198431 an. Sie sind in dessen Register aufgelistet:

28

Der Einfachheit halber zitiere ich hier nur römische Editiones typicae, nicht die Ordnungen des deutschen Sprachgebietes. Die Übersetzungen stammen von mir. 29

Ordo Initiationis Christianae adultorum. Editio typica (= Rituale Romanum ex decreto sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli pp. VI promulgatum), Vatikanstadt 1972, S. 97; die Praenotanda Nr. 36 (ebd. S. 23) rechnen mit der Kelchkommunion der Neugetauften als Normalfall. 30

Ordo Professionis religiosae. Editio typica (= Rituale Romanum ex decreto Sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli pp. VI promulgatum), Vatikanstadt 1972, S. 35; bei der Erneuerung der Gelübde (Nr. 90, S. 39) werden nur die betreffenden Ordensleute genannt, nicht die Angehörigen etc. 31

Caeremoniale Episcoporum. Ex decreto sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Ioannis Pauli pp. II promulgatum. Editio typica, Vatikanstadt 1984, S. 315. Die deutsche Bearbeitung nennt noch mehr Fälle: Zeremoniale für die

Wer darf wann die Kommunion unter beiden Gestalten empfangen?

841

1.

Nicht konzelebrierende Priester in der Missa Chrismatis;

2.

Nicht konzelebrierende Mitglieder von Konzilien und Synoden;

3.

Neugeweihte Diakone in der Weihemesse;

4.

Eltern, Verwandte und Bekannte von Diakon, Priester, Bischof in der Weihemesse;

5.

Neugetaufte und ihre Paten, Eltern, Ehepartner und Katecheten bei der Messe, die auf die Taufe folgt;

6.

Neugetaufte in der Messe mit dem Bischof während der Zeit der Mystagogie und beim Jahrestag der Taufe;

7.

Eltern, Paten sowie Verwandte und Bekannte in der Messe anlässlich der Taufe von Säuglingen;

8.

Neugefirmte, Paten, Eltern, Verwandte, Bekannte und Katecheten in der Firmungsmesse;

9.

Brautleute, Eltern, Zeugen, Verwandte und Bekannte in der Brautmesse;

10. Kranke und alle Anwesenden bei der Messe anlässlich der Salbung mehrerer Kranker; 11. Eltern, Verwandte, Bekannte, Mitglieder des Klosters bei der Abts- und Äbtissinenweihe; 12. Neugeweihte Jungfrauen, Mitschwestern, Eltern, Verwandte, Bekannte bei der Messe anlässlich der Jungfrauenweihe; 13. Ordensleute, Mitbrüder/-schwestern, Eltern, Verwandte, Bekannte in der Messe der ewigen Profess; 14. Lektoren und Akolythen sowie ihre Eltern, Verwandten und Bekannten bei der Messe ihrer Beauftragung. (Die Nummerierung stammt von mir, ebenso die Auszeichnungen. Diese bedeuten: −

Normalschrift: bereits in der IGMR Nr. 242 erwähnt;



fett: Präzisierungen in IGMR Nr. 242 genannter Möglichkeiten;



kursiv: neu.)

Bischöfe. In den katholischen Bistümern des deutschen Sprachgebietes. Hrsg. im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der (Erz-)Bischöfe von Bozen-Brixen, Lüttich, Luxemburg und Straßburg, Freiburg i. Br. [u. a.] 1998; vgl. dort das Sachregister, S. 359, s. v. Kommunion unter beiden Gestalten.

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Rudolf Pacik

V. Das Missale Romanum – Editio typica 3a (20. 4. 2000 / März 2002) Eine weitere Öffnung, etwas einfachere Regeln und neuerlich eine Änderung der Zuständigkeit brachte die dritte Ausgabe des Missale Romanum von 2002.32 Dies betonte auch der Präfekt der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung, Kardinal Jorge Arturo Medina Estévez, bei der Vorstellung des neuen Missales am 18. März 2002.33 Zwar zählt Nr. 283 (die Nr. 242 der früheren Institutio generalis ersetzt) in drei Punkten sechs – schon bisher geltende – Fälle auf und verweist auf zusätzliche Regelungen in den Ritusbüchern. Doch wichtiger sind die der kleinen Liste angefügten allgemeinen Bestimmungen. „283. Die Kommunion unter beiden Gestalten wird außer in den von den liturgischen Büchern genannten Fällen gestattet: a) Priestern, die selbst nicht zelebrieren oder konzelebrieren können; [= IGMR2 Nr. 242, Pt. 9] b) dem Diakon und den anderen, die bei der Messe irgend einen Dienst versehen; [= IGMR2, Nr. 242, Pt. 7] c) den Mitgliedern von Gemeinschaften in der Konventsmesse bzw. der so genannten Kommunitätsmesse; den Seminaristen; allen, die an Exerzitien sowie an einer geistlichen oder pastoralen Zusammenkunft teilnehmen. [= IGMR2, Nr. 242, Pt. 14 + 8a + 10] Der Diözesanbischof kann bezüglich der Kommunion unter beiden Gestalten für seine Diözese Normen festlegen, die auch in den Ordenskirchen und in kleinen Gemeinschaften einzuhalten sind. Ebenso wird dem Bischof die Vollmacht erteilt, die Kommunion unter beiden Gestalten zu erlauben, sooft dies einem Priester, dem als zuständigem Hirten die Gemeinschaft anvertraut ist, richtig erscheint; doch müssen die Gläubigen gut unterrichtet sein, und es darf keine Gefahr bestehen, dass das Sakrament verunehrt wird oder dass die Feier wegen der Menge der Teilnehmenden oder aus einem anderen Grund erschwert wird. Bezüglich der Art und Weise der Austeilung der heiligen Kommunion unter beiden Gestalten und bezüglich der Ausweitung der Erlaubnis können die Bischofskonferenzen Normen erlassen, nachdem die Akten vom Apostolischen Stuhl rekognosziert worden sind.“ 32

Missale Romanum ex decreto sacrosancti Oecumenici Concilii Vaticani II instauratum auctoritate Pauli pp. VI. promulgatum Ioannis Pauli pp. II cura recognitum. Editio typica tertia. Vatikanstadt 2002. Die IGMR ist auch im Internet abrufbar: http://www. liturgie.de/liturgie/index.php?bereich=publikationen&datei=pub/oP/dok/InstGenMissRo mani2002, eine provisorische Übersetzung: http://www.sbg.ac.at/pth/links-tipps/past_ ein/home.htm. – Das Dekret trägt das Datum: 20. 4. 2000; doch das Missale erschien erst im März 2002 und wurde am 18. 3. 2002 offiziell präsentiert. 33

http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ccdds/documents/rc_con_ccddsdoc _20020327_card-medina-estevez_it.html.

Wer darf wann die Kommunion unter beiden Gestalten empfangen?

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Dafür, die Kommunion unter beiden Gestalten zu regeln, ist nun – darauf macht der offiziöse Kommentar in „Notitiae“34 aufmerksam – in erster Linie nicht die Bischofskonferenz zuständig, sondern der Diözesanbischof (entsprechend CIC c. 381 § 1, can. 391, c. 455 § 1 und 4), und zwar für alle Kirchen und Kommunitäten seines Gebietes – bis dahin, dass er die Entscheidung über die Kelchkommunion den einzelnen Priestern anheim stellt. Das GesetzgebungsRecht der Bischofskonferenzen (etwa bezüglich der Formen der Kommunionspendung oder bestimmter Anlässe) ist sekundär. Eine Pflicht, Normen zu erlassen, besteht weder für die einzelnen Bischöfe noch für die Bischofskonferenzen. Sollte also ein Bischof hier nicht aktiv werden, gelten offenbar (nur) die Fälle a bis c, diejenigen, die in anderen liturgischen Büchern genannt sind, sowie bisher promulgierte Normen. – Allerdings empfiehlt es sich m. E. um der Information und der Rechtssicherheit willen – viele Priester kennen ja nicht einmal die Bestimmungen des Messbuchs von 1975, geschweige denn neuere –, dass jeder Diözesanbischof auf die Normen für die Kommunion unter beiden Gestalten hinweist und ihre Handhabung regelt – nach der Absicht des Gesetzgebers eher großzügig.35 Die anderen Artikel: Nr. 281 (= IGMR2 Nr. 240) behandelt die Bedeutung der Kelchkommunion, Nr. 282 (= IGMR2 Nr. 241) die Belehrung über die Aussagen des Tridentinums, Nr. 284 – 287 den Ritus der Spendung, doch nur mehr zwei Formen: Trinken aus dem Kelch und Eintauchen der Hostie. Röhrchen und Löffel werden lediglich bei der Konzelebration erwähnt (Nr. 245), deren Anwendung jedoch nicht beschrieben.

34 Congregatio de culto divino et disciplina sacramentorum, La comunione sotto le due specie, in: Notitiae 37 (2001), S. 256 – 258. Kardinal Medina Estévez fasste bei der Vorstellung des Missale Romanum 32002 die Rechtslage so zusammen (z. T. im fast selben Wortlaut wie der Notitiae-Kommentar): „Die neue Regelung bildet eine beträchtliche Erweiterung des bisher Festgelegten, denn es ist [nun] die Zuständigkeit des Diözesanbischofs, für seine Diözese Normen für die Spendung der Kommunion unter beiden Gestalten zu erlassen. Diese Zuständigkeit des Bischofs ist primär, entsprechend dem vom Recht Festgelegten (CIC can. 381 § 1); deshalb unterliegt sie nicht einer vorhergehenden Autorisierung durch die Bischofskonferenz. Außerdem kann der Diözesanbischof jedem Priester, in dessen Eigenschaft als Hirte einer bestimmten Gemeinschaft, das Urteil darüber anheim stellen, ob die Kommunion unter beiden Gestalten angebracht sei, ausgenommen die genannten Fälle, in denen von ihr abgeraten wird.“ 35

„Offenbar kann man hier einen allgemeinen Grundsatz anwenden, den das II. Vatikanische Konzil – wenn auch zu einem anderen Thema – ausgesprochen hat: ‚Die Freiheit darf nur eingeschränkt werden, wenn und soweit es notwendig ist.‘ (Dignitatis humanae, Art. 7.)“ So lautet der Schluss des Kommentars in Notitiae (Anm. 34).

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Rudolf Pacik

Gewiss hebt IGMR3 Nr. 283 Beschränkungen auf und vereinfacht die alte (ohnehin nicht vollständige) Casus-Liste. Dennoch stellen sich zwei Fragen: 1) Warum werden überhaupt noch Anlässe genannt? 2) Warum braucht es den Bischof als Zwischen-Instanz? Offenbar schlägt immer noch die alte Vorstellung durch, die Kelchkommunion müsse von der zuständigen Autorität gewährt und kontrolliert werden. Ein Wort darüber, dass die Kommunion unter beiden Gestalten der Stiftung Jesu entspricht36 und deshalb die (zumindest ideale) Norm ist, vermisst man – hier und in den anderen Paragraphen zur Kelchkommunion. Es bleibt zu hoffen, dass bald eine vierte Editio typica des Missale Romanum erscheint. Deren Institutio generalis sollte endlich feststellen: Entsprechend der Stiftung durch Jesus ist die Kelchkommunion der ganzen Gemeinde die Regel, die Kommunion unter einer Gestalt die Ausnahme – etwa bei sehr vielen Teilnehmenden. (Allerdings: Soll von einer bestimmten Größe der Gottesdienstgemeinde an überhaupt die Kommunion ausgeteilt, das heißt eine Messe gefeiert werden?).

36 Davon sprechen, soweit ich sehe, nur die Erläuterungen zur Instruktion „Sacramentali Communione“ (Anm. 24), S. 326 – 328, hier S. 327; der Kommentar zu Nr. 5 der Instruktion nennt mögliche Themen der Katechese, darunter – nach den Lehren des Tridentinums an zweiter(!) Stelle – Jesu Handeln und Worte beim Letzten Abendmahl und Joh 6,55 f.

Der Ablass − ein Testfall der Ökumene? Von Andreas Weiß Zu den wissenschaftlichen Interessen und Forschungsschwerpunkten von Johannes Mühlsteiger SJ gehört das Bußwesen in seiner historischen Entwicklung.1 Die folgende Abhandlung über den Ablass als einem nur im Lichte der Bußgeschichte verständlichen religiösen, theologischen, aber auch ökonomischen und juristischen Phänomen mit einer ökumenisch bis heute nicht aufgearbeiteten Problematik2 sei dem Jubilar – verbunden mit den besten Wünschen für sein weiteres Leben – zum 80. Geburtstag gewidmet. I. Einleitung In seiner Verkündigungsbulle des Heiligen Jahres 2000 „Incarnationis mysterium“ (IM) vom 29. November 19983 hatte Papst Johannes Paul II. als „eines der wesentlichen Elemente des Jubiläumsereignisses“4 die Wiederbelebung einer alten Tradition angekündigt, des Jubiläumsablasses5. Durch die Medien 1

Vgl. Konrad Breitsching / Wilhelm Rees, Laudatio, in: Tradition – Wegweisung in die Zukunft. Festschrift für Johannes Mühlsteiger SJ zum 75. Geburtstag. Hrsg. v. Konrad Breitsching / Wilhelm Rees (= KStuT 46), Berlin 2001, S. VII – IX, hier S. VIII. 2

Vgl. z. B. Thomas Schirrmacher, Der Ablass. Ablass und Fegefeuer in Geschichte und Gegenwart. Eine evangelische Kritik, Hamburg 2005. 3 In: AAS 91 (1999), S. 129 – 143; dt. in: Sekretariat der DBK, VApSt 136, S. 1 – 19. Die angefügten Weisungen der Apostolischen Pönitentiarie (folgend: Apost. Pön.) stehen im Dekret „Praescripta de iubilari indulgentia acquirenda“ vom gleichen Tag (in: AAS 91 [1999], S. 144 – 147; dt. in: VApSt 136, S. 21 – 24, abgedr. auch in: Peter Ch. Düren, Der Ablass in Lehre und Praxis. Die vollkommenen Ablässe der katholischen Kirche, Buttenwiesen 2000, S. 243 – 247). 4

IM, Nr. 9. Der Ablass war bereits im Apost. Schreiben „Tertio millennio adveniente“ (folgend: TMA, in: AAS 87 [1995], S. 5 – 41) vom 10.11.1994, dem Geburtstag Martin Luthers, angekündigt worden (Nr. 14). 5

Erstmals wurde für das Jubeljahr 1300 von Papst Bonifaz VIII. in der Bulle „Antiquorum habet“ vom 22.02.1300 (DH 868) den Besuchern der bedeutenden Basiliken Roms der Jubiläumsablass gewährt und damit erstmals ein vollkommener Ablass für

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Andreas Weiß

ging damals ein deutliches Befremden. Man sprach von einem Rückfall ins Mittelalter und befürchtete schwere Rückschläge für die ökumenischen Beziehungen.6 Besonders in den Kirchlichen Gemeinschaften der Reformation verursachte die Ankündigung des Papstes erhebliche Verstimmungen, erschien doch die gerade mit der Katholischen Kirche erzielte Verständigung in der Rechtfertigungslehre, die am 31. Oktober 1999 in Augsburg feierlich unterzeichnet worden war, als nicht echt und tragend. Schließlich hatte das Ablasswesen mit seinen Auswüchsen ja den äußeren Anlass für die Reformation geliefert. Aber nicht nur Protestanten empfanden die Ankündigung des Jubiläumsablasses als einen Affront, auch viele Katholiken waren und sind irritiert. Nicht wenigen katholischen Christinnen und Christen bereitet das Verständnis des Ablasses große Schwierigkeiten; sie erachten den Ablass nicht nur als „anachronistisches Relikt des Mittelalters“7, sie können oder wollen die „hocherhobene Frucht am Baum der kirchlichen Bußfrömmigkeit“8 nicht mehr pflücken und interessieren sich für dieses „ornamentale Schnörkel am äußersten Rand der römisch-katholischen Frömmigkeitsformen“9 nicht. Im Rahmen dieses Artikels kann nur wenigen Fragen nachgegangen werden. Grundzüge der Theologie und Praxis des Ablasses sind kurz in ihrer historischen Entwicklung darzustellen, um so besser erkennen zu können, woran sich die Reformatoren beim Ablass rieben und die Kritiker bis heute Anstoß nehmen. In einem kirchenrechtlichen Artikel sind natürlich ebenso die rechtlichen

etwas anderes als die Kreuzzugsteilnahme (hier: Strapazen und Gefahren als Ersatz für alle kanonischen Strafen und zeitlichen Sündenstrafen). In der genannten Bulle hat Bonifaz VIII. als erster Papst das Fegefeuer angesprochen, was für die Entwicklung der Ablasslehre große Bedeutung erlangen sollte. 6

Laut KNA-Meldung Nr. 3920 vom 23.03.1999 verließ kurze Zeit nach der Ablassankündigung z. B. der Reformierte Weltbund das ökumenische Komitee zur Vorbereitung des Jubeljahres 2000, da im Hinblick auf die Wiederbelebung des Ablasses der gemeinsame Weg mit der römisch-katholischen Kirche vorläufig an sein Ende gekommen schien. 7

Sabine Demel, Missbraucht – belächelt – verpönt: Der Ablass, in: AnzSS 109 (2000), S. 446 – 454, hier S. 446. 8

Leo Scheffczyk, Entschiedener Glaube – befreiende Wahrheit. Ein Gespräch über das Katholische und die Kirche mit Peter Christoph Düren, Buttenwiesen 2003, S. 278. 9

Ferdinand Barth, Das Papstamt und der Ablass. Von der Renaissance des Mittelalters, in: Papsttum – pro und contra. Geschichtliche Entwicklungen und ökumenische Perspektiven. Hrsg. v. Walter Fleischmann-Bisten (= Bensheimer Hefte 97), Göttingen 2001, S. 238 – 283, hier S. 282.

Der Ablass − ein Testfall der Ökumene?

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Konkretisierungen10 zu beleuchten. Und weil auf dem Hintergrund der Reformationsgeschichte Lehre und Praxis des Ablasses als „römisch-katholischer Eigentümlichkeit … Gegenstand konfessioneller Polemiken gewesen“11 sind, soll abschließend seine Bedeutung im ökumenischen Dialog des 21. Jahrhunderts gestreift werden. II. Grundzüge der Ablasspraxis und -lehre 1. Voraussetzungen und Vorformen des Ablasses Obwohl der Ablass „in Praxis und theologischer Begründung kein Vorbild im Neuen Testament und in der öffentlichen Kirchenbuße des 1. Jahrtausends“12 hat, steht er doch mit schon dort vorfindbaren Vorgängen in einem „Traditionskontinuum“13. Hier ist z. B. das Märtyrerprivileg14 zu nennen und

10

Da nach der Vorbemerkung Nr. 5 des geltenden Enchiridion indulgentiarum (folgend: EI 1999; vgl. Anm. 103) die gegenwärtig geltenden Bestimmungen über die Ablässe dort „im Zusammenhang und in der rechten Reihenfolge“ vorgelegt werden, was auf eine Ex-integro-Regelung schließen lässt, seien folgend die Normen früherer Handbücher für Ablässe sowie die Kanones der Gesetzbücher nur im Falle von Abweichungen aufgeführt. Die Anmerkungen im EI 1999 enthalten eine umfangreiche synoptische Auflistung der vorherigen Bestimmungen; vgl. Jean-Marie Gervais, La quarta edizione dell’Enchiridion indulgentiarum, in: IE 12 (2000), S. 173 – 186, hier S. 177. 11 Barth, Papstamt (Anm. 9), S. 239. Eigentlich kann man von einer „römisch-katholischen Eigentümlichkeit“ nur in der lateinischen Tradition sprechen, denn in keiner der katholischen Ostkirchen gehört der Ablass zu deren patrimonium. Daher überrascht es nicht, dass das gesamte Kapitel IV „De indulgentiis“ im CIC (cc. 992 – 997), das die Bestimmungen zum Bußsakrament abschließt, keine Entsprechung im CCEO hat, obgleich Ablässe für die Glieder dieser katholischen Kirchen sui iuris auch schon früher gewährt wurden (vgl. EI 1968 [Anm. 103], Aliae concessiones, Nr. 63, 6 oder EI 1986 [Anm. 103], Concessiones [künftig: Conc.], Nr. 48, 4) und bis heute werden (vgl. EI 1999 [Anm. 103], Aliae conc., Proœmium, Nr. 2 und Conc., Nr. 23). So auch JeanMarie Gervais, Paolo VI e la riforma della disciplina delle indulgence, in: PerRCan 88 (1999), S. 301 – 329 und 659 – 688, hier S. 687; Gervais, Quarta edizione (Anm. 10), S. 177. 12

Gerhard L. Müller, Art. Ablass, in: LThK3 1, 1993, Sp. 51 – 55, hier Sp. 52.

13

Ebd.

14

Die Confessores und Märtyrer, die in den Kirchenverfolgungen treu zum Glauben gestanden hatten und darum eine besondere Hochachtung genossen, konnten vom Gefängnis aus für die Abgefallenen (lapsi) einen Friedensbrief ausstellen oder nach dem Tod Fürbitte für sie einlegen, was diesen eine leichtere und schnellere Wiederaufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen ermöglichte; vgl. Otto Semmelroth, Zur Theologie

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Andreas Weiß

vor allem der Wandel von der in der Alten Kirche praktizierten öffentlichen Rekonziliation hin zur sakramentalen Privatbeichte in der zweiten Hälfte des ersten christlichen Jahrtausends.15 In der frühen Kirche waren im kanonischen Bußverfahren drei Elemente für den Prozess der Aussöhnung eines Sünders mit Gott und der Gemeinde vorgesehen: das mündliche Bekenntnis (confessio oris), die Herzensreue (contritio cordis) und die Wiedergutmachung durch entsprechendes Handeln (satisfactio operum). Für letztere wurde nach dem reumütigen Bekenntnis der Schuld eine entsprechende Zeitspanne angesetzt, in der die so genannten Bußwerke als sinnenfälliger Ausdruck der bereits vollzogenen und gottgeschenkten inneren Umkehr zu verrichten waren. Die Kirche stand den Büßenden in dieser Zeit durch ihre Fürbitte solidarisch zur Seite. Man maß diesen „absolutiones“ besondere Wirkung zu, wenn sie von Bischöfen oder gar Päpsten ausgingen. Mit ihnen war zwar kein formeller Bußerlass verbunden, wohl aber eine Verringerung der auferlegten öffentlichen Bußwerke. Erst wenn die Satisfaktion erfüllt war, erfolgte die Absolution und damit die Rekonziliation, die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft. Mit dem Aufkommen der Ohrenbeichte und der damit verbundenen Individualisierung des Bußgeschehens im Zuge der iroschottischen Missionierung traten aber Wiedergutmachung und Lossprechung zeitlich auseinander. Die Absolution erfolgte jetzt aufgrund von Reue und Bekenntnis, die Bußwerke wurden als nachträglich zu verrichtend aufgegeben. In Bußbüchern war kasuistisch festgelegt, welche Buße für welche Sünden aufzuerlegen war, die so genannte Tarifbuße. Mit der Taxierung wuchsen die Bußleistungen an. Um sie erträglich zu gestalten, „ging man dazu über, sie umzuwandeln in kürzere, aber härtere (commutatio) oder auch zu ermäßigen in bequemere oder geringere Leistungen,16 die für gleichwertig erklärt wurden (redemptio).“17 Bei den Redemptionen und Kommutationen handelt es sich noch nicht um Ablässe, sondern um Umwandlungen von Kirchenstrafen; im 11. Jahrhundert entstanden

des Ablasses, in: NKD 2, Trier 1967, S. 51 – 71, hier S. 63; Barth, Papstamt (Anm. 9), S. 241 f. 15

Zur Geschichte des Ablasses vgl. bes. Heinrich E. G. Paulus (evang.), Geschichte und rechtliche Prüfung des Jubeljahr-Ablasses, 4 Bde., Heidelberg / Leipzig 1824 – 1825; Nikolaus Paulus (kath.), Geschichte des Ablasses im Mittelalter, 3 Bde., Paderborn 1922/23, Darmstadt 22000 (mit ausführlicher Einleitung von Thomas Lentes (S. VII – LXXVIII); Bernhard Poschmann, Der Ablass im Licht der Bußgeschichte, Bonn 1948. 16 17

Bes. in Gebet, Almosen und Wallfahrt, später auch in Geldzuwendungen.

Gustav A. Benrath, Art. Ablass, in: TRE 1, 1977, S. 347 – 364, hier S. 348; Barth, Papstamt (Anm. 9), S. 242.

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aus ihnen jedoch in Südfrankreich und Nordspanien die ersten18 Ablässe, die von den dortigen Bischöfen anlässlich des Baues von Domen, Pfarr-, Stifts- und Klosterkirchen, aber auch von Spitälern, Leprosenhäusern und anderen Wohltätigkeitsanstalten sowie von weltlichen Unternehmungen mit allgemeiner Nützlichkeit wie Straßen- und Dammbauten gewährt wurden.19 2. Unterscheidung Sünde – Sündenstrafe Seit der Frühscholastik setzte sich im Bußsystem der westlichen Kirche eine wichtige Differenzierung durch, nämlich die dem Ablass zugrunde liegende Unterscheidung zwischen der Verfehlung selbst (Sünde) und den so genannten zeitlichen Sündenstrafen als andauernder Folge daraus. Nach dem Empfang der Absolution ist die Sündenschuld durch Gott vergeben, aber der fortwirkende diesseitige Schaden aus der Verfehlung für den Einzelnen und für die Gemeinschaft ist noch nicht behoben. Beispiel: Die Frau kann ihrem Mann den Ehebruch aus ganzem Herzen verzeihen, dennoch bleiben bei ihr als Folgen Enttäuschung und bisher nicht gekanntes Misstrauen dem Ehegatten gegenüber zurück. Die Konsequenz der Verfehlung muss der Mann jetzt in einem nächsten Schritt angehen, um das frühere Glück seiner Ehe wieder herzustellen. Die so genannte zeitliche Sündenstrafe wird dabei nicht einfach „in einer Rekonvaleszenzzeit durch Abwarten auskuriert“, sie muss vielmehr nach der Vergebung der Sünde aufgearbeitet, d. h. „aktiv überboten“20 werden. Sündenstrafen sind „objektivierter Niederschlag“21 der Sünde, Narben der Seele. Hier steht die Wiege des Ablasses „als eine auf die gewandelte Form der Bußpraxis zugeschnittene Hilfe der Gemeinschaft“22 für den einzelnen Sünder. Man bezog „die von der alten Kirche her überkommenen Fürbitten der Gemeinde und ihres Amtsträgers für den Pönitenten ... auf den Erlass der nach der sakramentalen 18 In den Sentenzenbüchern des Petrus Lombardus wird der Ablass ebenso noch nicht erwähnt wie im Dekret Gratians. Der älteste bekannte Ablass stammt aus dem Jahre 1029, der älteste erhaltene Ablassbrief ist datiert auf das Jahr 1035. Erstmals befasste sich 1215 ein Konzil (Lateranense IV) mit dem Ablass (DH 819); es warnte vor der Gefahr, durch leichtfertig gewährte Ablässe die Bußbereitschaft der Gläubigen auszuhöhlen. 19

Aber nicht nur in dieser Hinsicht war der Ablass im Mittelalter ein immenser Kulturfaktor; vgl. dazu neuerdings Lentes, Einleitung (Anm. 15) und Barth, Papstamt (Anm. 9), S. 274 ff. 20

Wilhelm Breuning, Zum Neuverständnis des Ablasses, in: PastBl. für die Diözesen Aachen, Berlin, Essen, Köln, Osnabrück 35 (1983), S. 150 – 154, hier S. 153. 21

Semmelroth, Theologie (Anm. 14), S. 57.

22

Mörsdorf, Lb. 2, S. 85.

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Versöhnung zurückgebliebenen zeitlichen Sündenstrafen“23. Die amtliche und stellvertretende Fürbitte stellen das Angebot der Gemeinschaft und der Kirche als Institution für einen Gläubigen dar, bei der notwendigen Wiedergutmachung behilflich zu sein.24 Ein Ablass liegt also erst vor, „wenn der kirchliche Obere die volle Buße oder einen bestimmten Teil derselben erlässt in der Voraussetzung, dass Gott diesen Gnadenerlass anerkennt …“25. Das Neue gegenüber den bis dahin üblichen Absolutionen „liegt darin, dass die jenseitige Wirkung der Absolution für den Erlass der Sündenstrafen bei Gott auf die irdisch-kirchliche Buße angerechnet wird.“26 Der Ablass war eine „schöpferische Antwort auf eine neuartige Konstellation im Übergangsfeld von der altkirchlichen öffentlichen Rekonziliationsbuße zur sakramentalen Privatbeichte“27 und hatte den pastoralen Nebeneffekt, dass durch die Bußwerke die Früchte des kirchlicherseits erwünschten Verhaltens deutlich vermehrt werden konnten. 3. „Thesaurus Ecclesiae“ Die neue theologische28 Frage lautete nun aber, ob die Kirche über die von ihr auferlegten kanonischen Bußen hinausgehend einen Einfluss auch auf die Vergebung der zeitlichen Sündenstrafen haben kann, was bis dahin nur als Gott zustehend angesehen worden war. Diese Frage wurde positiv beantwortet und mit Hilfe des Bildes vom Kirchenschatz29 begründet. Jesus Christus habe durch

23

Müller, Ablass (Anm. 12), Sp. 52.

24

Michael Seybold, Erwägungen zum Ablass, in: KlBl. 64 (1984), S. 38 – 40, hier S. 39; Demel, Missbraucht (Anm. 7), S. 448 f. 25

Poschmann, Ablass (Anm. 15), S. 43.

26

Ebd., S. 45.

27

Müller, Ablass (Anm. 12), Sp. 52.

28

Beim Ablass wurde stets die Lehre der Praxis nachgereicht. Vor allem die Kreuzzugsidee ist mit ihm (erste Gewährung durch Papst Urban II. 1095 auf der Synode von Clermont) untrennbar verbunden, ohne den Ablass wäre die Begeisterung für die Glaubenskriege und deren Finanzierung nicht möglich gewesen; Schirrmacher, Ablass (Anm. 2), S. 33 – 42. Die theologische Klärung begann mit massivem Protest an der Praxis (Abälard). Erst in der Mitte des 13. Jh.s fand die Ablasslehre durch Albertus Magnus, Bonaventura und Thomas von Aquin ihre klassische Ausprägung. Vom römischen Lehramt fehlt bis heute eine verbindliche Ablasstheologie. 29

Vom Dominikanergeneral Hugo von St. Cher in Paris zum ersten Mal 1230 vertreten und von Papst Clemens VI. in der Jubiläumsbulle „Unigenitus dei filius“ vom 27.01.1343 erstmals kirchenamtlich gelehrt. Nach Herbert Vorgrimler handelt es sich

Der Ablass − ein Testfall der Ökumene?

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sein Leiden und Sterben für sämtliche Sünden und Sündenstrafen ein für alle Mal vollkommene Genugtuung geleistet, dieser unerschöpfliche Schatz sei als aktuale Heilswirklichkeit im Leben der Kirche wirksam. Kraft dessen, was Christus als das Haupt und die Heiligen als bereits vollendete Glieder des Leibes Christi an gleichsam überschüssigen guten Werken angehäuft haben, biete die Kirche mithilfe der Schlüsselgewalt im Ablass ihre Hilfe an, verdiente zeitliche Strafen als soziale Folgen eines Vergehens nachgelassen zu bekommen – so Papst Clemens VI. in seiner berühmten Bulle „Unigenitus dei filius“30 vom 27. Januar 1343 für das zweite, diesmal vorzeitige Jubiläumsjahr 1343. Der Stellvertreter Christi31 auf Erden könne diesen Schatz, der wie in einem Depot bereitliegt, öffnen und daraus hoheitlich austeilen, indem er im Ablass durch die Erfüllung eines genau taxierten Bußwerkes eine festgelegte zeitliche Sündenstrafe als abgegolten erklärt. Damit nahm eine weitere Vergegenständlichung und kasuistische Verrechtlichung von Verantwortung und Vergebung ihren Lauf, Gnade und Strafnachlass wurden als Austeilung einer Sache verstanden. Der Ablass als ursprüngliche Hilfestellung der Gemeinschaft war zu einem vom Bußsakrament unabhängigen und vor Gott gültigen Rechtsakt32 geworden, in dem die Kirche nicht mehr nur wie früher von den kanonisch auferlegten Bußen befreite, sondern nach der lehramtlichen Äußerung zum Ablass in der Bulle Papst Leos X. „Cum postquam“ vom 9. November 151833 „auch von den der göttlichen Gerechtigkeit geschuldeten zeitlichen Sündenstrafen“34, und noch mehr zur zentralen Geldquelle, „zum Opfer des berechenbaren

um eine offiziell vorgetragene, aber nicht unfehlbare Erklärung (Buße und Krankensalbung, in: HDG 4, Fasz. 3, Freiburg 21978, S. 203 – 214, hier S. 208). 30

DH 1025 ff.; vgl. IM, Nr. 10.

31

Da es mit der Vollmacht des einfachen Priesters nicht mehr vereinbar erschien, dass er das Verfügungsrecht über den Kirchenschatz haben könne, begann mit diesem Baustein der Ablasstheorie die Tendenz, die Ablassgewalt allein dem Papst zuzusprechen. Nach Lentes, Einleitung (Anm. 15), S. XXXIII war der Ablass als Rechtsinstrument „wohl die größte Offensive zur Bindung des Individuums an die Institution Kirche und das Papsttum überhaupt“ – er spricht von der „Ubiquität und Totalität des Ablasses“ als dem breitenwirksamsten Medium für den Ausbau der päpstlichen Hierokratie. 32

Angestoßen war diese Entwicklung schon durch Albertus Magnus, der den Ablass nicht mehr als fürbittendes Eintreten der Gemeinschaft der Gläubigen verstand, sondern als richterlichen Akt der Kirche, die auch über den Erlass der jenseitigen Strafe verfügen könne und dazu nach Thomas von Aquin (S. th. Suppl., q. 26 a. 3) ihre Vollmacht im Papstamt konzentriere. 33

DH 1447 ff.; diese Äußerung stellte die prompte päpstliche Reaktion auf den Hinweis Luthers dar, der Ablass sei lehramtlich nie verkündet worden. 34

Hubert Jedin, Geschichte des Konzils von Trient, Bd. 3, Freiburg 1970, S. 78.

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Nützlichkeitsdenkens … mit der tragischen Begleiterscheinung, dass die Bußwerke zunehmend an Bedeutung verloren haben. Umkehr und Buße wurden auf das spirituelle Moment des Gebetes reduziert und die ursprünglich konkreterfahrbaren Bußwerke mit einer Geldzahlung, einer so genannten Geldbuße35 abgegolten“36. Von da aus war es nur noch ein kleiner Schritt zur völligen Degenerierung des Ablasses in einen regelrechten Handel und eine Geschäftemacherei mit dem Glauben, deren bekannteste Blüte sich in dem Ausspruch spiegelt: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt“. Der Gnadenschatz wandelte sich durch den Ablass gegen Geldspenden zu einem Schatz von klingender Münze.37 4. Ablass für Verstorbene Ab dem 13. Jahrhundert bildete sich als weiteres Versatzstück der Ablass für Verstorbene heraus.38 Für die in der Rechtfertigungsgnade Verstorbenen, die noch nicht vollkommen geläutert sind, war nun ebenfalls ein Ablass zu gewinnen.39 Sie konnten zwar der Erlangung des Heils sicher sein, jedoch erst nach der vollkommenen Reinigung. Wegen der Sündenverstricktheit des Menschen muss ja davon ausgegangen werden, dass die Aufarbeitung der Sündenfolgen 35

Nach N. Paulus, Geschichte (Anm. 15), Bd. 3, S. 135 sah sich die Universität Oxford im Jahre 1414 genötigt, in einem Gutachten die Einschränkung der päpstlichen Ablässe zu fordern, weil sonst der Eindruck entstünde, es gehe nicht mehr um das Heil der Seelen, sondern vorrangig um finanzielle Aspekte. Papst Martin V. folgte vier Jahre später dieser Anregung, indem er alle seit 1378 gewährten vollkommenen Ablässe widerrief, danach aber inkonsequent freigiebiger Ablässe gewährte als alle seine Vorgänger. Das gleiche Spiel wiederholte sich bei Papst Pius V. – er widerrief am 08.02.1567 alle Ablässe, die nur mit einem Geldbeitrag zu gewinnen waren, um dann am 21.05.1571 dem spanischen König durch einen Ablass im Kampf gegen die Türken beizustehen, allerdings mit der Auflage, das jede Zwangsmaßnahme für die Gläubigen unterbleiben müsse und genauso die „anstößige, marktschreierische Art und Weise“ (Schirrmacher, Ablass [Anm. 2], S. 48), in der die Ablässe früher angepriesen worden waren. 36

Demel, Missbraucht (Anm. 7), S. 451.

37

Zur Perfektion trieb den Ablasshandel Papst Leo X., der ständig verschuldet war. Seine Ablassbriefe wurden in ganz Europa wie Wertpapiere gehandelt. 38

Zunächst unautorisiert von den Kreuzzugspredigern verkündet und bei den zeitgenössischen Theologen heftig umstritten, verbreitete er sich ab 1350 im großen Stil. Als päpstliche Lehre wurde er erstmals von Papst Sixtus IV. in der Bulle „Salvator noster“ vom 03.08.1476 vorgetragen (DH 1398). Wieder einmal hatte die Praxis der Theorie bzw. Theologie den Weg geebnet. 39

Vgl. EI 1999 (Anm. 103), Normae (folgend: Nor.), Nr. 3; c. 994 CIC.

Der Ablass − ein Testfall der Ökumene?

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am Lebensende eventuell noch nicht abgeschlossen ist. Ins Reich Gottes kann der Mensch aber nur ganz gereinigt gelangen. Diese Reinigung geschieht entweder durch die Mühsal und Leiden des irdischen Lebens oder im Läuterungsgeschehen des Purgatoriums40 nach dem Tod.41 Durch die Ablässe werden „die Glieder der sich läuternden Kirche rascher der himmlischen Kirche eingegliedert“ und so „die Königsherrschaft Christi immer mehr und schneller verwirklicht.“42 Die Zuwendung an Verstorbene geschieht jedoch nicht durch ekklesialen hoheitlichen Akt, da die Verstorbenen nicht mehr dem Zugriff der Kirche unterstehen, sondern ausschließlich im Wege der Fürbitte, indem ein Lebender einen Ablass gewinnt und dessen Wirkungen im Gebet dem Verstorbenen schenkt.43 Mit dem Ablass für Verstorbene konnte zugleich eine neue und reich sprudelnde finanzielle Einnahmequelle erschlossen werden. Da auch sonst die Bußwerke meist auf eine bloße Geldzahlung reduziert waren, rückte im ausgehenden 15. Jh. der finanzielle Aspekt immer mehr in den Mittelpunkt der großen Ablasskampagnen. Dies führte zu einem Glaubwürdigkeitsverlust und deutlichen Abnutzungseffekt des Ablasses, der zum „skandalösen, mit politischen und wirtschaftlichen Interessen verquickten Geldgeschäft“44, ja „zum Inbegriff einer im Fiskalismus erstarrten, geistlich verirrten Kirche“45 geworden war.

40

KKK, S. 294, Nr. 1030. Die Lehre vom Fegefeuer wurde 1439 auf dem Konzil von Florenz als Dogma verkündet und stützte als Neubildung der scholastischen Theologie die Ablasslehre ab. Die abschließende Läuterung der Auserwählten ist von der ewigen Strafe der Verdammten („Hölle“) als der „endgültigen Selbstausschließung aus der Gemeinschaft mit Gott und den Seligen“ (KKK, S. 295, Nr. 1033) zu unterscheiden. 41 KKK, S. 401, Nr. 1472; vgl. Karl Rahner, Kleiner theologischer Traktat über den Ablass, in: Ders., Schriften zur Theologie, Bd. 8, Einsiedel 1967, S. 472 – 487, hier S. 487. 42

Vgl. ID (Anm. 63), Nr. 10.

43

DH 1448.

44

2

Martin Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483 – 1521, Stuttgart 1983, S. 176. 45

Wilhelm E. Winterhager, Ablasskritik als Indikator historischen Wandels, in: ARG 90 (1999), S. 6 – 69, hier S. 9.

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III. Kritik Martin Luthers Martin Luther wollte anfänglich den Ablass reformieren46 und nur die Auswüchse47 der Ablasspraxis eindämmen. Ihn bedrückten die Vernachlässigung der echten Buß- und Liebeswerke und das Zurücktreten der Verkündigung des

46

Dies macht sein Brief an Albrecht von Brandenburg vom 31.10.1517 (in: Walther Köhler, Dokumente zum Ablassstreit 1517, Tübingen 21934, S. 143 – 145) deutlich, in dem Luther dem Erzbischof von Mainz seine 95 „Thesen über die Kraft der Ablässe“ zuschickte und ihn bat, eine andere Weisung an die Ablassprediger zu geben. Diese Thesen sind scharf zugespitzte Sätze, die Luther akademisch disputieren wollte. Sie waren nicht für das Volk bestimmt und wurden gegen die Absicht Luthers verbreitet. In der Bevölkerung freilich fanden sie große Zustimmung, denn der Unmut über eine Kirche war weit verbreitet, die ihren Geldbedarf mit immer neuen Gebühren und Abgaben zu decken wusste. Nach der unerwarteten Resonanz der Thesen ordnete Luther in den „Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute“ (dt. in: Martin Luther, Ausgewählte Werke [Münchner Lutherausgabe], Bd. 1, München 1938, S. 150 – 338) die mit dem Ablass verbundenen Fragen theologisch und entfaltete sie näher. Im „Sermon von dem Ablass und der Gnade“ – im März 1518 gedruckt – sind Luthers Grundgedanken zum Ablass in allgemeinverständlicher Form enthalten. Sein primär geistliches Anliegen und die hinter dem Ablass stehenden komplizierten theologischen Sachfragen fanden jedoch in Deutschland und Rom wenig Verständnis, immer stärker wurden sie von der Frage nach der Autorität und Macht des Papstes überlagert – eine Akzentverschiebung, die Luther nicht intendiert hatte. Er war auf das gerade durch den Ablass erstarkte Papsttum und auf finanzielle Machtstrukturen geprallt, wofür der Petersablass und die Vorgänge zur Wiederbesetzung des Mainzer Bischofsstuhles 1514/15 sprechende Beispiele sind. Nachdem 1505 die Grundsteinlegung von St. Peter in Rom erfolgt war, regelte Papst Julius II. im folgenden Jahr die Finanzierung des Baues durch die Gewährung eines Ablasses. Die Bedenken der Kardinäle dagegen waren so groß, dass sie 1513 den neu zu wählenden Papst im Konklave verpflichteten, den Petersablass zurückzunehmen. Dies geschah auch, aber bereits am 31.03.1515 erneuerte der Papst ihn durch die Bulle „Sacrosanctis salvatoris“. Die Kardinäle wollten den Missstand unbedingt abstellen, der neu gewählte Papst Leo X. verhinderte dies. Und Albrecht von Brandenburg, seit 30.08.1513 Erzbischof von Magdeburg, daneben seit 09.09.1513 Administrator von Halberstadt und am 18.08.1515 von Papst Leo X. auch noch als Erzbischof von Mainz bestätigt, konnte die hohen Palliengebühren und Taxen an die Römische Kurie für drei Bistümer nur durch eine Anleihe von 29000 Rheinischen Gulden beim Bankhaus Fugger abführen, wofür ihm die Kurie selbst den Weg zur Tilgung wies: Wenn er acht Jahr lang den Petersablass in seinen Landen übernehme, dürfe er die Hälfte der Ablasseinnahmen behalten. 47

An Auswüchsen sind vor allem zu nennen die oft ausschließliche Verwendung der Einnahmen zur Finanzierung kirchlicher Baumaßnahmen, der Betrug mit gefälschten Vollmachten, die Veruntreuung der Ablassgelder sowie die Verpachtung des Ablassgeschäftes gegen Zahlung einer Pauschalsumme (compositio).

Der Ablass − ein Testfall der Ökumene?

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Evangeliums hinter der Ablasspredigt,48 dem Papst und den Bischöfen warf er die Vernachlässigung ihrer Aufsichtspflicht49 bei der Beseitigung der vorhandenen Missstände vor. Luther sprach dem Papst nicht die Vollmacht ab zu erklären oder zu bestätigen, dass die Sündenschuld von Gott erlassen ist, noch die, eine verhängte öffentliche Kirchenstrafe zurückzunehmen50 – dafür lässt die Confessio Augustana den Ablass ausdrücklich51 gelten; Luther lehnte vielmehr die auf Äquivalenzberechnungen beruhende Strafablösungspraxis durch den Ablass strikt ab. Im Zuge der Auseinandersetzung mit seinen Gegenspielern Cajetan (Augsburg 1518) und Eck (Leipziger Disputation 1519) stellte Luther freilich zunehmend grundsätzlicher die Ablasslehre insgesamt in Frage. Dies zeigte sich darin, dass der Reformator den wahren Schatz der Kirche im Evangelium sah.52 Die Lehre vom „Thesaurus Ecclesiae“ sei eine Verletzung der Alleinursächlichkeit göttlicher Gnade (sola gratia). Aufgrund des Verdienstes Jesu Christi allein habe jeder Gläubige den Erlass a culpa et poena, wenn er aufrichtig seine Sünden bereue und Buße tue. Ein Ablassverfahren braucht es dazu in seinen Augen nicht.53 Und ohne innere Loslösung von der Sünde könne man nicht von ihr und ihren Folgen befreit werden. Luther bezweifelte ebenso die biblische Grundlage der Ablasslehre und die Zuwendung von Ablässen für Verstorbene im Fegefeuer. Protestanten wissen die Toten in Gottes Hand, Lebende können juristisch nichts mehr für sie tun. „In der spätmittelalterlichen, durch den römischen Fiskalismus zudem vollkommen desavouierten Ablasspraxis“ glaubten Luther und die anderen Reformatoren,54 eine „quantitativ-gegenständliche Gnadenauffassung und damit verbunden eine Mechanisierung der Heilsvermittlung ausmachen zu können, was sie

48

Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (95 Thesen) vom 31.10.1517, Thesen 41 – 45 und 52 – 55. 49

Ebd., Thesen 69 – 74.

50

Ebd., Thesen 6 und 20.

51

Confessio Augustana, Art. 12, Nr. 136. Dieser ökumenisch unstrittige Vorgang ist aber ein anderer als der, der in der Katholischen Kirche heute als Ablass verstanden und praktiziert wird; er bleibt künftig unberücksichtigt. 52

Disputatio (Anm. 48), These 58.

53

Ebd., These 36.

54

Johannes Calvin beschäftigte sich in seiner Kritik am Ablass nicht mit Missbrauchsfällen, sondern verwarf diesen grundsätzlich als nicht mit der Bibel und der Praxis der Alten Kirche vereinbar (Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Religionis Christianae, Neukirchen 51988, Buch 3, S. 337 – 441).

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ebenso ablehnten wie die scheinbar eigenmächtige, verrechnende Verfügungsgewalt des Papstes über das göttliche Heil“55. Bei der weithin berechtigten Kritik an der Ablasspraxis zur Zeit Luthers darf jedoch nicht übersehen werden, dass der Reformator die Unterscheidung zwischen Sündenvergebung und Überwindung der Sündenfolgen bejahte. Der von Gott geschenkten Rechtfertigung muss nach Luther ein „lebenslanger Heilungsprozess“56 folgen, in dem sich die Taufgnade ständig neu gegen die Folgen der Sünde durchsetzt. Diese Polarität hat er in der Formel zusammengefasst, dass der Christ gerechtfertigt und Sünder zugleich ist, iustus et peccator.57 IV. Ansätze zu einer Erneuerung der Ablasstheologie durch die Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. 1. Papst Paul VI. In den 16 Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils58 taucht der Begriff „Ablass“ nicht ein einziges Mal59 auf. Dies ist darauf zurückzuführen, dass diese Kirchenversammlung vom 9. bis 13. November 1965 sich zwar mit Lehre und Praxis des Ablasses befasste, aus Zeitnot im Hinblick auf das Ende des Konzils die Beratungen aber ergebnislos abbrechen musste. Papst Paul VI. hatte die Ablasslehre in einem von der Apostolischen Pönitentiarie ausgearbeiteten Entwurf, der den Titel „Positio“60 trägt, neu vorlegen lassen. Darin wurde die Ablasslehre zwar teilweise neu formuliert, sie blieb jedoch in ihrem traditionellen Bestand trotz Modifikationen unangetastet. Dies stieß auf heftigen

55

Christoph Böttigheimer, Jubiläumsablass – ein ökumenisches Ärgernis?, in: StdZ 125 (2000), S. 167 – 180, hier S. 171. 56

Ebd., S. 177.

57

Wolfgang Beinert, Vom Sinn des Ablasses, in: PrKat 122 (1983), S. 740 – 743, hier S. 743. 58

Die 400 Jahre zwischen dem Konzil von Trient und dem II. Vatikanischen Konzil waren hinsichtlich Theologie und Praxis des Ablasses von keinen nennenswerten Neuerungen geprägt. Dies gilt auch für cc. 911 – 936 CIC/1917. 59

Lediglich in den Anmerkungen zu Art. 13 der Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ und des Ökumenismusdekretes „Unitatis redintegratio“ findet sich der Hinweis auf die Praxis des Ablasses, der freilich in der „Hierarchie der Wahrheiten“ als sekundär oder tertiär eingeordnet wurde (in: LThK2-Konzilskommentar, Bd. 1, Freiburg 1967, S. 26 und 88). 60

Sacra Paenitentiaria Apostolica, Positio de Sacrarum Indulgentiarum recognitione (Prot.N. 2633/65), Città del Vaticano 1965.

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Widerspruch insbesondere bei Vertretern der katholischen Ostkirchen und der Kardinäle Bernhard Alfrink (Utrecht), Franz König (Wien) und Julius Döpfner (München), die eine Neufassung der Ablasstheologie auch im Hinblick auf die ökumenische Verständigung forderten. Sie setzten sich für eine inhaltliche Revision ein, die jedem Automatismus wehre und statt dessen auf die Gesinnung und die persönliche Buße des Einzelnen Wert lege und „die einem Verständnis des Ablasses als Fürbitthandlung der Kirche, einer nicht dinglichmathematischen, sondern personalen Auffassung der Sündenstrafen und einer geistlichen Deutung des Kirchenschatzes zumindest Raum lassen sollte.“61 Andere Stimmen wünschten ausdrücklich keine Erklärung des Konzils zur Ablassfrage, da die Sache nicht wichtig genug sei und vor allem die Theologie der „Positio“ nicht der des Konzils entspreche.62 Mehr als 80 % der gehörten Väter billigte freilich die „Positio“. Gut ein Jahr nach Abschluss des Konzils griff Papst Paul VI. selbst das Thema auf und rief in seiner Ap. Konst. „Indulgentiarum doctrina“63 (ID) vom 1. Januar 196764 die Ablasslehre ins Gedächtnis der Gläubigen zurück. Im Sinne einer Legaldefinition verstand Papst Paul VI. unter einem Ablass, der vom Kirchenrechtler auf dem Stuhle Petri traditionsgemäß von der Binde- und Lösegewalt her begründet wird, den „Nachlass zeitlicher Strafe vor Gott für Sünden, die hinsichtlich der Schuld schon getilgt sind“65. Der Christgläubige muss zur Gültigkeit der Ablassgewinnung bestimmte Voraussetzungen mitbringen. Er muss „capax“ sein, d. h. er muss getauft und darf nicht exkommuniziert sein und muss „sich wenigstens beim Abschluss der vorgeschriebenen Werke im Stand der Gnade befinden“, die allgemeine Absicht zur Gewinnung des Ablasses haben und die vorgeschriebenen Bußwerke in der festgesetzten Zeit und in

61

Benrath, Ablass (Anm. 17), S. 362.

62

Details sind nachzulesen bei Gervais, Paolo VI (Anm. 11), S. 303 – 315; Barth, Papstamt (Anm. 9), S. 259 – 261. 63

In: AAS 59 (1967), S. 5 – 24; lat.-dt. in: NKD 2, Trier 1967, S. 72 – 127; Kommentarlit. dazu bei Gervais, Paolo VI (Anm. 11), S. 318 f. Auf das EI 1968 (Anm. 103) muss an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, da es als Versuch der weiteren rechtlichen Konkretisierung der Neuerungen der Ap. Konst. ID zu verstehen ist (insbes. Überprüfung der Anzahl der Ablässe nach ID, Nor., Nr. 13). Zum EI 1968 vgl. ausgiebig Gervais, Paolo VI (Anm. 11), S. 659 – 688. 64 Ist es Zufall, dass die päpstliche Verlautbarung genau am ersten Tag des Jahres erschien, in dem die evangelische Christenheit das 450. Jubiläum der Reformation beging? Oder ein Zeichen mangelnder ökumenischer Sensibilität? 65

ID, Nor., Nr. 1; vgl. c. 992 CIC; KKK, S. 401, Nr. 1471.

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der gebotenen Weise erfüllen.66 Das „allgemein“67 bei der erforderlichen Absicht bringt zum Ausdruck, dass es auf eine genauere Kenntnis des Ablasses nicht ankommt. Ein materialistisch-dingliches Verständnis des Kirchenschatzes als einer Summe von materiellen Gütern lehnte Papst Paul VI. ab, weshalb er die anachronistische Verrechenbarkeit von Ablassleistungen mit Zeiten im Fegefeuer für Teilablässe abschaffte.68 Der „Thesaurus Ecclesiae“ ist nach ihm Gottes Heilswille mit den Menschen in Jesus Christus, „insofern in ihm die Genugtuungen und Verdienste seines Erlösungswerkes Bestand und Geltung haben“69. Aber auch die Verdienste der Heiligen besitzen „einen wahrhaft unermesslichen, unerschöpflichen und stets neuen Wert“, weshalb sie zum Kirchenschatz gehören.70 Der Heilswille Jesu Christi wird wesentlich durch die Kirche als „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“71 vermittelt, ja letztendlich kann vom Kirchenschatz nur „im Kontext einer sakramental verstandenen Kirche“72 gesprochen werden.

66

EI 1968 (Anm. 103), Nor., Nr. 22, §§ 1 und 2; EI 1999 (Anm. 103), Nor., Nr. 17, §§ 1 und 2; Josef Kremsmair, Art. Ablass, in: LThK3 1, 1993, Sp. 55 – 56, hier Sp. 56. 67 Durch einen Redaktionsfehler wurde das „generalem“ des EI 1968 (Anm. 103), Nor., Nr. 22, § 2 bei Drucklegung des CIC vergessen und durch eine amtliche Korrektur im Auftrag des Papstes Johannes Pauls II. eingefügt (AAS 80 [1988], S. 1819); vgl. Lüdicke, c. 996, Rdnr. 3, in: MK CIC. 68

EI 1968 (Anm. 103), Nor., Nr. 5. Ganz überwunden scheint das quantitative Denken allerdings bis heute nicht, wenn – erstmals in ID, Nor., Nr. 5 – gesagt wird, dass bei einem Teilablass die Kirche die durch die eigene Bußleistung des Christgläubigen erwirkte Genugtuung verdopple; EI 1999 (Anm. 103), Nor., Nr. 4 („tantadem … remissio, quanta“ wurde ersetzt durch „remissio eiusdem valoris“); vgl. unten Anm. 131. 69

ID, Nr. 5. Papst Paul VI. sprach deshalb lieber vom „Schatz der Genugtuungen Christi“ und der Heiligen, gerade im Verständnis des Kirchenschatzes hat er Anregungen von Poschmann, Ablass (Anm. 15) und insbesondere Karl Rahner aufgenommen; vgl. Karl Rahner, Bemerkungen zur Theologie des Ablasses, in: Schriften zur Theologie, Bd. 2, Einsiedel 1955, S. 185 – 210; ders., Zur heutigen kirchenamtlichen Ablasslehre, in: ebd., Bd. 8, Einsiedel 1967, S. 488 – 518. 70

ID, Nr. 5.

71

VatII LG 1.

72

Gerhard Voss, Ablass als Mittel zur Heiligung? Zur Verkündigung des Jubiläumsablasses durch Papst Johannes Paul II., in: Una Sancta 54 (1999), S. 322 – 331, hier S. 329; Demel, Missbraucht (Anm. 7), S. 448.

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Durch den Ablass werden die Sündenfolgen getilgt, die zerstörerisch in das eigene Leben wie auch die universelle Ordnung eingreifen.73 Diese sind für Papst Paul VI. nicht eine „im inneren Wesen der Sünde selbst begründete und mit der Aufarbeitung der Schuld gegebene leidschaffende Reaktion gegen die Schuld des Menschen von Seiten seiner eigenen Natur und seiner Umwelt“74, er sieht sie noch eher äußerlich und vindikativ: Gott selbst legt die Sündenstrafen in seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit „zur Reinigung der Seelen, zum Schutz der Heiligkeit der sittlichen Ordnung und zur Wiederherstellung der Ehre Gottes in ihrer ganzen Majestät“75 auf. An einigen Stellen zeigt die Ablasskonstitution jedoch „Offenheit für ein Verständnis der zeitlichen Sündenstrafen als den konnaturalen Sündenfolgen“76, sie kann diesen Ansatz aber nicht durchhalten. Die Tilgung der Sündenfolgen im Ablass ersetzt keinesfalls die Buße, sondern soll dem Sünder helfen, zukünftig die Sünde zu meiden. Der Büßende wird zu einem in Christus erneuerten Leben ermutigt und zu Werken der Frömmigkeit, Buße und Barmherzigkeit angespornt,77 wobei deren Qualität dem Aspekt der Quantität vorgeordnet erscheint. So manifestiert sich im Ablass „die überragende Bedeutung der Liebe im christlichen Leben“78. Papst Paul VI. hatte die „Positio“ der Apost. Pönitentiarie seiner Konstitution zugrunde gelegt, er bestätigte die bisherige Doktrin im Grundbestand, nahm jedoch in der Ablasspraxis Anpassungen vor. Dabei hat er eine allzu juristische Sprache vermieden. Ein Neuansatz ist in seiner Sicht des Kirchenschatzes zu sehen, den dieser Papst nicht mehr wie bisher dinglich, sondern dynamisch und personal verstand. Eine Absage erteilt hat Papst Paul VI. als Kirchenrechtler freilich der Sicht, den Ablass als ein fürbittendes Eintreten der Kirche beim Ausleiden der schmerzvollen Schuldrückstände zu sehen; für ihn ist der Ablass ein auf der Schlüsselgewalt aufbauender, Tatsachen schaffender Rechtsakt.79

73

ID, Nr. 2.

74

Vorgrimler, Buße (Anm. 29), S. 213.

75

ID, Nr. 2.

76

Dorothea Sattler, Ablass-Streit in neuer Zeit. Beobachtungen zur Wiederbelebung einer alten konfessionellen Kontroverse, in: Catholica 54 (2000), S. 14 – 38, hier S. 24. 77

ID, Nr. 8.

78

ID, Nr. 11.

79

ID, Nr. 8; vgl. Gervais, Paolo VI (Anm. 11), S. 324. Obwohl der Papst der Interpretation Poschmanns und Rahners in diesem Punkt nicht folgte, ist es auf der anderen Seite auch nicht zu einer Lehrverurteilung gegenüber den beiden Theologen gekommen, auch nicht in den Punkten, wo die beiden der Sache nach ähnliche Positionen wie Luther vertreten.

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Dass auf diesem Stand nicht das „jähe Ende der Erneuerung der Ablasstheologie“80 eingeläutet und jede weitere Diskussion der Ablasslehre in den akademischen Bereich verwiesen81 sein konnte, dürfte einleuchten. 2. Papst Johannes Paul II. Papst Johannes Paul II. hat sich im Wissen darum, dass die Ablasstradition in manchen Ortskirchen fast vergessen82 zu sein scheint, jedenfalls durch Missverständnisse und historische Missbräuche stark belastet, ebenfalls um eine Reaktivierung des Ablasses bemüht. Neben dem Ausbau der Ablasspraxis83 setzte auch er theologisch neue Akzente. Deutlicher als Papst Paul VI. interpretierte er die diesseitigen Strafen, von denen man geläutert werden müsse, als immanente Folgen der Sünde, als „objektivierten Niederschlag der sündigen Entscheidung“84, deren Überwindung sowohl den persönlichen Einsatz des Einzelnen als auch das sakramentale Handeln der Kirche voraussetzt. Der veräußerlichten Verzerrung des Ablasses wollte dieser Papst vor allem dadurch wehren, dass er die so genannten zeitlichen Sündenstrafen personal-existentiell deutete und den Ablass als Hilfe für die innere Heilung verstand. Die Sündenstrafen haben keinen Vergeltungscharakter mehr, sie wollen nicht ein Übel durch ein anderes ausgleichen, sondern wirken eher therapeutisch. Der Ablass wurde jetzt zum existentiellen und spirituellen Prozess, in dem sich der bußwillige Sünder über die Beichte hinaus um eine Vervollkommnung seiner inneren

80

So aber Schirrmacher, Ablass (Anm. 2), S. 123.

81

Benrath, Ablass (Anm. 17), S. 362.

82

Im „Gotteslob“ (GL), dem gemeinsamen Gesangbuch aller katholischen deutschsprachigen Diözesen aus dem Jahre 1975, stehen nur der Portiunkula-Ablass (GL, Nr. 54, 7), der Ablass „in unmittelbarer Todesgefahr“ (GL, Nr. 76) und der „Ablass für die Verstorbenen“ (GL, Nr. 77, 3). 83 Seit dem Jubiläumsablass für das Jahr 2000 wurden weitere vollkommene Ablässe gewährt (z. B. für die Spendung des Päpstlichen Segens durch den Bischof in so genannten Konkathedralen [Dekret der Apost. Pön. vom 29.06.2002], für Andachtsübungen zu Ehren der Göttlichen Barmherzigkeit [Dekret der Apost. Pön. vom 29.06.2002], anlässlich des 100. Jahrestages der Krönung der Patronin Brasiliens [Dekret der Apost. Pön. vom 31.03.2004], anlässlich des Jahres der Eucharistie [Dekret der Apost. Pön. vom 25.12.2004], anlässlich des XX. Weltjugendtages [Dekret der Apost. Pön. vom 02.08.2005], des 40. Jahrestages des Abschlusses des II. Ökumenischen Vatikanischen Konzils [Dekret der Apost. Pön. vom 18.11.2005]) und des 14. Welttages der Kranken am 11.02.2006 [Dekret der Apost. Pön. vom 18.01.2006]. 84

Semmelroth, Theologie (Anm. 14), S. 57; vgl. ders., Zur päpstlichen Neuordnung des Ablasswesens, in: GuL 40 (1967), S. 348 – 360.

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Reinigung bemüht, indem er sich der Folgen der Sünde, die auch nach deren Vergebung noch existieren, annimmt und sie aufarbeitet. Der Ablass ist somit weniger „eine Art göttliche(r) ‚Amnestie’“85, die einem Sünder die konsequente Strafe des Fegefeuers ersparen will, sondern eher wie am Anfang seiner Geschichte die durch das Fürbittgebet der kirchlichen Gemeinschaft einem reuigen Sünder gewährte solidarische Bußhilfe,86 damit er in die Lage versetzt wird, die Folgen seiner Schuld möglichst schnell und sicher aufzuarbeiten. Er kann niemals die Buße ersetzen. Papst Johannes Paul II. bezeichnete den Ablass als „eine Art Medizin je nach dem Maße, in dem sich der Mensch auf eine tiefe und ehrliche Umkehr einlässt“87. Der Ablass bietet somit eine Hilfe zur christlichen Lebensgestaltung. Ist dann aber das Tun der Kirche im Ablass noch als hoheitliche Befreiung von den so genannten zeitlichen Sündenstrafen zu sehen? Eine autoritative Dispens von der „selbstverschuldeten Beeinträchtigung des Miteinanders“ ist dogmatisch kaum vorstellbar.88 Von Papst Paul VI. übernahm er die dynamische und personale Sicht des Kirchenschatzes, der kein sachhafter Vorrat in einem beliebig verfügbaren Gnadendepot ist, sondern letztlich die in der Kirche lebendige „personale Liebe Christi und der Heiligen“89. In der Gemeinschaft des mystischen Leibes Christi ereignet sich nach Papst Johannes Paul II. ein „wunderbarer Austausch christlicher Güter, kraft dessen die Heiligkeit des einen den andern zugute kommt“90. Bei den Ablassbedingungen führte der vorherige Papst eine Neuerung ein, als ab sofort nicht nur spirituelle Bußwerke als „gültige Wege“ für die Vervollkommnung der inneren Reinigung gelten, sondern z. B. der Jubiläumsablass auch durch verschiedene „Formen persönlichen Opfers“91 erworben werden konnte.

85

Peter Ch. Düren, Der Ablass in Lehre und Praxis. Die vollkommenen Ablässe der katholischen Kirche, Buttenwiesen 32003, S. 50. 86

Böttigheimer, Jubiläumsablass (Anm. 55), S. 178; Demel, Missbraucht (Anm. 7), S. 450. 87 Papst Johannes Paul II., Anweisungen für die Erlangung des Jubiläumsablasses, in: OssRom (dt.), Nr. 49 vom 04.12.1998, S. 10. 88

Sattler, Ablass-Streit (Anm. 76), S. 30; vgl. unten Anm. 128.

89

Beinert, Sinn (Anm. 57), S. 742.

90

IM, Nr. 10.

91

Ausdrücklich genannt werden: einen Menschen in Not oder in Schwierigkeiten (Kranke, Gefangene, Einsame, Alte, Behinderte) besuchen und so gleichsam zu Christus pilgern, sich wenigstens einen Tag lang übermäßigen Konsums (Alkohol, Rauchen) enthalten, fasten, auf den Genuss von Fleisch oder anderen Nahrungsmitteln entsprechend den Partikularnormen der Bischofskonferenz verzichten, eine angemessene Geld-

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V. Ist der Ablass mit der Rechtfertigungslehre vereinbar? Nicht wenige Stimmen aus dem Bereich der lutherischen Theologen und Bischöfe wiesen auf die Gefahr hin, dass durch den starken konfessionellen Akzent der Renaissance des Ablasses der mühsame Prozess der Verständigung über die Rechtfertigung, der in der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche“ (GE) einen deutlichen Schritt vorangekommen sei, erheblich gestört werden könne. Pars pro toto seien zwei Stimmen herausgegriffen: Schleswigs Bischof Hans Chr. Knuth, von 1999 bis 2005 Leitender Bischof der Vereinigten EvangelischLutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), meinte, solche Ausführungen hätten „überhaupt nichts mit der Rechtfertigungslehre zu tun, die in der GE zum Ausdruck kommt. Sie sind ärgerlich − eine Konstruktion, die der Rechtfertigungsbotschaft Gewalt antut“92. Und in den Augen der lutherischen Theologen Thomas Kaufmann und Martin Ohst ist der Jubiläumsablass mit „keiner denkbaren reformatorisch orientierten Rechtfertigungslehre vereinbar“93. Was ist dazu zu sagen? Im Einklang mit der reformatorischen Theologie kann zunächst festgehalten werden, dass jede Sünde ihre Strafe in sich selbst hat, insofern sie eine gottwidrige Wirklichkeit hervorruft, die als solche lebenshemmend nachwirkt. Diese Spätfolgen sind aber um der von Gott geschenkten Rechtfertigung willen aufzuarbeiten. Dass die kirchliche Bußpraxis zwischen Vergebung der Schuld und andauernden Folgen einer sündhaften Tat unterscheidet, ist positiv zu werten, weil so neben der Vergebung auch die Verantwortung und die Veränderungsbereitschaft hervorgehoben werden. Dies ist ökumenisch unbestritten. Als Fortschritt ist ebenfalls zu werten, dass Papst Johannes Paul II. den therapeutischen Aspekt des Ablassgeschehens in den Vordergrund rückte. Die

summe den Armen oder Werken mit religiösem oder sozialem Charakter zukommen lassen, einen Teil der Freizeit sozialen Tätigkeiten widmen (vgl. Apost. Pön., Das Geschenk des Ablasses. Dekret vom 29.01.2000, Anmerkungen, Nrn. 9 – 10, in: http:// www.vatican.va/roman_curia/tribunals/apost_penit/documents/rc_trib_appen_pro_200001 29_indulgence_ge.html; Stand: 28.02.2006). 92

Hans Ch. Knuth, Stationen auf dem Weg zur Gemeinschaft. Lutheraner und Katholiken stehen in Augsburg vor bedeutsamen Ereignissen, in: KNA, Nr. 44 vom 26.10.1999, S. 15. 93

Thomas Kaufmann / Martin Ohst, Unvereinbar oder inhaltsleer. Der päpstliche Ablass widerlegt die Rede vom Rechtfertigungs-Konsens, in: epd-Dokumentation, Nr. 39/1999, S. 1 – 3, hier S. 2 und LM 38 (1999), S. 20 – 21, hier S. 21; kritisch dazu Sattler, Ablass-Streit (Anm. 76), S. 19 – 22.

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Ablässe sind nach ihm „eine Art Medizin“94. Die lutherische Theologie unterstreicht, dass dem Rechtfertigungsgeschehen ein lebenslanger Heilungsprozess folgen muss mit dem Ziel, die Taufgnade trotz der Folgewirkungen der Sünde zur Entfaltung zu bringen. Der Ablass versucht, den heilenden Einfluss der Kirche als solidarischer Stellvertretungsgemeinschaft zur Ausheilung des innersten Kerns des rekonziliierten Sünders fruchtbar zu machen. Ablass in diesem Verständnis hat mit communio zu tun, mit gemeinsamen Unterwegssein. Menschen greifen einander unter die Arme und werden so zur Stütze füreinander. Der Ablass ist eine heilende Stütze der Kirche für die innere Umkehr des büßenden Gläubigen, der die leidvollen Folgen der Sünde in der Gemeinschaft95 der Gläubigen aufarbeiten96 hilft und dadurch die im Bußsakrament geschenkte Versöhnung mit Gott und seiner Kirche zur Entfaltung bringt. Als fürbittende Bußhilfe der Gemeinschaft, nicht als Ersatz für die Versöhnung mit Gott und der Kirche, stellt der Ablass keinen Widerspruch97 zur Rechtfertigungslehre der Gemeinsamen Erklärung dar, er unterschätzt nicht die Kraft der Erlösung durch Jesus Christus. Ökumenisch umstritten sind weiterhin jene Fragen, die sich beim Ablass um den Bereich des Kirchenschatzes bzw. die kirchliche Vollmacht drehen, die zeitlichen Sündenstrafen nachzulassen. Hier wird von evangelischer Seite immer wieder auf die Rechtfertigung „allein aus Gnade“, „allein aus Glauben“, „allein durch Jesus Christus“ verwiesen. Umstritten bleibt auch die Zuwendung von Ablässen an Verstorbene. VI. Anfragen zu kirchenrechtlichen Normierungen Zunächst fällt auf, dass im CIC von 1983 nur 6 Kanones stehen gegenüber 26 im CIC/1917. Daraus lässt sich jedoch nicht folgern, dass das Anliegen Papst Pauls VI. erfüllt worden wäre, zukünftig nur noch „besondere Gebete und

94 Papst Johannes Paul II., Ansprache bei der Generalaudienz am 29.09.1999, in: OssRom (dt.) vom 08.10.1999, S. 2. 95

Die Betonung des fürbittenden Handelns der Gemeinschaft der Kirche ist im Zeitalter fast grenzenloser Individualisierung ein wichtiger Aspekt des Ablasses. 96

Die irdischen Folgen der Sünde sind freilich nicht immer leicht wieder gut oder gar rückgängig zu machen (z. B. der Tod nach einem Mord oder die Scheidung einer Ehe nach dem persönlichen Scheitern aneinander). 97

Pars pro toto Peter Neuner, Ist das noch „Ablass“? Der Jubiläumsablass steht der Gemeinsamen Erklärung nicht im Wege, in: epd-Dokumentation Nr. 39/1999, S. 3 f. und LM 38 (1999), S. 22 f.

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besondere Werke der Frömmigkeit, der Liebe und der Buße“98 durch Ablässe auszuzeichnen. Denn c. 997 CIC bestimmt, dass in Bezug auf Gewährung und Gebrauch der Ablässe weiterhin „die übrigen Vorschriften anzuwenden [sind], die in den besonderen Gesetzen der Kirche enthalten sind“, d. h. die Ap. Konst. ID von 1967 und das EI von 1999. Darüber hinaus ist auch auf Einzelgewährungen zu achten.99 Das geltende offizielle Ablassverzeichnis von 1999 täuscht durch einen geänderten systematischen Aufbau eine Reduzierung der Ablassgewährungen von 70 auf 33 vor, in Wirklichkeit hat es einige der bisherigen „concessiones“ ausgedehnt oder es kamen neue hinzu.100 Da alle gegenwärtig geltenden rechtlichen Bestimmungen über die Ablässe „una comprehensione et ordinatim“101 im Enchiridion indulgentiarum vorliegen, könnte man die „Grundbestimmungen“102 zum Ablass im CIC analog der Vorgehensweise im CCEO streichen. Die oben nur in Federstrichen skizzierte Theologie des Ablasses hat in das geltende Enchiridion indulgentiarum, das Ablasshandbuch103 der Katholischen 98

ID, Nor., Nr. 13, worin Papst Paul VI. eine Überprüfung des Verzeichnisses der Ablässe angekündigt hatte. Zur Revision der Normen in der CIC-Reform vgl. Comm 10 (1978), S. 71 – 74 und 13 (1981), S. 439 f. 99

EI 1999 (Anm. 103), Praenotanda, Nr. 5. Als Beispiel sei das Dekret „De indulgentiis ope instrumenti televisifici vel radiophonici lucrandis“ vom 14.12.1985 (in: AAS 78 [1986], S. 293 f.) angeführt, das den Empfang des vom Bischof erteilten Päpstlichen Segens durch Fernsehen oder Radio ermöglicht. 100 Z. B. die Gewinnung eines vollkommenen Ablasses durch die Weihe der Familie an das Heiligste Herz Jesu oder an die Hl. Familie (Conc., Nr. 1), bei der Gebetswoche für die Einheit der Christen (Conc., Nr. 11), für bestimmte Gebete der Orientalischen Kirchen (Conc., Nr. 23), anlässlich des 25., 40. oder 50. Jahrestages der Bischofsweihe (Conc., Nr. 27) sowie beim Besuch der Kathedrale, einer Päpstlichen Basilika oder eines von der zuständigen Autorität errichteten Heiligtums an bestimmten Tagen (Conc., Nr. 33); Gervais, Quarta edizione (Anm. 10), S. 184. 101

EI 1999 (Anm. 103), Praenotanda, Nr. 5.

102

Lüdicke, Einf. vor c. 992/1, in: MK CIC.

103

Paenitentiaria Apostolica, Enchiridion indulgentiarum. Normae et concessiones, Typ. Vol. Vat. 1999; abgedr. in: Notitiae 36 (2000), S. 70 – 127; im Internet unter: http://www.vatican.va/roman_curia/tribunals/apost_penit/documents/rc_trib_appen_doc_2 0020826_enchiridion-indulgentiarum_lt.html (Stand: 28.02.2006). Die Apost. Pön. hat ein Verzeichnis aller Ablässe erstmals am 31.12.1937 herausgegeben (Dekret in: AAS 30 [1938], S. 110 f.). Eine von der Apost. Pön. genehmigte deutsche Ausgabe findet sich in: Ablassbuch. Neue amtliche Sammlung der von der Kirche mit Ablässen versehenen Gebete und frommen Werke. Hrsg. von Erhard Wagenhäuser, Regensburg 21939 (31952). Das nächste Verzeichnis stammt vom 29.06.1968: Sacra Paenitentiaria Apostolica, Enchiridion indulgentiarum. Normae et concessiones, Typ. Pol. Vat. 1968 (abge-

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Kirche, Eingang gefunden. Die einleitende Norm definiert den Ablass folgendermaßen: Die Kirche verwaltet „als Dienerin der Erlösung autoritativ den Schatz der Genugtuungen Christi und der Heiligen“ und wendet ihn zu, indem sie einem entsprechend disponierten Gläubigen unter bestimmten Voraussetzungen den „Nachlass einer zeitlichen Strafe vor Gott für solche Sünden“ zukommen lässt, „die hinsichtlich der Schuld schon getilgt sind.“104 Trägerin der Vollmacht zur Ablassverleihung sind die höchste105 Autorität106 der Kirche, kraft Rechtes die Apostolische Pönitentiarie107 als „kurialer Gnadenhof“108 und in dogmatischen Fragen die Kongregation für die Glaubenslehre109 sowie mit ausdrücklicher Bevollmächtigung durch den Papst auch andere Autoritäten,110 die freilich nur mit einem Indult des Apostolischen Stuhles die Vollmacht zur Gewährung von Ablässen anderen Personen übertragen111 können. Die römische Aufsicht über die Ablassbewilligungen durch Autoritäten unterhalb der Römischen Kurie ist umfassend, können diese Gewährungen ihre Rechtskraft doch nur entfalten, nachdem eine authentische Abschrift davon von der Apostolischen Signatur eingesehen112 wurde. Hier steht die historische Entwicklung

kürzt: EI 1968); es wurde nur privat (und schlecht) ins Deutsche übersetzt, aber doch mit kirchlicher Druckerlaubnis herausgegeben als: Handbuch der Ablässe. Normen und Bewilligungen, München 1971; vgl. auch Arnold Guillet, Die Ablassgebete der katholischen Kirche, Stein am Rhein 1971 (21981). Nach der Promulgation des CIC im Jahre 1983 wurde das Ablassverzeichnis von der Apost. Pön. erneut überarbeitet und erschien am 18.05.1986 als Enchiridion indulgentiarum. Normae et concessiones (abgekürzt: EI 1986), jetzt auch in einer von der DBK veranlassten und von der Apost. Pön. approbierten Übersetzung in: Handbuch der Ablässe. Normen und Gewährungen, hrsg. vom Sekretariat der DBK, Bonn 1989. Die geltende Fassung des offiziellen Ablasshandbuches stammt von 1999, eine amtliche deutsche Übersetzung desselben liegt bisher nicht vor. 104

EI 1999, Nor., Nr. 1.

105

EI 1999, Nor., Nr. 5, § 1.

106

Das sind der Papst (c. 331 CIC) und das Bischofskollegium in Einheit mit dem Nachfolger Petri (c. 336 CIC). 107

EI 1999, Nor., Nr. 6; PastBon, Art. 120.

108

Rudolf Henseler, Ablass, in: HdbkathKR2, S. 857 – 861, hier S. 860.

109

EI 1999, Nor., Nr. 6.

110

Hierunter fallen nach den Normen Nrn. 7 – 10 des geltenden EI Diözesan- bzw. Eparchialbischöfe und diesen rechtlich Gleichgestellte, Metropoliten, Patriarchen und Großerzbischöfe (mit jetzt erweiterten Vollmachten hinsichtlich des Päpstlichen Segens; EI 1999, Nor., Nr. 9, § 1, 2° und § 2) sowie Kardinäle. 111 112

EI 1999, Nor., Nr. 5, § 2.

EI 1999, Nor., Nr. 12. Die frühere Strafandrohung der Nichtigkeit der erlangten Gunst (EI 1968, Nor., Nr. 16: „sub poena nullitatis gratiae obtentae“) ist gefallen, statt-

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längst auf dem Kopf. Für die Ermäßigung der Buße war der Beichtvater zuständig, deshalb wurde die Ablassgewalt bis zur Entwicklung der Thesauruslehre auch ihm oder dem Pfarrer zugesprochen. Über den Schatz der Kirche kann aber nur verfügen, wer als Leiter einer Kirche vorsteht, also Bischöfe und Papst. Das straff ausgeformte Konzessionssystem wurde an dieser Stelle nicht durch das Reservationssystem ersetzt. Seit dem frühen Mittelalter wird die Ablassgewährung nicht nur mit Werken der Buße, sondern auch mit bestimmten Frömmigkeitsübungen113 verbunden, welche die Ernsthaftigkeit des Willens zur Aufarbeitung der zeitlichen Sündenfolgen stützen und manifestieren sollen. Der Ablass wird also nicht wie ein Sakrament gespendet, sondern durch die Erfüllung eines benannten Werkes114 unter bestimmten Bedingungen erworben. Hier ist im Laufe der Jahrhunderte neben der Zeitanpassung auch eine ständige Reduktion der Bußwerke festzustellen. Die „geforderten Verhaltensmomente bringen die zwei Grundbedingungen zum Ausdruck, die jeder Gläubige und jede Gläubige erfüllen muss, um den Ablass als Gemeinschaftshilfe auf dem Weg der Umkehr in Anspruch nehmen zu können. Erstens muss sich die betreffende Person bereits auf den Weg gemacht haben, also schon mit Gottes Hilfe zur Umkehr aufgebrochen sein. Diese erste Bedingung wird in dem Kriterium zusammengefasst, dass das betreffende Glied der Kirche im so genannten ‚Gnadenstand‘ sein muss. Der Gnadenstand wiederum wird daran festgemacht, dass das Sakrament der Buße und der Eucharistie115 empfangen worden ist.116 Zweitens muss der bzw. die Gläubige überhaupt den Willen haben, sich ‚von der Kirche auf dem Weg der Heiligung helfen [zu] lassen‘. Die Absicht, einen Ablass empfangen zu wollen,

dessen wurde die Wirksamkeit der Ablassgewährung von der vorgehenden römischen Prüfung abhängig gemacht („… vigorem suum exserere incipiunt solum postquam …“). 113

Wallfahrten, eucharistische Anbetung, andächtige Betrachtung, Exerzitien usw.

114

In der Regel ist dies ein Gebet „nach Meinung des Heiligen Vaters“ – empfohlen sind „Vater unser“ und „Gegrüßet seist du Maria“, entsprechend der eigenen Frömmigkeit kann der Gläubige jedoch auch ein anderes Gebet wählen (EI 1999, Nor., Nr. 20, § 5 und Apost. Pön., Geschenk [Anm. 91], Anmerkungen, Nr. 5). 115 Obwohl EI 1999, Nor., Nr. 20, §§ 1 und 2 von der „communio eucharistica“ sprechen und es nach dem Dekret der Apost. Pön., Geschenk (Anm. 91), Nr. 4 „zweifelsohne besser“ ist, die Eucharistie bei der Teilnahme an einer Hl. Messe zu empfangen, ist zur Gültigkeit des Ablasses nach dem genannten Dekret der Empfang der Hl. Kommunion ausreichend. 116

EI 1999, Nor., Nr. 20, § 1; Lüdicke, Einf. vor c. 992/1, in: MK CIC. Anzuführen wäre hier ebenso „der Ausschluss jeglicher Anhänglichkeit an irgendeine auch lässliche Sünde“ (EI 1999, Nor., Nr. 20, § 1; ähnlich ebd., Aliae conc., Proœmium, Nr. 5).

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ist also unabdingbar“117. Ohne eine entsprechende Intention kann ein Ablass nicht gültig118 empfangen werden. Die Absicht wird als vorhanden betrachtet, wenn der oder die Büßende die auferlegten Werke hinsichtlich Zeit und Weise nach den Bestimmungen der Ablassgewährung119 erfüllt hat. Hier ist zu unterstreichen, dass im Gegensatz zur sakramentalen Versöhnung der Ablass nicht heilsnotwendig, sondern (nur) „äußerst heilsam“120 ist. Mit Demel ist eine weniger missverständliche Sprache in der Ablasslehre zu fordern. Wenn z. B. in c. 992 CIC und EI 1999, Normae, Nr. 1 vom „Nachlass einer zeitlichen Strafe vor Gott“121 die Rede ist, kann dies leicht zu der falschen Annahme verleiten, dass Gott für einen bußfertigen Sünder zur Befriedigung der göttlichen Gerechtigkeit ähnlich einem irdischen Richter noch eine zusätzliche Strafe verhängt und diese dann gnädigerweise im Ablass wieder zurücknimmt.122 Sollte man den Begriff „Strafe“, der im Zusammenhang mit dem 117 Demel, Missbraucht (Anm. 7), S. 450 mit einem Zitat von Böttigheimer, Jubiläumsablass (Anm. 55), S. 174. 118

EI 1999, Nor., Nr. 17, § 2; Ilona Riedel-Spangenberger, Art. Ablass (kath.), in: LKStKR 1, 2000, S. 11 – 12, hier S. 11. 119

EI 1999, Nor., Nr. 17, § 2.

120

Bereits das Konzil von Trient traf diese Qualifizierung in seinem Ablassdekret auf der 25. Sitzung (04.12.1563): „Da der Kirche von Christus die Vollmacht zugestanden wurde, Ablässe zu gewähren, und sie jene ihr von Gott übertragene Vollmacht auch in ältesten Zeiten gebrauchte, so lehrt und gebietet das hochheilige Konzil, dass der Gebrauch von Ablässen, der für das christliche Volk äußerst heilsam und durch die Autorität der heiligen Konzilien gebilligt ist, in der Kirche beibehalten werden soll. Und sie verurteilt diejenigen mit dem Ausschluss, die sie für unnütz erklären oder die der Kirche das Recht absprechen, sie zu verleihen“ (DH 1835). Bei Vorgrimler, Buße (Anm. 29), S. 210 ist nachzulesen, wie es zu dieser formalen Reaktion auf den Auslöser der Reformation in letzter Minute gekommen ist: In der letzten Sitzung wurde das Ablassdekret ohne Debatte zusammen mit vier anderen Dekreten in einem sehr summarischen Verfahren verlesen und approbiert. Keine der sieben den Konzilsvätern bereits am 19.06.1547 auf der Basis der Dekretale Papst Leos X. vom 9. November 1518 vorgelegten Fragen (nachzulesen bei Jedin, Geschichte [Anm. 34], S. 78) ist darin angesprochen; das Dekret bekräftigt nur die Vollmacht der Kirche, Ablässe zu verleihen, die „äußerst heilsam“ sind, und es verurteilt weiter die Leugnung dieser Vollmacht sowie die Bestreitung des Nutzens der Ablässe. 121

Die Übersetzung von Lüdicke im MK CIC verschleiert dieses Missverständnis, indem sie „vor Gott“ grammatikalisch den Sünden zuordnet („Nachlass einer zeitlichen Strafe für Sünden vor Gott“). 122

Demel, Missbraucht (Anm. 7), S. 452. Sie schlägt für die erste Satzhälfte des c. 992 CIC folgenden Wortlaut vor: „Ablass ist die Gnade, von der zeitlichen Folge der Sünden abzulassen, deren Schuld vor Gott schon getilgt ist.“

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Ablass – abgesehen von den fast ausschließlich in der Alten Kirche aktuellen kanonisch verhängten Strafen – nur analog verstanden werden kann,123 nicht gleich ganz weglassen und den gemeinten Sachverhalt anders ausdrücken, z. B. als Sündenfolge? Der Begriff „Sündenstrafe“ klingt für moderne Ohren nach abgestandener Katechismussprache. Und die Formulierung, dass die Kirche „den Schatz der Sühneleistungen Christi und der Heiligen autoritativ verwaltet und zuwendet“, weckt Assoziationen an das historische Missverständnis einer juridisch-dinghaften Handhabung des Heilswirkens Gottes durch die Kirche.124 Die von Sabine Demel vorgeschlagene Formulierung „den Schatz der göttlichen Heilsmacht erhalten hat und diese autoritativ ausübt“ ist insofern vorzuziehen, als die Zuwendung durch die Kirche ja nur darin besteht, Ablässe zu ermöglichen. Wie ist „auctoritative dispensat et applicat“ aber genau zu verstehen? Etwa im Sinne eines jurisdiktionellen Aktes? Sind damit richterliche Lossprechungsakte von zeitlichen Sündenfolgen gemeint? Das überzeugt schon deshalb nicht, weil die Bußwerke nicht als Mittel der für die vorausgegangene und inzwischen vergebene Sünde verlangten Befriedigung der göttlichen Gerechtigkeit angesehen werden können, sondern Beweis und Frucht der Reue sind. Von der Reue als Bedingung der Sündenvergebung kann aber nicht befreit werden. Oder sind eher Rechtsakte im Sinne der päpstlichen Feststellung des Freiseins von der Sündenschuld oder von einer verhängten Kirchenstrafe nach geleistetem Bußwerk gemeint? Das wäre ökumenisch unstrittig. „Dispensare“ ist das Intensivum von „dispendere“ und bedeutet wörtlich „auswiegen“, aber auch „austeilen“ – „spenden“ und „ordnen“ – „verwalten“, „applicare“ meint „hinzufügen“ – „hin/zuwenden“, „auctoritative“ stellt auf das gültige Handeln in Vollmacht ab. Mit der genannten Wendung könnte ein hoheitliches Tun zum Ausdruck gebracht sein in dem Sinn, dass die Kirche „als Dienerin der Erlösung den Schatz der Sühneleistungen Christi und der Heiligen in Vollmacht so ordnet und zuwendet“125, dass der willige Christgläubige selbst die spezifischen Früchte des Ablasses erreichen kann und die Gemeinschaft der Glaubenden durch das amtlich fürbittende Eintreten daran heilsmittlerisch beteiligt ist. Dieses Eintreten der Gemeinschaft wäre wirkmächtig, weil es als Tun der Kirche der Erhörung sicher sein kann, „ein unfehlbar wirksames Gebet“126 ist. Dass eher kein juristisches Konzept in dem Ausdruck gemeint ist, geht auch aus der Ablösung der traditionellen Wendung hervor, wie sie noch in c. 911 CIC/1917

123

So zutreffend Henseler, Ablass (Anm. 108), S. 859.

124

Demel, Missbraucht (Anm. 7), S. 452.

125

EI 1999, Nor., Nr. 1.

126

Rahner, Traktat (Anm. 41), S. 483.

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stand, dass die Ablässe bei Lebenden in der Form der Lossprechung von zeitlichen Sündenstrafen („per modum absolutionis“) wirken. Jetzt wird auf das aktive Tun des recht disponierten Gläubigen abgehoben – seit EI 1968, Nor., Nr. 1 steht an dieser Stelle „consequitur ope Ecclesiae“. Die Kirche stellt in einem aus ihrer Vollmacht127 entspringenden jurisdiktionellen Akt den Ablass zur Verfügung, so dass der Gläubige selbst damit seine zeitlichen Sündenfolgen aufarbeiten kann. „Kann ein Papst von einem existentiellen Prozess dispensieren?“, so fragte Joseph Ratzinger, der heutige Papst Benedikt XVI., und gab die Antwort selbst: „Natürlich nicht. Was eine innere Forderung menschlicher Existenz ist, das kann nicht durch einen Rechtsakt überflüssig gemacht werden.“128 Anachronistisch ist auch die Einteilung der Ablässe in zwei Kategorien. Er ist Teilablass (früher unvollkommener Ablass) oder vollkommener Ablass, je nachdem ob er die zeitlichen Sündenfolgen teilweise oder ganz tilgt.129 Diese Unterscheidung hat ihre Wurzeln in der mittelalterlichen Tarifbuße, die für jede Sünde mit einer bestimmten Zahl von Tagen festgelegt war.130 Im Zuge der Revision der Ablassnormen nach dem letzten Konzil sind die Maßangaben nach Tagen und Jahren beim Teilablass bereits 1968 gefallen; statt dessen heißt es nun, dass einem Gläubigen, der wenigstens reuigen Herzens das mit einem Teilablass versehene Bußwerk vollzieht, durch die Hilfe der Kirche ein ebenso großer Nachlass an zeitlichen Sündenstrafen gewährt wird, wie er selbst schon durch sein Tun erhält.131 Bestimmt wird die Art des Ablasses also von der Disposition des Empfängers. Die Unterscheidung zwischen Teilablässen und vollkommenem Ablass scheint aus mehreren Gründen revisionsbedürftig. Zum einen stellt der vollkommene Ablass für die katholische Theologie ein besonderes Problem dar, setzt er doch eine „vollkommene Disposition des Geistes“132 voraus, „die jegliche Neigung zur Sünde“133 ausschließt. Im normalen Leben 127 „Potestas“ wurde wegen seiner „valenza giuridica“ (Gervais, Quarta edizione [Anm. 10], S. 178) beibehalten. 128

Joseph Ratzinger, Portiunkula. Was Ablass bedeutet, in: Ders., Bilder der Hoffnung. Wanderung im Kirchenjahr, Freiburg / Basel / Wien 31997, S. 91 – 100, hier S. 95. 129

EI 1999, Nor., Nr. 2, Näheres wird bei den einzelnen Gewährungen geregelt. In dieser Hinsicht ist die Entschlackung in EI 1999, Nor., Nr. 15 gegenüber EI 1986, Nor., Nr. 18 zu begrüßen. 130

Der Sachstand verrät mehr als deutlich, dass man die heutigen Regelungen des Ablasses „vornehmlich auf dem Hintergrund ihrer historischen Entstehung sehen” muss“ (Lüdicke, Einf. vor c. 992/2, in: MK CIC). 131

EI 1968, Nor., Nr. 6; EI 1999, Nor., Nr. 4; vgl. oben Anm. 68.

132

EI 1999, Aliae conc., Proœmium, Nr. 5.

133

Ebd.; Böttigheimer, Jubiläumsablass (Anm. 55), S. 179.

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scheint dies sehr selten möglich, die Todesstunde einmal ausgenommen.134 Ist aber eine derartige Disposition nicht vorhanden, kann der Gläubige nur einen Teilablass gewinnen.135 Zudem verrät die Totiens-quotiens-Regel noch immer eine „juridische Verwaltung der Ablösung zeitlicher ... Sündenstrafen durch die Kirche“136. Was besagt die Regel? Einen vollkommenen Ablass kann man – außer in Todesgefahr – nur einmal am Tag gewinnen, selbst wenn die vorgeschriebenen Werke mehrfach verrichtet werden. Teilablässe hingegen können am selben Tag sooft gewonnen werden, wie das entsprechende Werk erbracht wird.137 Steht hier nicht einer Häufung und insbesondere dem spätmittelalterlichen Missbrauch der „billigen“ Ablässe Tür und Tor offen, die mitunter weniger als ein Ausdruck intensiver Frömmigkeit erscheinen denn als Anzeichen einer größeren Heilsangst? Hier scheint die Gefahr einer veräußerlichten Verzerrung nicht gebannt, das Werthafte zählbar in ein Tauschgeschäft einzubringen. Die geltenden Bestimmungen erwecken auch an anderen Stellen den Anschein, die dingliche Rubrizierung des Ablasses noch nicht überwunden zu haben. So mutet die Gewinnung eines Teilablasses138 durch den Gebrauch von rechtmäßig von einem Priester oder Diakon geweihten Andachtsgegenständen139 in frommer Gesinnung für Christen heute eigenartig an. Noch unverständlicher ist, dass der fromme Gebrauch des gleichen Gegenstandes, falls er vom Papst oder einem Bischof geweiht ist, auch einen vollkommenen Ablass erbringen kann am Fest der Apostel Petrus und Paulus, wenn der Gläubige das Glaubensbekenntnis spricht.140 Hier zeigt sich eine zu sehr an Sachen hängende, fast magische Gnadenvorstellung. Zu hinterfragen ist weiters die Koppelung der Ablassgewinnung an den Besuch einer Kirche oder eines Oratoriums,141 die bei den einzelnen Gewährungen

134

Katholischer Erwachsenenkatechismus. Das Glaubensbekenntnis der Kirche. Hrsg. v. der Deutschen Bischofskonferenz, Kevelaer u. a. 1985, S. 374. 135

EI 1999, Nor., Nr. 20, § 4.

136

Ulrich Kühn, Art. Ablass (evang.), in: LKStKR 1, 2000, S. 9 – 11, hier S. 11.

137

EI 1999, Nor., Nr. 18, §§ 1 und 2.

138

EI 1999, Conc., Nr. 14, § 2.

139

In EI 1999, Nor., Nr. 15 werden genannt Kruzifix oder Kreuz, Rosenkranz, Skapulier und Medaille. 140 EI 1999, Conc., Nr. 14, § 1. Düren, Ablass (Anm. 85), S. 171 begründet dies mit der gesteigerten Segensvollmacht „aufgrund ihrer Bischofskonsekration und ihrer hierarchischen Stellung“. 141

EI 1999, Nor., Nr. 19; Sattler, Ablass-Streit (Anm. 76), S. 20.

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näher bestimmt werden. Beim Jubiläumsablass zum Beispiel sind dies neben den Hauptkirchen der Stadt Rom142 und des Heiligen Landes143 die Kathedralen der Bistümer und andere vom Diözesanbischof benannte Heiligtümer, die so genannten Ablasskirchen. In der Pfarrkirche, einer Päpstlichen Basilika oder in der Kathedrale kann man an deren Titularfest einen vollkommenen Ablass gewinnen, am 2. August oder am folgenden Sonntag auch den beliebten Portiunkula-Ablass.144 Am Allerseelentag (2. November) kann beim Besuch einer Kirche oder öffentlichen Kapelle ein vollkommener Ablass den Verstorbenen zugewendet werden. Gleiches gilt beim andächtigen Besuch eines Friedhofs zwischen 1. und 8. November.145 Die Beispiele für lokale Verknüpfungen ließen sich beliebig verlängern.146 Ich frage: Scheint hier nicht die aus dem CIC/1917 stammende Einteilung der Ablässe in persönliche,147 reale und lokale noch zu deutlich durch, die eigentlich bereits von Papst Paul VI. aufgegeben wurde, um deutlicher herauszustellen, dass die Werke der Gläubigen beschenkt

142

Neben den 4 Patriarchalbasiliken sind dies die Basiliken „Santa Croce in Gerusalemme“ und St. Laurentius vor den Mauern, das Heiligtum der „Madonna del Divino Amore“ und die christlichen Katakomben. 143

Genannt werden die Verkündigungsbasilika in Nazareth, die Geburtskirche in Bethlehem und die Grabeskirche in Jerusalem. 144

EI 1999, Conc., Nr. 33, wobei sich die Anzahl weiterer Ablässe dem Rang der Kirche entsprechend steigert. 145

EI 1999, Conc., Nr. 29, § 1, 1° und 2°.

146

Z. B. der Besuch einer Kirche am Jahrestag der Weihe (EI 1999, Conc., Nr. 33, § 1, 6°), die Teilnahme an der Liturgie in einem bestimmten Anliegen (EI 1999, Conc., Nr. 5 – z. B. Herz-Jesu-Freitag oder Welttag der geistlichen Berufe), die Teilnahme an Veranstaltungen in der Gebetswoche für die Einheit der Christen (EI 1999, Conc., Nr. 11), der Besuch der Kathedralkirche am 22. Februar, 29. Juni oder 9. November (EI 1999, Conc., Nr. 33, § 1, 3°), das Mitsingen des „Tantum ergo“ bei der eucharistischen Prozession in der Gründonnerstagsmesse (EI 1999, Conc., Nr. 7, § 1, 2°) sowie die andächtige Teilnahme an der Fronleichnamsprozession (ebd., 3°) oder an der Kreuzverehrung der Karfreitagsliturgie (EI 1999, Conc., Nr. 13, 1°), die Erneuerung des Taufversprechens in der Osternacht (EI 1999, Conc., Nr. 28, § 1), die fromme Teilnahme am Gottesdienst anlässlich einer oberhirtlichen Visitation (EI 1999, Conc., Nr. 32). 147

Z. B. für Jubilare anlässlich des 25., 40., 50., 60. oder 70. Jahrestages ihrer Priester- oder Bischofsweihe (EI 1999, Conc., Nr. 27, § 2, 1° und 2°) sowie für alle Gläubigen, die an der Jubelmesse teilnehmen (ebd., 3°), für Primizianten am Tag der ersten Hl. Messe (ebd., § 1, 1°) und für alle Gläubigen, die daran teilnehmen (ebd., 2°), für die Erneuerung des Taufversprechens am Jahrestag der Taufe (EI 1999, Conc., Nr. 28, § 1) sowie anlässlich der eigenen Erstkommunion (EI 1999, Conc., Nr. 8, § 1, 1°).

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werden?148 Und ist das nicht eine zu große Erschwernis für Personen, die den Besuch eines bestimmten Ortes an einem genau festgelegten Tag nicht erbringen können?149 Die in diesem Fall geänderte Zeitberechnung – der betreffende Tag wird nach der in c. 202 § 1 CIC verankerten Ausnahme um zwölf Stunden des vorhergehenden Tages verlängert150 – und die Möglichkeit, z. B. den Kirchenbesuch durch den Beichtvater in ein anderes Bußwerk umwandeln zu lassen,151 hilft hier nur begrenzt weiter, muss doch bei letzterem immerhin dieser deswegen angegangen werden. Die geforderten Bußwerke müssen insgesamt mehr an das Leben des Gläubigen und den jeweiligen Sündenfolgen angebunden werden, müssen einen „konkreten Bezug … zum jeweiligen gesellschaftlichen Kontext bzw. zur augenblicklichen strukturellen Sündenverhaftung“152 haben. Hier ist der von Papst Johannes Paul II. eingeschlagene Weg weiterzugehen, Kranken und aus anderen triftigen Gründen Gehinderten die Ablassgewinnung dadurch zu ermöglichen, dass sie sich geistig dem Anliegen des Papstes anschließen und sich in ihren Gebeten „mit jenen verbinden, die in der gewohnten Weise das für den Ablass vorgeschriebene Werk verrichten, und Gott, dem Barmherzigen, die Krankheiten und Leiden ihres Lebens aufopfern.“153 Hinsichtlich der Bußwerke sollten generell Taten der Barmherzigkeit an den Not leidenden Schwestern und Brüdern, soziales Engagement und der Verzicht auf Erlaubtes als in unserer Zeit besonders passend angeregt werden.154

148

EI 1968, Nor., Nr. 7. Da die Ablässe aber weiterhin an Orte und Sachen gebunden wurden, verpuffte das Aufgeben wirkungslos, weshalb es 1986 wiederholt werden musste (EI 1986, Nor., Nr. 6). 149

Z. B. Kranke, Alte und Behinderte in den Familien oder in Einrichtungen ohne Hauskapelle, Gefangene, Seefahrer. Mitglieder in Instituten des geweihten Lebens oder in Gesellschaften des apostolischen Lebens konnten bereits nach der Antwort der Apost. Pön. vom 01.07.1992 (in: AAS 84 [1992], S. 935) durch Gebet und fromme Werke einen Ablass erwerben, was nun in EI 1999, Nor., Nr. 21, § 3 aufgenommen wurde. 150

EI 1999, Nor., Nr. 14.

151

EI 1999, Nor., Nr. 24; ermöglicht bereits durch c. 935 CIC/1917; vgl. Entscheidung des PCI vom 19.01.1940 (in: AAS 32 [1940], S. 62). 152

Böttigheimer, Jubiläumsablass (Anm. 55), S. 179.

153

Apost. Pön., Dekret vom 25.12.2004 (Anm. 83), Nr. 2. Allerdings müssen auch rechtmäßig Gehinderte die Absicht haben, baldmöglichst die drei obligatorischen Bedingungen (Beichte, Kommunion, Gebet nach Meinung des Hl. Vaters) zu erfüllen. 154

EI 1999, Quattuor conc. generales, Nr. 2.

Der Ablass − ein Testfall der Ökumene?

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VII. Ablass im 21. Jahrhundert Der Prozess der Aussöhnung mit Gott und den Menschen ist mitunter sehr leidvoll, aber heilsbedeutsam für das diesseitige wie jenseitige Leben des Christen. Die irdische Kirche als Glaubensgemeinschaft nimmt auf dieses Geschehen Einfluss, indem sie die Schwere der selbstverschuldeten Sündenfolgen großzügig155 durch den Ablass mildert. Gläubige Sünder helfen anderen Sündern mit ihrer Fürbitte bei der Suche nach Aussöhnung und mindern so die leidvolle Dimension der Sündenfolgen. Nicht wenige vollkommene Ablässe kann man jeden Tag erwerben.156 Für normal fromme Christen dürfte sich das Fegefeuer damit praktisch erledigen, zumal die Kirche dem recht vorbereitetet Gläubigen in der Todesstunde liebevoll noch einen weiteren vollkommenen Ablass gewährt, wenn dieser in seinem Leben nur irgendwie zu beten pflegte.157 Sie ergänzt in diesem Fall die gewöhnlich zur Erlangung eines vollkommenen Ablasses erforderlichen Bedingungen.158 Dies zeigt nicht nur, dass die Kirche ihre

155

Ein vollkommener Ablass kann z. B. gewonnen werden bei der Weihe der Familie an das Heiligste Herz Jesu oder die Hl. Familie (EI 1999, Conc., Nr. 1), beim Beten des Hymnus „Veni, Creator“ am Neujahrstag oder am Pfingstfest (EI 1999, Conc., Nr. 26, § 1, 1°) oder des Hymnus „Te deum“ am Silvestertag (ebd., 2°) sowie des Gebetes „Siehe, o guter und lieber Jesus“ an einem Freitag in der Fastenzeit vor dem Bild des Gekreuzigten (EI 1999, Conc., Nr. 8, § 1, 2°), ebenso beim Beten des Gebetes „Liebreicher Jesu“ am Herz-Jesu-Fest (EI 1999, Conc., Nr. 3) oder des „O liebster Jesus, Erlöser“ am Christkönigsfest (EI 1999, Conc., Nr. 2), beim (auch audivisuellen) Empfang des Päpstlichen Segens „Urbi et Orbi“ sowie des vom Bischof erteilten allgemeinen Päpstlichen Segens (EI 1999, Conc., Nr. 4), aber auch schon von denjenigen, „die sich in den öffentlichen Krankenhäusern oder zu Hause wie ‚barmherzige Samariter’ einfühlsam und fürsorglich der Kranken annehmen, … wenn sie jenen Dienst der Nächstenliebe an dem genanten Tag [11. Februar 2006: 14. Welttag der Kranken] hochherzig wenigstens für einige Stunden so geleistet haben, als wäre er dem Herrn Christus erwiesen worden“ (Apost. Pön., Dekret vom 18.01.2006 [Anm. 83], S. 3). 156

Z. B. anlässlich einer wenigstens halbstündigen eucharistischen Anbetung (EI 1999, Conc., Nr. 7, § 1, 1°) oder der ebenso langen andächtigen Lesung der Hl. Schrift (EI 1999, Conc., Nr. 30, § 1), der (jetzt auch via Fernsehen oder Radio) möglichen Teilnahme am Rosenkranzgebet mit dem Papst (EI 1999, Conc., Nr. 17, § 1, 2°) oder beim Gebet des ostkirchlichen Hymnus „Akathistos“ sowie des Offiziums „Paraklisis“ (EI 1999, Conc., Nr. 23, § 1). Hinzu kommt noch eine Fülle von Teilablässen. 157 158

EI 1999, Conc., Nr. 12, § 2.

Beichte, Kommunion und Gebet nach Meinung des Hl. Vaters können ansonsten bis zu 20 Tagen vor und nach dem Ablasswerk abgelegt werden (Apost. Pön., Geschenk [Anm. 91], Anmerkungen, Nr. 5). Großzügig ist ferner, dass jeder Gläubige, der ein mit einem vollkommenen Ablass versehenes aufteilbares Werk (z. B. Rosenkranz in Gesät-

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Gläubigen angesichts der Sündenverfallenheit des Menschen nicht allein lässt, sondern dass sie auch bereit ist, aufgestellte Bedingungen im Hinblick auf das Heil der Seelen, das nach c. 1752 CIC das oberste Gesetz der Kirche sein soll, hintan zu stellen. Fast möchte man sagen: „Das Gnadenangebot des Ablasses erscheint als so gut wie lückenlos, es gibt da gewissermaßen nur Gnade, die eine schließt sich an die andere an … Das unter den Menschen ausgespannt Netz ist fast unzerreißbar.“159 In diesem Zusammenhang ist aber auch wichtig zu betonen, dass der Ablass in heilstheologischer Hinsicht nichts Grundsätzliches zum Christsein beizutragen vermag. Er ist nicht heilsnotwendig. Deshalb ist er als Mittel zur Läuterung und Heiligung auch nicht vorgeschrieben, sondern kann als kirchliches Hilfsangebot für den inneren Umkehrprozess des Büßenden frei angenommen werden oder nicht. Die Gläubigen entscheiden also „in der heiligen und rechten Freiheit der Kinder Gottes“160, ob sie vom Ablass als „äußerst heilsamen“ Angebot der Kirche Gebrauch machen wollen. Weil dies so ist, kann der Ablass als spezifisch katholische Frömmigkeitsform im ökumenischen Dialog nicht zum wirklich kirchentrennenden Faktum hochstilisiert werden. Die Renaissance der Ablasspraxis gerade durch den letzten Papst kann aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in diesem Dissenspunkt mit Protestanten wie Orthodoxen Fragen aufzuarbeiten gilt, wobei nicht vergessen werden darf, dass diese Frömmigkeitsform zu allen Zeiten auch innerhalb der Katholischen Kirche umstritten war. Von Rom hätte ich mir freilich gerade nach dem mühsamen Konsens in der Rechtfertigungslehre etwas mehr ökumenisches Fingerspitzengefühl gewünscht, will ich doch nicht glauben, dass die Ausrufung des Jubiläumsablasses und die Gewährung weiterer Ablässe seither gezielte Nadelstiche gegen die Kirchen der Orthodoxie und die Kirchlichen Gemeinschaften der Reformation sein sollten. Der Ablass kann keinesfalls als „fromme Folklore“161 aus der Mottenkiste des Mittelalters abgetan werden, er ist ein Merkmal des Selbstverständnisses

zen) aus nachvollziehbarem Grund nicht ganz auszuführen in der Lage ist, für den verrichteten Teil einen Teilablass gewinnen kann (EI 1999, Aliae conc., Proœmium, Nr. 6). 159

Bernd Moeller, Die letzten Ablasskampagnen. Der Widerspruch Luthers gegen den Ablass in seinem zeitgeschichtlichen Zusammenhang, in: Die Reformation und das Mittelalter. Kirchenhistorische Aufsätze. Hrsg. v. Johannes Schilling, Göttingen 1991, S. 53 – 72, hier S. 62 (Zitat gesagt im Hinblick auf die perfekt organisierten Ablasskampagnen von Johann Tetzel). 160 161

ID, Nr. 11.

Michael Strauß, Fromme Folklore. Die katholische Kirche reaktiviert den Ablass, in: EK 38 (1999), S. 5.

Der Ablass − ein Testfall der Ökumene?

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der Katholischen Kirche mit hoher ökumenischer Brisanz. Trotz der Entschärfungen im Ablasskonzept und vor allem der -praxis, die sich katholischerseits in den letzten 40 Jahren vollzogen haben, ist er nach wie vor verknüpft mit Fragen insbesondere aus dem Bereich der Soteriologie, in denen sich die Katholische Kirche bis heute im Dissens befindet mit den Kirchlichen Gemeinschaften, die aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind, aber auch mit den Kirchen der Orthodoxie. Für protestantische und orthodoxe Christen ist neben der mangelnden biblischen Begründbarkeit und dem aus den damaligen Zeitumständen erklärbaren Entstehungs- und Ausformungsprozess des Ablasses vor allem dessen theologische Grundthese fragwürdig, ob nämlich der durch Jesus Christus erlöste Mensch für die nicht zeitlebens durch gute Werke ausgeheilten Sündenfolgen nach seinem Tod Genugtuung leisten muss und die Kirche diese Leidenszeit in Form von Ablässen verkürzen bzw. ganz substituieren kann. Wird Christi Kreuzestod nicht geschmälert, wenn er nur die ewige Schuld tilgt, nicht aber die zeitliche Strafe? – so wird die katholische Position angefragt. Ist eine Befassung mit dem Ablass, der im späten Mittelalter für das kirchliche Leben der westlichen Christenheit große Bedeutung hatte, dann aber zum Zankapfel zwischen den christlichen Konfessionen wurde und in der Katholischen Kirche heute vielerorts in der Vergessenheit versunken ist, auch sinnvoll und lohnend? Ohne Klärung der offenen theologischen Fragestellungen erscheinen die Wiederbelebungsversuche wenig fruchtbringend. Sicher, die katholische Ablasslehre und -praxis hat manche Gesichtspunkte der reformatorischen Kritik aufgenommen. Anstelle der mitunter immer noch spürbaren Mechanisierung von Gnade und einer damit Hand in Hand gehenden Verrechnungsmentalität von Buße sollte man sich weiter um eine tiefere anthropologische Verankerung des Ablasses mühen. Äußerst hilfreich wäre es dabei, den Zusammenhang von Aufarbeitung der Schuld des Menschen bzw. deren Folgen und der Hilfestellung der Kirche noch stärker zu verdeutlichen.162 Eine neue Ablasstheologie im Horizont der Zeichen unserer Zeit, wie sie Ottmar Fuchs aufgezeigt hat163 und die der völlig veränderten religiösen und pastoralen Situation Rechnung tragen würde, könnte durchaus den Ablass als „bedeutungsvollen Ausdruck des Erbarmens Gottes“164 modernen Katholiken näher165 bringen, 162 Faktisch ein Stein des Anstoßes. „Über den Ablass muss im ökumenischen Dialog gesprochen werden.“ Interview mit Walter Kasper, in: KNA-ÖKI, Nr. 4 (18.01.2000), S. 3 – 5, hier S. 4. 163 Ottmar Fuchs, Art. Ablass. VI. Praktisch-theologisch, in: LThK3 1, 1993, Sp. 57 f.; ders., Ablass – eine alte Frömmigkeitsform in neuer Weltverantwortung, in: Diakonia 16 (1985), S. 111 – 117. 164

Papst Johannes Paul II., Ansprache (Anm. 94), S. 2.

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ja sogar evangelischen Christen einen Zugang166 zu seinen Grundgedanken verschaffen. Das Phänomen des Ablasses ist zwar nicht das „kardinale Problem“167 der Ökumene, auf den alle Energie in den Begegnungen mit den anderen Kirchen und Kirchlichen Gemeinschaften gerichtet werden müsste, um darin vor allem anderen einen Fortschritt zu erzielen. Er bietet jedoch die Chance für ein ökumenisches Gespräch168 im Sinne der „Begegnung von grundlegend Unterschiedenem in einem fruchtbaren Mit- und Füreinander. … Dieser Dialog lebt von zwei Voraussetzungen: 1. Davon, dass die Partner – es können zwei oder mehr sein – ihre Eigenheiten unverkürzt und unverschleiert einbringen und im Gegenüber zu dem jeweils anderen sich ihrer spezifischen Prägung deutlicher bewusst werden, als es in einer ‚splendid Isolation‘ möglich ist. 2. Davon, dass beide Partner einander nicht nur als gleichrangig achten, sondern ihre Freude an der Andersartigkeit des anderen haben und nicht bestrebt sind, die Spannung der Verschiedenheit abzubauen, sondern als Gegensatz fruchtbar zu entfalten. … Eine Reduktionsökumene, bei der jede Kirche auf alles verzichtet, was nicht auch bei den anderen Kirchen gelehrt und praktiziert wird, ist weder erreichbar noch wünschenswert.“169

165

Dass die Apostolische Signatur mit dem geltenden Enchiridion indulgentiarum im Vergleich zu den Vorgängern von 1968 und 1986 einen „klareren Text“ (EI 1999, Praenotanda, Nr. 1) herausgebracht hat, kann man nur bedingt bejahen. Neu sind neben der schon erwähnten Umstrukturierung der Ablässe die dort angebrachten zahlreichen Quellenangaben, die Gewährung eines Teilablasses bei einem öffentlichen Bekenntnis des Glaubens (Quattuor conc. generales, Nr. IV) und die drei Indizes, die den Umgang mit dem Handbuch natürlich erleichtern. 166

Karl Lehmann, „Christus gestern, heute, in Ewigkeit: Sein ist die Zeit“. Auf dem Weg in das Heilige Jahr 2000. Hirtenwort des Bischofs von Mainz zur österlichen Bußzeit 1999. Hrsg. v. der Bischöflichen Kanzlei, Eltville 1999, S. 7. 167

Eberhard Jüngel, Kardinale Probleme, in: StdZ 124 (1999), S. 727 – 735, bes. S. 733.

168

Eine erste Konsultation zum „Ausräumen von Missverständnissen“ hat vom 09. – 10.02.2001 in Rom stattgefunden; vgl. John A. Radano, Annäherungen im ökumenischen Gespräch, in: OssRom (dt.), Nr. 18 vom 03.05.2002, S. 12. 169

Barth, Papstamt (Anm. 9), S. 282.

Kinderzahl und Ehewille Überlegungen zur konsensrechtlichen Relevanz der vorausgehenden Begrenzung der Kinderzahl aus einer konkret beabsichtigten Ehe Von Bertram Zotz I. Einleitung Der kirchliche Rechtspraktiker, insbesondere der kirchliche Richter wird in seinem Tätigkeitsbereich wiederholt damit konfrontiert, dass in Ehenichtigkeitsverfahren ein wie immer gearteter Vorbehalt bezüglich Nachkommenschaft aus der konkreten Ehe behauptet wird. Damit werden regelmäßig jene Fragen berührt, die seit dem II. Vatikanischen Konzil mancherorts sehr kontrovers diskutiert und dem entsprechend kontrovers beantwortet werden: jene nach dem Verhältnis zwischen der Institution „Ehe“ und Nachkommenschaft einerseits und jene nach dem Verhältnis von Ehewille und verantworteter Elternschaft andererseits1. Die nachfolgenden Ausführungen wollen diese Diskussion nicht neuerlich darstellen oder die jeweiligen Positionen und Ergebnisse erneut im Detail kritisch und abschließend würdigen. Vielmehr soll auf einzelne, bedeutend erscheinende Aspekte des Ehenichtigkeitsgrundes „exclusio boni prolis“ sowie der diesbezüglichen Beweiserfordernisse eingegangen werden. Den unmittelbaren rechtspraktischen Anlass, diese Überlegungen auf Basis des lateinischen Eherechts anzustellen, bot der Fall einer Ehe, bezüglich derer eine der Parteien vor der Heirat nachweislich die von ihr aus der Ehe beabsichtigte Anzahl der Kinder kategorisch beschränkt hatte.

1

Vgl. dazu näher Bruno Primetshofer, Ordinatio ad prolem. Überlegungen zu einer rechtlichen Tragweite von c. 1055 § 1, in: Josef Isensee / Wilhelm Rees / Wolfgang Rüfner (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist. FS für Joseph Listl zum 70. Geburtstag, Berlin 1999, S. 823 – 839.

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Bertram Zotz

II. Rechtliche Überlegungen 1. Grundsätzliche Überlegungen zur Rechtsnatur der Ehe Der am 27.11.1983 in Kraft getretene Codex Iuris Canonici fasst im Einleitungscanon zum kodikarischen Eherecht in einer prägnanten Wesensbeschreibung zusammen und präzisiert zugleich2, was das II. Vatikanische Konzil – vorzüglich in seiner Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ – zum kirchlichen Verständnis von Ehe lehrt.3 Gemäß c. 1055 § 1 CIC4 ist die Ehe eine „Gemeinschaft des ganzen Lebens („consortium totius vitae“), die durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet ist“. Begründet wird diese eheliche Gemeinschaft ausschließlich durch den ehelichen Bundesschluss (matrimoniale foedus), den Christus unter Getauften zur Würde eines Sakraments erhoben hat. Wird mit der neuerlichen Verwendung des bereits bibeltheologisch vielsagenden Begriffes „Bund“ („foedus“) der personale wie der theologische Aspekt des „matrimonium in fieri“ unterstrichen, so durch den Begriff „consortium totius vitae“ auch das eheliche Zusammenleben, das matrimonium in facto esse, als zunächst umfassend personale Gemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau qualifiziert. Im Licht der Verwendungs- und Bedeutungsgeschichten beider Termini erscheint „die eheliche Lebensgemeinschaft als ... konsensual begründete, alle möglichen Beziehungsbereiche und Persönlichkeitsaspekte existentiell betreffende, dauernde und ausschließliche Schicksalsgemeinschaft. ... In Orientierung an der biblischen Anthropologie, die den Menschen als integrative Ganzheit und damit auch seine Bestimmung als Mann und Frau als wesentlichen Aspekt des Personseins betrachtet, ist es“ in Weiterentwicklung der vorkonziliaren Ehelehre „nicht mehr nur die Geschlechtsbeziehung im engeren Sinn, und damit [ausschließlich] der Aspekt der Zeugungs- und Erziehungsgemeinschaft, der das Wesen der Ehe ausmacht“. Vielmehr ist es die „auch die Geschlechtsbeziehung der Gatten umfassende quantitative und qualitative Totalität dieser Gemeinschaft, durch die sich die Ehe von [allen] anderen zwi-

2

Die Apostolische Konstitution „Sacrae disciplinae leges“ v. 25.1.1983, in: AAS 75 (1983), S. VII – XIV, hier XII, bezeichnet den Codex Iuris Canonici von 1983 insgesamt als „complementum magisterii a Concilio Vaticano II propositi, peculiari modo quod attinet ad duas Constitutiones, dogmaticam nempe atque pastoralem“. 3

Vgl. dazu ausführlich Bertram Zotz, „Atsi ... excludat matrimonii essentiale aliquod elementum“. Rechtssystematische Überlegungen zu einem unbestimmten Begriff des c. 1101 § 2 [CIC], in: ZkTh 118 (1996), S. 222 – 238, hier S. 225. 4

Soweit nicht anders vermerkt bezieht sich die Bezeichnung „CIC“ auf den Codex Iuris Canonici 1983.

Kinderzahl und Ehewille

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schenmenschlichen Verbindungen“5 wesentlich unterscheidet. Aus diesem nun auch kodikarisch weiter getragenen Ehemodell, das den Aspekt der dauerhaften und umfassenden interpersonalen Gemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau in den Vordergrund zu stellen scheint, kann aber nicht abgeleitet werden, dass die „Ehe“ nach dem Verständnis der katholischen Kirche mithin einer rechtlichen Dimension entbehrt. Vielmehr ist es neuerlich der vom Konzil und in c. 1055 § 1 CIC wieder verwendete Begriff des „foedus matrimoniale“, der schon in seiner biblischen Verwendung immer auch die Aspekte von wechselseitigem Anspruch und Verpflichtung und – bei aller personal-theologischer Konnotation – die rechtliche Dimension von Bundesschlüssen mit umfasste. Die neuerliche Wahl des Modellbegriffs „foedus matrimoniale“ rückt somit ins Bewusstsein, dass jeder Ehe ex definitione nicht nur, aber immer auch eine institutionell-rechtliche Dimension6 eignet. Und unter eben diesem rechtlichen Aspekt gesehen ist die Ehe – gesehen als „matrimonium in facto esse“ – ein Vertragsverhältnis7, das ausschließlich durch den Vertragsschluss der Nupturienten bzw. durch deren Ehekonsens zustande kommt, d. h. durch jenen Willensakt „durch den ein Mann und eine Frau sich in einem unwiderruflichen Bund gegenseitig schenken und annehmen, um eine Ehe zu gründen“8. 2. Die Gültigkeitserfordernisse für den Ehekonsens Zur Rechtsgültigkeit des Ehekonsenses ist nicht nur gefordert, dass die Nupturienten „iure habiles“ sind9, sondern auch dass sie ihren Ehewillen bzw. den Ehekonsens in der für sie jeweils vorgeschriebenen äußeren Rechtsform abgeben10. Anders als das zivile stellt das kirchliche Recht aber nicht (allein) auf die äußere Konsenserklärung ab, sondern entscheidend auf den so genannten inneren oder tatsächlichen Willen, die konkrete Ehe zu begründen. So geht der Gesetzgeber in c. 1101 § 1 CIC kraft einfacher Rechtsvermutung davon aus, dass der innere Wille eines Nupturienten mit den von ihm bei der Konsensabgabe gebrauchten Worten und Zeichen übereinstimmt. Er rechnet aber in § 2 derselben Norm auch damit, dass beides realiter differieren kann, indem – ge-

5

Vgl. dazu ausführlich Zotz, Atsi ... excludat (Anm. 3), S. 228 (H.v.V.).

6

In diesem Sinne bezeichnet schon die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ in Nr. 48 das „matrimonium in facto“ ausdrücklich als „institutum ordinatione divina firmum“. AAS 58 (1966), S. 1025 – 1115, hier S. 1067. 7

Vgl. Zotz, Atsi ... excludat (Anm. 3), S. 233.

8

Vgl. cc. 1055 § 2 i.V.m. 1057 §§ 1 u. 2 CIC.

9

Vgl. c. 1058 CIC.

10

Vgl. cc. 1108 § 1 CIC.

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gen den äußeren Anschein – die Ehe als ganze (so genannte Totalsimulation) oder wesentliche Aspekte von „Ehe“ (so genannte Partialsimulation) bewusst ausgeklammert werden und damit in Wirklichkeit etwas gewollt wird, das mit dem, was die katholische Kirche unter „Ehe“ versteht, nicht mehr übereinstimmt. Daher verfügt c. 1101 § 2 CIC die Ungültigkeit jeder Ehe für den Fall, dass „ein oder beide Teile durch positiven Willensakt die Ehe selbst, eine Wesenseigenschaft derselben oder ein wesentliches Element der Ehe ausschließen“. 3. Das „bonum prolis“ als Wesenselement der Ehe gem. c. 1101 § 2 CIC Während der Gesetzgeber mit „unitas“ und „indissolubilitas“ die Wesenseigenschaften der Ehe nach Zahl und Inhalt abschließend benennt11, überließ es die Codexreformkommission bewusst der kanonistischen Lehre und der kirchlichen Rechtsprechung, näher zu bestimmen, was unter dem in c. 1101 § 2 CIC verwendeten Terminus „aliquod elementum essentiale matrimonii“ zu subsumieren sei12. Dass – wie dargelegt – die Ehe nicht nur, aber auch ein vertragsrechtliches Verhältnis darstellt, impliziert, dass unter rechtlicher Betrachtung mit „elementum essentiale“ die wesentlichen Inhalte jedes Ehevertrags bezeichnet werden, d. h. jene Pflichten und Rechte, die den Nupturienten mit dem Ehevertrag unverfügbar vorgegeben bzw. die von ihnen durch den Ehekonsens gegeneinander begründet werden13. Wie sich aus der Genese der Norm erschließt14, sind diese Wesenselemente aus dem in c. 1055 § 1 CIC referierten Eheverständnis sowie aus der Definition der Wesenseigenschaften der Ehe in c. 1056 CIC zu erheben. Wie an anderer Stelle ausführlich erläutert und begründet15, folgen aus den Wesenseigenschaften der Ehe die Verpflichtungen zur zeitlichen Dauerhaftigkeit und der umfassenden Treue. Aus den in c. 1055 § 1 CIC gleichrangig genannten Wesenszielen wiederum ergibt sich neben der Verpflichtung zur Sorge um das ganzheitliche Wohl des anderen Gatten („bonum coniugum“), jedenfalls auch die natürliche Verpflichtung beider Gatten, 11

C. 1056 CIC.

12

Vgl. Zotz, Atsi ... excludat (Anm. 3), S. 225 mit einschlägigen Hinweisen zur Textgeschichte. 13 Zur Ehe als rechtsbegründender Vertrag vgl. Klaus Lüdicke, Zur Rechtsnatur des Ehevertrages. Eine Auseinandersetzung mit der Vorstellung von „traditio et acceptatio iurium“ als Inhalt des ehelichen Konsensaustausches, in: AfkKR 145 (1976), S. 152 – 163. 14 Vgl. Relatio complectens synthesim animadversionum ab Em.mis atque Exc.mis Patribus Commissionis ad novissimum Schema CIC exhibitarum, cum responsionibus a Secretaria et Consultoribus datis. Typ. Pol. Vat. 1981, S. 233 – 234. 15

Vgl. Zotz, Atsi ... excludat (Anm. 3), S. 232 – 238.

Kinderzahl und Ehewille

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die Ehe als solche für die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft offen zu halten16. Von den Brautleuten ist damit die grundsätzliche Offenheit im Sinne der vor dem Konsens erfragten Bereitschaft verlangt, „die Kinder anzunehmen, die Gott ihnen schenken will“17. Näher hin ist zumindest gefordert, dass keiner der Nupturienten bei der konkreten Konsensabgabe bewusst dagegen ist, das eheliche Leben insgesamt und die geschlechtliche Begegnung mit dem (dann) Gatten im besonderen grundsätzlich so zu leben, dass daraus Kinder hervorgehen und diese auch gemeinsam erzogen werden können. Daraus folgt aber nicht das Recht auf Kinder18 als solche, weil die biologischen Voraussetzungen für die tatsächliche Empfängnis und Geburt eines Kindes der Verfügungsgewalt des Menschen schon aus biologischen Gründen weitgehend entzogen sind. Auch ist nicht gefordert, dass jede einzelne eheliche geschlechtliche Begegnung zeugungsgeeignet vollzogen wird. Als allein wesentlich gelten bezüglich des hier gegenständlichen Wesenselements der Ehe vielmehr: a) das Recht beider Gatten, in der Ehe vom jeweiligen Partner die Mitwirkung an gemeinsamem zeugungsoffenem bzw. zeugungsgeeignetem Verkehr zu erbitten, sowie b) das Recht der Gatten, in der Ehe vom Partner den Beitrag zur leiblichen, sozialen kulturellen, sittlichen und religiösen Erziehung der Kinder19 zu fordern20. Aus konsensrechtlicher Sicht bleibt daher an sich unerheblich, ob es in der Ehe tatsächlich zur Zeugung und Erziehung von Kindern kommt oder 16 In diesem Sinne formuliert bereits GS 50 unmissverständlich: „Matrimonium et amor coniugalis indole sua ad prolem procreandam et educandam ordinantur.“ AAS 58 (1966), S. 1025 – 1115, hier S. 1070. 17 Die Feier der Trauung in den katholischen Bistümern der deutschen Sprachgebiete. Herausgegeben im Auftrag der Bischofskonferenzen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sowie der Bischöfe von Luxemburg, Bozen-Brixen und Lüttich, Einsiedeln u. a. 1975, S. 38, Nr. 14. 18

Vgl. zur Problematik des „ius ad prolem“ in der Rechtsprechung der Romana Rota Klaus Lüdicke, Familienplanung und Ehewille. Der Ausschluss der Nachkommenschaft im nachkonziliaren kanonischen Eherecht (= Münsterische Beiträge zur Theologie, Heft 50), Münster 1983, S. 222 – 226. 19 20

Vgl. c. 1136 CIC.

Vgl. Bruno Primetshofer, Der Ehekonsens, in: HdbkathKR2, S. 927 – 947, hier S. 938; SRR coram Stankiewicz v. 20.4.1989, in: SRRDec 81 (1989); SRR coram Pompedda v. 3.7.1990, in: SRRDec, 82 (1990), S. 583, n. 3; SRR coram Huber v. 20.12.1995, in: SRRDec, 87 (1995), S. 749, n. 7; SRR coram Defilippi v. 13.1.2000 n. 5 [bish. unveröffentlicht]. Die rechtskräftigen, nach Wissensstand des Autors v. Jänner 2006 aber bisher nicht in den Decisiones veröffentlichten Urteile der Rota Romana sind zitiert nach Pont. Univ. della S. Croce, Corso di aggiornamento 2001: Hector Franceschi, L’esclusione della prole nella giurisprudenza rotale recente [Versione provvisoria; unveröffentliches Vortragsmanuskript], S. 9 – 11 u. S. 17 – 21.

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nicht21, es sei denn die faktische Kinderlosigkeit resultiert aus einem Tun oder Unterlassen, d. h. aus einem Verhalten, das sich einer der Nupturienten noch vor der Eheschließung vorbehalten hatte und das in Konsequenz darauf hinausläuft, dass das in Rede stehende Eheziel faktisch nicht realisiert wird bzw. realisiert werden kann. 4. Zum Verhältnis zwischen „elementa essentialia“ und „proprietates matrimonii“ Die Wesenseigenschaften der Ehe als solcher sind zugleich die Eigenschaften auch jeder einzelnen wesentlichen ehevertraglichen Verpflichtung. So bedingt die Eigenschaft der Unauflöslichkeit des Ehevertrages, dass auch die wesentlichen ehelichen Rechte ex natura rei so genannte dauernde Rechte sind; d. h. sie sind von vorn herein weder einer zeitlichen Einschränkung noch einem nachträglichen Widerruf zugänglich. Es kommt daher, wenn immer „eine Beschränkung des Rechts vorliegt, nicht darauf an, ob diese absolut oder zeitlich befristet ist“22. Folge dessen verungültigt nicht nur der dauernde, sondern auch jeder befristete Ausschluss einer wesentlichen ehevertraglichen Pflicht die Ehe, wenn dadurch zumindest eines der Rechte, die den essentiellen Kern des „bonum prolis“ bilden, seiner absoluten Dauerhaftigkeit verlustig geht.23

21

Vgl. Thomas von Aquin, Suppl., q. 52, a. 1, ad. 1 und q. 49, a. 3, resp., der unterscheidet zwischen dem „bonum prolis in seipsum“, der tatsächlichen Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft, die als solche – weil für ihn zum „usus matrimonii“ gehörend – nicht zur „essentia matrimonii“ gehört, und dem „bonum prolis in suis principis“, das die institutionelle Ausrichtung jeder Ehe auf die tatsächliche Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft meint. Vgl. dazu ausführlich Zotz, Atsi ... excludat (Anm. 3), S. 234 f. Zur Anwendung dieser Kriterien in der Rotajudikatur vgl. Primetshofer, Ordinatio ad prolem (Anm. 1), S. 825. 22

Beatrix Laukemper-Isermann, Ausgewählte Beispiele aus der jüngsten RotaJudikatur: Total- und Partialsimulation, in: DPM 4 (1997), S. 45 – 135, hier S. 120. 23

Vgl. dazu aus der Rechtsprechung der Rota Romana: SRR coram Felici v. 28.2.1950, in: SRRDec 42 (1950), S. 106; SRR coram Davino v. 13.12.76, in: SRRDec 79 (1987), S. 718 – 732, hier S. 723; aus der kanonistischen Literatur sei in diesem Sinn z. B. verwiesen auf Felix M. Cappello, Tractatus canonico-moralis „De Sacramentis“ – Vol. V – De matrimonio, Taurino / Roma 61950, S. 579, Nr. 600, 2. n. 1; Hans Heimerl / Helmuth Pree, Kirchenrecht. Allgemeine Normen und Eherecht, Wien / New York 1983, S. 226; Ryszard Sztychmiler, Der Ausschluss der Nachkommenschaft, in: DPM 8/I (2001), S. 501 – 522, hier S. 519.

Kinderzahl und Ehewille

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5. Willenspsychologische Überlegungen zur Anwendung der Kategorien „Nichtverpflichtungswille“ und „Nichterfüllungswille“ a) Zur Bedeutung beider Begriffe Kanonistische Literatur wie kirchliche Rechtsprechung – und hier allen voran jene der Rota Romana – agierten bzw. agieren im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung zu Fällen von Partialsimulation und damit vor allem in Fällen, in denen in irgendeiner Form der Ausschluss von Nachkommenschaft behauptet wurde, mit den Kategorien „Nichtverpflichtungswille“ und „Nichterfüllungswille“. Mit ersterem war bzw. ist gemeint, dass ein Nupturient eine eigene Pflicht bzw. ein Recht des anderen nicht begründen will. Der zweite Terminus dagegen umschrieb bzw. umschreibt den Willen eines Nupturienten, dem Partner gegenüber eine Pflicht zwar zu begründen, diese aber von vornherein nicht erfüllen zu wollen. Der auf Grundlage dieser Unterscheidung vor der Promulgation des CIC/1983 von der Rota Romana verfochtene und in unserem Zusammenhang weiter relevante Tenor ihrer Rechtsprechung lässt sich derart zusammenfassen, dass zum einen „eine Ehe ungültig sei, wenn Nachkommenschaft gleichgültig aus welchen Motiven, grundsätzlich und für die ganze Dauer der Ehe ausgeschlossen“ wird24, bzw. dass „ein Ausschluss von Nachkommenschaft für immer mit einem Ausschluss des Rechts an sich gleichzusetzen und daher die Ehe aus diesem Grund ungültig sei. Wenn der Ausschlusswille weder zeitlich noch hinsichtlich der Kinderzahl begrenzt sei, dann müsse das Fehlen des Verpflichtungswillens, d. h. Ausschluss des Rechts als solches angenommen werden“25. b) Kritische Anmerkungen Zur konsensrechtlichen Anwendung dieser Kategorien scheint es notwendig, aber auch zulässig, wie folgt anzumerken: Erstens ist zu bedenken, dass – wie bei jedem Bündnisschluss oder Vertragsabschluss – die Nupturienten mit ihrem Ehekonsens ein Band wechselseitiger subjektiver Rechte und Pflichten begründen. Dem Recht des einen Partners, etwas zu fordern, entspricht die Pflicht des anderen, etwas zu leisten, zumindest

24

Primetshofer, Ordinatio ad prolem (Anm. 1), S. 825 unter Verweis auf Paul Wirth, Eherechtliche Fragen zur Familienplanung, in: ÖAKR 32 (1981), S. 227 – 247, hier S. 240. 25

Primetshofer, Ordinatio ad prolem (Anm. 1), S. 825 unter Verweis auf Wirth, Eherechtliche Fragen (Anm. 24), S. 237 f.

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aber die Pflicht, alles zu unterlassen, was die Ausübung des Rechts seines Gatten bzw. seiner Gattin behindert oder verunmöglicht.26 Daher scheint auch bezüglich des wesentlichen ehevertraglichen Rechts, einander um zeugungsgeeigneten Verkehr zu bitten, evident, dass der Wille eines Nupturienten, von vorne herein in der Ehe das Zugesagte nicht leisten zu wollen, auf dessen Vorbehalt hinausläuft, die Rechtsausübung des Gatten bzw. der Gattin von Anfang an unmöglich zu machen. Das aber ist inhaltlich wohl dem gleichzuhalten, dass ein Teil das korrespondierende Recht des Partners gar nicht begründen will. Die vorehelich gefasste Absicht, das – neben anderem – vertraglich Essentielle nicht erfüllen zu wollen, beraubt implizit dem angeblich eingeräumten bzw. begründeten Recht des anderen Partners sein Ziel bzw. sein inhaltliches Objekt und seine Substanz, was konsequent die Ungültigkeit des Ehekonsenses nach sich ziehen muss. Noch deutlicher erscheint diese Folge in dem Fall, dass ein Nupturient mit dem Ehekonsens zwar bewusst die Pflicht gegenüber dem anderen Nupturienten begründen will (Verpflichtungswille), er aber in einem auch die Absicht hat, die Erfüllung dieses Anspruchs zu verweigern (Nichterfüllungswille). Die Möglichkeit, dass beide Willensinhalte in ein und demselben Willensakt der Konsensabgabe zusammenfallen, wurde schon im Jahr 1955 durch Heinrich Flatten kritisch hinterfragt27 und wird in jüngster Zeit auch in der Rechtsprechung der Rota Romana zumindest vereinzelt als überhaupt abwegig angesehen28. Begründet wurde diese kritische Reserve schon von H. Flatten vor allem damit, dass die in Rede stehende Unterscheidung zwar denklogisch möglich erscheint, dass die Differenzierung aber – willenspsychologisch – in der Regel dem nicht gerecht wird, was derjenige, der die Erfüllung von Ansprüchen schon vorab ausschließt, tatsächlich will.29 Seiner Aufgabe entsprechend, dem Lebenssachverhalt und damit der Wahrheit möglichst nahe zu kommen30 gerecht

26

Vgl. Heimerl / Pree, Kirchenrecht (Anm. 23), S. 6.

27

Heinrich Flatten, Ehenichtigkeit bei Vorbehalt gegen die Unauflöslichkeit der Ehe oder gegen den Kindersegen, in: ÖAKR 6 (1955), S. 13 – 39, hier S. 21. 28

Vgl. z. B. SRR coram Fiore v. 31.3.1969, zit. bei: Primetshofer, Ehekonsens (Anm. 20), S. 939, Anm. 62; SRR coram Huber v. 27.12.1999, n. 3 (bish. unveröffentlicht). 29

Flatten, Ehenichtigkeit bei Vorbehalt (Anm. 27), S. 21; ähnlich auch Hartmuth Zapp, Das kanonische Eherecht, Freiburg 71988, S. 163. 30

Mit den Aspekten der Wahrheit und der Wahrheitsfindung in bzw. durch kirchliche Ehenichtigkeitsprozesse hat sich Papst jüngst Benedikt XVI. in seiner Ansprache vom 28.1.2006 an die Mitarbeiter der Rota Romana in diesem Sinne auseinandergesetzt. Vgl. Benedikt XVI., Discorso al Tribunale della Rota Romana in occasione dell’inaugurazione dell’anno giudiziario, in: http://212.77.1.245/holy_father/benedictxvi/spee-

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zu werden und berechtigte Nichtigkeitsklagen nicht vorschnell abzuweisen, hat der kirchliche Richter nicht zu fragen, „was logisch möglich ist, sondern was psychologisch wirklich vorgelegen hat“31, d. h. er muss beurteilen, „was der Nupturient de facto gemeint, gewollt, intendiert hat“32. Auch bei der Würdigung eines allfälligen Nichterfüllungswillens hat demnach die psychologische vor der logischen Seite Vorrang, weswegen auf Grund allgemeiner Lebenserfahrung neuerlich davon auszugehen ist, dass, wer von vornherein nicht erfüllen will, sich auch nicht verpflichten bzw. er das Recht des anderen nicht begründen will33. Nicht ungültig geschlossen wird eine Ehe dagegen, wenn der Konsens in einem Willen geleistet wird, der inhaltlich auf den Verzicht hinausläuft, vom eigenen Recht auf Ersuchen um Mitwirkung des anderen an zeugungsoffenem Verkehr nicht Gebrauch zu machen. Hier nämlich bezieht sich der „Vorbehalt“ nur auf die Ausübung des eigenen Rechts, lässt aber das Recht des Partners wie dessen Recht zur Ausübung desselben unberührt.34 6. Fallgestaltungen der „exclusio boni prolis“ In der Regel wird das „bonum prolis in suis principis“ im Zusammenhang mit dem Ehewillen meist tangiert, wenn ein oder beide Nupturienten für seine bzw. ihre beabsichtigte Ehe keine oder vorerst keine Kinder planen oder von vornherein nur an eine konkrete Zahl von Kindern (z. b. höchstens zwei) denken. So diese Ansicht oder dieser Plan in den Konsens willensbestimmend Eingang findet, läuft sie auf die Absicht hinaus, dass auf Dauer, für bestimmte Zeit ab der Heirat oder aber ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Ehe überhaupt keine Intimbegegnung erfolgen sollen oder aber die geschlechtlichen Begegnungen nur in einer Weise oder nur zu Zeiten erfolgen sollen, in der bzw. denen, eine Empfängnis mit Sicherheit ausgeschlossen ist; zumindest aber in der bewussten Intention, die konkreten Intimbegegnungen unfruchtbar zu halten. Ob bzw. in welchem der genannten Fälle der Tatbestand „exclusio boni prolis“ erfüllt ist, wird vom Gesetzgeber selbst nicht normiert. Die Rechtsprechung ging – orientiert an der Spruchpraxis der Rota Romana – meist davon aus, dass nur ein dauerhafter oder ein auf unbestimmte Zeit gewollter Ausschluss der ches/2006/january/documents/hf_ben-xvi_spe_20060128_roman-rota_it.html (Abfragedatum: 15.2.2006). 31

Flatten, Ehenichtigkeit bei Vorbehalt (Anm. 27), S. 21.

32

SRR coram Huber v. 27.12.1999 (bish. unveröffentlicht).

33

So ausdrücklich SRR coram Huber v. 27.10.1999, n. 3 (bish. unveröffentlicht).

34

Vgl. SRR coram Defilippi v. 13.1.2000, n. 10 u. SRR coram Defilippi v. 30.3.2000, n. 6 (beide bish. unveröffentlicht).

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Nachkommenschaft – weil mit Nichtverpflichtungswillen gleichgesetzt – die Ungültigkeit einer Ehe nach sich ziehe. Jeder zeitweise, d. h. ein – in den judizierten Fällen – meist für einen Zeitraum ab der Heirat bis zu einem bestimmten Ereignis in der Ehe gewollter Ausschluss – begründe, weil mit Nichterfüllungswillen gleichgesetzt, keinen ungültigen Ehekonsens.35 Doch gilt letztere Beurteilung auch für den Fall der Beschränkung der Kinderzahl, d. h. für den allfälligen Ausschluss von Kindern, der ab einem bestimmten Ereignis, z. B. der Geburt des zweiten Kindes und damit ab einem unbestimmt-bestimmten Zeitpunkt in der Ehe? Die willenspsychologische Problematik jener Differenzierung, die diesen Schlussfolgerungen zugrunde liegt, wurde bereits erörtert.36 Zudem ist – auch wenn sie sich wie ein roter Faden auch und gerade durch die oberste kirchliche Rechtsprechung ziehen - festzuhalten, dass diese Konklusionen beweisrechtlich keiner gesetzlichen Vermutung gleichkommen. Ihnen kommt nur der Rang einer einfachen richterlichen Vermutung zu.37 Und als solche sind sie unverzüglich aufzugeben, sobald deren Berechtigung im Einzelfall auch nur ansatzweise in Frage steht. Es scheint nun – gerade aus willenspsychologischer Perspektive – nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich ein so genannter dauernder Ausschluss von Nachkommenschaft – dem tatsächlichen Willensinhalt nach – nur als Verzicht auf die Ausübung des eigenen Rechts erweisen kann. Ebenso scheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ein so genannter zeitlich befristeter Ausschluss von Nachkommenschaft, sei er für eine bestimmte Zeit ab der Eheschließung38 oder ab einem bestimmten Zeitpunkt bzw. Ereignis nach der Eheschließung39 einem – weil bezüglich der Dauerhaftigkeit verkürzt – rechtserheblich eingeschränkten Verpflichtungswillen gleichkommt. Das Vorliegen von eheverungültigendem Nichtverpflichtungswillen in diesem Sinne bemisst sich nach Ansicht des Autors – im Rang einer richterlichen Präsumtion – danach, ob: 35

Vgl. SRR coram Burke v. 11.04.1988, n. 13, in: MonEccl 114 (1989), S. 468 – 477; kommentiert von Laukemper-Isermann, Ausgewählte Beispiele (Anm. 22), S. 111 – 115.120, bes. S. 114 f. 36

Siehe oben 5.

37

Vgl. zum Begriff der richterlichen Vermutung cc. 1584 i.V.m. 1586 CIC.

38

Ein Vorbehalt in diesem Sinne könnte z. B. lauten: „Ich möchte aus der Ehe solange kein Kind, bis wir eine größere Wohnung gefunden/die Ausbildung abgeschlossen/die Schulden vom Hausbau bezahlt haben.“ 39

Ein Vorbehalt in diesem Sinne könnte z. B. lauten: „Ich möchte aus der Ehe kein Kind (mehr), nachdem ich x Jahre alt bin/nach der Geburt des x.ten Kindes.“

Kinderzahl und Ehewille

887

1.

der Ausschluss von Nachkommenschaft kategorisch erfolgt oder nicht. Wer in der Absicht heiratet, für eine bestimmte Zeit, ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Ehe oder überhaupt auf Dauer selbst keine Kinder zu wollen, so aber solche vom Partner angestrebt werden, dem nichts entgegen zu setzen, schließt die Zeugung und Erziehung von Kindern nicht kategorisch aus. Folge dessen ist anzunehmen, dass er auch nicht das Recht des anderen ausschließt, sondern er nur auf die Ausübung des ihm vom Partner eingeräumten und damit auf die Ausübung seines eigenen Rechts verzichtet. Wer dagegen in der Absicht heiratet, für eine bestimmte Zeit, ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Ehe oder überhaupt auf Dauer unter allen Umständen keine Kinder (mehr) zu wollen, bei dem ist davon auszugehen, dass er sich – nur für eine bestimmte Zeit in der Ehe, erst ab einer bestimmten Zeit in der Ehe oder auf Dauer – dem Gatten bzw. der Gattin gegenüber nicht zu zeugungsoffener geschlechtlicher Begegnung verpflichten und damit auch das dementsprechende Recht mit dem Ehekonsens nicht begründen will.

2.

in der Kinderfrage vorehelich und aus welchen Gründen immer zwischen den Brautleuten inhaltlich eine wirkliche Übereinkunft getroffen, oder ob durch einen Nupturienten gegen die ihm bekannte Einstellung des anderen zu Kindern aus der Ehe und damit einseitig beschränkende Festlegungen erfolgten. Im ersten Fall ist auf Grund der Lebenssituation wirklichen Einvernehmens zu vermuten, dass beim angeblichen Simulanten nicht die Verweigerung des ehelichen Rechts seines Partners im Mittelpunkt des Bewusstseins steht, sondern nur die Absicht, für eine gewisse Zeit, nach einer gewissen Zeit oder überhaupt vom eigenen Recht nicht Gebrauch zu machen. Auf Grund dieser Entscheidungssituation legt sich zumindest primär40 nahe, dass der Nupturient sich nur vorbehält, vom Partner nicht die Erfüllung seines ihm selbst eingeräumten Anspruchs zu fordern. Im Fall des objektiven Nicht-Einvernehmens ist dagegen von einem diametralen Gegensatz der Intentionen beider Partner auszugehen. Wille und Absicht des einen Partners stehen mit Wille und Absicht des anderen im objektiven, aber auch bewussten inhaltlichen Widerstreit. Damit ist eine Situation gegeben, in der – bewusst und entschieden – das vom einen Gewollte (ev. [mehrere] Kinder) vom anderen Partner kategorisch auf Dauer, zeitlich befristet nicht oder nur zeitlich befristet gewollt wird. Dementsprechend ist angesichts einer solchen Konstellation primär davon auszugehen, dass der

40

Es ginge aber selbstverständlich zu weit, den konkreten Lebenssachverhalt als unmöglich bzw. kategorisch ausgeschlossen anzusehen, dass die Nupturienten einvernehmlich eine Vereinbarung treffen, die inhaltlich einem beiderseitigen Nichtverpflichtungswillen gleichkommt, der die Ehe jedenfalls verungültigt.

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Simulant einen Anspruch auf zeugungsgeeigneten geschlechtlichen und erziehungsgeeigneten Umgang gegen sich – auf Dauer oder zeitlich befristet nicht, oder aber nur zeitlich befristet – begründen will. Erfolgt daher der Ausschluss von Kindern faktisch gegen den Willen des anderen Partners und kategorisch, ist für den angeblichen Simulanten davon auszugehen, dass er der Sache nach das Recht des anderen auf zeugungsgeeigneten Verkehr eben gerade nicht als dauerhaftes begründen will. Dies gilt auch, falls ein Nupturient das in Rede stehende Recht nur zeitlich befristet begründet. Dies ist z. B. der Fall, wenn er noch vor der Heirat einseitig und bewusst die Zahl der aus der Ehe hervorgehen sollenden Kinder – über seinen bloßen Wunsch hinaus – kategorisch limitiert. Dabei ist unerheblich, mit welcher Zahl die Kinderzahl limitiert wird. Immer, wenn durch einen solchen Vorbehalt, d. h. unter den oben genannten Bedingungen zumindest implizit das Recht des anderen Gatten auf die eigene Mitwirkung an zeugungsgeeignetem Verkehr auch nur für bestimmte Zeit, z. B. bis zum Eintritt eines bestimmten Ereignisses (z. B. bis zum x. Kind) eingeräumt wird, wird das seiner Natur nach dauerhafte Recht nicht dauerhaft begründet. Es wird dadurch in letzter Konsequenz einer Resolutivbedingung unterworfen, die den Konsens ex natura rei verungültigt41. Unerheblich bleibt aber, mit welchen Mitteln und auf welchen Wegen der Simulant beabsichtigt, seinem Vorbehalt entsprechend Nachkommenschaft zu unterbinden.42 Wer immer bewusst und mit dem Willen in die Ehe geht, dem anderen, sei es auf Dauer, für bestimmte Zeit oder ab einem bestimmten Zeitpunkt in der Ehe z. B. nur das Recht auf verhüteten Intimverkehr einzuräumen, schließt die Ehe ebenso ungültig wie derjenige, der ggf. das Recht zu geschlechtlicher Begegnung nur für die jeweils biologisch bedingt unfruchtbaren Zeiten der Frau einräumt.43 7. Die vorausgehende Begrenzung der Kinderzahl im Licht der kirchlichen Lehre von der verantworteten Elternschaft Die Ungültigkeitskonsequenz des Ausschlusses der Nachkommenschaft in den oben beschriebenen Fällen und damit auch jene in Form der vorehelich bewusst vorgenommenen Beschränkung der Kinderzahl widerspricht nicht der Lehre des II. Vatikanums von der so genannten verantworteten Elternschaft. Diesbezüglich

41

Vgl. Cappello, Tractatus canonico-moralis (Anm. 23), S. 579, Nr. 600, 2., n. 1.

42

Vgl. Primetshofer, Ehekonsens (Anm. 22), S. 939.

43

Vgl. Pius XII., Ansprache v. 29.10.1951, in: AAS 43 (1951), S. 845; vgl. Sztychmiler, Ausschluss der Nachkommenschaft (Anm. 23), S. 519.

Kinderzahl und Ehewille

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formuliert die Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ in Nr. 50 – unter der Überschrift „De matrimonii fecunditate“ – wie folgt: „… Unde verus amoris coniugalis cultus totaque vitae familiaris ratio inde oriens, non posthabitis ceteris matrimonii finibus, eo tendunt ut coniuges forti animo dispositi sint ad cooperandum cum amore Creatoris atque Salvatoris, qui per eos Suam familiam in dies dilatat et ditat. In officio humanam vitam transmittendi atque educandi, quod tamquam propria eorum missio considerandum est, coniuges sciunt se cooperatores esse amoris Dei Creatoris eiusque veluti interpretes. Ideo humana et Christiana responsibilite suum munus adimplebunt ac docili erga Deum reverentia, communi consilio atque conatu, rectum iudicium sibi efformabunt, attendentes tum ad suum ipsorum bonum tum ad bonum liberorum, sive iam nati sint sive future praevideantur, dignoscentes temporum et status vitae condiciones tum materials tum spirituals, ac denique rationem servants boni communitates familiars, societatis tempuralis ipsiusque Ecclesiae …“44 Daraus ist zu erschließen wie folgt: a) Gefordert ist von den Gatten die grundsätzliche, in keiner Weise willentlich eingeschränkte Bereitschaft zu Nachkommen aus der konkreten Ehe. Diese Forderung ist die Kehrseite des konsensrechtlichen Minimalerfordernisses, dass nämlich die Bereitschaft zur Mitwirkung an zeugungsgeeignetem Intimverkehr bei der Konsensabgabe nicht bewusst intendiert werden muss, aber nicht willentlich ausgeschlossen werden darf (vgl. II. 3.). Die Befugnis zu verantworteter Familienplanung kommt den Partnern b) nur bzw. erst als Gatten, d. h. als bereits Verheiratete zu; und sie kommt c) beiden Gatten gleichermaßen zu und ist von ihnen einvernehmlich zu handhaben. Somit steht es nach der Doktrin des Konzils erst den Gatten einer bereits geschlossenen Ehe, d. h. erst nach der Konsensleistung zu, wegen dann herrschender Umstände die Kinderzahl gegebenenfalls zu beschränken. Auch im Licht der Lehre des II. Vatikanischen Konzils, näher hin der Pastoralkonstitution GS 50, ist daher eine absichtliche, kategorische voreheliche Beschränkung der Kinderzahl nicht statthaft, und die vorstehenden Überlegungen stehen nicht im Widerspruch zu den dort aufgestellten Weisungen.

44

AAS 58 (1966), S. 1025 – 1115, S. 1071 (H.v.V.).

Verfahrensrechtliche Überlegungen zur Beurteilung der Zivilehe von Orthodoxen Von Nikolaus Schöch I. Einführung Der Fall des Eisernen Vorhangs im Jahr 1989 und die zunehmende Mobilität der Menschen aus dem Osten führte dazu, dass sich die Gerichte lateinischer Diözesen in Westeuropa immer häufiger mit standesamtlichen Vorehen orthodoxer Getaufter in Hinblick auf eine kirchliche Eheschließung mit einem katholischen Partner beschäftigen müssen. Dabei richten die Bischöfe als Moderatoren dieser Gerichte nicht selten Anfragen an die Glaubenskongregation oder die Apostolische Signatur bezüglich der Vorgangsweise. Die mit der Beurteilung rein standesamtlich geschlossener Ehen zweier orthodoxer oder eines orthodoxen und eines protestantischen Partners verbundenen materiell- und prozessrechtlichen Fragen sind Thema des folgenden Artikels. Nicht eingegangen wird auf die an die katholische Eheschließungsform gebundenen katholisch-orthodoxen Mischehen. II. Die orthodoxe Sicht der standesamtlich geschlossenen Ehe In den ersten christlichen Jahrhunderten erfolgte auch im Osten die Heirat durch Konsenserklärung vor dem staatlichen Beamten. Die gültige Eheschließung kam bis ins zehnte Jahrhundert auch im Osten allein durch den Konsensaustausch zustande. Die priesterliche Segnung war nicht erforderlich1, obwohl die Bischöfe die Gläubigen seit dem 6. Jahrhundert dazu drängten2. Im Jahr 895 promulgierte der byzantinische Kaiser Leo VI. seine berühmte Novelle 89, mit der er eine einzige Form für die christliche Ehe zur Gültigkeit vorschrieb: „Quemadmodum adhibitis sacris precibus adoptionem perfici prae-

1

Vgl. Petrus Tocanel, De Novellae 89 Leonis Philosophi canonizatione, in: Apoll 42 (1969), S. 22. 2

Vgl. Tocanel, De Novellae 89 (Anm. 1), S. 36.

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cipimus, sic sane etiam sacrae benedictionis testimonio matrimonia confirmari iubemus; adeo ut si quis citra hanc matrimonia ineant, id ne ab initio quidem ita dici, neque illos in vitae illa consuetudine matrimonii iure potiri velimus“3. Kaiser Alexius I Comnenus bestimmte im Jahr 1095, dass nicht nur der Ehekonsens von freien Bürgern, sondern auch von christlichen Sklaven zur Gültigkeit mit priesterlichem Segen bestätigt werden müsse4. Doch gibt es Fälle, in denen die Heirat vor einem staatlichen Beamten auch danach noch toleriert wurde.5 Im 12. Jahrhundert verbreitete sich in den Ostkirchen die theologische Meinung, das Ehesakrament käme durch die priesterliche Segnung zustande und der Priester sei der Spender des Sakraments. Sie wurde jedoch erst am Ende des 19. Jahrhunderts verbindliche Lehre aller orthodoxen Kirchen6. Die liturgische Feier ist sowohl für die katholischen als auch die orthodoxen Ostkirchen von solcher Bedeutung, dass sie in die Struktur des Sakraments selbst eindringt und zusammen mit dem Konsens das Ehesakrament bildet.7 Der so genannte „ritus sacer“8 gehört so sehr zum Wesen des Ehesakraments, dass er als nach dem Willen der Kirche der Substanz des Sakraments hinzugefügt betrachtet werden kann9. Gemeinsam ist allen orthodoxen Kirchen, dass sie die Gültigkeit der standesamtlich geschlossenen Ehe nicht anerkennen. Gültigkeitserfordernis ist ohne Ausnahme die Segnung von Seiten eines dazu berechtigten orthodoxen Pries-

3

Les Nouvelles de Leon VI le Sage. Hrsg. v. Pierre Noailles / Alphonse Dain, Paris 1944, S. 296 – 297. 4

Vgl. Tocanel, De Novellae 89 (Anm. 1), S. 26.

5

Vgl. Demetrios J. Constantelos, Practice of the Sacrament of Matrimony According to the Orthodox Tradition, in: Jurist 31 (1971), S. 624. 6

Vgl. Josef Prader, La forma di celebrazione del matrimonio nel Codice latino e nel Codice orientale, in: Il matrimonio nel Codice dei Canoni delle Chiese orientali (= Studi giuridici 32), Vatikanstadt 1994, S. 286. 7

Vgl. Urbano Navarrete, De ministro sacramenti matrimonii in Ecclesia latina et in Ecclesiis orientalibus tentamen explicationis concordantis, in: PerRCan 84 (1995), S. 721. 8 Zu den liturgischen Riten der orientalischen Kirchen vgl. Acacius Coussa, Epitome praelectionum de Iure Ecclesiastico orientali, Bd. III. De matrimonio, Rom 1950, S. 198 – 202. 9

Vgl. Navarrete, De ministro sacramenti matrimonii (Anm. 7), S. 730.

Zur Beurteilung der Zivilehe von Orthodoxen

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ters. Unterschiedliche Normen bestehen bezüglich Zahl und Geschlecht der Zeugen sowie bezüglich der Mischehe10. Ein Beispiel für die ablehnende Haltung orthodoxer Kirchen gegenüber der Zivilehe bildet das Rundschreiben der heiligen Synode Griechenlands vom Februar 1982 in Hinblick auf die Promulgation des griechischen Gesetzes über die standesamtliche Ehe. Darin betonte die orthodoxe Kirche die ausschließliche Anerkennung der kirchlich geschlossenen Ehe für Getaufte. Die standesamtliche Ehe sei lediglich ein freies Zusammenleben, eine Beziehung ohne den Segen Gottes. Nur für Ungetaufte sei die Zivilehe berechtigt. Orthodoxe Christen, welche die Ehe rein standesamtlich schließen seien als Häretiker zu betrachten, da sie die Sakramentalität der Ehe leugnen. Dennoch beschloss die orthodoxe Synode Griechenlands die Taufe der Kinder standesamtlich verheirateter orthodoxer Partner zu gestatten11. III. Die katholische Sicht der standesamtlichen Ehe orthodoxer Christen Gemäß c. 92 § 2 des Motu proprio Crebrae allatae vom 22. Februar 1949 waren die orientalischen Nichtkatholiken nicht einmal an die vom Eigenrecht vorgeschriebene Form gebunden. Deshalb wurde ihre reine Zivilehe von Seiten der katholischen Kirche als gültig und sakramental anerkannt. Es genügte die Einhaltung einer naturrechtlich gültigen Form, weshalb auch eine in Abwesenheit von Priester und Zeugen geschlossene Ehe als gültig erachtet wurde. Das Heilige Offizium antwortete noch am 28. März 1962 auf die Frage: „An constet de nullitate matrimonii initum inter partem baptizatam in ecclesia baptistarum et partem baptizatam in ecclesia graeco-orthodoxa ante officialem civilem“, mit „Negative“12. Ein Urteil coram Sabattani erklärte 1964 bezüglich der Ehe zweier Partner, welche zum Zeitpunkt der Eheschließung orthodox waren: „Ideo utpote catholici, non tenebantur ad formam catholicam matrimonii (can. 1099, § 2). Eorum

10 Genauere Hinweise zu den Formvorschriften katholischer sowie orthodoxer Ostkirchen finden sich in: Stefan Rambacher, Formerfordernisse für die Eheschliessung getaufter Nichtkatholiken nach dem CCEO unter besonderer Berücksichtigung der altorientalischen Kirchen (MThSt.K 46), St. Ottilien 1995. 11

Vgl. Dimitrios Salachas, Mariage civil et mariage religieux en Grèce, in: Apoll 58 (1985), S. 717. 12

S. Officium, Responsum vom 28. März 1962, in: Ochoa, Leges III, Nr. 3052, Sp. 4265.

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consensus nuptialis per se validus erat, dummodo expressus fuerat forma naturaliter valida“13. Eine Änderung zeichnete sich in der Rechtssprechung erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ab. Ein orthodoxer Christ heiratete im Jahr 1962 vor dem Standesbeamten seiner Heimatstadt in Rumänien eine orthodox getaufte, jedoch atheistisch erzogene Frau. Diese Zivilehe scheiterte nach kurzer Zeit und wurde geschieden. Der Mann wanderte nach Deutschland aus, wurde katholisch und wollte eine katholische Frau heiraten. Der Bischof des Ortes der geplanten Eheschließung richtete eine Anfrage an den Apostolischen Stuhl, ob die erste Ehe des Mannes wegen Formmangels für nichtig erklärt werden könnte. Dazu erging die Antwort der Apostolischen Signatur vom 28. November 197014 mit Erläuterungen vom 20. Januar 1971. Die Apostolische Signatur erklärte die Nichtigkeit dieser Ehe wegen Nichtbeachtung der vorgeschriebenen Eheschließungsform: „An constet de nullitate matrimonii ob defectum formae seu ritus sacri, in casu, respondendum decreverunt atque respondent: Affirmative, seu constare de nullitate matrimonii ob defectum formae seu ritus sacri, in casu“15. Die katholische Kirche erkennt jene orthodoxen Ehen als gültig an, die mit „ritus sacer“ geschlossen wurden, d. h. in liturgischer Form, zumindest mit priesterlichem Segen. Am 7. Juli 1971 bestätigte der Kongress der Apostolischen Signatur das wegen „Formmangel“, genauer „defectus ritus sacri“, erlassene Nichtigkeitsurteil eines amerikanischen Gerichts vom 27. Mai 1971 mit folgenden Worten: „In casu Rainerius, utpote in ecclesia orthodoxa baptizatus, non poterat matrimonium validum contrahere absque praesentia et benedictione ministri sacri, quia facile poterat adire ecclesiam orthodoxam russicam in loco. Ex alia parte communitas presbyteriana non habet Episcopos, ideoque non habet sacerdotes vel diaconos, qui possint sacram benedictionem sponsis impertiri… Approbatam seu ratam esse nullitatis sententiam, quae proinde exsecutioni mandari potest“.16 Am 23. November 1974 erklärte die Apostolische Signatur eine zwischen einem armenisch-orthodoxen und einem methodistischen Partner ohne priesterliche Segnung geschlossene Ehe wegen fehlendem „ritus sacer“ für nichtig, 13

RR, Urteil coram Sabattani, 11. 12. 1964, in: RR Dec 56, S. 932, Nr. 7.

14

Apostolische Signatur, Dekret vom 28. 11. 1970, in: AfkKR 139 (1970), S. 523 – 524.

15

Apostolische Signatur, Dekret vom 28. 11. 1970 (Anm. 14), S. 523.

16

Apostolische Signatur, Dekret vom 7. 7. 1971, in: Ochoa, Leges IV, Nr. 3990, Sp. 6135 – 6136.

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da am Ort keine Schwierigkeit bestand, einen Priester für die Trauung zu finden17. C. 1059 des CIC/1983 befreite alle Nichtkatholiken von den Vorschriften des kanonischen Rechts, wodurch eine große Gesetzeslücke entstand, was Urbano Navarrete bereits im Jahr 1978 vorhersah: „... si in futurum statueretur principium contrarium, scilicet acatholicos non teneri legibus ab Ecclesia catholica latis nisi expresse declaretur, creabitur immensa lacuna legis“18. Diese Lücke wurde im CIC durch keine andere Norm gefüllt. Die Kommission für die eherechtlichen Kanones des CCEO formulierte das Prinzip, wonach für die Gültigkeit der Ehe orthodoxer Christen in Bezug auf die Hindernisse rein kirchlichen Rechts sowie auf die Eheschließungsform das Recht der jeweiligen orthodoxen Kirche anzuwenden sei und schlug die Einfügung einer diesbezüglichen Norm in den CCEO vor: „... in iudicanda validitate matrimonii orthodoxorum, saltem quod attinet ad impedimenta iuris mere ecclesiastici et ad formam celebrationis, quae semper ritum sacrum requirit, attendenda est disciplina illius Ecclesiae ad quam partes pertinent.... Conflictus iuris essent inevitabiles quia plura matrimonia acatholicorum iure proprio invalida ex defectu formae aut obstante impedimento dirimente, valida retineri possent iure canonico. Ad hos conflictus evitandos norma positiva de lege applicanda requiritur.“19 C. 780 § 2 n. 1 CCEO erkennt ausdrücklich das eigene Recht der Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft an, welcher die nichtkatholische Partner angehört, sofern diese über ein eigenes Eherecht verfügt und soweit es nicht dem göttlichen Recht widerspricht. Die orthodoxen Kirchen verfügen über ein eigenes Eherecht, dessen Normen bezüglich der Eheschließungsform in keinem Widerspruch zum göttlichen Recht stehen. Ein lateinisches Gericht hingegen musste mangels einer anwendbaren Norm im CIC auf die ergänzende Regel der Apostolischen Signatur Bezug nehmen, welche von Papst Paul VI. approbiert wurde, wonach eine nur vor Zeugen ge-

17

Apostolische Signatur, Urteil vom 23. 11. 1974, in: Ochoa, Leges IV, Nr. 4334, Sp. 6891 – 6892: „Defectus formae praescriptae excusari non potest in casu ob impossibilitatem vel difficultatem inveniendi sacerdotem eiusdem ecclesiae armenae et alius ecclesiae christianae qui nuptiis adesset et benediceret, nam prope locum in quo matrimonium celebratum est, exstat paroecia armenae“. 18 Vgl. Urbano Navarrete, Competentia Ecclesiae in matrimonium baptizatorum eiusque limites, in: PerRMCL 67 (1978), S. 101. 19

Josef Prader, Labor Consultorum Commissionis circa canones de Matrimonio, in: Nuntia 8 (1979), S. 6 – 7.

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schlossene Ehe dann nicht gültig ist, wenn ein Priester ohne große Beschwernis erreichbar war20. Die Lücke des lateinischen Kodex wurde durch die im Jahr 2005 erlassene Instruktion Dignitas Connubii gefüllt21. Diese Instruktion enthält das Prinzip, wonach für Ehen, in denen wenigstens einer der Partner orthodox ist, das orthodoxe Recht unter Wahrung des göttlichen Rechts anzuwenden sei: „Die Ehe zwischen einem katholischen und einem getauften nichtkatholischen Partner wird auch geregelt vom Eigenrecht der Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft, welcher der nichtkatholische Partner angehört, sofern diese Gemeinschaft über ein eigenes Eherecht verfügt“22. Art. 4, § 1 dieser Instruktion gilt für die lateinische Kirche und sieht parallel zu c. 781 CCEO vor: „Bezüglich der Eheschließungsform erkennt die Kirche jegliche vom Recht bestimmte oder in der Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft, der die Partner zum Zeitpunkt der Eheschließung angehörten, zugelassene Form an, sofern die Ehe mit heiligem Ritus gefeiert wurde, wenn wenigstens einer der Partner einer nichtkatholischen orientalischen Kirche angehört“. Obwohl dieser Artikel im CIC nicht vorkommt, stellt er dennoch keine Neuheit in der lateinischen Disziplin dar, weil er nichts anderes bedeutet als die ausdrückliche Rezeption der konstanten Rechtsprechung der Gerichte des Apostolischen Stuhls23, welche auf dem Dekret Unitatis Redintegratio beruht24. Da nun keine orthodoxe Kirche die Gültigkeit einer nur standesamtlich geschlossenen Ehe anerkennt, kann auch kein katholisches Gericht eine rein standesamtliche Ehen als gültig anerkennen, da die orthodoxen Kirchen gültige Normen als positives kirchliches Recht zur Regelung der Eheschließungsform erlassen können25. Daraus folgt das nun auch auf katholischer Seite akzeptierte Grundprinzip,

20

Vgl. Josef Prader, La legislazione matrimoniale latina e orientale, Rom 1993, S. 61.

21

Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Instruktion „Dignitas Connubii“ vom 25. 1. 2005, Vatikanstadt 2005. 22

Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Instruktion „Dignitas Connubii“ (Anm. 21), Art. 2 § 2. 23 Obwohl die Redaktionskommission für den CIC/1983 gegen eine solche Norm stimmte (vgl. Communicationes 9 [1977], S. 127, c. 245), hatten doch verschiedene Autoren deren Einführung empfohlen: Urbano Navarrete, Ius matrimoniale latinum et orientale, in: PerRCan 80 (1991), S. 618; Jobe Abbas, Two Codes in Comparison (= Kanonika 7), Rom 1997, S. 106. 24

Vgl. VatII UR, Nr. 16.

25

Vgl. VatII UR, Nr. 16; cc. 11, 1059 CIC; 780 – 781 CCEO.

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wonach Ehen, in denen wenigstens einer der Partner orthodox ist, nur vor dem Priester gültig geschlossen werden können26. Ein katholisches kirchliches Gericht muss daher die Normen des katholischen Rechts anwenden, insofern es sich um naturrechtlich oder im positiven göttlichen Recht begründete Normen handelt. Handelt es sich hingegen um ein Ehehindernis oder einen Konsensmangel rein kirchlichen Rechts, so ist orthodoxes Recht anzuwenden. Dies gilt auch für den Formmangel bei der standesamtlichen Trauung. Mit dem göttlichen Recht in Widerspruch stehen jene in den einzelnen orthodoxen Kirchen zulässigen Scheidungsgründe, die so extensiv ausgelegt werden können, dass jeglicher ernsthafte Grund eine Wiederheirat zulässt. Die orthodoxen Kirchen berufen sich zu ihrer Rechtfertigung darauf, dass die Unauflöslichkeit der Ehe von keinem ökumenischen Konzil als Dogma definiert wurde. Sie wenden in Fragen, die dogmatisch nicht definiert sind, das Prinzip der oikonomia an. Deshalb wurde bereits in der Instruktion der PropagandaFide-Kongregation sowie am ersten Vatikanischen Konzil vorgeschlagen, die Unauflöslichkeit der Ehe als Dogma zu definieren27, was allerdings nie geschah. Die katholische Kirche betrachtet hingegen die Unauflöslichkeit als göttliches Recht. Das hatte sowohl das Konzil von Trient als auch das päpstliche Lehramt wiederholt erklärt, dem es nach dem CIC zusteht, verbindlich zu erklären, was göttliches Recht ist28. In Bezug auf Konsensmängel sowie in Bezug auf Hindernisse des positiven göttlichen oder des Naturrechts, müssen katholische Gerichte die katholischen Rechtsnormen anwenden. In Bezug auf Konsensmängel und Hindernisse rein kirchlicher Art gilt hingegen das Recht jener Kirche, welcher die Partner zum Zeitpunkt der Eheschließung angehörten29.

26 Vgl. cc. 780, 781, 802, 1490 CCEO; cc. 11, 1058 e 1085 CIC und Art. 4 § 1 (Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Instruktion „Dignitas Connubii“ [Anm. 21]). 27

Vgl. S. C. De Propaganda Fide, Instructio, 1858, de indissolubilitate matrimonii, ad Archiep. Et Epp. Graeco-Rumenos provinciae Foganasien., et Albae Iuliae, in: S. C. De Propaganda Fide, Collectanea S. Congregationis de Propaganda fide, seu decreta, instructiones, rescripta pro apostolicis missionibus ex tabulario eiusdem Sarae Congregationis deprompta, Rom 1893, S. 436 – 441; Luigi Bressan, Il divorzio nelle Chiese orientali, ricerca storica sull’atteggiamento cattolico, Bologna 1976, S. 197 – 218. 28

Vgl. c. 1075 CIC.

29

Vgl. Prader, La legislazione matrimoniale (Anm. 20), S. 93.

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IV. Die außerordentliche Form der Eheschließung Der priesterliche Segen gehört nach positivem kirchlichem Recht sowohl der katholischen als auch der nichtkatholischen Ostkirchen zur Gültigkeit der Eheschließungsform unter gewöhnlichen Umständen. Nicht erforderlich ist er nach katholischer Auffassung im Fall der Noteheschließung, wie bei der Begründung der Entscheidung der Apostolischen Signatur vom 28. November 1970, warum zum Nachweis der Nichtigkeit der standesamtlichen Ehe Orthodoxer ein ordentlicher Nichtigkeitsprozess erforderlich ist, ausdrücklich angeführt wurde: „In causa instruenda inquiratur praesertim an matrimonium celebrari potuisset coram sacerdote citra grave incommodum“30. Bis zu dieser Entscheidung war die Frage nach der Noteheschließung in der Sowjetunion nur für Katholiken aktuell, da die orthodoxen Christen nach katholischer Auffassung von jeglicher Formpflicht befreit waren. Noch in den vierziger Jahren wurde dennoch jegliche Ehe von Orthodoxen von katholischer Seite für gültig erachtet, da sie zur Gültigkeit an keinerlei Form, nicht einmal den priesterlichen Segen, gebunden war. Standesamtliche Eheschließungen von Katholiken gab es in der von Deutschen besetzten Zone. Die Gläubigen selbst hielten diese Ehen für ungültig und meinten, eine neue Ehe eingehen zu dürfen. Waren es Ehen, die in den Jahren 1935, 36, 37 geschlossen wurden, so war es zu diesem Zeitpunkt bereits unmöglich, einen Priester zu finden, da alle Priester ins Exil verbannt worden waren. Während die standesamtliche Ehe unter gewöhnlichen Umständen ungültig ist, kann sie unter außergewöhnlichen Umständen gültig werden. Es gilt dann das Grundrecht auf Eheschließung und es weichen die Strukturen des positiven menschlichen Rechts. Dieser Grundsatz wird von der katholischen Kirche auch auf die Orthodoxen angewandt, da es sich um ein unverzichtbares theologisches Prinzip handelt31. Die Apostolische Signatur verweist auf das Eigenrecht der orthodoxen Kirchen mit dem Vorbehalt, dass im Fall der Unmöglichkeit, einen orthodoxen Priester ohne große Beschwernis zu finden, die Ehe für gültig zu halten ist, wenn sie bloß vor Zeugen oder Standesbeamten geschlossen wurde. War wenigstens einer der Partner orthodox und wurde die Ehe nur vor dem Standesbeamten geschlossen, obwohl ohne Schwierigkeiten ein Priester hätte erreicht werden können, dann ist die Ehe mangels Einhaltung der vorgeschriebenen Eheschließungsform ungültig. Obwohl sich die Norm für die außerordentliche Feier der Ehe gemäß c. 1 CIC und c. 1 CCEO nur auf lateinische oder orientalische Katholiken bezieht, ist die außergewöhnliche Form der Eheschlie30 31

Apostolische Signatur, Dekret vom 28. 11. 1970 (Anm. 14), S. 524.

Vgl. Urbano Navarrete, Questioni sulla forma canonica ordinaria nei Codici latino e orientale, in: PerRCan 85 (1996), S. 508 f.

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ßung wegen ihrer naturrechtlichen Grundlage32 auf jegliche Ehe, sei sie nun katholisch oder nicht, anzuwenden. Die Noteheschließung dient nicht nur pastoralen Zwecken, sondern vor allem dem Recht der Gläubigen, auch in besonderen Situationen durch unwiderruflichen persönlichen Konsens eine gültige Ehe zu schließen33. Wegen dieser naturrechtlichen Begründung ist die Ablehnung der Noteheschließung im Eigenrecht der orthodoxen Kirche aus katholischer Sicht bedeutungslos34. Ein weiterer Grund für die Zulassung der Noteheschließung besteht im katholischen Grundsatz der Einheit von Vertrag und Sakrament (vgl. c. 1055 § 2 und 776 § 2). Es gibt keine gültige Ehe, die nicht Sakrament ist. Dieses Prinzip wird von den orthodoxen Kirchen nicht anerkannt35. Manche orthodoxen Kirchen erkennen lediglich das Recht der Gläubigen an, in Todesgefahr oder bei Unerreichbarkeit eines Priesters eine Ehe zu schließen36, betrachten diese jedoch nur als einen gültigen Vertrag, der nur dann zum Sakrament wird, sofern der priesterliche Segen hinzukommt. Lediglich die nestorianische Kirche kannte eine außerordentliche sakramentale Eheschließungsform nur vor den Zeugen, wenn es unmöglich war, einen Priester zu finden, wie aus einer alten Quelle des 8. Jahrhunderts hervorgeht37. Nach orthodoxer Lehre besteht das Problem der Untrennbarkeit zwischen der gültigen Ehe und dem Sakrament aufgrund der Tatsache nicht, dass der natürliche Ehebund nicht wegen des gegenseitigen Konsenses gültig wird, sondern aufgrund des priesterlichen Eingriffs, der Spender des Sakramentes ist.38 Die Anwendung des Eigenrechts der orthodoxen Kirchen bezieht sich nach katholischer Auffassung nur auf die trennenden Ehehindernisse rein kirchlichen Rechts, d. h. nicht auf jene positiven oder natürlichen göttlichen Rechts. Weiters erstreckt sie sich nicht auf die Konsensmängel, die Erfordernisse des natür32

Vgl. Cyril Vasil, Der ritus sacer und die priesterliche Segnung – Elemente der Form der Feier der Eheschließung gemäß c. 828 CCEO: interekklesiale und ökumenische Implikationen, in: DPM 12 (2005), S. 66. 33

Vgl. Dimitrios Salachas, Il sacramento del matrimonio nel Nuovo Diritto Canonico delle Chiese orientali, Bologna 1994, S. 208. 34

Vgl. Géza Kuminetz, La forma de la celebración del matrimonio desde la comparación entre ordenamientos, in: IusCan 14 (2005), S. 136. 35 Vgl. Peter L’Huillier, An Eastern Orthodox Viewpoint on the New Code of Canon Law, in: Jurist 46 (1986), S. 388. 36

Vgl. David Motiuk, Catholic and orthodox issues in Ukraine, in: Canon Law Society of America, Proceedings 59 (1997), Washington 1998, S. 214. 37

Vgl. S. Congregazione per la Chiesa Orientale, Fonti, Serie II, Fascicolo XV, S. 183.

38

Vgl. Prader, La forma di celebrazione del matrimonio (Anm. 6), S. 295.

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lichen Rechts für die Eheschließungsform, die Auflösung des Ehebandes, die einfache Gültigmachung und die Sanation der Ehe: „... visum est christianos non catholicos, in re matrimoniali ... eximendos esse ab omnibus impedimentis dirimentibus iuris ecclesiastici, non vero a legibus de defectibus aut vitiis consensus, de solutione vinculi, de convalidatione et sanatione in radice, quatenus de normis agitur quae ius divinum positivum aut naturale contineant vel ipsa rei natura etiam ipsos afficiant“39. Diskutiert wird die Frage nach der Notwendigkeit des Wissens um die Gültigkeit der Noteheschließung auf Seiten der Partner. In Bezug auf Katholiken meinte bereits Klaus Mörsdorf: „Wenn die Einrichtung der Noteheschließung nur denen zugute kommen sollte, die darum wissen und die entsprechende Absicht haben, würde sie im Falle der physischen Abwesenheit kaum praktisch werden, weil Ehewerbern und Zeugen durchwegs die nötige Kenntnis fehlt“40. Navarro Valls hingegen unterstreicht die Bedeutung der Klausel „qui intendunt verum matrimonium inire“ in c. 1116 § 1 CIC sowie deren ähnlicher Formulierung in c. 832 § 1 CCEO und fordert für die Gültigkeit der Noteheschließung die Absicht der Partner, eine kirchlich gültige Ehe zu schließen41. Da beide Normen lediglich Katholiken binden, können sie nicht auf Orthodoxe angewandt werden. Es ist allerdings nicht leicht, von katholischer Seite den orthodoxen Partnern klar zu machen, sie würden in einer sakramentalen und kirchlich gültigen Ehe leben, obwohl sie lediglich standesamtlich heirateten. Sollten sie umgekehrt der Ansicht gewesen sein, ihre rein standesamtlich geschlossene Ehe sei auch kirchlich gültig, obwohl sie sich in einem Irrtum hinsichtlich des tatsächlichen Bestandes der Notlage befanden, so bleibt ihre Noteheschließung dennoch ungültig42. In der Beurteilung unter dem Kommunismus geschlossener Ehen sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu beachten. Während Priester etwa in Albanien unerreichbar waren, konnten sie in Rumänien trotz atheistischer Propaganda ihren Dienst gefahrlos ausüben. Auch in China war es unmöglich, einen Priester zu finden, welcher der Trauung assistieren konnte, weshalb das S. Offizium erklärte, dass die Gläubigen weder an die ordentliche noch an die außerordentliche Eheschließungsform gebunden seien. Das Dekret

39

Vgl. Prader, Labor Consultorum (Anm. 19), S. 6.

40

Klaus Mörsdorf, Die Noteheschließung (c. 1098), in: AfkKR 124 (1949/1950), S. 91.

41

Vgl. Rafael Navarro Valls, La forma jurídica del matrimonio en el nuevo Código de Derecho Canónico, in: REDC 39 (1983), S. 504. Vgl. auch Geraldina Boni, La forma straordinaria di celebrazione del matrimonio canonico (can. 1116), in: Diritto matrimoniale canonico, Bd. III (= Studi giuridici 68), Vatikanstadt 2005, S. 139. 42

Vgl. Mörsdorf, Die Noteheschließung (Anm. 40), S. 87.

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begründete diese Auffassung mit dem Grundsatz, wonach die Normen rein kirchlichen Rechts bei großer Beschwernis nicht verpflichten. Wünschenswert wäre eine offizielle Erklärung der kompetenten römischen Kongregationen, wenn in einer bestimmten Gegend die Einhaltung der kanonischen Eheschließungsform habituell unmöglich wird. Da die positiv-rechtlichen Normen für die Noteheschließung nur für Katholiken gelten, sind Orthodoxe in Todesgefahr oder bei Unmöglichkeit einen Priester zu erreichen auch von den in c. 1116 § 2 CIC bzw. 832 § 2 CCEO genannten Voraussetzungen befreit43. Es genügt ein naturrechtlich gültiger Konsensaustausch ohne Zeugen. Es wäre wünschenswert, dass eine positive Norm bezüglich der außerordentlichen Eheschließung unter Nichtkatholiken erlassen wird, damit die beiden genannten Normen angewandt werden können, um das Fortbestehen der klandestinen Eheschließung vollständig zu beenden. Eine Noteheschließung ist auch dann gültig, wenn ein Priester gefunden werden kann, dieser jedoch nicht ohne Gefahr für sich selbst oder die Gläubigen44 der Ehe nicht assistieren darf, weil etwa der Staat die Eheassistenz verbot oder schwere Strafen verhängte. V. Ausgeschlossene Wege zur Klärung des Personenstandes orthodoxer Christen 1. Rezeption von Entscheidungen orthodoxer Bischöfe Die bisher zu den cc. 780 – 781 CCEO erschienene Literatur beschränkt sich auf die Behauptung, dass das katholische Gericht das materielle Eherecht der jeweiligen nichtkatholischen kirchlichen Gemeinschaft anzuwenden hat, stellt sich jedoch nicht der Frage nach der Berücksichtigung der orthodoxen Urteile. Tatsächlich präsentieren orthodoxe Christen häufig durch den Bischof ratifizierte staatliche Scheidungsurteile als Nichtigkeitserklärungen, obwohl es sich nicht um Nichtigkeitserklärungen im katholischen Sinn, sondern einfach um Erlaubnisse zur kirchlichen Hochzeit handelt. In Rumänien, Griechenland und anderen Ländern ratifiziert der orthodoxe Bischof praktisch das Scheidungsur43

Vgl. Jan Hendriks, Matrimonii forma extraordinaria (c. 1116), in: PerRCan 84 (1995), S. 700. 44 „Utrum grave incommodum, de quo in canone 1098, sit tantum illud quod immineat parocho vel Ordinario vel sacerdoti delegato qui matrimonio assistant, an etiam illud quod immineat utrique vel alterutri matrimonium contrahenti. R. Negative ad primam partem, affirmative ad secundam.“ Pontificia Commissio ad Codicis Canones authentice interpretandos, „Responsum“ vom 3. 5. 1945, in: AAS 37 (1945), S. 149.

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teil des Zivilgerichts. Solche nur scheinbaren Nichtigkeitserklärungen können von der katholischen Kirche nicht rezipiert werden. Ein orthodoxes Urteil könnte wegen der zahlreichen unklaren rechtlichen und theologischen Fragen grundsätzlich überhaupt nur im Fall der Nichtigkeit wegen gänzlichen Fehlens der kanonischen Form („defectus ritus sacri“) anerkannt werden, sofern man die Möglichkeit einer Noteheschließung ausschließen kann, weil in diesem Fall die standesamtliche Ehe Orthodoxer aus katholischer Sicht gültig würde45. Nur dann wäre ein vom Gericht der zuständigen orthodoxen Autorität ausgesprochenes Urteil gültig, sofern es sich nicht um ein Scheidungsurteil oder eine Trauerlaubnis, sondern tatsächlich um ein Nichtigkeitsurteil handelt. Sonst könnte es als öffentliche Urkunde im Eheprozess verwendet und der Beweiswürdigung der katholischen Richter in zwei Instanzen unterworfen werden. Dies ist der Fall bei der rein standesamtlichen Heirat von zwei Orthodoxen. Viele autokephale Kirchen bestätigen einfach zivile Scheidungsurteile. Es fehlt jedoch nicht an orthodoxen Bischöfen, die ihrer Besorgnis Ausdruck verleihen und wünschen, zur Praxis des ersten Jahrtausends zurückzukehren, als die Scheidung nur im Rahmen der „oikonomia“ geduldet wurde46. In diesem Fall löst die Kirche die Ehe nicht, sondern nimmt die Tatsache zur Kenntnis, dass die Ehe als Lebensgemeinschaft durch die Sünde zerbrochen werden kann. Eine zweite und dritte nicht mehr sakramentale Eheschließung wird toleriert und schließt die Partner nicht vom Sakramentenempfang aus. Tatsächlich sind grundsätzlich dem katholischen Nichtigkeitsurteil vergleichbare Urteile orthodoxer Kirchen äußerst selten47, da sie in der Praxis einfach aufgrund des Prinzips der „oikonomia“ eine neue Eheschließung erlauben und dabei gegen das Prinzip der Unauflöslichkeit verstoßen. Es gibt in den orthodoxen Kirchen nämlich keinen dem der katholischen Kirche vergleichbaren geregelten Nichtigkeitsprozess. Der Bischof wird über die Umstände der Scheidung informiert, um zu sehen, ob Scheidungsgründe vorliegen. Es folgt eine Entscheidung mit einfacher Erlaubnis, wieder zu heiraten. Entscheidend ist Wille des Bischofs. Über die von diesem erklärte Scheidung wird der Pfarrer informiert, der das „Decree of Ecclesiastical Divorce“ den Partnern notifiziert.

45

Vgl. Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, „Adnotatio“ vom 13. 5. 2003, circa validitatem matrimoniorum civilium quae in Cazastania sub communistarum regimine celebrata sunt, Vatikanstadt, in: Communicationes 35 (2003), S. 210. 46

Vgl. Josef Prader, Il matrimonio in Oriente e Occidente (= Kanonika I), Rom 2003, S. 37 f. 47

Beispiele für den griechisch-orthodoxen Scheidungsprozess finden sich in: Patrick Viscuso, Divorce in the Greek Orthodox Archdiocese of North and South America, in: Jurist 50 (1990), S. 322 – 341.

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Diese müssen das „Receipt of Divorce Paper“ unterschreiben, welches in der Pfarrei verbleibt48. Sollte allerdings eine orthodoxe Kirche ein wirkliches Nichtigkeitsurteil, welches dem göttlichen Recht nicht widerspricht, erlassen haben, so könnte die katholische Kirche eine solche Entscheidung auf der Grundlage des c. 781 CCEO und des Art. 4 § 1 der Instruktion Dignitas Connubii anerkennen, welche ihren Ursprung im Konzilsdekret Unitatis Redintegratio n. 16 haben. Echte Nichtigkeitsurteile erlässt nur die griechisch-orthodoxe Kirche im Libanon. Tatsächlich unterscheiden die Personalstatuten der griechisch-orthodoxen Kirche im Libanon klar zwischen der „annulation du mariage“ (vgl. Art. 67), der „resiliation du mariage“ (vgl. Art. 68) und der Scheidung (vgl. Art. 69 – 77)49. Die Anerkennung eines orthodoxen Nichtigkeitsurteils könnte nur im Einzelfall und nach sorgfältiger Prüfung, dass keine Norm göttlichen Rechts verletzt wurde, rezipiert werden. Diese Vorgangsweise könnte analog zu jener sein, welche bei den Berufungsgerichten für die Bestätigung eines Urteils durch Dekret oder für seine Zulassung zur ordentlichen Prüfung verwendet wird (vgl. c. 1683 CIC; c. 1368 CCEO), doch müsste das katholische Gericht in erster Instanz handeln. 2. Die Dispens vom Nichtigkeitsprozess durch den Apostolischen Stuhl Nicht gewährt wird eine Dispens vom Gerichtsverfahren zur Feststellung der Nichtigkeit lediglich standesamtlich geschlossener Ehen Orthodoxer. Obwohl vereinzelt Ansuchen katholischer Bischöfe vorgelegt worden sind, hat der Apostolische Stuhl dies niemals getan50. Denkbar wäre jedoch eine Kompetenzerweiterung, wenn ein örtliches Gericht aus irgendeinem Grund zur Prozessführung nicht in der Lage wäre51. Der Grund liegt darin, dass der Apostolische Stuhl in einem Fall von so großer Bedeutung wie der Gültigkeit oder Ungültigkeit eines Sakraments nur bei schwerwiegendem Grund gemäß c. 86 und 87 § 1 von einzelnen Verfahrensge-

48

Vgl. Viscuso, Divorce (Anm. 47), S. 325.

49

Vgl. Statut Personnel. Textes en vigueur au Liban. Hrsg. v. Maher Mahmassani / Ibtissam Messarra, Beyrouth 1970, S. 640 – 646. 50 Vgl. Apostolische Signatur, Dekret vom 7. 1. 1991, 22343/90 VT (unveröffentlicht). 51

Vgl. Apostolische Signatur, Brief vom 30. 7. 2001, Prot. N. 32637/00 VT (unveröffentlicht).

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setzen dispensiert, vorausgesetzt, dass die Gewährung der Dispens nicht die Gültigkeit der Akte betrifft. Viele Schwierigkeiten können bereits nach den geltenden Prozessnormen gelöst werden, etwa durch Rechtshilfeansuchen, wenn die Partner in zwei verschiedenen Ländern leben. Ebenso wenig wird eine Durchführung des Verfahrens durch die Weigerung der nichtklagenden Partei am Verfahren teilzunehmen oder durch ihren unbekannten Wohnsitz verhindert. Eine vollständige Dispens von jeglichem Gerichtsverfahren würde einen gefährlichen Präzedenzfall darstellen und von einem Verfahren befreien, welches im konkreten Fall auch dem Schutz des göttlichen Rechts dient. 3. Die Erklärung des Ledigenstandes im Verwaltungsweg Die Erklärung des Ledigenstandes auf dem Verwaltungsweg gemäß c. 1066 – 1067 CIC bzw. bei geplanter Eheschließung mit orientalisch-katholischem Partner c. 784 – 785 CCEO reicht für rein standesamtlich getraute Orthodoxe nicht aus. Die Antwort der Kodexkommission von 1984 ist nicht auf orthodoxe Ehen anwendbar, obwohl manche dies behaupten52. Es bedarf eines ordentlichen Nichtigkeitsprozesses, obwohl c. 781 n. 2° CCEO ausdrücklich die Ungültigkeit einer von einem oder zwei Orthodoxen ohne priesterlichen Segen geschlossenen Ehe festlegte. Nach wie vor ist die Antwort der Apostolischen Signatur an den Erzbischof von Mainz vom 10. Mai 197653 anzuwenden, welche in einer Antwort des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte für Kasachstan vom 13. Mai 2003 inhaltlich wiederholt wurde54. Es bedarf eines ordentlichen Nichtigkeitsprozesses in zwei Instanzen, um eine von Orthodoxen rein standesamtlich oder vor einem protestantischen Pastor geschlossene Ehe für nichtig zu erklären. Ein Dokumentenverfahren ist möglich, sofern die in c. 1686 CIC55 (vgl. Art. 295 der Instruktion Dignitas Connubii) und in c. 1372 CCEO genannten Voraussetzungen gegeben sind und sich die Hypothese der Noteheschließung oder einer späteren kirchlichen Heirat ausschließen lässt.

52

Vgl. Pontificia Commissio Codici Iuris Canonici authentice interpretando, „Responsum“ vom 11. 7. 1984, in: AAS 76 (1984), S. 747. 53

Apostolische Signatur, Brief vom 10. Mai 1976 an den Erzbischof von Mainz, in: Ochoa, Leges V, Nr. 4449, Sp. 7206. 54 Vgl. Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, „Adnotatio“ vom 13. 5. 2003 (Anm. 14), S. 210. 55

Vgl. Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Instruktion „Dignitas Connubii“ (Anm. 21), Art. 295.

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VI. Anwendbare Verfahrensarten 1. Die Vorfrage nach der Gültigkeit der Taufe Eine praktische Schwierigkeit für die Nichtigkeitserklärung der von Orthodoxen geschlossenen Zivilehe besteht im Nachweis der Taufe. Der Klageschrift müssen deshalb die Taufscheine der beiden geschiedenen orthodoxen Partner, der standesamtliche Trauschein sowie eventuell weitere Dokumente beigefügt werden, aus denen hervorgeht, dass die Partner an die orthodoxe Eheschließungsform gebunden waren. Denn häufig existierten in den kommunistischen Ländern des ehemaligen Ostblocks keine Archive oder sie wurden unvollständig geführt. Während an der Gültigkeit der von den orthodoxen Kirchen gespendeten Taufe katholischerseits keinerlei Zweifel bestehen, bleibt doch manchmal die Frage offen, ob beide Partner getauft sind. Nicht immer gelingt es, dies durch ein authentisches Dokument nachzuweisen56. Zwar gehört die Führung pfarrlicher Bücher über die Sakramentenspendung und den Personenstatus auch bei den orthodoxen Kirchen seit langem zur Tradition, doch wurde sie während der kommunistischen Verfolgung unterbrochen, weshalb der Personenstand katholischer und orthodoxer Gläubiger nicht immer durch Dokumente festgestellt werden kann57. Es kommt auch vor, dass orthodoxe Priester sich weigern, irgendwelche Dokumente oder Bestätigungen an die katholische Kirche weiterzuleiten, sofern die Partner sie nicht bereits besitzen. Fehlt der orthodoxe Taufschein, so ist c. 876 CIC bzw. 691 CCEO zum Nachweis der Taufe anzuwenden, bevor die Nichtigkeit der Ehe wegen Formmangels erklärt werden kann. Beide Kanones binden orthodoxe Gläubige als rein kirchliches Recht nicht, doch enthalten sie sinnvolle Erfahrungsregeln58. Die geltenden Normen der katholischen Kirche sind in Bezug auf die Prüfung der Gültigkeit der außerhalb der katholischen Kirche erfolgten Taufe anzuwenden. Notfalls genügt der Eid des Partners selbst, sofern seine Darlegung der Taufe als glaubwürdig erscheint. Liegt ein unlösbarer positiver und wahrscheinlicher Zweifel an der Gültigkeit der Ehe oder der Auflösung der nicht sakramentalen Ehe vor und hängt dieser von der Gültigkeit der Taufe ab, so ist die Frage der Glaubenskongregation vorzulegen.

56

Vgl. Päpstlicher Rat für die Einheit der Christen, Direktorium für die Anwendung von Prinzipien und Normen in der Ökumene vom 25. März 1993, Nr. 99. 57 58

Vgl. Motiuk, Catholic and orthodox issues (Anm. 36), S. 219.

Vgl. Klaus Lüdicke, c. 876, in: MK CIC; Arturo Alonso Lobo, Comentarios al Código de Derecho canónico, Bd. II, Madrid 1963, S. 154 f.; Antonio Mostaza Rodríguez, Bautismo, in: Nuevo derecho parroquial, Madrid 1988, S. 147.

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Bei fehlender Taufe kann bei der Glaubenskongregation die Lösung des Ehebandes zugunsten des Glaubens beantragt werden. 2. Der ordentliche Nichtigkeitsprozess Die katholische Kirche übt ihre Kompetenz für die Ehe aller Getauften gemäß c. 1671 CIC bzw. 1357 CCEO aus, wenn an der Ehe ein Katholik beteiligt ist oder ein Nichtkatholik die Eheschließung mit einem katholischen Partner plant. Die Rechtsprechung durch katholische Gerichte garantiert, dass die Erfordernisse des natürlichen und des göttlichen Rechts berücksichtigt werden59. Der kirchliche Richter muss in diesem Fall nach den kanonischen Vorschriften vorgehen, da die Prüfung des Ledigenstandes im Verwaltungsweg nicht genügt. Die Apostolische Signatur erklärte dazu: „Ecclesia Catholica iurisdictione gaudet ad videndum de nullitate, vel minus, matrimonii inter non catholicos contracti, si unus eorum cum parte catholica novum inire matrimonium intendit. In casu, adhibendus est processus iudicialis ad normam cann. 1671 – 1691“.60 Diese Antwort erging für den Einzelfall und gibt die herrschende Lehre wider. Durch die Konkretheit unterscheidet sie sich von den authentischen Interpretationen des Päpstlichen Rats für die Gesetzestexte durch Verwaltungsakt gemäß c. 16 § 3. Das Prozessrecht des CIC erkennt die Aktivlegitimation von Nichtkatholiken an (c. 1476). Der Partner, der über das vorgeschriebene Interesse „ad rem“ (c. 1501) verfügt, wendet sich an ein katholisches Gericht, wenn er eine neue Ehe mit einem katholischen Partner kirchlich eingehen möchte. Für die Nichtigerklärung einer Ehe in der rein standesamtlich geschlossenen Ehe Orthodoxer ist das katholische, lateinische oder orientalische Gericht des Wohnsitzes der nichtklagenden Partei zuständig. Befindet sich am Wohnsitz oder am Quasi-Wohnsitz der nichtklagenden Partei ein katholischer Hierarch gleichen Ritus, so ist dieser exklusiv zuständig. Sollte sich ihr Wohnsitz nicht im Territorium eines katholischen Hierarchen desselben Ritus befinden, sondern eines lateinischer Ordinarius, so ist dessen Gericht zuständig. Sollten sich im Gebiet mehrere katholische Hierarchen befinden, so ist jenes Gericht zuständig, das vom Apostolischen Stuhl bezeichnet wurde61. Kann der Wohnsitz des nichtklagen-

59

Vgl. Miguel Angel Ortiz, Note circa la giurisdizione della Chiesa sul matrimonio degli acattolici, in: IE 6 (1994), S. 372. 60 Apostolischen Signatur, Erklärung vom 28. Mai 1993 (Prot. N. 23805/92 VT), in: IE 6 (1994), S. 366. 61

Vgl. Eduardo Baura, La funzione di vigilanza sulla retta amministrazione della giustizia, in: IE 6 (1994), S. 354.

Zur Beurteilung der Zivilehe von Orthodoxen

907

den Partners trotz intensiver Suche nicht gefunden werden, so kann die Klage beim Gericht des Klägers eingebracht werden62. Nach Prader sind die lateinischen Gerichte zuständig, um die Erfüllung der Bedingungen zu überprüfen, welche für die außerordentliche Form der Eheschließung erforderlich sind, während es Aufgabe der orientalisch-katholischen Gerichte ist, die Fälle nach den Normen der orthodoxen Kirchen zu untersuchen63. Die Apostolische Signatur erklärte in einem Schreiben vom 10. Mai 1976, dass der Dokumentenprozess angewandt werden kann, wenn ohne Zweifel feststeht, dass der priesterliche Segen fehlte. Mit gleicher Gewissheit muss allerdings feststehen, dass kein Priester gefunden werden konnte. Meist, so das Schreiben der Signatur, seien die Fälle allerdings komplexer, so dass ordentlicher Prozess geführt werden müsse. 3. Das Dokumentenverfahren Obwohl das Dokumentenverfahren64 auf den ersten Blick ein Verwaltungsverfahren zu sein scheint, handelt es sich in der Tat um einen gerichtlichen Prozess, der mit einem Urteil endet65. Das Dokumentenverfahren beginnt mit der Vorlage der Klageschrift, welche den Normen von cc. 1501 – 1506 CIC (vgl. Art. 114 – 117)66 entsprechen muss. Ihr wird ein Dokument beigelegt, welches die Grundlage für die Anwendung des Dokumentenverfahrens bildet. Der Offizial oder der von ihm delegierte Richter muss abwägen, ob das Dokument den in c. 1686 (vgl. Art. 29567) genannten Voraussetzungen entspricht und die Annahme der Klageschrift dekretieren68.

62

Vgl. Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Instruktion „Dignitas Connubii“ (Anm. 21), Art. 13 § 6. 63

Vgl. Josef Prader, Differenze fra il diritto matrimoniale del codice latino e quello del codice orientale che influiscono sulla validità del matrimonio, in: IE 5 (1993), S. 490 f. 64 Vgl. Nikolaus Schöch, Il processo documentale e la procedura per la dichiarazione amministrativa dell’«attentato matrimonio», in: La nullità del matrimonio: temi processuali e sostantivi in occasione della «Dignitas Connubii» (= Subsidia canonica). Hrsg. v. Héctor Franceschi / Joaquín Llobell / Miguel A. Ortiz, Rom 2005, S. 269 – 298. 65

Vgl. Carmelo De Diego Lora, Commento al can. 1688, in: Código de Derecho Canónico, ed. anotada. Hrsg. v. Pedro Lombardia / Juan Ignacio Arrieta, Pamplona 1983, S. 1041. 66 67

Vgl. Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Instruktion „Dignitas Connubii“ (Anm. 21).

Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Instruktion „Dignitas Connubii“ (Anm. 21), Art. 295: „Recepta petitione ad normam artt. 114 – 117 proposita, Vicarius iudicialis vel iudex ab ipso designatus potest, praetermissis sollemnitatibus ordinarii processu sed

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Nikolaus Schöch

Ein besonderes Problem stellt im Dokumentenverfahren der Beweis so genannter „negativer Tatsachen“ dar. Eine negative Tatsache, die nachzuweisen ist, wäre z. B. das Fehlen einer kirchlichen Trauung im Anschluss an die standesamtliche. Die negative Tatsache geht gewöhnlich aus der vorgelegten Urkunde nicht hervor, sondern kann nur durch die positive gegenteilige Tatsache bewiesen werden, welche sie ausschließt. Und genau die Abwesenheit einer anschließenden kirchlichen Trauung, einer einfachen Gültigmachung und einer Sanation verlangt über das Haupt-Dokument hinaus andere Urkunden, welche das gewährte Reskript oder die stattgefundene Eheschließung nachweisen. Das größte Risiko wäre eine anschließende kirchliche Eheschließung. Eine Konvalidation oder Sanation könnte nur durch einen katholischen Bischof erfolgt sein, doch ist die Wahrscheinlichkeit so gering, dass sie ohne weitere Beweise ausgeschlossen werden kann. Der Ausschluss einer nach der standesamtlichen Trauung erfolgten kirchlichen Trauung kann am ehesten durch ein Schreiben des orthodoxen Pfarrers oder des orthodoxen Bischofs aus der Heimat geschehen. Eine Dispens von der kirchlichen Eheschließung, welche von einer Teilnahme des Priesters vollkommen absieht, wird von orthodoxen Bischöfen nicht gewährt, weshalb auch diese Alternative ausscheidet. Die Ladung des nichtklagenden Partners ist erforderlich. Er kann Bemerkungen und Einwände zum Dokument und über die Tatsache einer eventuell später erfolgten kirchlichen Eheschließung äußern. Dasselbe gilt für den Ehebandverteidiger69. Um Gegenstand von Widerspruch oder Einreden sein zu können, muss der nichtklagenden Partei und dem Bandverteidiger zusammen mit der Ladung nicht nur eine Kopie der Klageschrift, sondern auch der Urkunde, welche dem Verfahren zugrunde liegt, zugesandt oder ihm zumindest Einsicht gewährt werden70. Sollte der befasste Einzelrichter die Einwände oder

citatis partibus et cum interventu defensoris vinculi, matrimonii nullitatem sententia declarare, si ex documento, quod nulli contradictioni vel exceptioni sit obnoxium, certo constet de exsistentia impedimenti dirimentis vel de defectu legitimae formae, dummodo pari certitudine pateat dispensationem datam non esse, aut de defectu validi mandati procuratoris“. 68

Vgl. Päpstlicher Rat für die Gesetzestexte, Instruktion „Dignitas Connubii“ (Anm. 21), Art. 296, § 2; Santiago Panizo Orallo, El proceso documental en supuestos de defecto de forma, in: IC 37 (1997), S. 179. 69

Vgl. Mateo Martínez Cavero, En torno al proceso documental, in: REDC 41 (1985), S. 445. 70

Vgl. Gerhard Fahrnberger, Das Verfahren aufgrund von Urkunden im neuen kirchlichen Gesetzbuch, in: Iustus Iudex: Festgabe für Paul Wesemann zum 75. Geburtstag von seinen Freunden und Schülern. Hrsg. v. Klaus Lüdicke / Heinrich Mussinghoff / Hugo Schwendenwein (= MK CIC. Beihefte 5), Essen 1990, S. 447; Martínez

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Einreden für so bedeutsam halten, dass sie zumindest die Eignung des Dokuments für das Verfahren in Zweifel stellen oder der Verdacht auftritt, im Anschluss an die standesamtliche Trauung hätte auch noch eine kirchliche Trauung stattgefunden, dann muss er den Übergang zum ordentlichen Verfahren durch Dekret anordnen71. Es ist dann Aufgabe des Offizials in der Folge den Einzelrichter durch ein Richterkollegium für das ordentliche Verfahren gemäß c. 1425 § 1 zu ersetzen. Es kann ein Minimum weiterer Beweise mit dem ausschließlichen Ziel eingeholt werden, die zugrunde liegende Urkunde und deren Beweiswert weiter zu bekräftigen oder um etwa eine nach der standesamtlichen noch erfolgte kirchlich orthodoxe Eheschließung auszuschließen. Dies geht bereits aus der authentischen Interpretation vom 16. Juni 1931 und der Anwendung des c. 1990 des CIC/191772 hervor. Fehlt der eindeutige Dokumentenbeweis in den Fällen des Ehehindernisses und in den Fällen des Mangels des „ritus sacer“, muss zum ordentlichen Verfahren übergegangen werden73. Die Durchführung von Parteien- und Zeugeneinvernahmen, die Einholung von Urkunden, welche sich nicht direkt auf das zugrunde liegende Dokument beziehen, oder von kalligraphischen Gutachten steht nicht nur im Gegensatz zum Dokumentenverfahren, sondern verletzt auch ernsthaft das Verteidigungsrecht der Parteien. In diesem Verfahren fallen nämlich die Aktenveröffentlichung und der Austausch der Schriftsätze fort. Die Gewissheit, die in Bezug auf das Fehlen der Eheschließungsform sowie der Umstände, welche zur Gültigkeit der standesamtlichen Eheschließung als Noteheschließung erforderlich ist, entspricht jener, die im ordentlichen Verfahren verlangt wird: die moralische Gewissheit (c. 1608, Art. 247). Diese geht im Urkundenverfahren aus einer Urkunde hervor, welche durch keinen ernsthaften Einwand in Zweifel gestellt werden kann74. Die moralische Gewissheit darf nicht erst aus den übrigen Beweisen resultieren, die eventuell noch zusätzlich zur Bekräftigung oder zum Ausschluss einer kirchlichen Eheschließung einge-

Cavero, En torno al proceso documental (Anm. 69), S. 440; Panizo Orallo, El proceso documental (Anm. 68), S. 179. 71

Vgl. Panizo Orallo, El proceso documental (Anm. 68), S. 148.

72

Vgl. Pontificia Commissio ad Codicis Canones authentice interpretandos, „Responsum“ vom 16. 6. 1931, in: AAS 23 (1931), S. 353 f.: „Utrum par certitudo, de qua in canone 1990, haberi possit tantum ex certo et authentico documento, an etiam ex alio legitimo modo… Negative ad primam partem, affirmative ad secundam“. 73

Vgl. Klaus Lüdicke, c. 1686, Rdnr. 11, in: MK CIC.

74

Vgl. Martínez Cavero, En torno al proceso documental (Anm. 69), S. 440.

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Nikolaus Schöch

holt werden, da eine Beweiserhebung der Natur des Dokumentenverfahrens widerspricht. Über die Urkunde hinaus noch vorgelegte zusätzliche Beweise dürfen lediglich dem Ausschluss einer späteren kirchlichen Eheschließung bzw. der Umstände für eine Noteheschließung dienen. Der Prozess endet nicht mit einem Dekret, sondern mit einem echten Nichtigkeitsurteil, welches sowohl in der Rechts- als auch Sachlage begründet ist75. Es muss über jene Merkmale verfügen, welche in den cc. 1611, 1612, 1689 festgelegt sind. Der Einzelrichter kann nur für die Nichtigkeit entscheiden und das Urteil kann lediglich affirmativ, nie jedoch negativ ausfallen76. Erlangt der Richter die zur Fällung eines affirmativen Urteils verlangte moralische Gewissheit nicht, so muss er ein nach Art von c. 1617 (vgl. Art. 265 § 4) verfasstes Dekret der Zuweisung zum ordentlichen Verfahren erlassen, welches nicht anfechtbar ist, da es den Ehenichtigkeitsprozess weder verhindert noch beendet (vgl. c. 1629 n. 4). Die Bestimmung der Art des Verfahrens steht dem Richter und nicht den Parteien zu. Da das ordentliche Verfahren, das mit allen Garantien des Verteidigungsrechts versehen ist, keine große Beschwernis darstellt, gibt es dagegen kein Rechtsmittel77. Mit einem einzigen affirmativen Urteil endet das Verfahren, da keine Übersendung der Akten an ein Obergericht von Amts wegen vorgesehen ist (vgl. c. 1682 § 2; Art. 264). Die Parteien und der Bandverteidiger haben gemäß c. 1630 fünfzehn Tage Zeit, um Berufung einzulegen (vgl. Art. 298 § 2; c. 1687 § 2)78. Der Berufungsrichter, dem die Akten nach Einlegung der Berufung zu übersenden sind (vgl. Art. 298 § 2; c. 1687 § 1), kann die Fristen bis zu einem Monat erweitern (vgl. c. 1633). Nach Ablauf der Berufungsfristen gegen das affirmative Urteil, muss der Gerichtsvikar die Benachrichtigung des Ortsordinarius verfügen (vgl. c. 1685)79. Da es sich um ein Gerichtsverfahren handelt, muss auch die Ausführung dekretiert werden, damit die Parteien eine neue Ehe schließen können.

75

Vgl. Fahrnberger, Das Verfahren aufgrund von Urkunden, S. 437.

76

Vgl. Piero Antonio Bonnet, Il processo documentale, in: I procedimenti speciali nel diritto canonico (= Studi giuridici 27), Vatikanstadt 1992, S. 82 f. 77

Vgl. Bonnet, Il processo documentale (Anm. 76), S. 82 f.

78

Vgl. Joaquín Martínez Valls, Commento al can. 1687, in: Código de Derecho canónico bilingue, fuentes y comentarios de todos los canones. Hrsg. v. Antonio BenllochPoveda, Valencia 1993, S. 727. 79

Vgl. Martínez Cavero, En torno al proceso documental (Anm. 69), S. 445.

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911

VII. Schluss Eine Feststellung des Ledigenstandes auf dem Verwaltungsweg, wie er für rein standesamtlich getraute lateinische oder orientalische Katholiken vorgesehen ist, ist auf Ehen unter orthodoxen oder zwischen einem orthodoxen und einem protestantischen Partner nicht anwendbar. Es muss ein ordentliches Nichtigkeitsverfahren geführt werden, wobei auch das kürzere Dokumentenverfahren bei Vorliegen einer entsprechenden authentischen Urkunde gewählt werden kann. Der Hauptgrund dafür besteht darin, dass die standesamtliche Trauung Orthodoxer bei Vorliegen der entsprechenden Umstände als Noteheschließung gültig sein kann. Die Voraussetzungen für solche Noteheschließungen waren unter der kommunistischen Herrschaft in einigen Ländern Osteuropas gegeben. Angesichts des Endes der Verfolgungszeit stellt sich die Frage nach der Möglichkeit, die Feststellung des Ledigenstandes auf dem Verwaltungsweg auch bei rein standesamtlichen Trauungen Orthodoxer anzuwenden, da eine Noteheschließung aufgrund der geänderten politischen Verhältnisse nur mehr die Ausnahme darstellt. Während die Anwendung der orthodoxen Rechtsvorschriften bezüglich der Form der Eheschließung von Orthodoxen mit Ausnahme der Noteheschließung sowohl in der Lehre als auch in der Rechtsprechung seit dem II. Vatikanischen Konzil durchwegs ohne Schwierigkeiten erfolgt, ist die Frage ungelöst, inwieweit die Nichtigkeitserklärung von Ehen durch orthodoxe Bischöfe wegen Formmangels rezipiert werden kann. Das Problem liegt dabei weniger in der Theorie der Leitungsgewalt, die bei orthodoxen Bischöfen außer Zweifel steht, als in der Natur der Entscheidungen, welche mehr einer Erlaubnis zur neuen Eheschließung als einer Nichtigkeitserklärung gleichen. Weiters ist zu berücksichtigen, dass die konkrete Form der orthodoxen Entscheidungen zwischen den einzelnen Kirchen variiert. In der Gegenwart erscheint daher die Zeit noch nicht reif für eine Rezeption orthodoxer Nichtigkeitsurteile wegen Formmangels durch die katholischen Gerichte.

Diözesane Bauämter – Vigilantia für den Denkmalschutz∗ Von Elisabeth Kandler-Mayr Die Bauämter der Diözesen Österreichs haben die Aufgabe, auf Anfrage alle Pfarrämter und kirchlichen Stellen in allen Bauangelegenheiten zu beraten und zu unterstützen sowie für Restaurierungen und Renovierungen an kirchlichen Gebäuden tätig zu werden.1 In Fragen des Denkmalschutzes gilt es dabei, die Regeln des staatlichen Rechts genau so wie die des kirchlichen Rechts zu bedenken. Für kirchliche Einrichtungen sind beide Rechtsbereiche zu berücksichtigen, wobei es nicht nur Übereinstimmungen gibt. In der Tätigkeit der Bauämter geht es um die Berücksichtigung aller einzuhaltenden Rechtsvorschriften, wobei sie oft mit gegensätzlichen Wünschen und Vorgaben konfrontiert sind. Sie müssen auch die daraus entstehenden Schwierigkeiten angemessen regeln, wie eine „Vigilantia“, die für Rechtssicherheit und -richtigkeit tätig ist, als Vermittler zwischen Ansprüchen, die in konkreten Situationen von Betroffenen gestellt werden, und den Ansprüchen, die das Denkmalschutzrecht vorsieht. Der Staat regelt Fragen des Denkmalschutzes für alle, die öffentliche Hand wie Private, auch für die Kirche(n), im Sinne der Erhaltung und Bewahrung der eigenen Geschichte und ihrer wesentlichen Zeugnisse, wie dies als Bestimmung der Grundlage des Denkmalschutzes in § 1 DSG festgeschrieben ist.2 Die röm. kath. Kirche hat eigene Bestimmungen, die in Teilen eine ähnliche Zielsetzung wie der staatliche Schutzgedanke zeigen. De facto steht das staatliche Denkmalschutzrecht auch im Arbeitsbereich der Kirche im Vordergrund, da staatliches Recht eine viel größere Durchsetzungsmöglichkeit hat als das kirchliche Recht, gibt es doch die Möglichkeit zwangsweiser Durchsetzung. Auch die

∗ Referat bei der Tagung der Diözesanen Bauämter Österreichs in der Erzdiözese Salzburg, 7. Oktober 2005, überarbeitet und ergänzt. 1

Vgl. die Aufgabenbeschreibung für das Bauamt der Erzdiözese Salzburg im Errichtungsdekret des Eb. Ordinariates, 17. Jänner 1962, Zl. 92; 3. Bauamt der Erzdiözese Salzburg, VBl 1962, S. 9 f. 2

Denkmalschutzgesetz, Novelle, Bundesgesetz vom 19. August 1999, BGBl I 170/1999.

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unmittelbare Verbindung mit finanziellen Fragen (Steuern, Belastungen, aber auch Vergünstigungen) wirkt ebenfalls stärker und direkter auf die Betroffenen ein. Zu beachten ist das Denkmalschutzgesetz in der Fassung der Novelle von 1999. Die Kirchen in Österreich sind auch in Fragen des Denkmalschutzes an das allgemeine staatliche Recht gebunden. Eine Verpflichtung, es vollkommen übernehmen zu müssen, besteht jedoch aus kirchlicher Sicht nicht. Bestimmungen zum Denkmalschutz müssen so nicht im Sinne von c. 22 CIC als leges canonizatae verstanden werden, da es eigenes kirchliches Recht zu diesen Fragen gibt.3 Aus staatlicher Sicht ist Art. 15 Staatsgrundgesetz4 zu beachten, der allen anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht zugesteht, ihre inneren Angelegenheiten selbständig zu regeln, allerdings auf die Bindung an die allgemeinen Staatsgesetze verweist, wenn es nicht um innere kirchliche Angelegenheiten geht. Kirchen haben auch im Staat das Recht, für ihre Zwecke eigenständig zu arbeiten, Besitz zu erwerben und zu verwalten. Wegen der Schönheit und Kunstfertigkeit, mit der diese Aufgabe durch die Jahrhunderte erfüllt wurde, finden sich jetzt die Kirchen mit einem Bestand an wertvollen und denkmalgeschützten Objekten belastet oder beglückt. Durch die Sorge dafür übernehmen die Kirchen einen sehr wesentlichen Teil der Verpflichtung zur Wahrung der kulturellen Identität eines Landes, und sie befreien durch die Eigenverantwortung Bund bzw. Länder von finanziellen Pflichten zur Erhaltung von Kulturgütern. Sieht man das als Ausgangslage, und erkennt das Interesse sowohl des Staates als auch der Kirchen an der Erhaltung bedeutsamer Objekte als berechtigt an, dann ergibt sich Denkmalschutz als der typische Fall einer gemeinsamen Angelegenheit von Kirche und Staat, die grundsätzlich unter Berücksichtigung der Interessen beider abgehandelt werden muss. I. Kirchliches Recht als Grundlage Die Kirche kann nach ihrem Eigenrecht unabhängig von weltlicher Gewalt Vermögen zur Verwirklichung der ihr eigenen Zwecke erwerben, besitzen, 3 Als lex canonizata im Sinne des c. 22 CIC ist staatliches Arbeitsrecht zu sehen, auf das c. 1286 CIC verweist; das kirchliche Recht entwirft im Arbeitsbereich kein eigenes Recht, sondern verweist auf das jeweilige staatliche Recht. Ähnlich ist die Regelung der gesetzlichen Verwandtschaft zu sehen, die aus einer Adoption entsteht; auch hier erfolgt ein klarer Verweis auf staatliches Recht, die Kirche formuliert kein eigenes Adoptionsrecht (c. 110 CIC). 4

Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, RGBl 142/1867 idF BGBl 684/1988.

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verwalten und veräußern. Zu den eigenen Zwecken gehört die geordnete Durchführung des Gottesdienstes (vgl. c. 1254 §§ 1 und 2 CIC), und dazu bedarf die Kirche der Gebäude und der liturgischen Geräte. Aufgrund der künstlerisch und materiell wertvollen Ausgestaltung sind dies auch meist die Dinge, denen in der Folge Denkmaleigenschaft seitens des Staates zuerkannt wurde. Das kirchliche Recht regelt auch die Verwaltung kirchlichen Vermögens selbst. Bei bedeutsamen Objekten ist das so formuliert, dass die kirchliche Rechtssorge der schonenden Nutzung und Erhaltung von Gebäuden und Gegenständen gilt, und zwar mit Bezug auf ihre Zweckwidmung und den sakralen Wert. Ausschlaggebend ist der Sonderstatus als heiliger Ort oder heiliger Gegenstand, der sich aus der Funktion, der Verwendung, der Zweckbestimmung für das heilige Geschehen ergibt, für den Gottesdienst in jeder Form.5 Kirchen sind nicht nur Bau-Zeugen der Vergangenheit, sondern müssen lebendige Kultstätten der Gegenwart sein und für die Zukunft bleiben. Eigentümer dieser Objekte, zugleich der Denkmäler, ist in der Regel die Pfarrei, zu der ein bestimmtes Objekt gehört, mit dem Pfarrer als Verwalter des Pfarrvermögens, der sie nach außen in allen Rechtsangelegenheiten vertritt.6 Zusätzlich ist der Pfarrkirchenrat zu erwähnen, der laut c. 537 CIC den Pfarrer in Zusammenarbeit mit dem Pfarrgemeinderat bei der kirchlichen Vermögensverwaltung mitverantwortlich unterstützt. Für die Verwaltung gibt es klare Vorgaben: Bei Dingen, die über die Grenzen der ordentlichen Verwaltung hinausgehen, bedarf der Pfarrer einer schriftlichen Vollmacht des Ordinarius (c. 1281 §§ 1 und 2 CIC). Er muss sich für mögliche Pflichtverletzungen verantworten (cc. 1376 f. CIC) und könnte mit einer gerechten Strafe belegt werden. Die Einhaltung der Pflichten wird im Rahmen der Visitation zumindest alle fünf Jahre überprüft (cc. 396 f. CIC). Diese Aufgaben binden auch die Arbeit mit den Denkmälern ein. Der Codex Iuris Canonici 1983 widmet dem Denkmalschutz keinen eigenen Abschnitt, sondern nennt einzelne Regelungen mit denkmalschützerischem Inhalt. Zu berücksichtigen sind jedoch die außerkodikarischen allgemeinen Vorschriften zum Schutz des kirchlichen Kulturgutes, z. B. die Instruktion des Hl. Offiziums über die sakrale Kunst 1952, die Einführung in das römische Messbuch 1969, die dritte Instruktion der Kongregation für den Gottesdienst vom September 1970, das Rundschreiben der Kleruskongregation „De cura patrimonii historico-artistici Ecclesiae“ vom 11. April 1971, das Zirkulare zur 5

Vgl. zu den Heiligen Orten die cc. 1205 – 1243 CIC.

6

Vgl. dazu vor allem die cc. 515 § 3, 532, 1189, 1281 – 1288 und 1283.

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Durchführung der Liturgiekonstitution 1971, die Konstitution Pastor bonus von 1988 (Art. 102 f und 166 und 168), das Missale Romanum von 2002 und verschiedene Rundschreiben zur Führung von Bibliotheken, Inventarisation von Denkmälern und Kunstgütern, aber auch Hinweise zur pastoralen Funktion der Museen.7 Schließlich kann das Partikularrecht auf die Situation jeder Ortskirche entsprechend eingehen.8 Auch die Österreichische Bischofskonferenz hat Normen erstellt, z. B. eine Archivordnung.9 Es gibt also eine Fülle von kirchenrechtlichen Vorschriften, wobei es nicht nur um den Schutz von Gebäuden geht, sondern von Kulturgütern allgemein, z. B. Archiven oder historischen Gartenanlagen, wie sie bei Klöstern zu finden sind. II. Notwendigkeit und Berechtigung einer eigenen kirchlichen Ordnung Der kirchliche Schutzgedanke geht von einem etwas anderen Ansatzpunkt als der Staat aus, nämlich von der Funktion und Zweckwidmung eines Objektes, nicht in erster Linie von der historischen Bedeutung oder dem Wert, wobei im besten Fall die Wirkung die gleiche ist. Die Kirche braucht daher auch eigene Regelungen, weil staatliches Verständnis als Denkmal allein der Funktion der kirchlichen Objekte sicher nicht gerecht werden kann. Zu bedenken ist zudem, dass durch die Novellierung des DSG 1999 die automatische Unterschutzstellung kirchlicher Objekte (nach § 2 DSG 192310) entfällt und durch das System der Listenerstellung bis zum 31. 12. 2009 eine Übergangsphase besteht. Es kann sein, dass in den späteren staatlichen Listen nicht mehr alle kirchlichen Objekte erfasst sind, wie das bisher angenommen wurde, sondern Dinge herausfallen, die z. B. zu oft in ihrem Bestand verändert wurden und daher nicht mehr die Voraussetzungen für eine Unterschutz-Stellung

7 Vgl. dazu ausführlich mit den Fundstellen Elisabeth Kandler-Mayr, Schützen und verwalten. Kirchliche Güter und Denkmalschutz (DiKa Band 19), St. Ottilien 2004, S. 20 – 23. 8 In Salzburg ist hier vor allem die Diözesansynode von 1948 zu erwähnen, dazu weiter unten. Zu Regelungen aus der Diözesangeschichte vgl. Kandler-Mayr, Schützen und verwalten (Anm. 8), S. 95 – 99. 9

ABl der ÖBK 24 (1998), II. Gesetze und Verordnungen, Nr. 1.

10

Denkmalschutzgesetz vom 25. September 1923, BGBl 1923/533, betreffend Beschränkungen in der Verfügung über Gegenstände von geschichtlicher, künstlerischer oder kultureller Bedeutung idF BGBl 1959/92 und BGBl 1978/167.

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erfahren. Nach kirchlichem Verständnis bleibt aber eine zu oft veränderte Kirche immer noch ein locus sacer, der unter Schutz steht. Dieser Schutzgedanke kann nicht aufgegeben werden, wenn der staatliche Schutz entfallen sollte. Die finanziellen Folgen eines Auseinanderklaffens der beiden Sichtweisen sind dabei keineswegs zu unterschätzen.11 Die Kirche muss ihre Güter auf der Grundlage des eigenen Rechts selbst schützen, unabhängig davon, ob staatliches Recht damit übereinstimmt oder nicht. III. Theologische Begründung der Denkmalpflege Auch die theologische Begründung eines Schutzgedankens ist von der Grundfunktion der Objekte her zu erklären: Heilige Orte und Gegenstände sind im christlichen Glauben von Beginn an nicht wie die heidnischen Tempel abgegrenzt vom profanen Umfeld, die von den Gläubigen nicht zu betreten waren, sondern Orte der Versammlung, der Treffen zu Gebet und Opfer. Der Raum ist die Vorbedingung für die Versammlung der Gläubigen, nicht Selbstzweck; die schöne Ausstattung hilft durch den geistigen Gehalt der Kunstwerke, die Verbundenheit über Generationen hinweg aufrecht zu erhalten. Die Ausstattung gibt Geschichte und Leben der Menschen einer bestimmten Region wieder, und soll ein Verweis auf die künftige Herrlichkeit sein. Die Nutzung der Objekte und Gegenstände ist aber doch aus dem Alltag herausgehoben, in der Feierlichkeit der Begegnung mit Gott in der Feier des Gottesdienstes.12 Für den Denkmalschutz aus kirchlicher Sicht gilt, dass die Verbindung zwischen der Funktion und dem historischen, künstlerischen oder Material-Wert ein Objekt so bedeutsam machen kann. Verliert ein Objekt irgendwann seine Funktion, wird es nicht mehr im Rahmen der Liturgie verwendet, kann das ein Problem für den weiteren Erhalt und Schutz darstellen. Aus staatlicher Sicht bleibt der Schutzgedanke dagegen klar bestehen, wenn der Wert und die historische Bedeutung feststehen – die Funktion oder die bestimmungsgemäße Verwendung interessiert nicht in erster Linie. Was für bewegliche Objekte gilt (z. B. Traghimmel, die nicht mehr verwendet werden, oder die Gläser der Hl. Gräber, die jahrzehntelang nicht mehr aufgebaut wurden, und in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt haben), gilt für Gebäude weit stärker, da sie von entscheidender Bedeutung für ein Stadtoder Landschaftsbild sind. 11 Z. B. Änderung des Einheitswerts, Stempelgebühren, Steuersatz; vgl. KandlerMayr, Schützen und verwalten (Anm. 8), S. 118. 12

Vgl. dazu Johannes Neuhardt, Der theologische Ort der Denkmalpflege, maschinschriftlich 1998, 7 Seiten.

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Das staatliche Recht nimmt nur in einem Bereich eine Sonderregelung vor, die auf die bestimmungsgemäße Verwendung Rücksicht nimmt und Änderungen der Umstände akzeptiert: Es geht dabei um die Änderung einer denkmalgeschützten Kirche, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. IV. Abstimmung zwischen dem Anspruch auf Genehmigung der Veränderung und dem nötigen Schutz eines Denkmales Bauämter sind gelegentlich mit der Frage konfrontiert, ob eine Kirche verändert werden kann, sei es als Hauptanliegen oder als Nebenfrage bei der Renovierung und Erhaltung. Das bedeutet immer eine Veränderung eines Denkmales, die laut dem Denkmalschutzgesetz grundsätzlich nicht zulässig ist. Bisher ging es meist darum, eine zu klein gewordene Kirche der größer werdenden Pfarrgemeinde anzupassen, wobei sehr unterschiedliche Lösungen gefunden wurden. Öfter war die Umgestaltung des Altarraumes entsprechend den Liturgiebestimmungen des II. Vatikanischen Konzils nötig. Die letzte Änderung dieser Art ist im Dom zu Salzburg zu finden, 2005 abgeschlossen. In Hinkunft ist auch vorstellbar, dass man zu groß wirkende Kirchen den kleineren Gemeinden anpassen möchte – wobei die räumliche Verkleinerung wahrscheinlich ein größeres ästhetisches und Proportions-Problem ist als die Vergrößerung durch einen Anbau, und eine Bewilligung schwer vorstellbar ist. Grundlage für die nötige Bewilligung einer Veränderung eines Denkmales seitens des Staates ist § 5 DSG. Dieser gibt vor, dass eine Zerstörung und jede Veränderung der Bewilligung bedarf, außer es handelt sich um Maßnahmen bei Gefahr in Verzug. § 5 Absatz 4 bietet eine Sonderregelung für Denkmäler, die dem Gottesdienst gewidmet sind, sowie ihre zugehörigen Nebenobjekte, die einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft und ihren Einrichtungen gehören. Dem Antrag auf Veränderung ist auf jeden Fall so weit stattzugeben, als die Veränderung für die Abhaltung des Gottesdienstes und die Teilnahme der Gläubigen daran nach den zwingenden oder zumindest allgemein angewandten liturgischen Vorschriften der Kirche oder Religionsgesellschaft notwendig ist. Als notwendig gelten jedenfalls alle Vorschriften, ohne deren Beachtung die regelmäßige Abhaltung allgemeiner Gottesdienste nicht gestattet wäre und auch jene Umstände, die den Gläubigen die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst in ausreichendem Maße und in zumutbarer, würdiger Weise ermöglichen. Dazu kommt eine weitere Voraussetzung: Art und Umfang der Notwendigkeit ist auf Verlangen des Bundesdenkmalamtes durch eine von der zuständigen

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Oberbehörde der betreffenden Kirche oder Religionsgesellschaft ausgestellte Bescheinigung nachzuweisen. Dabei ist auch darzulegen, welche Konsequenzen sich daraus ergeben würden, wenn den Veränderungen nicht in der beantragten Weise oder im beantragten Umfang entsprochen würde; auch ist zu allfällig bereits gemachten Gegenvorschlägen des Bundesdenkmalamtes Stellung zu nehmen. Festzuhalten ist also, dass die anerkannten Kirchen oder Religionsgemeinschaften einen Anspruch auf Genehmigung der Veränderung haben, und zwar unter bestimmten Voraussetzungen und in einem bestimmten Rahmen. Ziel der Bestimmung war, dass man nicht Objekte zu reinen Museen werden lassen will, nur weil sie nicht mehr im Sinne ihrer Zweckwidmung genutzt werden können. Der Gesetzestext selbst bietet bereits einige Erläuterungen, was z. B. aus der Sicht des staatlichen Gesetzgebers als „notwendig“ angesehen wird. Leider ist dies aber nicht so klar und eindeutig, wie das für die praktische Anwendung günstig wäre. Der Staat kann ja gar nicht eine Definition für Liturgie finden, die seinem Rechtsdenken fremd ist. Auch wenn im Folgenden nur der Rechtsbereich der röm. kath. Kirche angeführt wird, der entsprechend kodifiziertes Rechts ist, gilt es zu bedenken, dass die Bestimmungen des Denkmalschutzrechts auch für die übrigen anerkannten Kirchen oder Religionsgesellschaften gelten. Dabei gibt es keine einheitliche Terminologie, sind doch so unterschiedliche Konfessionen wie Islam und Buddhismus ebenfalls zu berücksichtigen.13 Vom Staat ist also nicht zu fordern, dass er eine Terminologie erfinden müsste, die allen gerecht wird – das ist wahrscheinlich auch gar nicht möglich. Sehr wohl ist aber zu fordern, dass die Anwendung der staatlichen Begriffe mit den konkreten Adressaten abgestimmt wird, und die Begriffe des jeweils Betroffenen im konkreten Fall berücksichtigt. Hier muss auf das Eigenrecht, sofern vorhanden, in der Auslegung abgestellt werden. Einer entsprechenden Umsetzung stehen einige Missverständnisse, z. B. hinsichtlich der rechtlichen Qualität liturgischer Vorschriften, entgegen. Der im Denkmalschutzgesetz verwendete Begriff „regelmäßiger Gottesdienst“ wird etwa in Kommentaren so erläutert, dass es sich um einen Gottesdienst ohne kirchenrechtliche Ausnahmebewilligung handelt.14 Eine derartige Beschreibung geht jedoch am Wesen des kirchlichen Verständnisses völlig vorbei. Nach Kir-

13

Zu den Vertretungsberechtigten anderer Konfessionen vgl. Karl Anderle, Kirchenrechtliche und staatskirchenrechtliche Aspekte der Novelle zum Denkmalschutzgesetz im Jahre 1978, in ÖAKR 29 (1978) S. 446 – 464. 14

Vgl. Henriette Geuder, Denkmalschutzrecht, Kurzkommentar mit Rechtsprechung, Erläuterungen und wichtigen Annexvorschriften, Wien 2001, S. 34.

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chenrecht sind heilige Orte für den Gottesdienst oder das Begräbnis durch Weihung oder Segnung gemäß den liturgischen Büchern bestimmt (c. 1205 CIC). Es ist nur dann nicht mehr erlaubt, dort Gottesdienst zu halten, wenn heilige Orte durch schwer verletzende und mit Ärgernis für die Gläubigen verbundene Handlungen geschändet werden; die Schändung kann nur durch einen Bußritus wieder aufgehoben werden (c. 1211 CIC). Schließlich verlieren heilige Orte ihre Weihe oder Segnung, wenn sie zu einem großen Teil zerstört wurden, oder durch Entscheidung des Bischofs (im Ausnahmefall) einem profanen Zweck zugeführt wurde (cc. 1212 und 1222 § 1 CIC). Kurz gesagt – mit der Zweckwidmung für den Gottesdienst und der Weihung/Segnung ist ein Gebäude für den Gottesdienst bestimmt, und behält diese Eigenschaft auch, bis es zerstört oder geschändet wird. Die Eigenschaft ist also mit dem Gebäude verbunden, eine besondere Genehmigung für einen Gottesdienst im Einzelfall ist dabei gar nicht mehr vorgesehen. Selbst wenn eine liturgische Feier einmal an einem anderen Ort als in einer Kirche gehalten wird, bezeichnet man dies nicht als Ausnahmegenehmigung, sondern es bedarf einer ausdrücklichen Erlaubnis im Einzelfall, wie dies c. 932 § 1 CIC vorsieht (z. B. Eucharistiefeier in einem anderen Gotteshaus, Taufe in einem Privathaus). Die mögliche Erlaubnis in diesem Sinne bezieht sich darauf, dass an einem anderen Ort als dem eigentlich dafür Vorgesehenen gehandelt werden darf. In der Sicht des Denkmalschutzrechts bezieht es sich aber gerade auf den ohnehin vorgesehenen Ort, unter Berücksichtigung äußerer Umstände, die eine allgemeine Erlaubnis nicht mehr gegeben scheinen lassen. Die Regeln des Codex und die Sichtweise der erwähnten Kommentare sind in dieser Form nicht vereinbar: Bei liturgischem Handeln ist der Begriff der „Ausnahmebewilligung“ nicht anwendbar. In Kommentaren zum Denkmalschutzgesetz wird dieser Begriff wie ein Begriff aus dem Veranstaltungswesen verwendet, doch lässt sich das auf Fragen des Gottesdienstes und die Frage, ob ein Raum – noch – dafür geeignet ist, nicht übertragen. Etwas einfacher scheint der Begriff „allgemein angewandte liturgische Vorschriften“. Ein Problem ergibt sich beim Begriff „liturgische Vorschriften“ daraus, dass man sogar im Bereich der Kirche diese nicht gern als „Recht“ und „Gesetz“ bezeichnete, was die Klarheit für den Staat minderte. Es besteht aber kein Zweifel daran, dass Vorschriften zur Liturgie der Beliebigkeit entzogen sind, vom zuständigen gesamtkirchlichen Gesetzgeber erlassen werden, und allgemeine Geltung für sich beanspruchen. Nicht zutreffend ist auch das gelegentlich geäußerte Argument, dass liturgische Vorschriften keinen Gesetzescharakter hätten, da ihnen keine Sanktionen für den Fall eines Verstoßes dagegen angefügt seien: zum einen ist dies rechtstheoretisch falsch, kennt doch auch staatliches Recht die Möglichkeit der lex imperfecta, zum anderen gibt es

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Strafnormen, die sich auf Verstöße gegen liturgisches Recht beziehen, z. B. hinsichtlich der Zelebration.15 In einigen Kommentaren wollte man eine Gleichsetzung liturgischer Vorschriften mit seelsorglichen Wünschen ausschließen, immer in der an sich ja verständlichen Absicht, nicht wegen irgendwelcher Entwicklungen der Liturgie, die vielleicht von einzelnen entworfen wurde, und auch wieder verworfen werden könnte, zu einschneidenden Änderungen an einem Denkmal verpflichtet zu sein.16 Grundlinie ist, dass die Ausrichtung auf die Teilnahme der Gläubigen am Gottesdienst erfolgt. Die unmittelbare persönliche Teilnahme am Gottesdienst ist Voraussetzung für die Teilnahme daran im liturgischen Sinn, wobei dies würdevoll möglich ist. Nicht besondere Festtage sind das Maß, sondern das Durchschnittliche, was mit dem Begriff „regelmäßig“ seitens des Staates ausgedrückt werden sollte.17 Für die Auslegung der Begriffe sind als Orientierungshilfe entsprechende Veröffentlichungen der Kirche heranziehen, z. B. die Instruktion Redemptionis Sacramentum aus 2004, die von der tätigen Teilnahme der Gläubigen und der rechten Feier der hl. Messe spricht.18 Problematisch für die praktische Anwendung bleibt, dass liturgische Vorschriften zwar die unmittelbare und rechte Teilnahme der Gläubigen am Gottesdienst fordern, allerdings nicht eine dafür notwendige äußere Gestaltung des Raumes vorgeben. Die Schwierigkeit in der Begründung einer Veränderung besteht darin, sich auf eine innere Einstellung zu beziehen, wie sie für die vom inneren Gehalt her recht empfundene tätige Teilnahme nötig wäre, wenn man äußere Änderungen in eine bestimmte Richtung vornehmen will.19

15

Vgl. MP Sacramentorum sanctitatem tutela, über die der Glaubenskongregation vorbehaltenen Straftaten, vom 30.4.2001, in: AAS 93 (2001) S. 737 – 739. 16

Zu verweisen ist hier auch auf die Kommentierung zum DSG alt u. a. bei Karl Anderle und Norbert Helfgott, vor allem der Zeitraum rund um die Novellierungen 1978 und 1999. Vgl. dazu Kandler-Mayr, Schützen und verwalten (Anm. 8), S. 38 f. 17

Vgl. Geuder, Denkmalschutzrecht (Anm. 15), S. 34 und S. 103 f.

18

Vgl. dazu Instructio „Redemptionis Sacramentum“ vom 25. März 2004, als Ergänzung und disziplinäre Konkretisierung zur Enzyklika „Ecclesia de Eucharistia“ vom 17. April 2003; deutsch veröffentlicht durch die Deutschen Bischöfe, abgedruckt z. B. in Abl Fulda 120 (2004) S. 112 – 114; und die Orientierungshilfe dazu, in: Heribert Schmitz, Die Liturgie-Instruktion Redemptionis Sacramentum von 2004 (= AIC 36). Hrsg. von Elmar Güthoff / Karl-Heinz Selge, Frankfurt 2005, Anhang II., S. 45 – 151. 19

Beispiele zeigen, dass die Argumentation in ablehnenden Bescheiden dieser Zielrichtung nicht immer entspricht: Wenn eine Barockkirche aufgrund späterer Umbauten, hier der Einziehung eines zweiten Chorgeschosses, keinen Platz für Orgel und Kirchen-

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Anzusprechen ist auch die Bescheinigung in § 5 (4) DSG, ihre Art und ihr Umfang: Sie bezieht sich auf die eigenen Rechtsvorschriften der jeweiligen Kirche oder Religionsgesellschaft. Es liegt in ihrem Zuständigkeitsbereich, zu definieren, was für sie liturgisch notwendig ist. Für die staatliche Behörde bedeutet dies, dass wohl der Aussteller hinsichtlich seiner Vertretungsbefugnis geprüft werden darf, aber die Berechtigung dessen, was in der Bescheinigung als liturgisch notwendig festgestellt wird, nicht inhaltlich geprüft werden kann in dem Sinn, dass die Bescheinigung als falsch bezeichnet wird. Das Eigenrecht der Kirche muss im Sinne des Art. 15 StGG respektiert werden20, und die verschiedene Terminologie ist zu bedenken. Die Denkmalschutzbehörde ist zudem nicht berechtigt, inhaltlich über Erfordernisse der Liturgie zu entscheiden. Das Gesetz erlaubt ein Nachsetzen, da auch die Bescheinigung nicht unwidersprochen bleiben muss. Geht es allerdings wirklich um den Bereich des liturgisch Notwendigen, dann muss die Bescheinigung des Ortsordinarius das letzte Wort bleiben – ein ständiges Zurückspielen mit Gegenvorstellungen würde den Sinn des Gesetzes verletzen und den Sinn dieser Ausnahmenorm völlig aushöhlen. Bei der Veränderung einer Kirche, die ein sehr wesentlicher Eingriff in ein Denkmal ist, muss immer ein Konsens gesucht werden. Bei allen berechtigten Wünschen und Vorstellungen einer Pfarre darf der Schutzzweck des Denkmalschutzes nicht einfach untergehen. Der Denkmalschutz soll aber auch nicht zu einem Hindernis für das Pfarrleben werden – wenn die „unpraktische Kirche“ aufgegeben wird, dann ist das auf lange Sicht auch für ein Denkmal und seine Erhaltung im Sinne des Staates eine schlechte Lösung.

chor bietet, dann kann die Argumentation bei der Ablehnung einer Veränderung nicht lauten, der Chor solle nur in kleiner Besetzung singen oder nur einfache Werke aufführen, die keine Instrumentalbegleitung bräuchten. Ähnliches gilt für die Ansicht, wenn die Kirche zu klein für die übliche Zahl der Sonntagsgottesdienstbesucher sei, dann müssten mehr Messen nacheinander gefeiert werden – dies entspricht der Einschätzung einer würdevollen Feier der Eucharistie, die ja Kern- und Mittelpunkt des pfarrlichen Lebens und einer echten Gottesdienstgemeinschaft sein soll, keineswegs. 20

Dazu kann angemerkt werden, dass diese Einschränkung dem Grundrecht des Art. 15 StGG nicht unbedingt entspricht, und dass auch abzuwarten bleibt, wie die Neufassung des Grundrechtskatalogs, die derzeit in Schwebe ist, weiter verläuft. Dezidiert falsch ist jedoch die in Kommentaren zur Novellierung wiederholt angeführte Behauptung, die Kirche habe die Relevanz dieser Grundrechtsverletzung nicht erkannt. Zu erklären ist dies auch mit dem Umstand, dass die Stellungnahme der Bischofskonferenz zum Gesetzesentwurf nicht veröffentlicht wurde und daher dieser falsche Eindruck entstehen konnte. Vgl. dazu Kandler-Mayr, Schützen und verwalten (Anm. 8), S. 50 f.

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V. Bauämter als Vermittler – Wegweiser für das Vorgehen Die Praxis zeigt, wie schwierig die Abstimmung und der Ausgleich in diesen Fragen sein können, und macht klar, dass Entscheidungen von einer Stelle mit Übersicht und Leitungsbefugnis gefällt werden sollten, damit nicht in einer Diözese laufend Einzellösungen gesucht werden, die einander widersprechen können. Zur Wahrnehmung dieser Aufgabe wurde 1962 das Bauamt der Erzdiözese Salzburg in der heutigen Form gegründet, um eine Lücke zu schließen, um die vermittelnde Stelle zwischen der Pfarre bzw. dem Pfarrer und dem Pfarrkirchenrat und deren Wünschen einerseits, und den staatlichen Behörden andererseits zu sein. Das Bauamt setzt immer staatliches und kirchliches Recht um und sucht den Ausgleich zwischen kirchlichen Vorstellungen, die den Denkmalschutz betreffen, und den gesetzlichen Vorgaben des staatlichen Denkmalschutzrechts. Das Bauamt kann durch seine Arbeit für gute Lösungen sorgen, den Interessensausgleich fördern und gleichzeitig helfen, unnötige Schritte und auch Verzögerungen zu vermeiden. Wenn jede Pfarre sich neu informieren müsste, sobald im Baubereich etwas geplant wird, dann ist das für ehrenamtliche Gremien, wie es der Pfarrgemeinderat und der Pfarrkirchenrat sind, eine zeitliche und fachliche Überforderung und fast ein Ding der Unmöglichkeit. Bauämter können die Arbeit in den Pfarren wesentlich erleichtern: Sie können einen Wegweiser für Baufragen verschiedener Art formulieren. Darin müsste enthalten sein, was an Formalfragen z. B. bei Änderungsanträgen zu beachten ist, welche Vorgaben aus dem staatlichen Baurecht einzuhalten sind, welche Behörden und Ämter staatlich und kirchlich zuständig und entscheidungsbefugt sind. Sie sollten aber auch Hilfen bieten bei Fragen, was man im Falle von Problemen am besten macht, um schnell und effizient für einen geordneten Ablauf zu sorgen, oder welche Rechtsmittel in welcher Form einzulegen sind, wenn man mit einer Entscheidung nicht einverstanden ist. Was gar im Fall eines Baustopps zu tun ist, soll das Bauamt präzise und rasch beantworten, und der Pfarre entsprechend zu Hilfe kommen. Diese Tätigkeit, und eine Hilfe im Sinne eines Wegweisers für die Praxis, wären dabei kein Instrument der Gängelung, sondern könnte ein Qualitätsmerkmal der Arbeit der Bauämter sein, das im Interesse der Gemeinschaft der Diözese und der betroffenen Pfarre ist. Nicht zu übersehen ist auch, dass der Denkmalschutz in der Praxis als nachrangig gegenüber anderen Schutzbestrebungen gesehen werden kann. So kann die Feuerpolizei21 im Rahmen allgemeiner Sicherungspflichten Einbauten und 21

Z. B. Salzburger Feuerpolizeiordnung 1973, Gesetz vom 11. Juli 1973 über die Verhütung, Bekämpfung und Ermittlung der Ursachen von Bränden, LGBl. Nr. 118/1973 idgF.

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Änderungen vorschreiben, wie etwa für Fluchtwege und Feuerschutz. Diese stellen an sich nachträgliche Veränderungen dar, die den ursprünglichen und unter Schutz stehenden Zustand eines Denkmales verändern. In der Güterabwägung zwischen Denkmalschutz einerseits und Sicherheit für Versammlungen andererseits sind Sicherheitsfragen de facto für die Feuerpolizei vorrangig, und ein Bescheid der Feuerpolizei wird nicht eine Abstimmung mit dem Denkmalschutz enthalten. Auch in der konkreten Abwicklung dieser Problematik ist die Sachkenntnis der Bauämter äußerst wichtig. So sind Bauämter die wichtigste diözesane Informations- und Servicestelle, und der wesentliche Gesprächspartner für das Denkmalamt einerseits, und den Pfarrer und seinen Pfarrgemeinde- bzw. Pfarrkirchenrat andererseits. Zu bedenken ist dabei die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen staatlichen und kirchlichen Ämtern, aber auch die Zuständigkeit der einzelnen Gremien innerhalb der kirchlichen Organisation, und dazu muss die Stellung des Pfarrkirchenrates noch einmal speziell angesprochen werden. Es gilt das allgemeine Recht des CIC, und für den Bereich der Erzdiözese Salzburg die Pfarrkirchenratsordnung 1991 in der Fassung 2002.22 Laut c. 537 CIC ist der Pfarrkirchenrat ein Gremium der Pfarre, das in Zusammenarbeit mit dem Pfarrgemeinderat den Pfarrer bei der kirchlichen Vermögensverwaltung mitverantwortlich unterstützt. In der genannten Ordnung wird die Aufgabe in § 1 ebenso erläutert.23 In Angelegenheiten der Vermögensverwaltung ist der Pfarrkirchenrat der gesetzliche Vertreter der Rechtspersonen Pfarrkirche, Pfarre und allenfalls vorhandener Filialkirchen (§ 2, 1. Satz Ordnung). Von Ladungen zu Prozessen und Verwaltungsverfahren (z. B. Bauver-

22 Vgl. dazu Bruno Primetshofer, Kanonistische Bemerkungen zu den Österreichischen Pfarrgemeinderats- und Pfarrkirchenratsordnungen, in: ÖAKR 42 (1993), S. 156 – 177; weiters Helmuth Pree, Consilium pastorale paroeciale. Anmerkungen zur Struktur pfarrlicher Mitverantwortung, in: Iustitia et Modestia, Festschrift Socha, hrsg. von Peter Boeckholt / Ilona Riedel-Spangenberger, München 1998, S. 75 – 101, Georg May, Das Verhältnis von Pfarrgemeinderat und Pfarrer nach gemeinem Recht und nach Mainzer Diözesanrecht, in: Schriften zum Kirchenrecht und ausgewählte Aufsätze von Georg May, hrsg. von Anna Egler / Wilhelm Rees, Berlin 2003, S. 301 – 320. Aufgaben und Befugnisse des Pfarrkirchenrates werden gleichartig in der neuen Pfarrgemeindeordnung der Erzdiözese Salzburg wiederholt; vgl. Statut und Geschäftsordnung für den Pfarrgemeinderat. Neufassung 2005, VBl. 12/2 (2005), Sonderausgabe, Nr. 48 – 50. 23 Bei Entscheidungen, die rechtsverbindlicher Art sind und in Vertretung der Rechtsperson Pfarre erfolgen (c. 515), fertigt der Pfarrer alleine (c. 532 CIC, § 17 Ordnung). Akte der außerordentlichen Verwaltung bedürfen zur Gültigkeit der Genehmigung der zuständigen bischöflichen Behörden (Eb. Ordinariat oder Eb. Finanzkammer, § 19 Ordnung).

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handlungen) hat der Pfarrkirchenrat die Erzbischöfliche Finanzkammer rechtzeitig vor der Verhandlung zu verständigen (§ 20 Ordnung). Der Pfarrkirchenrat hat den Pfarrgemeinderat zu hören, wenn es um Beschlüsse über die Eingabe eines außerordentlichen Haushaltsplanes über bauliche Maßnahmen geht, welche seelsorglich genutzte Räumlichkeiten betreffen (§ 22 [3] Ordnung). Obwohl diese Formulierungen klar scheinen, gibt es gelegentlich Unklarheiten über ihren Status, nicht zuletzt durch eine nicht genau abgestimmte diözesane Gesetzgebung. Missverständnisse in der Auffassung ihrer Aufgaben und Rechte können etwa bei der Tätigkeit der eb. Kommission für Kunst- und Denkmalpflege entstehen. In der Geschäftsordnung der eb. Kommission für Kunst- und Denkmalpflege24 wird als Aufgabe der Kommission genannt: die Sanierung und Restaurierung aller im kirchlichen Eigentum stehenden mobilen und immobilen Objekte einzuleiten, zu überwachen und zu kollaudieren (Z. 1). Zu der Sitzung (an Ort und Stelle) ist der jeweilige Kirchenrektor einzuladen; dieser kann Mitglieder des Pfarrgemeinderats oder sonstige am Baugeschehen interessierte Personen zuziehen. Diese haben allerdings kein Stimmrecht (Z 6). Der Pfarrkirchenrat, der nach allgemeinem Recht für diese Aufgaben innerhalb einer Pfarre ebenfalls verantwortlich ist, wird nicht einmal genannt, auch wenn der zuständige Kirchenrektor bzw. Pfarrer unter den „am Baugeschehen interessierten Personen“ sicher Mitglieder des Pfarrkirchenrates verstehen wird. Die Regelung über das Stimmrecht in der Sitzung der Kommission für Kunst- und Denkmalpflege darf nicht in dem Sinne falsch verstanden werden, dass der Pfarrkirchenrat bei Bauprojekten nichts mitzureden hätte, weil er ja innerhalb der Pfarre gerade in dieser Frage Verantwortung trägt. Die übrigen rechtlichen Regelungen und Zuständigkeiten werden durch die Geschäftsordnung der Kommission ja nicht einfach außer Kraft gesetzt. VI. Notwendigkeit einer Bauordnung In der Vorbereitung der Tagung der Österreichischen Bauämter wurde auch die Frage angesprochen, ob es sinnvoll ist, die Bauordnung der Erzdiözese Salzburg, die als Anhang III nach der Diözesansynode 194825 veröffentlicht wurde, zu überarbeiten und neu zu fassen, oder ob das gar nicht mehr nötig wäre im Hinblick auf die übrigen geltenden Gesetze. Diese Bauordnung war eine Zusam24 Vgl. Geschäftsordnung, VBl. 68 (1985), S. 113 – 115; Ordnung vom 5. August 1985, Zl. 73. 25

Salzburger Diözesansynode 1948, Anhang III, herausgegeben vom Erzbischöflichen Ordinariat Salzburg, Salzburg 1950.

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menstellung der geltenden staatlichen und kirchlichen Bauvorschriften. Viele ihrer Themen waren zeitbedingt wichtig und durch den Bruch der bisherigen Rechtslage 1939 und eine Übertragung der Erhaltung bzw. Herstellung der kirchlichen Bauwerke in den eigenen Wirkungsbereich der Kirche notwendig geworden. Die einleitenden Allgemeinen Bestimmungen (§§ 1 bis 9) regelten den Geltungsbereich und die Zuständigkeit, die an die Diözesan-Finanzkammer übertragen ist. Ausgenommen bleiben Bauwerke im Eigentum von Stiften und Klöstern sowie inkorporierter Pfarren, wobei die Diözesan-Finanzkammer im Sinne der Pfarrkirchenratsordnung dennoch die Genehmigung des ordentlichen oder außerordentlichen Haushaltsplanes hinsichtlich des Bauaufwandes zu genehmigen hatte. Ausgeführt waren Bestimmungen zur Anlage, zum Inhalt und zur Überprüfung eines Gebäudekatasters, zum Inventarverzeichnis sowie Details zur kirchlichen Visitation einschließlich der jährlichen und der regelmäßigen Bauuntersuchungen. Im 2. Abschnitt folgen allgemeine kirchliche Baubestimmungen. Nach Feststellung der Genehmigungspflicht für die Herstellung an kirchlichen Bauwerken, mit gewissen Grenzen in finanzieller Hinsicht, aber auch auf die Denkmaleigenschaft bezogen, und die Herstellung neuer Gebäude, wird unter Verweis auf die Pfarrkirchenratsordnung die Erhaltung der Bauwerke und der Inventare angesprochen. Herstellung und Erhaltung kirchlicher Bauwerke im Privatbesitz werden ebenso genannt wie die Verpflichtung, alle Kirchen mit Blitzschutzanlagen zu versehen (§§ 10 – 15). Die folgenden §§ 16 – 24 widmen sich der kirchlichen Kunst, unter Verweis auf den Codex und die Pflicht des Bischofs, darauf zu achten, dass die christliche Überlieferung in der Formensprache und in der Kunst eingehalten werde, wobei der Diözesan-Kunstrat für die Durchführung berufen wird. Zu erstellen ist ein Kunstinventar, zitiert werden die kodikarischen Vorschriften über die Instandsetzung und den Verkauf oder die Vernichtung kirchlicher Kunstwerke und Inventarstücke. Das Abschließen von Kirchen und Kapellen zum Schutz vor Diebstählen, sofern notwendig, wird angesprochen, ebenso das Verbot an weltliche Angestellte, Unbekannten Kunstwerke zu zeigen oder auszuhändigen. Was nicht in geeigneter Weise aufbewahrt werden könne, solle dem Diözesan-Depot für kirchliche Gegenstände geschenkt oder zur Aufbewahrung übergeben werden. Auch Gegenstände der religiösen Volkskunst werden genannt und in ihrer Bedeutung für die religiöse Volkskunst gesehen. Photographische Aufnahmen werden zunächst unter dem Gesichtspunkt der kommerziellen Nutzung genannt; erst Abs. 6 des § 23 sieht die Verpflichtung vor, von Kunstwerken, die leicht fortzuschaffen sind, Bilder für den Fall einer Entwendung anzufertigen, die bei der Suche zu nutzen wären. Während sich die §§ 25 und 26 der Umgebung kirchlicher Bauwerke und deren ordentlicher und sauberer Erhaltung widmen, sind die §§ 27 bis 29 auf die

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Hauptschädlinge der kirchlichen Bauwerke gerichtet, z. B. Schwamm und Holzschädlinge. §§ 30 und 31 sehen die Anlage von Baustoffvorräten für die schnelle Behebung von Bauschäden vor. Der 3. Abschnitt ist dem Bau und der Erhaltung der Kirche gewidmet. Nach kodikarischer Definition von Kirche und Oratorium wird betont, dass eine Errichtung einer Kirche nur mit besonderer schriftlicher Genehmigung des Diözesanbischofs gestattet ist, wobei bereits die notwendigen Mittel nachgewiesen sein müssen. Im Folgenden werden organisatorische bzw. aus der kirchlichen Baukunst abgeleitete Themen wie die Lage des Bauplatzes, die Größe der geplanten Kirche und die Ausrichtung nach Osten ausgeführt, aber auch Sicherheitsbestimmungen wie z. B. die Maße der Türen, die je nach Fassungsvermögen des Raumes zu berechnen sind, und Aufgangsstiegen, die auch im Fall einer Panik größte Sicherheit gewähren. Zur Planung von Altar, Tabernakel, Beichtstühlen, Taufstein und Weihwasserbehälter finden sich Regeln, die der Würde der sakramentalen Nutzung gerecht werden sollen. Zu Kirchensitzen und ihren Maßen, Kirchenfenstern, Sakristei, Sakrarium und Missionskreuz finden sich ebenso Regeln wie zu den nötigen Aufgängen und Geländern im Kirchenturm, zudem zur Turmuhr und zu den elektrischen Anlagen in der Kirche. Etwas unvermittelt nennt § 48 dann die Exsekrierung der Kirche und den möglichen Abbruch des Gebäudes (vgl. §§ 32 – 48). Die Pflege der Kirche, die einen guten Zustand gewährleisten soll, ist dem Kirchenrektor ans Herz gelegt, wobei sich auch Vorschriften über das Reinhalten und Lüften der Kirche finden (§§ 49 – 51). Der Kirchenorgel und ihrer Pflege ist ein eigener Abschnitt gewidmet (§§ 52 – 54), ebenso den Glocken (§§ 55 – 58). Der 4. Abschnitt ist dem Bau und der Erhaltung der Pfründenbauwerke gewidmet, den Wohn- und Amtsräumen des Pfarrers. Meliorationen und deren Tilgung müssen entsprechend verzeichnet werden, wobei als mögliche Verbesserungen Warmwasserspeicher und Badewannen, elektrische Lichtanlagen, Kanalisierungen, aber auch Hühnerhäuser genannt werden. Zäune und Hecken werden angesprochen, dazu auch die Versorgung der Bauwerke mit Trink- und Nutzwasser. Ein Pfründeninventar muss alle Gegenstände erfassen, zeitgemäße Erneuerungen werden ebenfalls angesprochen (§§ 59 – 68). Wie vor allem die Pfründenkommission bei einem Wechsel vorzugehen hatte, regelten die §§ 69 bis 76. Im 5. Abschnitt wird die kirchliche Baulast behandelt, die mit Ausnahme von besonderen Rechtsverpflichtungen (z. B. aus Stiftung oder Vertrag) die Regel ist. Kirchenbauvereine müssten nach kirchlichem und staatlichem Vereinsrecht errichtet sein. Zur Baulast gehört auch die Regelung der nötigen Versicherungen, nämlich zwingend gegen Brandschaden und empfohlen gegen Einbruch, ebenso dringend empfohlen die Haftpflichtversicherung. Genau unterschieden wird hinsichtlich der Baulast für die Domkirche, für Pfarrkirchen und für andere Kirchen oder Kapellen und Bauwerke, die allgemeinen Diöze-

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sanzwecken dienen, sowie Pfründenbauwerke und die Erhaltung der Amtsräume. Jedes Pfarramt ist zur Führung eines Reparaturenbuches verpflichtet, in dem alle Auslagen des Kirchenvermögens für die Erhaltung kirchlicher Bauwerke anzuführen sind und auf Rechnungsbelege, die der Kirchenrechnung beizuschließen sind, zu verweisen ist (§§ 78 – 97). Auch Bestandsverträge und deren Genehmigung regelt die Ordnung (§§ 98 – 101). Der 6. Abschnitt ist den Verfahren bei der Bauherstellung gewidmet, wobei mit den Sondersituationen begonnen wird, z. B. während Sedisvakanz oder Umpfarrung und bei Gefahr im Verzug. Dem Pfarrkirchenrat kommt in jedem Fall eine wichtige Rolle zu, da er über Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit eine Stellungnahme abzugeben hat und auch einen Vorschlag über die Kostendeckung erstellt. Sind Objekte betroffen, die dem Denkmalschutz unterliegen, ist der Diözesan-Bau- und Kunstrat einzubeziehen, wobei kein klarer Verweis auf das Denkmalschutzrecht enthalten ist. Sind Orgel oder Glocken betroffen, so muss die Diözesan-Kommission für Kirchenmusik einbezogen werden (§§ 102 – 109). Die Tätigkeit der kirchlichen Baukommission ist ausgeführt, ebenso erfolgt ein klarer Verweis auf die notwendigen Baupolizeilichen Bewilligungen nach dem Landesrecht von Salzburg bzw. Tirol (§§ 110 – 122). Die Veranstaltung von Wettbewerben für Bauentwürfe und der Vorentwurf von Bauplänen stehen am Beginn des Abschnittes über die Ausarbeitung von Entwürfen und leiten über zu Vorschriften über die Durchführung der Bauherstellung, inklusive der Einholung von Kostenvoranschlägen, der Bestellung eines Bauleiters und schließlich zu Bauabnahme und Bauabrechnung (§§ 123 – 138). Der 7. Abschnitt ist dem konfessionellen Friedhof gewidmet, wobei auch die künstlerische Gestaltung und die technischen Einrichtungen auf Friedhöfen angeführt sind und die Pflicht zur Erhaltung geschichtlich oder künstlerisch wertvoller Friedhöfe und Grabmäler genannt wird (§§ 139 – 173).26 Der kurze 8. Abschnitt besteht aus Schlussbestimmungen, z. B. der Zuweisung des Entscheidungsrechts bei allen Zweifeln und Schwierigkeiten an das Ordinariat und der Möglichkeit für die Finanzkammer, zu einzelnen Abschnitten der Bauordnung nach Zweckmäßigkeit entsprechende Durchführungsbestimmungen zu erlassen. Die Bauordnung trat mit 1. Jänner 1951 in Kraft (§§ 174 – 177).

26

Durch diese Vorschriften sind hauptsächlich Gestaltungsfragen geregelt, während die Regelung der Nutzung des Friedhofes in der Friedhofsordnung für die kirchlichen Friedhöfe der Erzdiözese Salzburg geregelt war, die als Anhang IV veröffentlicht wurde. Vgl. auch Peter Paul Kahr, Das kirchliche Friedhofs- und Begräbnisrecht unter besonderer Berücksichtigung der Salzburger Verhältnisse, Diplomarbeit (maschinschriftlich), Salzburg 1986.

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Die Bauordnung war somit eine umfassende und sehr detaillierte Zusammenstellung, wobei die Regelungen, die zum Denkmalschutz gehören, eine gut anzuwendende Zusammenfassung und kirchliche Ordnung waren. Einzelne Bestimmungen sind jedoch heute einfach überholt – Holzwürmer in Kirchenorgeln muss man auch heute verhindern, aber ob man dafür wirklich Flusil und Xylamon verwendet, und ob man überhaupt konkret bezeichnete Produkte in einer allgemeinen Ordnung nennen muss27, ist fraglich. In eine Neufassung einer Ordnung würde man auch manche dieser genauen Bestimmungen nicht mehr aufnehmen – oder gibt es noch Kirchen, die entsprechend der Ordnung eigene Kalkgruben anlegen?28 Andere Vorschriften, wie die zum Lüften der Paramente, erscheinen betulich, und die Vorschriften für die Führung elektrischer Leitungen entsprechen kaum dem heute geltenden Standard. Die Errichtung eines Hühnerhauses als Qualitätsverbesserung zu bezeichnen, deckt sich sicher auch nicht mehr mit dem heutigen Wohn-Empfinden der Allgemeinheit. Bestimmungen über die (Neu-)Errichtung von Bauwerken gibt ohnehin das staatliche Recht zwingend vor, z. B. die Sicherheitsstandards bei Neubauten; dazu muss das kirchliche Recht keine eigenen Regeln erfinden. Die Entscheidung, ob man weiterhin eine eigene Bauordnung haben will, ist eine rechtspolitische. Formell außer Kraft gesetzt wurde die Bauordnung 1948 noch nicht, einige Bereiche sind aber sicher veraltet und nicht mehr anwendbar, weil anderes Recht vorgeht, wobei noch einmal an c. 22 CIC erinnert sei, der genau das vorsieht. Bei einer möglichen Novellierung muss daher ein Abgleich der Paragraphen erfolgen, ob nicht ohnehin die allgemeinen Vorschriften des kirchlichen Rechts (z. B. über die Visitation, oder den Kirchenbau) und des staatlichen Rechts (z. B. Bautechnikgesetz, Baupolizeigesetz, Bebauungsgrundlagengesetz, Bauproduktegesetz, aber auch das Salzburger Leichen- und Bestattungsgesetz) so umfassend sind, dass zusätzliche Regelungen wirklich nicht mehr nötig sind. Nimmt man eine Neufassung vor, dann müssen auch innerkirchliche partikularrechtliche Bestimmungen entsprechend abgeglichen werden. Ein Bereich spricht jedenfalls für eine eigene Ordnung: Vorschriften für den Kirchenbau29 kann der Staat nicht vorgeben, daran ist er durch Art. 15 StGG gehindert. Kirchenbau bleibt zweifellos ein Thema, das nur die Kirche selbst regeln kann.

27

So § 53 (9) Bauordnung.

28

So §§ 30 und 31 Bauordnung.

29

§§ 32 – 47 Bauordnung.

VI. Kirche und Staat – Kirche und Gesellschaft

„Persona publica“ Fragen um die öffentlich-rechtliche Wirksamkeit der Kirche in Österreich Von Hugo Schwendenwein I. Die öffentlich-rechtliche Stellung der kirchlichen juristischen Personen in Österreich Zuordnung der Kirche zum öffentlichen Bereich. Im modernen Rechts- und Verfassungsstaat, wie er sich in den mitteleuropäischen Ländern entwickelt hat, ist die Kirche deutlich mehr als ein bloßer Verein. Im gesellschaftlichen Bewusstsein wird sie zum Teil auch heute noch in einem Bedeutungsfeld, das sie in die Nähe des Staates rückt, angesiedelt. Wenn man zwischen öffentlicher und privater Sphäre unterscheidet, so wird man die Kirchen in der erstgenannten orten. Der Umstand, dass diese Sicht auch das staatliche Recht bestimmt, bezeugt, welches Gewicht der religiösen Sphäre für das Leben des Volkes beigemessen wird. Die Bedeutung für das öffentliche Leben hat, wenn wir die Geschichte zurückverfolgen, auch dazu geführt, dass der Staat in kirchliche Angelegenheiten ingeriert hat. Auch im Zeichen der Staatskirchenhoheit stehende Entwicklungen sind mit einer Einschätzung der Kirche als bedeutsame Kraft verbunden, wobei staatlicherseits der Versuch unternommen wurde, die Ausgestaltung dieser Kraft mitzubestimmen. Der Rückzug des Staates aus dieser Einflussnahme muss nicht unbedingt mit einer Privatisierung der religiösen Einrichtungen vor sich gehen. Bei der Rücknahme der josephinischen Staatsingerenz in den kirchlichen Bereich im 19. Jahrhundert wurde die Kirche Österreichs nicht privatisiert, wie das Konkordat von 1855 zeigt. Diese Entwicklung wird in der Folge bestätigt, indem noch verbliebene Staatseinflüsse immer mehr zurück- und die Eigenständigkeit des dem Staat vorgegebenen und von ihm respektierten religiösen Bereiches immer deutlicher in den Vordergrund treten, ohne, dass die Zuordnung dieser Sphäre zur Öffentlichkeit in Frage gestellt wird. Kirchliche Rechtsträger und Personenqualität im staatlichen Rechtsbereich. Das Konkordat zwischen dem Hl. Stuhl und der Republik Österreich vom

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5. Juni 1933 (BGBl II Nr. 2/1934), das am 1. Mai 1934 in Kraft getreten ist, sagt in Art. II, 1. Satz: Die katholische Kirche genießt in Österreich öffentlichrechtliche Stellung. Weiters wird auch den kirchlichen juristischen Personen zuerkannt, dass sie auch im staatlichen Bereich Rechtspersönlichkeit genießen (Art. II, 2. und 3. Satz). Den bei Inkrafttreten des Konkordates bestehenden kirchlichen juristischen Personen kommt diese ohne weiteren Rechtsakt zu. Nach Inkrafttreten des Konkordates errichtete kirchliche juristische Personen erlangen Rechtspersönlichkeit im staatlichen Bereich, wenn eine Meldung1 an die oberste Kultusverwaltungsbehörde erfolgt. Es liegt also bei den kirchlichen Stellen, ob die zuletzt angesprochenen Rechtsträger auch im staatlichen Bereich Personenqualität erlangen oder nicht. Die Kirche ist bei Errichtung kirchlicher juristischer Personen nicht zur Meldung an die oberste staatliche Kultusbehörde verpflichtet. Solange keine solche Anzeige erfolgt, genießt eine nach dem 1. Mai 1934 errichtete „persona iuridica“ im staatlichen Bereich keine Rechtspersönlichkeit. Auch kann, da keine Befristung besteht, die Anzeige an das Bundesministerium erst Jahre nach der Errichtung erfolgen.2 Die Rechtspersönlichkeit im staatlichen Bereich ist mit dem Einlangen der Anzeige bei der obersten staatlichen Kultusverwaltung gegeben. Die Ausstellung einer Bestätigung durch das Ministerium ist für die Erlangung der staatlichen Rechtsfähigkeit nicht entscheidend. Sie erleichtert lediglich den Beweis der Hinterlegung der Anzeige. Es liegt nicht im Ermessen des Ministeriums, die Bestätigung auszustellen oder nicht, es ist im Falle der rechtmäßigen Errichtung nach Einlangen der Anzeige zur Ausstellung der Bestätigung verpflichtet.3 Dass der Konkordatstext, der nicht alle Details der hier entfalteten Regelung ausspricht, in diesem Sinne zu verstehen ist, wird nicht nur durch die Praxis der Kultusverwaltung sondern auch durch spätere gesetzliche Maßnahmen für andere Kirchen bestätigt. In § 3 Abs. 2 des Bundesgesetzes vom 23. Juni 1967 über äußere Rechtsverhältnisse der griechisch-orientalischen Kirche in Österreich (Orthodoxengesetz, GOK) heißt es: Das Bundesministerium für Unterricht hat das Einlangen der Anzeige über die Errichtung der Kirchengemeinde und die satzungsgemäße Bestellung der nach außen vertretungsbefugten Organe bei Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen zu beurkunden. Ab dem Tag des Einlanges der gesetzmäßig ausgefertigten Anzeige beim Bundesministeri1 Bezüglich der Meldung des Diözesanbischofs an das Kultusamt vgl. Art. X Abs. 2 und Art. XV § 7 des Österreichischen Konkordates von 1933/34. 2

H. Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht, Essen 1992, S. 529; H. Schnizer, Kirchliches Vermögensrecht nach dem CIC 1983 – Rechtsträger und Rechtsgeschäfte in Österreich, in: Administrator bonorum. Oeconomus tamquam paterfamilias. Sebastian Ritter zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. H. Paarhammer, Innsbruck 1987, S. 227. 3

Vgl. Schwendenwein, ebd. S. 529 f., Schnizer, ebd. 226 f.

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um für Unterricht genießt die betreffende Kirchengemeinde als staatlich anerkannte Einrichtung der griechisch-orientalischen Kirche in Österreich die Stellung einer Körperschaft des öffentlichen Rechtes. Auch das Bundesgesetz über die äußeren Rechtsverhältnisse der evangelischen Kirche vom 6. Juli 1961 bringt eine entsprechend detaillierte Regelung. Angesichts des Bestrebens, rücksichtlich der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften den Grundsatz der Parität zu wahren, wird man auch die frühere, für die katholische Kirche getroffene Regelung in diesem Sinne verstehen. Die Frage nach der öffentlich-rechtlichen Personenqualität. Es spricht natürlich viel dafür, dass der öffentlich-rechtliche Charakter der Kirche auch in einer dem öffentlichen Recht zugeordneten Qualifikation ihrer einzelnen juristischen Personen Ausdruck findet. Dies ist allerdings im Konkordat nicht eigens angemerkt. Auch in den religionsrechtlichen Artikeln des für den Status der öffentlich-rechtlichen Kirchen und Religionsgesellschaften maßgeblichen Staatsgrundgesetzes vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger4 findet sich keine ausdrückliche Bestimmung. So begegnen uns in der Lehre vereinzelte Überlegungen, ob man wirklich alle diese Rechtsträger als öffentlichen Rechtes betrachten muss. 5 Im Bundesgesetz über die äußeren Rechtsverhältnisse der evangelischen Kirche6 ist festgelegt, dass die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes bestehenden „Gemeinden aller Stufen der Evangelischen Kirche“ die Stellung von Körperschaften des öffentlichen Rechtes genießen (§ 3 Abs. 1) und dass künftig errichtete Gemeinden und nach kirchlichem Recht mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete Einrichtungen der Evangelischen Kirche für den staatlichen Bereich Rechtspersönlichkeit des öffentlichen Rechts mit dem Tage des Einlangens der Anzeige der Evangelischen Kirchenleitung beim Bundesministerium für Unterricht erlangen (§ 4 Abs. 1). Wenn es bei Erarbeitung des Textes dieses Gesetzes zu diesen Formulierungen kam, so weil in der Vorstellung der österreichische Kultusverwaltung die öffentlich-rechtliche Stellung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften auch in der Qualität der einzelnen kirchlichen juristischen Personen ihren Niederschlag findet. Angesichts des vom bereits erwähnten Grundsatz der Parität getragenen Bestrebens, die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften gleich zu behandeln, kam es bei dem 1967 ergangenen Orthodoxengesetz rücksichtlich der orthodoxen Kirchengemeinden 4

RGBl. Nr. 142. Vgl. die Art. XIV – XVI.

5

Vgl. insbesondere I. Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien / New York 1971, S. 238 f. 6

Bundesgesetz vom 6. Juli 1961, BGBl Nr. 182 (Protestantengesetz, GEvK).

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zu einer vergleichbaren Regelung. Konsequenterweise werden auch die im staatlichen Bereich anerkannten juristischen Personen der katholischen Kirche als juristische Personen des öffentlichen Rechtes betrachtet. Anders ist dies bei den religiösen Bekenntnisgemeinschaften. Das österreichische Recht kennt, was den Einbau von Religionsgemeinschaften in die österreichische Rechtsordnung betrifft, ein zweistufiges System. Während die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften öffentlich-rechtlichen Körperschaften gleichgezogen sind, erlangen jene Körperschaften, die diesen Status nicht (oder noch nicht) genießen, mit der Registrierung als Bekenntnisgemeinschaft im staatlichen Bereich Rechtspersönlichkeit privaten Rechtes. Die Differenzierung zwischen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften einerseits und registrierten religiösen Bekenntnisgemeinschaften andererseits begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, da der Status der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen allen Religionsgemeinschaften offen steht.7 Der angeführte Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Rechtsträgern betrifft den staatlichen Rechtsbereich. Im innerkirchlichen Bereich wurde bis 1983 nicht zwischen privaten und öffentlichen juristischen Personen unterschieden. Erst der CIC/1983 hat eine solche Unterscheidung in das kirchliche Recht eingeführt. Dadurch hat sich eine neue Situation ergeben. Wenn nunmehr die katholische Kirche bezüglich ihrer Rechtsträger diese Unterscheidung anbringt, dann könnte dies möglicherweise dazu führen, dass der Staat nicht mehr so wie bisher sämtliche kirchlichen juristischen Personen, die durch die im Konkordat vorgesehene Meldung Anerkennung für den staatlichen Bereich erlangen, als öffentlich-rechtliche anerkennt. Zwar wird man meines Erachtens der von H. Pree vertretenen Ansicht folgen können, nach welcher eine kirchliche juristische Person, wie auch immer ihre Qualifikation im innerkirchlichen Rechtsbereich sein mag, im Falle der Anerkennung im staatlichen Rechtsbereich, als öffentlichrechtliche anzusehen ist, doch erschien die neue kirchliche Rechtslage geeignet, Überlegungen bezüglich einer Änderung der Praxis im staatlichen Bereich auszulösen. Die österreichischen Bischöfe haben sich zunächst darauf geeinigt, bei Meldung privater juristischer Personen an die oberste staatliche Kultusbehörde den privatrechtlichen Charakter ausdrücklich anzuführen, so dass, wenn keine diesbezügliche Anmerkung erfolgt, der betreffende Rechtsträger im kanonischen Rechtsbereich als öffentlich-rechtlich anzusehen ist. Bei den privaten juristischen Personen des Kirchenrechtes handelt es sich zumeist um Vereine. Private kirchliche Vereine können durch förmliches Dek7

Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 10. 10. 203, B 1768/02, in: öarr 51 (2004), S. 279; vgl. auch VfSlg 16.102/2001, S. 188 ff.

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ret der zuständigen kirchlichen Autorität mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet werden (can. 322 § 1). Was nun aber die Anerkennung im staatlichen Bereich anbelangt, so besteht in der Praxis auch die Möglichkeit, den Verein auch nach staatlichem Vereinsrecht zu errichten, so dass er ohne die oben erwähnte Meldung an das Kultusamt für den staatlichen Bereich mit Rechtspersönlichkeit des privaten Rechtes ausgestattet ist. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass die im Konkordat vorgesehene Meldung kirchlicher juristischer Personen an das Kultusamt ja nicht als konkordatarische Pflicht der Kirche gegenüber dem Staat konzipiert ist.8 An sich können auch Stiftungen als kirchliche juristische Personen privaten Rechtes errichtet werden, doch scheint dieser Möglichkeit zurzeit kaum praktische Bedeutung zuzukommen. In den Erläuternden Bemerkungen zu § 2 des Orthodoxengesetzes (Bundesgesetz vom 23. Juni 1967 über äußere Rechtsverhältnisse der griechisch-orientalischen Kirche in Österreich, BGBl. Nr. 229/1967)9, der die Ausstattung neu zu errichtender Kirchengemeinden mit staatlicher Rechtspersönlichkeit des öffentlichen Rechtes vorsieht, wird bemerkt: Die Bestimmungen des Gesetzentwurfes beziehen sich lediglich auf die Errichtung neuer Kirchengemeinden, nicht aber auf die künftige Errichtung sonstiger kirchlicher Einrichtungen, da allfällige damit im Zusammenhang auftauchende Fragen des innerkirchlichen oder des staatlichen Rechtes derzeit noch nicht beurteilt werden können. Während also nach dem Protestantengesetz nicht nur künftig errichtete Kirchengemeinden sondern auch andere nach kirchlichem Recht mit Rechtspersönlichkeit ausgestattete Einrichtungen mit der Meldung durch die Kirchenleitung für den staatlichen Bereich Rechtspersönlichkeit des öffentlichen Rechtes erlangen, trifft das Orthodoxengesetz nur für künftig errichtete Gemeinden eine derartige Bestimmung. Rücksichtlich anderer Einrichtungen tritt die Erlangung staatlicher Rechtspersönlichkeit nicht automatisch ein. Offensichtlich will man wegen der unterschiedlichen Jurisdiktionsverhältnisse der unter das Orthodoxengesetz fallenden Kirchen die Frage der Rechtspersönlichkeit solcher Einrichtungen jeweils, wenn sie auftaucht, klären. Die Zurückhaltung des Gesetzgebers in dieser Frage zeigt, dass man mit Rücksicht auf die internen Rechtsverhältnisse der betreffenden Kirche noch verschiedene Möglichkeiten der künftigen Gestaltung offen lassen will. Und es wäre so auch denkbar, dass man früher oder später Wege zur Prüfung der Frage der öffentlichrechtlichen Personenqualität an Hand der kirchenrechtlichen Bestimmungen der jeweiligen Kirche findet.

8 Die Kirche hat die Möglichkeit, von ihr errichtete Rechtsträger dem staatlichen Kultusamt zu melden, ist aber dazu nicht verpflichtet (siehe weiter oben). 9

EB RV 496 NR GP XI (Erläuternde Bemerkungen zur Regierungsvorlage 496, Gesetzgebungsperiode XI des Nationalrates).

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Öffentliches Recht und Publizität. Wenn im Vorausgehenden das Wort „öffentlich“ gebraucht wird, so ist dies nicht im Sinne des Gegensatzes zu „geheim“, sondern als Kontrapunkt zu „privat“ zu verstehen. Bei der Gegenüberstellung von öffentlichem und privatem Recht spielt der Charakter der ‚Amtlichkeit‘ eine wichtige Rolle. Es wird auf das abgestellt, was von der Autorität der Gemeinschaft ausgeht, was gleichsam als „amtlich“ im Gegensatz zu „privat“ zu betrachten ist. Unter den kirchlichen Vorgängen, die bei Zugrundelegung der Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht dem letzteren zuzurechnen sind, figurieren auch solche, die strenger Gemeinhaltung unterliegen (z. B. die Vorbereitung von Bischofsernennungen, wobei allerdings im angesprochenen Fall das Ergebnis des Vorganges nach Abschluss des Verfahrens publiziert wird). Bei einigen dem Bereich des öffentlichen Rechtes zuzurechnenden Verfahren wird Wert darauf gelegt, dass möglichst auch das Ergebnis nicht in den Bereich der Öffentlichkeit tritt, so beispielsweise in bestimmten Fällen, in denen durch das Bekanntwerden ein Neubeginn für den Betroffenen, selbst an einem anderen Ort wesentlich erschwert würde. Kirchenamtliche Akte („acta iuris publici“) werden sogar in der Beichte, die unter strengster Geheimhaltung steht, gesetzt. So gesehen begegnen uns auch im Rahmen des Beichtgeschehens Akte des öffentlichen Rechtes. Recht hat natürlich immer etwas mit Publizität zu tun, dies gilt a fortiori für das öffentliche Recht. Bei geheimen Klauseln in völkerrechtlichen Verträgen ist man versucht, die Frage zu stellen, inwieweit hier noch Rechtscharakter gegeben ist, ob zu einer Verpflichtung ethischer Art (Gentleman-agreement) tatsächlich noch eine Rechtspflicht hinzukommt. Allerdings ist im kanonischen Recht durch das Rechtsinstitut des „forum internum“ eine besondere Situation gegeben, die auch beim Beichtinstitut zum Tragen kommt. ‚Äußerer‘ und ‚innerer‘ Rechtsbereich. Im Kirchenrecht ergibt sich angesichts der Unterscheidung in einen äußeren (forum externum) und inneren (forum internum) Rechtsbereich eine besondere Situation. Nach can. 130 wird kirchliche Leitungsgewalt an sich im äußeren Bereich ausgeübt, bisweilen aber nur im inneren Bereich, und zwar so, dass die Rechtswirkungen, die die Ausübung dieser Gewalt ihrer Natur nach im äußeren Bereich hat, in diesem Bereich nur anerkannt werden, sofern dies für bestimmte Fälle im Recht festgesetzt ist. Auch wird, wenn der innere Bereich betroffen ist, vom Schriftlichkeitsgrundsatz, der für Verwaltungsakte gilt, abgesehen (vgl. can. 37 CIC). Die Unterscheidung „öffentliches Recht“ – „privates Recht“ ist nicht gleichzusetzen mit der kirchenrechtlichen Unterscheidung zwischen „forum externum“ und „forum internum“. Bei der zuletzt angesprochenen Unterscheidung handelt es sich um zwei verschiedene Handlungsweisen der Autorität, die alleine durch den Grad der Publizität differieren. Die Kirche, deren Recht nicht

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allein auf das äußere Handeln zielt, will denjenigen nicht ihren Dienst verweigern, die ein berechtigtes Interesse am Verborgenbleiben rechtlicher Sachverhalte haben, aber dennoch die Entscheidung der Kirche darüber erbitten.10 Nur ausnahmsweise wird die kirchliche Leitungsgewalt so ausgeübt, dass ihre Akte für die kirchliche Gemeinschaft nicht erkennbar werden. Die zuletzt angesprochenen Maßnahmen werden vielfach so gesetzt, dass sie mit ordentlichen Mitteln nicht beweisbar sind, aber doch so, dass ihr Vollzug in den äußeren Bereich der Beweisbarkeit überführt werden kann, wenn die Sachlage es erfordern sollte.11 Es können in „foro interno“ Akte, die man bei der Unterscheidung in privates und öffentliches Recht dem öffentlichen Recht zuordnet, gesetzt werden. Wenn es bei in „foro interno“ gesetzten Vorgängen dazu kommt, dass das Erfordernis des Beachtens der Vertraulichkeit wegfällt, wird der Akt auch in foro externo als rechtsverbindlich gesetzt betrachtet. Dies ist ein Spezifikum des kanonischen Rechtes. Keine Gleichziehung mit anderen Körperschaften öffentlichen Rechtes. Abgesehen von der Besonderheit, die sich durch das Rechtsinstitut des „forum internum“ im kanonischen Recht ergibt, bezieht sich das Wort „öffentlich“ vor allem auf die Stellung in der Öffentlichkeit. Es weist nicht notwendigerweise auf staatliche Aufgaben hin. Im zur Besprechung stehenden Fall wird es einem vom Staat unabhängigen, diesem gleichsam vorgegebenen Bereich appliziert, einem Bereich mit einer eigenen, von der staatlichen deutlich unterschiedenen Autorität. Wenn man der Kirche öffentlich-rechtlichen Status zuerkennt, so, weil man ihr in der Gesellschaft einen hohen Wert beimisst. Die österreichische Situation ist der deutschen nicht ganz gleich. Die letztere wird dahingehend beschrieben, dass die Religionsgemeinschaften im staatlichen Rechtsbereich Hoheitsrechte nicht kraft eigener Souveränität ausüben, sondern aufgrund staatlicher Beleihung. Deshalb sind sie insoweit grundsätzlich grundrechtsgebunden und rücksichtlich dieser Maßnahmen auch nicht

10 Vgl. hiezu K. Lüdicke, in: MK CIC, vor 130/1: Ein Ehewerber, der weiß, dass er mit seiner Braut aufgrund einer unehelichen Zeugung verwandt ist, und vom entsprechenden Ehehindernis befreit werden möchte, soll, auch wenn diese Tatsache sonst nicht bekannt ist, Dispens erhalten können, ohne dass andere davon erfahren. 11

Wenn von einem Ehehindernis, das nicht bekannt war, in foro interno dispensiert wird, wird in der Regel Vorsorge getroffen, dass im Falle des späteren Bekanntwerdens des Hindernisses die Dispens dargetan werden kann (vgl. hiezu auch K. Lüdicke, in: MK CIC, vor 130/1 und 130/4, 7, 8 und 12).

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schlechthin von der Unterstellung unter den staatlichen Grundrechtsschutz ausgenommen.12 Wenn man sich den Text des österreichischen Konkordates „La Chiesa Cattolica è riconosciuta in Austria come società di diritto pubblico“ vor Augen hält, so weist dies nicht auf eine Identifikation mit dem Begriff der Körperschaft des öffentlichen Rechtes sondern auf eine analoge Gleichstellung hin. Die „katholische Kirche ist ... kein Geschöpf des staatlichen Rechts und grundsätzlich nicht Trägerin mittelbarer Staatsgewalt, sondern ... kirchlicher Gewalt“.13 II. Die kirchenrechtliche Unterscheidung zwischen juristischen Personen des privaten und des öffentlichen Rechtes Sowohl die öffentlich- als auch die privatrechtlichen kirchlichen juristischen Personen üben Tätigkeiten aus, die auf der Linie der Sendung der Kirche liegen. Bei den öffentlichrechtlichen Personen liegt eine besondere Verbindung mit dem Sendungsauftrag des kirchlichen Amtes vor. Man darf nicht übersehen, dass in der Kirche sowohl die einheitstiftende Sendung des Amtes, als auch das Charisma jedes einzelnen Gläubigen eine wesentliche Aufgabe hat. Man kann die Frage stellen, ob der Aufbau einer zur juristischen Person erhobenen Einrichtung vor allem einem Träger des von Christus dem Petrus und den Aposteln gegebenen und von diesen weitertradierten Sendungsauftrages, also dem Träger des kirchlichen Amtes, oder der freien Initiative gläubiger Menschen zugeschrieben wird, ob der Aufbau dieser Einrichtung – simplifizierend ausgedrückt – mehr durch ein Wirken von Seiten der Autorität (von oben) oder durch ein Wirken von der Basis (von unten) erfolgt ist. Letztlich gründen beide Wirkweisen, die von oben und die von unten ausgehende im Auftrag Jesu Christi. Natürlich bedarf eine Gemeinschaft von der Größenordnung der Kirche, insbesondere wenn sie von religiösen und moralischen Forderungen getragen ist, einer koordinierenden und ordnenden Autorität. Durch diese Autorität soll ja auch verbürgt werden, dass Maßnahmen wirklich auf dem Weg, den Jesus Christus aufzeigt, liegen. Eine volle Verbürgung ist im Spitzenbereich der Kirche insbesondere in grundlegende Fragen gegeben.14 Das Gesamtgefüge der Kirche basiert auf sicheren Fundamenten, so dass die gesamte Organisation

12

P. Kirchhof, § 22 Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften öffentlichen Rechts, in: HdbStKirchR2, S. 676. 13 J. Riegler /. H. Schima jun., Katholische Kirche, Organisation, Besonderer Teil in: Rechtslexikon; Handbuch des österreichischen Rechts für die Praxis. Hrsg. v. Maultaschl / Schuppich / Stagel, 56. Lieferung, November 1968, 13v. 14

Verwiesen sei vor allem auf das unfehlbare Lehramt.

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geeignet ist, dem einzelnen Gläubigen Hilfe für die Wahl des richtigen Weges, für die Wahrung der richtigen Linie bei Entfaltung seines Charismas zu bieten. Die Errichtung zur juristischen Person ist immer ein Akt der kirchlichen Autorität, doch besteht insofern ein Unterschied, als bei der „persona iuridica privata“ dem gemeinsamen Wollen der beteiligten Personen ein hoher Stellenwert zukommt, während bei der „persona iuridica publica“ das Handeln des kirchlichen Amtsträgers besonders akzentuiert erscheint. Im letzteren Fall werden die Aktivitäten der juristischen Person „nomine Ecclesiae“ ausgeübt, im ersteren kommt ihnen nicht kirchenamtlicher sondern privater Charakter zu. Wenn man sich fragt, welche kanonischen Rechtsträger als privatrechtliche anzusehen sind, so wird auf das Vereinsrecht hingewiesen, das zwischen privaten und öffentlichen Vereinigungen unterscheidet. Die anderen vom Codex vorgesehenen Rechtsformen für Personengemeinschaften (z. B. Pfarre, Ordensprovinz, Säkularinstitut usw.) sind dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Juristische Personen können Personen- oder Sachgesamtheiten sein („universitates personarum“ oder „universitates rerum“).15 Die Unterscheidung der kirchlichen Rechtsträger in privat- und öffentlichrechtliche gilt für juristische Personen schlechthin16, folglich kann auch Sachgesamtheiten sowohl öffentlichrechtlicher als auch privatrechtlicher Status zukommen. Bei den Sachgesamtheiten wird es von der zuständigen Autorität, die die Rechtspersönlichkeit verleiht, abhängen, ob sie die Rechtsform der „persona iuridica publica“ oder die der „persona iuridica privata“ wählt. In den kodiziellen Bestimmungen über die ‚Vereine von Gläubigen‘ („De Christifidelium Consociationibus“) werden die Konturen der öffentlichen und der privaten Vereine und damit auch der Unterscheidung dienliche Merkmale aufgezeigt. Vergleichbare differenzierende Bestimmungen begegnen uns im Stiftungsrecht nicht. Praktisch liegt es bei der kirchlichen Autorität, die eine Stiftung zur juristischen Person erhebt, ob sie diese mit öffentlichrechtlichem oder mit privatrechtlichem Charakter ausstattet. Bei kirchlichen juristischen Personen, die auf der Grundlage einer „universitas personarum“ errichtet sind, steht, auch wenn es sich um private juristische Personen handelt, die Wirksamkeit von Menschen in Richtung auf ein kirchliches Ziel im Vordergrund. Bei den „universitates rerum“ bieten Sachgüter die Grundlage der juristischen Person. Selbstverständlich sind es Sachgüter, die der kirchlichen Arbeit dienen, die Mittel für kirchliches Wirken17 sind und so im

15

Vgl. can. 115.

16

Vgl. can. 116.

17

Es handelt sich nicht um den unmittelbaren Vollzug der kirchlichen Sendung, aber um eine Unterstützung derselben durch Aufbringung hiefür erforderlicher Mittel.

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Rahmen der kirchlichen Sendung stehen, sonst hätte ja der betreffende Rechtsträger in der Kirche keinen Platz. Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, den Vergleich mit der Verwaltung von einer kirchlichen juristischen Person gehörigen wirtschaftlichen Gütern (z. B. mit der Verwaltung eines einer Diözese gehörigen Gewerbebetriebes) zu ziehen, wobei die Verwalter eines solchen Betriebes der „missio canonica“ nicht bedürfen, während andere Organe der Diözese sehr wohl im besonderen kirchlichen Sendungsauftrag stehen. Angemerkt sei, dass im österreichischen Abgabenrecht gewerbliche und industrielle Betriebe, auch wenn sie kirchlichen juristischen Personen öffentlichen Rechtes gehören, nicht jenen Sonderstatus haben, der dem öffentlichen Rechtsträger zukommt und sich auch auf diesem zugehörige Kirchengebäude und von diesem geführte Seelsorgseinrichtungen erstreckt. Im Allgemeinen bietet dort, wo es um die Erzielung von Einnahmen in der Wirtschaft üblichen Formen geht, der öffentlich-rechtliche Charakter der juristischen Person für den ihr zugehörigen Betrieb keine Sonderstellung.18 Dies gilt natürlich auch für Stiftungen, wenn sie derartige Wirtschaftsbetriebe haben. Es mag Fälle geben, in denen gewerblichen oder industriellen Betrieben, die kirchlichen Zwecken dienen, kirchliche juristische Personenqualität eignet, so dass die Stiftung in der Praxis mit dem Wirtschaftsbetrieb weitgehend identifiziert werden kann. Aber man kann das kirchliche Stiftungswesen nicht auf Fälle der letztgenannten Art reduzieren. Wenn Mittel angelegt sind, um Messstiftungen eine finanzielle Basis zu bieten, geht es um die Sorge für die Applikation religiöser Intentionen im sakramentalen Geschehen, die allerdings mit der Sorge für die Bewahrung der finanziellen Ausstattung, die regelmäßig eine wirtschaftliche Tätigkeit mit umgreift, verbunden ist. M. E. ist es zu begrüßen, dass die Kirche im Falle der Ausstattung von Stiftungen mit Personenqualität die Möglichkeit, die öffentlich-rechtliche Form zu wählen, offen hält. Ein Rückblick auf frühere Entwicklungen des Stiftungsrechtes scheint für die öffentlich-rechtliche Form zu sprechen. Die vor dem Inkrafttreten des CIC/1983 mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten kirchlichen Stiftungen werden als juristische Personen öffentlichen Rechtes behandelt, wobei eben, wie schon gesagt, falls sie Wirtschaftsbetriebe der obgenannten Art haben, diese im staatlichen Abgabenrecht so wie die privater Rechtsträger behandelt werden. III. Das Wirken „nomine Ecclesiae“ Was das Handeln „nomine Ecclesiae“ betrifft, sei Folgendes angemerkt: Das II. Vatikanische Konzil hat das Wort von der „Ecclesia domestica“ geprägt (VatII LG art. 11, Abs. 2). Man wird also nicht leugnen können, dass im ge18

Anders gelagert ist die Situation bei land- und forstwirtschaftlichen Betrieben.

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meinsamen religiösen, christusbezogenen Tun von Familienangehörigen kirchenbildende (ekklesiale) Momente vorliegen, auch wenn es sich nicht um eine voll ausgebildete Kirche handelt, in der alles gegeben ist, was für die sakramentalen Vollzüge und für die Weitergabe des kirchlichen Amtes erforderlich ist. In der Realisierung der „Ecclesia domestica“ wird wirksam, was der Herr selbst ausspricht: ‚Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen‘. Wenn die Mutter dem Kind das Kreuzzeichen lehrt, so ist das auch kirchliches Tun, ein Tun, das die Kirche von ihr erwartet und das sie im Namen der kirchlichen Gemeinschaft vollzieht. Wenn man sagt, sie tut es „nomine Ecclesiae“ so steht zweifelsohne eine theologisch richtige Überlegung dahinter. Allerdings wird die Wortfolge „nomine Ecclesiae“ in der kirchlichen Rechtssprache in einer ganz bestimmten Bedeutung verwendet. Nicht jedes Handeln von Gläubigen, das auf der Linie der kirchlichen Sendung liegt und im Sinne der Kirche erfolgt, nicht alles, was ein Gläubiger tut, um entsprechend dem Rat oder den Weisungen seines Seelsorgers oder seines Beichtvaters ein christliches Leben zu führen, fällt unter diesen rechtssprachlichen Terminus, sondern nur jenes Tun, das die kirchliche Autorität in entsprechender Weise qualifiziert. Das II. Vatikanische Konzil kennt das Charisma des Einzelnen, aber es kennt auch die Sendung, die im Wege des kirchlichen Amtes erfolgt. Beides gehört zur Kirche, die Entfaltung des kirchlichen Lebens an der Basis und die Funktion des Amtes. Die Wortfolge „nomine Ecclesiae“ im Sinne der kirchlichen Rechtssprache ist dann am Platze, wenn ein besonderer Auftrag bzw. eine besondere Bevollmächtigung durch die kirchliche Autorität dahinter steht. Im Zusammenhang mit der Differenzierung zwischen amtlicher und privater Wirksamkeit seien noch zwei Beispiele aus verschiedenen Rechtsbereichen erwähnt. Das kirchliche Vereinsrecht geht vom Grundsatz der freien Vereinsbildung aus. Nach can. 299 § 1 ist es den Gläubigen unbenommen, durch miteinander getroffene Privatvereinbarungen Vereine, die kirchliche Zielsetzungen verfolgen, zu gründen. Diesen durch privaten Zusammenschluss begründeten Vereinen (private Vereine)19 stehen die von der zuständigen kirchlichen Autorität errichteten Vereine (öffentliche Vereine)20 gegenüber. Zur referierten Aussage des can. 299 § 1 muss eine vom Gesetzgeber festgelegte Einschränkung angemerkt werden, da für bestimmte in Canon 301 § 1 aufgezählte kirchliche Zielsetzungen nur öffentliche und nicht auch private Vereine errichtet werden können. Nach can. 301 § 1 CIC/1983 kommt ausschließlich der zuständigen 19

Vgl. can. 299 § 2.

20

Vgl. can. 301 § 3.

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kirchlichen Autorität die Errichtung solcher Vereine von Gläubigen zu, die sich der Vermittlung der christlichen Lehre im Namen der Kirche21, der Förderung des amtlichen Gottesdienstes22 oder anderen Zielen, deren Verfolgung ihrer Natur nach der kirchlichen Autorität vorbehalten wird23, zuwenden. Vereinigungen dieser Zielsetzungen können also durch Zusammenschluss von Privaten nicht errichtet werden. Allerdings ist die kirchliche Autorität nicht auf Errichtung von Vereinen der genannten Zielsetzungen beschränkt. Sie kann, wenn sie es für förderlich erachtet, auch Vereinigungen begründen, die direkt oder indirekt andere geistliche Zwecke erstreben sollen, deren Erreichung durch private Unternehmungen nicht genügend gesichert ist (can. 301 § 2). Vereine der zuletzt angesprochenen Zielsetzung sind, wenn sie von Privaten errichtet werden, als private Vereine, wenn sie hingegen im Sinne des eben zitierten can. 301 § 2 von der kirchlichen Autorität errichtet werden24, als öffentliche Vereine anzusehen (vgl. auch can. 301 § 3).25 Es kann also dazu kommen, dass die gleiche Aktivität von einer consociatio privata und von einer consociatio publica ausgeübt wird, wobei der Wahrnehmung der Aktivität im letzteren Falle amtlicher Charakter („nomine Ecclesiae“) zukommt. Wenn das kanonische Vereinsrecht die Vermittlung der christlichen Lehre im Namen der Kirche („nomine Ecclesiae“) unter den der kirchlichen Autorität vorbehaltenen Zielsetzungen nennt, so heißt das nicht, dass die Vermittlung der christlichen Lehre ein besonderes Reservat darstellt. Zweifelsohne sollen die Gläubigen, auch jene, die keine besondere Funktion in der Kirche haben, um die Weitergabe dessen, was die Kirche lehrt, bemüht sein. Dies kann auch in Zusammenschlüssen von Gläubigen Ausdruck finden. Das, was unter das Reservat fällt, ist die Vermittlung der christlichen Lehre „nomine Ecclesiae“26, d. h., es hängt von einem speziellen kirchlichen Auftrag ab, ob die Verkündigung der Lehre „nomine Ecclesiae“ erfolgt. Der Akzent liegt auf der Wortfolge „nomine Ecclesiae“.

21

„doctrinam christianam nomine Ecclesiae tradere“.

22

„cultum publicum promovere“.

23

„fines, quorum prosecutio natura sua eidem auctoritati ecclesiasticae reservater“.

24

Wenn die kirchliche Autorität einen Verein errichtet, so handelt es sich, auch wenn dieser einer nicht vorbehaltenen Zielsetzung dient, um einen öffentlichen Verein. 25

Man kann also daraus, dass ein Verein nicht einer vorbehaltenen Zielsetzung im Sinne des can. 301 § 1 dient, nicht notwendig auf dessen privatrechtlichen Charakter schließen. 26

Der Text des can. 301 § 1 („doctrinam christianam nomine Ecclesiae tradere“) bringt zum Ausdruck, dass die „traditio docrinae christianae“, wenn sie privatim geschieht, nicht unter den Vorbehalt fällt.

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Ein weiteres Beispiel für die Zuordnung zum öffentlichen Bereich bietet uns das liturgische Recht. Can. 834 spricht vom „cultus publicus“, der im Namen der Kirche „nomine Ecclesiae“ von rechtmäßig dazu beauftragten Personen („a personis legitime deputatis“) und durch Handlungen, die von der kirchlichen Autorität anerkannt sind, dargebracht wird („per actus ab Ecclesiae auctoritate probatos“). „Wenn der Liturgiebegriff des Codex Iuris Canonici mit dem Merkmal der 'Amtlichkeit' versehen wird, entspricht dies der Unterscheidung von Liturgie und privaten Frömmigkeitsübungen. Auch private Frömmigkeitsübungen sind Gottesdienst, sie erfüllen aber nicht den Begriffsinhalt der Liturgie. Sie sind zwar Handeln in der Kirche, nicht aber Handeln im Namen der Kirche.“27 Jedenfalls spielt bei den öffentlichen juristischen Personen die besondere kirchenamtliche Bevollmächtigung eine entscheidende Rolle. Die Wortfolge „nomine Ecclesiae“ bringt zum Ausdruck, daß eine solche besondere Sendung vorliegt. IV. Träger amtlicher Vollmacht in der Kirche Übertragung der geistlichen Vollmacht an Physische Personen. Wenn im staatlichen Rechtsbereich die Frage nach der Vollmacht, in der Träger öffentlicher Ämter handeln, gestellt wird, so steht im Vordergrund, dass diese Organe einer Gebiets- oder anderen öffentlich-rechtlichen Körperschaft sind28 und gleichsam namens der von ihnen repräsentierten Körperschaft tätig werden (z. B. ein Richter namens der Republik, ein zeichnungsberechtigter Beamter des Amtes der Landesregierung für das Land). Auch im Kirchenrecht kann die Organstellung eines Amtsträgers in einer juristischen Person eine Rolle spielen, aber spezifisch für die Kirche als Mittlerin des Heiles, für die ihr um des Heiles willen anvertraute zentrale Aufgabe ist, dass die Vollmacht von Jesus Christus dem Petrus und den Aposteln übertragen und von diesen an andere – gleichsam von Person zu Person – weitergegeben und so bis zu uns herauf tradiert worden ist. Wenn es unmittelbar um die sich aus der Sendung ergebende Vollmacht geht, steht nicht die Frage im Vordergrund, ob der Betreffende Organstellung in einer bestimmten kirchlichen juristischen Person hat, sondern ob er in der Linie

27

L. Müller, § 72 Begriff, Träger und Ordnung der Liturgie, in: HdbKathKR2, S. 780. „Das Spezifikum von Liturgie kann deshalb nur dann zutreffend mit dem Wort 'Kirchlichkeit' wiedergegeben werden, wenn damit das amtliche Handeln, also das Handeln im Namen der Kirche gemeint ist. Eine 'Kirchlichkeit' im Sinne einer ekklesialen Dimension kommt auch nichtliturgischen gottesdienstlichen Handlungen zu“ (ebd.). 28

Z. B. die Republik Österreich, das Land Tirol, die Stadt Linz, die Ärztekammer usw.

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des kirchlichen Sendungsauftrages steht. Die Vollgestalt dieser Vollmacht liegt beim päpstlichen und beim Bischofsamt. Ihre Weitergabe setzt sich bis heute fort. Es besteht auch die Möglichkeit einer nur teilweisen Weitergabe der Vollmacht. Sendung und kirchliches Amt. Wenn die Vollmacht nicht nur „ad hoc“ (für einen Fall oder für eine begrenzte Anzahl von Fällen) gegeben wird, wenn der Bevollmächtigung eine gewisse Dauerhaftigkeit eignet, ist ein kirchliches Amt gegeben.29 Die mit geistlicher Vollmacht ausgestatteten Ämter gehen auf die Weitergabe der von Jesus Christus ausgehenden Sendung durch den Träger des Petrusamtes oder durch einen Bischof, der in der apostolischen Sukzession steht, zurück. Kirchliches Tun ist nur gerechtfertigt, wenn es im Rahmen der kirchlichen Sendung erfolgt, und kirchliche Ämter sind auch nur vertretbar, soweit sie dieser Sendung dienen.30 Das heißt aber nicht, dass nur seelsorgliche Ämter, nur Ämter, für die die kirchliche „missio“ notwendig ist, Existenzberechtigung in der Kirche haben. Der CIC selbst sieht die Einrichtung rein ökonomischer Ämter vor (Ökonom der Diözese, Ökonom des Priesterseminars, Ökonom eines Ordens, einer Ordensprovinz, eines Ordenshauses). Auch wenn für diese keine kirchliche „missio“ vorgesehen ist, so dienen sie doch der Sorge für die ökonomischen Grundlagen, die für die Wahrnehmung der kirchlichen Sendung erforderlich sind. Auch sie dienen, wenngleich nur mittelbar der kirchlichen Zielsetzung und haben so einen legitimen Platz in der Kirche. Kirchliches Amt und einen Teil des Gottesvolkes umgreifende juristische Körperschaft. Um bestimmte Träger der Sendung haben sich juristische Personen ausgebildet, um den Träger des Petrusamtes die Ecclesia universalis, die man als juristische Person göttlichen Rechtes31 bezeichnen kann, um die Träger des apostolischen Amtes die Diözese. Kirchliche Gemeinschaft wird dadurch konstituiert, dass der Hirtendienst eines personal bestimmten Amtsträgers dem Volke Gottes oder einem Teil desselben zugeordnet wird. Auch der Pfarrer ist Sendungsträger, und sein Amt ist einer Gemeinschaft zugeordnet, die im CIC 1983 juristische Personenqualität hat. 29

Nach can. 145 § 1 ist ein Kirchenamt jedweder Dienst, der durch göttliche oder kirchliche Anordnung auf Dauer eingerichtet ist und der Wahrnehmung eines geistlichen Zweckes dient. 30

Vgl. die Wortfolge „in finem spiritualem exercendum“ in der Umschreibung des Kirchenamtes in can. 145. Die in can. 145 geforderte Ausrichtung auf d. finis spiritualis ist auch gegeben, wenn das Amt der Sorge für die ökonomische Basis der geistlichen Tätigkeit dient. 31

Der CIC/1983 verwendet den Ausdruck ‚moralische Person‘ (can 113 § 1).

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Im staatlichen Bereich ist zuerst die Körperschaft, die Gemeinschaft der Menschen, die eine Körperschaft im rechtlichen Sinne konstituiert, da (z. B. der Staat, die Republik Österreich, das Land Tirol, die Gemeinde Kitzbühel), und in dieser müssen Organe für die Aufgaben der Gemeinschaft bestellt werden, die natürlich auch Verantwortung für die Gemeinschaft wahrnehmen und Autorität namens der Gemeinschaft ausüben. In der heutigen Staatenwelt wird die Autorität dieser Organe32 regelmäßig auf das Volk zurückgeführt. Die kirchliche Sendung ist mit kirchlichen Ämtern oder Aufgaben verbunden und geht immer vom Träger eines Amtes oder einer Aufgabe aus. Gleichgültig, ob die kirchliche Vollmacht oder ein Teil derselben mit einem Amt oder mit einer „ad hoc“ übertragenen Aufgabe verbunden ist, ihr eignet personaler Charakter, sie wird jeweils einem konkreten Menschen übertragen. V. Kirchenamtliches Handeln Die Rechtsverbindlichkeit kirchlichen Handelns kann in verschiedenen Formen auftreten. Sie kann, um das, was für unser Thema bedeutsam ist, anzusprechen, sowohl aus der Stellung als Organ einer juristischen Person als auch aus dem Stehen in der Sukzession der kirchlichen Sendung resultieren. Die Kirche bedient sich in ihrer Organisation der Rechtsform der juristischen Person, die im kanonischen Recht verschiedene Ausformungen erfährt (z. B. Diözese, Pfarre, Ordensprovinz, Säkularinstitut, Verein, Stiftung usw.). Wesentlich für eine juristische Person ist, dass sie durch ihre Organe rechtlich handeln kann. Dieser Organisationsstruktur kommt eine wichtige Hilfestellung bei Vollzug des Heilsdienstes zu. Sie hat großes Gewicht für die wirtschaftliche Gebarung der Kirche. So gibt es auch im kirchlichen Bereich Amtsträger, die als Organe einer bestimmten juristischen Person handeln, die namens derselben Verträge abschließen können, gegebenenfalls auch Verträge, die sich auf die Anstellung von Personen für diese Verbände beziehen. Hiefür ist, ähnlich wie bei juristischen Personen des profanen Bereiches, eine entsprechende Positionierung als Organ33 der betreffenden juristischen Person erforderlich. Rechtlich relevante Akte dieser Art ergehen namens der juristischen Person, deren Organ sie gesetzt hat (z. B. namens der Diözese, namens der Pfarre, namens der Stiftung usw.).

32 33

Vielfach sind sie demokratisch legitimiert.

Die Organstellung kann sowohl durch ein Amt als auch durch eine Bevollmächtigung ad hoc gegeben sein.

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Derartige Vorgänge namens kirchlicher Rechtsträger werden – bei Zugrundelegung der staatlichen Unterscheidung in öffentliches und privates Recht – vielfach der privatrechtlichen Sphäre zuzuordnen sein. Natürlich kann es sich auch ergeben, dass Hoheitsaufgaben wahrzunehmen sind (z. B. durch den Schulerhalter oder Schulleiter einer katholischen Privatschule mit Öffentlichkeitsrecht); in solchen Fällen liegt öffentlich-rechtliches Handeln vor. Für uns ist, wie gesagt, noch eine andere Form kirchlichen Handelns von Interesse, nämlich das Handeln kirchlicher Vollmachtträger im unmittelbaren Vollzug des Heilsdienstes, das spezifisch für die kirchliche Sendung ist und auch rechtlichen Charakter haben kann. Rechtlich bedeutsames Handeln dieser Art ist Ausfluss der Vollmacht zur Verwirklichung der Sendung der Kirche, der „potestas ecclesiastica“ (vgl. auch VatII LG Art. 19). Es findet sich nicht nur im Bereich des Leitungs-, sondern auch des Lehr- und des Heiligungsamtes. Man denke nur an Gültigkeitsfragen beim Vollzug der Sakramente oder an die Rechtsvorschriften, die ihre Spendung betreffen. Im Bereich des „munus docendi“ gibt es nicht nur bei Wahrnehmung des unfehlbaren Lehramtes - Georg May spricht vom Glaubensgesetz34 – sondern auch bei anderen Maßnahmen, auch bei Maßnahmen auf Leitungsebenen, die der obersten kirchlichen Autorität nachgeordnet sind, die Möglichkeit verbindliche Regelungen zu erlassen (z. B. die gemäß can. 775 § 1 vom Diözesanbischof zu erlassende Norm betreffend die Katechese). Rechtsakte, die auf der Linie der kirchlichen Sendung liegen, werden nicht nur auf Ebene hoher kirchlicher Leitungsebenen gesetzt. Beispielsweise weist der die Zulassung zur Kommunion betreffende can. 915 aus, dass im sakramentalen Bereich Handlungen rechtlicher Natur in die Verantwortung der Seelsorger gelegt sind. Auch in organisatorischen Fragen kommt der Rechtscharakter zum Ausdruck (z. B. Einberufung des Pfarrgemeinderates). Das Gros der pfarrlichen Tätigkeiten ist seesorglicher Natur und viele seelsorgliche Maßnahmen sind nicht als Rechtsakte zu qualifizieren, aber einem Teil derselben kommt durchaus, wie die erwähnten Beispiele zeigen, Rechtscharakter zu. In der wirtschaftlichen Verwaltung, bei vermögensrechtlichen Vorgängen begegnen uns immer wieder rechtliche relevante Akte, sowohl auf höheren Leitungsebenen als auch im pfarrlichen Bereich, aber diese gehören in der Regel zu den oben genannten, namens der jeweiligen juristischen Person zu tätigenden Maßnahmen.

34

Das Glaubensgesetz, in: Ius Sacrum. Klaus Mörsdorf zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. A. Scheuermann / G. May, München / Paderborn / Wien 1969, S. 349 – 372.

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Vorgängen im unmittelbaren Heilsdienst wird man, soweit ihnen Rechtscharakter eignet und sie in der österreichischen Rechtsordnung relevant werden, im Regelfall nicht privat-, sondern öffentlich-rechtlichen Charakter zuschreiben. Das Handeln aufgrund heilsdienstlicher Vollmacht erfolgt durch personale Träger, also durch kirchliche Amtsträger oder durch Personen, die ohne Amtsübertragung mit kirchlicher Vollmacht ausgestattet worden sind. Da die kirchliche Sendung und die damit verbundene Vollmacht an physische Personen weitergegeben wird, ist bei der Frage nach der Organstellung Folgendes zu beachten: Selbstverständlich ist jeder, der im Bereich der kirchlichen Sendung Vollmacht hat, Organ der Kirche Jesu Christi und er empfängt die Vollmacht durch Vermittlung der Kirche Jesu Christi. Entscheidend ist nicht, ob er Organstellung in einer der Gesamtkirche nachgeordneten juristischen Person hat, ja es kann sich auch ergeben, dass bei manchen Sendungsträgern die Zuordnung zu einer bestimmten kirchlichen juristischen Person Schwierigkeiten bietet. Religionslehrer an öffentlichen Schulen wird man, selbst wenn sie auch pfarrlich tätig sind, nicht immer als Repräsentanten der Pfarre ansehen. Sie erhalten ihre Sendung vom Bischof, die für ihr Wirken zuständige kirchliche Stelle ist das bischöfliche Schulamt. Sie wirken jedoch nicht im Umkreis des Oberhirten, wie Bischofsvikare oder der Ordinariatskanzler sondern an der Basis, die bischöfliche Behörde verkörpert die darüber stehende Autorität. Dennoch übt Religionslehrer seinen Verkündigungsauftrag namens der Kirche aus. Schwierig kann auch die Zuordnung von Ordensleuten sein, wenn sie „ad hoc“ seelsorgliche Dienste versehen (z. B. Beichthören in einer Klosterkirche). Immer wird man jedoch sagen können, insbesondere bei liturgischem Tun oder amtlicher Glaubensverkündigung, dass sie „nomine Ecclesiae“ handeln. Die Übertragung einer Vollmacht durch eine der „Ecclesia universalis“ nachgeordnete Körperschaft begegnet uns, wie oben ausgeführt, im kirchlichen Bereich nur bei einen begrenzten Teil der Agenden (so vor allem in Bereichen, in denen, wie beispielsweise in wirtschaftlichen Fragen, die Einbindung in das profane Leben erforderlich ist). Die Legitimation für die spezifisch kirchliche Wirksamkeit im unmittelbaren Vollzug des Heilsdienstes wird in der Regel nicht auf dem Weg über eine der Gesamtkirche nachgeordnete Körperschaft, sondern direkt von einem Sendungsträger zum anderen weitergegeben. Der in der Pfarre mitarbeitende Priester (Kaplan, Pfarrvikar) erhält die Beichtvollmacht nicht von der Pfarre und auch nicht von der mit juristischer Personenqualität ausgestatteten Diözese, sondern von einem personal bestimmten Amtsträger, dem Bischof bzw. dem Generalvikar.35 35 Auch bei einer Vollmachtsübertragung per Gesetz geht der Weg nicht über eine Körperschaft, sondern aufgrund des Codex als einer Äußerung eines personalen Gesetzgebers.

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Die Wahrnehmung der mit der Sendung verbundenen Vollmacht erfolgt „nomine Ecclesiae“. Sicherlich bedarf christliches Leben immer auch einer Konkretisierung in einer Teilkirche. Teilkirchliche und sogar auch pfarrliche Autoritäten können Ordnungs- und Aufsichtsfunktionen für die Ausübung des Heilsdienstes haben, aber diese Dienste werden nicht namens der Diözese oder namens der Pfarre sondern im Namen Jesu Christi vollzogen. Wenn man Bezug auf eine Körperschaft nimmt, so ist es die „Ecclesia universalis“, nicht aber die Teilgemeinschaft oder der Personalverband, der bzw. dem der den Heilsdienst wahrnehmende angehört, angesprochen. Dieser grundlegende Bezug zur Gesamtkirche ist auch dann gegeben, wenn der Spender des Sakramentes bzw. der den Heilsdienst vollziehende Dienstträger (z. B. der Spender des Sakramentes ) in einer der Gesamtkirche nachgeordneten juristischen Person positioniert ist (z. B. als Pfarrer oder Kaplan in einer Pfarre), wenn er die Vollmacht von einem der obersten kirchlichen Autorität nachgeordneten Amtsträger (z. B. vom Diözesanbischof) empfangen hat und in der Ausübung der Vollmacht der Aufsicht eines solchen Amtsträgers, an den sich auch allfällige Beschwerden richten, unterliegt. Die der Gesamtkirche und dem Apostolischen Stuhl36 nachgeordneten juristischen Personen sind Hilfskonstruktionen, die die Durchführung des Heilsdienstes in der Gesellschaft von heute erleichtern; unter anderem dienen sie der Bewältigung der wirtschaftlichen Gebarung, dem Umgang mit materiellen Werten, die ein wichtiges, ja ein unerlässliches Hilfsmittel im Vollzug des Heilsdienstes darstellen. Was aber den Heilsdienst selbst, die für diesen spezifische Vollmacht betrifft, so gilt von Jesus Christus bis auf unsere Tage herauf der Grundsatz der Weitergabe von Person zu Person (gleichsam von Mensch zu Menschen). Auch, wenn Vollmachten kraft Gesetzes übertragen werden, so steht dahinter der personale Gesetzgeber und die Vollmacht geht auf Grund seines Gesetzgebungsaktes an die Person des Amtsträgers. Die Weitergabe der Vollmacht erfolgt nicht auf dem Umweg über die juristische Person. Man ist versucht, die für juristische Personen gebrauchte Unterscheidung in personae privatae et publicae auch auf physische Personen anzuwenden. Würde man dies tun, dann wären ein Bischof und ein Pfarrer eine persona physica publica, sowie jeder, der in amtlicher Vollmacht „nomine Ecclesiae“ einen kirchlichen Dienst des Heils leistet.

36

Nach can. 113 § 1 haben die Katholische Kirche und der Apostolische Stuhl die Eigenschaft einer moralischen Person aus göttlicher Anordnung. Der kodizielle Gesetzgeber will durch diese Wortwahl zum Ausdruck bringen, dass die juristische Personenqualität der Katholischen Kirche („Catholica Ecclesia“) und des Apostolischen Stuhles („Apostolica Sedes“) der kirchlichen Gesetzgebung vorgegeben ist. Damit kommt zum Ausdruck, dass sie aus den Glaubensgrundlagen geschlossen werden kann.

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Spezielle juristische Personen für Amtsträger. Wenn stärker auf die Person des Amtsträgers als auf die kirchliche Körperschaft abgestellt wird, so erscheint dies noch durch einen historischen Rückblick unterstrichen, haben sich doch gewisse juristische Personen speziell mit dem Blick auf den Träger des Amtes entwickelt (wie z. B. die mensa episcopalis oder das Benefizium des Pfarrers). Die Rechtspersönlichkeit des Pfarrbenefiziums hatte lange vor der Rechtspersönlichkeit der Pfarre ihren festen Platz im kanonischen Recht. Nach can. 113 § 1 haben die Katholische Kirche und der Apostolische Stuhl die Eigenschaft einer moralischen Person aus göttlicher Anordnung. Wenn dem Petrusamt eine eigene von der Gesamtkirche verschiedene Rechtspersönlichkeit zukommt, so steht dahinter nicht der Gedanke einer Organstellung in der Gesamtkirche, der der Dienst des Petrusamtes zugeordnet ist, sondern das Wissen um den von Christus dem Träger des Amtes gegebenen Auftrag, durch den ihm die zentrale Stellung in der Kirche zukommt. Man sieht hier, welches Gewicht der Sendung und dem auf der Grundlage der Sendung ausgebildeten personalen Amt eignet. Der Gesamtkirche, der Gemeinschaft aller Gläubigen, die sich als „universitas personarum“ (Personengemeinschaft) darstellt, kommt Personenqualität zu, aber das Petrusamt ist mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit ausgestattet. Ortung in der Kirche Österreichs. Zu den obigen Ausführungen, nach welchen man sakramentales priesterliches Tun oder die Lehrverkündigung durch Religionslehrer nicht so ganz in das Schema eines für eine der kirchlichen juristische Personen Handelnden einordnen kann, sei ergänzend angemerkt: Dem Instrumentarium unterschiedlicher, gestufter, der Gesamtkirche nachgeordneter juristischer Personen in der Kirche kommt lediglich eine Hilfsfunktion für die Organisation der Ausübung der geistlichen Vollmacht, die wie wir wissen, namens der Gesamtkirche ausgeübt wird, zu. Sofern man eine Ortung heilsdienstlicher Akte im österreichischen Staatskirchenrecht versucht, könnte man allenfalls sagen, dass hinter den genannten kirchlichen Amtsträgern die Katholische Kirche Österreichs, der man unter dem Gesichtspunkt des staatlichen österreichischen Rechtes Personenqualität zuschreibt37, steht. Die juristische Person des österreichischen Rechtes, die die katholische Kirche als gesetzlich anerkannte Kirche verkörpert, umgreift auch die Ecclesia universalis, soweit ihre Organe, Institutionen und Tätigkeiten für die katholische Kirche Österreichs wirksam werden. Wenn also die zur Besprechung stehenden Vorgänge namens der Gesamtkirche getätigt werden, dann 37

Vgl. hiezu, R. Köstler, Die katholische Kirche Österreichs. Eine staatskirchenrechtliche Untersuchung, in: ZÖR XVI, 1936, 64; H. Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht, Essen 1992, S. 537 f.

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kann man sie, da die „Ecclesia universalis“ in Österreich durch die vom österreichischen Staatskirchenrecht geschaffene juristische Person der katholischen Kirche Österreichs wirksam wird, der Letzteren zuordnen. Voraussetzung ist natürlich, dass ein entsprechender Österreichbezug gegeben ist (z. B., dass sie in Österreich gesetzt worden sind). VI. Kirchliche Akte in der österreichischen Rechtsordnung Das, was der Kirche in Österreich auf Grund der verfassungsmäßigen Gewährleistung der kollektiven Religionsfreiheit garantiert ist, ist ein Wirken im Sinne des kirchlichen Selbstverständnisses. Sakramentales Geschehen, die Verkündigung der christlichen Lehre und überhaupt seelsorgliches Tun wendet sich ja an eine Dimension menschlichen Seins, die der Staat nicht als Regelungsmaterie für sich in Anspruch nimmt. Der staatliche Gesetzgeber ist bestrebt, diesen Bereich von seiner Normengebung freizuhalten. Damit ist der Freiheitsraum, in dem sich Religion entfalten kann, gegeben. In Wahrnehmung der Religionsfreiheit kann der Mensch sein religiöses Leben in Übereinstimmung mit der katholischen Kirche gestalten und die Kirche kann ihre spezifische religiöse Tätigkeit entfalten. Das spezifisch religiöse Tun untersteht, wenn es im vom Staat vorgegebenen freien Gestaltungsraum erfolgt, nicht der österreichischen Rechtsordnung. Selbst der Religionsunterricht in der Schule liegt, was die Lehrinhalte betrifft, in der kirchlichen Zuständigkeit, unter die staatliche Kompetenz fallen die schuldisziplinären und schulorganisatorischen Fragen. Das österreichische Recht betrachtet die religiöse Sphäre als dem Staat vorgegeben. Es beschränkt sich auf die Regelung profaner Angelegenheiten. Da der Heilsdienst in Raum und in der Zeit erfolgt und sich an Menschen, die in der profanen Welt unter dem profanen Recht leben, richtet, gibt es Berührungspunkte mit dem profanen Bereich (z. B. beim Gebrauch im wirtschaftlichen Verkehr stehender Mittel, bei Arbeitsverträgen oder im Zusammenhang mit den sozialversicherungsrechtlichen Auswirkungen kirchlicher Dienstverhältnisse). So ist die Anerkennung der einzelnen kirchlichen juristischen Personen im staatlichen Bereich von Bedeutung. Sie zielt darauf hin, dass die Kirche und ihre Einrichtungen im staatlichen Bereich Rechtshandlungen setzen und am Rechtsverkehr teilnehmen können. Wenn unter den im Zuge der geschichtlichen Entwicklung ausgebildeten rechtlichen Institutionen auch die „persona iuridica“ figuriert, so steht das Anliegen dahinter, Personengesamtheiten (Gemeinschaften) das rechtliche Handeln zu ermöglichen, ohne dass alle, die zur Personengesamtheit gehören, gemeinsam eine Rechtshandlung vollziehen müssen. Bevollmächtigte Organe der

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zur juristischen Person verfassten Personengesamtheit können namens der Gesamtheit Rechtshandlungen vornehmen. Die Gesamtheit bildet im Recht eine eigene Person, die von den einzelnen physischen Personen, die die Gemeinschaft bilden, verschieden ist. Die juristische Person ist ein rechtsfiktives Gebilde, das im Rechtsleben der heutigen Gesellschaft unerlässlich erscheint. Die Errungenschaft der Rechtsentwicklung, dass rechtsfiktive Gebilde (juristische Personen) durch ihre Organe in der Rechtsordnung ähnlich wie physische Personen handeln können, ermöglicht es, auch Sachgesamtheiten mit juristischer Personenqualität auszustatten. Bei der Teilnahme am wirtschaftlichen Verkehr und am profanen Rechtsleben ist zu beachten, dass – und dies gilt sowohl für profane als auch für kirchliche Rechtsträger – nicht alle Akte einer juristischen Person des öffentlichen Rechtes oder eines Organs einer juristischen Person des öffentlichen Rechtes als öffentlich-rechtliche Akte zu bezeichnen sind. Juristische Personen des öffentlichen Rechtes können auch Verträge privatrechtlichen Charakters abschließen. Dies begegnet uns in der Wirtschaftsverwaltung, aber auch in der Personalgebarung. Angesichts dessen, dass ein wichtiges Ziel der Handlungsfähigkeit kirchlicher juristischer Personen im profanen Rechtsbereich die Teilnahme am wirtschaftlichen Verkehr ist, spielen unter den Rechtshandlungen, die kirchliche Rechtsträger im staatlichen Bereich setzen, Vorgänge wirtschaftlicher Natur, die vielfach dem privaten Recht zuzuordnen sind, eine große Rolle. Da das spezifisch heilsdienstliche Tun im Regelfall nicht der österreichischen Rechtsordnung unterliegt, wird es im Allgemeinen nicht dazu kommen, dass es dem österreichischen Recht unterstellt wird und in Kategorien desselben zu beurteilen ist. Freilich können sich bei entsprechender Lagerung der Umstände aus religiösen Handlungen Fragen ergeben, die Bedeutung im staatlichen Rechtsbereich haben.38 Durch konkordatarische Bestimmungen, die sich sowohl als kirchliches als auch als staatliches Recht verstehen, können Grenzfragen zwischen Kirche und Staat, auch wenn sie den unmittelbaren Dienst am Heil betreffen, geregelt werden. Soweit in den völkerrechtlichen Quellen nicht Näheres bestimmt ist, wird man den religiösen Vorgang nach kanonischem Recht und allfällige, sich aus diesem in der staatlichen Rechtsordnung ergebende Folgen nach staatlichem Recht beurteilen.39

38 Theoretisch wäre es sogar denkbar, dass im staatlichen Bereich Haftungsfragen entstehen, die in das innerkirchliche Verhältnis hineinreichen. 39

Beispielsweise legt es sich nahe, in vom Grundsatz der Wahlzivilehe geprägten Rechtssystemen in der Frage, ob eine Ehe besteht, dem kanonischen, und in der Frage der daran anknüpfenden ehegüterrechtlichen Regelungen dem staatlichem zu Recht

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Wenn Auswirkungen auf vermögensrechtliche bzw. auf in der österreichischen Rechtsordnung geregelte Bereiche gegeben sind (z. B. arbeitsrechtliche Fragen kirchlicher Laiendienstnehmer) und sich so eine kirchenrechtliche Frage als Vorfrage zu einer staatlichen Rechtsfrage ergibt, wird man im Sinne des oben Ausgeführten die im kirchlichen Bereich liegende Seite des Problems nach dem kirchlichen Recht lösen.40 Man greift in einem solchen Fall, ähnlich wie im Internationalen Privatrecht auf einen außerhalb der österreichischen Rechtsordnung liegenden Bereich zurück, der nach den für diesen Bereich geltenden Regeln zu beurteilen ist. Die so getroffene Entscheidung in der Vorfrage ist dann Grundlage für das weitere nach österreichischem Recht abzuwickelnde Verfahren.41 Es gibt im österreichischen Staatskirchenrecht und insbesondere in völkerrechtlichen Verträgen mit dem Hl. Stuhl zahlreiche Normen, die man in diesem Zusammenhang anführen kann, hier sollen nur einige wenige Bespiele genannt werden. Natürlich sind die Akte kirchlicher Stellen, durch die die Zustimmung zur Ernennung eines Professors einer theologischen Fakultät (im Sinne von Art. V § 3 des Österreichischen Konkordats) gegeben, oder die Verwendung eines (staatlich angestellten und vom Staat zugewiesenen) Lehrers an einer katholischen Privatschule aus religiösen Gründen für untragbar erklärt wird42, im staatlichen Bereich rechtsverbindlich. Sie stehen auf der Stufe des öffentlichen Rechtes, sind aber den öffentlich-rechtlichen Akten österreichischer Stellen nicht restlos gleichgezogen. Wir haben bereits weiter oben rücksichtlich der folgen. Es gibt Länder, in denen die staatskirchenrechtliche Situation der aufgezeigten Linie entspricht (z. B. Libanon). 40

Art. XIII des Konkordates gibt der Kirche eine Vermögens- und Erwerbsgarantie, er gewährleistet ihre Teilnahme am wirtschaftlichen Verkehr. Die Kompetenz der nach kanonischem Recht berufenen Organe (einschließlich der sich aus den kirchlichen Zustimmungserfordernissen bei Veräußerungen ergebenden) werden anerkannt. Dies hat beispielsweise die Konsequenz, dass Veräußerungen kirchlicher Vermögenswerte, wenn die nach kanonischem Recht ad validitatem verlangte Zustimmung vorgesetzter Stellen nicht vorliegt, auch im staatlichen österreichischen Rechtsbereich ungültig sind. Die Rechtsakte, um die es hier geht, werden in der Regel dem bürgerlichen Recht zugerechnet. 41 Wenn derartige Fragen in den staatlichen österreichischen Rechtsbereich hineinragen und in diesem zu lösen sind, geht man, insbesondere wenn es dabei um vermögensrechtliche bzw. um finanzielle Angelegenheiten geht, oft den Weg, dass eine bestimmte in Österreich anerkannte kirchliche juristische Person das betreffende Anliegen in der österreichischen Rechtsordnung wahrnimmt. 42

Art. III § 3 Abs. 3 des Vertrages zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich vom 9. Juli 1962, BGBl Nr. 273, zur Regelung von mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen (Schulvertrag).

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öffentlich-rechtlichen kirchlichen Körperschaften angemerkt, dass nicht so wie bei der Wirksamkeit anderer juristischer Personen des öffentlichen Rechtes eine Bindung an verfassungsrechtliche Grundsätze besteht und dass diese auch nicht einer Überprüfung durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes unterliegen. Anders ist dies natürlich bei den Maßnahmen, die österreichische Stellen aufgrund der erwähnten kirchlichen Akte treffen. Lediglich der kirchliche Vorgang, der dies ausgelöst hat, ist, obgleich er in der österreichischen Rechtsordnung Rechtswirkungen zeitigt, nicht Gegenstand der Überprüfung durch staatliche Stellen.43 Rechtlich relevante kirchliche Vorgänge der hier zur Besprechung stehenden Art wird man bei Anwendung der Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht im innerkirchlichen Rechtsbereich in der Regel dem öffentlichen Recht zuordnen. Wenn sie allerdings in der österreichischen Rechtsordnung relevant werden, sind sie, je nachdem, ob der betreffende Rechtsbereich dem privaten oder dem öffentlichen Recht zugehört, als privat- oder öffentlichrechtliche Akte zu betrachten.44 Wenn sich rücksichtlich kirchlicher Handlungen Probleme ergeben, besteht die Möglichkeit, sich an den im kirchlichen Bereich hiefür Zuständigen und gegebenenfalls an dessen Vorgesetzen zu wenden. Soweit es sich um Maßnahmen einer der obersten kirchlichen Autorität nachgeordneten juristischen Peson handelt, sind deren Organe erster Ansprechpartner, und unter Umständen haftet die betreffende juristische Person. Wenn es um Handlungen aufgrund der spezifisch kirchlichen Sendung geht, ist, da Sendungsträger physische Personen sind, der jeweilige Sendungsträger erster Ansprechpartner, wobei, wie schon oben ausgeführt, die Zuordnung zu einer konkreten juristischen Person nicht in allen Fällen leicht ist. Da das heilsdienstliche Tun „nomine Ecclesiae“ erfolgt, wäre die entsprechende juristische Person die Gesamtkirche, und sich direkt an

43

F. Koja weist darauf hin, dass das Bestreben dahin geht, auf der Grundlage eines kirchlichen Aktes in der österreichischen Rechtsordnung ergehenden Akte, die in die individuelle Rechtssituation eingreifen, so zu gestalten, dass sie grundlegenden Erfordernissen des österreichischen Rechtes nicht entgegenstehen (vgl. F. Koja, Konkordat und Wissenschaftsfreiheit, Salzburg 1980). 44

Beispielsweise stellt sich der Rechtsakt der Kündigung eines Pastoralassistenten durch die Diözese aus Gründen der persönlichen Lebensführung innerkirchlich als öffentlich-rechtlicher Vorgang dar. In der österreichischen Rechtsordnung hat er privatrechtlichen Charakter, weil er dem Arbeitsrecht zugehört. Wenn allerdings einem Religionslehrer die Ermächtigung zum Religionsunterricht durch die kirchlichen Stellen entzogen wird, so kommt dieser Maßnahme auch in der österreichischen Rechtsordnung öffentlich-rechtlicher Charakter zu, weil ihre Rechtsgrundlage, das Religionsunterrichtsgesetz, dem öffentlichen Recht zugerechnet wird.

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die Gesamtkirche zu wenden, erweist sich – wenn es sich nicht um hochrangige Sendungsträger handelt – als nicht allzu praktische Vorgangsweise. Im Regelfall wird man sich an die Vorgesetzten des Sendungsträgers wenden, das sind zumeist die leitenden Amtsträger der Diözese, bei Angehörigen von Personalverbänden (z. B. bei Ordensleuten) kommen – je nach der Situation – (auch) leitende Amtsträger des Verbandes in Frage.45 Kirchlicher Dienst im staatlichen Dienstverhältnis. Um den Überblick über die Situation, wie sie sich derzeit in Österreich darstellt, zu ergänzen, soll noch darauf hingewiesen werden, dass es sich auch ergeben kann, dass die kirchliche Sendung im staatlichen Dienst ausgeübt wird (z. B. im Religionslehramt, in der Militärseelsorge oder in der Seelsorge in Strafvollzugsanstalten). Hier sei kurz auf das Beispiel der Religionslehrer eingegangen. Der konfessionelle Religionsunterricht, den das österreichische Schulrecht für die öffentlichen und mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schulen vorsieht, wird sowohl von staatlich bediensteten46 als auch von kirchlich bestellten Religionslehrern erteilt, wobei aber niemand ohne kirchliches Einvernehmen Religionsunterricht geben darf.47 Alle Religionslehrer unterstehen hinsichtlich der Vermittlung des Lehrgutes des Religionsunterrichtes den Vorschriften des Lehrplanes und den kirchlichen Vorschriften und Anordnungen (Religionsunterrichtsgesetz § 3, 45

Im Zusammenhang mit Rechtsakten kirchlicher juristischer Personen und kirchlicher Sendungsträger können sich natürlich auch Haftungsfragen ergeben. Da die Behandlung dieses Problemkreises den uns zur Verfügung stehenden platzmäßigen Rahmen überschreiten würde, sei hier nur kurz angemerkt, dass sich im CIC auch Haftungsregelungen finden. Allerdings sind die unter das Thema Haftung fallenden Einzelfälle sehr verschieden gelagert. In vielen Fällen, vor allem bei Verstößen im liturgischen und im Lehrbereich wird bei Bereinigung von Problemen der genannten Art viel auf das kluge Ermessen des vorgesetzten kirchlichen Verantwortungsträgers ankommen. Natürlich spielt auch die Regelung des jeweiligen staatlichen Rechtes eine Rolle. In der Praxis begegnen uns auch Fälle, in denen kirchliche juristische Personen, obgleich sie rechtlich nicht haftbar sind, aus freien Stücken die Schadensgutmachung übernehmen oder dazu beitragen. 46 47

Diese können sowohl Beamte als auch Vertragslehrer sein.

Nach § 4, Abs. 2, 1. Satz, Religionsunterrichtsgesetz darf der Staat (Bund oder ein Bundesland) nur solche Personen als Religionslehrer anstellen, die von der zuständigen kirchlichen Behörde als hiezu befähigt und ermächtigt erklärt worden sind. Der Grundsatz, dass niemand ohne kirchliches Einverständnis schulischen Religionsunterricht erteilen darf, wird also streng, auch rücksichtlich der staatsbediensteten Religionslehrer durchgezogen. Wenn die Kirche ihr diesbezügliches Einverständnis zurückzieht, so darf der Betreffende nicht mehr Religion unterrichten (§ 4 Abs. 3 Religionsunterrichtsgesetz).Vgl. auch Art. I § 3 des Vertrages zwischen dem Hl. Stuhl und der Republik Österreich vom 9. Juli 1962, BGBl Nr. 273, zur Regelung von mit dem Schulwesen zusammenhängenden Fragen.

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Abs. 3). Auch die Erstellung des Religionslehrplanes fällt in die kirchliche Zuständigkeit. Zu beachten ist, dass die Religionslehrer, gleichgültig ob sie kirchlich oder staatlich bestellt sind, einerseits Lehrer im Sinne der österreichischen Schulorganisation sind, und dass sie rücksichtlich der Schuldisziplin, der Aufsicht über die Schüler und der Notengebung der österreichischen Rechtsordnung unterliegen. Anderseits hängen sie rücksichtlich der Lehrinhalte und der Vermittlung des Lehrgutes ausschließlich von der Kirche ab. Weder die schulischen Vorgesetzten noch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes können in den zuletzt genannten Fragen angegangen werden. Die Inhalte des Religionsunterrichtes werden als innere kirchlichen Angelegenheiten betrachtet. Im österreichischen Recht ist dieser Bereich dem Staat vorgegeben, so wie überhaupt die religiöse Sphäre dem Staat vorgegeben ist. Die Wirksamkeit des Lehrers in der öffentlichen Schule wird dem öffentlichen Recht zugerechnet. Dies gilt natürlich auch für den Religionslehrer. Handlungen eines Religionslehrers in einer öffentlichen Schule, die in Durchführung des Religionsunterrichts- oder des Schulunterrichtsgesetzes erfolgen, sind, wenn sie im staatlichen Bereich rechtlich relevant werden (z. B. die Notengebung im Zeugnis), öffentlich-rechtlicher Art. Das Wirken des Religionslehrers ist in die staatliche Schulorganisation und Schuldisziplin eingebettet, weshalb er nicht nur dem kirchlichen Bereich zugehörige Lehrinhalte vermitteln, sondern gegebenenfalls auch öffentlich-rechtliche Akte im Sinne des österreichischen Verwaltungsrechtes setzen kann.

Die Mitgliedschaft in der Kirche nach staatlichem und kirchlichem Recht der Altkatholischen und Römisch-Katholischen Kirche Von Albert Haunschmidt I. Die Kirchengliedschaft im NT Die Mitgliedschaft bei der Jesus-Bewegung Jesu Predigt und Praxis ist ausgerichtet auf eine neue Sammlung des Volkes Gottes.1 Die Berufung von gerade zwölf Aposteln als Repräsentanten der zwölf Stämme Israels2 ist dafür ein deutlicher Beleg, ebenso lassen sich dafür zahllose Schriftworte anführen.3 Bei seiner Sammlungsbewegung konzentriert sich Jesus auf seine jüdischen Zeitgenossen4; er hat sich bei seiner Wirksamkeit auf jüdisches Gebiet beschränkt5, aber ganz im Sinne der jüdischen Tradition – vgl. etwa das alttestamentliche Motiv der Völkerwallfahrt nach Zion6 – sind auch die Heiden nicht vom Heil und der Heilsgemeinschaft ausgeschlossen (Mk 7,24 ff.; Mt 8,5 ff.; Mt 8,11 f.).7 Dass Jesus schließlich trotz seiner Zurückweisung durch die offiziellen Repräsentanten Israels das Ziel der Sammlung eines erneuerten Gottesvolkes nicht aufgegeben hat, zeigt sich insbesondere auch an der Einsetzung des Abend-

1

G. Lohfink, Jesus und die Kirche, in: W. Kern (Hrsg.), Handbuch der Fundamentaltheologie. Traktat Kirche, Bd. 3, Freiburg i. Br. 1986, S. 49 – 96, hier S. 71. 2

H. Küry / C. Oeyen, Die Altkatholische Kirche. Ihre Geschichte, ihre Lehre, ihr Anliegen, Stuttgart 21978, S. 229; G. Lohfink, Jesus und die Kirche (Anm. 1), S. 75 f.; 92. 3

Vgl. Lohfink, Jesus und die Kirche, S. 60 f.

4

Lohfink, Jesus und die Kirche (Anm. 1), S. 74 f.

5

Lohfink, Jesus und die Kirche (Anm. 1), S. 74.

6

Vgl. Jes 2,2 – 5; 60; Jer 3,17; Sach 8,20 – 23.

7

Lohfink, Jesus und die Kirche (Anm. 1), S. 82.

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mahls als der Feier des Neuen Bundes.8 Implizit9 war dies ein wesentlicher Akt, dass die Kirche als Gemeinde Gottes entstand. Von Interesse ist für uns die Frage, wie nun die Zeitgenossen Jesu Mitglied in der Jesusbewegung bzw. im erneuerten Volk Gottes wurden. Jesus rief die Menschen auf zu Umkehr und Glaube. Die am Beginn des Markusevangeliums stehenden Worte: „Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!“ sind geradezu Themenangabe und Zusammenfassung der Predigt Jesu. Somit sind also Umkehr und Glaube im Sinne Jesu nicht nur Eingangvoraussetzungen für das Reich Gottes, sondern vermitteln auch die Zugehörigkeit zur Bewegung Jesu und der von ihm initiierten Heilsgemeinde. Was die Gestalt des Glaubens betrifft, geht es natürlich auch um inhaltliche Vorgaben, die sich aus der Predigt Jesu ergeben (das Reich Gottes, Gott als souveräner Schöpfer der Welt und Vater im Himmel, die Auferstehung der Toten, das endzeitliche Gericht), aber Jesus entfaltet keine detaillierte, dogmatische Lehre. Jesus geht es besonders um den Glauben als Akt der vertrauensvollen Hingabe des Lebens an Gott, mithin um einen Glauben als eine das praktische Leben prägende Grundhaltung. In seinen Predigten spricht Jesus häufig ethische Grundhaltungen an. Inwieweit auch die Taufe als sichtbares Zeichen der Umkehr und der Zugehörigkeit zur Jesusbewegung bereits eine Rolle gespielt hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Immerhin spricht dafür, dass Jesus selbst sich taufen ließ, und alle Evangelien ausführlich von der Taufe Jesu berichten. In Joh 4,1 f. findet sich wohl eine alte Reminiszenz an die Taufpraxis Jesu und seiner Jünger10, wenngleich es umgekehrt überrascht, dass die synoptischen Evangelien nichts von einer Taufpraxis Jesu berichten.

8

Entgegen Küry / Oeyen, Altkatholische Kirche (Anm. 2), S. 229, handelt es sich dabei nicht um einen offiziellen Kirchengründungsakt: „Jesus weicht, als sich Israel verweigert, nicht auf eine Kirche aus – davon zeigen die Abendmahlsworte keine Spur –, sondern er bleibt bei Israel und wendet sich ihm erst recht zu.“ Lohfink, Jesus und die Kirche (Anm. 1), S. 88. Sein Tod für die Vielen ist im Licht von Jes 53,11 f. als stellvertretender Sühnetod primär für das ihn ablehnende Volk Israel zu verstehen. Vgl. ders., ebd., S. 86 f. 9

Es war wohl keine von vornherein beabsichtigte Gründung einer neuen Gemeinschaft, aber sie ergab sich als Resultat der Ablehnung Jesu durch einen Großteil des jüdischen Volkes. Vgl. Lohfink, Jesus und die Kirche (Anm. 1), S. 83 f.; 86. G. Lohfink formuliert, dass „der Wille Jesu zum eschatologischen Gottesvolk in seiner Gesamtheit und in seiner Fülle die Kirche mitumfaßt.“ Ders., ebd., S. 95. 10

J. Gnilka, Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte (= HThK.NT, Supplementband 3), Freiburg i. B. 1990, S. 84 f.

Die Mitgliedschaft in der Kirche nach staatlichem und kirchlichem Recht

961

Die Tatsache aber, dass die Apostel und Jünger die Taufe nach Tod und Auferstehung Jesu entweder als Taufe auf den Namen Jesu (Röm 6,3) oder auf den Vater, den Sohn und den Hl. Geist (Mt 28,19) ganz selbstverständlich praktizierten (Apg 2,41), spricht doch für eine Taufpraxis noch zu Lebzeiten Jesu. II. Die Phase der ersten Gemeinden im NT Gleich zu Anfang sei festgehalten, dass der neutestamentliche Begriff „ekklesia“ einerseits die christliche Versammlung am Ort (und auch die Hauskirche) und andererseits die gesamte Christenheit, die universale Kirche insgesamt meint. Damit ist zwar jene Verschränktheit von Ortsgemeinde und Gesamtkirche noch nicht ausgesagt, die auf dem Vaticanum II so treffend mit der Kurzformel von der Kirche, die in und aus Teilkirchen besteht (VatII LG Art. 14), beschrieben wird, aber es wird deutlich, dass die kirchliche Wirklichkeit in beiden Gestalten realisiert ist.11 Überdies bedeutet der Ausdruck „ekklesia“ auch die gottesdienstliche Versammlung, nämlich insbesondere die Versammlung zum Herrenmahl, worin deutlich wird, dass gerade die Feier der Eucharistie Darstellung und Verwirklichung von Kirche ist.12 Für die Mitgliedschaft in der Kirche folgt daraus, dass der einzelne Christ Mitglied in einer konkreten Gemeinde, dadurch aber auch Mitglied der gesamten universalen Kirche ist, und umgekehrt, dass sich Mitgliedschaft in der universalen Kirche immer in der konkreten Gemeinde verwirklicht und bewährt. In der Apostelgeschichte zeigen sich Umkehr und Glaube sowie die darauf erfolgende Taufe als die entscheidenden Kriterien der Mitgliedschaft in der Kirche (Apg 2,38 – 41; Apg 8,18; 10,47 f.). Der Glaube ist auch in dieser Frühphase noch nicht so konturiert und detailliert bestimmt. Der zum Heil notwendige Glaube besteht inhaltlich im Glauben an Gott als den einen Herrn und Schöpfer (Apg 14,15; 17,24 ff.; 20,21), im Glauben an Jesus als den von den Toten auferstandenen Messias und an den Hl. Geist. Die Beschneidung war keine Vorbedingung zur Aufnahme in der Kirche (Apg 15,1 – 29). Gewisse Lebensgewohnheiten sind jedoch zu meiden (ebd.). Eine auch in unserem Zusammenhang wichtige Frage ist die der Kindertaufe, denn von dieser Frage hängt es ja auch ab, ob Kinder auch schon Mitglieder

11

K. Kertelge, Die Wirklichkeit der Kirche im NT, in: Kern, Handbuch der Fundamentaltheologie (Anm. 1), S. 98 – 121, hier S. 98. 12

Kertelge, Die Wirklichkeit der Kirche im NT (Anm. 11), S. 98.

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in der Kirche sein können. Im NT gibt es kein eindeutiges Zeugnis für die Kindertaufe. In Apg 10,2.24 ist die Rede von der Taufe des Kornelius und seines Hauses. Möglicherweise sind beim Ausdruck Haus auch die zum Hauswesen gehörigen Kinder mitgemeint. Immerhin ist die Kindertaufe ab dem beginnenden 3. Jh., wenngleich zunächst als Ausnahme, sicher bezeugt.13 Liest man die Taufberichte in der Apostelgeschichte, entsteht der Eindruck, dass mit der Spendung der Taufe nicht länger zugewartet wurde, sie also ohne vorausgehende, längere Vorbereitungszeit gespendet wurde (Apg 8,38; 16,15.33). Die Taufe vermittelt nach Apg 2,42 das Recht an der Eucharistie teilzunehmen („Brot brechen“) und das „Recht“ auf Teilhabe an den Heilsgütern bzw. dem Heil, das Jesus schenkt („koinonia“).14 Auch bei Paulus sind Glaube und Umkehr (als Kehrseite des Glaubens) sowie die Taufe die Kriterien der kirchlichen Mitgliedschaft (vgl. Gal 3,26 f.). Paulus systematisiert den zum Heil notwendigen Glauben bereits. Es fällt auf, dass er neben den bereits in der Apostelgeschichte genannten Glaubensinhalten die Betonung besonders auf die Rechtfertigung aus dem Glauben an Jesus (Röm 3,21 ff.; Gal 2,11 ff.; Phil 3,1 ff.) legt. Selbstverständlich ist auch für Paulus die Taufe jener Akt, durch die zugleich die Mitgliedschaft in der Kirche (im Leib Christi) vermittelt wird (1Kor 12,13). Auch bleibt die Sünde nach der Taufe für die Mitgliedschaft in der Kirche nicht folgenlos. Bemerkenswert ist die Schriftstelle 1Kor 14,23, aus welcher hervorgeht, dass damit zu rechnen ist, dass zu den christlichen Gebetsversammlungen auch Ungläubige und Unkundige dazu kommen können. Es gibt also anscheinend einen gewissen Zugang von Nicht-Mitgliedern zur Gemeindeversammlung. Möglicherweise erklärt sich diese Offenheit aus missionarischer Intention heraus. Die ersten Christen haben das Selbstverständnis einer „offenen“ und ihrer Sendung bewussten Gemeinde.15 Dass die Sünde nach der Taufe auch für die sichtbare, institutionelle Mitgliedschaft in der Kirche nicht folgenlos bleibt, zeigt sich an der schon im NT erkennbaren Institution der Exkommunikation (Mt 18,15 – 17; 2Kor 2,5 – 11); Sie ist jedoch gewöhnlich nicht endgültig, d. h. die Zugehörigkeit zur Kirche

13

E. J. Yarnold, Art. Taufe III, in: TRE 32, S. 674 ff., hier S. 687 f.

14

J. Mühlsteiger, Sanctorum Communio, in: K. Breitsching / W. Rees (Hrsg.), Tradition – Wegweisung in die Zukunft. FS f. J. Mühlsteiger zum 75. Geburtstag, Berlin 2001, S. 812 f.; Kertelge, Die Wirklichkeit der Kirche im NT (Anm. 11), S. 117. 15

Kertelge, Die Wirklichkeit der Kirche im NT (Anm. 11), S. 98.

Die Mitgliedschaft in der Kirche nach staatlichem und kirchlichem Recht

963

geht nicht zur Gänze verloren, im Fall der Besserung besteht die Möglichkeit der Wiederaufnahme. Dies ergibt sich aus den auf Mt 18,15 – 17 folgenden Versen: In Mt 18,18 ist auch von der Lösegewalt die Rede und in Mt 18,19 f. wird zum Gebet für den Sünder aufgefordert.16 Überdies ergibt sich dies aus der gesamten Rahmung von Mt 18,15 – 17, insofern hier von der Suche Gottes nach dem Sünder, vom Gebet für den Sünder und von der Gewährung der Vergebung gegenüber dem Sünder die Rede ist. In 2Kor 2,5 – 11 – vermutlich ist hier auch ein zumindest partieller Gemeindeausschluss gemeint17 – ist ohnedies ausdrücklich davon die Rede, dass der Ausgeschlossene wieder aufgenommen werden soll. Die in 1Kor 5,1 ff. erwähnte Exkommunikation des Unzuchtssünders ist jedoch als endgültig anzusehen, denn das „Verderben des Fleisches“ meint den physischen Tod des Sünders, dessen Vergehen so groß ist, dass es nur mehr durch den physischen Tod des Sünders gesühnt werden kann. Der Straftod ist vorweggenommene Gerichtsstrafe, die vor dem Endgericht rettet.18 Paulus kennt aber, wie wir zuvor gerade gesehen haben, auch den Ausschluss aus der Gemeinde, der im Fall der Besserung wieder aufgehoben werden kann. Dem NT ist jedoch der Gedanke einer gestuften Zugehörigkeit zur Kirche Jesu, je nach dem ob der inhaltliche Glaube des einzelnen bzw. einer konkreten Gemeinde ein vorauszusetzendes Idealkonzept der vollen Wahrheit mehr oder weniger übernimmt, fremd. III. Die grundlegende Kirchengliedschaft in der einen Kirche Jesu Die christlichen Kirchen sind eins im Bekenntnis des Glaubens zur einen Kirche, in die man durch die Taufe aufgenommen wird.19 Bei der Frage der Relation der einen Kirche Jesu zur jeweiligen konkreten christlichen Konfession unterscheiden sich dagegen die einzelnen Kirchen in ihrer Antwort, was

16 J. Gnilka, Das Matthäusevangelium. Kommentar zu Kap. 14,1 – 28,20 (= HThK.NT 1/2), Freiburg i. Br. 1988, S. 66; 136; 139 f. 17

H. J. Klauck, 2. Korintherbrief (= Neue Echter Bibel. Kommentar zum NT 8), Würzburg 1986, S. 29; J. Kremer, 2. Korintherbrief (= Stuttgarter Kleiner Kommentar. NT 8), Stuttgart 1990, S. 30. 18

R. Bohren, Das Problem der Kirchenzucht im NT, Zürich 1952, S. 113; vgl. 1Kor 11,30 – 32. Freilich erhebt sich bei Paulus das Problem, wie sich der Sühnetod des Sünders zum Sühnetod Christi verhält. 19

H. Fries, Der Sinn von Kirche im Verständnis des heutigen Christentums, in: Kern, Handbuch der Fundamentaltheologie (Anm. 1), S. 17 – 29, hier S. 25.

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auch Konsequenzen zeitigt für die Frage der rechtlichen Stellung von konfessionsfremden Christen. Die Römisch-Katholische Kirche sieht sich als die einzige vollgültige Verwirklichung der Kirche Jesu auf institutioneller Ebene.20 Die Altkatholische Kirche versteht sich ebenso als eine vollgültige Konkretion der Kirche Jesu21, ohne jedoch anderen christlichen Konfessionen diese Dignität abzusprechen. Insofern zwischen der Altkatholischen Kirche und der Anglikanischen Kirche sowie zwischen der Altkatholischen Kirche und der Philippinisch-Unabhängigen Kirche und den Bischöflichen Kirchen von Spanien und Portugal die volle Kirchengemeinschaft besteht, werden diese Kirchen seitens der Altkatholischen Kirche auf jeden Fall als ihr äquivalente und vollgültige Verwirklichungen der Kirche Jesu angesehen. Die einzelnen Konfessionen stimmen darin überein, dass die Eucharistie bzw. das Abendmahl wesentlicher Selbstvollzug der Kirche, und Sinnziel der Eucharistie wie der Kirche die Einheit zwischen Gott und den Menschen und der Menschen untereinander ist, und die Teilnahme an ihr zugleich auch Ausdruck kirchlicher Gemeinschaft ist.22 Die Teilnahme an der Eucharistie setzt also kirchliche Gemeinschaft bereits voraus. Zugleich ist aber auch zu bedenken, dass nach der Lehre aller christlichen Konfessionen Jesus der einladende Herr des Mahles ist.23 Während etwa die Orthodoxen Kirchen und die Römisch-Katholische Kirche den Zusammenhang von kirchlicher Gemeinschaft und Eucharistie stärker betonen und Erstere als Voraussetzung zur vollen Teilnahme an Letzterer sehen und von daher eine mehr oder weniger ausgeprägte Zurückhaltung in der „communicatio in sacris“ an den Tag legen24, wird in der Altkatholischen Kirche mehr die Unverfügbarkeit der Eucharistie betont, da sie primär das Mahl Jesu und nicht das sakramentale Mahl einer bestimmten Konfession sei, woraus sich die Offenheit des eucharistischen Mahls für alle Ge-

20

Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 10 – 12; SC Fid, Erklärung „Dominus Jesus“ v. 6. Aug. 2000, Art. 16. 21

Präambel der Kirchenverfassung der Altkatholischen Kirche in Österreich von 2003.

22

Vgl. VatII LG 1 Abs. 1; 7 Abs. 2; 11 Abs. 1; These Nr. 1 der Ergebnisse der 38. Internat. Altkath. Theologenkonferenz: „Die Eucharistie ist … die Vollendung der Eingliederung in die Kirche, die mit der Taufe beginnt.“ (abgedr. in: IKZ [2003], S. 205). Vgl. 1Kor 10,16 f. 23

Vgl. These Nr. 3 der Ergebnisse der 38. Internat. Altkath. Theologenkonferenz: „Im Blick auf jede Eucharistiefeier ist unbestritten, dass Christus der Einladende ist.“ IKZ (2003), S. 206. 24

Für die Römisch-Katholische Kirche vgl. die sehr detaillierte und gründliche Darstellung in: Aymans / Mörsdorf, KanR II.

Die Mitgliedschaft in der Kirche nach staatlichem und kirchlichem Recht

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tauften unabhängig von ihrer Konfession ergibt.25 Freilich darf daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass die Altkatholische Kirche mit ihrer Offenheit des eucharistischen Mahles alle Christen für sich vereinnahmen möchte, so als wären alle Christen zugleich auch volle Mitglieder der Altkatholischen Kirche, gleichgültig ob ihnen dies bewusst sei oder nicht. Vielmehr geschieht die Spendung der Eucharistie an Christen anderer Konfessionen „auf die Verantwortung dieser Personen hin.“26 Wie ein Schritt zurück hinter die eigene Auffassung wirkt es, wenn die IBK zugleich erklärt, es gehe in diesem Zusammenhang um eine Anwendung des pastoralen Grundsatzes der oikonomia, so als ließe sich die Eucharistiezulassung von Christen anderer Konfessionen eben doch nicht dogmatisch-theologisch, sondern bloß aus pastoralen Erwägungen heraus begründen. Diese grundlegende Mitgliedschaft jedes Christen in der Kirche Jesu27 gilt es im Auge zu behalten, wenn es in der Folge um die konfessionelle (institutionelle) Mitgliedschaft geht. IV. Die konfessionelle Mitgliedschaft in der Altkatholischen Kirche § 1 der Kirchenverfassung der Altkatholischen Kirche Österreichs von 1980 in der Fassung vom 1.12.200328 benennt die konstitutiven Elemente der Kirchenmitgliedschaft. Demnach kommt die Mitgliedschaft in der Österreichischen Altkatholischen Kirche zustande durch „die Taufe in der Altkatholischen Kirche“29 oder durch die Aufnahme in die Altkatholische Kirche nach bereits empfangener Taufe sowie durch den Hauptwohnsitz in Österreich, in Ermangelung eines solchen durch den gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich. Voraussetzung dafür, dass schon der gewöhnliche Aufenthalt in Österreich einen Anknüpfungspunkt darstellt, ist der Mangel eines Hauptwohnsitzes nicht nur in Österreich, sondern 25

Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich (Hrsg.), Orientierungshilfe zu liturgischen und kirchenrechtlichen Fragen, Wien 2006. 26

Erklärung der IBK v. 8.10.1992, abgedr. in: IKZ 84 (1994), S. 62 f.

27

Vgl. B. Zotz, Katholisch getauft – katholisch geworden. Kanonistische Kriterien für die Zugehörigkeit zur römischen Kirche (= MK CIC. Beihefte 35), Essen 2002, S. 45. 28 29

In der Folge abgekürzt mit AKV.

In diesem Zusammenhang sei auf die Fragestellung hingewiesen, ob nicht der Spender der Taufe durch seine Intention einen Täufling auch in eine andere Konfession eingliedern könne, etwa wenn es an einem Spender der vom Täufling oder seine Eltern intendierten Konfession mangelt.

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auch im Ausland. Die Formulierung in Betreff des Wohnsitzes bzw. des gewöhnlichen Aufenthalts erinnert an die Formulierung des staatlichen Rechts in Art. 6 Abs. 3 B-VG und Art. 66 Abs. 2 JN u. § 1 Z 7 MeldeG. Diese Anknüpfung ist wohl beabsichtigt, woraus sich ergibt, dass auch der Bedeutungsinhalt dieser Ausdrücke übernommen werden soll. In Art. 6 Abs. 3 B-VG und § 1 Z 7 MeldeG ist der Hauptwohnsitz definiert. Er ist dort gelegen, wo sich die Person „… in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, hier den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen zu schaffen; trifft diese sachliche Voraussetzung bei einer Gesamtbetrachtung der beruflichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbeziehungen einer Person auf mehrere Wohnsitze zu, so hat sie jenen als Hauptwohnsitz zu bezeichnen, zu dem sie das überwiegende Naheverhältnis hat. In § 1 Z 8 MeldeG werden beispielhaft Kriterien angeführt, die den Mittelpunkt der Lebensbeziehungen eines Menschen indizieren. Es sind dies u. a. Aufenthaltsdauer, Lage des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes, sowie der Wohnsitz der Familienangehörigen. Nach § 66 Abs. 2 JN bestimmt sich der gewöhnliche Aufenthalt einer Person „ausschließlich nach tatsächlichen Umständen.“ Weder Erlaubtheit noch Freiwilligkeit spielen demnach eine Rolle. Zu berücksichtigen sind neben der Dauer all jene „Umstände persönlicher oder beruflicher Art, die dauerhafte Beziehungen zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt anzeigen.“ Nach § 36 S. 3 der erwähnten Statuten kommt ein Beitritt dann zustande, wenn derselbe vor dem zuständigen Seelsorger erklärt wird und entweder vom Gemeindevorstand oder von einem ständig bestellten Ausschuss angenommen wird. Dass es auch einer Annahmeerklärung seitens des Gemeindevorstands oder alternativ eines ständigen Ausschusses desselben bedarf, erklärt sich aus der synodalen Struktur der Altkatholischen Kirche und der Betonung der Mitverantwortung aller Christen. Freilich versteht es sich von selbst, dass eine Zurückweisung der Beitrittserklärung nur aus Gründen von solchem Gewicht zulässig ist, die auch einen Ausschluss aus der Gemeinde rechtfertigen würden. In einer gewissen Spannung steht die Notwendigkeit der Annahmeerklärung beim Beitritt zur Regelung der Taufe. Diese kann anscheinend ohne Zustimmung des Gemeindevorstandes gespendet werden, obgleich mit ihr auch zugleich die Aufnahme in die Altkatholische Kirche erfolgt. In diesem Fall ist der Seelsorger allein berufen, die notwendige Disposition als Voraussetzung zur Taufe zu beurteilen. Der Grund ist darin zu sehen, dass bei seelsorglichen Amtshandlungen, wie es vor allem die Spendung der Sakramente ist, eine ausschließliche Zuständigkeit des Seelsorgers besteht.30 Gerade bei der Taufe wäre aber, wenn schon eine Beteiligung der Laien hinsichtlich der Beurteilung der 30

Vgl. §§ 26, 31 Abs. 1 AKV.

Die Mitgliedschaft in der Kirche nach staatlichem und kirchlichem Recht

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ausreichenden Disposition erwünscht ist, eine Anknüpfung an das Patenamt der Alten Kirche möglich gewesen, dessen Aufgabe es ja u. a. war, sich für die aufrichtige Bereitschaft des Täuflings gewissermaßen zu verbürgen bzw. diese zu bezeugen.31 Wünschenswert wäre auch die Formulierung eines Grundrechts auf Taufe bzw. Mitgliedschaft in der Altkatholischen Kirche, um deutlich zu machen, dass Taufe und Aufnahme in die Kirche nicht der Willkür der Gemeinde oder des zuständigen Geistlichen unterliegen. Der zuständige Geistliche ist nicht jeder in der Gemeinde tätige Geistliche, sondern der Pfarrer oder der, der seine Stelle vertritt.32 Gegen eine ablehnende Entscheidung des Seelsorgers oder des Gemeindevorstandes bzw. seines Ausschusses gibt es die Möglichkeit, an den Synodalrat zu berufen (§ 10 Abs. 4 Z 10 AKV), gegen dessen Entscheidung eine Berufung an die nächste Synode erhoben werden kann (§ 10 Abs. 6 AKV). Die Kindertaufe wird in der Altkatholischen Kirche als selbstverständlich praktiziert, ohne dass sie den Eltern (wie in der Römisch-Katholischen Kirche33) als Pflicht auferlegt ist.34 In diesem Zusammenhang ist die Frage von Interesse, welche Folgen die Taufe eines Kindes zeitigt, wenn sie ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten erfolgt, und ab welchem Alter Kinder selbst über ihre Zugehörigkeit zur Altkatholischen Kirche entscheiden können. Die Statuten der Altkatholischen Kirche enthalten darüber keine explizite Antwort. Es kann aber angenommen werden, dass bei Beschlussfassung der Statuten die diesbezüglichen einschlägigen staatlichen Normen als selbstverständlich und sinnvoll vorausgesetzt worden sind, sodass sich eine eigene Regelung als nicht notwendig erübrigte. Die einschlägigen staatlichen Normen können also gewissermaßen als leges canonizatae angesehen werden. Was die Beendigung der Mitgliedschaft in der Altkatholischen Kirche angeht, besteht wohl wie in der Römisch-Katholischen Kirche die Auffassung, dass eine solche im vollen Sinn gar nicht möglich ist. Freilich gibt es auch in der Altkatholischen Kirche den Entzug von Mitgliedschaftsrechten.

31 Vgl. Yarnold, Taufe (Anm. 13), S. 693; vgl. Tertullian, bapt. 18,4, der an dieser Stelle von den Paten als „sponsores“ spricht. 32

Dies ergibt sich aus einer Zusammenschau der §§ 31, 35 u. 37 AKV.

33

Vgl. c. 867 CIC.

34

Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen in Österreich, Orientierungshilfe (Anm. 25), S. 11 Pkt. 3.

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Nach § 10 Abs. 5 Z 3 kommt es dem Synodalrat zu, „offenkundigen Schädlingen der Kirche sämtliche Mitgliedschaftsrechte in Kirchengemeinde und Gesamtkirche zu entziehen“. Der Begriff des offenkundigen Schädlings der Kirche ist interpretationsbedürftig. Dabei ist zu bedenken, dass wohl auch für die Altkatholische Kirche der Rechtsgrundsatz gilt, dass Strafgesetze eng auszulegen sind. Weiters bekennt sich die Altkatholische Kirche zu den Menschenrechten, d. h. dass dieselben als Grundrechte – so weit wie nur möglich, nämlich ohne in Widerspruch zum Sendungsauftrag des Herrn zu geraten – auch innerkirchliche Geltung haben. Dies gilt dann auch für den (ursprünglich gegen die Strafwillkür des absolutistischen Herrschers gerichteten) Grundsatz „nulla poena sine lege“, woraus wiederum folgt, dass der Begriff des Kirchenschädlings nicht über seinen unzweifelhaften Sinn ausgedehnt werden darf. Offenkundigkeit meint nicht unbedingt Publizität, sondern die sichere Evidenz eines Tatbestands. Zu bedenken ist auch, dass es dem einzelnen Spender der Eucharistie (im Unterschied zum kanonischen Recht der Römisch-Katholischen Kirche35) nicht zukommt, aus eigener Verantwortung, ohne vorausgehenden Synodalratsbeschluss einem Kirchenmitglied die Kommunion zu verweigern. Es besteht somit ein weiter Spielraum des einzelnen Empfängers der Kommunion. Diese Zurückhaltung hinsichtlich der Verweigerung der Kommunion ist wohl auch mit der geschichtlichen Erfahrung der Gründungsmitglieder der Altkatholischen Kirche im Zusammenhang zu sehen, als diese ja bisweilen sehr hart die einschneidenden, auch sozialen Folgen der Exkommunikation selber verspürten.36 Von daher sieht es die Altkatholische Kirche als Auftrag an, sich besonders jener Christen anzunehmen, die anderswo ihre kirchliche Beheimatung verloren haben. Wer der Kirchenbeitragspflicht nicht nachkommt, verliert eo ipso das aktive und passive Stimmrecht bei der Gemeindevorstandswahl. Wer aus der Altkatholischen Kirche durch Erklärung vor dem Staat austritt, muss nicht allein aus diesem Grund schon ein offenkundiger Kirchenschädling sein, weshalb er weiterhin auch innerhalb der Altkatholischen Kirche die Kommunion empfangen darf.

35

Vgl. c. 915 CIC.

36

Vgl. C. Halama, Altkatholiken in Österreich, Wien 2004, z. B. S. 289 ff.; 616 ff.

Die Mitgliedschaft in der Kirche nach staatlichem und kirchlichem Recht

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V. Die Mitgliedschaft in der Römisch-Katholischen Kirche In die volle Gemeinschaft der Römisch-Katholischen Kirche wird man aufgenommen entweder durch die in ihr vollzogene Taufe (cc. 11, 96, 204 § 1 CIC; c. 1490 CCEO) oder durch die Aufnahme in ihre volle Gemeinschaft (c. 11 CIC; c. 1490 CCEO) nach Bitte um den Beitritt, d. h durch die Erklärung, denselben Glauben teilen und sich der kirchlichen Gemeinschaft der RömischKatholischen Kirche anschließen zu wollen (vgl. c. 205 CIC).37 Eine Taufe in der Römisch-Katholischen Kirche ist dann gegeben, wenn die Intention des Taufempfängers, subsidiär seiner Eltern oder seines Vormundes oder schließlich des Spenders auf die Aufnahme in derselben Kirche gerichtet ist.38 Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ortskirche ergibt sich aus dem Wohnsitz, Nebenwohnsitz oder beim Wohnsitzlosen aus dem tatsächlichen Aufenthalt in der betreffenden Diözese bzw. anderen Teilkirche (cc. 107, 372 § 1 CIC). Ein Minderjähriger (bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) teilt notwendig Wohnsitz und Nebenwohnsitz desjenigen, dessen Gewalt er unterstellt ist. Zusätzlich kann jedoch der „infantia egressus“ (nach Vollendung des 7. Lebensjahres) einen eigenen Wohnsitz begründen. Wohnsitz und Nebenwohnsitz sind durch die cc. 102 u. 106 CIC definiert. Demnach ist auch eine Mehrfachmitgliedschaft in mehreren Ortskirchen, auch in verschiedenen Staaten möglich, da jemand unter Aufrechterhaltung eines Wohnsitzes auch andernorts einen (Neben-)Wohnsitz begründen kann (vgl. c. 102 § 2, 105 § 1 u. 106 CIC)39. Eine volle Zugehörigkeit zur Römisch-Katholischen Kirche entsteht durch die Taufe seitens eines röm.-kath. Spenders selbst dann, wenn das Kind gegen den ausdrücklichen Willen seiner Eltern getauft wird, sofern die Eltern die Taufe überhaupt ablehnen (vgl. c. 868 § 2 CIC).40 Lehnen die Eltern die Taufe nur in der katholischen Kirche ab, wird das Kind Mitglied jener Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft, die die Eltern intendieren.41 Überdies gilt, dass beim „infantia egressus“, also nach Vollendung des 7. Lebensjahres, ohnedies nur mehr der Wille des Heranwachsenden maßgeblich ist, 37

Vgl. Ordo Admissionis, Praenotanda u. die Feier der Aufnahme, Pastorale Einführung; cc. 896 – 901 CCEO; Zotz, Katholisch getauft (Anm. 27), S. 105. 38

Zotz, Katholisch getauft (Anm. 27), S. 66 ff.

39

Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 299 ff.

40

Zotz, Katholisch getauft (Anm. 27), S. 77.

41

Ebd.

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wenn es um die Entscheidung zur Taufe oder zum Kirchenbeitritt geht. Nach innerkirchlichem Recht ist der Wille der Eltern in diesem Fall nicht mehr zu beachten. Es erscheint zwar auf den ersten Blick eine Überschätzung des Kindes und seiner Geisteskräfte zu sein, wenn ihm hinsichtlich der Taufentscheidung bereits eine entsprechende Fähigkeit zur Willensbildung zugetraut wird, andererseits tritt das Kind entwicklungspsychologisch gesehen etwa genau in diesem Alter von der „magischen“ in die „rationale“ Phase ein, d. h. vermag auch schon in einem gewissen Grad sachlich-logisch zu denken, sowie in der Phantasie Erdachtes und real in der Außenwelt Erlebtes klar zu unterscheiden.42 Überdies ist auf Jesu Wort zu verweisen, dass gerade den Kindern das Himmelreich gehört (Mk 10,14). Die Frage der Religionsmündigkeit im innerkirchlichen Recht anders als im staatlichen Recht zu regeln, erscheint also durchaus sinnvoll. In Spannung zur Taufregelung steht c. 900 § 1 CCEO, wonach ein Kircheneintritt eines bereits Getauften vor Vollendung des 14. Lebensjahres „renitentibus parentibus“ nicht in Frage kommt. Dass beim Taufempfang ein geringeres Alter für ausreichend angesehen wird, hängt wohl damit zusammen, dass der Empfang des Taufsakraments die Heilsfrage stärker tangiert als die Eingliederung des einzelnen bereits Getauften in die volle Gemeinschaft der RömischKatholischen Kirche. Eine Beendigung der Kirchenmitgliedschaft als solcher ist nicht vorgesehen. Es gilt uneingeschränkt der Grundsatz „semel catholicus, semper catholicus“. Wer sich von der Römisch-Katholischen Kirche lossagt, bleibt dennoch grundsätzlich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auch durch das ius mere ecclesiasticum verpflichtet. Freilich sehen insbesondere das kirchliche Strafrecht, aber auch einzelne Normen außerhalb des Strafrechts (vgl. cc. 915, 1007 CIC) den Verlust von Gliedschaftsrechten vor. Während die einzelnen Straftatbestände im kanonischen Recht genau formuliert und einer exakten Interpretation zugänglich sind, gilt dies nicht für den Auffangtatbestand des c. 1399 CIC. Für diese Norm gilt dieselbe Kritik, die schon im Zusammenhang mit der Altkatholischen Kirchenverfassung und den darin verwendeten Begriff des „Kirchenschädlings“ geäu-

42

R. Kohnstamm, Praktische Kinderpsychologie, Bern 1990 3, S. 154 f.; 197 f.

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971

ßert wurde. Immerhin stößt c. 1399 CIC auf deutliche Kritik innerhalb der Kirchenrechtswissenschaft.43 Als Rechtsmittel stehen gegen Strafurteile bzw. Strafdekrete die Berufung bzw. der hierarchische Rekurs zur Verfügung und ein eingelegtes Rechtsmittel hat eo ipso aufschiebende Wirkung (c. 1353 CIC). Eine Verweigerung der Sakramente oder des kirchlichen Begräbnisses nach cc. 915, 1007 u. 1184 CIC stellt keinen Verwaltungsakt im engen Sinn dar, weswegen auch das formelle Rechtsmittel des recursus hierarchicus nicht anwendbar ist. Es kann jedoch eine nicht formelle Beschwerde an den zuständigen Ordinarius gerichtet werden, der sodann eine entsprechende Anweisung geben kann. Wer vor der staatlichen Behörde den Austritt aus der Römisch-Katholischen Kirche erklärt, gilt nach kanonischem Recht zumindest als Schismatiker44 und zieht sich eo ipso die Tatstrafe der Exkommunikation zu. Es ist ihm folglich nicht mehr gestattet (vor der Lossprechung von dieser Kirchenstrafe), die hl. Kommunion zu empfangen (c. 1331 § 1 n. 2 CIC). VI. Die Kirchengliedschaft nach dem staatlichen Recht Es geht in diesem Abschnitt um die Frage, unter welchen Bedingungen die nach dem jeweiligen Recht einer Religionsgemeinschaft bestehende Mitgliedschaft auch eine Wirksamkeit im staatlichen Rechtsbereich entfaltet bzw. für den staatlichen Rechtsbereich Anerkennung erfährt. Das staatliche Recht muss dabei an das jeweils eigene Recht der Religionsgemeinschaft anknüpfen, denn die Frage der Mitgliedschaft ist ja eine von der jeweiligen Religionsgemeinschaft selbstständig zu regelnde innere Angelegenheit im Sinne von Art. 15 StGG u. Art. 9 EMRK.45 Es kann also nicht zum Aufdrängen von Mitgliedern seitens des Staates kommen. So erklärt es sich, dass der Eintritt in eine KuR vor dem zuständigen Religionsdiener und nicht etwa vor der staatlichen Behörde zu erklären ist (Art. 6 InterKonfG). In diesem Kontext ist auch die Regelung des RelUG zu sehen, wonach zur Teilnahme konfessionsfremder Schüler am konfessionellen Religionsunterricht die Zustimmung des jeweiligen Religionslehrers erforderlich ist. Umgekehrt kommt es aber dem Staat im Sinne der negativen Religionsfreiheit und der negativen

43

Als eine für viele kritische Stimmen: vgl. K. Breitsching, Menschenrechte, Grundrechte und kirchliche Rechtsordnung, in: FS Mühlsteiger (Anm. 14), S. 213 f. 44 45

Mörsdorf, Lb. III, S. 424.

H. Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht, Wien 1984, S. 44; H. Kalb / R. Potz / B. Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 159.

972

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Versammlungsfreiheit zu, den Einzelnen vor einer Vereinnahmung bzw. einer Zwangsmitgliedschaft zu schützen. Eine Mitgliedschaft, die nicht durch eine freie Willenserklärung des gesetzlichen Vertreters oder des Mitglieds selbst zustande kommt, kann deshalb vom Staat nicht anerkannt werden.46 Unbenommen bleibt es aber dem staatlichen Gesetzgeber zusätzlich zum jeweiligen Eigenrecht der Religionsgemeinschaften weitere Voraussetzungen zu normieren, dass die jeweilige Mitgliedschaft auch im staatlichen Rechtsbereich Anerkennung finden kann, sofern sich die Normen nicht als Diskriminierung bzw. einer unsachlichen Gleich- oder Ungleichbehandlung einer bestimmten Religionsgemeinschaft oder überhaupt als nicht gerechtfertigte Beschränkung der Religionsfreiheit darstellen. Staatliche Regelungen sind dann gerechtfertigt, wenn sie dem Schutz anderer vorrangiger Grundrechte (insbesondere dem Recht auf Leben), dem Schutz der Religionsfreiheit oder dem Frieden zwischen den Religionsgemeinschaften dienen.47 So ist etwa die Religionsmündigkeit im staatlichen Recht eigens geregelt. Diese Regelung findet ihre Rechtfertigung darin, dass die individuelle Religionsfreiheit geschützt werden soll. Sie weicht von der eigenen, internen Regelung der Römisch-Katholischen Kirche48 ab. Religionsmündig nach staatlichem Recht, d. h. fähig die Zugehörigkeit zu einer bestimmten KuR eigenberechtigt festzulegen, ist gemäß Art. 4 InterkonfG jeder, der das 14. Lebensjahr vollendet hat, sofern er sich nicht in einem Geisteszustand befindet, der die freie Wahl des Religionsbekenntnisses ausschließt. Ist die geistige Beeinträchtigung von Dauer könnte man die Ansicht vertreten, dass beim mündigen Minderjährigen die obsorgeberechtigten Eltern dazu befugt sind. Dem steht jedoch entgegen, dass die Religionsfreiheit ein höchstpersönliches Recht ist49 und es deshalb in diesem Bereich keine Vertretung geben kann. Das Recht der Eltern, über die Religionszugehörigkeit ihrer Kinder zu entscheiden, leitet sich vielmehr aus dem Grundrecht der Eltern ab, über die religiöse bzw. weltanschauliche Erziehung des Kindes zu bestimmen. (Abs. 2 des 1. ZProt EMRK). Die Eltern üben also die eigene Religionsfreiheit und

46

Kalb u. a., Religionsrecht (Anm. 45), S. 160.

47

Vgl. Art. 9 Abs. 2 EMRK, in welchem erschöpfend die materiellen Voraussetzungen aufgezählt sind, die die staatliche Gesetzgebung legitimieren, das Recht auf individuelle und kollektive Religionsfreiheit zu beschränken. 48 Vgl. c. 97 § 2 i.V.m. 852 § 1; 868 § 2 CIC: Demnach darf ein Kind nach Vollendung des siebten Lebensjahres aus eigenem Wunsch getauft werden, ein jüngeres Kind, wenn es in Todesgefahr ist, ebenso, wobei der Wille der Kindeseltern unbeachtlich ist. 49

T. Öhlinger, Verfassungsrecht, Wien 52003, Nr. 936.

Die Mitgliedschaft in der Kirche nach staatlichem und kirchlichem Recht

973

nicht etwa stellvertretend die ihres Kindes aus.50 Insofern das elterliche Recht auf Erziehung auch beim Kind nach Vollendung des 14. Lebensjahres fortdauert, kann mit gutem Grund vertreten werden, dass Eltern beim auf Dauer geistig beeinträchtigten mündigen Minderjährigen nach wie vor Entscheidungen hinsichtlich seiner Religionszugehörigkeit mit Wirkung im Bereich des staatlichen Rechts setzen können. Von daher ergibt sich, dass der Sachwalter über die konfessionelle Zugehörigkeit des Besachwalterten mit Wirkung für das staatliche Recht keinesfalls bestimmen kann, da es keine stellvertretende Ausübung des Rechts auf Religionsfreiheit gibt.51 Der Besachwalterte verbleibt somit in jener Religionsgemeinschaft, in welcher er sich vor Verlust seiner geistigen Fähigkeiten befunden hat. Für das noch nicht religionsmündige Kind bestimmen die obsorgeberechtigten Eltern einvernehmlich die Konfessionszugehörigkeit (§ 154 Abs. 2 ABGB). Kommen die Eltern nicht überein, bleibt es zunächst bei der bisherigen Konfessionszugehörigkeit bzw. Konfessionslosigkeit. Sofern dadurch eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt52, kann das Pflegschaftsgericht die erforderliche Zustimmung eines Elternteils ersetzen (§ 176 Abs. 1). Hat nur ein Elternteil die Obsorge inne, kommt auch nur ihm allein die Bestimmung der Konfessionszugehörigkeit des unmündigen Minderjährigen zu. Der andere Elternteil ist vor einer diesbezüglichen Entscheidung anzuhören, da ihm ein Informations- und Äußerungsrecht gemäß § 178 ABGB zukommt. Dass das Pflegschaftsgericht das Kind, das das 10. Lebensjahr vollendet hat, vor seiner Entscheidung zu hören hat, (§ 2 Abs. 3 und § 3 Abs. 2 RelKErzG), betrifft ebenfalls nur die Entscheidung über die religiöse Erziehung des Kindes, nicht die Entscheidung über die Mitgliedschaft in oder den Austritt aus einer KuR, Bekenntnisgemeinschaft oder einem Religionsverein.53

50

Pree, Staatskirchenrecht (Anm. 45), S. 28.

51

Vgl. Weitzenböck in: Schwimann, ABGB3, Rz 10 zu § 273; Stabentheiner in: Rummel, ABGB3, Rz 2 zu § 273; OGH v. 11.9.2003 , 6 Ob 106/03 m. 52

Es besteht diesbezüglich eine eigenartige Spannung zu § 2 Abs. 3 RelKErzG, als über die religiöse Erziehung des Kindes im Streitfall das Pflegschaftsgericht auch dann entscheiden kann, wenn keine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt. Das zit. RelKErzG betrifft hier aber nur die Regelung im Innenverhältnis (d. h. die Erziehung des Kindes im engeren Sinn), nicht die rechtliche Vertretung des Kindes nach außen. (Stabentheiner in: Rummel, ABGB3, Bd. 1, § 154, 154a Rz 6; EFSlg. Nr. 62.818). 53 Auch das AußStrG enthält diesbezüglich keine Regelung, § 105 Abs. 1 AußStrG sieht die Befragung des unmündigen Minderjährigen nur im Verfahren über Pflege und

974

Albert Haunschmidt

Wenn das Kind das 12. Lebensjahr bereits vollendet hat, kann es nicht gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis als bisher erzogen werden, wohl aber kann es gegen seinen Willen, sofern die Zustimmung der Eltern bzw. des Pflegschaftsgerichtes vorliegt, in eine andere Religionsgemeinschaft als bisher aufgenommen werden, bezieht sich doch die Bestimmung des § 5 RelKErzG ausschließlich auf die Erziehung des Kindes. Sofern nur einem Elternteil die Obsorge für das Kind zukommt, entscheidet dieser alleine, ohne dass es der Zustimmung des anderen Elternteils bedürfte. Der andere Elternteil hat allerdings gemäß § 178 ABGB ein Informations- und Äußerungsrecht. Eine weitere vom staatlichen Recht formulierte Voraussetzung für die staatliche Rechtswirksamkeit eines Beitritts zu einer KuR ist der bereits vor der staatlichen Behörde erklärte Austritt aus der KuR, sofern es bei Beitritt und Austritt um eine staatlich anerkannte Religionsgemeinschaft geht. Im staatlichen Rechtsbereich gibt es keine Mehrfachmitgliedschaft in anerkannten KuR.54 Diese Regelung dient wohl dem konfessionellen Frieden. Außerdem würden sich auch staatlich-rechtliche Mehrfachpflichten ergeben, die möglicherweise gar nicht oder nur schwer erfüllbar wären. Art. 6 InterKonfG nennt als weitere Voraussetzung die Erklärung des Beitritts vor dem zuständigen Seelsorger. Dies ist nicht in der Weise aufzufassen, dass die Beitrittserklärung stets vor einer einzelnen Person, deren Aufgabe die Seelsorge ist, zu geschehen hat, sondern es ist gemeint, dass eine Erklärung des Beitritts vor dem nach dem Recht der Religionsgemeinschaft zuständigen Organ – das können auch mehrere Personen sein – notwendig ist. Das InterKonfG ist aus einem europäisch-christlichem Verstehenshorizont formuliert, weshalb einzelne Ausdrücke im Rahmen einer verfassungskonformen Interpretation weit auszulegen sind. Dass eine Erklärung gefordert ist, soll die Freiheit des Beitritts absichern. Die Zugehörigkeit zu einer anerkannten Religionsgemeinschaft wird überdies durch Einwanderung nach Österreich, d. h. durch die Wohnsitznahme (iS des Art. 6 Abs. 3 B-VG u. § 1 Abs. 6 MeldeG) oder zumindest durch einen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich (iS des § 66 Abs. 2 JN) begründet, sofern der Einwanderer bereits im Ausland einer anerkannten KuR angehörte.55

Erziehung (d. h. die Entscheidung über die Obsorge) oder den persönlichen Verkehr (d. h. die Entscheidung über die Ausübung des Besuchsrecht) vor. 54

Pree, Staatskirchenrecht (Anm. 45), S. 44.

55

Kalb u. a., Religionsrecht (Anm. 45), S. 160.

Die Mitgliedschaft in der Kirche nach staatlichem und kirchlichem Recht

975

Der Beitritt zu einer KuR im Ausland ist nach den betreffenden ausländischen Rechtsnormen zu beurteilen.56 Fehlen diesbezügliche staatliche Normen, ist ausschließlich auf die eigenen Regelungen der jeweiligen Religionsgemeinschaft zurückzugreifen.57 Aus der auch im staatlichen Rechtsbereich wirksamen Mitgliedschaft in einer bestimmten KuR ergeben sich eine Reihe von staatlichen Pflichten und Rechte:58 Gemäß dem KBG ergibt sich für die Mitglieder der Römisch-Katholischen, der Altkatholischen, der Evangelischen Kirche AB und HB die Kirchenbeitragspflicht auch nach staatlichem Recht, sofern ein Kirchenbeitrag nach den Vorgaben des KBG von der jeweiligen Kirche festgelegt wird. Der Staat räumt in § 3 Abs. 1 den genannten Kirchen ausdrücklich die Möglichkeit ein, Kirchenbeitragsrückstände auf dem ordentlichen Rechtsweg geltend zu machen. Die Altkatholische Kirche hat de facto schon einige Jahre nicht mehr von dieser Möglichkeit der gerichtlichen Geltendmachung des Kirchenbeitrags Gebrauch gemacht. Dieser faktische Rechtsverzicht wurde auch auf den Synoden befürwortet. Selbstverständlich hat diese synodal genehmigte Praxis keine unmittelbare Wirkung für den staatlichen Rechtsbereich. In einem Zivilprozess um den Kirchenbeitrag wäre aber der Einwand des einzelnen Mitglieds möglicherweise beachtlich, dass er seine Mitgliedschaft im Hinblick auf diese Praxis erklärt oder fortgesetzt hat. Aus dem RelUG ergibt sich die Pflicht, den schulischen Religionsunterricht, der u. U. auch als Sammelunterricht außerhalb eines Schulgebietes organisiert werden kann, zu besuchen (§ 1 Abs. 1 RelUG). Aus § 7 ARG ergibt sich der Anspruch auf Arbeitsruhe an Feiertagen, wobei den Angehörigen der Evangelischen, Methodistischen und der Altkatholischen Kirche zusätzlich zu den in Abs. 2 leg cit angeführten gesetzlichen Feiertagen auch der Karfreitag als ein weiterer Tag der Arbeitsruhe gewährleistet ist (§ 7 Abs. 3 ARG).

56

OGH v. 19.3.1912, GlU 5823.

57

Pree, Staatskirchenrecht (Anm. 45), S. 45.

58

Im Zusammenhang damit, welche Rechtswirkungen die Zugehörigkeit zu einem religiösen Bekenntnis auslöst, sind drei Ebenen zu unterscheiden: die religiöse Überzeugung, die religionsgemeinschaftliche und die staatsrechtliche Zugehörigkeit. Uns sollen jetzt nur die Rechtsfolgen interessieren, die sich aus der staatsrechtlichen Zugehörigkeit ergeben. So knüpft beispielsweise das Recht des Strafgefangenen auf eine seiner religiösen Überzeugung entsprechende Seelsorge nicht an seine staatsrechtliche Zugehörigkeit, sondern an seine aktuell geäußerte religiöse Überzeugung an. (VfGH v. 6.10.1999, VfSlg. 15.592/1999).

976

Albert Haunschmidt

Die Kirchenmitgliedschaft in einer anerkannten Religionsgemeinschaft endigt nach dem staatlichen Recht mit dem Tod, mit der Auswanderung und mit dem vor der politischen Behörde, nach § 1 AustrittsVO vor der Bezirksverwaltungsbehörde erklärten Austritt. In diesem Zusammenhang ist auf den in Österreich geltenden Rechtsgrundsatz „locus regit actum“ zu verweisen, dass nämlich im Inland auch Ausländer (mit ausländischer Staatsbürgerschaft) die Mitgliedschaft in einer anerkannten KuR nur durch die formelle Austrittserklärung vor der Behörde beenden können und umgekehrt österreichische Staatsbürger, sofern sie ins Ausland verzogen sind, auf die jeweils nach der im Ausland vorgesehenen Art den Austritt zu vollziehen haben (VwGH 22.5.1964 Zl 1111/63).59 Sieht das jeweils anzuwendende ausländische Recht keine Austrittsregelung vor, sind die allgemeinen Regelungen über Rechtsgeschäfte heranzuziehen. Entscheidend ist demnach, ob jemand nach außen hin seinen Willen ausdrücklich oder konkludent erklärt hat, die Mitgliedschaft zu einer Religionsgemeinschaft zu beendigen.60 Es stellt sich die Frage, ob die Mitgliedschaft in einer anerkannten KuR nach staatlichem Recht auch dann endigt, wenn die Mitgliedschaft nach dem jeweiligen Eigenrecht der Religionsgemeinschaft aufhört, oder ob auch in diesem Fall die Austrittserklärung vor dem Staat erforderlich ist. Da das staatliche Recht der einzelnen KuR nicht Mitglieder aufdrängen darf, ist die Mitgliedschaft wohl auch dann mit Wirkung für den staatlichen Rechtsbereich beendet, wenn sie nach dem eigenen Recht der jeweiligen Religionsgemeinschaft endet. Es muss also den KuR bzw. ihren Organen nach staatlichem Recht möglich sein, die Mitgliedschaft eines ihrer Mitglieder auch mit staatlicher Rechtswirksamkeit für beendet zu erklären. Die Mitgliedschaft in einer religiösen Bekenntnisgemeinschaft mit Rechtspersönlichkeit (nach dem BG vom 9.1.1998 über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften) bestimmt sich auch für den staatlichen Bereich nach dem eigenen Recht dieser religiösen Gemeinschaft. Nach § 4 Abs. 1 Z 4 des BG über die Rechtspersönlichkeit haben die Statuten der jeweiligen Gemeinschaft darüber etwas vorzusehen. Die Beendigung der Mitgliedschaft ist gemäß § 8 Abs. 1 leg cit auch durch die Erklärung des Austritts vor der Bezirksverwaltungsbehörde möglich, oder eben auf die Weise, die in den Statuten der betreffenden Bekenntnisgemeinschaft vorgesehen ist. Es fällt hier der Unterschied zu den nach dem AnerkennungsG anerkannten KuR auf, bei denen

59

Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 45), S. 48; Kalb u. a., Religionsrecht (Anm. 145), S. 163. 60

Vgl. § 863 ABGB; Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht (Anm. 45), S. 45.

Die Mitgliedschaft in der Kirche nach staatlichem und kirchlichem Recht

977

die Beendigung der Mitgliedschaft seitens des einzelnen Mitglieds nur durch die vor der politischen Behörde vollzogene Austrittserklärung möglich ist. Wenn auch § 3 lit a des früheren VereinsG von 1951 die Anwendung des VereinsG auf Religionsgesellschaften ausgeschlossen hatte, hat sich in Anerkennung des Rechtes auf Vereinigungsfreiheit und des Rechtes auf gemeinsame Ausübung der Religion (Art. 9 EMRK61) die rechtliche Praxis eingebürgert, dass die Konstituierung von Vereinen, die die das religiöse Leben ihrer Mitglieder nicht umfassend zu befriedigen suchen, sondern nur beschränkte religiöse Zwecke verfolgen, für zulässig erachtet worden ist62, da für nicht dem AnerkennungsG und jetzt dem BG über die Rechtspersönlichkeit unterliegende Religionsgesellschaften sonst gar keine gesetzliche Möglichkeit ihrer Konstituierung vorgesehen gewesen wäre. Nach dem neuen VereinsG von 2002 gibt es diesbezüglich keine Beschränkung für religiöse Vereine mehr. Beginn und Ende der Mitgliedschaft in einem religiösen Verein bestimmen sich nunmehr gemäß § 3 Abs. 2 Z 5 VereinsG nach den jeweiligen Statuten des Vereins. Zur Vereinsgründung bedarf es mindestens zweier Personen (§ 1 Abs. 1 VereinsG). Bei Streitigkeiten über die staatliche Zugehörigkeit ist die Bezirksverwaltungsbehörde des Wohnsitz- bzw. Aufenthaltsortes zuständig. Unter der Voraussetzung, dass ein rechtliches Interesse anzunehmen ist, hat die Behörde auf Antrag einen Feststellungsbescheid zu erlassen betreffs die (Nicht-)Zugehörigkeit zu einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft63 oder einer Bekenntnisgemeinschaft64. Der Instanzenzug geht zum Landeshauptmann und zum BMBWK.

61

Art. 14 StGG gesteht nur den staatlich anerkannten Kirchen das Recht der kollektiven Religionsfreiheit zu. Die EMRK dagegen unterscheidet nicht zwischen anerkannten und nicht anerkannten Religionsgemeinschaften, ebenso wenig schon zuvor Art. 63 StV von St. Germain, StGBl 303/1920. Damit ist der einschränkenden Bestimmung des Art. 14 StGG derogiert. 62 Pree, Staatskirchenrecht (Anm. 45), S. 132; Dass diese Praxis auch vom Bundesgesetzgeber anerkannt ist, ergibt sich aus § 3 Abs. 4 des BekenntnisgemeinschaftenG von 1998, worin ausdrücklich auf Vereine Bezug genommen wird, „deren Zweck in der Verbreitung der Religionslehre der religiösen Bekenntnisgemeinschaft besteht“. Zur Vereinsgründung genügten nach VereinsG 1951 bereits drei Personen, während im BekenntnisgemeinschaftenG als Mindestzahl für den Erwerb der Rechtspersönlichkeit 300 Personen angegeben sind (§ 3 Abs. 3 leg. cit.). 63 64

Kalb u. a., Religionsrecht (Anm. 45), S. 160 f.

Die Zuständigkeit der Bezirksverwaltungsbehörde auch in Bezug auf die Bekenntnisgemeinschaft ergibt sich daraus, dass auch in Bezug auf diese eine Austrittserklärung vor der Bezirksverwaltungsbehörde möglich ist.

978

Albert Haunschmidt

Auch die jeweilige Religions- oder Bekenntnisgemeinschaft hat in diesem Verfahren neben dem Einzelnen, um dessen Mitgliedschaft es geht, Parteienstellung.65 Eine Mehrfachmitgliedschaft in mehreren Religionsgemeinschaften ist nach staatlichem Recht ausgeschlossen. Es bleibt jedoch der einzelnen Religionsgemeinschaft unbenommen, hinsichtlich der Mitgliedschaft für den eigenen, inneren Bereich zu anderen Auffassungen zu gelangen als die staatliche Behörde. In diesem Zusammenhang sei auf das gerade in der Altkatholischen Kirche vermehrt anzutreffende Phänomen von Christen hingewiesen, die sich intensiv am Leben einer altkatholischen Gemeinde beteiligen, sich jedoch nicht zu einem offiziellen, auch nach staatlichem Recht gültigen Beitritt entschließen können. Diskutiert wird gegenwärtig, welchen Status diese „amici“ in der Altkatholischen Kirche innehaben sollen.

65

Kalb u. a., Religionsrecht (Anm. 45), S. 161.

Die zivilrechtliche Bedeutung religiöser Eheschließung in den Ländern der Europäischen Union Von Markus Graulich I. Der Hintergrund: Kirche und Staat in Europa Am 29. Oktober 2004 haben die Staats- und Regierungschefs sowie die Außenminister der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Rom den „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ unterzeichnet. Aus der Sicht des Staatskirchenrechts ist der Artikel I-52 dieses Verfassungsvertrages von besonderer Bedeutung, geht es doch hier ausdrücklich um den Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften: „(1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. (2) Die Union achtet in gleicher Weise den Status, den weltanschauliche Gemeinschaften nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genießen. (3) Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“

Die ersten beiden Abschnitte des Artikels gehen zurück auf die so genannte Amsterdamer Kirchenerklärung vom 2. Oktober 1997, die als Erklärung Nr. 11 zur Schlussakte des Vertrages von Amsterdam gehört. Der dritte Abschnitt ist in der Verfassung erstmals hinzugefügt worden. Bei I-52 handelt es sich also um einen Artikel, der „auf eine bewährte Formulierung zurückgreift, aber durch die Anfügung des ‚regelmäßigen Dialoges‘ gleichzeitig eine Fortentwicklung zugunsten der Kirche erkennen lässt.“1

1

Patrick Roger Schnabel, Die Stellung der Kirchen im Verfassungsvertrag der EU, in: KuR 140, S. 88. Zur Kirchenerklärung vgl. Bernd Grzeszik, Die Kirchenerklärung von Amsterdam. Europäischer Text, völkerrechtliche Verbindlichkeit, staatskirchenrechtlicher Inhalt, in: ZevKR 48 (2003), S. 284 – 300.

980

Markus Graulich

Mit diesem Artikel erkennt die Europäische Union das in den Mitgliedsstaaten gelebte und rechtlich gestaltete Verhältnis zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften als Teil der nationalen Identität an, zu deren Achtung sie sich verpflichtet hat, und betont vor diesem Hintergrund, dass ihr „auf dem Gebiet des Staatskirchenrechts weder eine Kompetenz zur Rechtssetzung noch zur Rechtsangleichung [zukommt]. Die Entwicklung eines europäischen Religionsrechts darf daher weder eine Harmonisierung der staatskirchenrechtlichen Verhältnisse zum Ziel haben, noch die Schaffung eines eigenständigen Staatskirchen2 rechts.“

Gleichzeitig setzt Artikel I-52 aber weder die Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Stand, ihren Status über das Europarecht zu verbessern, noch kann er gewährleisten, dass sich das Europarecht nicht u. U. mittelbar auf das Staat-Kirche-Verhältnis der Mitgliedsstaaten auswirkt. Es geht hier um die Wirkungen des sekundären Europarechts, das die Kirchen etwa im Arbeitsrecht betrifft, ohne sie aber in ihrer spezifischen Identität als Kirchen zu betrachten. Sie sind insoweit betroffen, „als ihre Tätigkeiten einzelne Sachbereiche berühren, die zu den Zuständigkeiten der Europäischen Union gehören. Das gilt vor allem, aber nicht nur für Aktivitäten wirt3 schaftlicher Art.“

In einzelnen Bereichen (Datenschutz, Antidiskriminierungsbestimmungen usw.) waren daher bereits Sonderregelungen erforderlich, damit die Europäische Union ihrer Selbstverpflichtung nachkommen konnte, besonders im Hinblick auf die Regelungen mit religionsrechtlichen Implikationen, den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedsstaaten zu achten und diesbezüglich eine Grenze der Gemeinschaftskompetenz nicht zu überschreiten.4 Wie ein Blick auf das Verhältnis von Staat und Kirche in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zeigt,5 gestaltet sich das Staatskirchenrecht in den 2

Grzeszik, Kirchenerklärung (Anm. 1), S. 292.

3

Heinrich de Wall, Europäisches Staatskirchenrecht, in: ZevKR 45 (2000), S. 160; vgl. Christoph Link, Staat und Kirche im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses, in: ZevKR 42 (1997), S. 131. 4

Vgl. zum Zusammenhang Matthias Triebel, Der Kirchenartikel im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, in: ZevKR 49 (2004), S. 644 – 651. 5 Vgl. Gerhard Robbers, State an Church in the European Union. Second edition. Baden-Baden 2005; Stefan Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts. (= Neue Schriften zum Staatsrecht 1), Baden-Baden 2005; Markus Graulich, Staatskirchenrecht in der Europäischen Union, in: Peter J. Tettinger (†) / Klaus Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte Charta, München 2006 (im Druck).

Die zivilrechtliche Bedeutung religiöser Eheschließung

981

einzelnen Staaten Europas sehr unterschiedlich. So lassen sich grundsätzlich drei Systeme der Organisation des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche (Staatskirchentum, strikte Trennung und kooperative Trennung) unterscheiden. Unterschiede gibt es ferner im Hinblick auf den rechtlichen Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften, ihre Finanzierung, ihre Beteiligung am öffentlichen Schul-, Erziehungs- und Fürsorgesystem, den Religionsunterricht in öffentlichen Schulen, die Militär- und Anstaltsseelsorge usw. Dabei ist festzustellen, dass das Staatskirchenrecht der einzelnen Länder zutiefst verbunden ist mit der Geschichte, den Werten und den Überzeugungen der jeweiligen Staaten, so dass die Vielfalt nationaler Kulturen und Identitäten in dieser Mannigfaltigkeit der Beziehungsgestaltung besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Vor diesem Hintergrund haben sich in den Staaten der Europäischen Union im Laufe der Geschichte auch verschiedene Formen herausgebildet, wie die religiöse Eheschließung von der staatlichen Gesetzgebung gewürdigt wird. Während bis ins 16. Jahrhundert hinein die Eheschließung in die Zuständigkeit der Kirche und später verschiedener Religionsgemeinschaften fiel, gibt es heute in keinem europäischen Land mehr eine obligatorische religiöse Feier der Ehe. Es werden vielmehr zwei verschiedene Modelle voneinander abgegrenzt, die sich nochmals differenzieren lassen: die obligatorische Zivilehe und die fakultative Zivilehe. Bei der obligatorischen Zivilehe6 kommt der religiösen Feier vor dem staatlichen Recht keinerlei Bedeutung zu und die Eheschließung vor dem Standesbeamten ist die einzig anerkannte Form der Eheschließung. Je nach Gesetzgebung kann die religiöse Feier der Eheschließung ohne vorausgehende Zivilehe unter Strafe stehen. Bei der fakultativen Zivilehe wird noch einmal zwischen dem so genannten angelsächsischen Modell7 und der Konkordatsehe8 unterschieden. Beim angelsächsischen Modell haben die Partner die Wahl zwischen einer zivilen oder einer religiösen Feier der Eheschließung, wobei letztere praktisch einer Eheschließung nach staatlichem Recht vor dem Vertreter der Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft gleichkommt. Die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen der Ehe regelt das staatliche Gesetz; was immer die Kirche ggf. an zusätzlichen Bedingungen aufstellt, hat für den Staat keine Bedeutung.

6

Vgl. Ginesio Mantuano, Rilevanza civile del matrimonio religioso negli Stati dell’Unione Europea. Vol. I: Sistemi matrimoniali a confronto: matrimonio civile obbligatorio e facoltativo, Torino 2004, S. 71 – 73. 7

Vgl. ebd., S. 74 – 75.

8

Vgl. ebd., S. 75 – 77.

982

Markus Graulich

Im Fall der Konkordatsehe hat die kirchliche Eheschließung auf Grund einer völkerrechtlich bindenden Vereinbarung zwischen dem jeweiligen Staat und dem Heiligen Stuhl auch zivile Rechtsfolgen, wenn die Brautleute dies wollen. Die Voraussetzungen und die Rechtsfolgen der Ehe regeln sich weitgehend nach kanonischem und nicht (wie beim angelsächsischen Modell) nach staatlichem Recht, bis hin zur möglichen Anerkennung der kirchlichen Ehenichtigkeitserklärung oder einer Dispens bei nicht vollzogener Ehe. Im Folgenden sollen nun die Modelle in ihrer Umsetzung in den einzelnen Ländern dargestellt werden. II. Obligatorische Zivilehe Die obligatorische Zivilehe ist in den Ländern verbreitet, in denen eine strikte oder kooperative Trennung zwischen Staat und Kirche herrscht. So bestimmt die Verfassung Belgiens9 in ihrem Artikel 21: „Die zivile Eheschließung muss stets der Einsegnung der Ehe vorangehen, vorbehaltlich der erforderlichenfalls durch Gesetz festzulegenden Ausnahmen.“

Konsequenterweise betrachtet das belgische Strafrecht ein Zuwiderhandeln gegen diesen Verfassungsartikel als Vergehen eines Geistlichen in Ausübung seines Auftrages und sieht außer im Todesfall für den entsprechenden Geistlichen eine Geldstrafe, im Widerholungsfall auch eine Gefängnisstrafe vor. Eine Ausnahme von dieser Strafe wird nur bei Todesgefahr für die Brautleute gemacht.10

9

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Belgien vgl. Rik Torfs, in: LKStKR II, Sp. 414a – 416a; Rik Torfs, State and Church in Belgium, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 9 – 33; speziell zur Eheschließung vgl. Rik Torfs, Le mariage religieux et son efficacité civile en Belgique, in: European Consortium for Church-State Research (Hrsg.), Marriage and Religion in Europe. (= Università degli Studi di Milano. Facoltà di Giurisprudenza. Pubblicazioni di Diritto Ecclesiastico 8), Milano 1993, S. 221 – 251; Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 100 – 113. 10

Code pénal, Art. 267: „Sera puni d’une amende de cinquante francs à cinq cents francs, tout ministre d’un culte qui procédera à la bénédiction nuptiale avant la célébration du mariage civil. Cette disposition ne sera pas applicable lorsque l’une des personnes qui ont recu la bénédiction nuptiale était en danger de mort, et que tout retard apporté à cette cérémonie eût pu avoir effet de la rendre impossible. En cas de nouvelle infraction de même espèce, il pourra, en outre, être condamné à un emprisonnement de huit jours à trois mois.“ Art. 268: „Seront punis d’un emprisonnement de huit jours à trois mois et d’une amende de vingt-six francs à cinq cents francs, les ministres d’un culte qui, dans l’exercice de leur ministère, par des discours prononcés en assemblée publique,

Die zivilrechtliche Bedeutung religiöser Eheschließung

983

In der Bundesrepublik Deutschland11 ist die obligatorische Zivilehe12 seit der Novelle des Personenstandgesetzes von 1953 nicht mehr strafbewehrt, es gilt aber weiterhin: „Wer eine kirchliche Trauung oder die religiösen Feierlichkeiten einer Eheschließung vornimmt, ohne dass zuvor die Verlobten vor dem Standesamt erklärt haben, die Ehe miteinander eingehen zu wollen, begeht eine Ordnungswidrigkeit.“13

Davon wird nur abgesehen im Fall der Todesgefahr für die Brautleute und wenn „ein auf andere Weise nicht zu behebender schwerer sittlicher Notstand vorliegt, dessen Vorhandensein durch die zuständige Stelle der religiösen Körperschaft des öffentlichen Rechts bestätigt ist.“14

Die gleiche Bestimmung findet sich auch in Artikel 26 des Reichskonkordates, wo zusätzlich die Verpflichtung des Geistlichen normiert wird, für den Fall, dass er eine rein kirchliche Eheschließung vornimmt, unverzüglich das zuständige Standesamt zu informieren.15 Im Schlussprotokoll zum Konkordat wird zudem das Vorliegen des schweren sittlichen Notstandes näher gefasst:

auront directement attaqué le gouvernement, une loi, un arrêté royal ou tout autre acte de l’autorité publique.“ 11

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland vgl. Heiner Marré, Das staatliche Religionsrecht in Deutschland, in: Richard Puza / Abraham Peter Kustermann (Hrsg.), Staatliches Religionsrecht im europäischen Vergleich, Freiburg/Schweiz 1993, S. 99 – 113; Ilona Riedel-Spangenberger, in: LKStKR II, Sp. 416b – 420b; Heinrich de Wall, Das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Kirche in Deutschland, in: Burkhard Kämper / Michael Schlagheck (Hrsg.), Zwischen nationaler Identität und europäischer Harmonisierung. Zur Grundspannung des zukünftigen Verhältnisses von Gesellschaft, Staat und Kirche in Europa. (= Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 36), Berlin 2002, S. 85 – 100; Gerhard Robbers, State and Church in Germany, in: Ders. (Hrsg), State and Church (Anm. 5), S. 77 – 94; speziell zur Eheschließung vgl. Gerhard Robbers, Civil Effects of Religious Marriage in Germany, in: European Consortium, Marriage (Anm. 9), S. 209 – 218; Dietrich Pirson, Staatliches und kirchliches Eherecht, in: HdbStKirchR2 I, S. 787 – 825; Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 114 – 123. 12 § 11 Abs. 1 EheG: „Eine Ehe kommt nur zustande, wenn die Eheschließung vor dem Standesbeamten stattgefunden hat.“ 13

§ 67, Satz 1 PersStdG.

14

§ 67, Satz 2 PersStdG.

15

Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933, Art. 26, in: AAS 25 (1933), S. 403 – 404.

984

Markus Graulich

„Ein schwerer sittlicher Notstand liegt vor, wenn es auf unüberwindliche oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu beseitigende Schwierigkeiten stösst, die zur Eheschließung erforderlichen Unterlagen beizubringen.“16

Ein Notenwechsel zwischen dem Heiligen Stuhl und der Bundesrepublik Deutschland vom 16./17. Juli 1956 hält darüber hinaus fest, dass „ein schwerer sittlicher Notstand, der die Vornahme der kirchlichen Einsegnung der Ehe vor der Ziviltrauung rechtfertigt [nicht vorliegt], wenn mit dem Vollzug der Ziviltrauung für die Nupturienten ausschließlich wirtschaftliche Nachteile verbunden wären.“17

Die im Reichskonkordat angekündigte umfassende spätere Regelung der eherechtlichen Fragen ist bisher nicht erfolgt.18 Auch in Frankreich19 sind die zivilrechtliche und die kirchenrechtliche Ehegesetzgebung völlig unabhängig voneinander. Die Zivileheschließung ist obligatorisch und strafbewehrt: wer eine religiöse Eheschließung vornimmt, ohne dass vorher die zivile Eheschließung stattgefunden hat, kann mit bis zu sechs Monaten Gefängnis oder einer Strafe bis zu 7.500 € belegt werden.20 Artikel 22 der Verfassung Luxemburgs21 bestimmt: „Die bürgerliche Ehe muss stets der kirchlichen Einsegnung derselben vorangehen.“ Die Strafe für

16 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933, Schlussprotokoll zu Art. 26, in: AAS 25 (1933), S. 411. 17

Notenwechsel zwischen dem Heiligen Stuhl und der Bundesrepublik Deutschland vom 16./17. Juli 1956, Nr. 1, in: Enchiridion dei Concordati, Nr. 2619. 18

Vgl. Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Deutschen Reich vom 20. Juli 1933, Art. 26, in: AAS 25 (1933), S. 403. 19

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Frankreich vgl. Francis Messner, Le droit français des religions, in: Puza / Kustermann (Hrsg.), Religionsrecht (Anm. 11), S. 33 – 57 Jean-Paul Durand, in: LKStKR II, Sp. 422a – 424b; Roland Minnerath, Das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Kirche in Frankreich, in: Kämper / Schlagheck (Hrsg.), Identität (Anm. 11), S. 47 – 57; Brigitte Basdevant-Gaudemet, State and Church in France, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 157 – 186; speziell zur Eheschließung vgl. Nicole Guimezanes, Le mariage religieux et son efficacité civile en France, in: European Consortium, Marriage (Anm. 9), S. 153 – 185; Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 79 – 99. 20

Code pénal, Art. 433-21: „Tout ministre d’un culte qui procédera, de manière habituelle, aux cérémonies religieuses de mariage sans que ne lui ait été justifié l’acte de mariage préalablement reçu par les officiers de l’état civil sera puni de six mois d’emprisonnement et de 7500 euros d’amende.“ 21 Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Luxemburg vgl. Jean Ehert, in: LKStKR II, Sp. 431a – 433a; Alexis Pauly, State and Church in Luxembourg, in: Robbers (Hrsg.),

Die zivilrechtliche Bedeutung religiöser Eheschließung

985

ein Zuwiderhandeln liegt hier zwischen 500 € und 5000 €; im Wiederholungsfall droht eine Gefängnisstrafe.22 In den Niederlanden23 wird es als Ausdruck der Trennung von Staat und Kirche betrachtet, dass die kirchliche Eheschließung keine zivilrechtlichen Wirkungen hat. Das bürgerliche Gesetzbuch24 schreibt die obligatorische Zivilehe vor. Gemäß Artikel 449 des Strafgesetzbuches der Niederlande25 wird ein Vergehen gegen diese Vorschrift mit einer Geld- oder im Wiederholungsfall mit einer Gefängnisstrafe belegt. Auch in Österreich26 ist die Zivilehe obligatorisch, und die kirchliche Eheschließung hat keine Wirkung im staatlichen Recht, ungeachtet der Tatsache, dass dies in Artikel VII des Konkordates zwischen dem Heiligen Stuhl und

State and Church (Anm. 5), S. 305 – 322; speziell zur Eheschließung vgl. Anne Bamberg, Le mariage religieux et son efficacité civile au Grand Duché de Louxembourg, in: European Consortium, Marriage (Anm. 9), S. 75 – 84; Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 128 – 132. 22 Code pénal, Art. 267: „Sera puni d’une amende de 500 euros à 5.000 euros tout ministre d’un culte qui procédera à la bénédiction nuptiale avant la célébration du mariage civil. En cas de nouvelle infraction de même espèce, il pourra, en outre, être condamné à un emprisonnement de huit jours à trois mois.“ 23

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in den Niederlanden vgl. Knut Walf, Staat und Kirche in den Niederlanden, in: Puza / Kustermann (Hrsg.), Religionsrecht (Anm. 11), S. 85 – 98.; Sophie van Bijsterveld, in: LKStKR II, Sp. 433a – 434b; Sophie van Bijsterveld, State and Church in the Netherlands, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 367 – 390; speziell zur Eheschließung vgl. Jan Verheul, The Religious Marriage and ist Civil Effects in the Netherlands, in: European Consortium, Marriage (Anm. 9), S. 67 – 74; Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 124 – 127. 24

BWB Art. 1:68: „Geen godsdienstige plechtigheden zullen mogen plaats hebben, voordat de partijen aan de bedienaar van de eredienst zullen hebben doen blijken, dat het huwelijk ten overstaan van de ambtenaar van de burgerlijke stand is voltrokken.“ 25

„1. De bedienaar van de godsdienst die, voordat partijen hem hebben doen blijken dat hun huwelijk ten overstaan van de ambtenaar van de burgerlijke stand is voltrokken, enige godsdienstige plechtigheid daartoe betrekkelijk verricht, wordt gestraft met geldboete van de tweede categorie. 2. Indien tijdens het plegen van de overtreding nog geen twee jaren zijn verlopen sedert een vroegere veroordeling van de schuldige wegens gelijke overtreding onherroepelijk is geworden, kan hechtenis van ten hoogste twee maanden of geldboete van de tweede categorie worden opgelegd.“ 26

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Österreich vgl. Brigitte Schinkele, in: LKStKR II, Sp. 438a – 440a; Richard Puza, State and Church in Austria, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 391 – 418; speziell zur Eheschließung vgl. Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 133 – 140.

986

Markus Graulich

Österreich aus dem Jahr 1933 noch so vereinbart worden und sogar eine staatliche Anerkennung kirchlicher Nichtigkeitserklärungen und Ehedispensen vorgesehen war.27 Allerdings stellt die Vornahme einer kirchlichen Eheschließung ohne vorherige Ziviltrauung in Österreich auch weder eine Ordnungswidrigkeit, noch einen Straftatbestand dar. Dennoch verbietet es das Partikularrecht der österreichischen Bischöfe den Priestern, ohne Genehmigung des Ortsordinarius solche Trauungen vorzunehmen. Die Verfassung Sloweniens28 sieht die obligatorische Zivilehe in ihrem Artikel 53, Abs. 1 vor: „Die Ehe beruht auf der Gleichberechtigung der Eheleute. Sie wird vor dem zuständigen Staatsorgan geschlossen.“

Ein im Jahr 2001 zwischen dem Heiligen Stuhl und Slowenien geschlossener Vertrag geht auf Fragen des Eherechts nicht ein.

27 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich vom 5. Juni 1933, Artikel VII, in AAS 26 (1934), S. 258 – 259: „§1 Die Republik Österreich erkennt den gemäß kanonischem Recht geschlossenen Ehen die bürgerlichen Rechtswirkungen zu. §2 Das Aufgebot dieser Eheschließungen erfolgt nach dem kanonischen Rechte. Die Republik Österreich behält sich vor, auch ein staatliches Aufgebot anzuordnen. §3 Die Republik Österreich anerkennt die Zuständigkeit der kirchlichen Gerichte und Behörden zum Verfahren bezüglich der Ungültigkeit der Ehe und der Dispens von einer geschlossenen aber nicht vollzogenen Ehe. §4 Die hierauf bezüglichen Verfügungen und Urteile werden, nachdem sie rechtskräftig geworden sind, dem Obersten Gerichtshof der Signatura Apostolica vorgelegt. Dieser prüft, ob die Vorschriften des kanonischen Rechtes über die Zuständigkeit des Richters, die gesetzmäßige Vertretung und das ungesetzmäßige Nichterscheinen der Parteien befolgt worden sind. Die genannten endgültigen Verfügungen und Urteile werden mit den diesbezüglichen Verfügungen des Obersten Gerichtshofes der Signatura Apostolica dem österreichischen Obersten Gerichtshofe übersendet. Die bürgerlichen Rechtswirkungen treten mit der vom österreichischen Obersten Gerichtshofe in nichtöffentlicher Sitzung ausgesprochenen Vollstreckbarkeitserklärung ein. §5 Die kirchlichen und staatlichen Gerichte haben einander im Rahmen ihrer Zuständigkeit Rechtshilfe zu leisten.“ Im Zusatzprotokoll zu diesem Artikel wird auch die Anerkennung der Entscheidungen im Hinblick auf das Privilegium Paulinum festgeschrieben. 28

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Slowenien vgl. Lovro Šturm, State and Church in Slovenia, in: Silvio Ferrari, Law an Religion in Post-Communist Europe. Leuven 2003, S. 327 – 353; Lovro Šturm, State and Church in Slovenia, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 469 – 490.

Die zivilrechtliche Bedeutung religiöser Eheschließung

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Bereits im Jahr 1895 wurde in Ungarn29 die obligatorische Zivilehe eingeführt. Diese Regelung wird auch in Ungarn als Ausdruck der Trennung zwischen Kirche und Staat betrachtet. Seit 1962 ist es nicht mehr strafbar, wenn eine kirchliche Trauung ohne vorherige staatliche Eheschließung stattfindet. Wer sich für eine rein kirchliche Eheschließung entscheidet, gilt vor dem staatlichen Gesetz als nicht verheiratet. Allerdings sind derzeit in Ungarn Überlegungen im Gang, eine Konkordatsehe nach dem polnischen Modell einzuführen. Die bisherigen Verträge zwischen Ungarn und dem Heiligen Stuhl haben die Fragen des Eherechts nicht berührt. In acht Ländern der Europäischen Union gibt es also die obligatorische Zivilehe und der kirchlichen Eheschließung kommt vor dem staatlichen Recht keinerlei Bedeutung zu. Die Möglichkeit einer rein kirchlichen Eheschließung in den Ländern, in denen diese nicht als Ordnungswidrigkeit oder Straftat gilt, sollte aber auch nicht ausgenutzt werden, um z. B. in den Genuss staatlicher Leistungen zu kommen, die nur unverheirateten oder verwitweten Personen zustehen und gleichzeitig in einer kirchlich gültigen Verbindung zu leben. Das Eintreten der Kirche für Ehe und Familie kann auch dadurch deutlich werden, dass sie ihre Gläubigen ermutigt, eine nach den Gesetzen des jeweiligen Landes gültige Ehe einzugehen.30 III. Die fakultative Zivilehe Die fakultative Zivilehe gibt es in siebzehn Ländern der Europäischen Union, wobei neun Länder dem angelsächsischen Modell und acht Länder dem Modell der Konkordatsehe folgen. Beide werden hier getrennt behandelt. 1. Das angelsächsische Modell Das so genannte angelsächsische Modell findet sich in Ländern, die ein Staatskirchentum kennen oder bis vor nicht allzu langer Zeit kannten. So haben in

29 Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Ungarn vgl. Balázs Schanda, in: LKStKR II, Sp. 457a – 458b; Balázs Schanda, Freedom and Cooperation. State of Affairs of ChurchState Relation in Hungary, in: Hartmut Zapp / Andreas Weiß / Stefan Korta (Hrsg.), Ius Canonicum in Oriente et Occidente (FS Fürst) (AIC 25), Frankfurt 2003, S. 1021 – 1039; Balázs Schanda, State and Church in Hungary, in: Ferrari, Law (Anm. 28), S. 121 – 140; Balázs Schanda, State and Church in Hungary, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 323 – 345. 30

Vgl. Puza, Austria (Anm. 26), S. 419.

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Markus Graulich

Dänemark31 die zukünftigen Ehegatten die Wahl zwischen einer zivilen Trauung oder einem religiösen Ritus, der nicht nur von einem Vertreter der dänischen Volkskirche, sondern auch von Seiten der anderen anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften vorgenommen werden kann. Die Amtsträger der Kirchen und Religionsgemeinschaften erhalten vom Staat die Erlaubnis, in religiöser Form eine auch staatlich gültigen Eheschließung vorzunehmen, wobei das Aufgebot und die spätere Registrierung der Eheschließung Sache des Staates sind. Seit Dezember 2001 hat der Klerus in Estland32 wieder das Recht, zivil gültige Eheschließungen vorzunehmen. Die Erlaubnis dazu wird jeweils vom Innenministerium erteilt. Dadurch wird deutlich, dass der Staat auf diese Weise nicht die kirchliche Eheschließung als solche anerkennt, sondern vielmehr die Möglichkeit geschaffen hat, die Aufgaben des Standesbeamten auf die Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften zu übertragen. Den Vertretern der Kirchen und Religionsgemeinschaften kommt allerdings das Recht zu, die Eheschließung für den Fall zu verweigern, dass sie nach dem Recht der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft nicht möglich wäre.33 Das Ehegesetz von 1929 erlaubt auch in Finnland34 die Wahl zwischen der religiösen und der zivilen Form der Eheschließung. Voraussetzung ist, dass der Staat die Kirche oder Religionsgemeinschaft als solche anerkennt.35 Ist dies der

31

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Dänemark vgl. Jørgen Stenboek, Staat und Kirche in Dänemark, in: ZevKR 45 (2000), S. 221 – 231; Inger Dübeck in: LKStKR II, Sp. 416a – 417b; Inger Dübeck, State and Church in Denmark, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 55 – 76; speziell zur Eheschließung vgl. Inger Dübeck, Marriage in Denmark, in: European Consortium, Marriage (Anm. 9), S. 199 – 207; Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 179 – 185. 32 Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Estland vgl. Merilin Kiviorg, State and Church in Estonia, in: Ferrari, Law (Anm. 28), S. 99 – 120; Merilin Kiviorg, State and Church in Estonia, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 95 – 114; Jaan Kiivit, Das Verhältnis von Staat und Kirche in Estland, in: ZevKR 50 (2005), S. 495 – 499. 33

Vgl. Kiviorg, Estonia (Anm. 32), S. 108.

34

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Finnland vgl. Matti Kotiranta, Kirche, Staat und Religionsfreiheit in Finnland, in: ZevKR 45 (2000), S. 233 – 256; Juha Seppo, in: LKStKR II, Sp. 420b – 422a; Markku Heikkilää / Jyrki Knuutila / Martin Scheinin, State and Church in Finnland, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 519 – 536; Matti Halttunen, Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Ev.-luth. Kirche und dem Staat in Finnland seit 2000, in: ZevKR 50 (2005), S. 453 – 480; speziell zur Eheschließung vgl. Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 201 – 205. 35 Marriage Act, Section 14: „A religious ceremony may be performed in an Evangelical Lutheran church or in a Greek Orthodox church or in another religious community

Die zivilrechtliche Bedeutung religiöser Eheschließung

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Fall, kann auch das Aufgebot von der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft durchgeführt werden.36 Erst im Jahr 1982 wurde per Gesetz in Griechenland37 die Möglichkeit der zivilen Form der Eheschließung eingeführt, die vorher unbekannt war.38 Nach dem im Rathaus erfolgten Aufgebot kann ein Paar nun zwischen der religiösen (auch nicht-orthodoxen) und der zivilen Form der Eheschließung wählen, wobei eine besonders große Diskrepanz zwischen den staatlichen und den kirchlichen Ehehindernissen besteht, da die orthodoxe Kirche viele geistliche begründete Ehehindernisse kennt (Religionsverschiedenheit, geistliche Verwandtschaft, Ehebruch unter den zukünftigen Gatten usw.), die von der staatlichen Rechtsordnung nicht anerkannt werden. In Großbritannien39 gibt es ebenfalls die Möglichkeit der Wahl zwischen der zivilen und der religiösen Form der Eheschließung, allerdings liegt hier keine einheitliche Regelung vor. In England und Wales haben die Vertreter der Church of England bzw. der Church of Wales das Recht, auch das Aufgebot vor der Eheschließung vorzunehmen. Im Fall der Eheschließung vor einem Vertreter einer anderen Kirche oder Religionsgemeinschaft liegt die Zuständigkeit für das Aufgebot beim Staat. Zudem dürfen diese Eheschließungen nur in dafür vorgesehenen Gebäuden (registered building) vorgenommen werden. In

to which the Ministry of Education has granted a license to perform marriage ceremonies.“ Section 17, 1: „A religious marriage ceremony may be performed by: (1) in the Evangelical Lutheran church by a priest; (2) in the Greek Orthodox church by a priest; and (3) in another religious community by a person who, under the rules of the community, has the right to perform marriage ceremonies.“ 36

Vgl. Marriage Act, Section 10.

37

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Griechenland vgl. Spyros Troianos, Die rechtliche Stellung von Kirchen und religiösen Gemeinschaften in Griechenland, in: ÖARR 46 (1999), S. 58 – 63; Charalambos Papastathis, in: LKStKR II, Sp. 424a – 426a; Charalambos Papastathis, State and Church in Greece, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 115 – 138; speziell zur Eheschließung vgl. Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 186 – 196. 38 39

Vgl. L. 1250/1982.

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Großbritannien vgl. Hanns Engelhardt, in: LKStKR II, Sp. 426a – 428a; Norman Doe / Joanna Nicholson, Das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Kirche in Großbritannien, in: Kämper – Schlagheck (Hrsg.), Identität (Anm. 11), S. 59 – 84; David Mc Clean, State and Church in the United Kingdom, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 553 – 575; speziell zur Eheschließung vgl. Francis Lyall, Marriage in Scotland, in: European Consortium, Marriage (Anm. 9), S. 1 – 23; David Mc Clean, Marriage in England, in: European Consortium, Marriage (Anm. 9), S. 187 – 198; Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 141 – 159.

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Markus Graulich

Schottland ist das Aufgebot Sache des Staates, der eine so genannte marriage schedule ausstellt, die dann anlässlich der religiösen Eheschließung ausgefüllt und für die staatliche Registrierung verwendet wird. In Schottland muss die Eheschließung vor einem approved officiant der jeweiligen Kirche oder Religionsgemeinschaft erfolgen, um später staatlicherseits registriert werden zu können. Irland40 kennt auf Grund seiner Geschichte ein im Hinblick auf die Möglichkeit der staatlichen Wirkung religiöser Eheschließungen differenziertes Recht. Die Eheschließung in der katholischen Kirche kann unabhängig von staatlicher Mitwirkung registriert werden, es sei denn, dass einer der beiden Partner nicht katholisch ist. In diesem Fall muss der Staat vorher informiert bzw. ein staatliches Aufgebot vorgenommen werden. Die Eheschließungen anderer Religionsgemeinschaften können in der Regel registriert werden, sofern vorher ein staatliches Aufgebot erfolgt ist. In Schweden41 können etwa 30 Kirchen und Religionsgemeinschaften zivil gültige Eheschließungen vornehmen. Die Vertreter dieser Kirchen und Religionsgemeinschaften müssen eine staatliche Anerkennung haben. Seit dem 1. Juli 1992 ist es in der Tschechischen Republik42 wieder möglich, zwischen ziviler und religiöser Eheschließung zu wählen.43 In der Eherechtsnovelle von 199844 wird präzisiert, dass vor der Eheschließung ein staatliches 40 Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Irland vgl. Ilona Riedel-Spangenberber, in: LKStKR II, Sp. 428a – 429a; James Casey, State and Church in Ireland, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 187 – 208; speziell zur Eheschließung vgl. James Casey, Religious Marriage and ist Civil Effectivness in Ireland, in: European Consortium, Marriage (Anm. 9), S. 111 – 120; Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 160 – 178. 41

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Schweden vgl. Sven Åke Selander, Evangelisch-lutherisch – demokratisch-landesumfassend – über die schwedische Kirche damals und heute, in: ZevKR 45 (2000), S. 293 – 318; Sven Åke Selander, in: LKStKR II, Sp. 447b – 449a; Sofia Hjertonsson, Neue Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Schweden, in: ÖARR 51 (2004), S. 24 – 40; Lars Friedner, State and Church in Sweden, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 537 – 551; speziell zur Eheschließung vgl. Mantuano, Rilevanza (Anm. 6), S. 197 – 200 (allerdings wird der Stand der Gesetzgebung vor 2000 grundgelegt). 42

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Tschechien vgl. JiĜí Tretera, in: LKStKR II, Sp. 455a – 457a; JiĜí Tretera, State and Church in the Czech Republic, in: Ferrari, Law (Anm. 28), S. 81 – 97; Wolfgang Wieshaider / JiĜí Tretera, Recht und Religion in Mittel- und Osteuropa. Band 2: Tschechien. Wien 2004; JiĜí Tretera, State and Church in the Czech Republic, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 35 – 54. 43

Vgl. Gesetz 234/1992 Sb.

44

Vgl. Gesetz 91/1998 Sb.

Die zivilrechtliche Bedeutung religiöser Eheschließung

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Aufgebot erfolgen muss. Ist eine zivile Ehe geschlossen worden, kann ihr eine religiöse Eheschließung folgen, ohne dass dieser dann staatliche Rechtsfolgen zuwachsen; wird jedoch zunächst eine religiöse Ehe geschlossen und entsprechend registriert, kann später keine zivile Trauung erfolgen. Wer von Seiten der Kirche oder Religionsgemeinschaft die Eheschließung vornimmt, bestimmt das eigene Recht der Gemeinschaft. In griechischen Teil Zyperns45 ist die zivile Eheschließung erst seit 199046 möglich. Die Normalform der Eheschließung ist weiterhin die religiöse, der auch staatliche Wirkungen zukommen. 2. Die Konkordatsehe Die Möglichkeit der so genannten Konkordatsehe besteht in Ländern, die sich zu einer kooperativen Trennung zwischen Kirche und Staat bekennen und diese Kooperation über Staatskirchenverträge absichern und gestalten. Eines der ältesten Beispiele dafür ist Italien. Nachdem im 19. Jahrhundert auch in Italien47 die Zivilehe eingeführt worden war, wurde mit dem Konkordat vom 11. Februar 1929 die staatliche Anerkennung der kirchlichen Eheschließung vereinbart48 und später auch auf andere

45

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Zypern vgl. Achilles Emilianides, State and Church in the Cyprus, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 231 – 252. 46

Vgl. Gesetz 21/1990.

47

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Italien vgl. Richard Puza, Das staatliche Religionsrecht in Italien, in: Ders. / Kustermann (Hrsg.), Religionsrecht (Anm. 11), S. 59 – 77; Luciano Musselli, Hauptprobleme im Verhältnis von Staat und religiösen Konfessionen in Italien heute, in: Puza / Kustermann (Hrsg.), Religionsrecht (Anm. 11), S. 79 – 83; Josef Michaeler, in: LKStKR II, Sp. 429a – 431a; Silvio Ferrari, State and Church in Italy, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 209 – 230; speziell zur Eheschließung vgl. Enrico Vitali, Le mariage religieux et son efficacité civile dans le systeme juridique italien, in: European Consortium, Marriage (Anm. 9), S. 85 – 109; Marcus Waldmann, Das System der Konkordatsehe in Italien. Entwicklung und aktuelle Probleme der Kooperation zwischen Staat und katholischer Kirche. (= Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 41), Berlin 2003. 48 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 11. Februar 1929, Art. 34, in: AAS 21 (1929), S. 290: „Lo Stato italiano, volendo ridonare all’istututo del matrimonio, che è base della famiglia, dignità conforme alle tradizioni cattoliche del suo popolo, riconosce al sacramento del matrimonio, disciplinato dal diritto canonico, gli effetti civili.“

992

Markus Graulich

Religionsgemeinschaften ausgedehnt.49 Auch die Nichtigkeitserklärungen der Ehe sowie die Dispens für die nichtvollzogene Ehe wurden zunächst staatlicherseits anerkannt.50 Änderungen im staatlichen Eherecht (Einführung der Scheidung) und ein Urteil des Kassationsgerichtshofes, das die Anerkennung der Dispens nicht weiter zuließ, machten eine Neuregelung erforderlich. Diese erfolgt in Artikel 8 des Konkordates vom 18. Februar 1984 und in Artikel 4 des entsprechenden Zusatzprotokolls. Entsprechend diesen Regelungen gibt es weiterhin die Möglichkeit der staatsrechtlichen Anerkennung der kirchlichen Eheschließung.51 Dies ist aber nur möglich, wenn die Partner das nach staatlichem Recht erforderliche Eheschließungsalter haben und keine Ehehindernisse vorliegen, die staatlicherseits nicht dispensiert werden können.52 Die Anerkennung erfolgt zudem nicht mehr praktisch „automatisch“, sondern setzt die Unterzeichnung einer zweiten, für den Staat bestimmten Originalurkunde sowie den Antrag des Ortspfarrers voraus, der spätestens fünf Tage nach der Eheschließung vorliegen soll. Auf Antrag der Ehepartner können zudem auch die Urteile über die Nichtigkeit einer Ehe für den staatlichen Bereich Geltung erlangen. Der Appellationsgerichtshof, dem die Überschreibung zukommt, hat dabei aber vorher zu prü-

49

Vgl. Gesetz 1189/1929.

50

Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 11. Februar 1929, Art. 34, in: AAS 21 (1929), S. 290 – 291: „Le cause concernenti la nullità del matrimonio e la dispensa dal matrimonio rato e non consumato sono riservate alla competenza dei tribunali e dei dicasteri ecclesiastici. I provvedimenti e le sentenze relative, quando siano divenute definitive, saranno portate al Supremo Tribunale della Segnatura, il quale controllerà se siano state rispettate le norme del diritto canonico relative alla competenza del giudice, alla citazione ed alla legittima rappresentanza o contumacia delle parti. I detti provvedimenti e sentenze definitive coi relativi decreti del Supremo Tribunale della Segnatura saranno trasmessi alla Corte di Appello dello Stato competente per territorio, la quale, con ordinanze emesse in Camera di Consiglio, li renderà esecutivi agli effetti civili ed ordinerà che siano annotati nei registri dello stato civile a margine dell’atto dei matrimoni.“ 51

Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 18. Februar 1984, Artikel 8, 1, Abs. 1 in: AAS 77 (1984), S. 526: „Sono riconosciuti gli effetti civili ai matrimoni contratti secondo le norme del diritto canonico, a condizione che l’atto relativo sia trascritto nei registri dello stato civile, previe pubblicazioni nella casa comunale.“ 52 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 18. Februar 1984, Artikel 8, 1, Abs. 2 in: AAS 77 (1984), S. 526: „La Santa Sede prende atto che la trascrizione non potrà avere luogo: a) quando gli sposi non rispondano ai requisiti della legge civile circa l’età richiesta per la celebrazione; b) quando sussiste fra gli sposi un impedimento che la legge civile considera inderogabile.“

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fen, ob die Richter, die das Nichtigkeitsurteil gefällt haben, auch zuständig waren, ob die Parteien das Recht zur Verteidigung wahrnehmen konnten und die anderen Bedingungen erfüllt sind, die für die Anerkennung ausländischer Urteile gestellt werden.53 Der Appellationsgerichtshof ist zudem befugt, die Anerkennung der Nichtigkeit einer Ehe mit finanziellen Regelungen zugunsten eines der beiden Ehepartner zu verbinden.54 Auf diese Weise wird verhindert, dass ein Partner sich unter Berufung auf die Nichtigkeit der Ehe weigert, auch ein staatliches Scheidungsverfahren einzuleiten, bei dem dann entsprechende Unterhaltsverpflichtungen auferlegt werden könnten. Die Dispens im Fall der nicht vollzogenen Ehe wird staatlicherseits nicht mehr anerkannt. Hinsichtlich des Eherechts hat der italienische Staat mit anderen Religionsgemeinschaften ähnliche Vereinbarungen geschlossen, so dass die katholische Kirche hier kein Privileg genießt. Das Zivilgesetzbuch Lettlands55 erkennt den Angehörigen bestimmter Kirchen und Religionsgemeinschaften das Recht zu, die Ehe nach religiösem Ritus zu schließen. Wird dies gewünscht, sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften auch für das Aufgebot zuständig. Die Anerkennung des jeweiligen Amtsträgers, der zur Eheschließung berechtigt ist, ist ebenfalls Sache der Kirche

53

Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 18. Februar 1984, Artikel 8, 2, in: AAS 77 (1984), S. 527: „Le sentenze di nullità di matrimonio pronunciate dai tribunali ecclesiastici, che siano munite del decreto di esecutività del superiore organo ecclesiastico di controllo, sono, su domanda delle parti o di una di esse, dichiarate efficaci nella Repubblica italiana con sentenza della corte d’appello competente, quando questa accerti: a) che il giudice ecclesiastico era il giudice competente a conoscere della causa in quanto matrimonio celebrato in conformità del presente Articolo; b) che nel procedimento davanti ai tribunali ecclesiastici è stato assicurato alle parti il diritto di agire e di resistere in giudizio in modo non difforme dai principi fondamentali dell'ordinamento italiano; c) che ricorrono le altre condizioni richieste dalia legislazione italiana per la dichiarazione di efficacia delle sentenze straniere.“ 54

Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und Italien vom 18. Februar 1984, Artikel 8, 2, in: AAS 77 (1984), S. 527 – 528: „La corte d’appello potrà, nella sentenza intesa a rendere esecutiva una sentenza canonica, statuire provvedimenti economici provvisori a favore di uno dei coniugi il cui matrimonio sia stato dichiarato nullo, rimandando le parti al giudice competente per la decisione sulla materia.“ 55 Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Lettland vgl. Ringolds Balodis, State and Church in Latvia, in: Ferrari, Law (Anm. 28), S. 141 – 175; Reinhard Slenczka, Zur Entwicklung des Staatskirchenrechts in Lettland, in: ZevKR 49 (2004), S. 333 – 350; Ringolds Balodis, State and Church in Latvia, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 253 – 281.

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Markus Graulich

oder Religionsgemeinschaft.56 Die staatliche Registrierung der Eheschließung erfolgt, nachdem die Unterlagen (spätestens vierzig Tage nach der Zeremonie) beim Standesamt eingegangen sind.57 Vor dem Hintergrund dieser gesetzlichen Rahmenbedingungen wird die Möglichkeit der Konkordatsehe auch im Artikel 8 des Vertrages zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Lettland vom 8. November 2000 vorgesehen.58 Litauen59 sieht in Artikel 38 seiner Verfassung die Möglichkeit vor, dass kirchlich geschlossene Ehen auch staatlich anerkannt werden.60 Dies setzt voraus, dass kein staatliches Ehehindernis vorliegt, und die Kirche bzw. Religionsgemeinschaft in Litauen anerkannt ist. Diese allgemeine Regelung ist auch Gegenstand des Vertrages zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Litauen über juridische Fragen.61 Weiter ist in diesem Vertrag vorgesehen, dass

56 Zivilgesetzbuch, Art. 51: „If the persons to be married belong to the Evangelical Lutheran, Roman Catholic, Orthodox, Old Believers, Methodist, Baptist, Seventh Day Adventist or believers in Moses (Judaism) denominations and wish to be married by a minister of their denomination who has the relevant permission from the leaders of the denomination, the publishment shall take place in accordance with the procedures of the denomination concerned.“ Vgl. auch Art. 53: „A marriage shall be solemnised by the registrar of a General Registry office or a minister from the denominations set out in Section 51, if the provisions regarding the entering into of marriage have been complied with.“ 57

Zivilgesetzbuch, Art. 58: „Ministers shall, for each solemnised marriage, within a period of forty days, send to the General Registry Office in which territory the marriage has taken place, the necessary information required for the Marriage register. For failure to perform this duty, the minister may be held administratively liable.“ 58

Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Lettland vom 8. November 2000, Art. 8, in: AAS 95 (2003), S. 104 „1. From the moment of its celebration canonical marriage produces the civil effects determined by the legislation of the Republic of Latvia, provided no civil impediments exist between the contracting parties and the requisites foreseen by the laws of the Republic of Latvia have been fulfilled. 2. The way and the time within which a canonical marriage is to be registered with the competent civil authority are determined by the laws of the Republic of Latvia.“ 59

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Litauen vgl. Jolanta Kuznecoviene, State and Church in Lituania, in: Ferrari, Law (Anm. 28), S. 177 – 195; Jolanta Kuznecoviene, State and Church in Lituania, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 283 – 303; Arnjnas Baublys, Das Verhältnis von Staat und Kirchen in Litauen, in: ZevKR 50 (2005), S. 501 – 514. 60

Verfassung, Artikel 38, 4: „The State shall register marriages, births, and deaths. The State shall also recognise marriages registered in church.“ 61 Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Litauen über juridische Fragen vom 5. Mai 2000, Art, 13, 1 in: AAS 92 (2000), S. 800: „A canonical marriage

Die zivilrechtliche Bedeutung religiöser Eheschließung

995

die Regelung der Fristen und der Modalitäten der Registrierung zwischen der Bischofskonferenz und dem Staat erfolgt,62 sowie die Tatsache, dass die kirchliche Ehevorbereitung auch über das staatliche Eherecht und die zivilen Folgen der Eheschließung zu informieren hat.63 Nichtigkeitserklärungen von Seiten der kirchlichen Gerichte oder eine Dispens von Seiten des Heiligen Stuhls sind der zuständigen staatlichen Autorität zu melden, die dann über die Folgen im zivilen Bereich zu entscheiden hat.64 In Malta65 wurde mit dem Marriage Act von 1975 die zivile Eheschließung eingeführt. Bei der religiösen Eheschließung musste infolge dieses Gesetzes ein Standesbeamter anwesend sein, der die Eheschließung anschließend zu registrieren hatte, damit sie staatliche Gültigkeit erlangte. Diese Regelung stieß auf den Widerstand großer Teile der Bevölkerung und der katholischen Kirche, so dass am 3. Februar 1993 und am 25. März 1995 Verträge zwischen Malta und dem Heiligen Stuhl geschlossen wurden, um die Frage der zivilrechtlichen Relevanz kirchlicher Eheschließung zu klären. Voraussetzung für die staatliche Anerkennung der kirchlichen Eheschließung ist es zunächst, dass auch ein ziviles Aufgebot stattgefunden hat oder von diesem dispensiert wurde und eine Originalurkunde über die erfolgte Ehewill have civil effects pursuant to the legal acts of the Republic of Lithuania from the moment of its religious celebration provided there are no impediments to the requirements of the laws of the Republic of Lithuania.“ 62

Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Litauen über juridische Fragen vom 5. Mai 2000, Art, 13, 1 in: AAS 92 (2000), S. 800: „The time and manner of recording a canonical marriage in the civil register shall be established by the competent authority of the Republic of Lithuania, in co-ordination with the Conference of Lithuanian Bishops.“ 63

Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Litauen über juridische Fragen vom 5. Mai 2000, Art, 13, 1 in: AAS 92 (2000), S. 800: „The preparation for a canonical marriage shall include informing future spouses of the teaching of the Catholic Church on the dignity of the sacrament of marriage, its unity and indissolubility, as well as the civil effects of the marriage bond as provided for by the laws of the Republic of Lithuania.“ 64 Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Litauen über juridische Fragen vom 5. Mai 2000, Art, 13, 1 in: AAS 92 (2000), S. 800: „Decisions of ecclesiastical tribunals on the nullity of marriage and decrees of the Supreme Authority of the Church on the dissolution of the marriage bond are to be reported to the competent authorities of the Republic of Lithuania with the aim of regulating legal consequences of such decisions in accordance with the legal acts of the Republic of Lithuania.“ 65

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Malta vgl. Ugo Mifsud Bonnici, State and Church in Malta, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 348 – 365.

996

Markus Graulich

schließung innerhalb einer Nutzfrist von fünf Tagen an das Standesamt geschickt wird.66 Eine Anerkennung kann nicht stattfinden, wenn zwischen den Partnern ein staatlicherseits nicht dispensierbares Ehehindernis besteht.67 Neben der Eheschließung wird in Malta auch die Ehenichtigkeitserklärung eines kirchlichen Gerichtes anerkannt.68 Voraussetzung dafür ist die Kompetenz der kirchlichen Gerichte im jeweiligen Fall, sowie der Antrag zur Überschreibung, der von wenigstens einem der beiden Partner an den maltesischen Appellationsgerichtshof gestellt werden kann. Der Appellationsgerichtshof hat die Zuständigkeit des kirchlichen Gerichtes sowie die Tatsache zu prüfen, ob die Verteidigungsrechte der Parteien im Prozess berücksichtigt wurden sowie festzustellen, ob die Ehe zivil registriert wurde und keine anders lautende Sentenz eines staatlichen Gerichtes vorliegt. Unter bestimmten Bedingungen ist diese zivilrechtliche Anerkennung der kirchlichen Nichtigkeitserklärung auch für die Ehen möglich, die vor dem Abschluss des Vertrages mit dem Heiligen Stuhl geschlossen wurden.69 Die päpstliche Dispens einer nicht vollzogenen Ehe kann ebenfalls für den staatlichen Bereich anerkannt werden, wenn einer der Ehepartner den entsprechenden Antrag an den Appellationsgerichtshof stellt. 70 Sowohl bei der Aner-

66

Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Malta über die zivile Anerkennung der kanonischen Eheschließung vom 3. Februar 1993, Art. 1, 1; Art. 2 in: AAS 89 (1997), S. 684. 67

Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Malta über die zivile Anerkennung der kanonischen Eheschließung vom 3. Februar 1993, Art. 1, 2 in: AAS 89 (1997), S. 684: „The Holy See takes note that the Republic of Malta recognizes the civil effects of canonical marriages where there does not exist between the spouses an impediment that, according to civil law, produces the nullity of the marriage and that the said civil law considers as mandatory or not dispensable.“ 68 Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Malta über die zivile Anerkennung der kanonischen Eheschließung vom 3. Februar 1993, Art. 3 in: AAS 89 (1997), S. 685: „The Republic of Malta recognizes for all civil effects, in terms of this Agreement, the judgments of nullity and the decrees of ratification of nullity of marriage given by the ecclesiastical tribunals and which have become executive.“ 69

Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Malta über die zivile Anerkennung der kanonischen Eheschließung vom 3. Februar 1993, Art. 4 – 6 in: AAS 89 (1997), S. 685 – 687. 70

Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Malta über die zivile Anerkennung der kanonischen Eheschließung vom 3. Februar 1993, Art. 7 in: AAS 89 (1997), S. 687: „The decrees of the Roman Pontiff ‚super matrimonio rato et non consummato‘ are recognized as regards civil effects by the Republic of Malta, upon request, accompanied

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997

kennung der Nichtigkeitserklärung als auch bei der Anerkennung der Dispens ist es nicht Aufgabe des Appellationsgerichtshofes, das Urteil auf seine inhaltliche Richtigkeit zu prüfen.71 Die im Vertrag mit dem Heiligen Stuhl enthaltenen Bestimmungen wurden 1995 als eigenes Kapitel „Catholic Marriage“ in den Act of Marriage übernommen.72 Das von Polen73 am 28. Juli 1993 unterzeichnete und vom polnischen Parlament erst am 25. März 1998 ratifizierte Konkordat mit dem Heiligen Stuhl enthält in Art. 10 die Regelung über die Einführung der Konkordatsehe, welche „einer der Gründe [war], warum das Konkordat so lange vom Parlament nicht ratifiziert“74 worden ist. Eine zivilrechtliche Anerkennung der kirchlichen Ehe kann demnach in Polen erfolgen, wenn zwischen den Partnern keines der Ehehindernisse der polnischen Rechtsordnung vorliegt, beide Partner dies wünschen und die Unterlagen spätestens fünf Tage nach der Eheschließung beim Standesamt eingereicht werden.75

by an authentic copy of the pontifical decree, presented to the Court of Appeal by the parties or by either of them.“ 71 Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Malta über die zivile Anerkennung der kanonischen Eheschließung vom 3. Februar 1993, Art. 8 in: AAS 89 (1997), 687: „In the exercise of its specific functions as regards the recognition of the decrees mentioned in article 7, as well as of the judgments of nullity or of the decrees of ratification of nullity of marriage mentioned in article 3, the Court of Appeal does not reexamine the merits of the case.“ 72

Vgl. Act of Marriage, Art. 21 – 32.

73

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Polen vgl. Remigiusz Sobanski in: LKStKR II, Sp. 440a – 442a; Robert Piega, Evoluzione del diritto ecclesiastico in Polonia dopo il 1989. (PUSC Dissertationes, Series Canonica II). Roma 2001, bes. S. 197 – 241; Remigiusz Sobanski, Das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Kirche in Polen, in: Kämper / Schlagheck (Hrsg.), Identität (Anm. 11), S. 25 – 46; Remigiusz Sobanski, Das Staat-Kirche-Verhältnis in Polen nach dem Konkordat von 1993, in: Zapp / Weiß / Korta (Hrsg.), Ius Canonicum (Anm. 29), S. 1063 – 1077; Michał Pietrzak, State and Church in Poland, in Ferrari, Law (Anm. 28), S. 215 – 238; Michał Rynkowski, State and Church in Poland, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 419 – 438; Maciej Lis – Michal Rynkowski, Die staatskirchenrechtliche Lage in Polen, in: ZevKR 50 (2005), S. 515 – 525. 74 75

Lis / Rynkowski, Polen (Anm. 73), S. 522.

Vgl. Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Polen vom 28. Juli 1993, Art. 10, 1, in AAS (1998), S. 317 – 318.

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Markus Graulich

Im Rahmen der kirchlichen Ehevorbereitung sind die Brautleute daher auch über die zivilrechtlichen Normen im Hinblick auf die Ehe zu informieren.76 Eine Anerkennung der kirchlichen Nichtigkeitserklärungen ist bisher nicht möglich: Kirche und Staat haben hier eine getrennte Zuständigkeit.77 Es wird allerdings ausdrücklich festgehalten, dass die Regelung der Frage bezüglich der Anerkennung Gegenstand weiterer Vereinbarungen zwischen der Republik Polen und dem Heiligen Stuhl bzw. mit der polnischen Bischofskonferenz sein könnte.78 Die schon im Konkordat enthaltenen Bestimmungen wurden mit Gesetz vom 24. Juli 1998 auch in das polnische Gesetz inkorporiert. Der polnische Staat hat darüber hinaus auch mit anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften Verträge geschlossen, welche die Anerkennung der staatlichen Wirkung einer religiösen Eheschließung vorsehen. Interessant ist des Weiteren eine Instruktion der polnischen Bischofskonferenz, in der die Katholiken verpflichtet werden, „die zivilrechtlichen Wirkungen für ihre in kanonischer Form geschlossene Ehe zu erlangen. Eine Trauung, der diese Wirkungen nicht folgen sollen, bedarf der Erlaubnis des Ortsordinarius, der sie nur aus wichtigen Gründen erteilen darf.“79

Das am 18. Mai 2004 zwischen dem Heiligen Stuhl und Portugal80 abgeschlossene Konkordat sieht die Möglichkeit der zivilrechtlichen Anerkennung der kirchlich geschlossenen Ehe vor, wenn der Eheschließung das zivile Auf-

76 Vgl. Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Polen vom 28. Juli 1993, Art. 10, 2, in AAS (1998), S. 318. 77

Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Polen vom 28. Juli 1993, Art. 10, 3-4, in AAS (1998), S. 318: „3. È di esclusiva competenza dell’autorità ecclesiastica sentenziare circa la validità del matrimonio canonico, nonché circa le altre cause matrimoniali previste dal diritto canonico. 4. Sentenziare circa cause matrimoniali nell’ambito degli effetti definiti dalla legislazione polacca, è di esclusiva competenza dei tribunali statali.“ 78

Vgl. Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Polen vom 28. Juli 1993, Art. 10, 5; 27, in AAS (1998), S. 318. 79 80

Sobanski, Staat-Kirche-Verhältnis (Anm. 73), S. 1076.

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Portugal vgl. Ilona Riedel-Spangenberger, in: LKStKR, Sp. 442a – 442b; Vitalino Canas State and Church in Portugal, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 439 – 467; speziell zur Eheschließung vgl. Miguel Teixeira de Sousa, Le mariage religieux et son efficacité civile. Le cas portugais, in: European Consortium, Marriage (Anm. 9), S. 61 – 65 (allerdings wird hier der Stand vor dem Konkordat von 2004 referiert).

Die zivilrechtliche Bedeutung religiöser Eheschließung

999

gebot vorausgeht und die Registrierung innerhalb von sieben Tagen nach Eheschließung erfolgt. Erfolgt sie später, treten die zivilrechtlichen Effekte nicht ab dem Tag der Eheschließung, sondern erst ab dem Tag der Registrierung ein.81 Interessant ist der Hinweis in Artikel 15 des Konkordates, dass die Partner mit der kirchlichen Eheschließung die Verpflichtung eingehen, eine Ehe nach den Normen des Kirchenrechts zu führen und es dieser Verpflichtung widerspricht, ein zivilrechtliches Scheidungsverfahren anzustreben.82 Auf Antrag der Parteien können aber sowohl die kirchliche Ehenichtigkeitserklärung, als auch die päpstliche Dispens im Fall der nicht vollzogenen Ehe zivilrechtlich anerkannt werden, nachdem das zuständige portugiesische Gericht die Authentizität der entsprechenden Dekrete, die Zuständigkeit des Gerichtes, die Anerkennung des Rechtes auf Verteidigung und die Übereinstimmung des Urteils mit den Prinzipien der öffentlichen Ordnung Portugals festgestellt hat.83 In Artikel 19 des portugiesischen Gesetzes über die Religionsfreiheit84 wird die Möglichkeit der staatlichen Anerkennung religiöser Eheschließung auch anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften zuerkannt.

81

Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Portugal vom 18. Mai 2004, Art. 13-14, in: AAS 97 (2005), S. 36 – 37. 82 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Portugal vom 18. Mai 2004, Art. 15, in: AAS 97 (2005), S. 37: „1. Celebrando il matrimonio canonico, i coniugi assumono per ciò stesso, di fronte alla Chiesa, l'obbligo di attenersi alle norme canoniche che lo regolano e, in particolare, di rispettarne le proprietà essenziali. 2. La Santa Sede, mentre riafferma la dottrina della Chiesa Cattolica circa l'indissolubilità del vincolo matrimoniale, ricorda ai coniugi, che hanno contratto matrimonio canonico, il grave dovere, che ad essi incombe, di non valersi della facoltà civile di chiedere il divorzio.“ 83

Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Portugal vom 18. Mai 2004, Art. 16, in: AAS 97 (2005), S. 37 – 39: „1. Le decisioni delle autorità ecclesiastiche competenti relative alla nullità e alla dispensa pontificia del matrimonio rato e non consumato, verificate dall'organo ecclesiastico di controllo superiore, pro ducono effetti civili, a richiesta di qualsiasi delle parti, dopo revisione e conferma, nei termini del diritto portoghese, da parte del competente tribunale dello Stato. 2. Per tale effetto, il tribunale competente verifica: a) se sono autentiche; b) se provengono dal tribunale competente; c) se sono stati rispettati i principi del contraddittorio e dell'uguaglianza e d) se nei risultati non contraddicono i principi dell'ordine pubblico internazionale dello Stato portoghese.“ 84

Gesetz Nº 16/2001 vom 22. Juni 2001.

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Markus Graulich

In der Slowakei85 ist die zivilrechtliche Anerkennung der kirchlichen Eheschließung auf der Basis des Artikels 10 des Grundlagenvertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und der Slowakischen Republik möglich, sofern diese nach Kirchenrecht erfolgte Eheschließung auch den Anforderungen des slowakischen Rechts entspricht.86 Darüber hinaus können auch die Entscheidungen der kirchlichen Gerichte im Hinblick auf die Nichtigkeit und die Auflösung einer Ehe auf Antrag der Parteien vom Staat auf Übertragbarkeit geprüft werden.87 Der Código Civil Spaniens88 schreibt in Artikel 6089 der religiösen Eheschließung auch zivile Wirkung zu. Solche Ehen können in das zivile Standesregister eingetragen werden,90 wenn kein staatliches Hindernis der entsprechenden Verbindung im Wege steht. Diese allgemeine Regelung findet sich auch im Vertrag über Rechtsfragen, der am 3. Januar 1979 zwischen dem Hei-

85

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in der Slowakei vgl. JiĜí Tretera, in: LKStKR II, Sp. 453a – 454a; Peter Mulík, State and Church in Slovakia, in Ferrari, Law (Anm. 28), S. 311 – 326; Jozef Kemp, Diritto ecclesiastico della Reppublica Slovacca. (PUSC). Bratislava 2004, bes. S. 225 – 239; Michaela Moravþíková, State and Church in the Slovak Republik, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 491 – 518; Julius Filo, DasVerhältnis von Staat und Kirche in der Slowakei, in: ZevKR 50 (2005), S. 527 – 552. 86

Grundlagenvertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Slowakischen Republik vom 24. November 2000, Art. 10, 1, in: AAS 93 (2001), S. 140. 87 Grundlagenvertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Slowakischen Republik vom 24. November 2000, Art. 10, 1, in: AAS 93 (2001), S. 140: „Le decisioni della Chiesa Cattolica circa la nullità del matrimonio e lo scioglimento del vincolo matrimoniale sono comunicate a richiesta di una delle parti interessate alla Repubblica Slovacca. La Repubblica Slovacca procederà nel caso secondo il suo ordinamento giuridico.“ 88

Zum Verhältnis von Kirche und Staat in Spanien vgl. Maria Roca, in: LKStKR II, Sp. 454a – 455b; Iván C. Ibán, State and Church in Spain, in: Robbers (Hrsg.), State and Church (Anm. 5), S. 139 – 155; speziell zur Eheschließung vgl. Rafael Navarro-Vals, L’efficacité civile du mariage religieux dans le droit espagnol, in: European Consortium, Marriage (Anm. 9), S. 25 – 59. 89 Código Civil, Art. 60: „El matrimonio celebrado según las normas del Derecho canónico o en cualquiera de las formas religiosas previstas en el artículo anterior produce efectos civiles. Para el pleno reconocimiento de los mismos se estará a lo dispuesto en el capítulo siguiente.“ 90

Código Civil, Art. 60: „La inscripción del matrimonio celebrado en España en forma religiosa se practicará con la simple presentación de la certificación de la Iglesia o confesión respectiva, que habrá de expresar las circunstancias exigidas por la legislación del Registro Civil.“

Die zivilrechtliche Bedeutung religiöser Eheschließung

1001

ligen Stuhl und Spanien geschlossen wurde.91 Darüber hinaus können auch die Ehenichtigkeitserklärung von Seiten der kirchlichen Gerichte und die Dispens bei nicht vollzogener Ehe zivile Rechtskraft erhalten, wenn einer der beiden Partner dies beantragt und das zuständige Gericht die Konformität des Urteils mit dem spanischen Recht feststellt.92 Von den acht Ländern, welche die Konkordatsehe kennen, haben die meisten die Möglichkeit einer zivilrechtlichen Anerkennung der religiösen Eheschließung auch auf andere Kirchen und Religionsgemeinschaften ausgeweitet. Der Unterschied besteht hier vor allem darin, ob die Nichtigkeitsurteile kirchlicher Gerichte bzw. die Dispens im Fall der nicht vollzogenen Ehe ebenfalls staatlicherseits anerkannt wird. Neben diesen Regelungen, welche der eigentliche Gegenstand dieses Beitrages sind, sei ein Hinweis auf den Artikel 11 des Konkordates mit Polen93 und den Artikel 11 des Grundlagenvertrages zwischen dem Heiligen Stuhl und der Slowakei94 erlaubt. In beiden Fällen bekennen sich die Vertragspartner im Anschluss an die Regelung der eherechtlichen Fragen zum Willen, im Bereich der Verteidigung und der Förderung der Ehe und der Familie, die aus der Ehe hervorgeht, zusammenzuarbeiten und damit einen Beitrag zum Aufbau der Gesellschaft zu leisten.

91 Vgl. Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Spanien über Rechtsfragen, 3. Januar 1979, Art. VI, 1, in: AAS 72 (1980), S. 33. 92

Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und Spanien über Rechtsfragen, 3. Januar 1979, Art. VI, 2, in: AAS 72 (1980), S. 33 – 34: „In conformità alle disposizioni del diritto canonico, i contraenti potranno adire i tribunali ecclesiastici per chiedere la dichiarazione di nullità o domandare la dispensa pontificia dal matrimonio rato e non consumato. A richiesta di qualsiasi delle parti, detti provvedimenti ecclesiastici avranno efficacia nell'ordine civile se sono dichiarati conformi al diritto dello Stato con una risoluzione emessa dal tribunale civile competente.“ 93

Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Polen vom 28. Juli 1993, Art. 11, in AAS 90 (1998), S. 319: „Le Parti Contraenti dichiarano la volontà di collaborare per difendere e rispettare l'istituzione del matrimonio e della famiglia, fondamento della società. Esse rilevano il valore della famiglia, e la Santa Sede, per parte sua, riafferma la dottrina cattolica sulla dignità e l’indissolubilità del matrimonio.“ 94

Grundlagenvertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Slowakischen Republik vom 24. November 2000, Art. 11, in: AAS 93 (2001), S. 140: „Le Alte Parti collaboreranno alla difesa e alla promozione del matrimonio nonché della famiglia che proviene dal matrimonio.“

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IV. Zusammenschau In seiner Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“ geht das Zweite Vatikanische Konzil davon aus, dass sich das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in einer pluralistischen Gesellschaft zuallererst von der Tatsache her bestimmt, dass Kirche und Staat ihre je eigenen Zuständigkeiten haben, d.h. nicht miteinander verwechselt oder in Eins gesetzt werden dürfen und dass die Kirche in keiner Weise an irgendein politisches System gebunden ist. Weil die Kirche sich als „Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person“ versteht, hält VatII GS 76 weiter fest: „Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom. Beide aber dienen, wenn auch in verschiedener Begründung, der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung der gleichen Menschen. Diesen Dienst können beide zum Wohl aller um so wirksamer leisten, je mehr und besser sie rechtes Zusammenwirken miteinander pflegen; dabei sind jeweils die Umstände von Ort und Zeit zu berücksichtigen.“

Diese allgemeine Feststellung wird im CIC bezüglich der Ehe dahingehend spezifiziert, dass can. 1059 festlegt: „Die Ehe von Katholiken, auch wenn nur ein Partner katholisch ist, richtet sich nicht allein nach dem göttlichen, sondern auch nach dem kirchlichen Recht, unbeschadet der Zuständigkeit der weltlichen Gewalt hinsichtlich der rein bürgerlichen Wirkungen dieser Ehe.“

In den Ländern der Europäischen Union wird die wechselseitige Unabhängigkeit und Autonomie von Kirche und Staat im Hinblick auf das Eherecht sowohl im Fall der obligatorischen Zivilehe, als auch im Fall der fakultativen Zivilehe (nach angelsächsischem Modell oder bei der Konkordatsehe) berücksichtigt. Im gemeinsamen Dienst an der persönlichen und gesellschaftlichen Berufung des Menschen haben Staat und Kirche je in ihrem Bereich und je mit ihren Mitteln die Aufgabe, Ehe und Familie zu schützen und zu fördern, im Dienst am Menschen.

Konfessionelle Minderheiten in der Schule Der Religionsunterricht – ein Seismograph für die Gewährleistung religiöser Interessen in der Gesellschaft Von Karl W. Schwarz I. Einleitung Das Thema „Religionsunterricht“* (hinkünftig: RU) besitzt äußerste Aktualität . Deshalb dürfte es nicht verfehlt sein, dem verehrten Jubilar eine rechtliche Zustandsbeschreibung dieses RU aus der Warte einer Minderheitskirche zu widmen. 1

Wenn man bedenkt, welche Bedeutung dem RU für die religiöse Sozialisation zukommt und wie diese die religiöse Landschaft im 21. Jahrhundert prägen wird, müssen die Fragen der religiösen Kindererziehung sowie der ethischen Werterziehung im Kontext des staatlichen Bildungsauftrags immer wieder neu bedacht werden. Die Frage spitzt sich dramatisch zu, weil die administrativen

*

Dem überarbeiteten Beitrag liegen Vorträge in Wien im Rahmen der Evangelischen Woche (6.3.2006) und an der Lutherischen Theologischen Hochschule mit Universitätsrang in Budapest (23.3.2006) zugrunde. 1

Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), Historische und rechtliche Aspekte des Religionsunterrichts, Frankfurt a. M. 2004; Christine Mann / Brigitte Schinkele, Österreich, in: Karl Graf Ballestrem / Sergio Belardinelli / Thomas Cornides (Hrsg.), Kirche und Erziehung in Europa, Wiesbaden 2005, S. 203 ff.; Herbert Kalb / Richard Potz / Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 351 ff.; Wilhelm Rees, Religionsunterricht in österreichischen Schulen. Rechtliche Grundlagen und aktuelle Anfragen, in: Heinrich de Wall / Michael Germann (Hrsg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link zum 70. Geburtstag, Tübingen 2003, S. 387 ff.; Wolfgang Mantl, Länderbericht Österreich, in: Eibe Riedel (Hrsg.), Öffentliches Schulwesen im Spannungsfeld von Staat und Kirche, Baden-Baden 1998, S. 107 ff. – an älteren Untersuchungen vgl. auch noch Werner Jisa, Zur Rechtsstellung des Religionsunterrichts, in: Schulfach Religion 12 (1993), S. 175 ff. und Herbert Kalb, Der Religionsunterricht heute – Anmerkungen zu einer aktuellen Debatte, in: Gerhard Huber, Der Religionslehrer im Spannungsfeld zwischen kirchlichem und staatlichem Recht, Linz 1995, S. 224 ff.

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Rahmenbedingungen aufgrund des Schulrechtspaketes II (BGBl. I Nr. 20/2006) die Durchführung des RU erheblich beeinträchtigen. Die Frage des Ethikunterrichts und dessen Verhältnis zum konfessionell gebundenen RU sind an Österreich nicht vorüber gegangen. In einer besonders pointierten Zuspitzung lässt sich die Frage auch so formulieren: –

Kann der konfessionell gebundene RU durch einen allgemeinen Religionskundeunterricht substituiert werden, wie dies in Brandenburg mit LER (Lebenskunde – Ethik – Religionskunde)2 geschehen ist?



Wird das (vermittelnde) Erkenntnis des Deutschen Verfassungsgerichts in Karlsruhe über die Verfassungskonformität des Brandenburger Sonderwegs zu einer großen Grundsatzdiskussion über den RU führen?

In Österreich ist eine solche „Grundsatzdiskussion“ vorerst unterblieben3, wenn es auch immer wieder „Scharmützel“ mit Gegnern des RU gegeben hat. –

Die Parteijugend der Sozialdemokratischen Partei hat wiederholt die Losung ausgegeben, dass Religion eine „Privatsache“ sei und deshalb aus dem Kontext der Schule zu entfernen wäre. Sie konnte sich aber in der eigenen Partei nicht durchsetzen4.



Konsequent laizistisch argumentierte das Liberale Forum5, das indes bei den Wahlen ziemlich massive Stimmeneinbußen zu verzeichnen hatte und aus dem Parlament ausscheiden musste. Manche vermuten, dass es der laizistische Ansatz gewesen sei, weshalb es zu jenem Absturz gekommen ist.

2

Christoph Link, „LER“, Religionsunterricht und das deutsche Staatskirchenrecht, in: Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, Berlin 2001, S. 747 ff. 3

Gerhard Luf, Religionsunterricht – ein Privileg der Kirchen?, in: Peter Leisching u. a. (Hrsg.), Ex aequo et bono. Festschrift Willibald M. Plöchl, Innsbruck 1977, S. 457 ff.; Christoph Link, Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Kirche in Österreich, in: Hans-Christoph Schmidt-Lauber (Hrsg.), Theologia scientia eminens practica. Festschrift Fritz Zerbst, Wien u. a. 1979, S. 228 ff. 4 Hermann Schnell, Bildungspolitik in der Zweiten Republik, Wien / Zürich 1993; Anton Pelinka, Zur österreichischen Identität. Zwischen deutscher Vereinigung und Mitteleuropa, Wien 1990, S. 120. 5 Heide Schmidt / Johannes Dantine, Religion in der Schule – die Kontroverse um den Religionsunterricht, in: Thomas Krobath (Hrsg.), Kirchliche Bildungsarbeit gefragt? Dokumentation der Bildungsenquete vom 26. April 1996, Wien 1996, S. 43 ff.; Liberales Forum (Hrsg.), Das Programm. Die Freiheit des Menschen und seine Verantwortung für die Gesellschaft, Wien 1994.

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Daraus kann der Schluss gezogen werden, dass die österreichische Gesellschaft dazu neigt, „die Kirche im Dorf zu lassen“, d. h. die Verhältnisse, wie sie sich ergeben haben, zu belassen und nicht zu verändern. Später ist eine solche kultuspolitische Debatte allerdings aufgenommen worden6, vielleicht nicht so vordergründig, aber doch innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses der Staatskirchenrechtslehrer, der auch in der politischen Tagespresse seinen Niederschlag gefunden hat. Hier ist vor allem daran zu erinnern, dass unter dem Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 9 EMRK), die in Österreich Verfassungsrang besitzt, eine stillschweigende Schwerpunktverlagerung von der korporativen Religionsfreiheit zur individuellen Religionsfreiheit stattgefunden hat. Das bedeutet für die Einrichtung des RU, dass er nicht nur von der Kirchenfreiheitsgarantie erfasst wird, sondern dass er auch von der individuellen Religionsfreiheit der einzelnen Staatsbürger und von deren religiösen Interessen innerhalb der Gesellschaft abgeleitet wird. Hinzukommt noch ein weiteres: die EU-ropäisierung weiter Rechtsbereiche, die für den Grundrechtsbereich erheblich sind. Wenn auch nicht gesagt werden kann, dass uns die EU ein gesamteuropäisches Staatskirchenrecht aufzwingen wird, so tritt gleichwohl eine Dynamik in Kraft, die zu gemeinsamen europäischen Standards führen wird, gegen die sich der Einzelstaat wohl kaum absperren kann7. Der Prozess der europäischen Integration trägt gerade dazu bei, dass die Disziplin „Staatskirchenrecht“ – oder wie sie neuerdings akzentuierter genannt wird: „staatliches Religionsrecht“8 in der Tagespresse Beachtung findet. Mögen das die neuen religiösen Gemeinschaften sein, die nicht nur in der Gesellschaft vorzufinden sind, sondern auch nach staatlicher Registrierung verlangen9, oder 6

Richard Potz, Staat und Kirche in Österreich, in: Gerhard Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, Baden-Baden 1995, S. 251 ff.; Herbert Kalb, Staat und Kirche in Österreich, in: actio catholica 1996/1, S. 4 ff.; ders. / Richard Potz, Zur Konzeption des Verhältnisses von Staat und Kirche im weltanschaulich neutralen Verfassungsstaat, in: Kirche in der Gesellschaft. Wege in das 3. Jahrtausend, Wien 1997, S. 69 ff.; Herbert Kalb / Richard Potz / Brigitte Schinkele, Religion und Kirche im weltanschaulich neutralen Verfassungsstaat – einige Perspektiven, in: Theologischpraktische Quartalschrift 145 (1997), S. 339 ff.; Kalb / Potz / Schinkele, Religionsrecht (Anm. 1), S. 341 ff. 7

Rik Torfs, Die rechtliche Sonderstellung von Kirchen und religiösen Gemeinschaften im europäischen Kontext, in: öarr 46 (1999), S. 14 ff. 8 So mit Nachdruck das in Anm. 1 zitierte einschlägige Handbuch von Herbert Kalb, Richard Potz und Brigitte Schinkele. 9

Der aktuelle Stand, einschließlich Registerauszug, Adressenwerk und Verzeichnis der Vertretungsbefugten ist über die homepage des Kultusamtes abzurufen: www.bmbwk. gv.at – Vgl. dazu insgesamt Herbert Kalb / Richard Potz / Brigitte Schinkele, Religions-

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der Ethikunterricht, dem ambitionierte Schulpolitiker attestieren, die richtige Antwort für die Herausforderungen der Postmoderne zu sein und der Skepsis gegenüber der institutionalisierten Religion Rechnung zu tragen. II. Der RU – eine Veranstaltung der Kirche Auf den ersten Blick erscheint er als Relikt aus einer Ära, die noch über eine tragende Verbindung von Staat und Kirche verfügte. Denn fragt man nach den verfassungsrechtlichen Grundlagen des RU, so landet man beim Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger aus dem Jahre 1867. Dort heißt es in Artikel 17 Abs. 3 lapidar: Für den RU in den Schulen ist von der betreffenden Kirche oder Religionsgesellschaft Sorge zu tragen.

Als dieses Gesetz (RGBl. Nr. 142) im Reichsgesetzblatt 1867 erschien – es ist das Verfassungsdokument der Liberalen Ära der Habsburgermonarchie, gab es in Österreich neben der beherrschenden Römisch-katholischen Kirche noch weitere zwei Kirchen: die Evangelische Kirche A. u. H. B. und die Orthodoxe Kirche in ihren verschiedenen Riten sowie die Israelitische Religionsgesellschaft. Alle diese nichtkatholischen Religionsgemeinschaften waren unter Joseph II. toleriert worden („Acatholiken“) und konnten sich allmählich, vor allem im Gefolge der Revolution von 1848 emanzipieren und in der Ära des Liberalismus sukzessive die Gleichberechtigung erlangen. Seit dem Frühjahr 2003 haben wir es mit insgesamt zehn gesetzlich anerkannten (christlichen) Kirchen und drei gesetzlich anerkannten (nichtchristlichen) Religionsgesellschaften (Judentum, Islam, Buddhismus) zu tun10. Allen kommt das Recht zu, für die Schülerinnen und Schüler ihres Bekenntnisses RU zu erteilen. Das Staatsgrundgesetz mit dem erwähnten RU-Artikel ist nach wie vor in Kraft. Die näheren Bestimmungen traf das so genannte „Schule-Kirche-Gesetz“ aus dem Jahr 1868 (RGBl. Nr. 48/1868). Es beseitigte die allgemeine kirchliche Schulaufsicht und reduzierte den kirchlichen Einfluss auf den RU. Es ist diesem Gesetz zuzuschreiben, dass die österreichische Schule auf dem Grundsatz der Interkonfessionalität basiert, während der jeweilige RU konfessionell be-

gemeinschaftenrecht, Wien 1998; Johann Hirnsberger / Christian Wessely / Alexander Bernhard (Hrsg.), Wege zum Heil? Religiöse Bekenntnisgemeinschaften in Österreich, 3 Bd.e Graz / Wien / Köln 2001 – 2005. 10

Karl W. Schwarz, Überlegungen zum rechtlichen Status der Kirchen und Religionsgesellschaften in Österreich, in: FS für Christoph Link (Anm. 1), S. 445 ff.

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stimmt war und bis heute ist. Dieses fragile Koordinatensystem des SchuleKirche-Gesetzes von 1868 überlebte den Zusammenbruch der Monarchie, ja es kehrte nach der Ära des Nationalsozialismus („Drittes“ Reich) 1945 wieder zurück und bestimmt den heutigen Schulalltag – allerdings mit einer folgenreichen Ergänzung: 1945 wurde die Möglichkeit der Abmeldung vom RU eingeführt11. Der Kulturkompromiss von 1945 wurde im RU-Gesetz von 1949 noch einmal festgeschrieben12 – in dem Sinne, dass man ihn als „Kirche in der Schule“ charakterisierte13. Denn er wird von den Kirchen und Religionsgesellschaften besorgt, geleitet und unmittelbar beaufsichtigt (§ 2 Abs. 1 Satz 1 RUG 1949 i.d.F. BGBl. Nr. 329/1988). Nicht der Staat ist der Unternehmer und Veranstalter des RU, ihm kommt allerdings die oberste Leitung und Aufsicht zu. Diese bleibt freilich auf die Beaufsichtigung „in organisatorischer und schuldisziplinärer Hinsicht“ beschränkt und darf nicht in den Inhalt des RU eingreifen. III. Der Schulkonsens 1962 In wenigen Punkten soll der derzeitige status quo umrissen werden. –

Das RU-Gesetz von 1949 wurde 1962 auch völkerrechtlich bestätigt. Der Schulkonsens der Regierungsparteien fand in einem akkordierten Paket schulgesetzlicher Maßnahmen seinen krönenden Abschluss14.



Hier ist in erster Linie der Schulvertrag mit dem Hl. Stuhl (BGBl. Nr. 273/1962) zu nennen, der die Abmeldemöglichkeit vom RU dissimulierend zur Kenntnis nahm, nachdem die Versuche, eine solche Abmeldemöglichkeit vom RU zu tilgen, im Vorfeld dieses Vertrags bereits gescheitert waren. Umgekehrt hat sich die Römisch-katholische Kirche aber verpflichtet, einen positiven Beitrag zur staatsbürgerlichen Erziehung zu leisten.

11

Ernst Fischer, Das Ende einer Illusion. Erinnerungen 1945-1955, Hamburg 21988, S. 132. Der kommunistische Kulturphilosoph und Literat Ernst Fischer wirkte als zuständiger Ressortchef zwischen 27.4. und 20.12.1945, der die Abmeldemöglichkeit einführte. 12

Hugo Schwendenwein, Religion in der Schule, Graz 1980.

13

Albert Stein, Evangelischer Religionsunterricht in Österreich – ein Gewissensgebot zwischen Kirchenprivileg und Kulturauftrag (1980), Nachdruck in: ders., Kirchenrecht in theologischer Verantwortung. Hrsg. v. Karl W. Schwarz, Wien 1990, S. 183 ff. 14

Erwin Melichar, Die Schulgesetzgebung 1962, in: ÖAKR 15 (1964), S. 37 ff.

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Der RU ist Pflichtgegenstand an öffentlichen oder mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schulen für die Angehörigen der betreffenden Kirche oder Religionsgesellschaft.



Er ist grundsätzlich Pflichtgegenstand – nicht fakultativer und auch nicht alternativer Wahlpflichtgegenstand neben Ethik. Eine Ausnahme besteht nur hinsichtlich der Berufsschulen. An diesen ist er lediglich Freigegenstand (ausgenommen Tirol und Vorarlberg, denn dort ist der RU auch an den Berufsschulen Pflichtgegenstand).



Aus Gründen der negativen Religionsfreiheit kann sich ein religionsmündiger Schüler (im Sinne des Bundesgesetzes über religiöse Kindererziehung [1921/1939; wieder verlautbart BGBl. Nr. 166/1985] selbst oder sonst über Antrag seiner Eltern vom RU abmelden.



Der jeweiligen Kirche oder Religionsgesellschaft kommt die Lehrplanhoheit im Rahmen der staatlich festgesetzten Wochenstundenzahl für den RU zu. Eine Änderung der Stundenzahl kann nur erfolgen, wenn den Kirchen die Gelegenheit eingeräumt wurde, dazu Stellung zu nehmen. Einflussnahme auf den Lehrplan hat der Staat keine, seine Kundmachung hat nur deklarativen Charakter.



Im RU besteht Lehrmittelfreiheit, d. h. die Lehrmittel bedürfen keiner staatlichen Bewilligung, doch dürfen sie nicht im Widerspruch zur staatsbürgerlichen Erziehung stehen.



Die Teilnahme an religiösen Übungen, insbesondere an Schülergottesdiensten wird gewährleistet, wobei die Teilnahme Schülern und Lehrern freigestellt, nicht verpflichtend auferlegt wird15.



In Klassenräumen öffentlicher oder mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteter Schulen, in denen die Mehrzahl der Schüler einem christlichen Religionsbekenntnis angehört, kann ein Kreuz angebracht werden.



Bezüglich der Religionslehrer ist zu erwähnen, dass sie entweder von der Gebietskörperschaft angestellt werden oder von der betreffenden Kirche oder Religionsgesellschaft bestellt werden. Die kirchliche Ermächtigung gilt als conditio sine qua non. Im ersten Fall handelt es sich um Landeslehrer (Pflichtschule) oder Bundeslehrer (Höheres Schulwesen), im zweiten

15

Wilhelm Rees, „Den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit“ – und den Menschen von heute? Schulkreuze, religiöse Übungen und Schulgebet in Geschichte und Gegenwart, in: Historische und rechtliche Aspekte des Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 259 ff.

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Fall um kirchliche Dienstnehmer16. In beiden Fällen wird der RU aber vom Staat bezahlt. Die Analyse dieser kurz umrissenen Rechtsbestimmungen hat von der Grundsatzentscheidung auszugehen, dass in einzelnen schulgesetzlichen Angelegenheiten (u. a. des Verhältnisses von Schule und Kirchen einschließlich des RU) Bundesgesetze nur in Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Mitglieder des Nationalrates und mit einer Mehrheit von zwei Drittel der abgegebenen Stimmen beschlossen werden (Art. 14 Abs. 10 Bundesverfassungsgesetz i.d.F. BGBl. I Nr. 31/2005). Dieses erhöhte Quorum hebt solche Bestimmungen hinsichtlich des Verhältnisses der Schule und Kirchen (RU-G, PrivatschulG, Bundesschul-AufsichtsG, SchulorganisationsG, SchulzeitG) in den Rang von Quasiverfassungsgesetzen und zwingt die Regierungsparteien zum Konsens mit der Opposition. Ob eine solche Bestandsfestigkeit auch dem Zielparagraphen des SchOG zukommt, welcher die religiöse Dimension in das Aufgabenspektrum der österreichischen Schule hineinreklamiert (§ 2), wird unterschiedlich beurteilt, dürfte aber durch die BV-G-Novelle 2005 obsolet geworden sein: Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken ...

Seit 9. Juni 2005 lautet die entsprechende verfassungsrechtliche Schulzielbestimmung (BV-G Art. 14 Abs. 5a)17: Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz gegenüber den Menschen sind Grundwerte der Schule, auf deren Grundlage sie der gesamten Bevölkerung, unabhängig von Herkunft, sozialer Lage und finanziellem Hintergrund, unter steter Sicherung und Weiterentwicklung bestmöglicher Qualität ein höchstmögliches Bildungsniveau sichert. Im partnerschaftlichen Zusammenwirken von Schülern, Eltern und Lehrern ist Kindern und Jugendlichen die bestmögliche geistige, seelische und körperliche Entwicklung zu ermöglichen, damit sie zu gesunden, selbstbewussten, glücklichen, leistungsorientierten, pflichttreuen, musischen und kreativen Menschen werden, die befähigt sind, an den sozialen, religiösen und moralischen Werten orientiert Verantwortung für sich selbst, Mitmenschen, Umwelt und nachfolgende Generationen zu übernehmen. Jeder Jugendliche soll seiner Entwicklung und seinem Bildungsweg entsprechend zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt werden, dem politischen, religiösen und welt-

16

Brigitte Schinkele, Zur Rechtsstellung kirchlich bestellter Religionslehrer unter besonderer Berücksichtigung der katholischen Kirche, in: dies. / Ulrich Runggaldier (Hrsg.), Arbeitsrecht und Kirche, Wien / New York 1996, S. 121 ff. 17

BGBl. I Nr. 31/2005 – dazu Felix Jonak / Leo Kövesi, Das österreichische Schulrecht, 10. Aufl. Wien 2005, S. 39.

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anschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein sowie befähigt werden, am Kultur- und Wirtschaftsleben Österreichs, Europas und der Welt teilzunehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.

Eine weitere Facette der Bestandssicherung des (römisch-katholischen) RU enthält der Schulvertrag mit dem Hl. Stuhl (BGBl. Nr. 273/1962), weil damit die Bestimmungen des RU-G gleichsam völkerrechtlich verankert wurden18. Mittelbar kommt diese Bestandsgarantie aufgrund des Paritätsgrundsatzes auch allen anderen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften zugute. Trotz dieser verfassungs- und völkerrechtlichen Garantien ist der RU auch in Österreich in eine herbe Identitätskrise geschlittert und überdies als Privileg der Kirchen denunziert worden. In einem zur weltanschaulichen Neutralität verpflichteten säkularen Rechtsstaat bilde ein solcher von den Kirchen veranstalteter RU in der öffentlichen Schule ein verfassungswidriges Relikt des Bündnisses von Thron und Altar, so hieß es sinngemäß in einem von sozialistischen Jugendorganisationen 1976 unternommenen Versuch, das alte sozialistische Trennungsprogramm von Kirche und Staat zu aktualisieren und am Beispiel des RU den Prozess der Privatisierung des Religiösen voranzutreiben. Diese Angriffe von außen bedingten eine Gegenbewegung19. Es wurde wieder deutlicher die innerschulische Begründung des RU und seine Verankerung im Allgemeinen staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag akzentuiert. Dabei ist auch die bundesdeutsche Diskussion über den RU als Argumentationshilfe sehr zustatten gekommen20. Durch das Erste Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention ist weiters die Rücksichtnahme des Staates auf das Elternrecht festgeschrieben worden:

18 Felix Jonak, Das Verhältnis Republik Österreich – Katholische Kirche in Schulfragen, in: Pax et iustitia. Festschrift Alfred Kostelecky, Berlin 1990, S. 89 ff. 19

Nikolaus Severinski, Der Kampf um den schulischen Religionsunterricht, in: Klaus Porstner / Nikolaus Severinski (Hrsg.), Religionsunterricht und „offene Gesellschaft“, Wien 1984, S. 45 ff.; Christoph Link, Religionsunterricht im pluralistischen Staat, in: Adolf Exeler (Hrsg.), Umstrittenes Lehrfach: Religion, Düsseldorf 1976, S. 21 ff. 20 Luf, Religionsunterricht (Anm. 3); Helmut Krätzl, Die Bedeutung des RU für die Schule und die Gesellschaft, in: Für Heimat und Kirche. Festschrift für Franz Loidl, Wien / München 1985, S. 122 ff.; Christoph Link, Die Situation des RU in Deutschland – rechtliche Regelungen und aktuelle Probleme, in: Historische und rechtliche Aspekte des RU (Anm. 1), S. 395 ff.

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Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichtes übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen.

IV. RU – als Ausfluss der Grund- und Menschenrechte Am Beispiel der Religionsfreiheit kann gezeigt werden, dass sich das Verständnis der Grundrechte gewandelt hat. Deren Wesen geht keineswegs in dem Verständnis als eines gegen den Staat gerichteten Abwehrrechtes auf. Vielmehr gewährleistet das Grundrecht die Ausübung und Betätigung der geschützten Glaubensüberzeugung und zwar sowohl als Individualgrundrecht des Einzelnen als auch als Korporationsrecht der Kirchen und aller religiösen Gemeinschaften. So ist beispielsweise in dem Schlussdokument der Wiener KSZEKonferenz 1989 das Recht auf den RU ausdrücklich als Teil des Religionsfreiheitsrechts festgehalten worden21: Um die Freiheit des einzelnen zu gewährleisten, sich zu seiner Religion oder Überzeugung zu bekennen und diese auszuüben, werden die Teilnehmerstaaten unter anderem ... – das Recht eines jeden achten, RU in der Sprache seiner Wahl einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen zu erteilen und zu erhalten.

Weiters ist auch in der österreichischen Diskussion gezeigt worden, dass die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates diesen keineswegs zur Indifferenz und Ignoranz hinsichtlich der religiösen und weltanschaulichen Wertvorstellungen seiner Bürger verpflichte, diese Neutralität gebietet dem Staat vielmehr, jene Wertvorstellungen „in ihrer Pluralität anzuerkennen und ihnen einen entsprechenden Bewährungs- und Entfaltungsbereich innerhalb der staatlichen Öffentlichkeit einzuräumen“22. Daraus ergibt sich, dass Religionsfreiheit gewährleisten folgerichtig bedeuten muss, den Anspruch der Kirchen auf ein gesellschaftliches Wirken – eben auch unter den Bedingungen der Schule – anzuerkennen und zu garantieren. Eine Privatisierung der religiösen Erziehung würde demgegenüber eine eklatante Verletzung des Neutralitätsgebotes darstellen. Das käme gerade am RU mit besonderer Schärfe zum Ausdruck.

21

Z. 16.6 des Schlussdokuments von Wien 1989, abgedruckt in: Inge Gampl / Richard Potz / Brigitte Schinkele, Staatskirchenrecht, Bd. 1, Wien 1990, S. 142 ff. – Zur Interpretation vgl. Richard Potz, Religionsfreiheit an der Wende zum dritten Jahrtausend, in: FS Alfred Kostelecky (Anm. 18), S. 255 ff. 22

Luf, Religionsunterricht (Anm. 3), S. 471; Brigitte Schinkele, Staatskirchenrechtliche Überlegungen zur aktuellen Diskussion um Religions- und Ethikunterricht, in: ÖAKR 42 (1993), S. 220 ff.

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Diese Konstruktion hat in ihrer rechtsdogmatischen Grundlegung an Stringenz nichts eingebüßt; wohl aber sind von Seiten der Religionspädagogik Zweifel über deren praktische Tragfähigkeit angemeldet worden. Die Frage war mit gebührender Deutlichkeit gestellt, ob die völlig gewandelten gesellschaftlichen Voraussetzungen (zumal im Ballungsraum Wien) nicht auch eine Modifizierung und Nachbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen verlangen23. Vor allem ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass auch die Angehörigen des Islam RU fordern und der Staat diesen RU in seinen Schulen gewährleistet und unter allen Umständen vermeiden möchte, dass er in den privaten Raum vereinsrechtlich geordneter Koranschulen ausgelagert wird24. V. Einzelfragen 1. Überkonfessioneller RU Zur Frage, ob der RU in Ausnahmesituationen konfessionell kooperativ oder „ökumenisch“ durchgeführt werden könne25, ist hier Stellung zu nehmen. Denn die geläufigen negativen Antworten, die sich aus der überkommenen Rechtslage (§ 1 Abs. 1 RU-G) ergeben, werden immer wieder unterlaufen. Seit ein Positionspapier der Römisch-katholischen Bischofskonferenz an die Adresse des Staates die Forderung richtete, er „sollte zukunftsträchtige Formen des RU – wie z. B. RU in ökumenischer Verantwortung – nicht behindern“ 26, haben

23 Michael Bünker, Zur Zukunft des evangelischen Religionsunterrichts in Österreich, in: ders. / Thomas Krobath (Hrsg.), Kirche: Lernfähig in die Zukunft? Festschrift für Johannes Dantine, Innsbruck / Wien 1998, S. 330 ff.; Johannes Dantine, Religionsunterricht vor dem Umbruch? in: Ulrich Körtner / Robert Schelander (Hrsg.), GottesVorstellungen. Die Frage nach Gott in religiösen Bildungsprozessen. Festschrift für Gottfried Adam, Wien 1999, S. 105 ff.; Robert Schelander, Religionspädagogik im Umbruch, in: Konrad Huber / Gunter M. Prüller-Jagenteufel / Ulrich Winkler (Hrsg.), Zukunft der Theologie – Theologie der Zukunft. Zu Selbstverständnis und Relevanz der Theologie, Thaur 2001, S. 279 ff. 24

Anna Strobl, Islam in Österreich. Eine religionssoziologische Untersuchung, Frankfurt a. M. 1997. 25

Susanne Heine, Notwendigkeit und Grenzen ökumenischer Zusammenarbeit auf dem Gebiete des Religionsunterrichts, in: Porstner / Severinski , Religionsunterricht und „offene Gesellschaft“ (Anm. 19), S. 139 ff. 26

Kirche in der Gesellschaft, Wien 1997, S. 104. Vgl. Richard Potz, Der orthodoxe Religionsunterricht in Österreich, in: Hartmut Zapp u. a. (Hrsg.), Ius canonicum in oriente et occidente. Festschrift für Carl Gerold Fürst zum 70. Geburtstag, Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 1001 ff., 1014 ff.

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Schulpraktiker den Versuch unternommen, an einzelnen ausgewählten Schulstandorten einen konfessionell-kooperativen RU anzubieten. Was ist nun unter einem solchen Konfessionell-Kooperativen RU (KoKoRU)27 zu verstehen? Es ist schon im Zuge der für die Sekundarstufe I erlassenen Lehrplanreform 2000 der Weg vom Fächerunterricht zum vernetzten Unterricht gewiesen worden. D. h. die Einzelfächer wurden in Bildungsbereiche zugeordnet. Allerdings wurde auf den im Entwurfsstadium noch vorgesehenen Bildungsbereich für die religiös-ethisch-philosophische Orientierung verzichtet, sodass der RU jetzt zum Bildungsbereich „Mensch und Gesellschaft“ gehört, wo „die Auseinandersetzung mit religiösen und philosophischen Erklärungsund Begründungsversuchen über Ursprung und Sinn der eigenen Existenz und der Existenz der Welt“ geleistet wird. Das wird als „wichtige Aufgabe der Schule“ anerkannt. Die Kirchen haben sich zur Teilnahme an dieser Lehrplanreform entschlossen und haben sich auf eine damit verbundene fächerübergreifende und fächervertiefende Kooperation eingelassen. In diesem Zusammenhang ist auch die Erkenntnis gewachsen, dass die Kooperation im Religionsunterricht selbst aufzunehmen sei (als maßgebliches Beispiel sei hier auf die innerprotestantische Kooperation zwischen Ev. Kirche A. u. H. B. und Ev.-methodistischer Kirche verwiesen28) – und zwar unter folgenden Bedingungen: –

Im Grundsätzlichen soll die konfessionelle Gebundenheit des Gegenstandes gewahrt bleiben;



jedoch wird eine Kooperation angedacht, die über das Maß von einzelnen Stundenplanelementen hinausgeht;



im Vordergrund stehen SchülerInnen, denen die Teilnahme am RU unter zumutbaren Bedingungen ermöglicht werden soll;



das Projekt soll keine organisationsbedingte Erschwernis, sondern Erleichterung bieten. 27

Heribert Bastel / Manfred Göllner / Martin Jäggle / Helene Miklas (Hrsg.), Das Gemeinsame entdecken – Das Unterscheidende anerkennen. Projekt eines konfessionellkooperativen Religionsunterrichts. Einblicke – Hintergründe – Ansätze – Forschungsergebnisse, Münster / Wien 2006 – hier v. a. der Beitrag von Werner Jisa, Rechtliche Aspekte des Modells eines „Konfessionell-kooperativen Religionsunterrichts“ der christlichen Kirchen in Österreich, ebd. S. 59 ff.; Michael Bünker, Neueste Entwicklungen im Religionsunterricht aus evangelischer Perspektive – zur Konfessionalität und konfessionellen Kooperation, in: öarr 52 (2005), S. 177 ff. 28

Karl W. Schwarz, MK + LK = EmK. Eine geheimnisvolle kultusrechtliche Gleichung, in: öarr 52 (2005), S. 124 ff.

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Es soll durch eine Steuerungsgruppe wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden.



Die Kooperation vertieft eine bereits bestehende Kooperationskultur bei der Aus-, Fort- und Weiterbildung der ReligionslehrerInnen im Akademien-Verbund und künftig in einer gemeinsamen Pädagogischen Hochschule in kirchlicher Trägerschaft29.

Es ist kein „ökumenischer Religionsunterricht“, der sozusagen die konfessionellen Strukturen beseitigt. Die Kirche verzichtet auch nicht auf ihren verfassungsrechtlich verbrieften Status als Träger des Religionsunterrichts. Aber die Kirchen nehmen von ihrem Recht Gebrauch, im Rahmen ihrer „inneren Angelegenheiten“ Verträge untereinander abzuschließen, interkonfessionelle Kooperationsvereinbarungen zu treffen. Im Vergleich zu Deutschland, wo nach entsprechenden Kooperationsvereinbarungen die Bekenntnisgebundenheit des Lehrfaches in einzelnen Bundesländern preisgegeben wurde30, ist in Österreich die Ausgangslage aber schwieriger und anders. Denn obzwar den beteiligten Kirchen die Trägerschaft des RU und damit auch die Disposition über die (unterschiedlichen) Kooperationen zukommen, bedarf es einer schul- und religionsrechtlichen Einbindung des Staates in diese Vorgänge. Auch wenn es den Kirchen freisteht, untereinander im Rahmen ihrer „inneren Angelegenheiten“ Kooperationsverträge abzuschließen, so kann das natürlich nicht ohne Beteiligung des Staates erfolgen, denn ihm obliegt die Umsetzung des Gesetzes über die Interkonfessionellen Verhältnisse (RGBl. Nr. 49/1868), dessen Artikel 8 einen Konfessionell-Kooperativen RU natürlich nicht im Auge hatte, aber einen solchen auch nicht verbietet. 2. Abmeldung vom RU Der RU ist in Österreich ein obligatorischer Pflichtgegenstand mit der Möglichkeit, sich zu Beginn des jeweiligen Schuljahres abzumelden. Diese Abmel-

29 30

Kathpress-Tagesdienst Nr. 80/3.4.2006, S. 2 f.

Christoph Link, Konfessioneller Religionsunterricht in einer gewandelten sozialen Wirklichkeit? – Zur Verfassungskonformität des Hamburger Religionsunterrichts „für alle“, in: ZevKR 46 (2001), S. 257 ff.; Die Vereinbarung zwischen der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland „Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem RU“ ist abgedruckt in: ru. Ökumenische Zeitschrift für den Religionsunterricht 28 (1998), S. 110 f. – vgl. auch Karl-Hermann Kästner, Die Konfessionalität des RU an öffentlichen Schulen zwischen Religionspädagogik und Jurisprudenz, in: de Wall / Germann, Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung (Anm. 1), S. 301 ff.

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demöglichkeit, die aus schulorganisatorischen Gründen auf die ersten zehn bzw. seit dem Schulrechtspaket II/2006 fünf Tage des Schuljahres beschränkt wurde, verleiht dem RU als Pflichtfach eine eigene Qualität. Sie trägt der negativen Seite des Grundrechts auf Glaubensfreiheit Rechnung und steht auch dem religionsmündigen vierzehnjährigen Kind persönlich zu, das unter Umständen auch gegen den Willen der Eltern davon Gebrauch nehmen kann31. Allerdings endet das Recht der Eltern zur religiösen Kindererziehung nicht schlagartig mit dem 14. Lebensjahr des Kindes, sondern wirkt abgestuft weiter, sie haben es aber nicht mehr in der Hand, ihr Kind zu einem Glaubenswechsel zu veranlassen oder ihr Kind an einem Glaubenswechsel zu hindern. Verschiedentlich ist der Verdacht geäußert worden, dass die Beschränkung der Abmeldemöglichkeit auf die ersten Schultage (bzw. bei verspätetem Schulantritt: auf die ersten fünf Tage nach tatsächlichem Schulbeginn) grundrechtswidrig sei. Auch hier wird der hohe Grundrechtsstandard aus schulorganisatorischen Gründen unterboten. Angesichts der Tatsache, dass dem Schüler der Weg des Kirchenaustrittes auch während des Schuljahres freisteht, der die Pflicht zur Teilnahme am RU natürlich automatisch beendet, bleibt das Grundrecht in seiner negativen Tragweite aber ausreichend gewahrt. Erheblich schwieriger ist die Frage, ob der Grundrechtsmissbrauch, also die Abmeldung vom RU aus Gründen einer allgemeinen stundenplanmäßigen Entlastung, zu unterbinden wäre. Diesbezügliche Überlegungen haben gezeigt: Es liegt im Wesen eines Grundrechts begründet, dass es nicht erst aufgrund der richtigen Argumentation gewährt wird und dass es bei ungeschickter Argumentation nicht vorenthalten werden kann. Der Fristenlauf für die Abmeldung vom Religionsunterricht ist durch das Religionsunterrichtsgesetz von 1949 nur vage festgelegt („zu Beginn eines jeden Schuljahres“), wurde aber durch eine Durchführungsverordnung mit den „ersten zehn Kalendertagen des Schuljahrs“ konkretisiert32. Auch diesbezüglich werden auf Grund des Schulrechtspaketes II (BGBl. I Nr. 20/2006) Änderungen vorzunehmen sein, denn der Druck auf eine möglichst rasche Erstellung des Stundenplans ist in der Öffentlichkeit massiv gewachsen. Diese Politik einer beschleunigten Realisierung des endgültigen Stundenplanes macht aber ein ganz wichtiges Anliegen der Religionslehrerschaft zunichte: nämlich ihren Gegenstand den SchülerInnen noch innerhalb der Abmeldefrist vorzustellen. 31

Albert Stein, Rechtsfragen der religiösen Kindererziehung, insbesondere im Blick auf die Probleme der Evangelischen Kirche in Österreich, in: Kirchenrecht in theologischer Verantwortung (Anm. 13), S. 197 ff. 32

Rundschreiben Nr. 21/2004: Wiederverlautbarung von Verwaltungsverordnungen betreffend Schule und Kirchen/Religionsgesellschaften bezüglich RU und Schulbesuch.

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Kein anderer Gegenstand steht so unter plebiszitärem Druck wie der RU. Das Recht, sich ohne Angabe von Gründen und ohne Furcht vor Konsequenzen von ihm abzumelden, ist ein teures Rechtsgut, aber es hat verheerende Wirkungen. Ein teures Rechtsgut ist es, weil es (wenn auch negativ) eine Frucht der Religionsfreiheit ist. Verheerende Wirkungen löst es aus, weil von der Zahl der Abmeldungen die Zusammenlegung von RU-Gruppen abhängt und davon wiederum der Stundenplan. Man kann es gut verstehen, dass ReligionslehrerInnen diese Abmeldemöglichkeit sehr kritisch beäugen33. Immer wieder wird konkret die Frage gestellt, ob es einen Weg geben könnte, dieses Ventil zu schließen, weil es ja oft gar nicht aus Gründen der Religionsfreiheit benützt wird, sondern schlicht nur, um dem Druck des Stundenplanes auszuweichen und zwei Entspannungsstunden im Kaffeehaus zu ertrotzen. Eine Änderung der Rechtslage ist m. E. allerdings nur im Wege einer generellen Einführung eines verpflichtenden (alternativen) Ethikunterrichts vorstellbar. 3. Anmeldung zum RU als Freigegenstand Die Teilnahme von Schülern ohne religiöses Bekenntnis oder solchen, deren religiöses Bekenntnis noch nicht gesetzlich anerkannt wurde, am fremdkonfessionellen RU ist möglich. Sie kann aufgrund einer Anmeldung und mit Zustimmung des betroffenen Religionslehrers erfolgen. Für diesen angemeldeten Schüler gilt der RU als Freigegenstand (gemäß § 8 lit. g SchOG), der benotet wird und der gegebenenfalls (es betraf einen mennonitischen Schüler im evangelischen RU) sogar als Maturagegenstand gewählt werden kann34. Diese Schüler des Freigegenstandes RU sind bei der Bildung von RU-Gruppen genauso zu zählen wie die Schüler, die am RU als Pflichtgegenstand teilnehmen (inklusive Gratisschulbuch). Die Eröffnungs- und Teilungszahlen-Verordnung 1981 (i.d.F. BGBl. II Nr. 219/1997) kann nicht für den „Freigegenstand“ RU zur

33

In der Ev. Kirche befasste sich der Religionspädagogische Ausschuss (16.01.2002) mit der Frage einer ersatzlosen Streichung von § 1 Abs 2 RU-G: dazu Karl W. Schwarz, Schulrechtliche Notizen zur Abmeldung vom Religionsunterricht, in: Schulfach Religion 21 (2002), S. 217 ff. Auf der Bildungssynode hatte die Evangelische Kirche die Abmeldemöglichkeit als „Ausdruck persönlicher Glaubens- und Gewissensfreiheit“ gutgeheißen: Weil es im evangelischen RU auch um zutiefst persönliche Fragen geht, können wir die Möglichkeit der Abmeldung vom RU als Ausdruck persönlicher Glaubens- und Gewissensfreiheit ebenso befürworten wie die Möglichkeit der Teilnahme von Kindern und Jugendlichen, die keiner staatlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft angehören. Stellungnahme der Bildungssynode, in: Schulfach Religion Sondernummer 1997, S. 29 f. 34

Rundschreiben Nr. 3/1995 des BMBWK: Reifeprüfung im „Freigegenstand“ Religion.

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Anwendung kommen, dieses verweist in § 3 Abs. 8 (RU als Freigegenstand an Berufsschulen) ausdrücklich auf das RU-G. 4. Ethikunterricht als Komplementärfach Versuche, die Abmeldungen gleichwohl durch einen Ersatzpflichtgegenstand Ethik zu stabilisieren, haben zwar zum Schulversuch „Ethikunterricht“ geführt, der an insgesamt 117 Schulstandorten im Schuljahr 2005/2006 durchgeführt wird35. Dieser Schulversuch (gemäß § 7 SchOG) wurde auch evaluiert – mit dem Ergebnis, dass seine Übernahme als „komplementären“ Pflichtgegenstand zum RU ins Regelschulwesen empfohlen wurde36. Er betrifft jene Schüler, die sich vom RU abgemeldet haben, für die kein RU ihres Bekenntnisses angeboten wird, deren Bekenntnis noch nicht gesetzlich anerkannt wurde oder die kein religiöses Bekenntnis aufweisen, also Schüler ohne religiöses Bekenntnis (o. r. B.) sind. Eine Abmeldung von diesem „Ersatzpflichtgegenstand“ ist nicht möglich, denn er versteht sich eben gerade nicht als RU, sondern als eine dem staatlichen Neutralitätsgebot in religiös-weltanschaulicher Hinsicht korrespondierende Einrichtung. Aufgrund der Evaluierung ist man nun dazu übergegangen, die Bezeichnung „Ersatzpflichtgegenstand“ durch „Pflichtfach“ zu ersetzen, das allen Schülern angeboten wird, nicht nur den erwähnten RUFlüchtlingen. Von der Teilnahmeverpflichtung am Ethikunterricht können aber Schüler dann entbunden werden, wenn sie an einem RU teilnehmen oder (im Falle der Angehörigen von religiösen Bekenntnisgemeinschaften) den Besuch der religiösen Unterweisung ihrer Bekenntnisgemeinschaft nachweisen. Für diesen religiös-weltanschaulich neutralen Pflichtgegenstand „Ethik“ sind jene Lehrer heranzuziehen, die aufgrund ihres Lehramtsstudiums sowie ihrer Weiterbildung unter Bedachtnahme auf die Inhalte und Ziele des Gegenstandes Ethik in besonderer Weise hiezu befähigt sind. Die Unterrichtserteilung durch Religionslehrer ist grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Weiters gelten für die Eröffnung und Führung von Unterrichtsgruppen des Pflichtgegenstandes „Ethik“ § 7a des RU-G sinngemäß. Mit den der Schule zur Verfügung gestellten Werteinheiten muss allerdings das Auslangen gefunden werden. Dass der Ethikunterricht, der an den betreffenden Schulstandorten (es handelt sich fast ausschließlich um Schulen der Sekundarstufe II) zu einer 35 36

Freundlicher Hinweis von MinR Mag. Erich Rochel.

Anton A. Bucher, Ethikunterricht in Österreich, Innsbruck / Wien 2001; Karl Heinz Auer (Hrsg.), Ethikunterricht. Standortbestimmung und Perspektiven, Innsbruck / Wien 2002; Manfred Göllner, Die Bildungs- und Lehraufgaben des Ethikunterrichts in Europa im Vergleich, Münster 2002.

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weitgehenden Stabilisierung des RU führte, nicht generell in das Regelschulwesen übernommen wurde, hängt mit den mangelnden budgetären Möglichkeiten zusammen. Angesichts einer notwendigen Beaufsichtigung jener Schüler der Primarstufe und Sekundarstufe I, die nicht am RU teilnehmen37, stellt sich die Ressourcenfrage erneut – und im Blick auf die geforderte Werterziehung mit äußerster Dringlichkeit. 5. Wochenstundenzahl/RU-Gruppenunterricht Was die Wochenstundenzahl für den RU betrifft (Art. I § 1 Abs. 3 Schulvertrag, der aus Gründen der Parität die Republik Österreich auch gegenüber den anderen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften bindet), so sind in den meisten Schultypen zwei Wochenstunden vorgesehen, in den konfessionellen Privatschulen steht es dem Schulträger frei, nach Anzeige an die staatliche Schulbehörde ein höheres Stundenausmaß festzulegen. Nehmen am RU eines Bekenntnisses aber weniger als die Hälfte der Schüler einer Klasse teil, so ist die Zusammenlegung mit Schülern anderer Klassen oder Schulen zu einer RUGruppe möglich, gegebenenfalls auch schulstufenübergreifend. Nehmen am RU eines Bekenntnisses weniger als zehn Schüler, die gleichzeitig weniger als die Hälfte der Schüler der Klasse sind, teil, vermindert sich die Zahl der Religionsstunden auf eine Stunde, es sei denn, dass aus mehreren Klassen eine RU-Gruppe mit mehr als zehn Schülern gebildet wurde. Nehmen vier oder drei Schüler am Religionsunterricht einer Klasse bzw. RU-Gruppe teil, so beträgt die Wochenstundenzahl für den RU eine Wochenstunde (§ 7a Abs. 3 Satz 1 RU-G 1949 i.d.F. BGBl. Nr. 329/1988), für weniger als drei Schüler muss gegebenenfalls die Kirche die Kosten tragen. Ich habe anderenorts diesen § 7a des RU-Gesetzes als Kernbestimmung für den RU einer Minderheitskirche und den Gruppenunterricht als spezifisches Instrument des Minderheitenschutzes gewürdigt38. Dazu ergänzend sei hier noch auf die Frage eingegangen, ob eine während des Schuljahres

37

Wenn aus schulorganisatorischen Gründen eine andere Beaufsichtigung (auch durch die Eltern) nicht möglich ist, kann es vorkommen, dass ein Schulkind (in der Regel sind es die Angehörigen der konfessionellen Minderheiten) beim fremdkonfessionellen RU anwesend ist. Dies wird nicht als Teilnahme gewertet, sondern bloß als eine davon zu unterscheidende aufsichtsbedingte „Anwesenheit“. Auch wenn dies von den Kosten her gesehen günstigste Lösung ist, gibt es erhebliche Bedenken, insbesondere, wenn die Zahl der zu beaufsichtigenden SchülerInnen unverhältnismäßig hoch ist und womöglich auch jene umfasst, die sich vom RU abgemeldet haben. 38

Karl W. Schwarz, Zur Gewährleistung eines Minderheitenprogramms im Schulalltag – der ev. Religionsunterricht „nach Maßgabe der einschlägigen … Rechtsvorschriften“, in: Historische und rechtliche Aspekte des Religionsunterrichts (Anm. 1), S. 343 ff.

Konfessionelle Minderheiten in der Schule

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Platz greifende Veränderung in der Größe der RU-Gruppe zu Konsequenzen hinsichtlich der Kontingentzuteilung führen muss. Es wäre aus Gründen der Stundenplangestaltung zweckmäßig, wenn ein Klassen- oder Schulwechsel nach einem fiktiven Stichtag (1. Oktober) keine unmittelbaren Auswirkungen mehr zeitigt (weder nach oben, noch nach unten) und es wäre hilfreich, wenn von Seiten des zuständigen Ministeriums eine diesbezügliche Klarstellung im Erlassweg erginge. Doch dürfte es aus Gründen des Föderalismus wenig realistisch sein, die Bundesländer im Pflichtschulbereich zu einer einheitlichen Vorgangsweise anzuhalten. Zum Schulpaket II ist freilich noch ergänzend zu sagen: Im Zuge dieses Schulrechtspaketes II kommt es nun zu einer gravierenden administrativen Beeinträchtigung des RU – und zwar dort, wo Schuldirektionen bereits zu Beginn des jeweiligen Sommersemesters bei der Erstellung der provisorischen Lehrfächerverteilung Erhebungen bezüglich der Teilnahme von Schülern und Schülerinnen am RU des kommenden Schuljahres durchführen. Diese Vorgangsweise wird damit begründet, dass nur sie jene geforderte frühest mögliche Erstellung des Stundenplans erlaubt. Sie ist aber nicht gesetzeskonform, weil die Bildung der RU-Gruppen aufgrund des § 7a RU-G erst nach Ablauf der Abmeldefrist (innerhalb der ersten fünf Tage) und der Anmeldefrist zum RU als Freigegenstand erfolgen kann und jedenfalls eine Präsentation des RU durch den zuständigen Religionslehrer voraussetzt39. Gesetzeskonform wäre wohl nur ein Anknüpfen an die Anzahl der dem jeweiligen Bekenntnis zugehörigen SchülerInnen oder am status quo ante. VI. Schluss Nach dieser mehr beiläufigen und punktuellen, keineswegs erschöpfenden Schilderung der Rechtslage kann zusammenfassend bemerkt werden: Der RU an der österreichischen Schule wird sowohl von der Kirche (als Veranstaltung der Kirche) als auch von der Schule (als Veranstaltung der Schule und als eine staatliche Kulturaufgabe unter den Bedingungen der Schule) her zu begründen sein. Es dürfte nicht zweckmäßig sein, diese beiden Begründungsvarianten gegeneinander auszuspielen. Sie sind komplementär. Deshalb muss in Erinnerung gerufen werden, dass der RU auch vom Kulturauftrag des Staates und von den religiösen Interessen seiner Bewohner in den Blick zu nehmen ist. Dass die Schüler einen RU in der Schule angeboten bekommen, ist Ausfluss des Kulturstaatsgedankens. Dem Staat obliegt die umfassende Daseinsvorsorge seiner Bürger. Hierzu zählt auch der schulische Bildungsauftrag, der aber nicht auf

39

So auch die Intention des Rundschreibens Nr. 21/2004, Pkt. 1.1.

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Lesen, Schreiben und Rechnen und die Vorbereitung auf das Berufsleben begrenzt ist, sondern viel umfassender angelegt ist – er soll auch durch Vermittlung von Einsicht in die fortwirkenden Kräfte der Vergangenheit „Daseinsbewältigung für die Zukunft“ möglich machen40. Diese Bipolarität des RU entspricht dem Befund, dass der RU eine so genannte „res mixta“ ist, also eine Angelegenheit im Staatskirchenrecht, die nur im Zusammenwirken von Staat und Kirche, in der Kooperation der beiden Instanzen verwirklicht werden kann. Der RU kann in dieser Verschränktheit als Gradmesser der Religionsfreiheit verstanden werden, aber auch als Maßstab dafür, ob und wie der Staat seiner „Sinnverantwortung“ (Klaus Obermayer) nachkommt; er kann als Seismograph dafür gelten, wie religiösen Interessen in der Gesellschaft Rechnung getragen wird.

40

Albert Stein, Evangelischer Religionsunterricht in Österreich – ein Gewissensgebot zwischen Kirchenprivileg und Kulturauftrag, in: Kirchenrecht in theologischer Verantwortung (Anm. 13), S. 189 ff.

Haben Theologische Fakultäten eine Zukunft in den staatlichen Universitäten Europas?1 Von Adrian Loretan Die Frage, ob und welche Zukunft die Theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten von morgen haben werden, hängt maßgeblich davon ab, wie eine Gesellschaft das Verhältnis von Staat und Kirche sieht und gestaltet. Im Folgenden sollen drei Modelle des Staat-Kirche-Verhältnisses skizziert und in ihren Konsequenzen für die Theologischen Fakultäten dargestellt werden. I. Radikales Trennungsmodell 1. Beschreibung Im Modell der radikalen Trennung von Staat und Kirchen wird jede Form der institutionell-rechtlichen Zusammenarbeit (so z. B. die Kirchensteuern) zwischen staatlichen und kirchlichen Organen abgelehnt. Eine solche radikale Trennung kann unterschiedlich motiviert sein, nämlich entweder aus dem Wunsch, Religionsgemeinschaften vor staatlicher Beeinflussung zu schützen (religionsfreundliche Trennung, Bsp.: USA), oder aber aus dem Anliegen, das Wirken der Kirchen zu begrenzen (religionsfeindliche Trennung, Bsp.: Frankreich 1905). Im Trennungssystem haben alle Religionsgemeinschaften einen privatrechtlichen Status (z. B. als Stiftung oder Verein). Das Verbot zur institutionellen Verbindung zwischen Staat und Kirchen wird mit der Pflicht des Staates zur religiösen Neutralität und zur Gleichbehandlung aller Religionsgemeinschaften begründet, ferner mit der Religionsfreiheit, welche hier nur als Recht des Individuums verstanden wird, und schließlich mit der möglichst klaren Absicherung des Verbots einer Staatskirche. „Der Staat hat sich streng laizistisch und neutral gegenüber allen Religio-

1

Ausführlicher dazu: Adrian Loretan (Hrsg.), Theologische Fakultäten an europäischen Universitäten. Rechtliche Situation und theologische Perspektiven, Münster 2004.

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Adrian Loretan

nen zu verhalten, er hat für alle die gleichen Strukturen zu schaffen. Die Mehrheitsreligionen dürfen kein Gesetz zur Erhaltung ihrer Privilegien bekommen.“2 Die letzte Trennungsinitiative in der Schweiz wurde im Kanton Zürich am 24. September 1995 vom Volk abgelehnt. Aber die nächste Trennungsinitiative kommt bestimmt.3 2. Konsequenzen für die Theologischen Fakultäten Theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten sind nicht denkbar, wenn es grundsätzlich keine gemeinsamen Angelegenheiten von Staat und Kirchen geben darf. Gegen die Theologischen Fakultäten wird grundrechtlich argumentiert: Sie verstießen gegen das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit. Denn die Theologie erfülle nicht die Anforderungen an eine Wissenschaft.4 Das Grundrecht der Rechtsgleichheit verbiete dem Staat eine Bevorzugung einzelner Religionsgemeinschaften, konkret der christlichen Kirchen. Es sei nicht zulässig, dass der Staat nur für die theologische Ausbildung einzelner Kirchen aufkomme. Dass der Staat aber allen Religionsgemeinschaften dieses Recht einräume, sei ausgeschlossen.

2

Votum von Andreas Honegger in: Mehr Autonomie für Landeskirchen. Entflechtung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat, (Sitzungsbericht aus dem Zürcherischen Kantonsparlament zur Änderung der Kantonsverfassung und dem Entwurf des neuen Kirchengesetzes), in: NZZ 14. Januar 2003, S. 44. 3 Zu den Argumenten der Trennungsbefürworter: Andreas Honegger, Trennung von Staat und Kirche: Ein Schritt zum Ausbau des Rechtsstaates, in: Louis Carlen (Hrsg.), Trennung von Kirche und Staat (= Freiburger Veröffentlichungen aus dem Gebiete von Kirche und Staat 41), Freiburg Schweiz 1994, S. 37 – 54.

Zur den Argumenten der Trennungsgegner vgl.: Adrian Loretan (Hrsg.), Kirche-Staat im Umbruch. Neuere Entwicklungen im Verhältnis von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften zum Staat, Zürich 1995, S. 49 – 98. 4

In ihr gelten nicht die wissenschaftlichen Prinzipien der autonomen Vernunftseinsicht des auf sich selbst gestellten Menschen, der Voraussetzungslosigkeit der Forschung und der Widerspruchsfreiheit, wird betont. Vor allem aber widersprächen die Glaubensgebundenheit der Theologie und Gott als ihr unbeweisbarer Gegenstand dem Charakter einer Wissenschaft. Insbesondere stünden aber die Rechte der Kirchen, Einfluss auf „ihre“ theologischen Fakultäten auszuüben, dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit diametral entgegen. Die kirchliche Funktion der Theologie wird als Argument für die fehlende Legitimation der Theologischen Fakultäten ins Feld geführt.

Theologische Fakultäten in den staatlichen Universitäten Europas

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Als Konsequenz wird gefordert: Die Theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten sollen in kircheneigene Ausbildungsstätten überführt werden. Dies entspreche dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften.

Staat état

Kirche église

Universität université

Theologie

Abbildung 1: Nur individuelle Religionsfreiheit

3. Kritik Die Kritik am ersten Modell kann kurz gefasst werden, da diese in der Darlegung des zweiten Modells enthalten ist. Zwei Punkte seien dennoch erwähnt: Die Verwirklichung der individuellen Religionsfreiheit bedarf der religiösen Institutionen (z. B. der Kirchen), welche die Frage nach der religiösen Wahrheit – im Gegensatz zum Staat – zu beantworten versuchen. Damit ist neben der individuellen Religionsfreiheit auch eine institutionelle Seite der Religionsfreiheit zu beachten, die das Trennungsmodell übersieht. Der Sozialstaat pflegt auch mit vielen anderen nichtstaatlichen Institutionen Beziehungen, so vor allem im kulturellen, sozialen, sportlichen und ökonomischen Bereich. Ausschließlich die Religionsgemeinschaften zu ignorieren stellte eine Diskriminierung der Kirchen und Religionen dar. II. Pluralistisches Modell 1. Beschreibung Die Situation, in welcher der Staat mit mehreren Kirchen in gemeinsamen Angelegenheiten kooperiert, ohne dass die Kirchen Teil der staatlichen Organisation werden (sie bleiben organisatorisch „getrennt“), kann als „pluralistisches Modell“ bezeichnet werden. Nach diesem Modell unterstützt der Staat die Kirchen nicht um ihrer Wahrheit willen, sondern um seiner Bürgerinnen und Bürger willen, damit diese ihre Religionsfreiheit positiv verwirklichen können. Der Staat „garantiert … daher nicht Privilegien der Kirche, sondern ‚Grundrechte

1024

Adrian Loretan

des Menschen‘.“5 Die Bürgerinnen und Bürger bleiben in der Wahl ihrer Religionszugehörigkeit frei. Der Staat schafft die Rahmenbedingungen, damit jene Kirchen und Religionsgemeinschaften, welche gesellschaftlich bedeutsam sind, über Möglichkeiten zur Entfaltung und Wirkung verfügen. Dazu kann er ihnen einzelne Elemente seines öffentlichen Rechts zur Verfügung stellen (z. B. Steuerrecht, Recht auf Zugang zu Spitälern, Gefängnissen und Armee, Möglichkeit zum Religionsunterricht an öffentlichen Schulen). Da der Staat unmöglich mit allen Religionsgemeinschaften kooperieren kann, nimmt er die gesellschaftliche Bedeutung einer Religionsgemeinschaft als Kriterium für seine Auswahl. Indikatoren dafür sind: –

der Rückhalt der jeweiligen Überzeugung in der Bevölkerung,



die Mitgliederzahl und



die Mitarbeit einer Religionsgemeinschaft bei der Lösung von gesellschaftlichen Problemen.

Gemessen an diesen Kriterien gelten einige große christliche Kirchen für den Staat bisher als förderungswürdig. Dieser soziologisch-kulturelle Maßstab beinhaltet aber ein die Kirchen gefährdendes Element: Demzufolge kommt es nämlich darauf an, dass die Kirchen auch weiterhin gesellschaftlich relevante Gruppen bleiben. In den Städten sind die Kirchenaustrittszahlen aber nicht mehr zu übersehen, wie Basel in besonderer Deutlichkeit zeigt. „Die Römischkatholische Kirche [des Kantons Basel-Stadt]... hatte in den letzten 25 Jahren rund zwei Drittel ihrer Mitglieder verloren.“6 2. Konsequenzen für die Theologischen Fakultäten Die Theologischen Fakultäten sind gemeinsame Angelegenheiten des Staates und einer bestimmten Kirche. Dieser Doppelcharakter der Theologischen Fakultäten erfordert in allen gemeinsamen Angelegenheiten einvernehmliches

5

Wilhelm Rees, Der Religionsunterricht und die katechetische Unterweisung in der kirchlichen und staatlichen Rechtsordnung, Regensburg 1986, S. 46. Unter dem deutschen Grundgesetz erwächst der Verfassungsgarantie staatlichen Religionsunterrichts gleichermassen ihre Begrenzung wie auch ihre Legitimation. 6

Ökumenische Basler Kirchenstudie, in: Annex (Beilage zur Reformierten Presse Nr. 1/99), S. 3. Vgl. zur sozialwissenschaftlich und theologischen Bearbeitung dieses Phänomens: Manfred Brun (Hrsg.), Ökumenische Basler Kirchenstudie. Ergebnisse der Bevölkerungs- und Mitarbeitendenbefragung, Basel 1999; Manfred Brun / Albrecht Grözinger, Kirche und Marktorientierung. Impulse aus der Ökumenischen Basler Kirchenstudie, Freiburg Schweiz 2000.

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1025

Handeln von Staat und Kirche. Die Universitätstheologin und der Universitätstheologe an den Theologischen Fakultäten haben ein konfessionelles Staatsamt inne. Sie stehen damit im Schnittpunkt zwischen staatlichen und kirchlichen Kompetenzen, denn die Personalhoheit der staatlichen Universität unterliegt hier gewissen Einschränkungen seitens der jeweiligen Kirche.

Universität université

Prot.

Theologie 1 Staat état

Gesellschaft société

Theologie 2

Theologie 3

Kath.

Islam

Abildung 2: Religionsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit

In diesem Punkt treten charakteristische Unterschiede zwischen den katholischen und reformierten Theologischen Fakultäten zutage. Katholischerseits ist „die Berufung in den Kreis des wissenschaftlichen Personals unter bestimmten Voraussetzungen von der Zustimmung der Kirchenleitung abhängig … und diese [hat] auch nach erfolgter Anstellung ein Beanstandungsrecht“7.

7

Alexander Hollerbach, Die Theologischen Fakultäten und ihr Lehrpersonal im Beziehungsgefüge von Staat und Kirche, in: Theologie in der Universität, Aschaffendorff / Münster 1982 (Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 16), S. 69 – 99, hier S. 82. Gewährung, Versagung und Widerruf des Nihil obstat „sind die staatskirchenrechtlich relevanten Formen, in denen kirchliche Mitwirkungsrechte wahrgenommen werden.“ Alexander Hollerbach, Die Theologischen Fakultäten (Anm. 7), S. 83.

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Die Mitsprache der Evangelischen Kirchenleitungen ist nicht im gleichen Maß rechtlich geregelt. Für die Evangelisch-reformierten Kirchen der Schweiz „sieht das jeweilige kantonale Hochschulrecht … ein Begutachtungsrecht vor (so in Zürich und in Lausanne)8 bzw. findet … nur eine Anhörung auf gewohnheitsrechtlicher Basis statt (so in Bern und in Basel)9. Desgleichen gilt heute in Neuchâtel, dass der Staatsrat die Professoren der Theologischen Fakultät ernennt, auf Vorschlag des Fakultätsrates und nach Anhörung des Synodalrates (dessen Stellungnahme der Zustimmung der Synode bedarf). Dagegen befindet in Genf der paritätisch von Kanton und Kirche beschickte Stiftungsrat der ‚Fondation de la Faculté‘ über die Auswahl von Lehrpersonal. … Der Grad der kirchlichen Mitbestimmung leitet sich [also] aus den jeweiligen … kantonalen religionsrechtlichen Grundvorstellungen her.“10 Die unterschiedlichen Einflussrechte der Kirchen auf die Theologischen Fakultäten beruhen u. a. auf einem unterschiedlichen Amtsverständnis. Im evangelischen Kirchenrecht gibt es kein Amt, das, mit wahrheitsverbürgender Rechtsgewalt ausgestattet, kirchliche Lehre bilden und davon abweichende theologische Lehrmeinungen verurteilen könnte. Dennoch aber ist auch für den Protestantismus die Frage relevant, welche Aussagen im Sinne des Evangeliums sind und welche nicht.11 Ohne über ein eigentliches Lehramt zu verfügen, sehen sich die evangelischen Kirchen in der Notwendigkeit, Gesetze und Verordnungen zu erlassen, die den Umgang mit Irrlehren und Irrlehrern regeln.

8

Vor der regierungsrätlichen Wahl einer Professorin oder eines Professors für die Theologische Fakultät ist das Gutachten des kantonalkirchlichen Organs (Kirchenrat /ZH, Conseil synodal /VD) einzuholen. 9

In Bern sind im Universitätsgesetz keine Besonderheiten für die Theologische Fakultät vorgesehen. In einer landeskirchlichen Vorschrift heisst es: „Bei der Neubesetzung von Lehrstühlen [an der ev.-ref. theol. Fakultät] soll der Synodalrat mit der Fakultät Fühlung nehmen und nötigenfalls dem Regierungsrat seine Auffassung mitteilen.“ Das Universitätsgesetz von Basel hält fest, dass die Bestellung der Universitätslehrer ohne Rücksicht auf deren politische und religiöse Überzeugung erfolgt. 10

Dieter Kraus, Schweizer Staatskirchenrecht, Hauptlinien des Verhältnisses von Staat und Kirche auf eidgenössischer und kantonaler Ebene, Tübingen 1993, S. 360 – 361. 11 Zu theologischen Texten von der Reformation bis zur Gegenwart, die Notwendigkeit, Recht und Möglichkeit der Lehrbeurteilung diskutieren vgl. Wilfried Härle / Heinrich Leipold (Hrsg.), Lehrfreiheit und Lehrbeanstandung. Bd. 1: Theologische Texte, Gütersloh 1985. Albert Stein, Probleme evangelischer Lehrbeanstandung (= Abhandlung zur evangelischen Theologie 4), Bonn 1967.

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1027

3. Kritik Das pluralistische Modell ist – nicht nur in den deutschsprachigen Ländern – das vorherrschende System, wenn theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten existieren. Es hat sich bewährt und bietet dem Staat wie den beteiligten Kirchen große Chancen. Die Schwierigkeit – und damit ist auch die Kritik verbunden – besteht darin, die Balance zwischen staatlicher und kirchlicher Einflussnahme zu wahren. Die Kirchen sollten die Theologischen Fakultäten nicht als ihren Besitz auffassen. „Sie sollen gewissermaßen – theologisch gesprochen – die Tugenden … üben des Besitzens, als besäßen sie nicht.“12 Die evangelischen Kirchen müssen klären, ob die kirchlichen Erklärungen zu Lehrpersonen rechtswirksam sein sollen (so wie dies z. B. in den Staatskirchenverträgen der neuen Bundesländer von 1993/94 geregelt wurde). In der Tradition des Selbstverständnisses als christliche Obrigkeit halten sich manche Regierungen noch heute für befähigt, auch über die kirchlichkonfessionellen Aspekte ihrer Theologischen Fakultäten zu befinden. Diese Einstellung ist heute – angesichts der staatlichen Neutralität in religiösen Angelegenheiten – fragwürdig. Die Theologischen Fakultäten ihrerseits müssen sich auch in Zukunft dadurch bewähren, dass ihre Lehr- und Forschungstätigkeit sowohl einen Dienst an der Gesellschaft als auch an der jeweiligen Kirche darstellt. III. Modell der inpersonalen Grundrechtstheorie 1. Beschreibung In der Modelldiskussion wird in jüngster Zeit auch ein drittes Modell diskutiert, das im Falle einer Umsetzung entscheidende Konsequenzen für die Theologischen Fakultäten hätte. Ausgangspunkt dieses Modells sind subjektlose Grundrechte, wie z. B. die Wissenschaftsfreiheit oder die Pressefreiheit. Das Recht auf Wissenschaftsfreiheit schützt das Funktionssystem Wissenschaft vor außerwissenschaftlichen Eingriffen. Das staatliche Hochschulrecht soll demnach die Sicherheit bieten, dass

12

Alexander Hollerbach, Die staatskirchenrechtliche Ordnung des Grundgesetzes in der gegenwärtigen Diskussion, in: Paul Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, Darmstadt 1980, S. 121 – 138, hier S. 134.

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Adrian Loretan



der Staat sich nicht in die wissenschaftlichen Diskurse einmischt,



auch andere nichtwissenschaftliche Faktoren (z. B. Kirche) sich nicht einmischen können. 2. Konsequenzen für die Theologischen Fakultäten

Hans Georg Babke wendet diese inpersonale Grundrechtstheorie auf die Theologischen Fakultäten an und verlangt, dass diese ausschließlich in Zuständigkeit des Staates stehen (kein Doppelstatus) und unter seinem Schutz die ‚uneingeschränkte‘ Wissenschaftsfreiheit genießen sollen.13 Dass der Staat dem kirchenleitenden Amt bei der Besetzung theologischer Lehrstühle die Letztentscheidungskompetenz zugesteht, wie dies in den Staatskirchenverträgen der neuen Bundesländer von 1993/94 festgelegt wurde, lehnt er folglich ab14. Jede Forderung nach einem Mitbestimmungsrecht der Kirchen, sei es bei der Gründung von Theologischen Fakultäten, beim Erlass von Studien- und Prüfungsordnungen, bei der Besetzung der Lehrstühle oder bei Beanstandungsverfahren müsse als verfassungswidrig abgewiesen werden. In der Schweiz hätte dieses Modell besondere Konsequenzen: Vor allem in den Kantonen Bern, Waadt und Zürich herrscht noch das Prinzip der kirchlichen Gesetzgebung durch den politischen Gesetzgeber vor.15 Könnte dieser politische Gesetzgeber Theologie nicht auch als eine besondere Form der Religionswissenschaft verstehen, vor allem wenn die Nachfrage der Studierenden nach Religionswissenschaft steigen sollte? Einige Theologen liefern für dieses Ansinnen Argumente. Babke und Pannenberg16 versuchen Theologie im heutigen Wissenschaftsverständnis neu zu begründen, indem sie diese nicht mehr als Glaubenswissenschaft, sondern als Religionswissenschaft verstehen.

13

Vgl. Hans-Georg Babke, Theologie in der Universität aus rechtlicher, theologischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive, Frankfurt a. M. 2000, S. 106 – 123, hier S. 79. 14

Vgl. Babke, Theologie in der Universität (Anm. 13), S. 121.

15

„Mais il faut tenir compte du fait que le canton, en donnant un règlement à ‚son’ Eglise, n’exerce pas le pouvoir de l’Etat, mais celui de l’Eglise à titre fiduciaire.“ Christoph Winzeler, Le droit ecclésial protestant en Suisse. Principes et questions fondamentales, in: Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht 2000, Bern 2001, S. 101 – 110, hier S. 106. 16

Vgl. Wolfhart Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Theologie, Freiburg i.Br. 1980 (= QD 82). Die Haltung Pannenbergs wäre allerdings von derjenigen Babkes noch stark zu differenzieren.

Theologische Fakultäten in den staatlichen Universitäten Europas

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Prot

Universität

Staat

université

ét t Theologie

Gesellschaft société

Kat

Abbildung 3: Nur Wissenschaftsfreiheit

3. Kritik Der als absolut gedachte Schutz der Wissenschaftsfreiheit eliminiert die Religionsfreiheit der Kirchen. Eine Abkoppelung der Theologischen Fakultäten von der jeweiligen Kirche kann deshalb weder dem Selbstverständnis der katholischen noch der evangelischen Kirche entsprechen – auch nicht den bekenntnisoffenen evangelisch-reformierten Landeskirchen der Schweiz. Die Abkoppelung kann aber auch nicht im Interesse der Theologischen Fakultäten selbst liegen. „Die Theologie würde ihre Identität einbüssen, wenn sie versuchte, sich vom dogmatischen Kern der Religion und damit von jener religiösen Sprache abzukoppeln, in der sich die Gebets-, Bekenntnis- und Glaubenspraxis der Gemeinde vollzieht. In dieser Praxis bezeugt sich erst der religiöse Glaube, den die Theologie nur auslegen kann.“17 Theologie kann aber nicht im gleichen Sinn wie eine Naturwissenschaft als Wissenschaft betrieben werden, sonst bleibt im besten Fall eine rein empirisch arbeitende Religionswissenschaft übrig. Das Deutsche Bundesverfassungsgericht hat klargestellt: Mit dem Verfassungsartikel über die Wissenschaftsfreiheit soll nicht eine bestimmte Auffassung von Wissenschaft oder eine bestimm-

17

Jürgen Habermas, Zeit der Übergänge, Frankfurt a. M. 2001, S. 173 – 196, hier S. 191.

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te Wissenschaftstheorie geschützt werden, schon gar nicht die Ideologie von der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft. Das Bundesverfassungsgericht schreibt: Die Wissenschaftsfreiheit „erstreckt sich vielmehr auf jede wissenschaftliche Tätigkeit, das heißt auf alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist.“18 Demnach kann Theologie eine Wissenschaft sein, auch wenn sie gebunden ist an eine konkrete Kirche und deren Lehramt. Abschließend halte ich meine Überzeugung fest, dass sich das Weiterbestehen der mit ihrer Kirche in je unterschiedlicher Weise verbundenen evangelischen und katholischen Theologischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten auch morgen noch im Rahmen des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und Religion rational begründen lässt.19

18 19

BVerfG 35, 79 (113).

Vgl. dazu die grundsätzlichen Überlegungen von Walter Lesch und Adrian Loretan in: Adrian Loretan, (Hrsg.), Theologische Fakultäten an europäischen Universitäten. Rechtliche Situation und theologische Perspektiven, Münster 2004, 7 – 65.

Vereinigungen von Gläubigen im Spannungsfeld von kirchlichem und staatlichem Recht Überlegungen anlässlich des VfGH-Erkenntnisses Slg. 16.395/2001 Von Brigitte Schinkele I. Problemstellung Rechtsfragen im Zusammenhang mit Vereinigungen von Gläubigen sind dadurch gekennzeichnet, dass es vielfach zu einem Ineinandergreifen von kirchlicher und staatlicher Rechtsordnung kommt. Dadurch erhält die aus staatlicher Sicht gegebene Grundrechtskollision eine besondere Komplexität, die diffizile Zuordnungen und Abgrenzungen erforderlich macht. Die dabei aufbrechenden Fragen zeigen deutlich, dass konkreten religionsrechtlichen Problemstellungen oftmals eine über den Anlassfall hinausweisende Bedeutung zukommt und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche im Grundsätzlichen betroffen ist. Die praktische Relevanz vereinsrechtlicher Fragestellungen ergibt sich allein schon daraus, dass die Rechtsform des Vereins die überwiegende Form für Aktivitäten des Laienapostolats darstellt. Wie die einschlägige Rechtsprechung zeigt, entstehen in unserem Kontext Rechtsstreitigkeiten am häufigsten im Zusammenhang mit dem Vereinsnamen. So kann etwa der Name eines Vereins insoweit irreführend sein, als gegebenenfalls der Eindruck entstehen könnte, es handle sich um eine Einrichtung der betreffenden Religionsgemeinschaft oder eines von ihr anerkannten Vereins. Wie auch immer die konkrete Fallkonstellation aussehen mag, die Aktivitäten der einzelnen Gläubigen auf der einen Seite und die Zielsetzungen der jeweiligen Religionsgemeinschaft auf der anderen Seite – obwohl auf demselben religiösen Grundauftrag beruhend – können gerade auch im Bereich des Vereinigungsrechts in ein Spannungs- bzw. Kollisionsverhältnis geraten. Aus kirchlichenrechtlicher Sicht ist von einem Kirchenverständnis auszugehen, das nicht hierarchisch ansetzt, sondern die Gemeinschaft der Kirche in den Mittelpunkt stellt. Dementsprechend liegt dem kanonischen Vereinigungsrecht eine „moderne, von spezifischen Erscheinungsformen losgelöste Erfassung konsoziativen Tätigkeitwerdens von Christgläubigen“1 zu Grunde. Aus staatli1

Helmut Schnizer, Das Vereinsrecht, seine Canones und die kanonische Praxis, in: AfkKR 156 (1987), S. 385 ff., hier S. 387.

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cher Sicht liegt in solchen Konfliktfällen in der Regel ein mehrdimensionales Beziehungsgefüge vor, wobei es darum geht, die gegenläufigen Rechtspositionen im Sinne einer möglichst weit gehenden Effektuierung der relevanten Grundrechte zu einem Ausgleich zu bringen. II. Kirchenrechtlicher Rahmen In unserem Kontext stellt der Codex 1983 insofern eine bedeutsame Zäsur dar, als er ein neu geordnetes und stark ausgebautes Vereinigungsrecht enthält. Ausgehend von einer rudimentären Normierung des Vereinigungsrechts der Gläubigen im Codex 1917, waren sowohl die Grundsatzentscheidung der römischen Konzilskongregation vom 13. November 19202 als auch die einschlägigen Erklärungen des Zweiten Vatikanums3 wichtige Entwicklungsschritte. Die vereinigungsrechtlichen Regelungen im CIC 1983 sind als allgemeine Rahmenbestimmungen konzipiert, die den partikularen Gesetzgebern einen gewissen Freiraum zur Ausgestaltung bzw. Anpassung an die jeweiligen religionsrechtlichen Gegebenheiten einräumen. Obgleich solche Konkretisierungen ein probates Mittel zur Einbringung des spezifischen Propriums auf diözesaner Ebene sind, wurde von dieser Möglichkeit bislang – jedenfalls aus österreichischer Sicht – wenig Gebrauch gemacht. Als Ausnahme sind daher die Vereinsrichtlinien der Erzdiözese Wien aus dem Jahre 20014 zu bezeichnen, auf die weiter unten noch näher eingegangen wird.5 Die große praktische Bedeutung, die freiwilligen Zusammenschlüssen von Gläubigen im konkreten Lebensvollzug der Kirche zukommt, und “das Fehlen einer unzweifelhaften Terminologie“6 haben dazu beigetragen, dass das einschlägige Schrifttum unübersehbar geworden ist. Vor diesem Hintergrund sollen zunächst die wesentlichsten Aspekte des kanonischen Vereinigungsrechts kurz aufgezeigt werden.7

2

AAS 13 (1921), S. 135 ff.

3

Vgl. unten Anm. 9.

4

Wiener Diözesanblatt 2001, Nr. 37.

5

Vgl. unten II. 4.

6

Winfried Aymans, Rezension von Winfried Schulz, Der neue Codex und die kirchlichen Vereine, Paderborn 1986, in: AfkKR 155 (1986), S. 337. 7

Vollständig ausgeklammert bleiben die vielfältigen Fragen im Zusammenhang mit der Rechtsüberleitung. Siehe dazu insbesondere Helmut Schnizer, Fragen der Rechtsüberleitung der bestehenden kirchlichen Vereinigungen in das Recht des CIC, in: AfkKR 156 (1987), S. 367 ff.

Vereinigungen von Gläubigen im kirchlichen und staatlichen Recht

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1. Ekklesiologische und rechtliche Grundlagen des Vereinigungsrechts Die Vereinsfreiheit war vom Zweiten Vatikanum als christliches Grundrecht ausdrücklich anerkannt worden. In diesem Zusammenhang ist daher besonders zu betonen, dass die in den Dokumenten des Zweiten Vatikanums enthaltenen Erklärungen nicht als bloße Programmsätze zu verstehen sind, sondern ihnen vielmehr ein verbindlicher Charakter zukommt.8 Dabei ist in erster Linie auf Apostolicam Actuositatem zu verweisen, gerade aus vereinigungsrechtlicher Sicht finden sich aber auch in anderen Konzilsdokumenten relevante Aussagen.9 Diese stellen im Sinn von c. 6 § 2 CIC wichtige Auslegungsbehelfe als traditio canonica dar. Die Vereins- und Versammlungsfreiheit („consociatio“, „conventus“), wie sie in c. 215 verankert sind,10 sind Teil des Katalogs der allen Gläubigen gemeinsamen Pflichten und Rechte.11 Diese haben ihre Grundlage in der Würde der menschlichen Person und dem Sakrament der Taufe und bringen eine fundamentale Gleichheit aller Gläubigen zum Ausdruck, kraft der alle je nach ihrer Stellung am Aufbau der Kirche mitwirken (vgl. c. 208). Die „Grundrechte“ stehen in einem unmittelbaren und fundamentalen Zusammenhang mit den Persönlichkeitsrechten jedes einzelnen Christen, so dass sie auch als Christenbzw. Statusrechte12 bezeichnet werden. Die Formulierungen entstammen im Wesentlichen dem Entwurf einer „Lex Ecclesiae Fundamentalis“. Die naturrechtliche Basis der Vereins- und Versammlungsfreiheit war bereits in der oben

8

Dem entsprechend hält Schnizer, Vereinsrecht (Anm. 1), S. 396, fest: „Soweit der CIC 1983 das kanonische Vereinsrecht behandelt, derogiert er dem Konzilsdekret gemäß c. 6 § 1 n 4. ... Nicht derogiert ist dem Konzilsdekret AA für die Verbände, die ihr Organisationsrecht, ihre Verfassung, ihr Personalstatut „nicht von der Kirche nehmen“, obwohl sie satzungsgemäß kirchliche Zwecke verfolgen. Dies ist den Christgläubigen durch c. 215 oder mindestens c. 216 freigestellt.“ 9

Vgl. vor allem VatII AA Art. 18 f., 21 f., 24 f. sowie VatII CD Art. 17, VatII PO Art. 8 und VatII GS Art. 73. 10

Die Entwicklung der kanonischen Vereinigungsfreiheit war von der staatlichen Grundrechtsverbürgung mit beeinflusst. 11 Siehe dazu grundlegend Gerhard Luf, Grundrechte im CIC/1983, in: ÖAKR 35 (1985), S. 107 ff.; sowie ders., Rechtsphilosophische Grundlagen des Kirchenrechts, in: HdbKathKR2, S. 33 ff. 12 So Helmut Schnizer, Die kirchlichen Vereine und die kirchlichen Bewegungen, in: HdbKathKR2, S. 569, Anm. 23, unter Verweis auf Winfried Aymans, Vom Grundstatus aller Gläubigen. Ein Beitrag zur kirchlichen Rechtssprache, in: Winfried Aymans / KarlTheodor Geringer (Hrsg.), Festschrift für Heribert Schmitz, Bonn 1993, S. 3 ff., und Helmut Schnizer, Zum Begriff der Grundrechte, ebd., S. 78 ff.

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erwähnten Entscheidung der römischen Konzilskongregation aus 1920 anerkannt worden. Während der Schlüsselbegriff des Verfassungsrechts die „communio“ ist, wird das Vereinigungsrecht durch den Begriff der „consociatio“ geprägt.13 Durch die systematische Einordnung in das Kapitel „De populo Dei“ werden die freiwilligen Zusammenschlüsse der Gläubigen deutlich von den vorgegebenen Verfassungsstrukturen der Kirche abgehoben und wird ihre Eigengesetzlichkeit betont. Es handelt sich dabei um zwei grundsätzlich unterschiedliche Rechtsstrukturen, zwischen denen es jedoch im praktischen Vollzug kirchlichen Lebens zu Berührungspunkten bzw. zu einem Ineinandergreifen kommt. Bei der communio geht es um die Kirche selbst und ihren umfassenden göttlichen Auftrag. Der Mensch wird aufgrund göttlicher Berufung in das sakramentale Geschehen eingebunden, das durch Unwiderruflichkeit gekennzeichnet ist (character indelebilis). Demgegenüber verkörpert die consociatio im Verhältnis zur Gesamtsendung der Kirche lediglich einen Ausschnitt kirchlichen Lebensvollzuges, der von einer begrenzten Zielsetzung – wie Caritas und anderen Formen der Verwirklichung christlicher Berufung in der Welt – getragen ist. Die Basis der consociatio stellt der Vereinigungswille dar, der konstitutiv ist, jedoch keinen irreversiblen Akt impliziert. Hubert Müller14 hat zwei Thesen aufgestellt, welche die traditionelle Begründung – Präsenz der Kirche bzw. Wirken der Christen in der Welt – ekklesiologisch vertiefen: Erstens: „Die kirchlichen Vereinigungen mit den sie jeweils prägenden Zielsetzungen sind im Leben der Kirche Ausdruck jeweils gemeinsamer Gaben, gemeinsamer geistlicher Interessen, gemeinsamer Charismen, die die Mitglieder zur Förderung der eigenen christlichen Berufung und zur Förderung der Sendung der Kirche empfangen haben und einzusetzen bereit sind“. Zweitens: „Die kirchlichen Vereinigungen sind Ausdruck gemeinschaftlicher Verwirklichung christlicher Freiheit in der Kirche.“

Eine Zusammenschau dieser beiden Aspekte hat wesentlich als Orientierung bei der Handhabung und Interpretation vereinsrechtlicher Normen sowie bei den Konkretisierungen des partikularen Gesetzgebers zu dienen. Diese ekklesiologische Grundlegung macht deutlich, dass es bei Fragen des kirchlichen Ver-

13

Dies betonen vor allem Winfried Aymans, Kirchliches Verfassungsrecht und Vereinigungsrecht in der Kirche, in: ÖAKR 32 (1981), S. 89 und Hubert Müller, Das kirchliche Vereinigungsrecht im CIC/1983. Ekklesiologische Grundlagen und kirchenrechtliche Neuordnung, in: ÖAKR 36 (1986), S. 293 ff., hier S. 295. 14

Müller, Vereinigungsrecht (Anm.13), S. 296 und S. 298.

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einigungsrechts einerseits um die Beachtung des rechtlichen Freiraumes geht, wie er im Codex verankert ist, und andererseits um die Wahrung der kirchlichen Integrität.15 Entsprechend dem naturrechtlichen Hintergrund und der ekklesiologischen Begründung – in c. 323 § 2 ist ausdrücklich von Autonomie die Rede – erfordern die vereinsrechtlichen Bestimmungen eine offene, an der Vereinsfreiheit orientierte Handhabung. „Schranken“ implizierende Regelungen sind hingegen restriktiv auszulegen. Das bedeutet, dass von der Zulässigkeit kirchenhoheitlicher Maßnahmen erst dann auszugehen ist, wenn Vereinszweck oder Vereinsaktivitäten in einer Weise gegen Glauben oder Sitte verstoßen, dass das bonum commune der kirchlichen Gemeinschaft gefährdet erscheint (vgl. c. 305). Das Grundrecht ist daher stets in favorem des geschützten Rechtsgutes auszulegen. Dies verlangt eine Güterabwägung, die alle Instrumentarien einer der aequitas canonica und der salus animarum verpflichteten Rechtsordnung ausschöpft. Gleichzeitig ist jedoch zu betonen, dass religiöse Autonomie nicht Bindungslosigkeit bedeutet, sondern eine sittlich verantwortete Willensbildung in Rückbindung an den göttlichen Gesamtsendungsauftrag erfordert, was naturgemäß immanente Schranken impliziert. Was schließlich die Mitgliedschaft nicht-katholischer Christen betrifft, so findet sich im CIC 1983 keine diesbezügliche Regelung, während der CIC 1917 ein ausdrückliches Verbot enthielt. Aus dem Schweigen des Gesetzgebers – die Codex-Reformkommission hatte in verschiedenen Entwürfen diesbezüglich gewisse, nach Kategorien differenzierte Möglichkeiten vorgesehen – werden unterschiedliche Interpretationsansätze abgeleitet, je nach dem, ob diese Vorgehensweise als Wegfall gedeutet wird oder nicht. Eine über einen bloßen „Gaststatus“16 hinaus gehende Mitgliedschaft wird man, je nach dem konkreten Vereinszweck, vor allem im Zusammenhang mit ökumenisch orientierten Initiativen in Betracht ziehen können. 2. Vereinstypologie Die Vereinsfreiheit umfasst nach c. 215 CIC sowohl die Gründungs- („condere“) als auch die Leitungsfreiheit („moderari“), ohne jedoch eine Legaldefinition zu enthalten. Vor diesem Hintergrund ist die Entstehung eines Vereins als ein mehrstufiger rechtlicher Vorgang zu verstehen, wobei – wie bereits erwähnt – der Zielsetzung im Sinne von c. 298 konstitutive Bedeutung zukommt. 15 16

Eingehend ebd., S. 296 ff.

Vgl. Müller, Vereinigungsrecht (Anm. 13) unter Verweis auf im Jahre 1976 von der Deutschen Bischofskonferenz verabschiedete zehn Gesichtspunkte bezüglich nichtkatholischer Mitglieder in katholischen Verbänden, die auf einen großzügigen Gaststatus hinauslaufen.

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Die vereinsrechtliche Typologie17 stellt abstrakte Abstufungen entsprechend der Intensität der Einbindung in die hierarchischen Strukturen der Kirche dar. Demnach besteht eine von der allgemeinen Vigilanz ausgehende, sich entsprechend verdichtende Aufsicht der zuständigen kirchlichen Autorität. Diese kann gegebenenfalls Ausstrahlungswirkungen in die staatliche Rechtsordnung hinein entfalten. Die Interpretation mancher vereinsrechtlicher Canones – gerade auch der in unserem Kontext relevanten – bringt besondere Herausforderungen mit sich. Dies hängt neben terminologischen Unklarheiten und der oben angesprochenen Genese dieses Rechtsbereiches wohl auch damit zusammen, dass mit dem CIC 1983 die Kategorien „öffentlich“ und „privat“ für juristische Personen ebenso wie für kirchliche Vereine neu eingeführt wurden. Ein entscheidendes Kriterium wird dabei in dem Umstand liegen, welche Gewichtung man jeweils der besonderen Zielsetzung einerseits und der – auf unterschiedliche Art und Weise erfolgenden – Mitwirkung durch die kirchliche Autorität andererseits zuspricht. Je nach der Art ihrer Entstehung unterscheidet der CIC 1983 öffentliche und private kirchliche Vereine. a) Öffentliche kirchliche Vereine Öffentliche kirchliche Vereine werden von der zuständigen kirchlichen Autorität mittels eines förmlichen Dekrets errichtet. Im Fall einer entsprechenden Gründungsinitiative von Gläubigen bedürfen die Statuten der Genehmigung; das entscheidende Kriterium liegt im kirchenhoheitlichen Akt („approbatio“). Es entstehen öffentliche Rechtspersonen in der Kirche, die im Namen der Kirche tätig werden. Ausschließlich der zuständigen kirchlichen Autorität kommt die Errichtung von Vereinen von Gläubigen zu, die sich der Vermittlung der kirchlichen Lehre im Namen der Kirche oder der Förderung des amtlichen Gottesdienstes widmen oder die sich anderen Zielen zuwenden sollen, deren Verfolgung ihrer Natur nach der kirchlichen Autorität vorbehalten wird (c. 301 § 1 CIC).18

17

Näheres dazu siehe insbesondere Schnizer, Kirchliche Vereine (Anm. 12), S. 563 ff.; Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 471 ff.; Winfried Schulz, Vereinigungen von Christgläubigen, cc. 298 ff., in: MK CIC sowie Müller, Vereinigungsrecht (Anm. 13), S. 300 ff. 18

Näheres dazu siehe unten IV. 3. b).

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b) Private kirchliche Vereine Private kirchliche Vereine entstehen bei Vorliegen entsprechender Zweckbindung aufgrund eines kollegialen Akts der Gläubigen, wobei man solche mit und ohne Rechtspersönlichkeit unterscheidet. Der private kirchliche Verein ist an sich (zunächst) nicht rechtsfähig, es kommt ihm jedoch – wie es Helmut Schnizer formuliert hat – „Quasi-Rechtspersönlichkeit“19 zu. Um von der Kirche anerkannt zu werden, bedarf es einer nach Überprüfung der Statuten durch die zuständige kirchliche Autorität erteilten Unbedenklichkeitsbescheinigung im Sinn eines „nihil obstat“ gemäß c. 299 § 3 CIC („recognitio“).20 Rechtspersönlichkeit erwerben private kirchliche Vereine durch ein förmliches Dekret der zuständigen Autorität, was eine Billigung der Statuten voraussetzt („probatio“). Erfolgt eine kirchliche Belobigung („laudatio“) bzw. Empfehlung („commendatio“) oder wird das Recht zur Führung der Bezeichnung „katholisch“ verliehen, ist damit jeweils eine Intensivierung der rechtlichen Beziehung zur kirchlichen Autorität mit einer entsprechenden Erweiterung von Aufsichtsrechten bzw. Aufsichtspflichten verbunden.21 c) Freie Zusammenschlüsse von Gläubigen Das bereits angesprochene „Fehlen einer unzweifelhaften Terminologie“22 wird gerade im Zusammenhang mit der in unserem Kontext relevanten Frage der Zuordnung freier Zusammenschlüsse von Gläubigen deutlich.

19 Schnizer, Kirchliche Vereine (Anm. 12), S. 566 f., spricht von „Quasi-Rechtspersönlichkeit“ bzw. „kleiner Rechtsfähigkeit“ im Hinblick darauf, dass die Rechtsordnung in mancher Hinsicht nicht-rechtsfähige Vereine wie eine Rechtspersönlichkeit behandelt. 20

Ergibt die Überprüfung keine Beanstandung, besteht ein Rechtsanspruch auf Anerkennung; so Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 485 unter Berufung auf Girogio Feliciani, Il diritto de associazione, in: Winfried Aymans / Karl-Theodor Geringer / Heribert Schmitz (Hrsg.), Das konsoziative Element in der Kirche, Akten des VI. Internationalen Kongresses für kanonisches Recht, St. Ottilien 1989, S. 406 ff. 21

Auch wenn nicht um eine recognitio ersucht und damit auf eine Einbindung als Institution der Kirche verzichtet wird, kann es zu einer Belobigung oder Empfehlung kommen: consociatio laudata oder commendata. Schnizer, Vereinsrecht (Anm.1), S. 388 f., spricht von einer „distanzierten Akzeptanz“. Vgl auch unten Anm. 28. 22

Vgl. oben Anm. 6.

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Auszugehen ist davon, dass sich das freie Assoziationsrecht der Gläubigen nicht nur auf die im Codex „typisierten Kategorien“23 bezieht, das Grundrecht demnach nicht nur ohne Inanspruchnahme des Angebots einer probatio, sondern auch ohne Statutenüberprüfung – und damit ohne Anerkennung im Sinn einer recognitio gemäß c. 299 § 3 – ausgeübt werden kann.24 Dies entspricht auch dem auf den relevanten Erklärungen des II. Vatikanums beruhenden zentralen „Leitsatz“ der CIC-Reformkommission „Ius enim associationis est ... ius naturale, nullum requirens actum ex parte auctoritatis“25. Wenngleich diesbezüglich weit gehender Konsens besteht, so werden daraus allerdings unterschiedliche Konsequenzen gezogen. Dies insbesondere dahingehend, ob aufgrund des freien Assoziationsrechts der Gläubigen gebildete Vereinigungen als kanonisch existent zu betrachten sind. Mit anderen Worten, ob Zusammenschlüssen von Gläubigen, die keiner recognitio gemäß c. 299 § 3 unterzogen worden sind, die Qualifikation als private kirchliche Vereine ohne Rechtspersönlichkeit zukommt. Winfried Schulz bejaht dies, was zwangsläufig die kanonische Vereinskategorie des „privaten nichtrechtsfähigen Vereins ohne kirchliche Statutenüberprüfung“26 impliziert. Dagegen wendet Winfried Aymans ein, dass eine Interpretation, welche die kanonische Konstituierung eines Vereins ausschließlich vom Vereinigungswillen der Gläubigen und nicht auch von irgendeiner Mitwirkung der kirchlichen Autorität abhängig mache, letztlich keine „weitherzige“, „frei23

So insbesondere Schnizer, Vereinsrecht (Anm. 1), S. 429; Winfried Schulz, Der neue Codex und die kirchlichen Vereine, Paderborn 1986, S. 39; Aymans, Rezension (Anm. 6), S. 341; Müller, Vereinigungsrecht (Anm.13), S. 302 f. sowie Richard Potz, Kommentar zum Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 11. 12. 2001, B 1510/00 (VfSlg. 16.395/2001), in: öarr 49 (2002), S. 323 ff., hier S. 331. 24 Zur Annahme einer Rechtspersönlichkeit für Verbände „ohne irgendeine Form behördlicher, sei es auch nur registrierender Mitwirkung“ vgl. die naturrechtliche Kodifikationswelle. Mit Blick auf das ABGB ist zu bemerken, dass von der im Wesentlichen durch Unger eingeführten Dogmatik der deutschen Pandektistik – im Gegensatz zur zunächst bestimmenden exegetisch-naturrechtlichen Schule – die Vorstellung der Entstehung einer juristischen Person auf der Grundlage privater Willensbildung abgelehnt wurde. Dementsprechend wurde ein konstitutiver genereller oder individueller staatlicher Normsetzungsakt gefordert. Vgl. Helmut Schnizer, Fragen der Rechtspersönlichkeit im österreichischen Staatskirchenrecht, in: Richard Bartlsperger / Dirk Ehlers / Werner Hofmann / Dieter Pirson (Hrsg.), Rechtsstaat – Kirche – Sinnverantwortung, Festschrift für Klaus Obermayer (70), München 1986, S. 250. Ein Abrücken von dieser Einstellung wird in der neueren Lehre deutlich, so etwa bei Josef Aicher, § 26 Rz 10, in: Peter Rummel (Hrsg.), Kommentar zum ABGB Bd. I, 21991. 25

Communicationes 1983, 82 f.

26

Schulz, Der neue Codex (Anm. 23), S. 50 f.

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heitsfördernde“ Lösung sei. Sie bewirke nämlich, dass alle Vereinigungen von Gläubigen mit kirchlicher Zielsetzung in die Formen des kanonischen Rechts geleitet und damit den Erfordernissen dieses Rechts unterworfen würden. Es könne jedoch vielmehr auch derjenige dem Auftrag des Konzils gerecht werden, „wer die kirchliche Bedeutung staatlich-rechtlicher Vereinigungen mit kirchlicher Zielsetzung recht würdigt“27. Diesem Ansatz folgend,28 ist daher von der Möglichkeit der Bildung freier Zusammenschlüsse von Gläubigen ohne Zuordnung zu den vom kanonischen Recht vorgegebenen Vereinskategorien auszugehen. Dies ist dann der Fall, wenn die Mitglieder des Vereins die Verfolgung religiöser bzw. kirchlicher Zwecke unter ausschließlicher Inanspruchnahme der vom staatlichen Recht zur Verfügung gestellten Formen anstreben. In diesen Fällen kommen nicht die Vorschriften des kirchlichen Vereinsrechts zur Anwendung, die Aufsicht der kirchlichen Autorität besteht in jenem Maß, wie sie gegenüber jedem Gläubigen gegeben ist. Solche Initiativen können gegebenenfalls als apostolische Unternehmungen im Sinne von c. 216 CIC eingestuft werden. Insgesamt betrachtet, sind solche freie Zusammenschlüsse der Gläubigen durchaus auch unter dem Aspekt einer „Verchristlichung der Welt“29 zu sehen und dementsprechend zu bewerten. Derartige Aktivitäten sind „Erfüllung der Christenpflicht zum Apostolat und zugleich Ausübung des Christenrechtes, autonom seinen Neigungen, Anlagen und Möglichkeiten gemäß Apostolat zu üben“30.

27

Aymans, Rezension (Anm. 6), S. 341: „Ein solcher ungeprüfter Verein müßte als Rechtsfigur des kanonischen Rechts alle Vorgaben des Codex über die privaten Vereine erfüllen, ohne daß es ihm etwas einbrächte. Außerdem kann man kein klares Kriterium nennen, wann eine gemeinsame Unternehmung von Gläubigen notwendigerweise diese Rechtsform annehmen müßte. Hier wäre die Freiheit wiederum eher bedroht als gefördert. Außerdem muß man sich fragen, wie denn die kirchliche Autorität ihrer Aufsichtspflicht (c. 305), die ja nicht erst nach auffälligem Verhalten eintritt, nachkommen soll, wenn ihr die kirchenrechtliche Existenz eines solchen Vereins nicht bekannt ist und sein kann.“ 28 Vgl. auch Schnizer, Vereinsrecht (Anm. 1), S. 386 ff., der bei einem „kirchlichen Verein ohne kanonische Satzung“ vom Vorliegen einer Konventionalordnung spricht (consociatio recepta). Ein „kanonischer Gesamtstatus in der Kirche“ ist jedoch erst dann gegeben, „wenn der zwar nicht gestaltende, aber doch kontrollierende obrigkeitliche Akt der recognitio statutorum hinzutritt“ (ebd., S. 392). Vgl. oben Anm. 21. 29

Schnizer, Veriensrecht (Anm. 1), S. 397.

30

Ebd., S. 389.

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3. Recht zur Namensführung „katholisch“ Der Erstinhaber oder Hauptträger des Namens „katholisch“ ist die katholische Kirche, es gibt jedoch eine große Zahl weiterer Berechtigter zur Namensführung. Einen wichtigen Aspekt bei der Verleihung dieses Rechts stellt die Außenwirkung auf einen durchschnittlichen Beobachter dar, der auf Grund des Namens auf ein Naheverhältnis zur Kirche bzw. eine Einordnung in ihre Ziele oder sogar auf eine Identifizierung schließt. Mit dieser vertrauensbegründenden Funktion der Namensführung korreliert eine kirchenhoheitliche Kontrolle. Dementsprechend ist in c. 300 CIC festgelegt, dass sich kein Verein ohne die Zustimmung der gemäß c. 312 CIC zuständigen kirchlichen Autorität die Bezeichnung „katholisch“ beilegen darf. Grundsätzlich hat die Bewertung je nach der Förderung des bonum commune bzw. einzelner pastoraler Ziele zu erfolgen. Dabei werden die staatlichen Rechtsnormen, die Verkehrsübung sowie andere relevante Aspekte wie kulturelle und soziale Gegebenheiten mit zu berücksichtigen sein. Die Verweigerung der Namensführung „katholisch“ bzw. deren Widerruf müssen nicht notwendiger Weise eine Missbilligung implizieren. Gerade in einer pluralistischen, multikulturellen und multikonfessionellen Gesellschaft kann unter Umständen eine neutrale Bezeichnung einer pastoralen Zielsetzung förderlicher sein.31 4. Zu den Vereinsrichtlinien der Erzdiözese Wien Die im Jahre 2001 ergangenen Vereinsrichtlinien der Erzdiözese Wien stellen partikularrechtliche Konkretisierungen der universalrechtlichen Vorgaben dar. Sowohl ihr Inhalt als auch der Zeitpunkt der Promulgation legen die Vermutung nahe, dass es sich dabei um eine Anlassgesetzgebung32 im Hinblick auf

31

Vgl. Schnizer, Vereinsrecht (Anm. 1), S. 395: „Sehr häufig können die Christen ihren Mitmenschen nur mit „unkanonischen“ Formen die kirchliche Gemeinschaft veranschaulichen. Mindestens die Nächstenliebe verlangt, einer Umwelt, die die institutionellen Erscheinungsformen der Kirche nicht mehr kennt und schon aus Gründen der mangelnden Bildung nicht mehr verstehen kann, mit den in der profanen Ordnung vorhandenen Formen entgegenzutreten und sie mit christlichem Geist zu erfüllen.“ 32

In diesem Zusammenhang sei betont, dass Maßnahmegesetzgebung nicht schlechthin negativ zu bewerten ist. Maßnahmegesetze können eine durchaus rationale Antwort auf die Situation des Rechts in der Gesellschaft darstellen angesichts des Umstandes, dass sich die zeitliche Dimension des regulativen Rechts immer mehr beschleunigt. Vgl. Herbert Kalb / Richard Potz / Brigitte Schinkele, Das Bundesgesetz über die Einrichtung einer Dokumentations- und Informationsstelle für Sektenfragen (EDISG), in: öarr 46 (1999), S. 354 ff., hier S. 363.

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aktuelle, in der Praxis aufgebrochene Probleme handelt. Der unter Punkt IV. zu erörternde Fall mag dafür den letzten Anstoß gegeben haben.33 Zunächst wird in der Präambel betont, dass die Richtlinien „die Festlegung von standardisierten Vorgehensweisen“ bezwecken, um „materielle oder immaterielle Nachteile für die Erzdiözese Wien zu vermeiden“. Die Richtlinien beinhalten eine fünf Kategorien umfassende „Typologie der Rechtsbeziehungen“34 sowie die Einrichtung einer „Dokumentation über Vereine“ im Sinn dieser Typologie. Weiters wird für die Gründung von und die Beteiligung an Vereinen im Sinn der erwähnten Typologie eine Anzeigepflicht in Bezug auf Funktionsträger und Mitarbeiter der Erzdiözese Wien normiert. Darüber hinausgehend ordnet die Richtlinie hinsichtlich von vier der fünf Vereinskategorien an,35 dass diese nur nach Vorlage der Statuten und schriftlicher Genehmigung des Erzbischöflichen Ordinariates von Funktionsträgern oder Mitarbeitern der Erzdiözese Wien gegründet werden dürfen. Hinsichtlich der verpflichtenden Vorlage der Statuten und Einholung einer Genehmigung zu Vereinsgründungen scheint es sich allerdings um eine überschießende Reaktion auf gewisse Unzukömmlichkeiten in der Praxis zu handeln. Das Grundrecht auf Vereinsfreiheit wird in c. 215 CIC allen Gläubigen – Klerikern36 ebenso wie Laien – gewährleistet. Die nunmehr durch den partikularen Gesetzgeber verfügten Beschränkungen laufen auf eine Aushöhlung der auf universalrechtlicher Ebene eingeräumten Vereinsfreiheit hinaus. Die Grün-

33

In dem weiter unten zu besprechenden Fall (IV. 2.) war der maßgebliche Bescheid des BMI, gegen den sich die Beschwerde an den VfGH richtete, am 30. Juni 2000 ergangen. Die Vereinsrichtlinien der Erzdiözese Wien wurden am 29. März 2001 mit Wirksamkeit von 1. April desselben Jahres in Kraft gesetzt. 34 1.1. Vereine, die nach staatlichem Vereinsgesetz errichtet sind, denen aber auch Rechtspersönlichkeit nach Kirchenrecht zuerkannt wurde; 1.2. Vereine, an denen die ED Wien oder ihre Einrichtungen beteiligt sind; 1.3. Vereine, an denen Funktionsträger der ED Wien (Inhaber eines geistlichen Amtes, Amtsleiter, Dienststellenleiter oder von diesen Personen beauftragte und entsendete Personen) aufgrund dieser Funktion als Mitglieder oder Vereinsfunktionäre beteiligt sind; 1.4. Vereine, die ausschließlich oder hauptsächlich Zwecke unterstützen, die auch Inhalt der Tätigkeit einer Einrichtung der ED Wien sind; zu 1.5. siehe folgende Anm. 35

Ausgenommen von diesen Vorschriften sind Vereine, die lediglich teilweise Zwecke gemäß 1.4 unterstützen, aufgrund ihrer Namensgebung, ihrer geschichtlichen Herkunft oder sonstiger Umstände bei den beteiligten Verkehrskreisen oder in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, dass ihre Tätigkeit im unmittelbaren Zusammenwirken mit oder im Auftrag von Einrichtungen der ED Wien erfolgt (1.5). 36

Die Beteiligung von Klerikern macht einen Verein noch nicht zu einem klerikalen (vgl. cc. 298 und 302 CIC).

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dung eines Vereins in Verbindung mit einer Statutengenehmigung durch die zuständige kirchliche Autorität stellt lediglich eine Kategorie im Rahmen der vom CIC vorgesehenen Typologie dar. Diese Variante für Mitarbeiter und Funktionsträger der Erzdiözese zwingend vorzuschreiben impliziert zwangsläufig eine Untersagung jener Zusammenschlüsse von Gläubigen, die eine weniger enge Verbindung zur kirchlichen Autorität aufweisen oder lediglich von der gegenüber jedem Gläubigen gegebenen Vigilanz erfasst sind. Ersteres ist bei Vereinsgründungen mit bloßer „recognitio“ im Sinn von c. 299 § 3 CIC der Fall, letzteres bei Vereinsgründungen ausschließlich nach staatlichem Recht, ohne Zuordnung zu einer der kanonischen Vereinskategorien. Dieser Befund ergibt sich bereits auf Grund des klaren Wortlautes der einschlägigen Canones, ohne dass es einer im Hinblick auf den Grundsatz der Vereinsautonomie gebotenen Interpretation in favorem des geschützten Rechtsgutes bedürfte. Eine Verschärfung erfährt diese Anordnung dadurch, dass ein Verstoß durch Mitarbeiter als „wesentliche Dienstverfehlung“ eingestuft wird. Diese Regelung stellt daher nicht nur aus innerkirchlicher Sicht eine Einschränkung der durch den Codex 1983 verbürgten Wahl zwischen unterschiedlichen Formen von Zusammenschlüssen von Gläubigen dar, sie kann gegebenenfalls auch äußerst komplexe religionsrechtliche Probleme aufwerfen. So etwa für den Fall, dass es aufgrund einer derartigen „Dienstverfehlung“ zu einer Kündigung eines Mitarbeiters kommt, die vor den staatlichen Arbeitsgerichten angefochten würde. Die daraus entstehenden diffizilen Fragestellungen können im Rahmen dieses Beitrages allerdings nicht weiter verfolgt werden. III. Religionsrechtlicher Rahmen 1. Grundrechtliche Gewährleistungen Aus staatlicher Sicht stehen bei freiwilligen Zusammenschlüssen von Gläubigen das Grundrecht der Vereinsfreiheit (Art. 11 EMRK, Art. 12 StGG) und das Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK, Art. 14 StGG, Art. 63 Abs. 2 StVStGermain)37 jener Personen im Zentrum, die als Proponenten des zu gründenden Vereins auftreten. Dabei ist zu betonen, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit auch das Recht religiöser Vereinigungsfreiheit mit umfasst. Es kommt also zu einer Überlagerung bzw. Überschneidung grundrechtlicher Schutzbereiche, wobei im Sinn „aggregierter Grundrechtsnormen“ von einer

37

Vgl. weiters die Verfassungsbestimmung in Z. 3 Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung 1918: „... Die volle Vereins- und Versammlungsfreiheit ohne Unterschied des Geschlechts ist hergestellt“.

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teleologischen Zusammenschau der jeweils relevanten grundrechtlichen Gewährleistungen auszugehen ist. Die Einzelgewährleistungen fließen in das umfassend gewährleistete Grundrecht ein, wofür auch die unterschiedlichen Schrankenregelungen kein Hindernis darstellen.38 Gläubige haben als Staatsbürger und Grundrechtsträger das Recht, zur Verfolgung religiöser bzw. kirchlicher Zielsetzungen sich nach staatlichem Recht zu Vereinen zusammenzuschließen oder sich anderer Rechtsformen zu bedienen. Dabei ist der Art. 11 EMRK von besonderer Bedeutung, der die Vereinsfreiheit als Menschenrecht garantiert. Diese ist im Licht der in Art. 9 EMRK gewährleisteten Religionsfreiheit zu interpretieren. Gemäß des jeweiligen Abs. 2 der genannten Grundrechtsbestimmungen sind staatliche Eingriffe nur gerechtfertigt, wenn sie Deckung in den geschützten, taxativ aufgezählten Rechtsgütern finden und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechen. Nach ständiger Rechtsprechung des VfGH stellt jede Verletzung des Vereinsgesetzes, die in die Vereinsfreiheit eingreift, eine unmittelbare Verletzung des Grundrechts dar. Gleichzeitig ist in unserem Kontext auch die korporative Religionsfreiheit der betroffenen Religionsgemeinschaft zu relevieren, da die in Rede stehenden Vereine Zwecke anstreben, die auch das Selbstbestimmungsrecht der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaft berühren. Dieses hat insbesondere in der Garantie der selbständigen Ordnung und Verwaltung der inneren Angelegenheiten gemäß Art. 15 StGG seinen Niederschlag gefunden. Ausgangspunkt ist zunächst das Selbstverständnis des jeweiligen Grundrechtsträgers, an das der religiös-weltanschaulich neutrale Staat anzuknüpfen hat. Was unter „inneren Angelegenheiten“ zu verstehen ist, ist dementsprechend nur unter Bedachtnahme auf das Wesen der betreffenden Religionsgemeinschaft entsprechend dem Prinzip der materiellen Parität nach deren Selbstverständnis erfassbar. Lehre und Judikatur stellen zumeist darauf ab, dass innere Angelegenheiten einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft jene sind, die „den inneren Kern der kirchlichen Betätigung betreffen und in denen ohne Autonomie die Religionsgesellschaften in der Verkündigung der von ihnen gelehrten Heilswahrheiten und der praktischen Ausübung ihrer Glaubenssätze eingeschränkt wären“39. Der Verfassungsgerichtshof hat unter Hinweis auf die staatskirchenrechtliche Literatur mehrfach ausgeführt, dass der „Bereich der ‚inneren Angelegenheiten‘ i.S.d. Art.15 StGG ... nur unter Be38

Der Begriff „aggregierte Grundrechtsnorm“ wurde von Walter Berka geprägt. Näheres siehe Herbert Kalb / Richard Potz / Brigitte Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, S. 43 ff. 39

So das Urteil des OGH SZ 47/135/1974 mit ausführlichen Literaturhinweisen, auf das in Schrifttum und Rechtsprechung häufig rekurriert wird.

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dachtnahme auf das ‚Wesen der Religionsgesellschaften nach deren Selbstverständnis erfassbar‘“ ist.40 Der Gesetzgebung und der Vollziehung ist jeder Eingriff in den inneren Bereich von Religionsgemeinschaften untersagt.41 Dieses religionsgemeinschaftliche Selbstverständnis ist jedoch nicht alleiniger Grundrechtstopos, vielmehr bringt der Staat sein Selbstverständnis über die entsprechenden Schrankenregelungen ein. Es ist daher in einem zweiten Schritt eine Relation zur Schrankenregelung des Art. 15 StGG herzustellen, wonach die Kirchen und Religionsgesellschaften wie alle Gesellschaften den „allgemeinen Staatsgesetzen“ unterworfen sind. Es handelt sich dabei um eine Schrankenregelung sui generis, die – anders als die Gesetzesvorbehalte in den anderen Artikeln des StGG – im Sinne eines materiellen Gesetzesvorbehaltes zu verstehen ist und damit eine Rechtsgüterabwägung impliziert. Diese erfordert eine sachgemäße Zuordnung zwischen dem den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht und den anderen geschützten Rechtsgütern. Kommt es zu einem Übergreifen in die staatliche Rechtsordnung, so können in erster Linie verfassungsrechtliche Gewährleistungen, darüber hinaus aber auch einfachgesetzliche Bestimmungen potentielle Schranken darstellen. Diese können in einem konkreten Fall aktualisiert werden, wenn das betroffene Rechtsgut im Verhältnis zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht höher- oder gleichrangig ist. Auf diese Weise wird ein Gesetz als „allgemeines Staatsgesetz“ im Sinn von Art. 15 StGG klassifiziert. Selbstverständlich fließen in diesen Abwägungsprozess auch Wertungen ein, die dem einfachen Gesetzgeber bzw. in geringerem Maß auch dem Vollzugsorgan einen gewissen (rechtspolitischen) Spielraum einräumen. Ohne Zweifel stellt das Vereinsgesetz als (einfachgesetzliche) Konkretisierung der Vereinsfreiheit in diesem Sinn ein allgemeines Staatsgesetz dar, das gegebenenfalls im Licht der Wertentscheidung des Art. 15 StGG zu interpretieren ist. 2. Staatliche Vereine mit religiösem Teilzweck Einerseits steht den Religionsgemeinschaften – unabhängig von ihrer rechtlichen Stellung42 – das Vereinsrecht zur Verfolgung sektoraler religiöser Zwe-

40

Vgl. insbesondere VfSlg. 3.657/1959; 11.574/1987.

41

Vgl. z. B. VfSlg. 2944/1955, VfSlg. 11.300/1987.

42

Zu den drei Kategorien von Religionsgemeinschaften – gesetzlich anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften, staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaften und nach dem Vereinsgesetz konstituierte Religionsgemeinschaften – siehe Kalb / Potz / Schinkele, Religionsrecht (Anm. 38), S. 95 ff., S. 116 ff., S. 127 ff.

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cke43 zur Verfügung. Andererseits können auch deren Mitglieder Vereine mit religiöser bzw. kirchlicher Zielsetzung gründen, wovon vor allen im sozialcaritativen Bereich bzw. im Zusammenhang mit anderen Aktivitäten im Rahmen des Laienapostolats Gebrauch gemacht wird.44 Anders als das Vorgängergesetz enthält das Vereinsgesetz 200245 eine Definition des Vereins. Gemäß § 1 Abs. 1 ist ein Verein im Sinn dieses Gesetzes „ein freiwilliger, auf Dauer angelegter, auf Grund von Statuten organisierter Zusammenschluss mindestens zweier Personen“. Die Bezeichnung der Vereine muss einen Schluss auf den Vereinszweck zulassen und darf nicht irreführend sein. Verwechslungen mit anderen bestehenden Vereinen, Einrichtungen oder Rechtsformen müssen ausgeschlossen sein.46 So kann etwa der Name eines Vereins insoweit irreführend sein, als der Eindruck erweckt werden könnte, es handle sich um eine Einrichtung der betroffenen Kirche oder eines von ihr anerkannten Vereins. Dies ist allerdings dann nicht der Fall, wenn aus dem Vereinsnamen deutlich wird, dass es sich um einen Verein von Angehörigen der Kirche handelt. Der im Vereinsnamen enthaltene Hinweis auf die Mitgliedschaft bei dieser macht einen Verein noch nicht zu einem kirchlichen Verein. Es ist daher deutlich etwa zwischen einem „Katholischen Verein“ und einem „Verein von Katholiken“ zu unterscheiden.47 43

Ob ein angemeldeter Verein Religionsgemeinschaft ist, muss anhand seiner satzungsgemäßen Ziele geprüft werden. Dienen diese nur sektoralen religiösen Anliegen, ist die Frage zu verneinen. Sind sie jedoch darauf gerichtet, das ganze Leben der Mitglieder umfassend (religiös) zu beeinflussen und zu gestalten, handelt es sich um Religionsgemeinschaften (VfSlg. 1265/1929). 44

So ist beispielsweise die Caritas der Erzdiözese Wien als staatlicher Verein konstituiert, während andere Caritasorganisationen öffentlich-rechtlichen Status (z. B. Eisenstadt, Linz) oder keine Rechtspersönlichkeit nach staatlichem Recht (Innsbruck) haben. 45

BGBl. I 2002/66.

46

Vgl. § 4 Abs. 1 Vereinsgesetz 2002 sowie § 43 ABGB. In Bezug auf Vereine, denen gemäß c. 300 CIC das Recht verliehen wurde, in ihrem Namen die Bezeichnung „katholisch“ zu führen, besteht ein Namensschutz. Zu einer Verwechslungsgefahr im Hinblick auf die Bezeichnung „Sozial-kulturelle griechische Gemeinde Wien“ vgl. VfSlg. 11.199/1986, in: ÖAKR 38 (1989), S. 396 ff. Zum Namensschutz der Katholischen Kirche im Zusammenhang mit einem Verein, in dem sich Anhänger von Erzbischof Lefebvre zusammengeschlossen haben, vgl. BGH 24. 11. 19903 – XII ZR 51/92, in: NJW 1994, S. 2346 ff. sowie BVerfG 31. 3. 1994 – 1 BvR 29/94, in: NJW 1994, S. 245 ff. Das Urteil des BGH 2. 12. 2004, I ZR 92/02, betraf den Namensschutz der Katholischen Kirche im Zusammenhang mit der Bezeichnung für ein Verlagsprogramm „pro fide catholica“, in: AfkKR 173 (2004), S. 600 ff. 47 Vgl. z. B. das Urteil des LG Düsseldorf vom 16. 1. 1990, 4 O 149/89 (KirchE 28, 3) betreffend einen vor Inkrafttreten des CIC 1983 nach staatlichem Recht konstituierten

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Dabei handelt es sich durchaus um eine im allgemeinen Rechtsverkehr „zumutbare“ Differenzierung, dies umso mehr, wenn es sich um rechtskundige Vertragspartner handelt, wie das etwa bei Banken und Kreditinstituten der Fall ist. Für die Beurteilung, ob Versagungsgründe vorliegen, sind nach ständiger Rechtsprechung des VfGH allein die der Verwaltungsbehörde vorgelegten Statuten heranzuziehen. Diese sind im Zweifel gesetzes- und verfassungskonform im Sinn der Vereinsfreiheit auszulegen.48 IV. Zusammenwirken von kirchlicher und staatlicher Rechtsordnung Bei den für das oben angesprochene Spannungsverhältnis charakteristischen Fallkonstellationen kommt es typischer Weise zu Berührungspunkten bzw. Überschneidungen zwischen staatlicher und kirchlicher Rechtsordnung.49 Dabei brechen aus staatlicher Sicht insbesondere Fragen nach der Zuordnung von

Vereins. Laut § 2 der Statuten war Vereinszweck die sofortige Hilfe für in Not geratene und bedürftige Menschen. Vor seiner Gründung hatten die Proponenten des Vereins beim zuständigen Diözesanbischof um die Erlaubnis zum Gebrauch des Namensbestandteils „Katholische“ angesucht, was von diesem auch gestattet wurde. Im Jahre 1989 brachte die Diözese eine Unterlassungsklage gegen den Verein mit der Begründung ein, dass dieser aufgrund des Namensbestandteils „Katholische“ den Eindruck erwecke, er werde von der katholischen Kirche getragen bzw. unterliege zumindest kirchlicher Aufsicht. Dies sei jedoch nicht der Fall, weshalb die klagende Diözese das Namensrecht der katholischen Kirche wahrnehme. Eine etwa früher ausgesprochene Zustimmung zur Namensführung könne jederzeit widerrufen werden. Der beklagte Verein berief sich auf die seinerzeit vom verstorbenen Diözesanbischof erteilte Zustimmung zur Namensführung, was auch seitens der Diözese nicht bestritten wurde. Die Vertreter des Vereins betonten, dass sie sich sowohl im Rahmen seines satzungsmäßigen Zwecks als auch im Einklang mit der katholischen Glaubens- und Sittenlehre betätigten. Dies wurde auch von der klagenden Diözese nicht bestritten. Im Zuge des Verfahrens ergaben sich Anhaltspunkte dafür, dass sich der Diözesane Caritasverband durch eine konkurrierende karitative Tätigkeit des beklagten Vereins gestört gefühlt hätte. Dies konnte jedoch nicht substantiiert werden, insbesondere konnten keinerlei diesbezügliche Unzukömmlichkeiten erhoben werden. In erster Instanz wurde die Klage abgewiesen, im Berufungsverfahren kam es zum Abschluss eines Vergleichs. Vgl. zu diesem Fragenkomplex auch BVerfG 23. 3. 1994, 1 BvL 8/85, in: NJW 1994, S. 2346, und BGH 24. 11. 1993, XII ZR 51/29, in: NJW 1994, S. 245. 48 49

Vgl. z. B. VfSlg. 8387/1978, 9464/1982.

Vgl. Kalb / Potz / Schinkele, Religionsrecht (Anm. 38), S. 65 ff., S. 77 ff.; Brigitte Schinkele, Das Arbeitsrecht in der Kirche. Der verfassungsrechtliche und staatskirchenrechtliche Rahmen, in: Ulrich Runggaldier / Brigitte Schinkele (Hrsg.), Arbeitsrecht und Kirche, Wien / New York 1996, insbesondere S. 5 ff., S. 33 ff.

Vereinigungen von Gläubigen im kirchlichen und staatlichen Recht

1047

Zusammenschlüssen von Gläubigen zu den vorgegebenen Kategorien des kanonischen Vereinsrechts sowie nach Gehalt und Verständnis der kanonischen Vereinsfreiheit auf. Vor diesem Hintergrund gilt es, das Eingebundensein solcher Zusammenschlüsse in die kirchenhoheitlichen Strukturen zu untersuchen und Fragen nach einem allfälligen Hineinwirken kirchenrechtlicher Vorgaben und Implikationen in den staatlichen Rechtsbereich nachzugehen. 1. Vereinigungen von Gläubigen und staatliches Vereinsrecht Ausgehend vom kanonischen Vereinigungsrecht können sich in Kombination mit dem staatlichen Vereinsrecht folgende Konstellationen ergeben:50 1.

Vereine, die ausschließlich nach kirchlichem Recht gegründet werden, sei es mit oder ohne kirchliche Rechtspersönlichkeit;

2.

Vereine, die nach kirchlichem Recht gegründet werden, und sich darüber hinaus als privatrechtliche Vereine gemäß dem Vereinsgesetz konstituieren (so genannte „Doppelvereine“);

3.

Vereine, die ausschließlich nach staatlichem Vereinsrecht errichtet sind. Diese können gegebenenfalls apostolische Unternehmungen im Sinn von c. 216 CIC darstellen.

Schließlich sei auch noch kurz auf das Konkordatsrecht51 und die grundsätzliche Möglichkeit der Existenz kirchlicher Vereine mit öffentlich-rechtlicher Stellung52 hingewiesen. Bei diesen handelt es sich stets um Vereine, die entweder von der kirchlichen Autorität errichtet oder doch genehmigt worden sind, so dass in diesen Fällen stets eine entsprechende Einbindung in die kirchenhoheitlichen Strukturen gegeben ist.53 Obwohl das Konkordat kirchliche Vereine

50

Siehe dazu Potz, Kommentar (Anm. 23), S. 329.

51

Ebd., S. 329 f.

52

Diese Möglichkeit besteht nur für die Katholische Kirche und die Evangelische Kirche, was aus paritätsrechtlichen Gründen nicht unbedenklich ist. Vgl. dazu Herbert Kalb / Richard Potz / Brigitte Schinkele, Religions- und Weltanschauungsfreiheit im aktuellen Verfassungsdiskurs, in: öarr 52 (2005), S. 1 ff, hier S. 6, S. 12. 53 Gerade diese Einbindung in die hierarchischen Strukturen strebten die Proponenten nicht an. Völlig ins Leere geht daher die Argumentation des VfGH, wonach kein unverhältnismäßiger Eingriff in die Grundrechtssphäre der Proponenten vorliege, „zumal aufgrund ... des Konkordats ... innerkirchliche Vereinigungen auch staatliche Rechtspersönlichkeit erlangen können“.

1048

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nicht im Blick hatte, ist das darin vorgesehene Verfahren54 zur Erlangung öffentlich-rechtlicher Stellung grundsätzlich auch für kirchliche Vereine nicht ausgeschlossen. Diese sind jedoch primär auf das staatliche Vereinsrecht verwiesen.55 Dem Konkordatsrecht kommt daher im vereinsrechtlichen Kontext vergleichsweise nur geringe Bedeutung zu. Im Folgenden soll die zuletzt genannte Gruppe von Vereinen an Hand eines konkreten Falles besonders in den Blick genommen werden, da gerade hier das oben angesprochene Spannungsverhältnis zwischen staatlichem und kirchlichem Recht in besonderem Maß zum Tragen kommt. 2. Konkrete Fallgestaltung (VfSlg. 16.395/2001) Die angesprochene Problematik im Hinblick auf eine potentielle Grundrechtskollision stellt sich also insbesondere dann, wenn sich ein Verein ausschließlich nach staatlichem Vereinsrecht konstituieren möchte, die Proponenten jedoch Ziele verfolgen, die typischer Weise auch den inneren Angelegenheiten im Sinn des Art. 15 StGG zuzurechnen sind. Dies trifft in geradezu exemplarischer Weise auf einen Fall zu, mit dem sich der VfGH im Jahre 200156 zu befassen hatte und dem folgender Sachverhalt zugrunde lag. Mehrere Proponenten hatten die Vereinsbildung des „Initiativkreises katholischer Laien und Priester in der Erzdiözese Wien“ bei der Vereinsbehörde angezeigt. Laut Statuten besteht der Zweck des Vereins in der „Verbreitung und Verteidigung der katholischen Glaubenslehre sowie der Förderung und Unterstützung der katholischen Kirche“ (§ 2). Als Wege zur Erlangung des Vereinszwecks werden primär die „Förderung und Organisation von Veranstaltungen zur geistlichen Vertiefung und Erneuerung, wie: Vorträge, Gebetskreise, Exerzitien, Wallfahrten“ genannt. Weiter heißt es in den Statuten: „Die Feier der Hl. Messe ist, als zentrales Glaubensgeheimnis der Kirche, als Heilmittel für den einzelnen Menschen und gegen Mißstände in Kirche und Gesellschaft, ein besonderes Anliegen. Der Verein bemüht sich um die Erhaltung des Ritus 54

Gemäß Art. II Konkordat 1933 genießen einzelne Einrichtungen der Katholischen Kirche, welche nach kanonischem Recht Rechtspersönlichkeit haben, diese auch für den staatlichen Bereich. Vereine, die nach innerem Recht gegründet werden, erlangen gemäß Art. II Konkordat 1933 durch Hinterlegung der Errichtungsanzeige seitens der zuständigen kirchlichen Autorität bei der obersten staatlichen Kultusverwaltung öffentlichrechtliche Stellung. 55

Vgl. Johann Haring, Kommentar zum neuen österreichischen Konkordat, Innsbruck / Wien / München 1934, S. 16 f. 56

Vgl. Potz, Kommentar (Anm. 23).

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1049

gemäß dem päpstlichen Motu Proprio ‚Ecclesia Dei‘“. Darüber hinaus werden die Förderung und der Aufbau von Vereinigungen, Organisationen und Medien zur Erreichung der angeführten Zwecke genannt. Der von der Sicherheitsdirektion – unter anderem nach Einholung einer Äußerung des Sekretariats der Österreichischen Bischofskonferenz57 – ergangene, die Vereinsbildung untersagende Bescheid wurde vom Bundesminister für Inneres als Rechtsmittelinstanz bestätigt und die dagegen eingebrachte Beschwerde an den VfGH abgewiesen. Der bekämpfte Bescheid stützt sich auf § 6 Vereinsgesetz,58 dem zufolge ein Verein unter anderem dann zu untersagen ist, wenn er nach seinem Zweck gesetzwidrig wäre und eine der Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 2 EMRK vorliegt. Eine solche Gesetzwidrigkeit sieht die belangte Behörde in dem Umstand, dass der Verein Zwecke verfolgen wolle, die zu den inneren Angelegenheiten der Katholischen Kirche gehörten. Die Nichtuntersagung eines solchen Vereins würde daher einen Eingriff in das den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften durch Art. 15 StGG gewährleistete Grundrecht darstellen. Der VfGH betont in seinen Entscheidungsgründen zunächst unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung, dass die „inneren Angelegenheiten“ der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften nur unter Bedachtnahme auf das Wesen der Religionsgesellschaften nach deren Selbstverständnis erfassbar seien.59 Weiters rekurriert der Gerichtshof auf die – oben bereits angesprochene – ständige Rechtsprechung des OGH und führt weiter aus, dass der Bereich der inneren Angelegenheiten naturgemäß nicht erschöpfend aufgezählt werden könne.60 Dementsprechend beschränke sich die Literatur in aller Regel darauf zu beschreiben, was typischerweise zu den „inneren Angelegenheiten“ gehöre und daher innerkirchlich – im Bereich der RömischKatholischen Kirche durch den Codex Iuris Canonici – geregelt werde. Mit Blick auf die Zwecke des hier in Rede stehenden Vereins verweist der VfGH insbesondere auf Ermacora,61 der neben Dogma, Sittenlehre und Kultus, Ver-

57

Auf die diesbezüglichen Bedenken aus rechtsstaatlicher Sicht, insbesondere auf die Notwendigkeit einer Begründung, die sich auf die Anwendbarkeit von c. 301 CIC zu beziehen hätte, hat bereits Potz, Kommentar (Anm. 23), S. 333 hingewiesen. 58

Die Untersagung stützt sich auf § 6 Abs. 1 VereinsG, die dann zu erfolgen hat, „wenn der Verein nach seinem Zweck, seinem Namen oder seiner Organisation gesetzwidrig wäre“. 59

Vgl. VfSlg. 11.199/1986 und 11.745/1988 m.w.N.

60

OGH in SZ 47/135/1974.

61

Felix Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, Wien 1963, S. 414.

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fassung und Organisation das kirchliche Genossenschaftswesen nennt, wobei zu der zuletzt genannten Gruppe von Angelegenheiten auch jene der kirchlichen Vereine gezählt werden.62 In den inneren Angelegenheiten – so weiter der Gerichtshof – sei den staatlichen Organen jede Kompetenz zur Gesetzgebung und Vollziehung genommen.63 Vor dem Hintergrund dieses in Lehre und Rechtsprechung entwickelten Begriffsverständnisses könne es keinem Zweifel unterliegen, dass mit dem von den Proponenten angestrebten Verein Zwecke verfolgt werden sollten, die – objektiv gesehen – zu den inneren Angelegenheiten der Römisch-Katholischen Kirche zählten: Die als Vereinszweck genannte „Verbreitung und Verteidigung der katholischen Glaubenslehre“ und einzelne der zur Verwirklichung des Vereinszwecks vorgesehenen Tätigkeiten, wie etwa die Veranstaltung von Gebetskreisen, Exerzitien, Wallfahrten und die Feier der Hl. Messe unter Einhaltung eines bestimmten Ritus würden in ihrer Gesamtheit innere Angelegenheiten der Römisch-Katholischen Kirche betreffen. Angesichts dessen und weil die Römisch-Katholische Kirche für die Schaffung derartiger Vereinigungen innerkirchliche Normen aufstelle (c. 215 und c. 298 ff. CIC) und damit auch als ihre innere Angelegenheit in Anspruch nehme, würde die Bildung eines diese Zwecke verfolgenden Vereins die inneren Angelegenheiten einer gesetzlich anerkannten Kirche verletzen; seine Nichtuntersagung wäre daher rechtswidrig. Es bestehe kein Zweifel, dass die Sicherung des den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf selbständige Besorgung ihrer inneren Angelegenheiten einen im Sinn des Gesetzesvorbehalts des Art. 11 Abs. 2 EMRK legitimen Zweck „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ verfolge und keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechtssphäre der Proponenten bewirke.64 Diese Argumentation soll im Folgenden hinterfragt und ihr ein anderes Abwägungsmodell gegenübergestellt werden.65

62

Ebd., S. 416.

63

Vgl. oben Anm. 41.

64

Zu dem in der Folge gemachten Hinweis auf Art. II und Art. XV § 2 Konkordat 1933, wonach innerkirchliche Vereinigungen auch staatliche Rechtspersönlichkeit erlangen können, siehe oben IV. 1 mit Anm. 53. 65

Siehe dazu bereits den Kommentar von Potz (Anm. 23), insbesondere S. 333 f., der die Untersagung der Vereinsbildung schlechthin als unzulässigen Eingriff in die Vereinsfreiheit der Proponenten ansieht, diese jedoch hinsichtlich der auf die Förderung des Gottesdienstes gerichteten Vereinszwecke für gerechtfertigt hält. Vgl. unten Anm. 69.

Vereinigungen von Gläubigen im kirchlichen und staatlichen Recht

1051

3. Herstellung einer „fair balance“ a) Grundsätzliches Im Fall einer Grundrechtskollision geht es sehr wesentlich um die Herstellung „praktischer Konkordanz“ (Konrad Hesse) bzw. einer fair balance im Sinn der Rechtsprechung der europäischen Konventionsorgane bzw. nunmehr des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dabei ist auf das Instrumentarium der Rechtsgüterabwägung unter strenger Bindung an das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu greifen, wie es in der EMRK ausdrücklich verankert ist. Dieses stellt einen „elementaren, die Rechtsordnung durchdringenden Grundsatz der Gerechtigkeit“ dar.66 Religionsgemeinschaften sind in erster Linie als Bezugs- und Kristallisationspunkte religiöser Interessen der einzelnen Gläubigen in den Blick zu nehmen. Bei Abgrenzungs- bzw. Abwägungsfragen im Zusammenhang mit der „Kirchenfreiheit“ kommt daher den individual-rechtlichen Gewährleistungen der Gläubigen ein besonderer Stellenwert zu. Dementsprechend dürfen „Ausstrahlungswirkungen“ der „inneren Angelegenheiten“ in den staatlichen Rechtsbereich hinein nicht zu einer weitgehenden Aushöhlung grundrechtlich gewährleisteter Rechtspositionen des Einzelnen führen. In diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte besonders zu betonen. Zum einen, dass die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften trotz ihrer Stellung als Körperschaften des öffentlich-rechtlichen Rechts anders als der Staat nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind. Ihnen gegenüber kommt daher – ebenso wie grundsätzlich im Rechtsverkehr zwischen Privaten – nur eine Drittwirkung der Grundrechte in Betracht. Zum anderen ist aber festzuhalten, dass hinsichtlich einer solchen „Ausstrahlungswirkung“ zu differenzieren ist, und sie hinsichtlich jener Grundrechte ausscheidet, die ihrerseits einen Teil der Grundrechtssicherung darstellen. Das impliziert, dass sich Mitglieder einer Religionsgemeinschaft dieser gegenüber nicht auf ihr Grundrecht der Religionsfreiheit bzw. gegebenenfalls auch der Meinungsäußerungsfreiheit berufen können.67

66

Vgl. Walter Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz. Die Freiheit der Medien und ihre Verantwortung im System der Grundrechte, Wien / New York 1987, S. 71 ff., hier S. 76 f. 67

Deren Religionsfreiheit ist dadurch gewahrt, dass sie das Amt niederlegen bzw. aus dem Dienstverhältnis ausscheiden sowie in letzter Konsequenz aus der Kirche austreten können.

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b) Aus kirchenrechtlicher Sicht Zunächst ist – wie bereits oben ausgeführt wurde – zu betonen, dass entgegen der Rechtsauffassung der belangten Behörde der Codex sehr wohl Raum für eine Vereinsgründung nur nach staatlichem Recht lässt. Der VfGH hält diesbezüglich zwar zunächst wesentlich zurückhaltender fest, dass die von dem beabsichtigten Verein gemäß den Statuten zu verfolgenden Ziele in ihrer Gesamtheit – objektiv gesehen – innere Angelegenheiten der Katholischen Kirche darstellten. Der Gerichtshof zieht aus diesen durchaus zutreffenden Feststellungen allerdings „überschießende“ Schlussfolgerungen, wie sie oben unter IV. 2. wiedergegeben wurden. Vor diesem Hintergrund ist daher festzuhalten, dass der gegenständliche Verein – als Prototyp einer weit verbreiteten Form apostolischer Tätigkeit – keiner der vom CIC vorgegebenen Vereinskategorien zuzuordnen ist. Er strebt dies auch nicht an, es handelt sich nach der Intention der Proponenten vielmehr um einen völlig freien Zusammenschluss von Gläubigen – Klerikern und Laien –, die sich ausschließlich nach staatlichem Recht als Verein konstituieren möchten. Wie bereits ausgeführt wurde, bildet die Assoziationsfreiheit, wie sie in den cc. 215 und 216 CIC verankert ist, die grundlegende Basis für derartige Gründungsinitiativen. In den Statuten des in Rede stehenden Vereins werden als Vereinszwecke bzw. als Wege zu deren Erreichung insbesondere die Verbreitung der katholischen Glaubenslehre und die Förderung der katholischen Kirche vor allem durch Veranstaltungen zur geistlichen Vertiefung und Erneuerung genannt. Dabei soll die Feier der Hl. Messe und die Erhaltung des Ritus gemäß dem päpstlichen Motu Proprio „Ecclesia Dei“ ein besonderes Anliegen darstellen. Es sind daher diese angestrebten Vereinsziele näher in den Blick zu nehmen und an den kirchenrechtlichen Vorgaben, insbesondere an c. 298 und c. 301 CIC, zu messen.68 In c. 298 werden als Zwecke kirchlicher Vereine genannt „... den amtlichen Gottesdienst bzw. die christliche Lehre zu fördern oder andere Apostolatswerke, das heißt Vorhaben zur Evangelisierung, Werke der Frömmigkeit oder der Caritas zu betreiben und die weltliche Ordnung mit christlichem Geist zu beleben.“

C. 301 enthält einen Vorbehalt zugunsten der zuständigen kirchlichen Autorität. Dieser „kommt die Errichtung solcher Vereine von Gläubigen zu, die sich der Vermittlung der christlichen Lehre im Namen der Kirche oder der Förderung des amtlichen Got68

Vgl. oben IV. 2.

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tesdienstes widmen oder die sich anderen Zielen zuwenden sollen, deren Verfolgung ihrer Natur nach der kirchlichen Autorität vorbehalten wird“.

Vergleicht man diese beiden Bestimmungen, so springt das differenzierende Kriterium deutlich ins Auge. Wird bei den zulässigen Vereinzwecken „die Verbreitung der Glaubenslehre“ genannt, so wird bei den der Errichtung durch die zuständige kirchliche Autorität vorbehaltenen Vereinen auf „die Verbreitung der Glaubenslehre im Namen der Kirche“ abgestellt. Alles Tätigwerden im Namen der Kirche bedarf einer – wie auch immer gearteten – kirchenhoheitlichen Mitwirkung und ist daher insoweit seiner „Natur nach der kirchlichen Autorität vorbehalten“. Daraus ergibt sich schlüssig, dass „Verbreitung der Heilslehre“ nicht notweniger Weise im Namen der Kirche zu erfolgen hat. Es stellt sich daher die Frage wie in diesem Zusammenhang die „Förderung des amtlichen Gottesdienstes“ zu interpretieren ist. In einer systematischen Zusammenschau dieser beiden Bestimmungen, eingebunden in den auf Grund der Vereinsfreiheit gebotenen Interpretationsgrundsatz „in dubio pro libertate“, ist der Begriff „amtlicher Gottesdienst“ eng auszulegen. Dies findet eine ausdrückliche Untermauerung in c. 323 § 2 CIC, wonach die kirchliche Autorität ihrer Aufgabe „unter Wahrung der den privaten Vereinen“ eigenen Autonomie nachzukommen hat. Dementsprechend hält Aymans fest, dass „ein Verein zur Förderung des Gottesdienstbesuches beispielsweise ... nicht öffentlichen Charakter haben (muss)“. Dies trifft wohl in gleicher Weise auf einen Vereinszweck zu, der in Bemühungen „um die Erhaltung des Ritus gemäß dem päpstlichen Motu Proprio ‚Ecclesia Dei‘“ besteht. Die Formulierung in den Statuten, dass die „Feier der Hl. Messe ... als zentrales Glaubensgeheimnis der Kirche, als Heilmittel für den einzelnen Menschen und gegen Mißstände in Kirche und Gesellschaft, ein besonderes Anliegen“ des Vereins sei, kann ebenfalls nicht zwingend als Inanspruchnahme „amtlichen Gottesdienstes“ im Sinn von c. 301 gedeutet werden.69 Der kirchlichen Autorität sind nur solche Vereine vorbehalten, „die gemäß ihrer Zielsetzung im amtlichen Gottesdienst selbst tätig werden und für seine ordnungsgemäße Durchführung die Verantwortung tragen“70. Darunter ist weder die angestrebte Förderung eines bestimmten Ritus noch die Feststellung, dass die Feier der Hl. Messe ein besonderes Anliegen darstelle, zu subsumieren. 69

Dem gegenüber geht Potz, Kommentar (Anm. 23), S. 332 unter Hinweis auf c. 301 CIC davon aus, dass die Abhaltung der Messfeier immer „amtlicher Gottesdienst“ sei. Die Einbeziehung der diesbezüglichen Vereinszwecke hätte daher kirchenrechtlich die Notwendigkeit einer Errichtung durch die zuständige kirchliche Autorität mit sich gebracht. Lediglich hinsichtlich dieses Vereinszwecks wäre daher die Untersagung durch die Vereinsbehörde gerechtfertigt gewesen. Vgl. oben Anm. 65. 70

Aymans / Mörsdorf, KanR II, S. 489.

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Was das Motu Proprio Papst Johannes Paul II. „Ecclesia Dei“71 betrifft, so wurde dieses nicht zuletzt im Zusammenhang mit der von Erzbischof Marcel Lefebvre gegründeten Priesterschaft St. Pius X.72 erlassen. Darin werden auch jene Gläubigen in den Blick genommen, „die sich an einige frühere Formen der Liturgie und Disziplin der lateinischen Tradition gebunden fühlen“. Ihnen möge die kirchliche Gemeinschaft durch Maßnahmen leicht gemacht werden, die notwendig sind, um die Berücksichtigung ihrer Wünsche sicherzustellen. Um deren Empfinden zu achten, findet sich darin die Anordnung, die vom Apostolischen Stuhl herausgegebenen Richtlinien zum Gebrauch des Römischen Messbuches in der Editio typica vom Jahre 1962 weit und großzügig auszulegen (insbesondere Punkt 5 c) und 6 c). Einen entscheidenden Schritt stellte das Schreiben der Kongregation für den Gottesdienst vom 3. Oktober 1984 dar.73 Darin gibt der Papst den Diözesanbischöfen die Vollmacht, von dem Indult Gebrauch zu machen, aufgrund dessen Priester und Gläubige, die in dem an den eigenen Bischof zu richtenden Gesuch genau anzugeben sind, die Messe nach dem Missale Romanum in seiner Ausgabe von 1962 feiern dürfen. In der weiteren Folge wird eine Reihe von Voraussetzungen genannt, die erfüllt sein müssen. Unter bestimmten Bedingungen ist somit das Feiern der Messe nach dem so genannten „tridentinischen Ritus“ gestattet. Das bedeutet aber auch, dass ein Zusammenschluss von Gläubigen, die unter Einhaltung dieser Voraussetzungen auf das Angebot einer „recognitio“ gemäß c. 299 § 3 CIC zurück greifen wollten, einen Rechtsanspruch auf Anerkennung als privater nicht-rechtsfähiger kirchlicher Verein haben müsste.74 Wenn also ein derartiger Befund selbst für solche, einer bestimmten kanonischen Vereinskategorie zuzuordnende Zusammenschlüsse zu gelten hätte, so trifft er argumento a maiori ad minus um so mehr auf völlig freie Zusammenschlüsse von Gläubigen im oben ausgeführten Sinn zu. c) Freie Zusammenschlüsse von Gläubigen am Schnittpunkt von kirchlichem und staatlichem Recht Die in Rede stehenden Vereinsaktivitäten sind allesamt vom umfassenden Grundrecht auf Religionsfreiheit sowohl in seiner individuellen als auch kollektiven bzw. korporativen (institutionellen) Ausprägung umfasst. Es kommt daher 71

Apostolisches Schreiben „Ecclesia Dei“ vom 2. 7. 1988, AAS 80 (1988), S. 1495 ff.

72

Vgl. oben Anm. 46.

73

AAS 76 (1984), S. 1088 f. ; Communicationes 1985, 3 f. ; OssRom (dt.) vom 19. 10. 1984, S. 3. 74

Vgl. oben Anm. 20.

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naturgemäß zu Überlagerungen bzw. Überschneidungen der grundrechtlichen Schutzbereiche – individuelle Religionsfreiheit und Vereinsfreiheit auf der einen Seite, „Kirchenfreiheit“ auf der anderen Seite. Aus staatlicher Sicht ist primär am jeweiligen Selbstverständnis der Grundrechtsträger anzuknüpfen. Dieses ist zwar in den uns interessierenden Fallkonstellationen von demselben göttlichen Grundauftrag getragen, und es weist daher zunächst auch in dieselbe Richtung. Das schließt aber in der konkreten Umsetzung kirchlicher Lebensvollzüge keinesfalls Spannungen oder sogar Kollisionen aus. Im gegenständlichen Fall hat das Selbstverständnis der Grundrechtsträger seine rechtliche Basis in erster Linie im CIC, insbesondere in den darin enthaltenen vereinsrechtlichen Bestimmungen. Auf dieses stützen sich sowohl die Proponenten des zu gründenden Vereins als auch die unter Berufung auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht argumentierende Behörde ebenso wie der VfGH. Ausgehend von der in den cc. 215 und 216 CIC verankerten Assoziationsfreiheit der Gläubigen und der darauf aufbauenden Vereinstypologie lässt der Codex Raum für völlig freie Zusammenschlüsse von Gläubigen, die nicht an die vereinsrechtlichen Vorgaben und Auflagen des Titels V Teil I Buch II des Codex gebunden sind.75 Dementsprechend ist mit Aymans für den Bereich des kanonischen Vereinigungsrechts festzuhalten, dass Interpretationen – mögen sie auch von einer freiheitsfördernden Grundtendenz getragen sein – nicht dazu führen dürfen, „die vereinsmäßige Verfolgung kirchlicher Zwecke allein in Formen des zur Verfügung stehenden weltlichen Rechts auszuschließen“76. Während der kirchlichen Autorität Leitungsgewalt gegenüber den kanonischen Vereinen zusteht, kann sie gegenüber Vereinen, die ausschließlich in den Rechtsformen des staatlichen Rechts konstituiert sind, nur jene Rechte ausüben, die ihr allenfalls satzungsgemäß eingeräumt wurden. Wohl aber kommt ihr in diesen Fällen Leitungsgewalt gegenüber dem einzelnen Gläubigen zu, der Proponent, Mitglied bzw. Funktionsträger eines solchen staatlichen Vereins ist – mag dieser kirchenrechtlich als „apostolische Unternehmung“ zu qualifizieren sein oder nicht. Diese Möglichkeit zur Intervention seitens der kirchlichen Autorität findet in der generell gegebenen kirchenhoheitlichen Vigilanz ihren Niederschlag. Im Vorfeld von solchen im strengen Sinn verstandenen kirchenhoheitlichen Maßnahmen wäre etwa an die Verweigerung von Unterstützungen welcher Art auch immer, an öffentliche Kritik oder Distanzierung und dergleichen zu denken. Darüber hinaus sind in Bezug auf das Verhalten einzelner Vereinsmitglieder sämtliche disziplinar- bzw. strafrechtlichen Maßnahmen in

75

Vgl. Müller, Vereinigungsrecht (Anm. 13), S. 303.

76

Aymans, Rezension (Anm. 6), S. 340. Zum Folgenden siehe ebd.

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Betracht zu ziehen, welche die kirchliche Rechtsordnung zur Verfügung stellt. Man wird davon ausgehen dürfen, dass dieses Spektrum an Interventionsmöglichkeiten im Allgemeinen ausreicht, um die legitimen Interessen der Kirche gegenüber solchen Vereinen wahrzunehmen und gleichzeitig ihre Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit zu schützen. Dabei handelt es sich ausschließlich um ein Agieren im Bereich der „inneren Angelegenheiten“, unabhängig davon, auf welche vom staatlichen Recht zur Verfügung gestellten Rechtsformen die Gläubigen jeweils zurückgreifen.77 Keinesfalls jedoch kann es Aufgabe des Staates sein, gewissermaßen in vorauseilendem Gehorsam als verlängerter Arm der Kirche – vergleichbar einem bracchium saeculare – mit Hilfe staatlich-rechtlicher Instrumentarien auf ausschließlich dem kirchlichen Internbereich zuzuordnende Angelegenheiten einzuwirken und diesen in einer bestimmten Deutung staatlich-rechtliche Relevanz zu geben. Dies wäre umso bedenklicher, als dabei einerseits staatlich garantierte Individualgrundrechte ausgehöhlt und andererseits selbst nach kanonischem Recht bestehende Freiräume eingeschränkt würden. V. Schlussbetrachtung Die besprochenen Fallkonstellationen machen deutlich, dass Rechtsfragen im Zusammenhang mit freiwilligen Zusammenschlüssen von Gläubigen durchaus geeignet sind, beachtliche religionsrechtliche Herausforderungen mit sich zu bringen. In diesem äußerst sensiblen grundrechtlichen Bereich ist es dem Staat in besonderem Maß aufgegeben, bei den notwendigen Zuordnungen und Abwägungen das Verfassungsprinzip religiös-weltanschaulicher Neutralität strikt zu beachten. Es kann nicht Aufgabe des Staates sein, gewissermaßen päpstlicher als der Papst sein zu wollen,78 was letztlich auch auf eine Standortbestimmung im Rahmen innerkirchlicher Diskussionen hinausliefe. Jedenfalls 77 Nicht nachvollziehbar ist die Argumentation von Georg Lienbacher, Kommentar zu VfSlg. 16.395/2001 in Rechtsprechung aktuell, in: ZfV 2002, S. 654, wonach die Untersagung des Vereins ein Verletzung von Art. 15 StGG und somit einen Eingriff in die „inneren Angelegenheiten“ darstelle, weil der Kirche „damit die Möglichkeit genommen wird, nach den inneren Rechtsvorschriften mit solchen Vereinigungen bzw. Personen umzugehen, sei es, dass sie entsprechender innerkirchlicher disziplinärer Behandlung unterworfen werden, sei es, dass sie eine spezielle innerkirchliche Promotion erfahren“. Vgl. dazu auch die Kritik von Potz, Kommentar (Anm. 23), S. 334, Anm. 22. 78

So Helmut Koziol / Rudolf Welser, Grundriß des bürgerlichen Rechts II, Wien 1978, S. 19 f. in Bezug auf die Diskussion um das Reskript der Religiosenkongregation vom 8. 7. 1974 und Potz, Kommentar (Anm. 23), S. 333 unter Bezugnahme auf die genannten Autoren. 4

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aus Sicht des staatlichen Vereinsrechts muss für Vereine wie dem gegenständlichen, die sich einer traditionellen Strömung innerhalb der Kirche verbunden fühlen, ebenso Platz sein wie etwa für die „Plattform Wir sind Kirche – Verein zur Förderung von Reformen in der römisch-katholischen Kirche“, die sich als staatlicher Verein konstituiert hat. Ohne Zweifel zählt auch der zuletzt genannte Verein zu seinen Vereinszwecken Aktivitäten, die den „inneren Angelegenheiten“ der Katholischen Kirche zuzurechnen sind. Hier mag das Spannungsverhältnis vielleicht sogar ein noch größeres sein. Beispielsweise sei auf die – wenngleich sehr zu begrüßende – Diskussion um die Aufhebung des Zölibats oder das Priestertum der Frau verwiesen. Insbesondere die zuletzt genannte Frage hat Papst Johannes Paul II. in dem Apostolischen Schreiben Ordinatio Sacerdotalis weiteren Diskussionen entzogen und damit die diesbezüglichen lehramtlichen Äußerungen in die Nähe des ius divinum gerückt.79 Aber selbst aus kirchenrechtlicher Sicht sind solche Aktivitäten grundsätzlich von der im Codex verankerten Vereinigungsfreiheit umfasst. Es wäre Aufgabe der Kirchenleitung gegebenenfalls in Ausübung der allgemeinen Vigilanz bzw. disziplinar- und strafrechtlicher Bestimmungen entsprechende Maßnahmen zu setzen. Insgesamt ist somit ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen der „religiösen Vereinigungsfreiheit“ einerseits und der „Kirchenfreiheit“ andererseits unübersehbar. Gleichzeitig ist jedoch zu betonen, dass das staatliche Grundrecht der Vereinsfreiheit und das Christen- bzw. Statusrecht80 der Vereinigungsfreiheit, wie es im Codex 1983 verankert ist – ohne die Unterschiede nivellieren zu wollen – doch in dieselbe Richtung weisen. In besonderem Maße ist es Aufgabe beider Gewährleistungen, den religiösen Interessen des einzelnen Gläubigen gerecht zu werden.

79

Apostolisches Schreiben über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe vom 22. 5. 1994: „Damit also jeder Zweifel bezüglich der bedeutenden Angelegenheit, die die göttliche Verfassung der Kirche selbst betrifft, beseitigt wird, erkläre ich kraft meines Amtes, die Brüder zu stärken (vgl. Lk 22,32), daß die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und daß sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben“ (AAS 86 [1994], S. 541 f.). Vgl. auch die Antwort der Kongregation für die Glaubenslehre auf Zweifel bezüglich der in Ordinatio Sacerdotalis vorgelegten Lehre: AAS 87 (1995), S. 1114; OssRom (dt.) 47 (1995), S. 4; ÖAKR 44 (1995 – 1997), S. 748. 80

Vgl. oben Anm. 12.

Vertrag zwischen dem Hl. Stuhl und Italien vom 15. November 1984 Durchführung in Südtirol Von Josef Michaeler I. Vorgeschichte 1. Angliederung Südtirols an Italien Durch viele Jahrhunderte gehörte Südtirol zu Österreich. Nach dem 1. Weltkrieg wurde das Land mit dem Vertrag von Saint Germain vom 10. Oktober 1919 von Österreich abgetrennt und zu Italien geschlagen. In den ersten Jahren nach dem Anschluss an Italien wurde in Südtirol das österreichische Recht weithin beibehalten. Erst 10 Jahre später wurden mit königlichem Dekret die bis dorthin geltenden österreichischen Gesetze mit Wirkung vom 1. Juli 1929 außer Kraft gesetzt und durch das italienische Zivilgesetzbuch ersetzt.1 Aber mehrere Bestimmungen des österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches blieben weiterhin in Kraft und gelten heute noch.2 Leider wurde in der Konkordatsrevision und im darauf folgenden Vertrag vom Jahre 1984 dem in keiner Weise Rechnung getragen3, so dass es bei der Durchführung dieses Vertrages in Südtirol nicht wenige Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen gab. 2. Die Konkordatsrevision vom 18. Februar 1984 Nach der Einnahme der Stadt Rom durch die Königlichen Truppen im Jahre 1870 folgten in Italien Jahrzehnte lange Auseinandersetzungen zwischen Staat und Kirche. Mit den so genannten Lateranverträgen vom 11. Februar 1929 wurde die „römische Frage“ gelöst und der Frieden zwischen Staat und Kirche

1

Königliches Dekret vom 04.11.1928 Nr. 2325.

2

Königliches Dekret vom 04.11.1928 Nr. 2325 Art. IV Nr. 2, 19, 30.

3

Vertrag vom 15.11.1984 – Gesetz vom 20.05.1985 Nr. 222.

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hergestellt. Einer dieser Verträge ist das Konkordat zwischen dem Hl. Stuhl und dem Königreich Italien4. Durch die Herrschaft des Faschismus in Italien, den 2. Weltkrieg, die Entwicklung in der Nachkriegszeit, aber auch durch die innerkirchliche Entwicklung im Zusammenhang mit dem II. Vatikanischen Konzil, das neue Kirchenrecht usw. wurde das Konkordat in vielen Bereichen überholt. So kam es nach langen Verhandlungen im Jahre 1984 zur Revision des Konkordates vom Jahre 19295. Dabei handelt es sich um ein Rahmenkonkordat, das die großen Linien festlegt, während für die Detailfragen gemäß Art. 13 Zusatzverträge vorgesehen sind. 3. Vertrag vom 15. November 1984 Bereits neun Monate nach der Konkordatsrevision wurde zwischen dem Hl. Stuhl und der italienischen Regierung ein solcher Zusatzvertrag geschlossen, der für die Kirche Italiens einschneidende Änderungen brachte. In diesem Vertrag wird der Italienischen Bischofskonferenz entscheidendes Mitspracherecht für die Durchführung der einzelnen Bestimmungen eingeräumt. Die einschlägigen Beschlüsse der Bischofskonferenz wurden und werden jeweils dem Hl. Stuhl unterbreitet, der sie gemäß c. 455 des CIC überprüft und die Zustimmung gibt. Sie sind damit Sonderrecht für die Kirche Italiens. II. Die Durchführung des Vertrages 1984 in Südtirol Am 27. August 1984, also drei Monate vor Abschluss des Vertrages, hatten Bischof Joseph Gargitter und Unterfertigter als Generalvikar ein ganztägiges Gespräch mit dem Leiter der Vatikanischen Verhandlungsdelegation Bischof Attilio Nicora, der damals in Campitello di Fassa auf Urlaub weilte. Er informierte uns ausführlich über den bevorstehenden Vertrag und wir informierten ihn über die Sondersituation Südtirols und übergaben ihm in den folgenden Tagen eine ausführliche Denkschrift. In dieser Denkschrift haben wir auf die österreichischen Bestimmungen, die hier noch gelten, hingewiesen und ersucht, sie im abzuschließenden Vertrag zu berücksichtigen. Leider ist dies nicht geschehen. So kam es in den folgenden Jahren zu einer Reihe von Gesprächen mit den römischen Stellen und zu einem umfangreichen Briefverkehr, der gelegentlich sehr scharf war. Nun zu den Details.

4

Gesetz vom 27.05.1929 Nr. 810.

5

Gesetz vom 25.03.1985 Nr. 121.

Vertrag zwischen dem Hl. Stuhl und Italien vom 15. November 1984

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1. Neuregelung der Diözesen Der Vertrag 1984 sieht vor, dass der Hl. Stuhl die 324 Jurisdiktionsbezirke Italiens neu regelt und der römischen Regierung bis zum 30. September 1986 den Sitz und den Namen der kanonisch errichteten Diözesen mitteilt, wobei sich der Staat in die Neueinteilung in keiner Weise einmischt. Die mitgeteilten Diözesen werden im zivilen Bereich als juristische Personen privaten Rechts anerkannt, was bisher nicht der Fall war6. Der Hl. Stuhl hat diese Gelegenheit ergriffen und termingerecht 97 kleine zum Teil tausend und mehr Jahre alte Diözesen unterdrückt oder mit anderen kleinen Diözesen zusammengelegt und der Regierung 228 Jurisdiktionsbezirke mitgeteilt7. In Südtirol hat diese Bestimmung keine Schwierigkeiten bereitet, da hier die Diözesanregelung bereits 10 Jahre früher erfolgt ist. Nach der Errichtung der Brennergrenze und der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch8 nach dem 1. Weltkrieg erfolgte im Jahre 1964 eine letzte Grenzregelung. Ganz Südtirol wurde zu einer Diözese vereinigt, so dass nun die Diözesangrenzen mit jenen der Autonomen Provinz Bozen bzw. dem Lande Südtirol zusammen fallen. Der Sitz der Diözese wurde entsprechend dem damaligen Konkordat von Brixen nach Bozen verlegt9. Der in Österreich liegende Teil der Diözese Brixen wurde zur Diözese Innsbruck-Feldkirch erhoben10. Davon wurde vier Jahre später Vorarlberg abgetrennt und die Diözese Feldkirch errichtet11. Diese Bestimmung der Neuregelung der Diözesen Italiens hat in Südtirol also keine Schwierigkeiten gemacht. Wohl aber hat die Aufteilung der Besitzungen der Diözese, wie sie der Vertrag vorsieht, erhebliche Schwierigkeiten mit sich gebracht. Gemäß Vertrag 1984 und Weisungen der Italienischen Bischofskonferenz hätten die Liegenschaften der Bischöflichen Mensa mehr oder weniger alle auf das zu gründende Diözesaninstitut für den Unterhalt des Klerus übertragen werden müssen. Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass wohl unterschieden werden muss zwischen Diözese Brixen und Fürstentum Brixen, dass die Lie6

Vertrag Art. 21 Abs. 1.

7

Notiziario della Conferenza Episcopale Italiana 23.10.1986, S. 211 ff.

8

Dekret der Konzilskongregation vom 12.12.1925.

9

Päpstliche Bulle „Quo aptius“ vom 06.08.1964.

10

Päpstliche Bulle „Sedis Apostolicae“ vom 06.08.1964.

11

Päpstliche Bulle „Christi caritas“ vom 08.12.1968.

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genschaften der Bischöflichen Mensa nicht nur als Benefizialgut des Bischofs, sondern auch für das ehemalige Fürstentum bestimmt waren. Ferner haben wir darauf hingewiesen, dass seit der Steuerreform in Italien im Jahre 1973 die Bischöfliche Mensa jeweils zwei getrennte Steuererklärungen abgegeben hat, eine für den Bischof mit ungefähr einem Viertel der Erträge und die restlichen drei Viertel für die Mensa. Mit diesen Argumenten haben wir uns dem Zentralinstitut für den Unterhalt des Klerus gegenüber durchgesetzt und den Großteil der Liegenschaften der Bischöflichen Mensa auf die Diözese eingetragen. Nur jene Liegenschaften, die nach der Wiederherstellung der Bischöflichen Mensa im Jahre 1832 erworben wurden, wurden auf das Diözesaninstitut für den Unterhalt des Klerus eingetragen. 2. Neuregelung der Pfarreien Nach italienischem Recht waren die Pfarreien keine juristischen Personen. Vermögen, das für die Seelsorge bestimmt war, war entweder auf das Pfarrbenefizium, auf die Pfarrkirche oder auf Stiftungen eingetragen. Gemäß Art. 29 des Vertrages 1984 mussten die einzelnen Diözesen bis zum 30. September 1986 der Regierung die Liste der Pfarreien mit Angabe des gesetzlichen Vertreters, der italienischer Staatsbürger sein muss, mitteilen, die dann als juristische Personen privaten Rechts auch im zivilen Bereich anerkannt wurden, somit in Südtirol auch eine eigene Einlagezahl im Grundbuch bekommen konnten. Nach ausführlicher Behandlung der Frage durch die Dekanekonferenz, die Dekanatskonferenzen, die Pfarrgemeinderäte und den Priesterrat hat der Herr Bischof für die Diözese Bozen-Brixen zwei kleine Pfarreien und 44 bis dorthin selbständige Kuratien unterdrückt, 24 Kuratien zu Pfarreien erhoben und der Regierung insgesamt 280 Pfarreien gemeldet. Wir haben der Regierung die Ortsnamen in deutscher und in italienischer Sprache mitgeteilt. Die römische Regierung hat alle diese 280 als juristische Personen privaten Rechts anerkannt und das Anerkennungsdekret in beiden Sprachen ausgestellt und veröffentlicht12, sodass die Ortsnamen in Südtirol zum ersten Mal offiziell zweisprachig anerkannt wurden.

12

Gazzetta Ufficiale della Repubblica Italiana vom 17.01.1987.

Vertrag zwischen dem Hl. Stuhl und Italien vom 15. November 1984

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3. Aufhebung der Benefizien Der Vertrag vom Jahre 1984 sieht in Art. 28 vor, dass entsprechend dem Wunsch des II. Vatikanischen Konzils und dem CIC/1983 alle Benefizien jeglicher Art und Benennung aufgehoben werden sollen. In Durchführung dieser Bestimmung wurden in der Diözese Bozen-Brixen neben der Bischöflichen Mensa 259 Pfarrbenefizien, 68 Kuratiebenefizien, 77 Frühmessbenefizien, 10 Benefizien am Dom zu Brixen und 35 Stiftungen, insgesamt also 450 Benefizien aufgehoben. Gemäß Vertrag von 1984 hätte das Vermögen all dieser aufgelösten Benefizien auf das Diözesaninstitut für den Unterhalt des Klerus übertragen werden müssen. Auf die Schwierigkeiten der Bischöflichen Mensa habe ich bereits hingewiesen. Wir haben aber gegen den Widerstand des Zentralinstitutes für den Unterhallt des Klerus auch das Vermögen der einfachen Benefizien („beneficia simplicia“) auf die Diözese übertragen. Nach der Regelung der Diözesangrenzen im Jahre 1964 und der Verlegung des Bischofssitzes von Brixen nach Bozen mussten dort neue Strukturen geschaffen werden. Auf Ersuchen des Bischofs hat der Hl. Stuhl darum die Genehmigung gegeben, die einfachen Benefizien nicht mehr zu besetzen, um mit dem Erlös, eventuell auch durch Verkauf von Benefizialgut, die nötigen Strukturen in Bozen zu erstellen13. Mit Berufung auf diese Genehmigung und gegen den Widerstand des Zentralinstitutes in Rom haben wir die Liegenschaften der einfachen Benefizien nicht auf das Diözesaninstitut, sondern auf die Diözese übertragen und damit später weithin den Bau des Pastoralzentrums in Bozen finanziert. 4. Aufhebung der Rechtspersönlichkeit der Kirchen Gemäß österreichischem Recht14 und Verordnung des österreichischen Justizministeriums an die Gerichte Tirols15 konnten nur physische oder juristische Personen eine Einlagezahl im Grundbuch erhalten. Einrichtungen, die eine solche Einlagezahl hatten, waren nach österreichischem Recht juristische Personen. Diese Bestimmung wurde in Südtirol nach dem Anschluss an Italien beibehalten, sodass hier – im Gegensatz zu den anderen Diözesen Italiens –

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Dekret der Konziskongregation vom 10.05.1966 Nr. 98721 / A.

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Gesetz vom 07.05.1874.

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Verordnung vom 19.10.1897, S. 19.

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nicht nur die Pfarrkirchen, sondern auch die Kuratie- und Filialkirchen juristische Personen waren. Der Vertrag vom Jahre 1984 sieht in Art. 30 vor, dass den Pfarrkirchen die Rechtspersönlichkeit entzogen und sie mit ihrem beweglichen und unbeweglichen Vermögen auf die als juristische Personen neu zu errichtenden Pfarreien übergehen. Der Vertrag erwähnt die Kuratie -und Filialkirchen nicht. Diese hätten also weiterhin juristische Personen bleiben können. Der Herr Bischof hat aber nach vorheriger Behandlung der Frage im Priesterrat bestimmt, dass auch diesen Kirchen die Rechtspersönlichkeit entzogen wird. So wurden in der Diözese 259 Pfarr-, 68 Kuratie- und 227 Filialkirchen und Kapellen, insgesamt also 554 Kirchen die Rechtspersönlichkeit entzogen und ihr Vermögen auf die jeweiligen Pfarreien übertragen16. Für all diese Kirchen müssen nun keine eigene Kirchenrechnung ausgestellt und keine Steuererklärung gemacht werden. 5. Errichtung des Zentralinstitutes und Diözesaninstitutes für den Unterhalt des Klerus Im Sinne des c. 1274 CIC sieht der Vertrag vom Jahre 1984 die Errichtung eines Zentralinstitutes für den Unterhalt des Klerus bei der Italienischen Bischofskonferenz vor. Es hat die Aufgabe, die Geldmittel der Diözesaninstitute für den Unterhalt des Klerus aus den Geldern, die ihm auf Grund von Spenden aus der Teilzweckbindung der Einkommenssteuer für physische Personen und aus Spenden, die von der Einkommenssteuer abgezogen werden können, zu ergänzen. Ebenso koordiniert und kontrolliert das Zentralinstitut die Diözesaninstitute. Ebenso musste in Anlehnung an c. 1274 in jeder Diözese bis spätestens 30. September 1986 ein Diözesaninstitut für den Unterhalt des Klerus errichtet werden. Kleinere Diözesen konnten sich zusammenschließen und ein Interdiözesaninstitut gründen. Insgesamt wurden in Italien 200 Diözesaninstitute und sechs Interdiözesaninstitute gegründet, die alle vom Staat als juristische Personen privaten Rechts anerkannt worden sind17. Nun musste das Vermögen der Benefizien auf die Diözesaninstitute und jenes der Kirchen auf die Pfarreien übertragen werden. Dies brachte in Südtirol eine Reihe von rechtlichen Schwierigkeiten mit sich, die im Folgenden dargelegt werden.

16

Gazzetta Ufficiale della Repubblica vom 17.01.1987, S. 171 ff.

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Gesetz vom 20.05.1985 Nr. 222 Art. 21 Abs. 2.

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III. Rechtliche Schwierigkeiten in Südtirol Wie mehrmals angedeutet, gelten in Südtirol eine Reihe von Gesetzen, die auf Österreich zurückgehen und die Durchführung des Vertrages vom Jahre 1984 nicht wenig erschwerten. Sie sollen im Folgenden genannt werden. 1. Das Grundbuchsystem In den alten Provinzen Italiens gibt es das Liegenschaftsregister („conservatoria dei registri“). Bei Verträgen, welche die Übertragung des Eigentums von Liegenschaften oder dinglichen Rechten zum Gegenstand haben, wird das Eigentum oder das Recht auf Grund der rechtmäßig geäußerten Einwilligung der Vertragspartner in das Liegenschaftsregister eingetragen18. Anders ist die Lage in Südtirol, im Trentino und in einigen Provinzen Nordostitaliens, die bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu Österreich gehört haben. Dort gibt es das Grundbuchsystem. Nach dem Anschluss Südtirols an Italien wurde das Grundbuch beibehalten und in die italienische Rechtsordnung übernommen19. Das Grundbuch unterscheidet klar zwischen dem Rechtsakt, d. h. zwischen dem Titel des Vertrages wie Kauf, Tausch, Schenkung, Enteignung usw. und dem Erwerbsakt. Die Änderung des Eigentums hängt nicht nur vom Rechtsakt ab, sondern auch von der Eintragung im Grundbuch, die wesentlicher Bestandteil des Rechtsaktes ist. Das Eigentum an Liegenschaften, ebenso dingliche Rechte und Pflichten können unter Lebenden nur durch Eintragung im Grundbuch erworben werden. Was im Grundbuch nicht eingetragen ist, hat rechtlich keine Gültigkeit, selbst dann, wenn das Eigentum durch rechtmäßige Urkunde oder gar im Dekret des Grundbuchrichters vermerkt ist. Diesbezüglich liegen eine Reihe von Gerichtsurteilen vor20. Einrichtungen, die im Grundbuch eingetragen sind, d. h. die dort eine eigene Einlagezahl haben, sind nach österreichischem und italienischem Recht juristische Personen. Dem musste bei der Übertragung der Liegenschaften auf die neuen Rechtsträger in Südtirol Rechnung getragen werden.

18

Zivilgesetzbuch Art. 1376 und 2658.

19

Kgl. Dekret vom 04.11.1928 Nr. 2325 Art. IV 8 und Dekret vom 28.03.1929 Nr. 499.

20

Urteil vom 28.01.1897 Z 346; Urteil des Landesgerichtes Bozen vom 27.05.1986, bestätigt durch Oberlandesgericht Trient am 06.06.1986; Urteil des Landesgerichts Bozen vom 10.03.1987; Urteil des Kassationsgerichtes vom 22.02.1996 Nr. 1356.

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2. Der „Geschlossene Hof“ Der Geschlossene Hof ist ein typisch germanisches Rechtsinstitut, das außerhalb Südtirols in den Provinzen Italiens auch im Trentino nicht bekannt ist. Der Sinn des Geschlossenen Hofes ist es, im Berggebiet eine zu große Zerstückelung der Landwirtschaft zu vermeiden, um so einer Familie den nötigen Lebensunterhalt zu garantieren und eine Abwanderung zu verhindern. Im Jahre 1984 gab es in Südtirol 17 Geschlossene Höfe im Eigentum von Kirchen und 60 im Eigentum von Benefizien. Gemäß Vertrag hätten die Geschlossenen Höfe so geteilt werden müssen, dass die Wohngebäude, die meist auch gleichzeitig Pfarrhäuser waren, auf die Pfarrei, die landwirtschaftlichen Liegenschaften dagegen auf das Diözesaninstitut für den Unterhalt des Klerus übertragen werden. Das aber wäre der Auflösung des Geschlossenen Hofes, der verfassungsrechtlich gesichert ist, gleich gekommen. Wir haben dieses Anliegen mehrmals der Italienischen Bischofskonferenz und dem Zentralinstitut für den Unterhalt des Klerus unterbreitet, aber darauf keine Antwort bekommen. Daraufhin hat Unterfertigter in einem Schreiben an den Präsidenten der Bischofskonferenz sich schriftlich beschwert, worauf das Zentralinstitut mit dem Vorschlag antwortete, auch die Geschlossenen Höfe auf das Diözesaninstitut zu übertragen, aber mit einem Vertrag zwischen Diözesaninstitut und den Pfarreien, mit dem die Geschlossenen Höfe den Pfarreien mit einer über neun-jährigen Dauer („periodi ultranovennali“) vermietet werden, wobei im Mietvertrag der Mietzins, den die Pfarreien zu zahlen haben, klar festgelegt werde21. Wir haben dies abgelehnt, weil es die Pfarreien unnötig belastet. Nach längeren Verhandlungen mit dem zuständigen Landesrat haben wir uns dahin geeinigt, dass das Bischöfliche Ordinariat für die Geschlossenen Höfe im Eigentum von Benefizien einen Antrag an die örtlichen Höfekommissionen um die Auflösung derselben stellt. Wird der Antrag von der örtlichen Kommission abgelehnt, was in 21 Fällen geschehen ist, macht das Ordinariat dagegen Rekurs an die Landeshöfekommission. Lehnt auch diese ab, was in wenigen Fällen geschehen ist, gibt die Landesregierung die Zustimmung zur Auflösung des Geschlossenen Hofes. Auf diese Weise wurden 27 Geschlossene Höfe im Eigentum von Benefizien aufgelöst, wobei das Haus, meist gleichzeitig Pfarrhaus, auf die jeweilige Pfarrei, die anderen Liegenschaften auf das Diözesaninstitut bzw. die Diözese übertragen wurden. Die zuständigen römischen Stellen haben dies zur Kenntnis genommen.

21

Schreiben des Msgr. Attilio Nicora vom 08.04.1986 Nr. 590/80.

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3. Dingliche Rechte und Pflichten Das alte österreichische Recht kennt die dinglichen Rechte (Realrechte) wie Fruchtgenuss, Wohnrecht, Oberflächenrecht, Baurecht, Grunddienstbarkeiten usw. Es kennt aber auch die dinglichen Lasten (Reallasten), die darin bestehen, dass der Inhaber einer Liegenschaft etwas geben muss, z. B. Stellung von Lebensmitteln oder Holz, oder etwas leisten muss, z. B. den Mesnerdienst an einer Kirche. Diese Reallasten verpflichten in erster Linie nicht eine Person, sondern die Liegenschaft, auf der sie im Grundbuch eingetragen sind, und erst über die Liegenschaft die Person, d. h. den Inhaber der Liegenschaft. Das italienische Recht kennt wohl die Realrechte, nicht aber die Reallasten. Es erkennt aber diese Lasten an in jenen Provinzen, die nach dem ersten Weltkrieg zu Italien gekommen sind, sofern sie im Grundbuch eingetragen sind22. Auch das Anliegen der dinglichen Rechte und Pflichten wird im Vertrag vom November 1984 nicht erwähnt. Der Präsident der Italienischen Bischofskonferenz hat den Vorschlag gemacht, auch diese dinglichen Rechte und Pflichten, die auf den Benefizien lasteten, auf das Diözesaninstitut zu übertragen, das dann von Fall zu Fall entscheiden soll („il quale deciderà liberamente caso per caso quale uso farne“)23. Dies mussten wir ablehnen. 4. Fruchtgenussrecht Zu den dinglichen Rechten gehört auch das Fruchtgenussrecht, das wegen seiner besonderen Bedeutung gesondert behandelt werden soll. Auch dieses Recht bereitete nicht wenige Schwierigkeiten. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch Österreichs bestimmte in Art. 529 „... das von einer Gemeinde oder anderen moralischen Person erworbene persönliche Servitut dauert so lange, als die moralische Person besteht“. Das Italienische Zivilgesetzbuch vom Jahre 1942 bestimmt in Art. 979: „Der zugunsten einer juristischen Person begründete Fruchtgenuss darf nicht länger als 30 Jahre dauern“. Diese unterschiedliche Dauer des Fruchtgenussrechtes hat in der Vergangenheit immer wieder zu großen Schwierigkeiten geführt. Gelten die Fruchtgenussrechte, die noch unter Österreich konstituiert worden sind, für die Dauer des Bestehens der begünstigten juristischen Person oder nur 30 Jahre?

22

Königliches Dekret vom 04.11.1929 Nr. 2325 und DPR vom 28.03.1929 Nr. 498 Art. 9. 23

Schreiben vom 08.04.1986 Nr. 590/86.

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Das Bischöfliche Ordinariat hat immer die Meinung vertreten, dass auch diesbezüglich die österreichische Bestimmung gilt. Hätte nämlich der Gesetzgeber mit dem mehrmals genannten Königlichen Dekret die Rückwirkung des Art. 979 bezüglich der Dauer des Fruchtgenussrechtes festlegen wollen, dann hätte er dies sicher ausdrücklich verfügt, wie er dies hinsichtlich der Erbfolge (Art. 20 – 21), der treuhänderischen Substitution (Art. 22 – 23), der Schenkung (Art. 27), der Erbpacht (Art. 30) getan hat.24 Im genannten königlichen Dekret wird von Fruchtgenuss und Wohnrecht nichts gesagt, so dass diesbezüglich der Grundsatz des wohlerworbenen Rechtes („diritto acquisito“) gelten muss. In Südtirol gibt es heute noch eine Reihe von Pfarrhäusern, Mesnerwohnungen usw. im Eigentum von zivilen Gemeinden und Fraktionen; darauf kommen wir sofort zurück. Einzelne Gemeindeverwaltungen haben in Unkenntnis der Rechtslage gemeint, dass auch diese Fruchtgenussrechte nach 30 Jahren abgelaufen sind und spätestens mit dem Vertrag 1984 nicht mehr Geltung haben. Dies auch deswegen, weil die begünstigten juristischen Personen, die Benefizien und die Kirchen ihre Rechtspersönlichkeit verloren haben. Das Bischöfliche Ordinariat hat aber immer wieder darauf hingewiesen, dass gemäß Vertrag von 1984 wohl die Kirchen und Benefizien ihre Rechtspersönlichkeit verloren haben, dass die neuen Rechtsträger, die Pfarreien, ihnen gemäß Art. 30 Abs. 2 des Vertrages mit allen Rechten und Pflichten („con tutti i diritti attivi e passivi“) folgen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass nach dem allgemeinen Rechtsprinzip Gesetze keine rückwirkende Kraft haben, sondern für die Zukunft gelten. Das gilt auch für das Fruchtgenussrecht. Rechte, die vor dem Anschluss an Italien konstituiert wurden, haben so lange Wirkung, solange die begünstigte juristische Person besteht. Rechte, die nachher konstituiert worden sind oder werden, gelten maximal 30 Jahre. Dies vorausgesetzt zu den Fruchtgenussrechten in Südtirol: a) Pfarrhäuser im Eigentum der r. k. Pfarrgemeinden Ein österreichisches Gesetz sah als Gegenstück zur zivilen Gemeinde die Errichtung von r. k. Pfarrgemeinden als juristische Personen vor, auf die alle kirchlichen Liegenschaften eingetragen werden sollten25. Die Durchführungsbestimmungen zu diesem Gesetz sind aber wegen der auftretenden Schwierigkeiten und den Widerstand besonders der Bischöfe von Salzburg und Brixen nie erlassen worden. Mit Verordnung des Österreichischen Ministeriums für 24

Gazzetta Ufficiale vom 02.11.1928 Nr. 255, S. 1155.

25

Gesetz vom 07.05.1874 Nr. 50.

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Kultus und Unterricht ist darum inzwischen die ganze Materie dahin geregelt worden, dass die Angelegenheiten der Pfarrgemeinden bis zur Erlassung der Durchführungsbestimmungen von der zivilen Ortsgemeindevertretung zu besorgen sind, welch Letztere auch für die Deckung der Kultusauslagen zu sorgen habe26. Unter dieser Rechtslage kam es Ende des 19. Jahrhunderts zur Anlage des Grundbuches in Tirol. Dabei drängte die Statthalterei Innsbruck darauf, dass die Liegenschaften als Eigentum der betreffenden kirchlichen Pfründen und, bei Widerstand der zivilen Gemeinden, nicht auf die Gemeinde schlechthin, sondern wenigstens auf die römisch-katholischen Pfarrgemeinden eingetragen werden sollen27. So sind die meisten kirchlichen Liegenschaften auf die Pfründen oder Kirchen und nicht auf die Gemeinden eingetragen worden. Einige sind aber auch auf die r. k. Pfarrgemeinden eingetragen worden. Nach dem Anschluss Südtirols an Italien hat das Italienische Justizministerium erklärt, dass das vorhin genannte österreichische Gesetz noch in Geltung ist. Gleichzeitig hat es auch festgestellt, dass die vom österreichischen Gesetz Nr. 50 / 1874 vorgesehenen Pfarrgemeinden nie formell errichtet worden sind, dass darum die Verordnung des österreichischen Ministeriums für Kultus und Unterricht vom 31.12.1877 weiterhin in Geltung bleibt28. Auf die Anfrage im Innenministerium in Rom, wie wir uns gegenüber diesen Liegenschaften, die auf die r. k. Pfarrgemeinden eingetragen sind, verhalten sollen, hat das Ministerium geantwortet, dass auch diese Liegenschaften „considerata la natura e le finalità di cui trattasi“ auf die neu zu errichtenden Pfarreien übergehen und darum im Grundbuch auf sie eingetragen werden sollen29. Das Ordinariat hat daraufhin die 19 betroffenen Gemeindeverwaltungen angeschrieben und um ihre Zustimmung ersucht. Darauf hin haben zwei Gemeindeverwaltungen geantwortet, dass sie dies zur Kenntnis nehmen, alle anderen haben nicht reagiert. Darauf hin wurden alle Liegenschaften, die auf die r. k. Pfarrgemeinden eingetragen waren, auf die Pfarreien übertragen. b) Pfarrhäuser im Eigentum der zivilen Gemeinden Viele kirchliche Liegenschaften wurden bei der Anlage des Grundbuches auch auf die zivilen Gemeinden oder Fraktionen eingetragen. Durch diese

26

Verordnung vom 31.12.1877.

27

Erlass vom 14.08.1900 Nr. 31065.

28

Schreiben vom 9.7.1932 Nr. 24469.

29

Schreiben des Innenministeriums vom 23.03.1986.

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grundbücherliche Eintragung wurde aber der kirchliche Charakter des Eigentums nicht berührt. Aufschlussreich und wegweisend sind diesbezüglich die Entscheidungen des Wiener Verwaltungsgerichtshofes30. Nach dem Anschluss Südtirols an Italien hat das italienische Justizministerium, wie vorhin dargelegt, erklärt, dass die einschlägige österreichische Bestimmung als noch in Kraft befindlich zu betrachten ist. Dies hat immer wieder zu Schwierigkeiten geführt. Darum hat das Bischöfliche Ordinariat in den vergangenen Jahrzehnten mehrmals auf eine Klärung und Regelung gedrängt. So wurden in den vergangenen Jahrzehnten 31 Pfarrhäuser durch Schenkung des nackten Eigentums oder um einen symbolischen Kaufpreis von den Gemeinden auf die Pfarrkirchen übertragen. Gegenwärtig gibt es in der Diözese noch vier Pfarrhäuser und drei Mesnerpfründen, die auf zivile Gemeinden und 16 Pfarrhäuser und sechs Mesnerpfründen, die auf zivile Fraktionen eingetragen sind, aber mit jeweiligem Fruchtgenuss zugunsten des Seelsorgers oder des Mesners. IV. Übertragung der Liegenschaften auf die neuen Rechtsträger Bei der Durchführung des Vertrages vom Jahr 1984 musste den in Südtirol geltenden Sonderbestimmungen Rechnung getragen werden. Art. 28 des Vertrages sieht vor, dass das gesamte Vermögen der Benefizien zuerst auf das Diözesaninstitut für den Unterhalt des Klerus und dann bis zum 31.12.1989 taxenfrei vom Diözesaninstitut auf die Pfarreien bzw. Diözese übertragen werde. Allerdings sieht Art. 31 Abs. 3 des Vertrages die Möglichkeit vor, in Gebieten mit Grundbuchsystem die Liegenschaften direkt auf die Pfarreien bzw. die Diözesen zu übertragen. Das Zentralinstitut für den Unterhalt des Klerus hat aber darauf bestanden, die Liegenschaften auch in diesen Gebieten über das Diözesaninstitut zu übertragen. Wegen dieser und anderer Fragen, die ich zum Teil bereits erwähnt habe, kam es zu schriftlichen Auseinandersetzungen und zu mündlichen Aussprachen mit der Bischofskonferenz und dem Zentralinstitut. In einem Protestschreiben an den Vorsitzenden der Italienischen Bischofskonferenz Kardinal Ugo Poletti haben wir uns beklagt, dass man auf die Sondersituation in Südtirol nicht Rücksicht nimmt und um Verständnis für unsere besondere Situation ersucht. Daraufhin kam es zu einer langen Aussprache in Rom am Sitz der Italienischen Bischofskonferenz, bei der viele Fragen geklärt werden konnten31.

30 31

Wiener Verwaltungsgerichtshof 14.11.1878, 19.05.1882 und 30.09.1895.

An dieser Aussprache am 16.06.1985 nahmen teil: Mgsr. Attilio Nicora, Avv. Gilet, Avv. Gresele und ein Protokollist für die Bischofskonferenz. Für die römische

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Nach dem Gespräch in Rom hatte Unterfertigter ein ausführliches Gespräch mit dem für das Grundbuch zuständigen Regionalassessor in Trient und mit den 10 Grundbuchführern Südtirols, die sich bereit erklärt haben, die Liegenschaften, deren Eigentümer im Grundbuch „irgendwie kirchlich klingen“ zu erheben und dem Ordinariat die Listen zur Verfügung zu stellen, was dann auch geschehen ist. Daraufhin hat eine Arbeitsgruppe, bestehend aus vier Vertretern des Ordinariates und fünf vom Priesterrat gewählten Mitgliedern, in 23 Sitzungen sämtliche Güter der Benefizien gesichtet und Aufteilungsvorschläge erarbeitet. Die Vorschläge wurden den einzelnen Pfarreien unterbreitet und diese konnten dazu schriftlich oder mündlich Stellung nehmen. Vorgebrachte Wünsche wurden so weit als möglich berücksichtigt. Die Vorschläge mussten dann, versehen mit der Unterschrift des Pfarrers und des Vorsitzenden des Pfarrgemeinderates, an das Ordinariat geschickt werden, und entsprechend wurden die Zuteilungsdekrete ausgestellt. Nach einer Weisung des römischen Finanzministeriums mussten die Anträge um die Überschreibung der Liegenschaften der Kirchen und der Benefizien auf die neuen Rechtsträger durch den jeweiligen Pfarrer gestellt werden32. Um dies zu vereinfachen und die nötige Übersicht zu haben, haben in der Diözese alle Pfarrer, nach Bezirken gemeinsam, dem unterfertigten Generalvikar eine notarielle Vollmacht, die von vier Notaren entgegen genommen wurde, ausgestellt und so konnten alle Anträge an die 10 Grundbuchämter Südtirols innerhalb kürzester Zeit gestellt werden. Insgesamt sind gut 1.000 Anträge um Eigentumsübertragung an die Grundbücher gestellt worden, die mehr als 10.000 Bauund Grundparzellen betrafen. Für die Bauparzellen genügten nicht die Anträge an die Grundbuchämter, sondern es mussten auch die Anträge mit den nötigen Unterlagen an die vier Katasterämter in Bozen, Brixen, Bruneck und Meran gestellt werden. V. Ablöse der Patronatsrechte Mit dem Benefizialwesen eng verbunden ist das Patronatsrecht; c. 1448 CIC/ 1917 versteht unter Patronat die Summe von Privilegien und Pflichten, welche zugunsten der Kirche den katholischen Stiftern von Kirchen und Kultgebäuden, Kapellen oder eines Benefiziums und deren Nachkommen zugestanden werden. Rechte des Patrons sind das Präsentationsrecht für die Besetzung eines Benefiziums und Ehrenrechte, z. B. ein besonderer Platz in der Kirche, besondere Regierung Univ.-Prof. Dr. Cardia und Univ.-Prof. Dr. Mirabelli und für die Diözese unterfertigter Generalvikar. 32

Schreiben des Finanzministeriums vom 9.4.1988 Prot. 3/1473.

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Begräbnisstätte, Vorrang vor den übrigen Gläubigen bei Prozessionen. Der CIC/1983 erwähnt das Patronat nicht mehr, setzt es aber in den cc. 158 – 163 über die Bestimmungen des Präsentationsrechtes voraus. Das Patronat wird auch im Vertrag von 1984 nicht erwähnt, da es in Italien kaum bekannt ist. In der Diözese Bozen-Brixen gab es bei Abschluss des Vertrages 1984 noch 11 Patronate33. Da gemäß genanntem Vertrag alle Benefizien aufgehoben werden, wird ein wesentliches Recht des Patrons hinfällig, nämlich das Recht der Präsentation des Benefiziaten, also des Pfarrers, des Kuraten usw. Wir haben auch dieses Anliegen in verschiedenen Schreiben der Italienischen Bischofskonferenz unterbreitet. Man hat uns dann auf ein Motu Proprio Papst Paul VI.34 verwiesen, dass man mit den Patronatsinhabern verhandeln und zu einer gemeinsamen Regelung kommen möge35. Wir haben daraufhin mit allen Inhabern von Patronatsrechten Kontakt aufgenommen und sie ersucht, auf ihre Rechte zu verzichten. Darauf hin haben alle Patrone auf ihre Rechte verzichtet mit Ausnahme der Familie Brigl von Girlan, die dagegen Rekurs an den Staatsrat eingelegt hat, mit der Begründung, dass es sich um ein Familienbenefizium handle. Der Staatsrat hat ihr Recht gegeben. So ist dieses Benefizium in Girlan das einzige noch erhaltene Benefizium in der Diözese, das jederzeit vom Ordinariat besetzt werden kann. Graf Trapp von Schluderns hat auf das Patronat verzichtet, hat sich aber das Recht vorbehalten, bei Prozessionen mit seiner Familie unmittelbar hinter dem Allerheiligsten gehen zu dürfen. Graf Mamming hat auf sein Patronat in Milland nicht ausdrücklich verzichtet, hat aber nichts mehr hören lassen. Im Personal- und Ortsverzeichnis der Diözese BozenBrixen vom Jahre 1988 scheint kein Patronat mehr auf. VI. Inkorporierte Pfarreien Nicht wenige Schwierigkeiten bei der Durchführung des Vertrages von 1984 bereiteten die inkorporierten Pfarreien und Kuratien, die es in Südtirol gibt, nicht aber in anderen Diözesen Italiens; darum werden sie im Vertrag auch nicht erwähnt. Auch die Inkorporation ist eine typisch germanische Einrichtung. Aus dem Eigenkirchenwesen entwickelte sich nach dem Investiturstreit auch die Inkorporation. Ob diese mittelalterliche Inkorporation als Eigentumsübertragung oder als bloße Übertragung des Nutzungsrechtes zu verstehen ist, darüber sind die

33

Personal- und Ortsverzeichnis der Diözese Bozen-Brixen 1984.

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Motuproprio Ecclesiae Sanctae vom 6.8.1966 Art. 18 § 2.

35

Schreiben 8.4.1986 Nr. 590/86.

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Meinungen bis heute geteilt36. Die einen vertreten die sog. Eigentumstheorie, d. h. die Inkorporation beinhaltet das volle Eigentumsrecht des Inkorporationsträgers an der einverleibten Kirche oder am Benefizium und deren Vermögen. Die anderen vertreten die Nutzungstheorie, d. h. die Inkorporation ist eine ein für allemal geschehene Verleihung des Benefiziums an einen Orden oder an eine Abtei, wobei aber durch die Inkorporation hinsichtlich des Eigentums keine Änderung stattfindet. Kirche und Benefizium und etwaige Stiftungen bleiben die alten, sie bewahren ihre gesonderte juristische Persönlichkeit. Die einzelnen Vermögensbestandteile haben durch die Inkorporation ihre Eigentümer nicht gewechselt. Was eine Änderung erfahren hat, ist nur die Person des Benefiziaten, d. h. des Nutznießens des Benefiziums. Der CIC/1983 empfiehlt in c. 1272, dass die Benefizien womöglich abgeschafft werden. Nach c. 274 und 521 wird die Pfarrei nur mehr einem Priester, also einer physischen Person übergeben. Eine juristische Person kann nicht mehr Pfarrer sein, darum wird die „incorporatio pleno iure“ in c. 520 § 1 generell verboten. Ausdrücklich wird dieses Verbot in c. 510 § 1 aber nur hinsichtlich der einem Kapitel inkorporierten Pfarreien ausgesprochen. „Leges respiciunt futura, non praeterita“ sagt ein allgemeines Prinzip, außer dort, wo ausdrücklich etwas anderes bestimmt wird. Der CIC/1983 verbietet die Inkorporation, wie vorhin dargelegt, ausdrücklich nur in ein Kapitel; solche Pfarreien sind also zu exkorporieren. Nachdem aber hinsichtlich der einem Orden oder einem Stift inkorporierten Pfarreien nichts ausdrücklich gesagt wird, sind diese Inkorporationen sicher wohlerworbene Rechte der Orden und Stifte. Gemäß c. 4 bleiben wohlerworbene Rechte und Privilegien aber weiterhin bestehen, auch wenn sie gegen das Gesetz sind. In der Diözese Bozen-Brixen waren zur Zeit des Vertragabschlusses 1984 folgende Seelsorgen inkorporiert: − 12 Pfarreien und 3 Kuratien dem Augustiner Chorherrenstift Neustift, − 4 Pfarreien und 1 Kuratie dem Benediktinerkloster Muri-Gries, − 4 Pfarreien dem Benediktinerkloster Marienberg, − 8 Pfarreien dem Deutschen Orden und zwei ihm anvertraut, − 3 Pfarreien dem Zisterzienserstift Stams, − 1 Pfarrei dem Kollegiatskapitel Innichen. 36

Paul Hinschius / Ulrich Stutz / F. Verning, Lehrbuch des katholischen, orientalischen und protestantischen Kirchenrechts 1983, S. 461; Michael Mitterhofer, Inkorporierte Pfarreien, Bozen 1992, S. 18.

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Josef Michaeler

Insgesamt waren also 32 Pfarreien und 4 Kuratien einem Stift oder Orden inkorporiert und 2 anvertraut. Diese Inkorporationen gehen zum Teil auf das 12. und 13. Jh. zurück. Bischof Joseph Gargitter und Unterfertigter als Generalvikar haben dieses Anliegen der inkorporierten Seelsorgen bereits im oben genannten Gespräch in Campitello di Fassa dem Bischof Attilio Nicora vorgebracht und um klare Weisungen ersucht. Ebenso haben wir das Anliegen in mehreren Promemorien dem Vorsitzenden der Italienischen Bischofskonferenz, Kardinal Ugo Poletti, unterbreitet und ihn um Weisungen gebeten. In einem Gespräch mit dem Erzbischof Achille Silvestrini, Substitut des Vatikanischen Staatsekretariates, hat Unterfertigter das Anliegen nochmals aufgeworfen. Daraufhin kam es am Sitz der Italienischen Bischofskonferenz zu einem längeren Gespräch. Unterfertigter hat bei diesem Gespräch darauf hingewiesen, dass die Diözesanleitung nicht gewillt sei, wegen dieses Anliegens eine Auseinandersetzung oder auch nur eine Verstimmung mit den Orden auf sich zu nehmen. Daraufhin hat Msgr. Nicora erklärt, dass er dieses Anliegen sowohl mit dem Vatikanischen Staatsekretariat als auch mit der Römischen Regierung klären werde, dass es aber sehr schwierig sei, weil es in den anderen Diözesen Italiens die Inkorporation nicht gebe37. Am 5. Dezember 1985 fand dann eine erste Begegnung am Ordinariat in Bozen zwischen dem unterfertigten Generalvikar und den Äbten von Gries, Marienberg, Neustift, Stams und dem Prior des Deutschen Ordens von Lana statt. Bei diesem ausführlichen Gespräch wurde den Äbten die Entscheidung überlassen, ob sie die Liegenschaften der inkorporierten Benefizien dem Diözesaninstitut für den Unterhalt des Klerus überlassen und damit voll in das neue Besoldungssystem für die Priester eintreten wollen oder nicht. Am 4. Februar 1986 fand eine weitere Begegnung statt. Dabei erklärten die Äbte, dass sie in das „Besoldungssystem für die Priester“ eingegliedert werden möchten. Die inkorporierten Benefizien sollen auf das Diözesaninstitut übergehen, dafür sollen ihre Priester in der Seelsorge finanziell gleich behandelt werden wie die Diözesanpriester. Dies haben die Äbte auf Ersuchen des Ordinariates auch schriftlich erklärt. Nur der Prior des Deutschen Ordens von Lana und sein Provinzökonom haben Bedenken angemeldet. Am 15. Februar 1986 übergaben sie ein ausführliches Promemoria, in dem sie nachzuweisen versuchten, dass die Liegenschaften der dem Deutschen Orden inkorporierten Pfarreien Eigentum des Ordens sind. Der

37 Das Gespräch fand in Rom am 18.11.1985 statt. Am Gespräch haben teilgenommen Msgr. Lorente Torres, Sekretär der Religiosenkongregation, Msgr. Giovanni Layolo, Experte für Konkordatsfragen am Vatikan, Erzbischof Achille Silvestrini, Substitut am Staatsekretariat, Bischof Attilio Nicora, Beauftragter der Bischofskonferenz und Unterfertigter als Generalvikar.

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Deutsche Orden vertritt also hinsichtlich der Inkorporation die Eigentumstheorie, obwohl aus den Eintragungen im Grundbuch und aus den jeweiligen für die Auszahlung der staatlichen „Congrua sustentatio“ nie der Orden, sondern immer die Benefizien als Eigentümer der Liegenschaften aufscheinen. Am 25. August 1986 fasste dann das Provinzkapitel den Beschluss, alle Liegenschaften der inkorporierten Benefizien im Grundbuch auf den Orden zu übertragen. Dieser Beschluss ist in einer Zeit gefasst worden, in der die Verhandlungen noch voll im Gange waren, also in einer Zeit, in der die Benefizien weder von der Diözesanbehörde noch von staatlicher Seite unterdrückt waren. Es folgte nun ein langer Briefwechsel zwischen dem Ordinariat und dem Orden. Auch unterbreitete das Bischöfliche Ordinariat den Fall der Bischofskonferenz und ersuchte um deren Stellungnahme. Die Bischofskonferenz hat in einem Rundschreiben darauf hingewiesen, dass alle Benefizien, deren Inhaber die staatliche Kongrua bezogen haben, juristische Personen sind und darum in der Liste der aufzuhebenden Benefizien anzugeben sind, auch die inkorporierten. − Die inkorporierten Benefizien bilden eine Einheit. Wenn die Benefizien Eigentum des Ordens wären, dann wären dies auch die in den inkorporierten Pfarreien liegenden Kirchen; auch diese blieben dann weiterhin Eigentum des Ordens; dieser müsste für deren Erhaltung aufkommen. − Die Inhaber der dem Orden inkorporierten Pfarreien haben in der Vergangenheit die staatliche Kongrua bezogen. Die Kongrua wurde aber als Ergänzung für den Benefiziaten und nicht für den Orden gegeben. Durch die Annahme der Kongrua hat der Orden bejaht, dass auch seine Benefizien eigene juristische Personen sind. − Auch haben alle dem Deutschorden inkorporierten Benefizien die für die Benefizien vorgesehenen Steuererleichterungen in Anspruch genommen, was sie nicht tun hätten können, wenn sie Ordenseigentum gewesen wären. Schließlich kam es zu einem Kompromiss zwischen dem Ordinariat und dem Deutschen Orden, gemäß dem die Liegenschaften der inkorporierten Benefizien teils dem Orden, teils dem Diözesaninstitut für den Unterhalt des Klerus zugewiesen worden sind. VII. Schlussbemerkungen Wie aus diesen Ausführungen ersichtlich ist, hat die Durchführung des Vertrages vom 15. November 1984 in Südtirol auf Grund der alten österreichischen Gesetze, die hier zum Teil noch gelten, nicht wenige Schwierigkeiten bereitet. Dies wohl auch deswegen, weil die zuständigen römischen Stellen für die Sondersituation der Diözese Bozen-Brixen wenig Verständnis gezeigt haben.

KVW Träger vieler Dienste über die Grenzen hinweg Eine sozial-karitative Bewegung aus der Zeit der Nachkriegszeit Von Johannes Messner Univ.-Prof. Dr. Johannes Mühlsteiger SJ hat die aufschlussreichen Arbeiten von Johannes E. Schmidle „Die Anfänge der Caritasbewegung“1 und „Caritas in Tirol“2 betreut. Prof. Mühlsteiger hat mich vor Jahren wiederholt angesprochen, eine oder mehrere ähnliche Arbeiten zur christlich-sozialen und karitativen Tätigkeit in Südtirol zu erstellen. Ich konnte diesen Auftrag aber nie erfüllen. Hier soll ein Aspekt herausgegriffen werden: Wanderung aufgrund von Option wie aus Arbeitsgründen und der sozial-karitative Beitrag des Katholischen Verbandes der Werktätigen (KVW), der katholischen Arbeiterbewegung Südtirols. Ich darf mit einem Stück eigener Lebensgeschichte beginnen. Mein Vater, Bauer, hat 1939 optiert. Nach der Einführung der deutschsprachigen Volksschule musste ich weiterhin die italienische Volksschule besuchen, mein Vater bestand darauf. Ich kam 1941 in das Diözesane Knabenseminar Vinzentinum nach Brixen, wo es für Kinder von Optanten und Nichtoptanten („Dableiber“ genannt) unterschiedliche Anforderungen gab. Zu Weihnachten kam ich erstmals nach Hause. Da sagte mein Vater: „Gehen wir, dem Podestà gute Weihnachten wünschen“. Dabei ließ mich eine Formulierung des Podestà aufhorchen: „Tuo padre ha fatto bene a rioptare“ (Dein Vater hat gut getan umzuoptieren). Ich bin erschrocken: Wo gehöre ich nun im Vinzentinum hin? Soll ich das dort mitteilen? Ich habe es nicht getan und blieb im Kreis der Optantenschüler. Jahrzehnte später hatte ich immer noch Angstträume, dass ich aus dem Vinzentinum entlassen sei. Aus dieser Zeit erinnere ich mich an einen Brief meiner Mutter, worin sie schrieb: Bete für den Vater, es geht ihm gar nicht gut.

1

J. E. Schmidle, Die Anfänge der Caritasbewegung. Der „Landes-Verband der katholischen Wohltätigkeits-Unternehmungen von Tirol – ‚Barmherzigkeit‘“ bis 1909, Wien / Salzburg 1980. 2

J. E. Schmidle, Caritas in Tirol. Der Caritas-Gedanke im 19. Jahrhundert und seine Verwirklichung im „Tiroler Karitasverband“, Wien / Salzburg 1990.

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Und vom Vater erinnere ich mich aus jener Zeit an einen Aufschrei: „Was habe ich meiner Familie angetan (durch die Option)! Ich ließ mich gerne an der Haustür erschießen, wenn nur meine Familie hier bleiben könnte“. Als am 8. September 1943 die deutschen Truppen einmarschierten, da war meine erschreckende Feststellung: Mein Vater hat falsch gehandelt. Als 1945 die Amerikaner kamen, da war meine neue Erkenntnis: Mein Vater hat doch richtig gehandelt. 1946 unterschrieb ich für den Anschluss Südtirols an Österreich. Später wurde ich wegen Zusammenarbeit mit italienischen Organisationen, insbesondere mit der italienischen Christlichen Arbeiterbewegung ACLI (Associazioni Cristiane Lavoratori Italiani), die ich für ganz wichtig hielt und halte, als zu italienfreundlich und zu links stehend bezeichnet. Wo gehöre ich seelisch hin? Wo gehöre ich rechtlich hin? Welche Rechte begleiten bzw. haben Bürger, Aus- und Rückwanderer über die Grenzen hinweg begleitet? In meiner Heimatgemeinde Rasen war ich 1930 als „Giovanni Giuseppe“ eingetragen worden. Als ich erklären konnte, dass ich „Johannes“ heißen will, fragte die Gemeinde Brixen nach, ob ich „Johann Giuseppe“ oder doch „Johann Josef“ heißen wolle. 50 Jahre durfte ich Südtiroler auf ihren Wanderwegen begleiten, im Inland etwa die Südtiroler Hausmädchen in Rom oder im Ausland die Südtiroler Grubenarbeiter in Dinslaken im Ruhrgebiet, die dort am 20. Februar 1956, dem Andreas Hofer-Tag, zum ersten Mal in die Grube fuhren. I. Option Die Option 1939 war für die deutsche Bevölkerung Südtirols ein zutiefst verletzendes folgenschweres Ereignis mit kaum abschätzbaren materiellen und seelischen Folgen. Am 23. Juni 1939 wurde in Berlin – Berliner Vereinbarung – zwischen Italien und Deutschland die Umsiedlung der deutschen Einwohner Südtirols beschlossen. Sie mussten bis zum 31. Dezember 1939 entweder für die deutsche Staatsangehörigkeit „optieren“ – mit der Verpflichtung zur Aussiedlung – oder sich für die Beibehaltung der italienischen Staatsbürgerschaft und den Verbleib in der angestammten Heimat entscheiden, allerdings in der Gewissheit, dort fortan keinen Schutz für ihr Volkstum mehr in Anspruch nehmen zu können. Insgesamt optierten für Deutschland in den Vertragsgebieten 210.450 Personen. Vertragsgebiete waren die Provinz Bozen (203.150 Optanten), die deutschen Sprachinseln Fersental und Lusern im Trentino (1.190), Buchenstein in der Provinz Belluno (1.050) und das Kanaltal in der Provinz Udine (5.060). Ebenso konnten in Altitalien lebende Südtiroler deutscher Muttersprache optieren (ca. 3.600). 34.000 optierten für die Beibehaltung der italienischen Staatsbürgerschaft und das Bleiben in der Heimat („Dableiber“). Von den Optanten – der

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Zweite Weltkrieg verhinderte die vollständige Umsiedlung, die schon 1941 zum Erliegen kam – wurden etwa 74.500 ausgesiedelt.3 Für die reichsdeutschen Staatsangehörigen bestand ein absoluter Zwang zur Umsiedlung. Für die deutschsprachigen italienischen Staatsangehörigen, also für die Südtiroler, gab es wenigstens optisch eine freiwillige Willensäußerung. Die Abgabe der Option begann am 15. September 1939 und endete für die Mehrzahl der Betroffenen am 31. Dezember 1939, für Priester am 30. Juni 1940. Doch bereits im April 1939 erhielt Gauleiter Franz Hofer von Berlin den Auftrag, eine Studie über die Ansiedlung von 30.000 Südtiroler Bauern im Gau Tirol-Vorarlberg erarbeiten zu lassen.4 Die Durchführung der Aussiedlung sollte zunächst am 1. Jänner 1940 beginnen und am 31. Dezember 1943 beendet sein. Im September 1939 nahmen die amtlichen deutschen Ein- und Auswandererstellen ADERSt in Südtirol ihre Arbeit auf5. Im Herbst wurde mit der Umsiedlung begonnen.6 Nach dem (kurz zuvor zusammengestellten) Monatsbericht der ADERSt waren bis zum 8. Oktober 1944 81.754 „Abfertigungen zur Abwanderung“ durchgeführt worden: 76.925 Volksdeutsche und 4.829 Reichsdeutsche.7 Die Zahl von über 80.000 Umsiedlern dürfte zu hoch angesetzt sein, da in die Statistiken der ADERSt vielfach auch zur Wehrmacht einberufene Südtiroler oder Schüler der „Reichsschulen für Volksdeutsche“ aufgenommen wurden. Berechnungen aus der Nachkriegszeit ergaben, dass insgesamt etwa 75.000 Südtiroler ihre Heimat verlassen haben.8 Zielgebiete waren: Nordtirol (38.500 Südtiroler), Vorarlberg (5.700), Salzburg (3.900), Oberösterreich (4.500), Steiermark, Kärnten mit Osttirol (5.600), Wien mit Niederösterreich und Burgen-

3

H. Alexander / S. Lechner / A. Leidlmair, Heimatlos, Die Umsiedlung der Südtiroler. Hrsg. v. Tiroler Landesinstitut (Innsbruck und Bozen), Wien 1993, S. 167. 4

Alexander / Lechner / Leidlmair, Heimatlos (Anm. 3), S. 22.

5

Alexander / Lechner / Leidlmair, Heimatlos (Anm. 3), S. 33.

6

Alexander / Lechner / Leidlmair, Heimatlos (Anm. 3), S. 37.

7

Statistischer Monatsbericht der Amtlichen Deutschen Ein- und Rückwandererstelle, September 1944; BA Koblenz, R 49/2730. Vgl. Alexander / Lechner / Leidlmair, Heimatlos (Anm. 3), S. 99. 8

Alexander / Lechner / Leidlmair, Heimatlos (Anm. 3), S. 22.

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land (1.800), Deutschland in den Grenzen von 1937 (10.800), andere Gebiete (3.700).9 Im Geheimen wurden nach der Option für Deutschland Anträge auf Umoption gestellt. Von 50.000 entsprechenden Anträgen seien rund 12.000 angenommen worden.10 Nach dem Krieg wurde diese Umoption von Italien völlig verschwiegen. Vielleicht sind dadurch weitere Spannungen vermieden worden. Bis 1938 war der Wanderungssaldo in Südtirol stets positiv durch Zuwanderung aus Altitalien.11 Doch für das Jahr 1940 führt die Statistik zur Entwicklung der Wohnbevölkerung in Südtirol einen negativen Wanderungssaldo von 24.443 Personen an, für 1941 einen Wanderungssaldo von 9.610, 1942 7.025, 1943 6.127 und 1944 5.467. Mit Kriegsende 1945 wird der Wanderungssaldo wieder positiv durch Rückwanderung und auch Zuwanderung aus dem Süden. Ab 1956 bis 1988 weist Südtirol wieder einen negativen Wanderungssaldo auf zufolge der Auswanderung aus Arbeitsgründen nach der Bundesrepublik Deutschland und nach der Schweiz. Von 1988 an hat Südtirol wieder einen leichten positiven Wanderungssaldo.12 Von den rund 74.500 Umsiedlern sind in der Zeit von 1945 – 1955 rund 21.000 wieder nach Südtirol zurückgekehrt, davon ca. 12.000 illegal.13 II. Die ausgewanderten Südtiroler in Österreich in der Nachkriegszeit Die in den Jahren 1939 – 1944 ausgewanderten Südtiroler waren nicht überall gern gesehen. Vielfach wurden sie als treue Gefolgsleute des Nationalsozialismus betrachtet. Auch war ihre Staatsbürgerschaft ungeklärt. In sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht ging es ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg meist noch schlechter als zuvor. Das transferierte Vermögen war ihnen nicht ausgezahlt worden. Somit konnten sie es nicht in Sachgütern anlegen. Das Geld auf den Sparkonten verlor aber durch die Währungsreform völlig an Wert. Grenzsper-

9

A. Leidlmair, Bevölkerung und Wirtschaft in Südtirol, Tiroler Wirtschaftsstudien, Innsbruck 1958, S. 78. 10

O. Parteli, Geschichte des Landes Tirol, Bd. 4/1, Bozen 1988, S. 378.

11

ASTAT Schriftenreihe 85, Südtirols Bevölkerung – gestern, heute, morgen – 19362010, Autonome Provinz Bozen-Südtirol, Bozen 2001, S. 27. 12

ASTAT Schriftenreihe 91, Die Bevölkerung in Südtirol. Eine Analyse auf Gemeindeebene 1940 – 2000, Autonome Provinz Bozen-Südtirol 2002, S. 9 f. und S. 218. 13

Parteli, Geschichte des Landes Tirol (Anm. 10), S. 378.

KVW Träger vieler Dienste über die Grenzen hinweg

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ren verhinderten, dass Kinder zu Verwandten nach Südtirol gebracht werden konnten. Erst ab September 1947 konnten Südtiroler ihren Verwandten in Österreich über das Rote Kreuz Lebensmittel und Textilien schicken, so weit sie nicht der Rationierung unterlagen. Auch Südtiroler Hilfsorganisationen wie Vinzenzverein und Caritas sammelten Obst und andere Lebensmittel, die an die Südtiroler in Österreich verteilt wurden.14 Die rechtliche Stellung der Südtiroler in Österreich war nach dem Zweiten Weltkrieg ein großes menschliches wie rechtliches Problem. Sie war lange ungeklärt. Bis 1945 waren die ausgewanderten Südtiroler reichsdeutsche Staatsangehörige gewesen. Dann wurden sie je nach Besatzungszone unterschiedlich eingestuft. So wurden die Südtiroler bald als reichsdeutsche Staatsbürger, bald als Italiener, als Österreicher, als „displaced persons“ oder als Staatenlose betrachtet oder geführt. Auf ihren provisorischen Papieren stand: Reichsdeutscher, Österreicher (Südtiroler), Staatenlos oder gar nur Südtiroler. Dieser Zustand bedeutete für sie große Unsicherheit. Am 16. Juli 1945 beschloss die Tiroler Landesregierung, alle sich zu diesem Zeitpunkt in Tirol befindlichen Südtiroler bis zur Regelung ihrer Staatsbürgerschaft als Österreicher zu behandeln. In den Genuss dieser Regelung sollten allerdings nur jene Südtiroler kommen, die erklärten, dass sie eine Rückkehr nach Südtirol bei sich bietender Gelegenheit aus eigenen Stücken wahrnehmen würden. Das brachte einige Aufregung unter die Südtiroler in Österreich. Laut Kabinettsbeschluss vom 29. August 1945 sollten dann die Südtiroler Umsiedler zunächst so behandelt werden, als hätten sie am 13. März 1938 die österreichische Bundesbürgerschaft besessen, wodurch sie aufgrund des Staatsbürgerschafts-Überleitungsgesetzes am 27. April 1945 österreichische Staatsbürger geworden wären.15 Bis in die sechziger Jahre bildete diese Art der Gleichstellung mit österreichischen Staatsbürgern für Tausende Südtiroler Umsiedler die Voraussetzung ihrer rechtlichen und wirtschaftlichen Existenz. Das Interesse Österreichs und der Südtiroler Volkspartei (SVP) an der Rücksiedlung aller Südtiroler nach Südtirol/Italien war Grund all dieser Teillösungen. Deshalb war auch die SVP gegen die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft an Südtiroler. Bei Inkrafttreten des Optantendekretes im Februar 1948 lebten in Nord- und Osttirol 26.000 Südtiroler ohne österreichische Staatsbürgerschaft. Durch die

14 15

Alexander / Lechner / Leidlmair, Heimatlos (Anm. 3), S. 181 f.

Alexander / Lechner / Leidlmair, Heimatlos (Anm. 3), S. 184. Vgl. Rolf Steiniger, Südtirol zwischen Diplomatie und Terror 1947 – 1967 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs, Bd. 1), Bozen 1999, S. 99 ff.

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Rückoption wurden die Südtiroler Umsiedler dann wieder geteilt, diesmal in Rückoptanten und Nicht-Rückoptanten. Durch den Beschluss vom 10. Mai 1949 wurden die Nicht-Rückoptanten gegenüber den Rückoptanten eindeutig benachteiligt. Diese Vorgangsweise sei aber vom Gesamtverband der Südtiroler in Österreich (GVS) selbst gewünscht worden. In fast allen Bundesländern Österreichs hatten sich Südtiroler Vereine gebildet: Verband der Südtiroler in Vorarlberg, Verband der Südtiroler in Tirol, Bund der Südtiroler in Osttirol, Verband der Südtiroler in Salzburg, OÖ-Verband der Südtiroler und Freunde Südtirols, Tiroler Bund in Wien und Bund der Südtiroler in der Steiermark.16 Am 6. Oktober 1946 schlossen sich die Verbände der Südtiroler in den österreichischen Bundesländern zu einem Gesamtverband der Südtiroler in Österreich (GSV) mit Sitz in Innsbruck zusammen. Dieser mühte sich sehr um Information und Erfahrungsaustausch mit Südtirol. Er verstand sich als unpolitische Interessengemeinschaft und betrachtete die Rücksiedlung nach Südtirol als seine Hauptaufgabe. Erst ab 1952, als klar wurde, dass die meisten Umsiedler nicht mehr nach Südtirol zurückkehren würden, beschäftigte sich der Gesamtverband mehr mit den Bedingungen eines Verbleibens der Südtiroler in Österreich. Die wichtigste dieser Bedingungen aber war der Erwerb der Staatsbürgerschaft.17 Der Information der Südtiroler in Österreich diente die Mitgliederzeitung „Südtiroler Heimat“, die heuer das 60-jährige Bestandsjubiläum feiert. Nach dem Paketabschluss vom Jahre 196918 trat als Gesprächs- und Informationspartner der Katholische Verband der Werktätigen (KVW) stark in den Vordergrund. Es war ein halböffentlicher Gesprächspartner durch seine von Gesetzen und internationalen Abkommen geregelten Beratungs- und Informationsdienste. Nach dem Jahrzehnt des Aufbaus in Südtirol wurde der KVW sich immer stärker seiner Verantwortung gegenüber den Südtirolern in Österreich, Deutschland, Schweiz und Liechtenstein wie in der weiten Welt bewusst. Die ab Mitte der fünfziger Jahre aus Arbeitsgründen nach Deutschland ausgewanderten Südtiroler, vor allem junge Männer und Frauen, bildeten eine ganz neue Gruppe von ausgewanderten Südtirolern. Engen Kontakt zu diesen pflegte die Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne KVW in Bozen.

16

Südtiroler Heimat. Mitteilungen an die Mitglieder der Südtirolerverbände, Jänner/Februar 2006, 60. Jg., S. 5. 17 18

Alexander / Lechner / Leidlmair, Heimatlos (Anm. 3), S. 189.

Südtirols Autonomie. Beschreibung der autonomen Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten des Landes Südtirol, Autonome Provinz Bozen-Südtirol, Juni 2000, 6. Auflage, S. 13 ff.

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III. Das Patronat KVW/ACLI ein neuer sozialer Dienst Vor dem Ersten Weltkrieg hatte Südtirol ein reich gegliedertes Vereins- und Verbandsleben. Faschismus, Option und Nationalsozialismus haben dieses, wenn nicht zerstört, so doch arg geschwächt. Von Italien her bot sich nach Kriegsende ein neues Modell an. Es war das Modell der ACLI (Associazioni Cristiane Lavoratori Italiani) mit ihren Dienstleistungen, insbesondere dem Patronatsdienst. Die ACLI waren 1944 als christliche Fraktion in der Einheitsgewerkschaft CGIL (Confederazione Generale Italiana del Lavoro) und zugleich als vorgewerkschaftliche Organisation der christlichen Arbeiter gegründet worden. Mit dem Aufbau der italienischsprachigen ACLI wurde auch in Südtirol gleich nach dem Krieg begonnen, doch die deutsche Bevölkerung wurde von der neu gegründeten Bewegung ACLI kaum angesprochen, erst recht nicht erfasst. Für sie brauchte es an der Seite der italienischsprachigen Bewegung und als Vertretung gegenüber den italienischsprachigen Institutionen eine deutschsprachige, dolmetschende, bodenständige Bewegung mit entsprechenden sozialen Diensten. Auf nationaler Ebene gingen Gründung und Aufbau der Bewegung ACLI dem Aufbau des Dienstes des Patronates voraus. Bei der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols hat man zunächst alle Kräfte in den Aufbau des Patronates KVW (Katholischer Verband der Werktätigen) gesetzt, in die Gewinnung ehrenamtlicher Sozialberater, genannt Sozialfürsorger, und in die Errichtung von Patronatskanzleien. Auf den Aufbau des Patronates KVW folgte Schritt für Schritt der Auf- und Ausbau der Bewegung KVW. Das Patronat war gleichsam die „Lokomotive“.19 Papst Pius XII. hat die Bedeutung der ACLI, die unersetzliche Rolle der christlichen Arbeiterbewegung immer wieder unterstrichen.20 Die Ortskirchen von Brixen und Trient machten sich dieses Anliegen zu Eigen und riefen in ihren Amtsblättern zum Aufbau des KVW als Bewegung und als Patronat auf. Sie förderten diesen Dienst durch eine eigene Kirchensammlung. So kündigte das Brixner Diözesanblatt im Jänner 1948 die Gründung des KVW an: „Für die deutsche Volksgruppe Südtirols ist einvernehmlich mit der Kurie von Brixen und Trient eine ähnlich aufgebaute, den besonderen Erfordernissen unseres Landes angepasste Organisation geplant, die auf dem leider allzu vernachlässigten, heut19 Ein Beitrag für eine menschengerechte Gesellschaft, Referat von Prof. Dr. Johannes Messner zum Tag der Sozialfürsorge 1992. Hrsg. v. KVW, 1994, S. 12. 20

1948.

Pius XII., Ansprache an die Teilnehmer des Internationalen Kongresses, 29. Juni

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zutage aber ausschlaggebenden Gebiet der Arbeit die sozialen Rechte aller Südtiroler in Zusammenarbeit mit der italienischen ACLI … kraftvoll verteidigt.“21 „Jeder Pfarrer, besonders größerer Pfarreien, sehe schon jetzt zu, eine geeignete, opferfreudige, gut katholische Vertrauensperson ausfindig zu machen, die bereit ist, diesen wichtigen und nicht allzu schweren Sozialfürsorgedienst zu übernehmen. Vor allem eignen sich weibliche Kräfte dazu. (Alles benötigte Material und eingehendste Erläuterungen des Aufgabenbereiches werden in Bälde jeder Pfarrei zugehen). Es ist auf jeden Fall ratsam, diese Tätigkeit Laien anzuvertrauen, die eine gewisse Vorbildung haben (Gemeindeangestellte, Lehrer, Mitglieder der Katholischen Aktion oder anderer Vereine)“.22

Wohl einmalig ist dieser Einsatz der Amtsblätter der Diözesen Brixen und Trient für die Gründung und den Aufbau der Arbeiterbewegungen KVW/ACLI. Aber ähnliches gilt für den Aufbau der Gewerkschaft Confederazione Italiana Sindacati Liberi (Südtiroler Gewerkschaftsbund SGB/CISL) im Jahre 1948. Mit einer heute kaum vorstellbaren Dynamik und Begeisterung wurden Sozialfürsorger gewonnen und Ortsgruppen aufgebaut. Jugendgruppen traten geschlossen dem KVW bei. Theologiestudenten übernahmen die Obmannstelle. In alle Gremien wurden Frauen aufgenommen. Diese stellten in vielen Gruppen die Mehrheit. Die Bewegung wuchs dank der sozialen Dienste und trug ihrerseits die sozialen Dienste mit. Es herrschte soziale Aufbruchstimmung.23 Man dachte zunächst wohl nur an die in Südtirol lebende Bevölkerung. Sie sollte in den Genuss des neuen italienischen Sozialsystems kommen. Dem neu gegründeten KVW ging es um die Regelung des Verhältnisses zu den ACLI und um die rechtliche Absicherung der Bewegung und vor allem ihrer Dienste. Auf einer überregionalen Tagung in Bologna vom 10./11. Dezember 1950 wurde das spezielle Verhältnis des Patronates ACLI/KVW in Bozen besprochen.24 Auf der interregionalen Tagung in Padua vom 17./18. Februar 1951 wurde in Anwesenheit von Dr. Alcide Berloffa aus Bozen, einer der späteren Väter des Südtirolpaketes, auch über die Sonderstatuten des KVW verhandelt.

21

Brixner Diözesanblatt, 1948 / 1, S. 10.

22

Brixner Diözesanblatt, 1948 / 1, S. 12.

23

Vgl. H. Johannes, Die Sozialarbeit des K.V.W. (= Schriftenreihe des Südtiroler Wirtschafts- und Sozialinstituts, Bd. 37), 1969; L. Toepfer, Die Abwanderung deutschsprachiger Bevölkerung aus Südtirol nach 1955 (= Schriftenreihe des Südtiroler Wirtschafts- und Sozialinstitutes, Bd. 62), 1973; Th. Stürz, Der Katholische Verband der Werktätigen (KVW). Die Aufgaben und Leistungen im Laufe seiner Geschichte, Diplomarbeit an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen, Mai 1994. 24

Tagungsbericht Tabarelli (Privatarchiv).

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1085

So haben die nationalen ACLI dem KVW bereits in den frühen fünfziger Jahren Autonomie gewährt. Die Zusammenarbeit von ACLI und KVW hat gehalten auch in den politischen wie kirchlichen Krisenjahren, trotz Versuchen, sie zu sprengen. Beiden, dem KVW und den ACLI, hat diese Zusammenarbeit einiges gekostet. Sie bedeutete Verzicht auf gewisse Förderungsmittel, den ACLI, weil sie mit dem deutschen KVW zusammenarbeiteten, dem KVW, weil er mit den italienischen ACLI zusammenwirkte. Darum erschien manchem keine dieser Bewegungen ganz vertrauenswürdig. Sie trug beiden den Vorwurf des Verrates ihrer Sprach- bzw. Volksgruppe ein. Die Zusammenarbeit hat sich aber gelohnt. Sie hat viel gebracht, wohl auch, weil Dienste, wie der KVW sie anbietet, von auf nationaler Ebene vertretenen Bewegungen getragen sein müssen. IV. Was ist ein Patronat? Die Patronate sind gesetzlich errichtete Institutionen und müssen von Verbänden auf nationaler Ebene getragen sein. Die Patronate haben die Aufgabe, die Arbeiter gegenüber den Versicherungsinstituten im Verwaltungs- und Gesetzeswege zu vertreten sowie ihnen in allen Fragen der Sozialversicherung jede nötige Hilfe anzubieten, darin Auskunft zu erteilen und bei der Abfassung von Gesuchen behilflich zu sein. Studium von Versicherungsfragen und Anregungen für gesetzliche Regelungen sind weitere Aufgaben. Die Patronate dürfen aber nur jene Personen vertreten, die ihnen eine Vollmacht unterschrieben haben. Außer den Patronaten dürfen weder Einzelpersonen noch Agenturen diesbezüglich Vertretungsvollmachten übernehmen. Die Überwachung der Patronate steht dem Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge zu, das die Kontrolle durch das Arbeitsinspektorat ausübt. Die Patronate sind verpflichtet, dem Ministerium jährlich Tätigkeits- und Rechenschaftsbericht zu geben. Steuerrechtlich sind sie der öffentlichen Verwaltung gleichgestellt. In Südtirol gibt es zurzeit elf Patronate. Ihr Dienst ist auf gesamtstaatlicher Ebene wichtig, wenn auch ihre Bedeutung nach Regionen unterschiedlich ist. In Südtirol steht das Patronat KVW/ACLI weitaus an erster Stelle mit 45 Prozent aller behandelten Fälle und ist fast allein zugegen in der Bearbeitung von sozialversicherungsrechtlichen Fragen von Südtirolern im Ausland. Die anderen Patronate sind in diesen zwischenstaatlichen Aufgabenbereich kaum eingestiegen. Und doch erweist sich dieser Dienst immer noch für notwendig. Gemäß Statuten werden in den jährlichen Berichterstattungen, die seit 1948 vorliegen, folgende Aufgabenbereiche bzw. Kompetenzen angeführt: Unfälle und Berufskrankheiten: Gewährung von Tagesentschädigungen, Unfallrenten, Abfindungen; Invalidenrenten: betreffend die verschiedensten Fürsorgekassen, im Abkommen mit der EG und dem konventionierten Ausland; Alters-, Dienst-

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alters-, Hinterbliebenen- und Sozialrenten: Anträge um Leistungen aus den verschiedensten Fürsorgekassen (der allgemeinen Pflichtversicherung, den Sonderfonds usw.), im Abkommen mit der EG und dem konventionierten Ausland; Tuberkulosenversicherung: Anträge auf wirtschaftliche und sanitäre Leistungen; Arbeitslosenunterstützung: in der Landwirtschaft, in den anderen Sektoren, gewöhnliche Arbeitslosenunterstützung, besondere Leistungen an Landarbeiter und Bauarbeiter, Leistungen an Rücksiedler aus dem Ausland; Familienzulagen: Leistungen an Landarbeiter und Hausangestellte, Genehmigungen auf Anzahlung der Familienzulagen, Familienzulagen an selbständige Bauern, Familienzulagen auf Rentenleistungen sowie Rentenzuschüsse; Anträge auf freiwillige Weiterversicherung in der allgemeinen Pflichtversicherung, in Sonderfonds der Bauern, Handwerker und Kaufleute, Anträge auf Weiterzahlung der Beiträge im Ausland, Aufzahlung der Tagschichten in der Landwirtschaft, Anträge auf Gutschrift von Ersatzzeiten, Anträge auf Erlass der „Dichiarazione Integrative“ und der „Notificazione“, Anträge auf Ausstellung des Matrikelblattauszuges, Nachkauf von Zeiten 1920/26, Nachkauf der Zeiten 01.07.1920 – 31.08.1950, Nachkauf der Zeiten im Ausland, Anträge an Region um Kostenzuschüsse, Nachkauf des Hochschulstudiums, Anträge auf Feststellung von Zeiten nach dem deutsch-italienischen Abkommen vom 27.01.1976, Transferierung von Beiträgen nach dem Gesetz 322, Zusammenlegung von Versicherungszeiten nach dem Gesetz 29/1979, Rückversicherung betreffend die letzten zehn Jahre, Ermittlung von Versicherungspositionen, direkte und indirekte Kriegspensionen, Stellenvermittlung im Haushalt u. a. m.; Rückmeldungen und Rekurse beim Amt für Einheitsbeiträge in der Landwirtschaft; Beistand in Krankheitsfällen, Eingaben und Einsprüche bei Krankenkassen; Fachärztliche Untersuchungen; Eingaben bei Gericht.25 1948 wurden 4.817 Akten behandelt, 1950 waren es 6.377 Akten, 1960 waren es 20.155 Akten, 1970 43.016 Akten, 1980 66.945, 1990 50.068, 2000 58.847 Akten und 2004 waren es 45.052 Akten. Jahrzehntelang wurde über den RAI-Sender Bozen an Sonntagen die Radiosendung „Die Brücke“ durch die Direktoren des Patronates KVW/ACLI Sandro Amadori und Sebastian Wieland zu Versicherungsfragen gestaltet. Neue Aufgaben für die Patronate Als eine gute Nachricht wurde jüngst von der Tageszeitung „Avvenire“, Ausgabe vom 10. Februar 2006, unter dem Titel „Permessi di soggiorno anche

25

Tätigkeitsbericht des Patronates KVW/ACLI, in: Arbeit und Gemeinschaft. Blatt für die Südtiroler Werktätigen, 1981, Nr. 4, S. 5.

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ai Patronati“ mitgeteilt, dass Gesuche um Aufenthaltsgenehmigung nun nicht nur bei der Quästur und dem Kommissariat eingereicht werden können, sondern auch über die Patronate.26 Damit vertraut ihnen das Innenministerium eine zentrale Aufgabe an. Sie haben nicht nur den Eingewanderten zu helfen, sondern haben über Internet Zugriff zu den entsprechenden Daten des Amtes für öffentliche Sicherheit. Der Nationalpräsident der ACLI Luigi Bobba bezeichnet dies als eine kulturelle Revolution: „Bisher war die Einwanderung ein Anliegen der öffentlichen Sicherheit, nun ist sie zu einer politischen und Verwaltungsangelegenheit geworden.“ Diese Vereinbarung ist am 9. Februar 2006 zwischen dem Innenministerium und den Patronaten unterzeichnet worden. Die Patronate haben die Ausländer zu beraten, was Beschaffung der Dokumente betrifft, und bei der Ausfüllung von Dokumenten und Formblättern zu helfen.27 V. Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne Nach 1939 war Südtirol belastet von der Auswanderung aufgrund des Berlin-Abkommens, in den Nachkriegsjahren durch mühsame Rückwanderung von Optanten, aber mehr durch italienische Zuwanderung. Gleichzeitig bildete sich eine neue Auswanderung. Dazu schreibt Bischof Joseph Gargitter 1961: „Schon in den früheren Jahren mussten alljährlich eine Anzahl jugendlicher Arbeiter in die Fremde gehen, zum Teil auch ins Ausland, um dort Arbeit zu suchen. In diesem letztvergangenen Jahr hat aber plötzlich eine wahre Lawine der Abwanderung junger Menschen eingesetzt.“28

Während politische Kräfte gegen die Zuwanderung kämpften und in dieser die Gefährdung der deutschen Volksgruppe sahen, waren gesellschaftliche und kirchliche Kräfte zutiefst betroffen von der Abwanderung junger Südtiroler und Südtirolerinnen. Der KVW setzte sich auf verschiedenen Tagungen mit diesem Personenkreis auseinander. 1956 hatte sich der Landesausschuss KVW unter dem Vorsitz von Landesobmann Dr. Franz Kemenater mit einem Angebot der Hamborner AG zu befassen. Im Protokoll heißt es: 200 Südtiroler arbeiten bereits im Ruhrgebiet. 200 weitere möchten demnächst die Hamborner AG einstellen, und der KVW wird ersucht, die Anwerbung dieser Leute zu über-

26

„Permessi di soggiorno anche ai Patronati“, in: Avvenire (Tageszeitung), 10. 02. 2006, S. 8. 27

Vgl. „Convenzione Patronati – Ministero dell’Interno sulle procedure e i permessi di soggiorno“ vom 09.02.2006, in: Avvenire, 10. 02. 2006, S. 8. 28

Fastenhirtenbrief, in: Brixner Diözesanblatt 1961, S. 15.

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nehmen. Nach einer sehr erhitzten Sitzung wurde der Antrag abgelehnt mit der Begründung, die Lösung der Arbeitslosigkeit in Südtirol könne nicht durch Entsendung unserer jungen Arbeiter in den deutschen Bergbau liegen, sondern in Südtirol selbst sollen industrielle Arbeitsplätze geschaffen werden, der Berufsausbildung vorrangig Aufmerksamkeit geschenkt und Lehrlingsheime errichtet werden. Am 20. Februar 1956, dem Gedenktag Andreas Hofers, begannen 40 junge Südtiroler ihre Arbeit auf der Schachtanlage Lohberg in Dinslaken.29 Doch noch vor den Bergknappen wanderten in den fünfziger Jahren Südtiroler Mädchen in die Haushalte der Großstädte Italiens wie Venedig, Mailand, Genua, Florenz, Neapel und vor allem nach Rom. Die Begleitung dieser jungen Menschen erfolgte im Rahmen der deutschsprachigen Seelsorge der verschiedensten Städte, vor allem in Rom an der deutschen Nationalkirche S. Maria dell’Anima. Dort trafen sie sich, dort erhielten sie Beratung und Gemeinschaft. Unter den ersten, die an der Betreuung in Rom mitwirkten, war der spätere Generalvikar von Bozen-Brixen Josef Michaeler. 1956 gründete der Katholische Verband der Werktätigen zusammen mit der Katholischen Bewegung und dem Mädchenschutz die Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne. Die Wanderung hat sich dann aus Italien nach der Schweiz und nach Deutschland verlagert. Die Diözese Brixen stellte damals den Diözesanpriester Norbert Wilhalm zur Betreuung von Lehrlingen in Bayern und Baden-Württemberg frei. An zentralen Orten der Schweiz, des Fürstentums Liechtenstein und Deutschlands schlossen sich die Südtiroler zu Vereinen zusammen und trafen sich regelmäßig. Die Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne besuchte sie, beriet sie durch Fachkräfte des Patronates KVW/ACLI, bemühte sich um die kirchliche Anerkennung dieser Gruppen in Deutschland. Es kann darum gesagt werden, dass der Dienst rechtlicher und kultureller Art war, Gemeinschaft stiftend und kirchenbezogen. Zur Pflege der Kontakte wurden von der Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne beim KVW ab 1962 zu Weihnachten und zu Ostern „Heimatbriefe“ versandt. Die Anschriften hatte vielfach die Katholische Jugend gesammelt. 1969 wurde die Zeitschrift „Heimat und Welt. Mitteilungsblatt für die Südtiroler Heimatfernen“ zunächst vierteljährlich und später monatlich herausgegeben. 1982 erließ die Südtiroler Landesregierung ein Gesetz „Maßnahmen zugunsten der Heimatfernen“. Auch die Herkunftsgemeinden beginnen, sich um ihre abgewanderten Landsleute zu kümmern, und laden sie in die Heimatgemeinde

29

Heimat und Welt, Blatt für die Südtiroler Heimatfernen, 1982, Nr. 5/6, S. 2 – 3.

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ein. Ein erstes solches Treffen fand in der Gemeinde Lajen im Jahr 1984 für die weggezogenen Lajener statt. Es war vom KVW organisiert. Jetzt ist die Veranstaltung solcher Treffen zum Aufgabengebiet der KVW-Ortsgruppen geworden. An den italienischen Konsulaten im deutschsprachigen Raum wurde erreicht, dass ein deutsch sprechender Beamter für die Südtiroler beauftragt wurde. Seit 1986 werden für die Oberschüler und Hochschüler – Kinder von Südtiroler Heimatfernen – an der Universität Urbino Italienischkurse angeboten. Seit 1987 werden regelmäßig Wallfahrten der Heimatfernen mit bis zu tausend Teilnehmern gehalten, zunächst nach Zwiefalten, wohin zur Zeit der Euthanasiemaßnahmen des Dritten Reiches Hunderte von Südtirolern aus den Heilanstalten von Pergine und Stadlhof gebracht worden waren. Ein weiteres Wallfahrtsziel war Weingarten. VI. Beratungsausschuss für Umsiedlungsgeschädigte am Patronat KVW/ACLI Die Umsiedlungsaktion des Dritten Reiches zur Lösung der Südtirolfrage hatte spätestens mit der Übergabe der ADERSt-Amtsgeschäfte an die Behörde des Obersten Kommissars ihr Ende erreicht. Nach den Arbeitsberichten der ADERSt sind die letzten Umsiedler Ende April 1944 über den Brenner gebracht worden.30 Ein Teil kehrte nach Kriegsende nach Südtirol zurück und dann nach dem Optantendekret und dem Optantenprotokoll vom 2. Februar 1948. Bei 4.000 Rückoptanten lehnte Italien die Anträge auf italienische Staatsbürgerschaft ab.31 In Österreich gehörten nach Kriegsende die in der Umsiedlungspolitik des Dritten Reiches vielfach zu Sachwerten reduzierten Südtiroler Optanten zur „Konkursmasse des NS-Systems“, ein Erbe, das nur sehr zögernd angetreten und mit großer Vorsicht behandelt wurde.32 Öffentliche Verwaltungen und Caritas der Diözese Brixen bemühten sich nach Kriegsende um Aufnahme von Südtiroler Rücksiedlern. Bischof Johannes Geisler baute selbst Rücksiedlerwohnungen. Er hat sich nachhaltig für die Rücksiedlung der ausgewanderten Südtiroler eingesetzt.33 Vorne in diesem Bemühen 30

ADERSt, Bozen, an RKFdV (Greifelt) vom 15.11.1944 – BA Koblenz, R 49/1153.

31

Parteli, Geschichte des Landes Tirol (Anm. 10), S. 479 – 484.

32

Alexander / Lechner / Leidlmair, Heimatlos (Anm. 3), S. 99 – 100.

33

J. Gelmi, Die Brixner Bischöfe in der Geschichte Tirols, Brixen 1984, S. 284.

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stand auch der KVW-Assistent und diözesane Caritasdirektor von Brixen Josef Zingerle. Dieser bemühte sich schon 1952 um rücksiedelnde Südtiroler aus der Zeit der Option. Rudolf Freiherr Unterrichter von Rechtenthal, Johannes Schauff von der „Internationalen Katholischen Wanderungskommission“ in Genf sowie die SVPSenatoren Karl Tinzl und Karl Mitterdorfer setzten sich besonders ein um die Gewährung von Rücksiedlungshilfen für heimkehrwillige bzw. heimgekehrte Optanten. Doch erst Anfang der sechziger Jahre konnten ihre Bemühungen um finanzielle Hilfe Bonns Erfolg verzeichnen, indem Finanzministerium und Bundesausgleichsamt eine „humanitäre Regelung“ entwickelten, in die später das Arbeits- und Sozialministerium eingebunden war. Grundlage dafür war das 14. Lastenausgleichsgesetz, welches 1963 auf „Umsiedlungsgeschädigte und Optanten“ angewandt wurde. Es war eine sehr wichtige und wertvolle Nachricht, als am 8. Juni 1964 die Pressestelle des Vizekommissariates folgende kurze Mitteilung bekannt gab: „Aufgrund der deutschen Ausgleich-Gesetzgebung und auf Grund von Vereinbarungen zwischen italienischen und deutschen Behörden wurde am 6. Juni 1964 in Bozen ein Beratungsausschuss für Optionsgeschädigte gebildet. Dieser Ausschuss hat die Aufgabe, interessierten Antragstellern für die Gewährung von Beihilfen und Darlehen im Rahmen des deutschen Lastenausgleichsgesetzes behilflich zu sein. Optionsgeschädigten wird durch die Bezirksstellen ACLI/KVW unentgeltlich Beratung und Ausfüllhilfe gewährt“.34 Der Beratungsausschuss arbeitete im Rahmen des Patronates KVW/ACLI und hatte eine eigene Geschäftsstelle, die Beratungsstelle für Optionsgeschädigte. Ausschließlich der KVW war mit der Aufgabe betraut, bei der Abfassung der Gesuche behilflich zu sein. Auf Grund des § 10 der 14 Lastenausgleichsnovelle konnten auch im Ausland – etwa in Österreich – lebende Optionsgeschädigte deutscher, italienischer oder ungeklärter Staatsangehörigkeit Anträge um Gewährung von Beihilfen und Darlehen stellen. Beihilfen wurden gewährt, um Notstände zu beseitigen. Zweck der Darlehensgewährung war Hilfe bei Existenzgründung oder Existenzsicherung für Geschädigte in selbständigen Berufen (Gewerbe, Handwerk, freie Berufe und Landwirtschaft). Die Entscheidung über alle Anträge oblag dem Ausgleichsamt der Stadtverwaltung in Köln, welches hiermit beauftragt war. Die seit Jahren laufenden Bemühungen, den durch die Option des Jahres 1939 Geschädigten Hilfe zu gewähren, hatten nun doch zu Erfolg geführt.

34

„Eine gute Nachricht“, in: Arbeit und Gemeinschaft, Juni 1964, Nr. 6, S. 1.

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Viele Optionsgeschädigte hatten 1964 noch keine Entschädigungsanträge gestellt, weil sie ihr Anrecht auf eine Entschädigungsbeihilfe nicht kannten oder an eine solche nicht glaubten. Die Antragsteller mussten 1939 für Deutschland optiert haben. Sie mussten vor 1939 selbständig gewesen sein, sie mussten durch die Option einen Vermögensschaden erlitten haben, welcher Existenz tragend gewesen war. Der Vermögensschaden musste noch nachwirken. Die Antragsteller mussten die italienische oder deutsche Staatsbürgerschaft besitzen oder staatenlos sein. Sie mussten am 31. Jänner 1952 ihren Wohnsitz in Italien oder in Deutschland oder im westlichen Ausland gehabt haben. Hausratsschäden waren ebenso anzumelden wie Verlust von Versicherungszeiten. Es war nicht notwendig, dass die Optionsgeschädigten seinerzeit abgewandert waren. Ein besonderes Problem bildeten die Versicherungszeiten jener Personen, die in den Jahren 1939 – 45 bei deutschen Dienststellen in Italien oder im Ausland beschäftigt waren. Da für diesen Personenkreis bei der italienischen Sozialversicherung keine Einzahlungen aufschienen, musste für sie in einem Sonderverfahren eine Lösung angestrebt werden, sei es, dass die Bundesrepublik Deutschland durch Zahlungen einer Zusatzrente für diesen Zeitraum aufkommt, sei es, dass im Wege einer deutsch-italienischen Vereinbarung eine andere Lösung gefunden wird. Auch ging es um Nachversicherung nicht versicherter Arbeitszeiten von 1920 – 26 sowie von Options- und Kriegsdienstzeiten. Der KVW bot über seine Dienststellen Information und Beratung an.35 Der KVW war mit dieser wichtigen, internationales Unrecht gutmachenden, Frieden stiftenden und versöhnenden Aufgabe betraut worden wegen seiner Nähe zum Volk, zu allen Hilfsbedürftigen. Wegen seiner institutionellen Bindung an die ACLI, die christliche Arbeiterbewegung Italiens, und seiner Nähe zur Kirche, die stets um das friedliche Zusammenleben der Volks- bzw. Sprachgruppen in Südtirol bemüht war, war der KVW vertrauenswürdig seitens der Regierung der Bundesrepublik Deutschland wie Italiens. Es musste vermieden werden, dass der leiseste Verdacht aufkommt, dass durch diese Aktion Volkstumspolitik betrieben werden könnte. Es ging um Wiedergutmachung von erlittenem Unrecht, um Befriedung und Versöhnung. Die Bundesrepublik Deutschland hatte in diesen Fragen stets Wert auf gutes Zusammenwirken mit Italien gelegt, das für die Entschädigungsabsicht „aus humanitären Gründen“ Verständnis aufbrachte, als es darum ging, in Bozen einen „Beratungsausschuss für Umsiedlungsgeschädigte“ einzurichten.

35

S. 5.

Vgl. Mitteilung für Optionsgeschädigte, in: Arbeit und Gemeinschaft, 1964, Nr. 9,

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Der Bozner Beratungsausschuss war 1964 ins Leben gerufen worden. Rechtsträger war das Patronat KVW/ACLI. Zu Mitgliedern bestimmte man Vertreter der Optanten, der Sozialverbände KVW/ACLI, der Kirche und des öffentlichen Lebens. Die Leistungen wurden nach dem Einzelantragsprinzip gewährt. Nach dem Bonner Lastenausgleichsgesetz sind insgesamt 121,3 Millionen Mark bewilligt worden, die deutschen Aufwendungen im Rahmen des Rentenabkommens beliefen sich auf 262 Millionen Mark. 30.000 Akten hat der Beratungsausschuss angelegt, mehr als 15.000 Anträge bearbeitet; nahezu 10.000 Begünstigte kamen in den Genuss von Zahlungen. In einer separaten Regelung für Optanten aus dem Fersental und aus Lusern ermöglichte der Beratungsausschuss die Rückübertragung von 27.000 Grundparzellen im Trentino und 1971 den Umtausch von Vermögenswerten auf Basis der Deutschen Mark, die einst in Reichsmark festgesetzt worden waren. 60 Jahre nach dem Optionsabkommen hat der Beratungsausschuss 1999 seine ehrenamtliche Tätigkeit beendet. Damit schloss sich geräuschlos ein beklemmendes Kapitel der jüngeren deutsch-italienischen Geschichte. VII. Impulse aus der Diözesansynode Kräftige Impulse für die ganze Sozialarbeit des KVW und aller KVWDienste gingen von der Brixner Diözesansynode 1970/73 aus: „Ortskirche als Ereignis der Weltkirche“. Diese Synode war ein Aufruf zur Solidarität mit den verschiedensten Gruppen von Benachteiligten.36 Diözesanbischof Joseph Gargitter erklärte nach der Verabschiedung des Dokumentes „Kirche in der Welt der Arbeit“ am 8. Dezember 1972: „Ich möchte es nicht unterlassen, meine Genugtuung auszudrücken über die Verabschiedung der Vorlage ‚Kirche in der Welt der Arbeit‘. Es war ein besonders mühevoller und bewegter Weg, bis wir an dieses Ziel gelangt sind. Wir haben alle einen Lernprozess durchgemacht und zwar so, dass jetzt eine wichtige pastorale Aufgabe der Kirche klarer in unser Bewusstsein gehoben wurde“.37

Auf der Synode wurde viel von Abbau von Ungerechtigkeiten gesprochen. Dass Option und Auswanderung große Ungerechtigkeiten für all die Betroffenen waren, wurde immer mehr bewusst.38

36

Ortskirche als Ereignis der Weltkirche. Diözesansynode Bozen-Brixen 1970–73, Bozen 1974, S. 38 f. 37

Arbeit und Gemeinschaft, 1992, Nr. 12, S. 1 f.

38

Ortskirche als Ereignis der Weltkirche, S. 83 – 88.

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Drei Tage nach Verabschiedung des Synodendokumentes „Kirche in der Welt der Arbeit“ wurde in Innsbruck die soziale Beratungsstelle des Patronates KVW-ACLI errichtet. Wir wollen nicht nur diskutieren, sondern zugreifen und Zeichen und Aktionen setzen, so Josef Göller, damals Vorsitzender der Arbeitsstelle für Heimatferne. VIII. Das Patronat KVW/ACLI bietet Sozialberatung in Innsbruck an Nicht nur auf italienischer Seite änderte sich die Sozialgesetzgebung, sondern auch in Österreich. Im Jahr 1955 wurden in Österreich alle bis dahin erlassenen einschlägigen Bestimmungen im allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) zusammengefasst, das in grundlegender Weise Versicherungspflicht, Beitragshöhe und den Umfang des Pensionsbezuges mit zahlreichen Sonderverfügungen hinsichtlich der Ruhensbestimmungen und der Witwenpensionen regelt. Das ASVG erlebte bis zum Jahr 1970 25 und bis zum Jahr 1987 44 Novellen. Brennende Fragen waren: Welche Rechte haben die in Österreich verbliebenen Optanten und welche Rechte stehen den nach Italien zurückgekehrten oder gar nicht ausgewanderten Optanten zu? Am 11. Dezember 1972 hat das Patronat KVW/ACLI Bozen in Innsbruck, Haus der Begegnung, wo sich die Büros der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB), des Bundes der Katholischen Unternehmer und der Katholischen Arbeiterjugend befanden, mit regelmäßigen Beratungsdiensten für in Nordtirol lebende Südtiroler begonnen. Dadurch hatten die ACLI neben ihren Patronaten in den Benelux-Ländern, in Frankreich, in der Bundesrepublik Deutschland, in Großbritannien, in der Schweiz, in Kanada, in den USA, in Venezuela, Argentinien, Uruguay und Australien auch in Österreich eine Auslandsstelle. Der Eröffnung der Patronatsstelle in Innsbruck vorausgegangen waren gelegentliche Sprechstunden in Innsbruck. Die Anwesenheit von Vertretern verschiedenster Institutionen unterstrich Vielschichtigkeit und Bedeutung dieser Initiative. Es war eine Frucht der Nach-Pakets-Ära. Solche Formen der Zusammenarbeit weckten nicht mehr Verdacht, sondern Vertrauen und fanden Zustimmung bei früher sich mit Verdacht begegnenden Gruppen. An der Eröffnung wirkten mit Cons. Viktor Zorzi, Direktor des Hauses der Begegnung, der für den Dienst Räume zur Verfügung gestellt hatte. Zugegen waren weiters Mag. Freda Mayer vom Südtiroler Referat bei der Nordtiroler Landesregierung, Franz Gert Gunsch, Präsident des Gesamtverbandes der Südtiroler in Österreich, Peter Koller, Beauftragter der Tiroler Landesregierung für die ausländischen Arbeitnehmer, der jetzige Bundesrat Helmut Kritzinger vom

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Rentner- und Pensionistenverband und Herr Adolf Waltl von der Katholischen Arbeitnehmerbewegung. Die Assessorin Waltraud Gebert-Deeg vertrat die Südtiroler Landesregierung. Zugegen waren weiters der Generaldirektor des Patronates ACLI Rom Dr. Nestore Di Meola, der Präsident des Patronates KVW/ACLI Bozen Dr. Toni Cemin mit Direktor Rag. Sandro Amadori, der Landesobmann des KVW Dr. Oswald Bortolotti, der Vorsitzende der Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne Bozen und eigentliche Initiator Josef Göller und der Diözesanassistent KVW Dr. Johannes Messner.39 Laut Generaldirektor Di Meola erstreckt sich die Tätigkeit der sozialen Beratungsstelle KVW/ACLI für Innsbruck auf die gesamte Sozialversicherung im zwischenstaatlichen Abkommen. Den Landsleuten in Nordtirol, sowohl jenen, die im Rahmen der Umsiedlung dorthin gezogen waren, als auch jenen, die sich erst später aus Arbeitsgründen nach Nordtirol begeben hatten, sollte zu den ihnen aufgrund der italienischen Versicherungsgesetzgebung zustehenden Rechten verholfen werden. Insbesondere soll den im Rahmen der Umsiedlung nach Nordtirol gezogenen Landsleuten es leichter gemacht werden, von der einmalig günstigen Gelegenheit der Nachversicherung der in Südtirol nicht versicherten Arbeitszeiten von 1920 bis 1926 Gebrauch zu machen, ehe die Termine verfallen. Das Patronat KVW/ACLI soll aber auch Vorschläge einbringen zur Ausarbeitung und Verbesserung internationaler Konventionen. Dazu hielt der Generaldirektor ein Expertengespräch für dringend, um Lücken der bisherigen Konvention sowie Notwendigkeit und Möglichkeit von Verbesserungen aufzuzeigen. Es hat im Jahr darauf stattgefunden. Eine der nächsten Aufgaben wurde genannt, mit den Versicherungsträgern in Nordtirol Kontakte aufzunehmen. Die Errichtung dieser sozialen Betreuungsstelle soll ein kleiner Beitrag sein, brüderliche Verbundenheit zu leben. Dieser Beratungsdienst, der in Italien entwickelt worden ist und jedes Jahr Millionen von Arbeitnehmern konkrete Hilfe leistet, wird auch für viele italienische und österreichische Staatsbürger, die in der Vergangenheit in beiden Staatsgebieten gearbeitet haben oder in Zukunft dort arbeiten werden, von Nutzen sein. Die Landesassessorin Waltraud Gebert-Deeg dankte im Namen des Landeshauptmannes von Südtirol, Dr. Silvius Magnago, der Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne und dem Patronat KVW für die Errichtung der Beratungsstelle, dem Gesamtverband der Südtiroler in Österreich für das Mittragen dieses Anliegens, dem Haus der Begegnung für die gastliche Aufnahme.

39

Arbeit und Gemeinschaft, 1972, Nr. 12, S. 5.

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Nach Franz Gert Gunsch, dem Vorsitzenden des Gesamtverbandes der Südtiroler in Österreich, verunsichern die ständigen Änderungen in der italienischen Versicherungsgesetzgebung die Versicherten und machen Beratung durch Fachleute notwendig. Diesen Dienst brauchten die schon seit langem in Österreich lebenden Südtiroler als auch jene, die erst jüngst dorthin gezogen sind oder dorthin ziehen werden. Nicht nur in Innsbruck, sondern auch an weiteren Sitzen von Südtiroler Vereinen sollen Sprechstunden des Patronates KVW/ACLI angeboten werden. Von Vorarlberg lagen bereits schriftliche Wünsche vor.40 Bei den Generalversammlungen der Landesverbände informierten seitdem die Direktoren des Patronates Sandro Amadori und Sebastian Wieland über sozialversicherungsrechtliche Fragen. Der Beratungsdienst hat sich bis heute als notwendig und segensreich erwiesen. Er ist vom Haus der Begegnung, Tschurtschenthaler Straße, in die Räume des Gesamtverbandes der Südtiroler in Österreich, Zeughausgasse 8, übersiedelt. IX. Der Personenkreis der Grenzpendler Arbeitsplatz jenseits der Grenze – Wohnstatt diesseits der Grenze Mit dem Öffnen der Grenzen und der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen Länder bildete sich eine ökonomisch gut gestellte, aber sozial zunächst wenig gesicherte Gruppe von Arbeitern, Grenzpendler oder Grenzgänger genannt. Ihre Probleme wurden vom Patronat KVW/ACLI und der Arbeitsstelle für Heimatferne beim KVW aufgegriffen. Diese machten sich dabei die Erfahrungen der „ACLI-frontalieri“ von Como und Varese zu Eigen durch Besuch von deren Veranstaltungen, Einladung von dortigen Referenten und Verwertung ihres Informationsmaterials. Die 1. Grenzpendlertagung fand am 30. Dezember 1972 in Glurns statt. Sie befasste sich mit sozialen Fragen der Grenzpendler nach der Schweiz, nach dem Fürstentum Liechtenstein und nach Österreich. In einer Resolution an die italienische Regierung wurden folgende Anträge gestellt: Die Verhandlungen über das neue Sozialversicherungsabkommen mit Österreich möglichst bald zu einem Abschluss zu bringen und dabei auch der engen geographischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bindungen zwischen Süd-, Nord- und Osttirol Rechnung zu tragen; im neuen Versicherungsabkommen mit der Schweiz (abgeschlossen am 1. März 1980) besonders auch Grenzpendler und Saisonarbeiter betreffende Fragen positiv zu klären; mit dem Fürstentum Liechtenstein, 40

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mit welchem überhaupt noch keine Konvention bestand, möglichst bald ein Versicherungsabkommen zu schließen oder wenigstens zu erreichen, dass das Abkommen mit der Schweiz auch in Liechtenstein Anwendung findet.41 Anliegen wurden auch der Region und dem Land, den Versicherungsträgern, den Grenzbehörden, der Talschaft und den Gemeinden des Vinschgaus unterbreitet. Seit 1972 findet die Grenzpendlertagung jedes Jahr in Glurns statt mit jeweils über 100 Teilnehmern und großem Interesse der Behörden des Vinschgaus. Jedes Jahr treten neue rechtliche Fragen auf, die die Südtiroler Grenzpendler nach der Schweiz und Österreich betreffen, und wofür Lösungen auf administrativer und gesetzgebender Ebene gesucht werden müssen. Bei der Volkszählung 1991 waren 1.395 Tagespendler nach außerhalb Südtirol gezählt worden. Von den Tagespendlern, die außerhalb Südtirols arbeiteten, waren 724 nach dem Trentino, vornehmlich aus den Gemeinden des Unterlandes, des Deutschnonsberges und aus Bozen. Fast alle Tagespendler, die die Staatsgrenze überschritten, arbeiteten in der Schweiz, davon 536 fast ausschließlich aus den Gemeinden des oberen Vinschgaus, wogegen Österreich mit 63 und das übrige Ausland mit 28 nur eine unbedeutende Rolle spielten. Die Zahl der Nichttagespendler in Gebiete außerhalb Südtirols betrug im Jahr 1991 3.917. 330 Nichttagespendler waren im Trentino und 1.661 im übrigen Italien beschäftigt. Im Ausland arbeiteten von dieser Gruppe 1.926 Personen, von denen 550 in die Schweiz, 631 nach Österreich und 745 in das übrige Ausland pendelten.42 X. Für ein besseres Sozialversicherungsabkommen zwischen Italien und Österreich Nach der Errichtung des Patronatsdienstes KVW/ACLI in Innsbruck veranstalteten die Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne und das Patronat KVW/ ACLI am 24. Februar 1973 in Bozen ein Expertengespräch für ein neues Sozialversicherungsabkommen zwischen Italien und Österreich. Daran nahmen teil: Vertreter des Ministeriums und der Nationalleitung des Patronates KVW/ACLI, Leiter der italienischen Delegation für dieses Abkommen in Wien, Regionalund Landesassessoren und Versicherungsfachleute der verschiedenen Versicherungsinstitute. Das damals sich in Kraft befindliche Sozialabkommen zwischen 41 42

Einstimmig gefasste Resolution, in: Arbeit und Gemeinschaft, Jänner 1973, S. 6.

ASTAT Schriftenreihe 41, Berufspendlerströme und Arbeitsmarkträume in Südtirol. Volkszählung 1991, Autonome Provinz Bozen/Südtirol, 1995, S. 19.

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Italien und Österreich war 1950 abgeschlossen worden, aber erst 1955 in Kraft getreten. Im Lauf von 20 Jahren hat sich die wirtschaftliche und soziale Verflechtung zwischen Österreich und Italien, insbesondere zwischen Nord- und Südtirol merklich geändert. In beiden Ländern war die Sozialversicherung inzwischen wesentlich verbessert worden. Auch hatte sich das politische Klima zwischen Italien und Österreich wesentlich gebessert. All das machte ein neues Sozialabkommen notwendig, aber auch erst möglich. Südtirol war aus vielen Gründen daran interessiert. Die Tagung war auch als Vorbereitung bzw. Anregung auf das Treffen der Österreichischen und Italienischen Delegation in Rom gedacht.43 Ein 19 Punkte umfassendes Memorandum wurde für die Delegationen erarbeitet.44 Einige Einzelanliegen aus dem Memorandum: Wer hat gewusst, dass Südtiroler Bauern, Senner und Hirten, die auf ihren Feldern, Wiesen und Almen in Österreich arbeiten, damals nicht unfallversichert waren? Für diese Personengruppe wurde die Unfallversicherung gefordert. Den Grenzpendlern sollen die österreichischen Krankenkassen das Formblatt AI 30 / ÖI 30 als Dauerberechtigungsschein ausstellen, damit sie sich nicht für jede Wochenendfahrt einen eigenen Schein besorgen müssen. Den in Österreich arbeitenden italienischen Staatsbürgern sollen von den Krankenkassen dieselben Zusatzleistungen, z. B. Beiträge für die Entsendung von Kindern in die Ferienkolonien, gewährt werden. Der Krankenschutz soll auch bei endgültiger Rückkehr in die Heimat über die Grenzen hinweg ausgedehnt werden. Auch die selbständigen Arbeiter, Bauern, Handwerker, Kaufleute und Freiberufler sollen in das Abkommen einbezogen werden. Die während der deutschen Besetzung geleisteten Arbeits- und Versicherungszeiten sollen angerechnet werden. Das Halbdeckungssystem möge dahingehend überprüft werden, damit die italienischen Staatsbürger in Österreich versicherungsmäßig nicht schlechter behandelt sind als Österreicher in Italien. In Italien wohnhafte Inhaber von nur österreichischen Renten wie in Österreich wohnhafte Inhaber von nur italienischen Renten sollen Anrecht auf Krankenbetreuung bekommen. Weitere Vorschläge betrafen Familienzulagen, Gewährung der Arbeitslosenunterstützung, freiwillige Weiterversicherung, Vereinheitlichung der Versicherungsträger usw. Vor allem aber sollte das neue Abkommen auch einen Beitrag liefern, damit die Renten

43 „Für ein besseres Sozialabkommen zwischen Italien und Österreich“, in: Heimat und Welt. Blatt für Südtiroler Heimatferne, 1973, Nr. 1, S. 1 – 3. 44

„Memorandum zum neuen italienisch-österreichischen Sozialabkommen“, in: Heimat und Welt“, 1973, Nr. 2, S. 5 f.

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im Abkommen schneller erledigt werden und damit Anspruchsberechtigte nicht bis zu fünf Jahre auf die Erledigung ihrer Anträge warten müssen.45 Die 1973 gültige österreichisch-italienische Konvention stammte noch vom Jahre 1955. Inzwischen hat sich viel gewandelt. Lücken haben sich zur Genüge gezeigt. Die beiden Regierungen arbeiteten bereits an einer neuen Konvention. Bis dahin war nicht gesorgt für die Krankenbetreuung von österreichischen Rentnern, die in Italien lebten, und von italienischen Rentnern, die in Österreich lebten. Es fehlte die medikamentöse Betreuung der Saisonarbeiter nach ihrer Rückkehr nach Südtirol, auch die Betreuung kranker Grenzpendler wies Lücken auf. Bis in die achtziger Jahre fanden zahlreiche Tagungen zum Abkommen Österreich-Italien über die soziale Sicherheit (Sozial-Abkommen) statt. 1980 wurde das Abkommen mit der Paraphierung vorläufig abgeschlossen. Die Ratifizierung des Abkommens erfolgte aber erst 1981 und 1982 und trat mit 1. Juli 1983 in Kraft.46 Doch Beratungsdienste erwiesen sich weiterhin als notwendig. XI. Auf der Nationalen Auswanderungskonferenz 1975 Vertreter der Arbeitsstelle für Heimatferne und des Patronates KVW/ACLI nahmen auch an der 1. Auswanderungskonferenz teil, die in Rom vom 24. Februar bis 1. März 1975 stattfand. Die Bedeutung dieser Konferenz zeigte sich durch die Anwesenheit vieler Vertreter von italienischen Auswanderern aus allen Kontinenten, aber auch in der Anwesenheit des Staatspräsidenten und zahlreicher Regierungsvertreter. Vier große Themen wurden behandelt: Ursachen der Auswanderung und deren Überwindung; eine aktive Arbeitsplatzpolitik auf nationaler und internationaler Ebene; die Rechte des Wanderarbeiters und Mittel und Wege zu deren Schutz; Beteiligung am gesellschaftlichen und kulturellen Leben durch eine neue Auswanderungspolitik. Weniger Auswanderung und mehr Eingliederung waren die beiden Hauptforderungen. Solange das Arbeiterstatut in Italien nicht verwirklicht ist, könne man seine Verwirklichung nicht von anderen Staaten fordern.47 Die Südtiroler Delegation brachte auf dieser Nationalen Auswanderungskonferenz in Rom folgende Anliegen vor: Anerkennung in der Heimat der im Aus-

45

„Für ein besseres Sozialabkommen zwischen Italien und Österreich“, in: Heimat und Welt, 1973, Nr. 1, S. 1 – 2. 46 „Sozialabkommen zwischen Italien und Österreich tritt mit 1. Juli in Kraft“, in: Heimat und Welt, 1983, Nr. 4, S. 1. 47

„Der Zwangsauswanderung ein Ende setzen!“, in: Arbeit und Gemeinschaft, 1975, Nr. 3, S. 5 – 6.

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land erworbenen Berufstitel, insbesondere der Sanitätstitel; Abschluss eines neuen Sozialabkommens zwischen Italien und Österreich sowie dem Fürstentum Liechtenstein; beschleunigte Erledigung der Rentenanträge im zwischenstaatlichen Abkommen; Regelung der noch offenen Grenzpendlerfragen, insbesondere die Ratifizierung des Lohnsteuerausgleichsabkommens zwischen Italien und der Schweiz; Ermöglichung der Übertragung von Bausparverträgen; Gewährung der doppelten Staatsbürgerschaft für Heimatferne.48 XII. Arbeitskreis Migration im KVW Die modernen Wanderungsbewegungen 1999 hat sich im KVW ein Arbeitskreis Migration gebildet. Die konstituierende Sitzung fand am 31. August 1999 statt. Unmittelbare und hauseigene Zielgruppe ist der KVW selbst mit seinen Mitgliedern und Gruppierungen, mit den haupt- und ehrenamtlichen, mit den 280 Ortsgruppen. Südtirol ist nun Einwanderungsland für Männer und Frauen aus den Oststaaten und aus der Dritten Welt geworden. Bei der Zuwanderung wird nun unterschieden zwischen der Zuwanderung aus Österreich, Deutschland, anderen EU-Staaten und der Schweiz und dem restlichen Ausland. Die Zuwanderung aus Österreich, Deutschland, anderen EU-Staaten und der Schweiz nach Südtirol betrug im Jahr 2001 (Volkszählung) 571 und aus restlichen Ausland 1.687.49 Ansässig waren im Jahre 2003 4.800 Ausländer aus EUStaaten und 14.154 aus Nicht-EU-Staaten.50 Im Jahr 2004 wurden in Südtirol für Personal aus Nicht-EU-Ländern und aus den neuen EU-Ländern 22.222 saisonale Arbeitsverträge ausgestellt, davon 5.383 für das Gastgewerbe und 12.772 für die Landwirtschaft sowie 4.067 Saisongenehmigungen für Personen, die bereits zum zweiten Mal im Bezugsjahr ein saisonales Arbeitsverhältnis eingegangen sind.51

48

„Stellungnahme der Südtiroler Delegation“, in: Heimat und Welt“, 1975, Nr. 3, S. 4 – 5. 49

ASTAT, Statistisches Jahrbuch für Südtirol 2004, Autonome Provinz BozenSüdtirol, Bozen 2004, S. 97. 50 51

ASTAT, Statistisches Jahrbuch 2004, S. 103.

Tätigkeitsbericht der Landesverwaltung. Hrsg. v. Autonome Provinz Bozen-Südtirol, 2005, S. 253.

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Johannes Messner

Das Patronat KVW/ACLI berät auch die ausländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen in Fragen der sozialen Sicherheit, der sozialen Vor- und Fürsorge. Durch 50-jährige Tätigkeit in der Begleitung und Beratung der Südtiroler im Ausland verfügt der KVW über ein großes Erfahrungswissen in Fragen der Aus- und Einwanderung. Er veranstaltet Ausbildungsgänge für ausländische Arbeitnehmer/innen, arbeitet zusammen mit allen Gruppierungen, die sich um ausländische Arbeitnehmer/innen kümmern, von den politischen Gruppierungen bis zu den Unternehmerverbänden. Damit hat sich die Arbeitsstelle für Heimatferne ein neues Ziel in ihrer vielfältigen Tätigkeit gestellt. Der KVW weiß aus seiner Mitgliedschaft in der Weltbewegung Christlicher Arbeiter (WBCA), was international für Anliegen anstehen und welche Lösungsvorschläge christliche Gruppierungen anregen und vorantragen. Seit 1986 unterstützt der Verband mit freiwilligen Beiträgen seiner Mitglieder Entwicklungsprojekte in Ländern der Dritten Welt. XIII. Anerkennung durch Bischof Joseph Gargitter Papst Paul VI. hat zum Tag der Sozialfürsorge 1964 an den ZentralAssistenten der Katholischen Arbeiterbewegung ACLI in einem Schreiben anerkennend festgestellt: „Es scheint uns, dass unter den vielfältigen Tätigkeiten, welche die Katholische Arbeiterbewegung in Italien ausübt, die Tätigkeit des Patronates als eine der besten zu bezeichnen ist. Sie ist ein Beweis der Solidarität“.52

Bischof Joseph Gargitter, 8. Dezember 1964, im Saal des Musikkonservatoriums in Bozen an die christlichen Laienverbände in der Diözese: „Es muss gesagt werden, dass der KVW, die Sozialbewegung der christlichen Werktätigen, an erster Stelle steht im sozialen Einsatz.“53

Weiters sei verwiesen auf das gesellschaftspolitische Testament von Bischof Joseph Gargitter, das mit den Worten schließt: „Es war gut so“. Bischof Gargitters letzter außerkirchlicher Auftritt war am 10. Mai 1986 auf der Tagung „Friedliches Zusammenleben, ein schwieriges, aber mögliches Ziel“ der ACLI und des KVW, zusammen mit Landeshauptmann Dr. Silvius Magnago. Diese Ausführungen waren sein gesellschaftspolitisches Testament. Da kehrten seine großen Anliegen noch einmal wieder: das Zusammenleben der Volks- bzw. Sprachgruppen in Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Freiheit:

52

„Der Hl. Vater über das Patronat“, in: Arbeit und Gemeinschaft, 1964, Nr. 4, S. 2.

53

„Das soziale Apostolat“, in: Arbeit und Gemeinschaft, 1964, Nr. 12, S. 1.

KVW Träger vieler Dienste über die Grenzen hinweg

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„Es wird sehr von Nutzen sein, wenn die Zusammenarbeit zwischen den ACLI und ihrer Schwesternorganisation unter den deutschen Arbeitern, dem KVW, vertieft wird. Diese Zusammenarbeit hat bereits sehr positive Früchte für die Bevölkerung unseres Landes gezeitigt. Man denke an das Patronat KVW / ACLI, das von beiden Bewegungen getragen wird. Die Früchte dieser Zusammenarbeit sind vor allem den armen und kleinen Leuten zugute gekommen. Es war gut so“.54

Mit „Es war gut so“ verabschiedete sich Bischof Joseph Gargitter von KVW und ACLI, den von ihm geschätzten und geförderten christlich sozialen Bewegungen. XIV. Anerkennung durch Altlandeshauptmann Dr. Silvius Magnago Altlandeshauptmann Dr. Silvius Magnago hat in einer schriftlichen Stellungnahme zum KVW im Jahr 2001 die beachtenswerten Leistungen des KVW für die arbeitenden Menschen in Südtirol und für die schwächeren Schichten der Bevölkerung gewürdigt. Er schrieb: „Der Verband hat vor allem Initiativen ergriffen und Dienste geschaffen, um die Lage der Werktätigen zu verbessern und größere soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Durch das Patronat KVW-ACLI wurde an der Verbesserung und am Ausbau des Systems der sozialen Sicherheit mitgewirkt. Viele Zehntausende sind in sozialrechtlichen Fragen beraten und bei der Geltendmachung ihrer Rechtsansprüche unterstützt worden. Der KVW hat die Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne ins Leben gerufen, die heute Kontakte pflegt zu Landsleuten in über 60 Ländern der Welt.“ Die Zusammenarbeit des KVW mit seiner italienischen Schwesterorganisation ACLI bei Wahrung der Autonomie beider Verbände hat gute Früchte für die Lösung ethnischer Konflikte und ein friedliches Miteinander der Volksgruppen getragen. Italienische Politiker, die in den ACLI mitarbeiteten, haben bemerkenswertes Verständnis für die Anliegen der deutschen Volksgruppe gezeigt und konstruktiv am Zustandekommen der Autonomieregelung für Südtirol mitgewirkt.“55

54 Johannes Messner, „Friedliches Zusammenleben, ein schwieriges aber mögliches Ziel“, in: Arbeit und Gemeinschaft, 1986, Nr. 6, S. 7 – 8. 55

Brief von Altlandeshauptmann Dr. Silvius Magnago an den Katholischen Verband der Werktätigen (KVW-Archiv).

Die Katholische Kirche in Slowenien im Verhältnis zum Staat Von Andrej Saje I. Einleitung Slowenien hat etwas weniger als zwei Millionen Einwohner und gilt als ein katholisches Land. Die Unabhängigkeit erlangte es als erste von sechs Teilrepubliken Jugoslawiens am 25. Juni 1991 und am 1. Mai 2004 trat es zur EU bei. In Bezug auf seine Verfassung und seine grundlegenden rechtlichen Institutionen ist Slowenien ein demokratischer Staat. Da Slowenien lange Zeit unter dem starken Einfluss eines totalitären Regimes gestanden hat, wird sich Demokratie in Slowenien erst noch entwickeln müssen, denn tatsächlich regierte fast in der ganzen Zeitspanne Juni 1991 – Herbst 2004 die Linkspartei kommunistischer Herkunft. Das ehemalige Jugoslawien war der liberalste dem Ostblock angehörende Staat und die liberalste von allen Republiken war eben Slowenien. Logischerweise würde man erwarten, dass dar selbständige Staat seine demokratischen Werte aufrechterhalten und schnell weiterentwickeln wird, wofür die Herstellung eines echten Rechtsstaates, die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die Ermöglichung sowohl der Pluralität im Bereich der Medien und des Schulwesens als auch der Konkurrenz im Bereich der (Markt)Wirtschaft und Finanzen erforderlich sind. Real gesehen hatten die liberalen Parteien, die seit der Selbständigkeit Sloweniens mehr als zehn Jahren ununterbrochen regierten, sehr wenig Interesse daran, einen Rechtsstaat zu errichten. Was das Verhältnis des Staates zur katholischen Kirche und zu anderen Religionsgemeinschaften in Slowenien angeht, setzte man große Hoffnungen auf die Wende nach der Unabhängigkeitserklärung, ganz besonders auf die Lösung der offenen Fragen, worunter insbesondere der Religionsfreiheit hervorzuheben ist. In Wirklichkeit hat man auf diesem Gebiet relativ kleine Fortschritte gemacht. Erst die aktuelle Regierung, die seit Oktober 2004 an der Macht ist, versucht auch im Bereich der Religionsfreiheit den Rechtstaat herzustellen und möchte die alten Ungerechtigkeiten heilen. Im vorliegenden Artikel geben wir zunächst einen historischen Überblick, wie das ehemalige politische System die katholische Kirche behandelte. Ebenso

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wird der Beitrag der katholischen Kirche für die Selbständigkeit und Unabhängigkeit Sloweniens dargelegt. Im Weiteren wird aber die Entwicklung der rechtlichen Beziehungen zwischen der Kirche und dem Staat dargeboten. II. Das Handeln des totalitären Regimes gegenüber der katholischen Kirche – historischer Rückblick Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die katholische Kirche in Slowenien, wie im ganzen ehemaligen Jugoslawien, stark verfolgt. Die Verfolgung ließ etwas nach, als der Heilige Stuhl und die Republik Jugoslawien 1966 ihre diplomatischen Beziehungen wieder aufnahmen1. Die kommunistische Verfassung bestimmte, dass der Glaube Privatsache jedes Einzelnen sei, und jegliche Aktivität der Kirche auf erzieherischem sowie sozialem und karitativem Gebiet war gesetzlich verboten. Jede Religiosität war aus der gesamten öffentlichen Sphäre verbannt. Das Weihnachten war ein gewöhnlicher Werktag, im Fernsehen gab es keine einzige religiöse Sendung und alles öffentliche Leben verlief so, als hätte es Religion nie gegeben. Nicht nur der Staat war von der Kirche getrennt, auch die Zivilgesellschaft – soweit sie im Staat der kommunistischen Partei überhaupt existierte – war von der Religion isoliert. Ein solcher Zustand machte es nicht nur unmöglich, christlichen Glauben und Moral mit sozialer und politischer Tätigkeit zu verbinden, sondern er führte auch dazu, dass die Christen selbst die Rolle missverstanden, die die Kirche in der Öffentlichkeit spielen sollte. Man betonte immer wieder, dass Ethik und Politik nichts gemeinsam haben, dass Politik amoralisch und Moral apolitisch sei.

1

Der rechtliche Status der Kirche war unter kommunistischem Regime nicht nur in den bekannten Gesetzen geregelt, sondern es gab eine Vielzahl ungeschriebener und streng geheimer Vorschriften. Die Dokumente des Sicherheitsdienstes aus den Jahren 1967, 1970, 1982 und 1985 beweisen, dass man sich mit der Kirche damals sehr intensiv beschäftigte. Diese Dokumente wurden 2003 veröffentlicht: Lovro Šturm / Ljuba Dornik Šubelj / Pavle ýelik, Navodila za delo varnostnih organov v SR Sloveniji, Objava arhivskih virov, in: Viri, Nr. 21, Ljubljana 2003. Vgl. Lovro Šturm, Das Recht der Religionsgemeinschaften in Slowenien, in: Das Recht der Religionsgemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südeuropa. Hrsg. v. Wolfgang Lienemann / Hans-Richard Reuter, BadenBaden 2005, S. 473 – 474. Zu der Lage der Kirche in Slowenien nach dem II. Weltkrieg siehe noch: Peter Kvaternik, Brez þasti, svobode in moþi, Ljubljana 2003, S. 47 –53. Das Buch ist eine von Dr. Kvaternik verfasste Dissertation, die unter dem Titel „Leben ohne Ansehen, Freiheit und Kraft“ bei Dr. Paul. M. Zulehner am Pastoralinstitut der Theologischen Fakultät in Wien 2000 verteidigt wurde.

Die Katholische Kirche in Slowenien im Verhältnis zum Staat

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Da die Kirche im Öffentlichkeitsrecht keinen Platz hatte, wies sie immer wieder darauf hin, dass die Religionsfreiheit in Slowenien wesentlich eingeschränkt wurde. Wenn sie sich in diesem Zusammenhang für die Achtung der Menschenrechte einsetzte, tat sie dies aus moralischen und nie aus politischen Gründen. Das System akzeptierte es nicht und warf der Kirche immer wieder vor, dass sie sich in die Politik einmische. Der Kommunismus kannte nämlich keine Moral, sondern handelte immer rein opportunistisch. Die Staatsmacht war deswegen nie bereit, über die politischen Fragen auch unter dem moralischen Gesichtspunkt zu diskutieren. Da in der Zeit des Kommunismus die katholische Kirche in der Opposition und am Rande stand, hat sie den Prozess der politischen Meinungsvielfalt öffentlich unterstützt. Die Kirche wurde zwar als politischer Faktor schlechthin nicht tätig, sie nutzte aber schon einige Jahre vor der Wende jede Gelegenheit aus und setzte sich für den Pluralismus und für die Demokratie ein2. Je schwächer das politische System war, desto stärker unterstützte sie alle demokratischen Bestrebungen, unabhängig davon, von welcher Seite diese kamen. III. Die Rolle der katholischen Kirche beim Demokratisierungsprozess Die slowenischen Bischöfe, die am 20. Juni 1983 im Rahmen der damaligen jugoslawischen Bischofskonferenz auch eine eigene regionale Slowenische Bischofskonferenz (SBK) gründeten, äußerten ihre Einstellungen zu der pluralistischen Gesellschaft meistens durch die Kommission „Justitia et Pax“ der SBK. Die Kommission entstand im 1985,3 und die Menschenrechte dienen als ihre theoretische Grundlage. Die Kommission setzte sich in den ersten Erklä-

2 Vgl. Anton Stres, Cerkev in država, Ljubljana 1998, S. 7 – 10; ders., Le rapport entre l’Église et l’état. Le point de vue de la théologie et de la philosophie politique, in: Država in Cerkev, izbrani zgodovinski in pravni vidiki, mednarodni posvet 21. in 22. junija 2001, State and Church, selected historical and legal issues, Slovenska akademija znanosti in umetnosti (SAZU), International Conference, June 21 and 22, Ljubljana 2002, S. 331 – 334. 3

Die slowenischen Bischöfe gründeten den Rat der Bischofskonferenz Iustitia et Pax in den Sitzungen vom 24. September und 19. November 1985. Die Gründung wurde rechtskräftig am 1. Januar 1986. Am 2. September 1987 nannte sich der Rat zu Kommission Iustitia et Pax um. Vgl. Anton Stres, Prva desetletnica komisije praviþnost in mir, in: Komisija Praviþnost in mir pri Slovenski škofovski konferenci, Izjave, Cerkveni dokumenti 61, Ljubljana 1995, S. 7. Seit Anfang leitet die Kommission Prof. Dr. Anton Stres, der amtierende Weichbischof von Maribor.

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rungen vor allem für die Gerechtigkeit, Respektierung der Menschenwürde und für Gewissens- und Religionsfreiheit4 ein. Die katholische Kirche war in dieser Zeit fast das einzige Subjekt, das nicht mehr direkt unter der Kontrolle des Regimes stand. Es wurde immer deutlicher, dass in absehbarer Zeit der entscheidende Schritt in Richtung politischen Pluralismus gewagt und konsequent ausgeführt werden muss. Bis zur Unabhängigkeit Sloweniens nahm die Kommission „Justitia et Pax“ mehr als fünfundzwanzig Mal Stellung zu der einen oder anderen wichtigen Frage der Menschenrechte und der Gerechtigkeit. Die Kirche selbst trat nie als selbständiges politisches Subjekt auf, sie gab aber allen Bemühungen und Versuchen solcher Art öffentliche und moralische Unterstützung. Dies wurde zum Hauptziel sämtlicher demokratischen Bemühungen und Bewegungen. Sowohl in der Vorbereitungsphase auf die Selbstständigkeit der Republik Slowenien als auch während der Entscheidungsprozesse gehörte die katholische Kirche zu den Trägern der politischen Veränderungen. Msgr. Dr. Alojzij Šuštar – der damalige Erzbischof von Ljubljana (1980 – 1997) und Metropolit, gleichzeitig auch Vorsitzender der Slowenischen Bischofskonferenz – hat sich in den Bestrebungen nach der Unabhängigkeit Sloweniens nicht nur auf der staatlichen sondern auch auf der internationalen Ebene tatkräftig eingesetzt. Als ehemaliger Generalsekretär des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) (1971 – 1976) hatte er gute Verbindungen und pflegte Freundschaften mit kirchlichen und politischen Autoritäten in entscheidenden Stellen in ganz Europa. Seine staatserhaltenden Tätigkeiten hatten weitreichende Konsequenzen für die Souveränität des Staates und für die Identität der Slowenen. IV. Statistische Daten und die Situation in der Kirche heute Die meisten slowenischen Staatsbürger gehören der katholischen Kirche an. Bei der Volkszählung aus dem Jahr 1991 haben sich 71,36 % der Bewohner für katholisch erklärt, 4,21 % davon gehörten keiner Religion an, bei 14,97 % der Bevölkerung war aber die Antwort unbekannt. Die Angehörigen der anderen bedeutenderen Glaubensbekenntnisse waren in erster Linie die Orthodoxen 2,38 % und Muslime 1,51 %. Diese sind Zuwanderer aus den anderen Republiken des ehemaligen Jugoslawiens.

4

Die erste Presseerklärung vom 2. Dezember 1986 und die zweite Presseklärung vom 22. März 1987 sprachen über die Gewissenseinwendung. Die dritte Presseklärung vom 25. Juni 1987 sprach über die Gewissensfreiheit. Vgl. Komisija, S. 9 – 11.

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2002 gab es in Slowenien neuerlich eine Volkszählung. Die Anzahl der Katholiken ist dem Anschein nach drastisch gesunken: von 71 % zu 57,8 %. Aber der Anteil derer, die ihre Religionszugehörigkeit nicht angeben wollten, ist von 4,21 % auf 15,70 % gestiegen und die Zahl der Atheisten von 4,21 % auf 10,10 %5. Die letzte Volkszählung ist hinsichtlich der religiösen Zugehörigkeit ganz unzuverlässig: die Beamten, die die Volkszählung durchführten, sollten allen Bürgern sagen, dass sie die Frage nach der Religionszugehörigkeit nicht verbindlich beantworten müssten. Trotzdem erklärten sich 58 % der Bürger als Katholiken und das bedeutet, dass 58 % der Bevölkerung entschlossene und bewusste Katholiken sind. Nach der kirchlichen Statistik vom Jahr 2000 gibt es aber noch immer 81,34 %6 katholisch getaufte Personen. Nach einigen anderen Meinungsumfragen nehmen 13 % aller Einwohner regelmäßig an religiösen Riten teil, 11 % wenigstens einmal pro Monat, 30 % aber nur an großen Feiertagen und zu besonderen Gelegenheiten. Diesen Angaben zufolge dürfte die katholische Kirche mit ungefähr 55 % aller Einwohner im unmittelbaren Kontakt stehen. Dieselben Untersuchungen ergeben auf der andren Seite auch die Tatsache, dass das Vertrauen in den Klerus und in die Kirche in den ersten Jahren nach der Demokratisierung und der Unabhängigkeit des Staates gesunken ist. Man hat das Vertrauen zu allen Institutionen, besonders zu politischen Parteien, Regierung und Parlament verloren; wobei besonders besorgniserregend ist, dass dieser Umfrage nach mehr Menschen zu Polizisten als zu den Geistlichen und zur Kirche Zutrauen haben 7. Der slowenische Katholizismus ist dadurch charakterisiert, dass der Klerus die meisten Aktivitäten in der Kirche trägt – nicht nur im pastoralen Bereich, sondern auch auf sozialem, karitativem und erzieherischem Gebiet. Zwar gibt es in Slowenien immer mehr Laien, doch sind sie in den Gemeinden weniger aktiv8. Die Gründe dafür sind folgende: 1. Slowenien leidet noch unter keinem großen Pries5

Urška Prepeluh / Lovro Šturm, Pregled veljavne slovenske prave ureditve, in: Lovro Šturm / Simona Drenik / Urška Prepeluh, Sveto in svetno, Pravi vidiki verske svobode, Ljubljana 2004, S. 119 f. 6

Statistik des Pastoralsamtes der Erzdiözese Ljubljana, 14. März 2006.

7

Vgl. Vinko Potoþnik, Sprava v zavesti slovenskih kristjanov. Pastoralno sociološka raziskava, in: Zakrament sprave v novi luþi, zbornik predavanj s pastoralnega teþaja, Ljubljana 1999, S. 3 – 30. 8 Zur Typologie des Verhältnisses zwischen den Klerus und Laien in Slowenien siehe: Peter Kvaternik, Kakor kvas za posveþenje sveta, kršþanski laiki v Cerkvi in svetu, in: V prelomnih þasih. Hrsg. v. Peter Kvaternik, Ljubljana 2001, S. 71 – 92. Der Artikel der erwähnten Arbeit ist die Frucht des internationalen Forschungsprojekts „Aufbruch“ 1995 – 2000, geleitet von Paul M. Zulehner, Religion in den Reformländern Ost(Mittel)Europas, Ostfildern 1999.

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termangel; 2. die Pastoral ist sehr traditionell; 3. das einzige Einkommen der Kirche stellen freiwillige Spenden der Gläubigen dar. Da das Verhältnis des Staates zu den Religionsgemeinschaften rechtlich nicht geordnet ist, fehlen der katholischen Kirche entsprechende finanzielle Mittel, um eine größere Zahl von Laien einstellen zu können. An der theologischen Fakultät im Rahmen der Universität von Ljubljana und an ihrer Filiale in Maribor studierten im Studienjahr 2005/06 544 Theologiestudenten: 383 im Hauptfach und 161 im Nebenfach9. Die Theologen finden im Zivilbereich nur schwer Arbeit, etwas leichter ist für diejenigen, die ein Zweifächerstudium abgeschlossen haben. 2005 wurden in ganz Slowenien 23 Diakone zum Priester geweiht10. Slowenien hat drei Diözesen: Erzdiözese und Metropolie in Ljubljana und Diözesen in Maribor und in Koper. Im November 2005 hat die SBK dem Heiligen Stuhl vorgeschlagen, drei neuen Diözesen zu errichten – in Novo mesto, in Celje und in Murska Sobota11. V. Die Rechtstellung der katholischen Kirche in Slowenien Die Rechtstellung der katholischen Kirche in der Republik Slowenien ist in der demokratischen Verfassung vom Jahr 1991 geregelt12. In Slowenien steht noch immer das Gesetz über die Religionsgemeinschaften aus dem Jahr 1976 in Geltung, das trotz einer kleinen Modifizierung 1991 mit der neuen demokratischen Verfassung nicht in Einklang gebracht worden ist. Das neue Gesetz über die Religionsfreiheit durchläuft noch die parlamentarische Prozedur und wird voraussichtlich noch 2006 in Kraft treten. Zwischen der Republik Slowenien und dem Heiligen Stuhl wurde am 14. Dezember 2001 das internationale Abkommen über die rechtlichen Fragen geschlossen, das zuerst durch das slowenische Verfassungsgericht13 beurteilt wurde. Das Verfassungsgericht stellte am 19. Januar 2004 fest, dass es nicht gesetzwidrig ist. Am 28. Januar 2004 wurde es vom slowenischen Parlament und am 28. Mai 2004 auch vom Heiligen Stuhl ratifiziert14. Auf nationaler Ebene wurde am 21. September 2000 ein weiteres 9

Vgl. Bogdan Kolar, Der Bericht der Theologischen Fakultät der Universität Ljubljana für das Jahr 2005, 24. Februar 2006, Archiv SBK 2006, Nr. 107/06. 10

Sporoþila slovenskih škofij (Offizielles Blatt der SBK), 6/2005, S. 88 und 122 –

123. 11

Vgl. Archiv SBK 2005, Nr. 297/05.

12

Ustava Republike Slovenije, Uradni list RS, Nr. 33-1409/91-I.

13

Vgl. Mnenje Ustavnega sodišþa Nr. Rm-1/02-21, 19.11. 2003, Uradni list Republike Slovenije, Nr. 118/2003. 14 Sporazum med Republiko Slovenijo in Svetim sedežem o pravnih vprašanjih, Accordo fra la Repubblica di Slovenia e la Santa Sede su questioni giuridiche, Uradni list Republike Slovenije – Mednarodne pogodbe, Nr. 4, 12. 2. 2004, S. 3010 – 3012. Vgl.

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Abkommen über die Militärseelsorge15 zwischen der Slowenischen Bischofskonferenz und der Regierung geschlossen. VI. Die Verfassung Die grundlegende konstitutionelle Bestimmung, entscheidend für die Lage der katholischen Kirche in Slowenien, ist der 7. Artikel der Slowenischen Verfassung: „Der Staat und die religiösen Gemeinschaften sind getrennt. Die religiösen Gemeinschaften sind gleichberechtigt; ihre Tätigkeit ist frei“. Der grundlegende Artikel legt die Trennung von Staat und religiösen Gemeinschaften, ihre Gleichheit vor dem Gesetz und freie Religionsausübung gesetzmäßig fest. Der Vergleich zwischen dem Artikel 174 der ehemaligen jugoslawischen Verfassung (1974) und dem Artikel 229 der Verfassung der sozialistischen Republik Slowenien zeigt, dass die Vorschriften ziemlich ähnlich waren16. De facto wurde die Trennung der Kirche vom Staat als Ausschluss der Kirche aus der Gesellschaft verstanden, denn damals waren weder die Verfassung noch das Gesetzt ausschlaggebend, sondern die juridische Praxis17. Die Konsequenzen dieser Mentalität waren sehr weit reichend und man spürt sie noch heute: es sieht so aus, als ob die Kirche kein Recht hätte, ein gleichberechtigter Gesprächspartner mit dem Staat zu sein.

Andrej Graselli, Sporazum s Svetim sedežem (Agreement with the Holy See), Pravnik 55 (2000), S. 1 – 3, 94 – 106. 15

Vgl. Sporazum med Slovensko škofovsko konferenco in Vlado Republike Slovenije o duhovni oskrbi vojaških oseb v slovenski vojski, Archiv SBK, Nr. 297/05; Jože Plut, Za pravice þloveka, Ljubljana 2002, S. 229. 16

„Um Art. 7. der Verfassung richtig zu verstehen, muss man sich bewusst machen, dass die frühere Verfassung die Religionsausübungsfreiheit in die reine Privatsphäre verwiesen hatte“. Šturm, Recht der Religionsgemeinschaften in Slowenien (Anm. 1), S. 477. 17

„Such position is not attributed so much to the constitutional arrangement but rather to the realization of this constitutional principle in laws and regulations“. Igor Kauþiþ, The principles of constitutional regulation of relations between State and Church in Slovenia, in: State and Church, S. 404. Die Trennung war Vorwand und Ausrede für die Privatisierung des Glaubens und der Kirche. Diese Denkart ist unter slowenischen Politikern linker Provenienz noch heute sehr lebendig. Sie steht in enger Verbindung mit dem Laizismus, der tatsächlich – wenn auch nicht offiziell – die Ideologie der slowenischen liberalen Demokraten ist. Inhaltlich ähnelt dieser Laizismus eher dem französischen Laizismus vom Ende des vergangenen Jahrhunderts als der modernen Laizität, die für alle zeitgenössischen europäischen Regelungen der Beziehungen zwischen dem Staat und der Kirche charakteristisch ist. Siehe dazu: Anton Stres, Cerkev in država (Anm. 2), S. 6 – 11.

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Die Verfassung sichert die Religions- und Gewissensfreiheit in Artikel 41 zu. Diese Norm bezieht sich nicht nur auf die Religiosität des einen oder anderen Glaubens, sondern auch auf die philosophischen und moralischen Weltanschauungen. Sie gewährleistet: 1. Gewissensfreiheit; 2. das Recht, keiner Religion oder Weltanschauung anzugehören oder diese öffentlich nicht zu bekennen; 3. schützt sie auch das Recht der Eltern, ihre Kinder ohne staatlichen Zwang und in Einklang mit ihrer eigenen Weltanschauung und ihrem Gewissen erziehen zu können. Jedes Individuum hat das Recht, seine Religion oder Weltanschauung privat oder öffentlich zu bekennen. Prof. Šturm, der amtierende slowenische Justizminister, betont, dass die Gewissensfreiheit jedes einzelnen sowohl die positive Religionsfreiheit – also das Recht, einen Glauben zu haben, ihn selbst zu wählen oder zu ändern und ihn nach eigenem Ermessen öffentlich zu machen – wie auch die negative Religionsfreiheit – d. h. das Recht, keine Religion und keinen Glauben zu haben oder ihn nicht öffentlich zu machen – umfasst18. Neben den bereits erwähnten grundsätzlichen Verfassungsvorschriften erwähnen wir noch einige andere Regelungen. Der 42. Artikel der Verfassung der Republik Slowenien sichert das Recht zu, sowohl an friedlichen Versammlungen teilnehmen zu können wie auch keiner Vereinigung angehören zu müssen. Die Freiheit der Erziehung schützt Artikel 57 und schreibt eine vom Staat finanzierte Grunderziehung vor. Diesem Artikel gemäß hat jeder Bürger das Recht und die Möglichkeit, eine angemessene Ausbildung zu bekommen. Die slowenische Verfassung regelt das Verhältnis unter Individuen mit zwei zusätzlichen Vorschriften: Artikel 63 untersagt jegliche religiöse Diskriminierung, Hass oder Intoleranz. Als Folge der Vorschrift über die Gleichheit aller vor dem Gesetz verbietet der Artikel 14 jede Diskriminierung aufgrund der Religion oder des Glaubens. Das Grundprinzip aller Verfassungsvorschriften ist auf jeden Fall das Recht jedes Menschen, die Religion frei auszuüben. Nach Ratifizierung des Abkommens zwischen der Republik Slowenien und dem Heiligen Stuhl 2004 und nach Ratifizierung der Konstitution für Europa im slowenischen Parlament am 1. Februar 2005, hat sich der slowenische Staat verpflichtet, mit der katholischen Kirche einen offenen, transparenten und ständigen Dialog zu führen. Auf dieser juridischen Grundlage kann man das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche nur im diesem Sinne verstehen, dass die Kirche und der Staat in eigenen Bereichen autonom bleiben, aber zueinander positiv eingestellt sind19. Trotz der 18 19

Vgl. Šturm, Recht der Religionsgemeinschaften (Anm. 1), S. 477.

Das Abkommen legt in Artikel 1 fest: „La Santa sede e la Repubblica di Slovenia riaffermano il principio che la Chiesa Cattolica e lo Stato sono, ciascuno in proprio ordine, indipendenti ed autonomi, e si impegnano al pieno rispetto di tale principio nei

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Autonomie soll das Handeln der Kirche mit der Verfassung und anderen Gesetzen übereinstimmen, der Staat selbst darf sich aber ins kirchliche Leben nicht einmischen und soll diejenigen Bedingungen zusichern, in denen die katholische Kirche ihre Sendung und Mission verwirklichen kann. VII. Vom Gesetz über die Religiösengemeinschaften zum Gesetz über die Religionsfreiheit Der Staat hatte mehr als fünfzig Jahre eine negative Stellung zur Religion im Allgemeinen, was noch heutzutage eine mangelhafte Entwicklung der gesetzlichen Normen über die Religionsfreiheit zur Folge hat. Das Rechtsystem hat zwar in vielen Bereichen in der Gesellschaft große Fortschritte gemacht, aber die rechtlichen Normen auf dem religiösen Gebiet blieben bisher lückenhaft. In Slowenien steht noch immer das Gesetz über die rechtliche Stellung der Religionsgemeinschaften aus dem Jahr 1976 in Geltung. Das Gesetz änderte sich erstmals 1986 im Sinne der Erweiterung einiger Strafvorschriften20, später – 1991 – wurden noch folgende Änderungen vorgenommen: die sozialistische Terminologie wurde ausgetilgt und die Privatschulen wurden zugelassen. Im Laufe der Zeit ist klar geworden, dass das Gesetz nicht nur mit der Verfassung unvereinbar wurde, sondern es entsprach weder dem konkreten Leben noch den religiösen Bedürfnissen. So fehlten Regelungen, die eine Religionsgemeinschaft definieren, und die Kriterien für ihre Etablierung und Registrierung. In Übereinstimmung mit dem damaligen politischen System zur Zeit der Entstehung dieser juridischen Regelungen sollten religiöse Angelegenheiten ins Privatleben verwiesen werden, und Religion an sich hatte gemäß dieser Gesetze keinen Platz im öffentlichen Leben. Artikel 7. der neuen demokratischen Verfassung legt zwar fest, dass die Religiösengemeinschaften ihre Tätigkeit ausüben können, regelt aber nicht ihre rechtliche Einrichtung. Mit der Absicht, eine neue, gerechtere Rechtsordnung herzustellen, wurden in den ersten zehn Jahren der Demokratie im slowenischen Parlament zwei

loro rapporti reciproci e alla collaborazione per la promozione della persona e del bene comune“. Vgl. Lovro Šturm, The legal status of religious communities in the republic of Slovenia at the time of its inclusion in the free democratic society Europe, in: Church and State (Anm. 2), S. 386. Siehe dazu noch: Die Presseerklärung der SBK von 30. Januar 2004 bei der Ratifizierung des Abkommens mit dem Heiligen Stuhl im slowenischen Parlament, Archiv der Presseamt der SBK, 13/04. 20

Vgl. dazu die Magisterarbeit des amtierenden Direktors vom staatlichen Büro für Religionsgemeinschaften: Drago ýepar, Upravna ureditev prijave delovanja verskih skupnosti, Ljubljana 2005, S. 5.

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Vorschläge des neuen Gesetzes über die Stellung der Religionsgemeinschaften eingebracht. Den ersten Entwurf schlug am 1. Oktober 1996 der liberale Abgeordnete, Rafael Kužnik vor21 und den zweiten am 22. Juni 1998 die Regierung selbst22. Das Vorhaben der damaligen Regierung war nicht, eine echte Religionsfreiheit zu sichern, wo nach demokratischen Normen die Gerechtigkeit und die Würde des Menschen respektiert werden, sondern vor allem die Registrierungsnormen zu präzisieren. Trotz der demokratischen Verfassung stand der Gesetzgeber noch immer auf dem Standpunkt des ehemaligen politischen Systems: Alles, was nicht direkt erlaubt ist, ist verboten. Die katholische Kirche widersetzte sich diesem Gesetz aus mehreren Gründen, weil das religiöse Leben und die religiöse Betätigung dadurch unnötigerweise gesetzlich reguliert und begrenzt würden23. Die beiden Entwürfe fanden deswegen im Parlament keine notwendige Unterstützung und so blieb es nur bei einer Diskussion. Das Amt der Regierung der Republik Slowenien für die religiösen Gemeinschaften unter der Leitung des amtierenden Direktors Dr. Drago ýepar übertrug 2003 dem Institut für Menschenrechte, das von Prof. Dr. Lovro Šturm geleitet wird, eine schwierige Aufgabe: einen neuen Gesetzesentwurf über Religionsfreiheit nach demokratischen Normen zu verfertigen. Das neue Gesetz sollte einen fachlichen und festen rechtlichen Grund haben und konform mit vergleichbaren Gesetzen im Ausland sein24. Nach dem Regierungswechsel im Herbst 2004 widersprach die Opposition (Parteien kommunistischer Herkunft) dem neuen Gesetzentwurf, der eine Zustimmung von den meisten Kirchen und religiösen Gemeinschaften hat. So hat der liberale Abgeordnete, Aleš Guliþ einen eigenen gegensätzliches Gesetzvorschlag über die Religionsfreiheit und die religiösen Gemeinschaften vorbereitet und hat ihn im Juli 2005 dem zuständigen parlamentarischen Amt unterbreitet. Die Regierung schätzte ihn als ungeeignet ein und lehnte ihn ab.

21

Rafael Kužnik, Predlog zakona o pravnem položaju verskih skupnosti v Republiki Sloveniji, Poroþevalec DZ, 41, 1996 – EPA 1643. 22

Vlada Republike Slovenije, Predlog zakona o verskih skupnosti, Poroþevalec DZ, 44, 1998 – EPA 522 – II. 23 Die SBK widersprach diesem Entwurf in einem Brief vom 6. März 2003. Die Verhandlungsposition der Kirche wurde in der gemeinsamen Sitzung mit der staatlichen Kommission am 20. März 2003 vorgestellt. Zum Gesetzentwurf vom 1998 siehe auch: Urška Prepeluh, Svoboda religije in prepriþanja ter razmerja med državo in verskimi skupnostmi v Sloveniji, in: Cerkev in država, pravna ureditev razmerja med državo in Cerkvijo. Hrsg. v. Lovro Šturm, Ljubljana 2000, S. 319 – 320. 24

Vgl. Urška Prepeluh, Nova ureditev svobode religije v Sloveniji, in: Sveto in svetno, S. 180 f. Der neue Gesetzentwurf ist erreichbar unter: http://www.uvs.gov.si/ und http://www.dz-rs.si/.

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Der Gesetzentwurf über die Religionsfreiheit von Prof. Šturm ist seit Februar 2006 in parlamentarischer Behandlung und wird voraussichtlich in diesem Jahr in Kraft treten. Unter Berücksichtigung der nationalen und internationalen Gesetze, Konventionen und Dokumente der Menschenrechte sichert der neue Gesetzentwurf die Religionsfreiheit und setzt die notwendigen Grenzen – unter anderem die Registrierungsnormen – um eventuelle Missbräuche zu verhindern. Erstmals wird im slowenischen Rechtssystem zwischen Kirchen und religiösen Gemeinschaften unterschieden. Kirchen und religiöse Gemeinschaften definiert man als nützliche und positive Organisationen für die Gesellschaft. VIII. Verlauf der Verhandlungen zwischen der katholischen Kirche und dem Staat seit 1991 Die katholische Kirche in Slowenien ist um eine umfassende Regelung der Beziehungen zwischen dem Staat und der Kirche nach dem Vorbild anderer mitteleuropäischen Nachbarstaaten bemüht. Die Verhandlungen begannen 1992 mit der Absicht, die Lage der Kirche durch Gesetze zu regeln und zwar in Form rechtmäßiger Normen und eines Konkordats bzw. mehrerer partieller internationaler Abkommen zwischen Slowenien und dem Heiligen Stuhl. Die damalige slowenische Regierung schien für diesen Vorschlag offen zu sein und hatte sich dazu bereit erklärt, die Gespräche mit der Kirche zu führen und die offenen Fragen zu lösen. Im Herbst 1992 wurde folglich eine gemischte Dachkommission für die Lösung der offenen Fragen gegründet, in der beide Verhandlungspartner gleichberechtigt sein sollten, tatsächlich waren sie es aber nicht. Die katholischen Kirche schlug vor, dass die Kommission gesetzliche Lösungen für fünf Bereiche vorbereiten sollte und zwar (1) für die rechtliche Lage der Kirche, (2) für Wirtschaft und Finanzen, (3) für Schulwesen, (4) für Kultur und (5) für die pastorale Tätigkeit in besonderen Anstalten (z. B. in den Krankenhäusern, Gefängnissen, in der Armee, bei der Polizei usw.). Als Resultat der Anfangsgespräche wurde 1994 ein gemeinsames Dokument unterschrieben, in dem sich der Staat verpflichtete, das bürgerliche Recht auf freie, persönliche und gemeinsame Ausübung der Religion zu respektieren. Außerdem wurde darin noch präzisiert, dass der 7. Artikel der Slowenischen Verfassung, der über die Trennung von Staat und religiösen Gemeinschaften spricht, in Zukunft positiv interpretiert wird25.

25 Vgl. Šturm, Recht der Religionsgemeinschaften in Slowenien (Anm. 1), S. 481; ders., The legal status of religious communities (Anm. 19), S. 386.

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Die erwähnte gemischte Dachkommission arbeitete bis 1994 recht gut, beendete dann aber aus Mangel an gutem Willen auf Seiten des Staates ihre Tätigkeit. Da die Verhandlungen fruchtlos blieben, berief die SBK 1997 ihre Mitglieder aus dieser Kommission ab. In selben Jahr wurden zwei neue Verhandlungsgruppen gegründet: eine Verhandlungskommission der SBK und eine staatliche Kommission für die Regelung der Beziehungen mit der katholischen Kirche, die 2000 in die Kommission für die Lösung der offenen Fragen mit den religiösen Gemeinschaften umbenannt wurde. Die kirchliche Kommission betonte von Anfang an, das Ziel dieser Verhandlungen sei das Schließen eines oder mehrerer internationaler Abkommen zwischen der Republik Slowenien und dem Heiligen Stuhl. In diesem Punkt kam es zu großen Meinungsverschiedenheiten, weil die liberalen Demokraten, die in der Regierung die ganze Zeit die stärkste Macht darstellten, dem Abschluss eines Abkommens zwischen der Republik Slowenien und dem Heiligen Stuhl widersprachen. Die Regierung betrachtete den Heiligen Stuhl als ein fremdes Rechtssubjekt, die katholische Kirche aber als ein einheimisches Rechtssubjekt. Dahinter steckten eine etatistische und laizistische Ideologie und gleichzeitig auch Angst, dass die katholische Kirche mit dem Abschluss eines internationalen Abkommens ihre Stellung in der slowenischen Gesellschaft festigen könnte und damit das Recht bekäme, ein gleichberechtigter Gesprächpartner zum Staat zu sein. Die weiteren Verhandlungen erzielten kein Resultat bis der damalige Ministerpräsident Dr. Janez Drnovšek seine Haltung völlig änderte. Er bewegte die liberale Partei, deren Vorsitzender er bis vor kurzem war, nach der Unterschrift des Vertrags zwischen der SBK und der slowenischen Regierung über die Militärseelsorge 2000 auch das erste Abkommen mit dem Heiligen Stuhl 2001 endlich abzuschließen26. Die getroffene Abmachung zwischen der Republik Slowenien und dem Heiligen Stuhl über die rechtlichen Fragen hat die Lage der katholischen Kirche nicht wesentlich geändert. Die fünfzehn Artikel des Abkommens bringen praktisch gesehen nichts neues; aus juridischer Sicht geht es aber um ein wichtiges Dokument, mit dem die Kirche als ein Rechtssubjekt anerkannt und vom Staat die Bereitschaft zugesichert wurde, weitere Gespräche mit der katholischen Kirche zu führen. Seit dem Regierungswechsel im Herbst 2004 ist der politi-

26

Die Vorbereitung des Abkommens zwischen der Republik Slowenien und dem Heiligen Stuhl begann mit der Unterschrift der Übereinstimmung am 1. Februar 1999. Vgl. Archiv der kirchlichen Kommission, Faszikel 1., Februar 1999. Trotz kritischer Bemerkungen von Abkommensgegnern verliefen am 29. April 1999 die Verhandlungen. Vgl. Drago ýepar, Upravna ureditev prijave delovanja verskih skupnosti, S. 5.

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sche Wille der Regierung gegenüber der Kirche wohlwollend. Am 3. Februar 2005 wurden unter der Leitung des amtierenden Justizministers Prof. Dr. Lovro Šturm neue Mitglieder der staatlichen Kommission für die Lösung der offenen Fragen mit den religiösen Gemeinschaften ernannt. Die Kirche hat am 14. März und am 4. April 2005 an der 21. ordentlichen Sitzung der SBK die eigene Kommission erneuert27. Die beiden Kommissionen trafen sich bis Ende März 2006 nur einmal, und zwar am 22. April 2005. Der Vorsitzende der kirchlichen Kommission, Prof. Dr. Anton Stres hat am erwähnten gemeinsamen Treffen die Liste der noch nicht gelösten offenen Fragen der katholischen Kirche vorgestellt, die fünf Hauptbereiche betreffen: (1) die rechtlichen Fragen, (2) Ausbildung und Erziehung, (3) die finanziellen und wirtschaftlichen Fragen, (4) die pastorale Tätigkeit der Kirche in besonderen Verhältnissen und (5) Schutz der Kulturdenkmäler in kirchlichem Besitz28. Die Priorität der katholischen Kirche ist es, dass die Republik Slowenien und der Heilige Stuhl folgende weitere internationale Abkommen schließen: das Heben des zwischen der SBK und der Regierung der Republik Slowenien unterschriebenen Abkommens über die Militärseelsorge29 auf die internationale Ebene und das Schließen von Abkommen über den Schutz der Kulturdenkmäler im kirchlichen Besitz sowie über die Finanzierung der Kirche und das Schulwesen usw. IX. Die aktuelle Lage der katholischen Kirche und die offenen Fragen Gemäß der geltenden gesetzlichen Vorschriften sind die Rechtssubjekte der katholischen Kirche (Bistümer, Pfarreien, Orden) Rechtspersonen des privaten oder zivilen Rechts. Die religiösen Anstalten, die sich mit religiöser Tätigkeit in engerem Sinne befassen, erlangen den Status einer Rechtsperson durch Registrierung beim zuständigen Amt der Republik Slowenien für die religiösen Gemeinschaften30. Die anderen kirchlichen Anstalten, die sich mit erzieherischer, sozialer oder karitativer Tätigkeit befassen, erreichen den Status einer Rechts-

27

Vgl. Das Protokoll der 21. ordentlichen Sitzung der SBK, Nr. 114/05.

28

Vgl. Anton Stres, Die Ernennung der Kirchlichenmitglieder der Kommission für die Lösung der offenen Fragen mit dem Staat und die Liste der offenen Fragen, 5. März 2005, Archiv SBK, Nr. 129/05. 29 Sporazum med Slovensko škofovsko konferenco in Vlado Republike Slovenije o duhovni oskrbi vojaških oseb v slovenski vojski, Archiv SBK, Nr. 297/05. 30

Vgl. Anton Stres, Kirche und Staat in Slowenien, Vorträge vom 28. Januar 2002 und 8. November 2004, Archiv der SBK, Nr. 116/06, Siehe auch: Drago ýepar, Upravna ureditev prijave delovanja verskih skupnosti, S. 13 – 22.

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person durch Erfüllung der Bedingungen, die auch für die nicht-kirchlichen Anstalten mit analoger Tätigkeit gelten. Im Bereich der Militärseelsorge in Slowenien sind fünf Priester und vier Pastoralassistenten angestellt, ein weiterer Priester ist auch in der Gefängnisseelsorge tätig. Alle werden vom Staat bezahlt. Die katholische Kirche hat am 20. Juni 2005 auch den Seelsorger für die Polizei ernannt, der aber wegen des politischen Widerstands mit seiner Tätigkeit noch nicht beginnen konnte. Mit Ausnahme der bisher erwähnten rechtlichen Lage der kirchlichen Rechtspersonen sind alle anderen Gebiete noch nicht zufrieden stellend geordnet. Auf dem Gebiet der pastoralen Tätigkeit besteht die beste Lage in den Krankenhäusern – fast alle Hospitale haben eine eigene Kapelle. Die Seelsorger werden von der Kirche bezahlt oder wirken sogar unentgeltlich. In den Altenheimen ist die Lage schlechter – nur in einem Drittel gibt es eine eigene Kapelle. Die finanzielle Lage der katholischen Kirche in Slowenien ist folgende: die Kirche finanziert sich im Prinzip mit Kollekten und freiwilligen Spenden. Die Priester kriegen keinen Gehalt; sie leben vor allem von Messstipendien und von freiwilligen Spenden der Gläubigen. Als Ausnahme gelten diejenigen Priester, die als Professoren an der Theologischen Fakultät der Universität Ljubljana angestellt sind, sie werden vom Staat bezahlt. Für die Beibehaltung des Kulturerbes, dessen Großteil sich im kirchlichen Besitz befindet, zeigt der Staat ein bestimmtes Verständnis; bei der Subventionierung anderer allgemeinkultureller und Bildungsaktivitäten verhält er sich eher restriktiv. Nach geltendem Recht leistet der Staat für die Sozial- und Rentenversicherung der Priester und der Kirchenangestellten einen Beitrag in Höhe von ungefähr 40 % der niedrigsten Versicherungsstufe, d. h. der Pflichtversicherung. Im neuen Gesetzentwurf über die Religionsfreiheit von Dr. Šturm war zuerst vorgesehen, dass der Staat den ganzen Versicherungsbeitrag zahlen wird, doch musste man wegen der starken Gegenwehr der politischen Opposition die 60-prozentige Zahlung akzeptieren. Was die Finanzierung der Kirche angeht, stehen die Fragen des kirchlichen Vermögens und auch der Schule im Vordergrund, die noch nicht gelöst sind. Bei der Vermögensfrage geht es um die Rückerstattung des kirchlichen Eigentums, das vom kommunistischen Regime verstaatlicht wurde. Das erste demokratische slowenische Parlament, das die Demokratisierung einführte, die neue Verfassung annahm und die Unabhängigkeit Sloweniens verwirklichte, verabschiedete schon im Dezember 1991 das Gesetz über die Entstaatlichung. Bis jetzt wurden ca. 90% des ehemaligen Vermögens rückerstattet. Der Staat ist gemäß demselben Gesetz nicht verpflichtet, diejenigen Immobilien, die jetzt kulturellen, gesundheitlichen und ausbildenden Tätigkeiten dienen, zurückzugeben. Da die kirchlichen Bauten überwiegend für diese Zwecke verwendet wurden, ist ein Großteil weiterhin im Besitz des Staates geblieben. Im Falle,

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dass eine Immobilie nicht in natura zurückgegeben wird, ist nach dem Entstaatlichungsgesetz eine Entschädigung vorgesehen31. Die zweite offene Frage betrifft das Schulwesen. Zurzeit ist Slowenien der einzige Staat in seiner geographischen Umgebung, der an den öffentlichen Schulen keinerlei Religionsunterricht hat. Die Kirche bietet den Kindern in Grund- und Hauptschulen die Katechese und die Vorbereitung auf den Empfang von Sakramenten in den Gemeinden an, die meistens von den katholischen schulpflichtigen Kindern besucht werden. Doch wollte nicht nur die offizielle Kirche sondern auch viele Eltern, dass nach dem Beispiel vergleichbarer Nachbarländer auch an den staatlichen Schulen Religionsunterricht erteilt wird. Mit Bezug auf den 7. Artikel der Verfassung der Republik Slowenien und im Namen der Autonomie des Schulwesens verbietet die geltende liberale Schulgesetzgebung vom 1996 sämtliche konfessionellen Tätigkeiten in den öffentlichen Schulen ausdrücklich. Die katholische Kirche hat sich im Schlussakt der Plenarversammlung der Kirche in Slowenien (1997 – 2002) dafür eingesetzt, dass die konfessionelle Katechese als Einweisung in den Glauben und das sakramentale Leben auch in Zukunft in den Kirchengemeinden bleibt. Bis zur Einführung des nichtkonfessionellen Religionsunterrichts in den Schulen schlägt die Kirche vor, dass die Katechese als ein obligatorisches Wahlfach in das Schulprogramm einführt wird32. Die Kirche in Slowenien besitzt vier eigene Gymnasien mit der staatlichen Konzession, wo sich weniger als 1 % der slowenischen Gymnasiasten ausbil-

31

Siehe auch: Zakon o denacionalizaciji (Das Gesetz über die Entstaatlichung) Uradni list Republike Slovenije (RS), Nr. 27/91 – I, 56/92 – Odloþba US (Verfassungsgerichtsdekret), 13/93 – Odloþba US, 31/93, 24/95 – Odloþba US, 29/95, 74/95, 1/97 – Odloþba US, 20//97 – Odloþba US, 23/97 – Odloþba US, 41/97 – Sprememba odloþbe US (Die Änderung des Verfassungsgerichtsdekrets), 49/97, 87/97, 13/98 – odloþba US, 65/98, 67/98 – sklep US, (der Verfassungsgerichtsbeschluss), 76/98 – Odloþba US, 83/98 – Sklep US, 60/99 – Odloþba US, 66/00, 11/01 – Odloþba US in 54/02 – Odloþba US. 32

„V Sloveniji v tem trenutku te zadeve še niso ustrezno rešene, kar je predvsem posledica zgodovinskih okolišþin. V sedanjih razmerah si prednostno prizadevamo, da bi župnijski verouk, to je kateheza, nadomestil enega izmed obveznih izbirnih predmetov v šolskem sistemu. Nosilec je Cerkev in ga izvaja v župniji (Art. 391). Verski pouk v šoli po eni strani in župnijski verouk kot nadomestni predmet za enega izmed obveznih izbirnih predmetov kot sestavna dela vzgojno-izobraževalnega procesa ostajata predmet nadaljnjega dogovarjanja med Cerkvijo in državo“ (Art. 392). Sklepni dokument Plenarnega zbora Cerkve na Slovenskem (Schlussakt der Plenarversammlung der Kirche in Slowenien) Ljubljana 2002. Vgl. Urška Baloh, Odmevnost Plenarnega zbora Cerkve na Slovenskem v osrednjih slovenskih dnevnikih, Diplomarbeit an der Theologischen Fakultät, Ljubljana, 2002.

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den, und elf Kindergärten. Das neue Schulgesetz legt fest, dass der Staat den privaten Schulträgern nur 85 % der finanziellen Mittel zusichert. Die Gründung von Privatschulen ist frei. Die katholische Kirche möchte noch andere Berufsund Grundschulen einrichten, aber sie verfügt über sehr beschränkte finanzielle Mittel33. X. Schlusswort Die katholische Kirche hat ihre Hoffnung auf die Unabhängigkeit Sloweniens und auf die ersten demokratischen Wahlen gesetzt, um eine umfassende Regelung der Beziehungen zwischen dem Staat und der Kirche herbeizuführen. Nach der anfänglichen Begeisterung kam eine Epoche tiefer Enttäuschung. In der Praxis übte die Regierung gegen die katholische Kirche vor allem eine restriktive Politik aus. Die ersten fünfzehn Jahre der Demokratie waren von einer laizistisch orientierten Ideologie der liberalen Denkart geprägt. In diesem Zeitabschnitt war der Staat nur bereit, das durch die Verfassung vorgeschriebene Minimum zu gewährleisten. Mit viel Geduld ist es der katholischen Kirche gelungen, das erste Abkommen zwischen dem Heilige Stuhl und der Republik Slowenien zu schließen, womit die rechtliche Basis für weitere Gespräche hergestellt wurden. Der Beitritt Sloweniens zur Europäischen Union und die Ratifizierung der europäischen Konstitution im slowenischen Parlament beschleunigten den Prozess der Demokratisierung und gleichzeitig wurde der slowenischen Staat aufgefordert, seine eigene Gesetzgebung zu beachten. Die neue Regierung, die seit dem Herbst 2004 an der Macht ist, hat eine positive Wende in das Verhältnisse zwischen Kirche und Staat gebracht und auch anerkannt, dass die Kirche einen positiven Beitrag für die Gesellschaft leistet. Die Kirche in Slowenien hat auf der Plenarversammlung, die 2002 abgeschlossen wurde, zum ersten Mal ihre Vision für die Zukunft ausgearbeitet und ihre Prioritäten gesetzt. Die wichtigsten Aufgaben der Versammlung wurden (1) Vereinheitlichung der Pastoral, (2) Verbesserung der Zusammenarbeit unter den Priester und Laien und (3) Verkündigung des Evangeliums auf verständliche Weise. Die katholische Kirche verlangt für sich vom Staat keine besonderen Privilegien, aber sie erwartet, dass die grundlegenden Menschenrechte, Religionsfreiheit, Gerechtigkeit und Würde des Menschen respektiert werden.

33

Über die Gründung der neuen Grund- und Berufsfachschulen verläuft in der Kirche augenblicklich eine Diskussion, welche Schule in der Gesellschaft nötig und hinsichtlich der finanziellen Mittel der Kirche möglich wäre. Vgl. Die Presseerklärung der 28. ordentlichen Sitzung der SBK am 7. 3. 2006, Archiv der Presseamt der SBK, Nr. 053/06.

Leben und Leiden für Christus und die Kirche Msgr. Dr. Carl Lampert, Provikar der Administratur Innsbruck-Feldkirch Von Richard Gohm „Wer die Geschichte der Kirche mit lebenden Augen betrachtet, darf dankbar entdecken, dass es trotz aller dunklen Punkte und Schattenseiten immer und überall Menschen gegeben hat und gibt, deren Leben neues Licht auf die Glaubwürdigkeit des Evangeliums wirft.“ Dies sagte Papst Johannes Paul II.1 anlässlich der Seligsprechung von Sr. M. Restituta (Helene) Kafka, Jakob Kern OPraem und P. Anton Schwartz COp beim Gottesdienst auf dem Heldenplatz zu Wien am 21. Juni 1998.2 Es war ein langer Weg von der Hinrichtungsstätte Halle/Saale (13. November 1944) bis zum Abschluss des diözesanen Informativprozesses zur Seligsprechung des Dieners Gottes, Msgr. Dr. Carl Lampert, des zweiten Provikars der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch nach Prälat Draxl3, im Diözesanhaus der Diözese Feldkirch am 18. November 2003. Das Konsultorenkollegium der Diözese Feldkirch hatte sich am 4. März 1997 einhellig für die Durchführung des Kognitionsverfahrens ausgesprochen.4 Mit der Abwicklung dieses Verfahrens in der Heimatdiözese von Provikar Lampert erklärten sich sowohl Marianus Przy-

1 DDr. Karol Jozef Wojtyla, geboren am 18. Mai 1920 in Wadowice (Polen), 1946 Priesterweihe, 1953 Habilitation in Krakau, 1958 Weihbischof und 1964 Erzbischof von Krakau, 1967 Kardinalsernennung, erstmals nach 456 Jahren ein Nichtitaliener am 16. Oktober 1978 zum Papst gewählt, zweitlängstes Pontifikat nach Pius IX. (1846 – 1878), gestorben am 2. April 2005 in Rom. 2

Jan Mikrut (Hrsg.), Heiligkeit als Herausforderung, Wien 1999, S. 7, 11.

3

Prälat Urban Draxl, geboren am 3. Februar 1874 in Fohnsdorf (Steiermark), Priesterweihe am 25. Juli 1897, der erste Provikar der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch vom 1. Juli 1921 bis zum 15. Jänner 1939, gestorben am 17. November 1959 zu Mötz in Tirol. 4

Diözesanarchiv Feldkirch [= DAF], Lampert-Akten, Ordner 32, dok. 1680, S. 10.

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kucki5, der Erzbischof von Stettin (Szczecin) in Polen und Ortsordinarius von Lamperts letztem Dienstort, mittels Schreiben vom 23. Juni 1997, als auch Leo Nowak6, der Bischof von Magdeburg und Ortsordinarius von Lamperts Sterbeort, mittels Schreiben vom 1. April 1997 einverstanden. Die Österreichische Bischofskonferenz gab laut Bestätigung vom 15. Mai 1997 gelegentlich ihrer Vollversammlung vom 18. bis zum 20. März 1997 zur Einleitung eines Seligsprechungsverfahrens ihre Zustimmung.7 Der Propräfekt der Kongregation für Heiligsprechungsverfahren, Erzbischof Albertus Bovone, teilte der Diözese Feldkirch am 5. September 1997 mit, dass von Seiten des Vatikans den Seligsprechungserhebungen für Provikar Lampert „nichts dagegensteht“.8 Am 1. Oktober 1998 wurde gemäß der Apostolischen Konstitution „Divinus perfectionis Magister“ (25. Jänner 1983)9 und den Richtlinien für die Bischöfe bei den Erhebungen in Heiligsprechungsverfahren (7. Februar 1983)10 in feierlicher Sitzung zu Feldkirch der diözesane Kognitionsprozess eröffnet.11 Das Dekret hiezu wurde am 10. September 1998 im Diözesanblatt veröffentlicht.12 Im Diözesanhaus zu Feldkirch fand am 18. November 2003 die 26. und letzte Sitzung unter der Leitung von Diözesanbischof DDr. Klaus Küng statt, wobei das gesamte Aktenmaterial (33 Ordner mit über 1700 Dokumenten, 5 Alben mit 540 Fotos, 5 Video- vom ZDF sowie 12 Video- und 9 Audio-Kassetten vom ORF) dem römischen Postulator

5

Ebd., S. 18.

6

Ebd., S. 21.

7

Ebd., S. 22.

8

Ebd., S. 25 und 28: Prot. N. 2191 – 1/97.

9

AAS 75 (1983), S. 349 – 355.

10

Ebd., S. 396 – 403.

11

DAF, Lampert-Akten, Ordner 32, dok. 1685, S. 36 ff. – Das Protokoll unterzeichneten als Mitglieder der diözesanen Erhebungskommission DDr. Klaus Küng als Diözesanbischof von Feldkirch, Prälat Dr. Hans Fink (Feldkirch) als Bischöflicher Legat, P. Gaudentius Walser OCap (damals Dornbirn, derzeit Innsbruck) als Aktor und Postulator, Msgr. MMag. Dr. Walter H. Juen (Rankweil) als Promotor iustitiae bzw. Kirchenanwalt, Dr. Arnold Lins (Bludenz) als Notar, Dr. Gabriele Köberl (Feldkirch) als Notarin und Aktuarin. Gemäß Dekret vom 10. April 1999 wurde Mag. Dr. Richard Gohm (Innsbruck) zum zusätzlichen Notar (dok. 1689, S. 44) und laut Dekret vom 2. November 2000 zum Aktuar (dok. 1697, S. 58) ernannt. Die Historikerkommission bestand aus Prof. Dr. Albert Bohle (Dornbirn), em. Univ.-Prof. Dr. Maximilian Liebmann (Graz) und Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerhard Wanner (Feldkirch). Die theologischen Gutachter waren Prälat Prof. Mag. Dr. Gerhard Holotic (Salzburg / St. Pölten), Univ.-Prof. Dr. Bernhard Körner (Graz) und Univ.-Prof. Dr. Josef Weismayer (Wien). 12

Feldkircher Diözesanblatt, 30. Jg., Nr. 10, 15. Oktober 1998, Z. 109, S. 63.

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Dr. Andrea Ambrosi zur Erstellung der Positio übergeben wurde.13 Über das Leben, Leiden und Sterben von Provikar Lampert wurden in den vergangenen 60 Jahren einige Biographien sowie viele Artikel in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht.14 I. Von der Geburt bis zum Eintritt ins Priesterseminar Karl Augustin Lampert wurde im Unterdorf 22 zu Göfis in Vorarlberg als siebtes Kind des Landwirtes und Ferggers Franz Xaver Lampert sowie seiner Frau Maria Rosina geborne Ammann am 9. Jänner 1894 geboren und tags darauf in der Göfner Pfarrkirche zum heiligen Luzius vom damaligen Pfarrprovisor P. Laurentius Eller OCap aus Graun (Südtirol) getauft.15 Drei Kinder starben gleich nach ihrer Geburt. Die Verhältnisse im bäuerlichen Elternhaus waren äußerst bescheiden. Sechs Jahre besuchte er in seiner Heimatgemeinde die Volksschule, in deren Unterstufe die Barmherzige Schwester Edeltraud Berlinger ihm die Grundlagen in Lesen, Schreiben und Rechnen beibrachte. Die Volksschulzeugnisse sind nicht mehr vorhanden. Sein Onkel und Taufpate Josef Anton Ammann (Pfarrer in Hard) gab den Eltern den Rat, Karl ins Gymnasium zu schicken. So trat er ins Feldkircher Staatsgymnasium ein und bewältigte in den ersten drei Jahren täglich zu Fuß den über drei km langen Weg vom Elternhaus über den „Stein“ nach Feldkirch und zurück. Später mietete sein 13 DAF, Lampert-Akten, Ordner 31, dok. 1712, S. 161. – Kirchenblatt, Katholische Kirche Vorarlberg, Nr. 45, Sonntag, 9. November 2003, S. 2 f. – Später kamen noch zwei Ordner mit Übersetzungen von Dokumenten in die italienische Sprache hinzu. 14 Einige Schriften: Diözese Feldkirch (Hrsg.), Provikar Dr. Carl Lampert – Zeuge in gnadenloser Zeit. Dokumentation, Innsbruck 1999. – Walter H. Juen, Dr. Carl Lampert, Diener Gottes, Provikar der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch (1894 – 1944), in: Jan Mikrut (Hrsg.), Blutzeugen des Glaubens. Martyrologium des 20. Jahrhunderts. Bd. 3, Wien 2000, S. 11 – 36. – Helmut Tschol u. a., Zeugen des Widerstandes. Eine Dokumentation über die Opfer des Nationalsozialismus in Nord-, Ost- und Südtirol von 1938 bis 1945, Innsbruck / Wien / München 1977, S. 48 – 54, 67, 95. – Gaudentius Walser, Carl Lampert. Ein Leben für Christus und die Kirche 1894 – 1944, Dornbirn 1964. – Ders., Carl Lampert. Glaubenszeugnis seiner Briefe (zum 25. Todesjahr), Dornbirn 1969. – Ders., Notizen am Rande – zum Lebensbild des Provikars Carl Lampert, + 13. 11. 1944, in: Bote der Tiroler Kapuziner, 58. Jg., 1975, Heft Nr. 3, S. 77 – 85. – Ders., Dreimal zum Tod verurteilt. Carl Lampert – ein Glaubenszeuge für Christus, Stein am Rhein 1985. – Ders., Mein Leben für Christus. Provikar Msgr. Dr. Carl Lampert, Dornbirn 1989. 15

Ders., Sein Leben und Wirken für die Kirche, in: Diözese Feldkirch (Hrsg.), Provikar Dr. Carl Lampert – Zeuge in gnadenloser Zeit. Dokumentation, Innsbruck 1999, S. 9 – 24, bes. S. 9 – 13.

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Vater für ihn ein Zimmer in der Stadt. Als aber sein Vater am 2. April 1910 plötzlich starb, kam die Familie in große Not. Karl hätte das Studium aufgeben müssen, hätte sein Onkel ihn finanziell nicht unterstützt und ihm das so genannte „Fuetscher-Stipendium“ der Stadt Feldkirch beschafft. Ab dem Tod seines Vaters bis zu seiner Matura legte er den weiten Weg wiederum zu Fuß zurück. Die schulischen Leistungen ließen zu jener Zeit merklich nach, er holte aber bis zur Matura zusehends auf, so dass er im Juli 1914 die Reifeprüfung mit gutem Erfolg bestehen konnte. II. Ausbildung im Priesterseminar zu Brixen Im Herbst des Jahres 1914 trat er in das fürstbischöfliche Priesterseminar zu Brixen ein, absolvierte die vorgeschriebenen philosophischen, theologischen sowie pastoralen Fächer mit überwiegend ausgezeichnetem Erfolg.16 Wegen des Ersten Weltkrieges studierten ebendort auch die Theologen aus der Diözese Trient, im Jahre 1915 insgesamt 119 Alumnen. Damals erhielt Karl Lampert von seinen Kommilitonen wegen seiner gepflegten Kleidung den Beinamen „Carlo bello“. Seither schrieb er seinen Vornamen mit „C“. Am 28. Dezember 1915 empfing Lampert die Tonsur und die vier niederen Weihen (Akoluthat, Lektorat, Ostiariat, Exorzistat), am 28. April 1918 die Subdiakonats- und am 1. Mai die Diakonats- sowie am 12. Mai die Priesterweihe im Dom zu Brixen durch Fürstbischof Egger17. Am 26. Mai feierte Carl Lampert seine Primiz in Göfis, getrübt wegen des Todes seines Bruders Franz Xaver am 8. Februar 1918 nach langer, schwerer Krankheit an den Folgen des Ersten Weltkrieges.

16

Walser, Sein Leben und Wirken (Anm. 15), S. 9 – 24, bes. S. 13. – Im Brixner Priesterseminar waren damals zuerst Msgr. Dr. Franz Schmid, dann Prof. Dr. Franz Hilber die Regenten. Als Subregens und Verwalter wirkte zu jener Zeit Cons. Rudolf Kralinger. 17

DDr. Franz Egger, geboren am 26. April 1836 in Hippach (Zillertal/Tirol), Priesterweihe am 11. November 1860 in Rom, Professor für Philosophie, Fundamentaltheologie und Dogmatik, dann Regens im Priesterseminar zu Brixen, 1895 Domdekan, 1900 Dompropst, am 20. März 1908 Ernennung zum Weihbischof (Titularbischof von Laranda) und Generalvikar von Feldkirch, am 27. September 1912 durch Kaiser Franz Joseph zum Fürstbischof von Brixen ernannt und am 6. November vom Vatikan bestätigt, am 17. Mai 1918 unversehens während einer Firmungsreise in Innsbruck gestorben.

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III. Seelsorge in Dornbirn Lamperts erste und einzige Dienststelle als provisorischer Frühmesser laut Dekret war Dornbirn-Markt an der Pfarrkirche zum heiligen Martin.18 Als Kaplan, Katechet sowie geistlicher Assistent war er ein beliebter Priester. Er betreute verschiedene Vereine, Bünde und Kongregationen (Gesellen-, Arbeiter- und Mütterverein, Männerapostolat, Jungfrauen-, Jugend- und Jungmännerbund, die Jugendvereine „Reichsbund“ für Burschen und „Mädchensonntag“ für Mädchen). Mit jungen Männern aus Dornbirn errichtete er das Annaheim und blieb sein Leben lang mit ihnen treu verbunden. Er unterrichtete an verschiedenen Schulen, bemühte sich stets um Ausgleich zwischen den liberalen und konservativen Lehrern, gründete ein achtköpfiges Lehrerquartett (HDQ = Herrendoppelquartett), das bei Kapellenfesten der Dornbirner Bergparzellen zahlreiche Gottesdienste gestaltete und bei vielen Anlässen den geselligen Teil bestritt. Er galt als ausgezeichneter Tenor in der damals ausschließlich lateinischen Liturgie und als brillanter Prediger. Aus dieser Zeit sind nur zwei Predigten erhalten, die erste Weihnachtspredigt (1918) und eine Christenlehre über die Nächstenliebe (1919). Im nahe gelegenen Kapuzinerkloster traf sich in brüderlicher Kollegialität der Dekanatsklerus allwöchentlich am Donnerstag zu pastoralem Gespräch, zu angeregter Unterhaltung sowie zur Erholung bei Karten- und Kegelspiel. Was sich im Priesterseminar herauskristallisierte, wurde in Dornbirn offensichtlich: Carl Lampert war stets humorvoll, konnte mit allen eine gute Atmosphäre aufbauen und war mit seinem offenen, herzlichen Wesen immer an freundlichem Umgang mit jedermann interessiert. Freundschaftlich verbunden blieb Lampert sein Leben lang mit dem Oberlehrer Alfons Rigger, den er mit Gattin Emma traute und dessen Kinder Karl, Wilfried und Hildegard er taufen durfte. Zu Beginn seiner Kaplanszeit in Dornbirn litt seine Mutter an einer unheilbaren Tuberkulose. Trotz seiner umfangreichen Seelsorgsverpflichtungen verbrachte er zwei bis drei Nächte pro Woche am Krankenlager seiner Mutter, bis sie am 7. August 1921 verstarb. Der Weggang des beliebten Kaplans im Herbst 1930 aus Dornbirn wurde allseits bedauert.

18

Walser, Dreimal zum Tod verurteilt (Anm. 14), S. 10 ff.

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IV. Studium in Rom Administrator Waitz19 schickte Carl Lampert nach Rom, wo er in der Anima, dem Pontificio Istituto Teutonico di S. Maria dell’Anima wohnte und ab dem 1. Oktober 1930 an der Päpstlichen Jesuitenuniversität Gregoriana mit zäher Gründlichkeit und großem Fleiß Kirchenrecht studierte.20 Nach den letzten Prüfungen im kanonischen Recht erwarb er im Jahre 1932 bereits das Doktorat, absolvierte ein Praktikum an der Rota Romana, wodurch er den Titel „Advokat der S. R. Rota“ erhielt. Während seines römischen Aufenthaltes war er zwei Jahre Sekretär der Agenzie an der Anima, dem Sekretariat der österreichischen Bischofskonferenz in Rom, welches die Kommunikation mit den römischen Dikasterien ermöglichen und die Interessen der österreichischen Bischöfe an der päpstlichen Kurie vertreten musste. Dadurch gewann Carl Lampert einen guten Einblick in die Abläufe der kirchlichen Verwaltung und Entscheidungsfindung.21 Dies hinderte ihn nicht, sein kulturelles Interesse zu mehren, indem er vielen Romreisenden und Pilgern römische Kunst und Kultur erklärte sowie mit ihnen zahlreiche Stunden in seiner humorvollen, geselligen Art verbrachte. Am 30. März 1935 wurde er zum „Monsignore“ (Päpstlichen Geheimkämmerer) ernannt. Er bezeichnete diese römischen Jahre zu den glücklichsten. V. Offizial und Provikar in Innsbruck Im Sommer 1935 berief Fürsterzbischof Waitz den Kanonisten Carl Lampert nach Innsbruck, um ab dem 1. Oktober 1935 das Kirchengericht der Administratur aufzubauen, vor allem die Eheannullierungen in erster Instanz durchzuführen.22 Im Jahre 1936 wurde er zum Präsidenten des Verwaltungsrates der Verlagsanstalt Tyrolia gewählt, nachdem Prälat Dr. Aemilianus Schöpfer, der Gründer und erste Präsident der Athesia-Tyrolia (Brixen-Innsbruck), aus 19

Dr. Sigismund Waitz, geboren am 29. Mai 1864 in Brixen, Priesterweihe am 29. September 1886, als Titularbischof von Cibyra konsekriert zu Brixen am 8. Juni 1913, Weihbischof und Generalvikar von Brixen und Feldkirch, von 1921 bis 1925 provisorischer Administrator, zum Apostolischen Administrator von Innsbruck-Feldkirch mit allen Rechten, Vollmachten und Pflichten eines Residentialbischofs am 12. Dezember 1925 ernannt, zum Fürsterzbischof von Salzburg am 10. Dezember 1934 erwählt, als Apostolischer Administrator von Innsbruck-Feldkirch am 17. Jänner 1935 neuerdings konfirmiert und als solcher im Amt bis zum 15. Oktober 1938, gestorben am 30. Oktober 1941 in Salzburg. 20

Walser, Sein Leben und Wirken (Anm. 15), S. 15 – 18.

21

Juen, Lampert (Anm. 14), S. 15.

22

Walser, Sein Leben und Wirken (Anm.15), S. 18 ff.

Leben und Leiden für Christus und die Kirche

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Krankheitsgründen sein Amt zurückgelegt hatte. Offizial Lampert wohnte zuerst in einem Priesterhaus der Pfarre Mariahilf zu Innsbruck, sodann in der Propstei und wurde zum wichtigsten Mitarbeiter von Provikar Draxl in der Administration. Er half darüber hinaus in der Seelsorge mit, leistete viele Aushilfen an Sonn- und Feiertagen, hielt Einkehrtage für Männer und Jugendliche, besonders für Studenten und Priesterseminaristen, welchen er in finanziellen Nöten und in Fragen der Entscheidungsfindung über den Priesterberuf zur Seite stand.23 Mit dem Innsbrucker Stadtklerus, mit den Ordensleuten, ja mit allen Priestern in Tirol und Vorarlberg verbanden ihn brüderliche Liebe und Herzlichkeit. Carl Lampert begleitete in der Innsbrucker Klinik viele Stunden lang seinen Bruder Friedrich, welcher Magdalena Amann aus Gisingen geheiratet hatte und Besitzer des Gasthauses „Zur Linde“ in Göfis war, sich völlig verschuldete und an bösartigem Kieferkrebs erkrankte. Carl Lampert bezahlte einen Großteil der Konkursschulden und Klinikkosten seines Bruders, der am 26. April 1936 unter großen Schmerzen sterben musste. Die Überbelastung des Fürsterzbischofs Waitz veranlasste den Administrator, durch Offizial Lampert den Kardinalstaatssekretär Pacelli, den späteren Papst Pius XII.24, zur Errichtung einer eigenen Diözese Innsbruck-Feldkirch zu bewegen. Allerdings wurde vom Vatikan der Wunsch des Erzbischofs, Lampert für die Aufgabe eines Diözesanbischofs zu ernennen, nicht erfüllt.25 Aufgrund der schwierigen politischen Lage blieb es bei der Administratur. Rom ernannte den 35-jährigen Seminarregens Rusch26 zum Apostolischen Administrator, der

23

Juen, Lampert (Anm. 14), S. 17.

24

DDDr. Eugenio Pacelli, geboren am 2. März 1876 in Rom, nach seiner Priesterweihe (1899) in den Dienst der Kurie, 1917 Titularerzbischof von Sardes, von 1917 bis 1920 Nuntius in München, von 1920 bis 1929 Nuntius beim Deutschen Reich, ab 1924 in Berlin, 1929 Ernennung zum Kardinal, 1930 Staatssekretär, im dritten Wahlgang am 2. März 1939 zum Papst gewählt, gestorben am 9. Oktober 1958 in Castel Gandolfo. 25

Josef Gelmi, Geschichte der Kirche in Tirol. Nord-, Ost- und Südtirol, Innsbruck / Wien / Bozen 2001, S. 504; weiters auch S. 506 f., 509, 519, 538, 550. 26

DDr. Paulus Rusch, geboren am 4. Oktober 1903 in München, Priesterweihe am 26. Juli 1933, von Papst Pius XI. (1922-1939) zum Apostolischen Administrator für Innsbruck-Feldkirch mit allen Rechten, Vollmachten und Funktionen eines Residentialbischofs am 15. Oktober 1938 ernannt, von Erzbischof Waitz in der Propsteikirche St. Jakob zu Innsbruck am 30. November zum Titularbischof von Lykopolis in der Thebais geweiht, anlässlich der Errichtung der Diözese Innsbruck (1964) erster Diözesanbischof von Innsbruck, 1980 Annahme seines Rücktrittsgesuches, gestorben am 31. März 1986 zu Zams in Tirol. – Helmut Alexander, Der „rote“ Bischof. Paul Rusch und Tirol, Aspekte seines sozialen Engagements und gesellschaftspolitischen Selbstverständnisses

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sich den Wahlspruch „Christo Regi Vita Nostra“ gab. Lampert stieg in uneingeschränkter Loyalität zum wichtigsten Mitarbeiter des neuen Bischofs auf.27 Als in den Märztagen 1938 der Nationalsozialismus mit Übermacht über Österreich hereinbrach und es gewaltsam in „Ostmark“ umbenannte, herrschte bald Franz Hofer28 als Gauleiter über Tirol und Vorarlberg, einer der grausamsten im gesamten Reich.29 Da er in seinem Gau fast keine Juden sowie nur wenige kommunistische oder marxistische Gegner verfolgen konnte, wollte er Adolf Hitler30 zu dessen Geburtstag einen klosterfreien Gau überreichen. Weil zwar das österreichische Konkordat für Diözesanbischöfe eine Anfrage an die

(Geschichte & Ökonomie 15), Innsbruck / Wien / Bozen 2005, S. 33 – 58. – Ders. / Bernhard Kriegbaum (Hrsg.), Bischof Paulus Rusch. Wächter und Lotse in stürmischer Zeit (Gedenkschrift), Innsbruck 2004. – Anton Pelinka / Andreas Maislinger, Handbuch zur neueren Geschichte Tirols. Bd. 2: Zeitgeschichte, Innsbruck 1993, 1. T.: Politische Geschichte, S. 315 – 318, 2. T.: Wirtschaft und Kultur, S. 454 ff. – Josef Riedmann, Das Bundesland Tirol 1918 – 1970, in: Josef Fontana u. a., Geschichte des Landes Tirol. Bd. 4/II, Bozen / Innsbruck / Wien 1988, S. 1014 – 1022, 1035 – 1142, bes. S. 1098 f. 27

Walser, Sein Leben und Wirken (Anm. 15), S. 20 ff.

28

Franz Hofer, geboren am 27. November 1902 als Sohn eines Hotelbesitzers in Hofgastein (Salzburg), selbständiger Kaufmann, 1931 Mitglied der österreichischen Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP), nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 Ernennung zum Gauleiter von Tirol-Vorarlberg, am 10. Jänner 1939 Unterbindung jeglichen dienstlichen Verkehrs mit Dr. Rusch für alle Behörden und Dienststellen im Gau Tirol-Vorarlberg, am 1. April 1940 Reichsstatthalter, am 10. September 1943 Oberster Kommissar der „Operationszone Alpenland“ mit den Provinzen Bozen, Triest und Belluno neben Tirol-Vorarlberg (Osttirol an Kärnten angegliedert), 29. April 1945 Reichsverteidigungskommissar für die „Alpenfestung“, am 6. Mai 1945 Verhaftung durch amerikanische Truppen in Hall (Tirol), 1948 Flucht aus dem Internierungslager zu Dachau, 1949 in Abwesenheit Verurteilung zu zehnjähriger Haftstrafe durch die Münchener Hauptspruchkammer, 1950 vom Innsbrucker Volksgericht des Hochverrats für schuldig befunden, bis zuletzt jeglicher Strafverbüßung entgangen, am 18. Februar 1975 in Mühlheim an der Ruhr gestorben. 29

Michael Forcher, Tirols Geschichte in Wort und Bild, Innsbruck 2000, bes. Tirol unterm Hakenkreuz, S. 344 – 361. 30

Adolf Hitler, am 20. April 1889 in Braunau am Inn (Oberösterreich) geboren, politischer Durchbruch bei den Reichswahlen im September 1930, Ernennung zum deutschen Reichskanzler am 30. Jänner 1933, Errichtung der Diktatur am 24. März 1933, am 2. August 1934 Annahme des Titels „Führer und Reichskanzler“, gewaltsamer „Anschluss“ Österreichs am 12./13. März 1938, mit dem Angriff auf Polen am 1. September 1939 Auslösung des Zweiten Weltkrieges, am 29. April 1945 Ernennung des Großadmirals Karl Dönitz zu seinem Nachfolger, am nächsten Tag Selbstmord im Führerbunker zu Berlin mit seiner Geliebten Eva Braun.

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Regierung vorsieht (politische Klausel), eine solche jedoch bei der Ernennung von Apostolischen Administratoren nicht notwendig ist, wurde Paulus Rusch ohne vorhergehende Konsultation der Regierung in Berlin zum Administrator für die Teilkirche von Innsbruck-Feldkirch ernannt. Da sich die Vertreter der NSDAP, allen voran Gauleiter Hofer, auf die kirchenrechtliche Unterscheidung zwischen Diözesanbischof und Administrator nicht einlassen wollten und sich vom Vatikan übergangen fühlten, wurde Paulus Rusch weder von den politischen Machthabern in Innsbruck noch von der Regierung in Berlin als Bischof anerkannt, obwohl dessen Ernennung durch Nuntius Orsenigo31 dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA) mitgeteilt wurde.32 Jeglicher Schriftverkehr mit dem Bischof wurde per Dekret untersagt, seine Briefe an die Gauleitung wurden dem „Kaplan Rusch“ mit der Bemerkung zurückgesandt, dass nur Provikar Draxl sowie Erzbischof Waitz als Verhandlungspartner auf Seiten der Administratur anerkannt würden. Da Bischof Rusch von der Stadt Innsbruck und vom Gau ignoriert wurde, schrieb er formlos auf ein Blatt Papier: „Übergebe hiermit Msg [sic!] Dr. Karl Lampert Vollmacht, meine Angelegenheiten zu vertreten. Dr. Paul Rusch. Innsbruck, 15. Dez. 38.“33 Am 31. Dezember 1938 trat Urban Draxl als Provikar von seinem Amte zurück, worauf Bischof Rusch seinen Offizial Carl Lampert am 15. Jänner 1939 zum neuen Provikar34 ernannte, dem nun die Gesamtverantwortung sowohl als Offizial über das kirchliche Gerichtswesen für die gesamte Apostolische Administratur wie auch als Provikar über das kirchliche Personal (Klerus und angestellte Laien) sowie über die Verwaltung für den Tiroler Anteil der Administratur übertragen wurde. „Damit stand Provikar Dr. Lampert, der aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber den Ideologien der NSDAP weder privat noch öffentlich ein Hehl gemacht hatte, endgültig an der Front in den Auseinandersetzungen zwischen dem Regime und der Katholischen Kirche Tirols“.35

31

Dr. Cesare Orsenigo, geboren am 13. Dezember 1873 in Villa San Carlo (Comosee), Priesterweihe 1896, seit dem 25. März 1930 (nach Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII.) Nuntius in Berlin, gestorben am 1. April 1946 in Eichstätt. 32

Juen, Lampert (Anm. 14), S. 18.

33

Alexander, Der „rote“ Bischof (Anm. 26), S. 39 (Laserfoto). – Original im Diözesanarchiv Innsbruck ([= DAI] NS-Akten, Mappe 6/5). 34

Über Lamperts Wirken als Provikar finden sich im Beitrag von Helmut Tschol (Die katholische Kirche, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes [= DÖW, Hrsg.], Widerstand und Verfolgung in Tirol 1934 – 1945. Eine Dokumentation. Bd. 2., Wien / München 1984, S. 1 – 284) viele Dokumente sowie Hinweise im Personenregister unter dem Stichwort Lampert Carl (S. 639): DAI, NS-Akten. 35

Juen, Lampert (Anm. 14), S. 19.

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VI. Erste Inhaftierung ins Polizeigefängnis „Sonne“ zu Innsbruck Bald nach der Abstimmung über den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich setzten die widerrechtliche Aufhebung sowie die Beschlagnahme der Männer- und Frauenklöster von Tirol und Vorarlberg ein, in der Administratur Tirols allein die Aufhebung von 14 Männer- und 12 Frauenklöstern, auch von klösterlichen Anstalten (Schulen, Spitälern, Grundstücken), so auch von der Theologischen Fakultät Innsbruck und vom Theologischen Konvikt Canisianum bereits im Jahre 1938, insgesamt vier Wellen von Aufhebungen: Juli-August 1938, April-Mai und September-Oktober 1939 sowie Februar-März 1940.36 Provikar Lampert hatte nicht die Absicht, den politischen Gegnern auszuweichen; er galt in der Gauleitung als weitaus gefährlichster Mann im gesamten Klerus. Er stand sowohl jenen Menschen bei, die sich aufgrund ihrer Beziehung zur Kirche in Schwierigkeiten befanden, als auch jenen Priestern, die wegen konsequenter Erfüllung ihrer seelsorglichen Aufgaben mit der Gestapo in Konflikt gerieten.37 Wenn Priester und Ordensleute eingesperrt wurden, protestierte der Provikar unerschrocken im Büro der Gestapo, informierte sich bei Werner Hilliges, dem Leiter der Gestapo für Tirol-Vorarlberg, über die Vorwürfe und versuchte mit allen rechtlichen Mitteln, die Betreffenden frei zu bekommen. Da Gauleiter Hofer die Kirche und deren Priester immer radikaler in der Seelsorge einschränkte, musste Provikar Lampert aufgrund seines Amtes häufiger intervenieren und verärgerte zusehends die Gauleitung. Folglich wurde der Provikar bereits nach nur 14 Monaten in seinem Amt wegen seines mutigen Auftretens und seiner sachlichen Argumentation zur rechtlichen Situation der Kirche und der Klöster sowie wegen seiner energischen Verteidigung der Priester und Ordensleute erstmals verhaftet. Da es gemäß der Aussage des Gestapochefs Hilliges dem Gauleiter verboten war, Bischof Rusch trotz verschiedentlicher Verhöre endgültig zu verfolgen und einzusperren, musste dessen bischöflicher Stellvertreter herhalten.38

36

Johann Neuhäusler, Kreuz und Hakenkreuz. Der Kampf des Nationalsozialismus gegen die katholische Kirche und der kirchliche Widerstand. 1. T., München 1946, S. 350 – 357 (Antichrists Wüten gegen eine Hochburg katholischen Glaubens und Lebens). – Werner Kunzenmann, Provikar Dr. Carl Lampert von der Administratur zum Hinrichtungsraum, in: Diözese Feldkirch (Hrsg.), Provikar Dr. Carl Lampert – Zeuge in gnadenloser Zeit. Dokumentation, Innsbruck 1999, S. 25 – 68, bes. S. 26. 37 38

Juen, Lampert (Anm. 14), S. 20.

Niederschrift der Bundespolizeidirektion Innsbruck über eine Vernehmung von Werner Hilliges, dem ehemaligen Gestapochef von Innsbruck, am 11. Dezember 1946 (Landesgericht Innsbruck 10 Vr 1745/47). – Vgl. DÖW, E 18.662.

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Der Gauleiter residierte etwa 50 Meter neben dem Kloster „Convent des Ordens der Klosterfrauen von der ewigen Anbetung des göttlichen Sakramentes des Altares am Hirschanger in Innsbruck“.39 Ihn störte das stündliche Glockengeläute der Ordensfrauen zur „Ewigen Anbetung“; darum mussten sie entfernt werden. Obwohl erst am 10. Mai 1940 eine Verordnung des Reichsinnenministers die Einziehung von staatsfeindlichem Vermögen feststellte40, weil die Klosterinsassen volks- und staatsfeindlich seien, wurden das Kloster unter der damaligen Oberin Sr. Camilla Edelmann bereits am 5. März 1940 gewaltsam aufgehoben und die 42 Schwestern auf verschiedene Frauenklöster in Hall und Innsbruck aufgeteilt. Zuvor stürmten am 12. Jänner zwei Frauen und 24 Männer in Zivil das Kloster und durchsuchten alle Zellen und die Gemeinschaftsräume. Am 29. Februar 1940 verlangten drei Männer in der Früh den Eintritt in die Klausur. Provikar Lampert verhandelte mit ihnen, musste aber mittags den Ordensschwestern die Beschlagnahme mitteilen. Dann bat der Provikar am 2. März den Nuntius Orsenigo in Berlin, sich für das Kloster einzusetzen. Am Montag, dem 4. März, war eigentlich der angekündigte Tag der Klosterräumung. Es passierte jedoch nichts, weil Provikar Lampert die Innsbrucker Behörden vom Schreiben nach Berlin nicht informierte, was den Gauleiter arg erzürnte. Die von der Oberin gegen Mittag zum Provikar gesandte Sr. Regina wurde Zeugin der telefonischen Intervention und Argumentation des Provikars, welcher ihr darauf mitteilte, dass die Sache der Ewigen Anbetung ausgetragen werden müsse und Gauleiter Hofer das Gespräch mit der Drohung abgebrochen habe: „Ich spreche nicht weiter mit Ihnen. Das Übrige wird die Gestapo mit Ihnen ausmachen.“ Die Ausführung erfolgte sofort. Bereits um 14.15 Uhr wurde Provikar Lampert unter der Zahl 389 zusammen mit dem Ordinariatskanzler Lechleitner41 und dem Seelsorgeamtsleiter Weiskopf42 ins Polizeigefängnis

39

Die folgenden Ausführungen über die Aufhebung des Klosters der Ewigen Anbetung sind den betreffenden Akten (Ewige Anbetung Innsbruck, Archiv I/4/1940 „Das Kloster während der Kriegszeit“, und Ordner 5, Nr 4) aus dem Klosterarchiv (Karl-Kapfererstr. 7) entnommen. – DAF, Lampert-Akten, Ordner „Ewige Anbetung“. – Gisela Fleckenstein, Das Kloster der Ewigen Anbetung in Innsbruck 1938 – 1945. Seminar: Die Kirche Tirols von 1938 bis 1945. Seminararbeit an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen, eingereicht bei Prof. Dr. Josef Gelmi (Manuskript), Innsbruck 1984. – Sr. Maria Eucharistica von der göttlichen Weisheit / Sr. Maria Johanna Baptista von der Heimsuchung Mariä, Erinnerungen aus unserem Kloster schwerster Zeit 1938 – 1950, Innsbruck 1949, S. 1 – 184. 40

DÖW, 284 ff.: Erlass vom 10. Mai 1940, Fol. IV Aua98/40, gemäß § 1 der Verordnung über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens im Lande Österreich vom 18. 11. 1938, RGBl. I, S. 1 – 20. – Kunzenmann, Provikar (Anm. 36), S. 27. 41

Msgr. Kassian Lechleitner, geboren am 1. Jänner 1886 in Zirl (Priesterweihe am 29. Juni 1910 in Innsbruck, Kanzler der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feld-

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erstmals eingeliefert. Die beiden Letzteren kamen bald darauf wieder frei, Provikar Lampert hingegen wurde erst am 14. März um 18 Uhr entlassen.43 VII. Zweite Inhaftierung ins Polizeigefängnis „Sonne“ zu Innsbruck Am Ostersonntag, dem 23. März 1940, brachte Radio Vatikan einen Bericht über die Situation der Kirche Tirols, worin die gewaltsamen Maßnahmen der Gestapo zur Sprache kamen, insbesondere die Aufhebung der Männerklöster und des ersten Frauenklosters der Ewigen Anbetung.44 Der Gestapoleiter Hilliges fühlte sich dadurch angegriffen und verfügte am 28. März die zweite Verhaftung des Provikars und die Einlieferung ins Polizeigefängnis um 11.55 Uhr unter der Nummer 55645 zusammen mit Ordinariatskanzler Lechleitner, weil die Gestapo dem Provikar die Schuld für die Berichterstattung nach Rom gab; es war jedoch ein auftragsgemäßer Bericht des Bischofs über sein Kirchengebiet an Nuntius Orsenigo von Berlin. Provikar Lampert wurde nach mehreren Verhören am 11. April um 17.15 Uhr wieder freigelassen. Bischof Rusch wurde zwar von der Gestapo vorgeladen und einem kurzen Verhör unterzogen, nicht aber inhaftiert, da vom RSHA aus der Gauleiter wegen seiner überstrengen und gewaltsamen Vorgangsweise gegen die Kirche in Tirol und Vorarlberg gerügt wurde.

kirch seit 12. September 1939), führte während der haftbedingten Abwesenheit von Dr. Lampert die Amtsgeschäfte des Provikars und starb am 30. November 1946 in Innsbruck infolge der Überbelastungen während der NS-Zeit an einem Herzinfarkt. 42

Cons. Michael Weiskopf, geboren am 19. Oktober 1890 in Prägraten (Priesterweihe am 29. Juni 1914), war von 1938 bis 1955 Seelsorgeamtsleiter und von 1955 bis 1964 Provikar für den Tiroler Anteil der Apostolischen Administratur Innsbruck-Feldkirch, wurde nach der Erhebung der Administratur zur Diözese von Bischof Rusch zum Generalvikar ernannt, starb am 3. September 1966 in Innsbruck. 43 Diözese Feldkirch, Provikar (Anm. 14), S. 28. – Das Originalkarteiblatt hatte die Polizeidirektion Innsbruck Richard Gohm übergeben, der es an den damaligen Diözesanbischof Klaus Küng weiterleitete; es befindet sich derzeit im DAF (Lampert-Akten). 44 Neuhäusler, Kreuz und Hakenkreuz (Anm. 36), S. 351 f. – Kunzenmann, Provikar (Anm. 36), S. 30 f. – Walser, Ein Leben für Christus (Anm. 14), S. 22 f. – Ders., Mein Leben für Christus (Anm. 14), S. 14 f. – Ders., Dreimal zum Tod verurteilt (Anm. 14), S. 15 – 20. 45

Diözese Feldkirch, Provikar (Anm. 14), S. 28.

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VIII. Dritte Inhaftierung ins Polizeigefängnis „Sonne“ zu Innsbruck Die dritte Verhaftung des Provikars erfolgte am 5. Juli 1940 um 17 Uhr im Zusammenhang mit dem Tod des von Papst Johannes Paul II. am 24. November 1996 in Rom selig gesprochenen Pfarrers Neururer46 von Götzens im Innsbrucker Mittelgebirge. Dieser wurde am 15. Dezember 1938 aufgrund einer Denuntiation des SA-Mannes Georg Weirather von der Gestapo verhaftet und in das Polizeigefängnis „Sonne“ zu Innsbruck eingeliefert, am 3. März 1939 in das KZ Dachau verfrachtet und am 26. September ins KZ Buchenwald überstellt. Am 30. Mai 1940 wurde er tot in der Zelle gefunden, nachdem er an den Fußgelenken gefesselt und mit dem Kopf nach unten aufgehängt worden war. Immer wieder hatte Provikar Lampert versucht, die Feilassung des Pfarrers Neururer wegen dessen angeschlagener Gesundheit zu erwirken. Trotz versprochener Befreiung trafen anfangs Juni im Pfarramt Götzens völlig unerwartet die Nachricht von Neururers Tod wegen „akuter Herzschwäche“ und ein Paket mit der Urne ein, worauf Provikar Lampert sowohl bei Gauleiter Hofer als auch beim Gestapochef Hilliges energische Vorhaltungen machte. Mit dem damaligen Pfarrprovisor Praxmarer47 von Götzens, der sich kurz vor der Verhaftung Neururers als neuer Kooperator vorstellte, verfasste Provikar Lampert die Todesanzeige. Die drei Passagen „nach großem Leid“ (Anspielung auf Folterung und brutale Verhörmethoden), „in Weimar-Buchenwalde“ (Hinweis auf das KZ) und „sein Sterben werden wir nie vergessen“ (Förderung des MartyriumGedankens) verursachten den eigentlichen Beginn des Leidensweges des Provikars.48 Weil auch Praxmarer als Kooperator und Pfarrprovisor von Götzens verhaftet wurde, verfügte Bischof Rusch ein Lokalinterdikt, das Provikar Lampert persönlich auszuführen hatte, indem er die Pfarrkirche Götzens zusperren und das Allerheiligste zu Fuß in die Pfarrkirche Birgitz übertragen musste. So hatten die Bewohner von Götzens in der Nachbarpfarrkirche Birgitz ihre religiösen Pflichten zu erfüllen, was die gesamte Bevölkerung aufbrachte und zu Protestaktionen bei der Gauleitung veranlasste. Am 30. Juni 1940 fand die Bei46

Otto Neururer, geboren am 25. März 1882 in Piller (Priesterweihe am 29. Juni 1907, Pfarrer in Götzens seit dem 1. Oktober 1932), wurde ebendort verhaftet und starb im Konzentrationslager Buchenwald am 30. Mai 1940. – Diözese Innsbruck (Hrsg.), Pfarrer Otto Neururer – Ein Seliger aus dem KZ, Innsbruck 1996. – Kunzenmann, Provikar (Anm. 36), S. 31 – 35. – Helmut Tschol, Otto Neururer, Priester und Blutzeuge, Innsbruck / Wien / München 1982. 47 Msgr. Bernhard Praxmarer, geboren am 31. Dezember 1912 in Innsbruck, Priesterweihe am 25. Juli 1937, 1938 Landessekretär der Pfadfinder in Tirol, vom 8. September 1957 bis 1. September 1991 Pfarrer und Dekan von Hall (Tirol), gestorben am 16. Oktober 2001 ebendort. 48

Juen, Lampert (Anm. 14), S. 23. – Kunzenmann, Provikar (Anm. 36), S. 33.

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setzung der Urne mit den Überresten des Pfarrers Neururer statt, wobei der Provikar den Gottesdienst und das Begräbnis hielt. Der Andrang vieler Priester sowie Menschen aus Götzens und Umgebung hatte negative Befürchtungen bei den Parteigenossen zwecks weiterer Volkszusammenballungen ausgelöst. Die bisherigen Auseinandersetzungen mit der Gauleitung und der Gestapo führte der Provikar als Vertreter des Bischofs und der Administratur. Nach Einholung der vorgeschriebenen Genehmigung des Reichssicherheitshauptamtes für einen so hohen Kirchenbeamten wurde Provikar Lampert in Schutzhaft mit der Nummer 1269 genommen, um ihn nicht mehr als Verhandlungspartner der Kirche Tirols gegenüber der Gauleitung und der Gestapo wirken zu lassen. Am Samstag, dem 24. August, wurde er um 16.30 Uhr aus der Haft scheinbar in die Freiheit entlassen. IX. Einlieferung ins Konzentrationslager Dachau Vor dem Tor des Polizeigefängnisses „Sonne“ in Innsbruck stand ein Auto bereit, welches Provikar Lampert in das Konzentrationslager nach Dachau49 brachte, wo er wegen Widersetzlichkeit gegen staatliche Anordnungen auf Befehl des Reichssicherheitshauptamtes eingewiesen wurde und die SchutzhaftNummer 22706 sowie den „roten Winkel“ eines politischen Gefangenen erhielt. „Er war mit dem Todesurteil nach Dachau gekommen. Sofort, noch im Priestertalar, wurde er, einem Tiere gleich, an die riesige Straßenwalze gespannt. Mit heiliger Würde fand er sich in sein Martyrium. Er wusste ja, worum es ging und was er sich, Gott und der Kirche Gottes schuldig war.“50 Der Provikar schrieb an seinen Dornbirner Lehrerfreund Alfons Rigger am 23. August 1941 aus Stettin: „Morgen ist Jahrestag meiner letztjährigen Einlieferung. Nie in meinem Leben werde ich diesen 24. VIII. 1940 mehr vergessen und jene Fahrt mit so furchtbarem Kontrast: Luxus-Auto durch herrliche Gebirgslandschaft, draußen an allen Orten samstagabendfrohe Menschen auf allen Straßen, die wir durchfahren, und drinnen im Auto ein ohne ein Abschiedswort der Heimat Entführter, Gefangener mit schrecklichem Fahrtziel. Es war wohl die bisher stärkste Via dolorosa in meinem Leben. Dann senkte sich der Vorhang.

49

Johannes Neuhäusler, Wie war das im KZ Dachau? Ein Versuch, der Wahrheit näherzukommen, Dachau 161996. – Stanislav Zámeþník, Das war Dachau, Luxemburg 2002, S. 170 – 180. 50

Johannes Maria Lenz, Christus in Dachau oder Christus der Sieger, Mödling 1971, S. 115. – Eugen Weiler (Hrsg.), Die Geistlichen in Dachau sowie in anderen Konzentrationslagern und in Gefängnissen. Nachlass von Pfarrer Emil Thoma, Mödling 1971, S. 398. 10

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Und was dahinter liegt, weiß nur Gott allein.“51 Bei seinem Eintreffen in Dachau wurde Lampert von den herumstehenden Wachposten mit den gemeinsten Ausdrücken und niederträchtigsten Verdächtigungen angeschrieen, verspottet und beschimpft. X. Überstellung ins Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg Nach sechs Tagen wurde Provikar Lampert in das KZ Sachsenhausen52 überstellt, ungefähr 50 km nordwestlich von Berlin. Diese Maßnahme geschah vermutlich deshalb, weil das RSHA in Berlin diesen seltenen Fall eines so hohen Klerikers des Reichsgebietes aus der Nähe beobachten wollte.53 In einem Brief vom 14. Oktober 1940 gab er seinem Priesterfreund Rauch54 die neue Adresse bekannt: „Schutzhäftling Carl Lampert, Nr. 31091 – Block 26 – Oranienburg, Konzentrationslager bei Berlin.“55 Lenz schrieb am 19. November 1940: „Die Strafkompanie von Sachsenhausen wird zur Arbeitsstätte getrieben. Es wird Sand gefahren mit eisernen Wagen, ‚Loren‘ genannt. Dr. Lampert ist auch dabei. ... Noch zwei andere Priester sind dabei. ... Sie geben einander unterwegs noch rasch die Absolution. Sie wissen: Es geht um ihr Leben.“56 Provikar Lampert teilte im Brief vom 20. Oktober 194057 seinem Bruder Julius mit, dass er im Block 36, und im Brief vom 25. November 194058 dem Bischöflichen Kanzler Lechleitner, dass er im Block 4 untergebracht sei. Der Vorarlberger Pfarrer Knecht berichtete: Lamperts „Abteilung der SK [Strafkompanie] hatte die Aufgabe, fabriksneue Herrenschuhe [Wehrmachtsschuhe] auf ihre Haltbarkeit zu prüfen. Auf dem weiten Appellplatz gab es verschiedene Straßen. Ihr Oberbau war teils aus Beton, Schotter, Sand und Lehm. Über diese verschiedenen Stra-

51

Privatarchiv von Karl Martin Rigger, Hafnergasse 5, Dornbirn/Oberdorf (Sohn von Alfons Rigger). 52 Manuela R. Hrdlicka, Alltag im KZ. Das Lager Sachsenhausen bei Berlin, Opladen 1992. 53

Juen, Lampert (Anm. 14), S. 24.

54

Finanzrat Cons. Franz Sales Rauch, geboren in Düns (Vorarlberg), bis zur zwanghaften Aufhebung durch die Nazis Direktor der neurologischen und psychiatrischen Heilanstalt Valduna bei Rankweil (bis dahin eine kirchliche Stiftung), stellvertretender Finanzdirektor der Apostolischen Administratur für Vorarlberg, gestorben am 14. Juli 1953. 55

DAF, Mappe II/7, Eigentum der Pfarre Göfis.

56

Lenz, Christus in Dachau (Anm. 50), S. 115.

57

DAF, Mappe II/8, Eigentum der Pfarre Göfis.

58

Privatbesitz von P. Gaudentius Walser OCap (Innsbruck).

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ßen musste nun jede Abteilung der SK den ganzen Tag marschieren, um die neuen Schuhe auszuprobieren. Ihre Tagesleistung entsprach einer Länge von ca. 35 bis 40 km, je nachdem sie schneller oder langsamer gingen respektive getrieben wurden“59. Provikar Lampert verbrachte dreieinhalb Monate im KZ Sachsenhausen bei schwerster körperlicher Arbeit, bis er am 15. Dezember 1940 wieder nach Dachau zurückgebracht wurde. XI. Rückführung ins Konzentrationslager Dachau Lenz kannte zwei Priester, den Religionsprofessor Steinkelderer60 aus Innsbruck sowie Provikar Lampert, der mit der Gefangenen-Nummer 22706 auf Block 30/II K. 3 kam. Am 11. April 194161 klagte Julius Lampert dem Oberlehrer Alfons Rigger, dass er seinen Bruder Carl auf Ostern nicht daheim haben könne, vielmehr dessen Leiden „scheinbar nicht enden“ werde, dass er dazu bestimmt sei, „den Leidenskelch bis zur Neige auszukosten“. Julius Lampert richtete daher am 15. Mai 1941 an die Geheime Staatspolizei Innsbruck ein Bittschreiben, seinen Bruder zu entlassen.62 Ordinariatskanzler Lechleitner sandte den Theologiestudenten Hermann Lugger im Juni 1941 nach Fulda, wo Bischof Rusch an der gesamtdeutschen Bischofskonferenz teilnahm, und zwar mit der mündlichen Botschaft, nach Abschluss der Konferenz in Berlin bei kirchenfreundlichen Beamten der mittleren Rangordnung vom RSHA vorzusprechen, um Provikar Lampert frei zu bekommen.63 Dieser bischöflichen Aktion war Erfolg beschieden. Mit Wirkung vom 1. August 1941 wurde Provikar Lampert in die Freiheit entlassen, ihm wurde aber auf Befehl vom RSHA der Gauverweis ausgesprochen.

59

Alois Knecht, Lebenswege – ein Historie 1917 – 1945. 2. Teil (Manuskript), 10. Oktober 1949, S. 38 f., in: DAF, Lampert-Akten, Ordner 13, dok. 824, S. 361 – 372, bes. S. 369 f. 60

Msgr. Dr. Josef Steinkelderer, geboren am 20. Dezember 1904 in Innsbruck, Priesterweihe am 26. Juli 1932, seit 1. Juni 1945 Caritas-Direktor in Innsbruck, ebendort am 17. Juni 1972 gestorben. 61

Privatarchiv Rigger (Anm. 51).

62

DAF, Mappe II/24, Eigentum der Pfarre Göfis.

63

Cons. Hermann Lugger (geboren am 7. November 1919 in Innsbruck, Priesterweihe am 23. März 1947, zuletzt wohnhaft in Innsbruck, Kapuzinergasse 8/III, gestorben am 29. Dezember 2002 in Innsbruck) hatte dies anlässlich der Einvernahme beim Kognitionsprozess für die Seligsprechung von Provikar Lampert dargelegt.

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XII. Gauverweis bzw. Konfinierung nach Stettin Der Gestapochef vom Gau Tirol-Vorarlberg, Werner Walter Hilliges, machte am 11. Dezember 1946 bei der Polizeidirektion Innsbruck folgende Aussage: „Dr. Lampert wurde – nach seiner Entlassung aus Dachau, für die ich mich bestimmt einmal bei Gruppenführer Müller verwendet habe, – mit dem zur damaligen Zeit recht seltenen Aufenthaltsverbot für Tirol und Vorarlberg und dem noch selteneren Aufenthaltsgebot für Pommern belegt, und diese Entscheidung kam von Heydrich64 persönlich. Ich kann mich noch deutlich daran erinnern, dass ich mich mit meinen Beamten und dem SD-Abschnittsführer darüber unterhalten habe, was Heydrich wohl mit diesem Aufenthaltsgebot bezweckte, da in Pommern meines Wissens nach nur eine katholische Diaspora bestand und dort für einen Mann wie Dr. L. sich keine geeignete Betätigungsmöglichkeit (!) gegeben war.“65 Provikar Lampert musste am Montagabend, dem 11. August, nachdem er ein paar Tage mit Alfons Rigger sowie mit seinen Priesterfreunden und Mitarbeitern in Innsbruck verbracht hatte, nach München abreisen, wo er Leidensgenossen traf sowie übernachtete, und am nächsten Tag nach Regensburg weiterfahren.66 Am Donnerstag, dem 14. August, kam er um 18 Uhr in Berlin an, wo er im Josefskrankenhaus gastlich aufgenommen wurde. Am Freitag (15. August) gewährte ihm Berlins Diözesanbischof Preysing67, der in Innsbruck Theologie 64 Reinhard Heydrich, SS-Obergruppenführer, Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) der Sturmstaffel (SS), geboren am 7. März 1904 in Halle, gestorben durch ein Attentat am 4. Juni 1942 in Prag. 65 Niederschrift der Bundespolizeidirektion Innsbruck über eine Vernehmung von Werner Hilliges, dem ehemaligen Gestapochef von Innsbruck, am 11. Dezember 1946 (Landesgericht Innsbruck 10 Vr 1745/47). 66 67

Ansichtskarte vom Mittwoch, dem 13. August 1941 (DAF, Lampert-Akten).

Wolfgang Knauft, Konrad von Preysing – Anwalt des Rechts. Der erste Berliner Kardinal und seine Zeit, Berlin 21998. – Dr. Konrad Graf von Preysing (LichteneggMoos), geboren am 30. August 1880 in Kronwinkl (Kreis Landshut), zuerst Jurist im diplomatischen Dienst, Priesterweihe 1912, zunächst Bischof von Eichstätt (1932 – 1935). Er handelte schon 1933 nach dem Motto „Principiis obsta!“ („Wehre den Anfängen!“) in der Auseinandersetzung mit der NS-Herrschaft. Vergeblich versuchte er Papst Pius XII. und die deutschen Bischöfe unter der Leitung des kränklichen und zögerlichen Vorsitzenden der Bischofskonferenz, des Breslauer Kardinals, Adolf Johannes Bertram (seit 1916, geboren am 14. März 1859 in Hildesheim, gestorben am 6. Juli 1945 im Schloss Johannesberg bei Jauernig), für ein öffentliches Eintreten zugunsten der verfolgten Juden zu gewinnen. Mit dem „Preysing-Erlass“ (1947) stellte er die Weichen für die Kirchenpolitik bis zur Wende 1989. Gestorben ist Kardinal Preysing am 21. Dezember 1950 zu Berlin. Er hatte es zweimal unternommen, Provikar Lampert in Stettin und in

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studiert hatte, drei Stunden Audienz und wies ihm das Carolusstift in Stettin als neue Wohnstätte und die Propsteikirche St. Johannes Baptista als neues Wirkungsfeld zu. Damals traf er auch mit Bernhard Lichtenberg zusammen, dem Propst an der Berliner St.-Hedwigs-Kathedrale, der im Sommer 1996 in Berlin von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen wurde. Nach zweistündiger Fahrt am Samstag, dem 16. August, erreichte Provikar Lampert um 13 Uhr Stettin (damals ungefähr 300.000 Einwohner, aber nur 12.000 Katholiken), wo er im Carolusstift (Lazarett und Heilstätte für Kriegsversehrte) bei den Schwestern des hl. Karl Borromäus freundliche Aufnahme fand.68 Die zweite Ansichtskarte vom 19. August 1941 erhielt Alfons Rigger bereits aus Stettin, dann einen achtseitigen Brief vom 23. August, in welchem Provikar Lampert seine Lage und sein starkes Heimweh beklagte69: „... und dann packte es mich mit Allgewalt, das Weh der Zeit und so vieler 1000 von armen Menschen; und was ich nie in allem schweren Leid des vergangenen Jahres tat, – ich weinte, weinte ob all dem Trennungsweh und Leid dieser harten Zeit, nicht als ob ich über mein Los klagte, nein; was ist es auch, das Verbanntsein von Heimat und Freunden und Arbeitskreis im Vergleich zu dem 1000fachen Leid so vieler ärmster Menschen; nein, es war das persönliche Innewerden so harter Kontraste dieses Lebens, die einem zu meistern ein gütiger Vatergott in seiner Liebe auferlädt und das halt menschlich manchmal so schwer ist, wie mir es heute Abend war und doch wieder gut sein wird, weil der liebende, allwissende Vater im Himmel es zulässt. Ich dachte an all die Stationen meines Lebens, an Göfis, Feldkirch, Brixen, Dornbirn, Rom, Innsbruck, an Dachau, Sachsenhausen und wieder Dachau und an all den Freundeskreis, den ein guter Gott mir immer wieder zuführte, und nun an Stettin und meine neue Lage.“ In Mecklenburg-Vorpommern konnte sich Provikar Lampert frei bewegen, musste sich jedoch bei der Polizeidienststelle seines festen Wohnsitzes melden, um jederzeit greifbar zu sein. Er lernte sofort den Propst Ernst Daniel und die anderen Seelsorgspriester in Stettin kennen. Nach den Strapazen der KZ-Zeit war es ihm möglich, sich im Kreis von Mitbrüdern seelisch und körperlich zu erholen. Er begann seelsorglich tätig zu werden. Predigten, Lazarettbesuche, Glaubensstunden, Aushilfen in Pfarre, Stadt und Umgebung füllten sein Wochenprogramm. Am 18. Februar 1942 kam er von einem dreitägigen Besuch bei seinem aus seinen gemeinsamen römischen Studien- und einjährigen Dachau-Zeiten bekannten Freund Dr. Jakob

Torgau zu besuchen, es wurde ihm aber nicht genehmigt, weil Lampert nicht sein Untergebener war, sondern der von Bischof Rusch. Wohl aber durfte Bischof Preysing in den beiden Gefängnissen P. Friedrich Lorenz OMI und Kaplan Herbert Simoleit besuchen. 68

Kunzenmann, Provikar (Anm. 36), S. 37 – 44. – Walser, Dreimal zum Tod verurteilt (Anm. 14), S. 24 – 28. 69

Ansichtskarte und Brief im Privatarchiv Rigger (Anm. 51).

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Weinbacher in Parchim zurück, der als Sekretär des Wiener Erzbischofs Innitzer70 ebenfalls nach Pommern konfiniert wurde. Bis Februar 1943 lebte Provikar Lampert beinahe ungestört und frei in Stettin sowie in der ganzen Umgebung. Es hatte den Anschein, als ob die Gestapo ganz vergessen hatte, ihn zu bespitzeln. Seine Herzlichkeit und Vertrauensseligkeit sollten ihm jedoch bald zum Verhängnis werden. Im Hintergrund zog der Stettiner Gauleiter Franz Schwede-Coburg mit seinem Innsbrucker Gauleiterfreund Franz Hofer das Netz der Intrige und der Lüge immer enger um ihn herum. Im Raum Stettin vermutete man ein Nachrichtennetz. So wurde über Gauleiter Hofer der SS-Anwerber Franz Pissaritsch71 aus Klagenfurt als Spitzel eingesetzt. Die Verantwortung für die Bespitzelung und den späteren Prozess gegen Provikar Lampert und andere Priester lag bei der Gestapo-Leitstelle Stettin, namentlich bei SS-Obersturmbannführer Bruno Müller und SS-Hauptsturmführer Karl Trettin, welcher dem V-Mann und ‚Agent provocateur‘ Franz Pissaritsch Papiere auf den Namen ‚Ing. Georg Hagen‘ beschaffte.72 Dieser Lockspitzel wurde im Rüstungswerk der Firma Gollnow & Sohn (30 km nordöstlich von Stettin) zum Schein als Betriebsingenieur geführt und erhielt in der Straße des Carolusstiftes eine kleine Mietwohnung mit der Aufgabe, sich dem Klerus der Propstei St. Johannes Baptista gegenüber zuerst durch eifrigen Kirchenbesuch und schließlich durch Vorsprachen auffällig zu machen, um so das Vertrauen der Seelsorger zu erschleichen. Kaplan Herbert Simoleit73 leitete die Glaubensstunden und Bibelrunden im ‚Mittwoch-Kreis‘. Das ‚zufällige‘ Zusammentreffen mit Provikar Lampert spielte sich folgendermaßen ab: „Als sich Hagen in Stettin ‚einführte‘, befand sich Dr. Lampert in Zinnowitz, wo er in der Seelsorge aushalf. Eines Tages tauchte Hagen auch hier auf, stellte sich Lampert als in Stettin tätiger ‚Landsmann‘ vor und eröffnete ihm, dass er sich in einer schrecklichen Gewissensnot befinde. Er sei als Ingenieur in einem großen

70

Dr. Theodor Innitzer, geboren am 25. Dezember 1875 in Weipert (tschechisch: Veiprty, Nordböhmen), 1913 Professor für Exegese des N. T. in Wien, 1929/30 Bundesminister für soziale Verwaltung, 1932 Erzbischof von Wien, 1933 Kardinal, 1945 Gründer der katholischen Akademie in Wien, gestorben am 9. Oktober 1955. Erzbischof Innitzer befürwortete zunächst zusammen mit den anderen Diözesanbischöfen den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich, wandte sich aber bald gegen den Nationalsozialismus. 71

Franz Pissaritsch wurde 1916 in Dolina bei Klagenfurt (Kärnten) geboren und bewarb sich um Aufnahme in die SS, weswegen er eine Prüfung bestehen musste, welche in der Bespitzelung von Provikar Lampert im Gau Vorpommern bestand. 72 73

Juen, Lampert (Anm. 14), S. 26 f.

Ursula Pruß, Kaplan Herbert Simoleit, in: Helmut Moll, Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. I, Paderborn u. a. 1999, S. 110 – 113.

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Stettiner Rüstungswerk tätig und habe gerade die Konstruktionspläne für ein neuartiges Geschütz mit unheimlicher Treffsicherheit und von vernichtender Wirkung fertig gestellt. Er könne es jedoch mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, die Pläne dem Kriegsamt zu übergeben und damit den Nazis ein neues Vernichtungswerkzeug gegen die Menschheit auszuhändigen. Er, Lampert, solle doch entscheiden, ob er die Pläne vernichten solle, oder – noch besser – seine ehemaligen Auslandsverbindungen wieder aufnehmen und ihm, Hagen, die Anschriften maßgeblicher Persönlichkeiten mitteilen, damit er sich mit ihnen bezüglich dieser Angelegenheit in Verbindung setzen könne. Lampert hörte ihm nicht unfreundlich, aber doch reserviert zu und bat ihn schließlich, diese Sache mit sich selbst abzumachen.“74 ‚Ing. Hagen‘ traf sich trotz dieser Abfuhr noch oft mit Provikar Lampert, bis es gelang, ihn für das nahe gelegene Heeresversuchsinstitut Peenemünde auf der Insel Usedom zu interessieren, in dem er angeblich an einer neuen kriegsentscheidenden Vergeltungswaffe arbeitete.75 Beide machten einen Ausflug in die Nähe von Peenemünde, wo sich Provikar Lampert die Anlage durch ‚Ing. Hagen‘ erklären ließ, der genauestens für diese Aktion vorbereitet war, da die Gestapo für ihn sogar ein Treffen mit dem Raketenexperten Wernher von Braun zwecks genauer Erklärung des Raketensystems organisierte. Das Treffen ‚Hagen‘-Lampert in Zinnowitz wurde auch für Pfarrkurat Leonhard Berger von Zinnowitz sowie Lamperts Priesterfreund und Pfarrer Vinzenz Plonka von Wolgast zum Verhängnis. Der Gestapochef von Stettin, SS-Obersturmbannführer Dr. Bruno Müller, hatte nun die drei Aktionen „Observierung des Dr. Lampert“, „Aushorchen des Stettiner Klerus“ und „Zerschlagung des internationalen Nachrichtennetzes des katholischen Klerus in Pommern“ in Gang gebracht.76 XIII. Inhaftierung ins Gefängnis zu Stettin In der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1943 schlug die Gestapo zu. Propst Daniel berichtete: „Am Donnerstag, dem 4. Februar, ich wollte gerade ins Bett gehen, gegen 23 Uhr klopfte es stark an der Haustür der Propstei. ... ‚Wir müssen bei Ihnen Haussuchung halten.‘ ... Im Ganzen waren 16 Mann zur Haussuchung erschienen. ... Gegen 4 Uhr morgens war die Haussuchung zu Ende. Zum Schluss eröffnete mir noch der Kommissar, dass er die beiden Kapläne

74

Heinz Kühn, Blutzeugen des Bistums Berlin, Berlin 1950, S. 45 – 87, bes. S. 54 (Der Fall Stettin Lampert, Lorenz, Simoleit, Berger). 75 76

Wolfgang Knauft, „Fall Stettin“ ferngesteuert, Berlin 1994, S. 20 – 24.

Thomas Klosterkamp, Kind und Opfer seiner Zeit, Pater Friedrich Lorenz OMI. Ein Lebensbild (Manuskript), Rom 1994, S. 70 f.

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Simoleit und P. Lorenz hätte mitnehmen müssen.“77 In der gleichen Nacht hatte man auch im Carolusstift bei Provikar Lampert Hausdurchsuchung gehalten, er jedoch war zu Dr. Jakob Weinbacher nach Parchim gereist, was die Gestapo erfahren hatte, weil Weinbacher den Provikar telegrafisch zu sich gebeten und die Gestapo das Telegramm abgefangen hatte. So wurde Provikar Lampert an der Haustüre Weinbachers verhaftet.78 Die Gestapo suchte nach Zeichnungen der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, die angeblich von Lampert an Weinbacher zur Weiterbeförderung ins Ausland (Vatikan oder England) überbracht worden seien. In dieser Nacht sowie in den Tagen und Wochen darauf wurden insgesamt 42 Personen verhaftet, darunter 14 Priester79, zwei Ordensfrauen, Zivilisten, darunter holländische und polnische Fremdarbeiter. Damit war der Startschuss für den Prozess ‚Lampert und andere‘ gegeben. In Lamperts Wohnung fand man Prophezeiungen über die Zukunft Deutschlands, welche die Selige Odila von Lüttich im 13. Jahrhundert überlieferte.80 Dies und die Gesprächsprotokolle von ‚Hagen‘ waren die Grundlage für die Verhöre, denen sich Lampert für Wochen unterziehen musste. Die Geistlichen wurden im Stettiner Polizeipräsidium in der Augustastraße inhaftiert, wo auch die Gestapo ihren Sitz hatte, und waren anfangs in Einzelzellen (1.30 m x 3.00 m Ausmaß) untergebracht. Lesematerial, selbst Bibel und Brevier, sowie jede Art der Kommunikation der Gefangenen untereinander waren untersagt.81 Das dadurch erzeugte und zermürbende ‚Nichtstunkönnen‘ war eine erste kalkulierte GestapoSchikane. Die wochenlangen Verhöre und Vernehmungen lagen in der Hand von SS-Hauptsturmführer und Kriminalkommissar Karl Trettin. Das RSHA hatte die Aufklärung des „Falles Stettin“ mit allen Mitteln angeordnet. Bereits der Erlass des RSHA vom 12. Juni 194282 verlangte „verschärfte Vernehmungen“, falls aufgrund des Vorermittlungsergebnisses festgestellt würde, dass der Häftling über wichtige staats- oder reichsfeindliche Sachverhalte, Verbindungen oder Planungen Auskunft geben könne, seine Kenntnisse aber nicht preisgegeben wolle und diese im Ermittlungswege nicht feststellbar seien. Provikar Lampert bekam das sehr bald zu spüren. Bei einer Vernehmung, welche Trettin 77

Ernst Daniel, Der „Fall Stettin“. Bericht des Erzpriesters und Propstes von St. Johannes in Stettin (Manuskript), 15. 1. 1946, S. 2 ff. 78

Knauft, „Fall Stettin“ (Anm. 75), S. 25.

79

Klosterkamp, Kind und Opfer (Anm. 76), S. 75. – Knauft, „Fall Stettin“ (Anm. 75), S. 49. 80

Juen, Lampert (Anm. 14), S. 29.

81

Walser, Dreimal zum Tod verurteilt (Anm. 14), S. 29 f. – Knauft, „Fall Stettin“ (Anm. 75), S. 28: „Die kahlen Wände des 3.20 langen und ein Meter breiten Raumes mit den vergitterten Fenstern erdrücken fast.“ 82

Ebd., S. 26 f.

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im Beisein seines Chefs Müller durchführte, bestritt der Beschuldigte, Feindsender gehört zu haben, was aber ‚Ing. Hagen‘ bezeugt hatte. Der Jurist Müller riss Provikar Lampert erregt von seinem Sitz hoch und rief empört: „Kommen Sie mit!“83 Die Schmerzensschreie des brutal zusammengeschlagenen Lampert drangen aus dem Vernehmungsraum des Polizeipräsidiums. Später wurde er noch mehrmals misshandelt. Brille und Armbanduhr wurden dabei zerstört. Unter seelischen und körperlichen Qualen gab er „mehr zu, als wahr war“, was er jedoch sofort widerrufen hatte.84 Bei einer anderen Vernehmung fragte Trettin den Provikar, welches Werk er höher schätze, das Evangelium oder das Buch Hitlers „Mein Kampf“. Lampert antwortete: „Das Evangelium ist das Wort Gottes und verkündet die Liebe. Das Buch des Herrn Hitler ist das Werk eines Menschen und predigt nur den Hass!“85 Nach etwa drei Monaten gab es für die Priester einige bedeutende Erleichterungen. Die Gefangenen durften Brausebäder benutzen, sich zweimal wöchentlich mit dem eigenen Apparat rasieren, wobei die Rasierklingen durch Wachtmeister Karl Hofmann in Verwahrung genommen wurden, dem die Häftlinge manche Menschlichkeiten verdanken konnten.86 Schwere Stunden erlebten die Gefangenen in der Nacht vom 20. auf den 21. April während der schweren Luftangriffe auf Stettin, weil sie nicht in den Luftschutzkeller gehen durften. Seit Fronleichnam 1943 konnten die inhaftierten Priester in ihrer Zelle zelebrieren. Der Aufseher gab ihnen einen Becher Wein und die Hostie. Durch Provikar Lampert hatte man schon früher von einer Sondererlaubnis des Papstes Pius XII. erfahren, wonach die Häftlinge die Messe ‚brevissimo modo‘ (auf kürzeste Weise) feiern durften, die nur zwei Minuten dauerte.87 Das Hinlegen der Opfergaben galt als Opferbereitung, die Wandlungsworte und das Gebet vor der Kommunion ‚Herr, ich bin nicht würdig‘ genügten. Allerdings durften die inhaftierten Priester nur sonntags die heilige Messe zelebrieren. Die Gestapo wollte Lampert zur Mitarbeit für nationalsozialistische Interessen bewegen und versprach sofortige Freilassung. Kommissar Trettin legte dem Provikar nahe, das Priestertum zu verlassen: „Herr Lampert, sind Sie doch vernünftig; verlassen Sie die Kirche und Ihr Priestertum. Das ist doch alles nur Hocuspocus. Zeugen Sie Kinder für den Führer Adolf Hitler. Ich werde Ihnen einen guten Posten verschaffen!“ Provikars Antwort lautete: „Herr Kommissar,

83

Ebd., S. 27.

84

Ebd.

85

Juen, Lampert, Diener (Anm. 14), S. 29.

86

Walser, Dreimal zum Tod verurteilt (Anm. 14), S. 30.

87

Knauft, „Fall Stettin“ (Anm. 75), S. 28 f.

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ich liebe meine Kirche. Ich bleibe meiner Kirche treu und auch dem Priesteramt. Ich stehe für Christus und liebe seine Kirche!“88 Im „Fall Stettin“ sollten es Gestapo und Sicherheitsdienst sein, welche den Richtern die Hand führten. Die Anklagepunkte, die den ans Reichskriegsgericht überwiesenen Stettiner Priestern erst später bekannt wurden, fielen in den ‚neuen‘ Zuständigkeitsbereich des Reichskriegsgerichts. „Nach zehn Monaten ergebnisloser Verhöre und Untersuchungen gab Trettin auf, und der Prozess „Lampert und andere“ wurde an ein Kriegsgericht abgeschoben.“89 Die Anklageschrift gegen „Lampert und die anderen“ vom 28. November 1943 (Aktenzeichen I 351/43) war „Geheime Kommandosache“, unterlag strenger Geheimhaltepflicht und wurde den Angeklagten vorenthalten.90 Am 5. Dezember 1943 informierte Kommissar Trettin die verhafteten Priester darüber, dass ihre Angelegenheit in Halle/Saale verhandelt werde.91 XIV. Überstellung in das Gefängnis zu Halle an der Saale Am 6. Dezember 1943 ging es für die sechs verbliebenen Angeklagten mit dem D-Zug von Stettin nach Halle/Saale.92 Propst Daniel beschrieb diese Fahrt: „Auf der Reise erregten wir natürlich etwas Aufsehen, als so sechs Männer – immer zu zweien gefesselt – durch den Zug gingen. ... Dr. Lampert und ich waren zusammen gefesselt, P. Lorenz mit Kuratus Berger, Kaplan Simoleit mit Pfr. Plonka.“93 Die Haftbedingungen im Strafvollzug zu Halle waren ‚besser‘ als die bei der Gestapo in Stettin. Die Schikanen waren vorüber. Die Häftlinge waren zur Arbeit verpflichtet, was die Priester nach langem ‚Nichtstunkönnen‘ als ‚Wohltat‘ empfanden. Auch die nötigsten hygienischen Einrichtungen waren gegeben. Am 19. Dezember begann der Prozess unter dem Titel „Lampert und andere“ und dauerte bis zum 13. Jänner 1944.94 Die Verhandlung fand notdürftig in einem kleinen Saal im Zuchthaus unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Stirn-

88

Juen, Lampert (Anm. 14), S. 29.

89

Ebd.

90

Klosterkamp, Kind und Opfer (Anm. 76), S. 91.

91

Walser, Dreimal zum Tod verurteilt (Anm. 14), S. 31.

92

Ebd., S. 31 – 38. – Michael Viebig, Das Zuchthaus Halle/Saale als Richtstätte der nationalsozialistischen Justiz (1942 bis 1945) (Gedenkstätten und Gedenkstättenarbeit im Land Sachsen-Anhalt. Heft 5), Halle/Saale 1998. 93

Daniel, „Fall Stettin“ (Anm. 77), S. 16 f.

94

Kunzenmann, Provikar (Anm. 36), S. 47.

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wand des Saales war mit einer großen Hakenkreuzflagge geschmückt, davor stand der Richtertisch. Das Aktenstück trug den Aufdruck: „Geheim!“95 Propst Daniel schilderte als Betroffener und Augenzeuge die Ereignisse vor Gericht, was sich noch weiter durch den Prozess ziehen sollte.96 Hier zeichnete sich erstmals im „Fall Stettin“ die Spannung zwischen Rechtsinstanz und ‚allmächtiger‘ Gestapo ab. In dieser Verhandlung wurden die Anklagen wegen „Duldung staatsfeindlicher Gespräche“ und „Feindpropaganda“ gegen Pfarrkurat Leonhard Berger (Zinnowitz) und Propst Ernst Daniel (Stettin) schnell abgehandelt. Dann trat der Spitzel ‚Ing. Georg Hagen‘ gegen P. Lorenz und Kaplan Simoleit aus Stettin sowie besonders scharf gegen Provikar Lampert aus Innsbruck auf. Diesem wurde vorgeworfen, ausländische Arbeiter zur Sabotage aufgefordert zu haben, was ihm als ein schwerer Fall von Feindbegünstigung ausgelegt wurde.97 ‚Hagen‘ sagte ebenfalls aus, zusammen mit Lampert Feindsender gehört zu haben. Am 20. Dezember 1943 erfolgten die Urteile aus der ersten Verhandlung: Provikar Lampert wurde wegen Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt.98 Die Verfahren gegen Kaplan Simoleit sowie P. Lorenz99 blieben offen und wurden mit einem weiteren Verfahren wegen Wehrkraftzersetzung gegen Dr. Lampert gekoppelt. Mit Pfarrer Plonka hatte sich der Provikar in einem dritten Prozess wegen Spionage zu verantwor-

95

Kühn, Blutzeugen (Anm. 74), S. 72.

96

Daniel, „Fall Stettin“ (Anm. 77), S. 18: „Nach Eröffnung der Verhandlung durch den Vorsitzenden berichtete Kommissar Trettin aus Stettin über uns. Er fing wörtlich an: ‚Wenn man schon die Pfaffengesichter und Verbrecherbande sieht...‘ Hier unterbrach ihn der Vorsitzende mit den Worten: ‚Herr Kommissar, ich bitte Sie, solche beleidigenden Äußerungen zu unterlassen.‘ ... Da die Gestapo über ‚verschärfte Vernehmungen‘ Dr. Lamperts und Kaplan Simoleits berichtet hatte, wurden diese nach der Art ihrer Vernehmung befragt. Zunächst wollten sie nicht aussagen aus Angst vor der Gestapo. Erst auf wiederholtes Drängen des Vorsitzenden berichteten sie von Schlägen und Drangsalierungen. ... Als der Vorsitzende auf die einzelnen Punkte der Anklage einging, merkte er, dass die Angeklagten bei manchen Dingen etwas erstaunt taten. Er fragte dann: ‚Ja, haben die Angeklagten keine Anklageschrift erhalten?‘ Der Staatsanwalt bemerkte dazu: ‚Nein, den Angeklagten ist der Inhalt der Anklage nur mündlich mitgeteilt worden.‘“ 97

Karl Heinz Jahnke, Marie ter Morsche kann ihren Vater nicht vergessen. Widerstand gegen Hitlers V-Waffen in Zinnowitz und Peenemünde 1942/43, Rostock 22002. 98 Hermine Wüllner (Hrsg.), „...kann nur der Tod die gerechte Sühne sein“. Todesurteile deutscher Wehrmachtsgerichte. Eine Dokumentation, Baden-Baden 1997, S. 259 – 262. 99 Thomas Klosterkamp, Pater Friedrich Lorenz, in: Helmut Moll, Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts. II, Paderborn u. a. 1999, S. 820 ff.

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ten. Diese Verhandlung musste aber vertagt werden, da ein Ingenieur aus Peenemünde als Zeuge daran nicht teilnehmen konnte. XV. Inhaftierung ins Wehrmachtsgefängnis „Fort Zinna“ zu Torgau an der Elbe Alle vier Priester, Provikar Lampert, P. Lorenz, Kaplan Simoleit und Pfarrer Plonka, wurden am 14. Jänner 1944 zu weiteren Verhandlungen ins Wehrmachtsgefängnis „Fort Zinna“ nach Torgau überstellt, in die damals größte Haftanstalt Deutschands.100 Für Pfarrkurat Berger und Propst Daniel war das Verfahren abgeschlossen, sie traten ihre Gefängnisstrafe an. Torgau war seit dem 18. August 1943 der Hauptsitz des Reichskriegsgerichts. Die Haftbedingungen waren wie in Halle/Saale. Das Zelebrieren der hl. Messe war den Priestern freilich auch hier verboten. Es war ihnen aber die Möglichkeit geboten, im Gefängnis am Gottesdienst teilzunehmen. Über die Haftbedingungen im Jahre 1944 berichtete der ehemalige luxemburgische Gefangene Pierre Fah im Kreuzbau von „Fort Zinna“.101 „Was die Verhandlung vom 19. und 20. Dezember betraf, so trug sich wenigstens der spätere Verhandlungsleiter, Generalstabsrichter Werner Lueben mit ziemlichen Zweifeln. Die Vor-Urteile der Gestapo waren ja schon in der Verhandlung vom

100

Norbert Haase, Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft, Berlin 1993, S. 144 – 149. – Ders. / Brigitte Oleschinski (Hrsg.), Das Torgau-Tabu: Wehrmachtstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR-Strafvollzug, Leipzig 21998, S. 45 – 60, 106 – 109, 118 – 123. – Michael Eberlein / Norbert Haase / Wolfgang Oleschinski, Torgau im Hinterland des Zweiten Weltkriegs. Militärjustiz, Wehrmachtgefängnisse, Reichskriegsgericht, Leipzig 1999, S. 129 ff. – Norbert Haase / Brigitte Oleschinski, Torgau – Ein Kriegsende in Europa, Torgau 1995. – Walser, Dreimal zum Tod verurteilt (Anm. 14), S. 38 – 41. – Wüllner, »...kann nur der Tod ...« (Anm. 98), S. 259 – 262, 288 – 295. 101

Haase / Oleschinski, Torgau-Tabu (Anm. 100), S. 123 ff.: „Die Einzelzellen im Gefängnis, ungefähr 2 x 4 m, waren mit 5 – 6 Mann gut belegt. Ein an der Wand befestigtes Bett wurde nachts hochgeklappt. Die Stroh-Staubsäcke wurden zum Schlafen auf den Boden gelegt. Tagsüber wurden dieselben auf das heruntergeklappte Bett gestapelt, mit unseren Decken bedeckt, zum Sofa umfunktioniert. Lavabo und fließendes Wasser gab es auch. Ebenso befand sich in der Ecke ein WC, welches auch durch das Abflussrohr als Telefon mit den Nachbarzellen dienen konnte. ... Ein kleiner Hängeschrank sowie Hocker gehörten zur Einrichtung. ... Die Verpflegung war entsprechend unserer Leistung, morgens ½ Liter hellbraune Brühe als Kaffee. ... Das Wachpersonal war bis auf einige Ausnahmen zu ertragen. Am frühen Abend mussten die Todeskandidaten Schuhe und Kleider, bis auf die Unterwäsche, vor der Zelle auf den Boden legen.“

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19. Dezember negativ aufgefallen. Als Lueben mit dem „Fall Stettin“ in Torgau betraut wurde, teilte er seine Bedenken seinen Vorgesetzten mit.“102 Werner Lueben, seit Jänner 1944 Präsident des zweiten Senates am Reichskriegsgericht, hatte an dessen Präsidenten am 27. Mai 1944 in der „Strafsache gegen Lampert“ bezüglich „Auftrag vom 2. April 1944, Az. 197/44 g. Kdos. Chefsache“ sowie bezüglich „Vorbericht vom 14. April 1944 (Stellungnahme zu dem Bericht des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD [= Sicherheitsdienstes] vom 2. März 1944 über die Verhandlung vom Dezember 1943 gegen Lampert u. a.“ ein Schreiben (StPL. 2. Senat 92/43) gerichtet.103 Da die Anklagen gegen Pfarrer Vinzenz Plonka nicht so schwerwiegend wie bei Kaplan Herbert Simoleit und P. Friedrich Lorenz oder wie im gesondert behandelten Fall Dr. Carl Lampert waren, wurde Plonka schon im April 1944 wegen „versuchter Spionage“ zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.104 Nach 18 Monaten Haft wurde am 24. Juli 1944 vor dem Reichskriegsgericht in Torgau der schicksalhafte Prozess gegen die noch verbliebenen drei Priester aus Stettin eröffnet.105 Den Hergang des Prozesses, der unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgte und geheim gehalten wurde, hatte P. Lorenz als Gedächtnisprotokoll sorgfältig niedergeschrieben.106 In der ersten Sitzung am 24. Juli 1944 wurden alle Anklagepunkte besprochen. Die zweite Sitzung der Hauptverhandlung am 25. Juli 102 Klosterkamp, Kind und Opfer (Anm. 76), S. 90: „In einem Schreiben vom 27. 05. 1944 hatte ... Lueben sowohl dem Oberreichskriegsanwalt als auch dem RKG-Präsidenten gegenüber Bedenken im Bezug auf die Beweiswürdigkeit der 108 Seiten umfassenden ‚Geheimen Reichssache‘ geäußert. Er erhob vor allem Einspruch gegen die Vernehmungstechniken der Gestapo, die nach seiner Auffassung ‚keine geeignete Grundlage für ein Geständnis‘ darstellten.“ 103

Haase / Oleschinski, Torgau-Tabu (Anm. 100), S. 47 ff. und S. 58 Anm. 19. – Haase, Reichskriegsgericht (Anm. 100), S. 74 ff: „Die Vorgänge sind möglicherweise für die Entscheidung der Frage von Bedeutung, ob Lampert auf Grund des bereits erlassenen Urteils hingerichtet werden oder ob erst noch das Verfahren wegen Spionage gegen ihn durchgeführt und dabei die Möglichkeit eines Freispruches in Kauf genommen werden soll. ... Alles das ist im Verfahren gegen Lampert wegen Spionage auch deshalb von ganz besonderer Bedeutung, weil der Senat inzwischen auch in seinem Urteil vom 18. April 1944 gegen Plonka – und zwar in überwiegend anderer Besetzung – in 2 verschiedenen Fällen mit eingehender Begründung ausdrücklich festgestellt hat, dass die polizeilichen Protokolle, auch soweit sie nicht durch verschärfte Vernehmung zustandegekommen sind, keine geeignete Grundlage für ein Geständnis darstellen.“ 104

Klosterkamp, Kind und Opfer (Anm. 76), S. 111.

105

Ebd.

106

Friedrich Lorenz, Mitgeschriebene Notizen zum Prozess, 10 Seiten DIN A4, 2 Seiten DIN A5, doppelseitig beschrieben, Bleistift (maschinenschriftliche Abschrift durch P. Alfons Schrodi OMI).

Leben und Leiden für Christus und die Kirche

1145

mit dem Plädoyer ‚Hagens‘ fand ohne Angeklagte statt. Während bei der ersten Verhandlung zu Halle im Dezember 1943 das Richterkollegium gegen ‚Hagen‘ eingestellt war, kippte die Stimmung des Gerichtes gegen die Priester und für ‚Hagen‘, weil Trettin an diesen Tagen anwesend war. So fand es der Senatspräsident ganz in Ordnung, dass sich ‚Hagen‘ nicht nur getarnt hatte, sondern sogar offen provozierte. Oberreichskriegsgerichtsanwalt Dr. Hugo Speckhardt hatte ‚Hagen‘ besonders gelobt, der alles beeidete und dem alles geglaubt wurde, während die Priester als unglaubwürdig galten. Am 26. Juli wurden Pfarrer Werner Bunge, die Unteroffiziere Klein und Nairz, Obergefreiter Wilhelm Mandrella, Unteroffizier Heinrich Mayer, Schankwirt Heinz Mazurkewitz, Obergefreiter Josef Maria Zimmerer sowie der Priester und Sanitätssoldat Heinz Zumbé als Zeugen einvernommen. Am dritten Verhandlungstag, dem 27. Juli, hielt der Oberreichskriegsgerichtsanwalt Dr. Alexander Kraell die Anklagereden. Die Reden der Verteidiger wurden großteils unterbunden, die Verteidigungsversuche der Priester als unglaubwürdig abgetan. Am 28. Juli fand um 11 Uhr die Urteilsverkündung statt: Todesstrafe für alle drei Priester wegen Vergehens gegen das Rundfunkgesetz, wegen Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung. Die drei Priester nahmen das Urteil mit Gelassenheit auf, da ja alles vorher bereits beschlossene Sache war. Die Gerichtsdiener legten den zum Tode verurteilten Priestern sofort Fesseln an Hände und Füße. Als Gefangene gehörten sie nun zur Kategorie der „Todeskandidaten“.107 Oberreichskriegsgerichtsanwalt Dr. Hugo Speckhardt stellte alles als bewiesen hin, was ‚Hagen‘ ausgesagt hatte. „Nach § 21 der Kriegsartikel seien die Angeklagten todeswürdig, da der Soldat an der Front den Tod fordern kann für solche, die in der Heimat die Wehrkraft zersetzen.“ Der Oberreichskriegsanwalt Dr. Alexander Kraell äußerte: „Die Angeklagten sind keine Verbrecher. Ihre Tragik ist, dass sie katholische Priester sind.“108 Hier traten die Spannungen zwischen den Richtern, Verteidigern und der Gestapo deutlich zu Tage. Die Aussagen von Vizeadmiral Arps und Dr. Kraell machten den „Fall Stettin“ laut Wittschier zum exemplarischen Fall.109 Kooperation und Konfrontation mit dem NS-Regime beim Reichskriegsgericht bestanden nebeneinander. Die beiden Richter, 107

Klosterkamp, Kind und Opfer (Anm. 76), S. 111 – 116.

108

Ebd., S. 116.

109

J. Bernd Wittschier, Der Fall Stettin – Provikar Dr. Carl Lampert, in: Offertenzeitung 5 (1988), S. 316 – 324, bes. S. 316: „Denn hier wird durch das öffentliche zeugnishafte Wort und die tragischen Tatbeweise beschrieben, was auch für die anderen 165 von den Nationalsozialisten ums Leben gebrachten Priester bezeugt ist: Ihre einzige Tragik war es, dass sie katholische Priester waren. Der Hass gegen die Kirche und das Priestertum war es, der sie straf- und todeswürdig machte, nicht aber schon das, was die Verfolger, die ja keine Märtyrer machen wollten, ihnen begründet, teilbegründet oder unbegründet vorwarfen.“

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Generalmayor Werner Lueben und Oberst Karl Sachs, gehörten wahrscheinlich zu jenen Militärjuristen im Prozess gegen die drei Priester von Stettin, welche der Militäropposition nahe standen. Das war jedoch keine Garantie für ein rechtsstaatliches Verfahren des Reichskriegsgerichtes, wie der „Fall Stettin“ beweist. Jedes NS-staatliche Vorgehen gegen die katholische Kirche vollzog sich unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Staatsfeind, wie Dr. Kraell meinte, dass nämlich Priester oder Katholiken, die ins Gefängnis oder ins KZ wanderten bzw. zum Tode verurteilt wurden, politische Gegner seien. Die Anklagepunkte waren nicht aus dem Inhalt katholischen Glaubens hergeleitet, vielmehr Konsequenzen des Glaubens. Der Nationalsozialismus ging mit der Taktik einer politischen Gegnerschaft nicht nur gegen christlichen Widerspruch und Widerstand vor, sondern gegen jegliche Opposition. Diese Taktik beschrieb Propagandareichsminister Goebbels110 mit den Worten: „Nicht Martyrer, sondern Verbrecher machen wir aus ihnen!“111 Da der Senatsvorsitzende des Reichskriegsgerichtes, Werner Lueben, in der Nacht vor der Urteilsverkündung am 28. Juli 1944 Selbstmord durch Erschießen begangen hatte, daher die notwendige Unterschrift unter die Todesurteile nicht mehr setzen konnte oder wollte, wurde der Prozess aus formalrechtlichen Gründen am 15. August aufgehoben. Am 2. September begannen erneut die Verhandlungen, in denen alle drei Priester der Reihe nach einvernommen wurden. Am Nachmittag wurde ‚Hagen‘ angehört, dem geglaubt wurde, weil er alles beschworen hatte. Am 3. September fanden nochmals die Zeugenverhöre statt. Am 4. September hielten die Anwälte ihre Plädoyers. Um 12 Uhr wurden Kaplan Herbert Simoleit wegen Zersetzung der Wehrkraft und wegen Rundfunkverbrechens, P. Friedrich Lorenz zusätzlich wegen Feindesbegünstigung zum Tode verurteilt. Im Wesentlichen waren diese Urteile mit denen vom 28. Juli identisch, dienten also hauptsächlich zur Beseitigung des Formfehlers. Der Prozess gegen Provikar Lampert dauerte länger, weil zusätzlich wegen Spionage verhandelt wurde. Das Todesurteil gegen Provikar Lampert wurde erst am 8. September verkündet.112 Dieses Urteil wurde am 22. September

110

Dr. Joseph Paul Goebbels, Gauleiter von Berlin, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, geboren am 29. Oktober 1897 in Rheydt, gestorben durch Selbstmord im Führerbunker zu Berlin am 1. Mai 1945. 111 112

Heinz Hürten, Verfolgung, Widerstand und Zeugnis, Mainz 1987, S. 47 ff.

Wüllner, „... kann nur der Tod ...“ (Anm. 98), S. 288 – 295, bes. S. 288: „In der Strafsache gegen den ehem. Provikar Karl Lampert aus Stettin wegen Spionage hat das Reichskriegsgericht, 2. Senat, in der Sitzung vom 8. September 1944, an der teilgenommen haben als Richter: Generalstabsrichter beim Reichskriegsgericht Birol, Senatspräsident, Vizeadmiral Arps, Oberst Röhrs, Oberst Matthey, Oberkriegsgerichtsrat Vollbrecht; als Vertreter der Anklage: Generalstabsrichter beim Reichskriegsgericht Dr. Kraell, Ober-

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1147

ausgefertigt und am 28. September von Admiral Max Bastian, dem Präsidenten des Reichskriegsgerichtes, mit einer Vollstreckungsverfügung bestätigt sowie den drei verurteilten Priestern mitgeteilt, denen nur noch der Gnadenweg blieb. Am 21. September richtete Julius Lampert an den Führer und Reichskanzler ein Gnadengesuch mit der Bitte, „das Todesurteil im Gnadenwege nachzusehen und in eine Freiheitsstrafe umzuwandeln“113. Mit diesem Gnadengesuch fuhr er zu Bischof DDr. Paulus Rusch nach Zams und bat ihn um seine Unterschrift. Dieser lehnte es jedoch ab und entließ Julius Lampert mit der Bemerkung: „Unterschrift, nein! Wenn in Tirol der Gauleiter und seine Partei von mir keine Unterschrift gelten lassen, dann auch nicht in Torgau!“114 Julius Lampert war sehr verärgert und kam mit äußerst schlechter Laune nach Hause. Er konnte den Bischof nicht verstehen. Provikar Lamperts Rechtsanwalt Dr. Kurt Valentin115 richtete von Torgau aus am 25. September ein Gnadengesuch116 an den Präsidenten des Reichskriegsgerichtes und bezog sich auf seinen Antrag vom 27. Juni 1944 betreffs des Wiederaufnahmeverfahrens. Provikars Freund Alfons Rigger aus Dornbirn sandte am 29. September ebenfalls ein Gnadengesuch an den Präsidenten des Ober-Reichskriegsgerichtes nach Torgau.117 Am 16. Oktober schrieb Provikar Lampert an seinen Lehrerfreund einen langen, ‚außertourlichen‘ Brief, der nicht durch die Zensur gegangen war, weshalb er „offen reden“ konnte.118 Den ersten Teil dieses langen Briefes schloss Provikar Lampert mit

reichskriegsanwalt, Oberstrichter Dr. Speckhardt; als Urkundsbeamter: Reichskriegsoberinspektor Wagner, für Recht erkannt: Der Angeklagte wird wegen Spionage zum Tode und zum dauernden Verlust der Ehrenrechte verurteilt. Sein Vermögen wird eingezogen. Von Rechts wegen.“ Anschließend folgen fünf Gründe für das Todesurteil und die Bestätigungsverfügung. – Eberlein / Haase / Oleschinski, Torgau (Anm. 100), S. 130. – Kurt Fricke, Die Justizvollzugsanstalt „Roter Ochse“ Halle/Saale 1933 – 1945. Eine Dokumentation (Gedenkstätten und Gedenkstättenarbeit im Land Sachsen-Anhalt. Heft 3), Magdeburg 1997, S. 121: „Dokument 54: Urteil des Reichskriegsgerichts Torgau gegen Karl Lampert vom 8. 9. 1944 (Quelle: BArch, Außenstelle Dahlwitz-Hoppegarten, M 1010, A 10)“. 113

DAF, Lampert-Akten, Ordner 7, dok. 372, S. 36 – 39, bes. S. 37.

114

Ebd., S. 40. – Diesen Aktenvermerk erhielt P. Gaudentius Walser ganz persönlich von Julius Lampert, der mit der Tante von P. Gaudentius verheiratet war. 115

Dr. Kurt Valentin wohnte damals wegen dieses Prozesses gegen Lampert vorübergehend in (10) Torgau, Postschließfach 20. 116

DAF, Lampert-Akten, Ordner 7, dok. 374, S. 46.

117

Ebd., dok 375, S. 6 f.

118

Ebd., dok. 379, S. 74 – 77: „... halt weiter wie Ihr dort im Gottvertrauen durchhalten, bis es besser wird, schlechter kann es nur noch weniger werden! Der ‚Anbruch des Morgenrots und des Sieges‘ ist ja unverkennbar. Wer und wie viele bis dahin aber noch

1148

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der Bemerkung: „Es ist nicht leicht, – Todeskandidat in Permanenz zu sein!“ Erst am Christkönigssonntag, dem 29. Oktober, setzte der Provikar seinen unzensurierten Brief mit einem zweiten Teil fort: „... Ein großes Ereignis liegt hinter mir, – Exzellenz Tschanns Besuch! Er tat wohl, wenn er auch leider nur sehr kurz war; – es waren ein ersehntes Wiedersehen und eine edle Brudertat! Meine Lage hat sich indes ins noch tiefere Elend verändert, da mein Wiederaufnahme-Gesuch für eine neuerliche Prozessaufnahme abgelehnt wurde. Nun läuft nur noch das Gnaden-Gesuch-Stadium, hier Hinrichtungs-Stadium genannt! Denn Gnade und Barmherzigkeit sind ja ausgewandert! ... Ich habe nur noch eine vernünftige Begründung für all den Wahnsinn, den man mir antut: ‚Haben sie mich verfolgt, werden sie auch euch verfolgen!‘ Und der Gedanke ist das einzige Licht in diesem hässlichen Dunkel meines Daseins! ... Ich habe soeben ‚mein Hochamt‘ gehalten, und Ihr wart alle dabei bei dieser ‚Königsfeier‘, und ich hab’ Dich und all die Deinen und all meine vielen lieben Sorgenund Freudenkinder Ihm geweiht; und es war mir so eigen froh und festlich zu Mute in dieser Stunde, wenn auch der ‚Kirchenraum‘ nur meine armselige Zelle und die Weihrauchwölklein von einem kleinen Zweiglein einer Heimattanne stammten; – aber ich meine, sie stiegen doch zu Gott empor als ‚lieblicher Wohlgeruch‘ und trugen mein heißes Flehen zum Himmel empor; – und so wird auch für mich und für Euch alle wieder einmal lichter Festtag sein! Bis dahin, – Geduld! ... ‚Dank für all Deine Liebe und Verzeihung für alles, was ich weniger gut gemacht!‘ – Ist dies Wort fürs Sterben, ist’s gut; ist es fürs Leben, ist’s auch nicht schlecht; – frohes Wiedersehen ist das Beste! – Und nicht traurig sein! ...“119 Am 25. Oktober120 hatte der alte und kränkliche Weihbischof

dran glauben müssen, ist freilich eine andere Frage; doch auch die Lösung dieser Frage steht bei Gott und kann deswegen auch mir eine gute sein. Und so wollen wir uns heute schon mit ihr abfinden, wie immer sie ausfallen mag. Fiat – fiat – fiat! Kreuz ist ja Inhalt und Sieg des Christentums und in unseren Zeiten die Ehre des Priesterlebens. ... Dir, lieber Fons, und auch ihnen [den genannten Priestern, Verwandten und Bekannten] meinen Dank für Euer Eintreten für mich; es ist wertvoll und gut, je mehr es tun, desto besser. Es widerstrebt mir zwar im Innersten meines ganzen Seins, um Gnade zu bitten, wo ich Recht – und zwar so schwer verletztes Recht – zu fordern habe; aber jeder muss jene Wege gehen, die ihn einmal zu diesem Recht führen können; und diese Wege sind leider nicht immer gewollte, noch weniger sind dies immer angenehme; aber ich möchte sie wenigstens mit Würde und ohne überflüssige Demut gehen!! Winseln liebe ich nicht, aber aufrecht bitten kann man auch noch heute; vielleicht führt Gottes Hand hier zu besserem Erfolg, als menschliches Fühlen und mein Erwarten hier zu gewähren und zu hoffen bisher geneigt sind.“ – Warum Provikar Lampert nach dem 16. bis zum 29. Oktober mit der Fortsetzung gewartet hatte, ist nicht bekannt. 119

Ebd., S. 78 f.

120

Ebd., dok. 399, S. 180 f.

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1149

und Generalvikar von Feldkirch dem Provikar einen zwangsgekürzten Besuch im Gefängnis von Torgau abgestattet, was im Brief vom 26. Oktober an Bruder Julius bestätigt wurde.121 Tatsächlich reiste Weihbischof Tschann122 nach Innsbruck, um Bischof Rusch zur Unterschrift unter ein Gnadengesuch vom 8. November 1944 zu bewegen, und zwar gerichtet an den Päpstlichen Nuntius Orsenigo mit der Bitte am Schluss des dreiseitigen Briefes, durch die „Vorsprache beim Führer oder beim Herrn Reichsminister im Auswärtigen Amte für eine Begnadigung des Msgr. Dr. Lampert sich einzusetzen“.123 Diese Hilfeleistung wurde aus unerfindlichen Gründen zu spät gestellt und hinsichtlich eines Erfolges zu spät oder gar nicht abgesandt.124 Das Ansuchen des Bischofs Tschann an den Gauleiter und Reichsstatthalter Franz Hofer um eine persönliche Besprechung in Sachen Provikar Lampert beantwortete der stellvertretende Gauleiter Herbert Parson am 31. Oktober dahingehend, dass der Gauleiter erst am 20. November um 17 Uhr zu sprechen sei, demzufolge sieben Tage nach Provikar Lamperts Hinrichtung.125

121 Ebd., dok. 384, S. 98 – 105: „Ich stehe noch ganz unter dem Erlebnis des Besuches von der lieben Exzellenz; – ich gestehe, ich habe es nicht erwartet! Gerade am Morgen des Besuchstages dachte ich daran, Dir zu schreiben, dass ich meine Bitte zurücknehme; je länger, desto mehr erschien sie mir eine zu große Zumutung. Nun hat Exzellenz mich überrascht und damit sich selbst übertroffen! Gott lohne sein Riesenopfer und segne ihn und seine Schritte für mich! ... Herzlich danke ich für sein Verwenden hier und dort; wenn ich ihn noch auf eine Stelle aufmerksam machen darf, dann nenne ich das internationale Rote Kreuz in Genf. Ich glaube, es sind auch in der Ostmark Stellen davon (Innsbruck); und die Genfer Konvention vom 27. Juli 1929 sieht meines Erinnerns derartige Interventionen vor, doch dies ist nur ein Gedanke meinerseits. ... Da die Gnadengesuche in Berlin (beim O.K.W. [= Oberkommando der Wehrmacht] vermutlich) erliegen, möchte ich Exzellenz Paulus herzlich bitten, dortige Stellen ad eventualiter interveniendum zu infomieren!“ 122

Franz Tschann, geboren am 3. Oktober 1872 in Bludenz, Priesterweihe am 29. Juni 1897, am 18. Oktober 1936 von Erzbischof Sigismund Waitz in Salzburg zum Titularbischof von Panio konsekriert, Weihbischof und Generalvikar für Vorarlberg, im Jahre 1955 in den Ruhestand getreten und gestorben am 10. Oktober 1956. 123

Stiftung Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes [= DÖW, Sitz: A-1010 Wien, Wipplingerstr. 8], E 11.599 bzw. 18.876: „Dokumente des Generalvikariates Innsbruck-Feldkirch. Schriftwechsel kirchlicher Stellen u. a. Bischof Rusch von Feldkirch [sic!] mit den NS-Justizstellen über die Bitte mit der Begnadigung des zum Tode verurteilten Carl Lampert. Februar 43 – November 1944. 32 Seiten Kop. v. Orig. (A4)“, und zwar mit dem Vermerk rechts oben: „Nunt/13“, bes. S. 3. 124

In der Tat trägt dieses Gadengesuch zwar die Unterschrift von „Bischof & Generalvikar Fr. Tschann“, nicht aber von „Bischof & Apostol. Administrator“ Paulus Rusch. 125

DAF, Lampert-Akten, Ordner 7, dok. 389, S. 130.

1150

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Am 6. November schrieb Dr. Valentin an Julius Lampert, dass „alle Gnadenmittel erschöpft sind und die Urteilsvollstreckung bereits angeordnet wurde“, und schickte ihm „die Unterlagen für die Geltendmachung“ der „vermögensrechtlichen Ansprüche“, da „auch die Anträge bezüglich der Aufhebung der Vermögensbeschlagnahme abgelehnt“ wurden. Diese Ansprüche solle Julius Lampert „bei der zuständigen Wehrkreisverwaltung“ zu Salzburg „im Verwaltungs- oder im Klagewege begründet vorbringen“.126 XVI. Enthauptung im Gefängnis zum „Roten Ochsen“ in Halle an der Saale Als am 13. November 1944127 um 5 Uhr früh am Morgen im Gefängnis zu Torgau der Befehl „Aufstehen! Fertig machen!“ durch die Zellentüren drang, wurden die drei Priester, Provikar Msgr. Dr. Carl Lampert, P. Friedrich Lorenz OMI und Kaplan Herbert Simoleit, in das Gefängnis zum „Roten Ochsen“128 nach Halle an der Saale gebracht. Nachmittags um 2 Uhr schrieb Provikar Lampert einen Abschiedsbrief an seinen Bruder Julius129, um 15 Uhr an Weihbischof und Generalvikar von Feldkirch, Franziskus Tschann, sowie an seine „besonderen Priesterfreunde, Oskar [Schuchter, † 26. 11. 1965], [Wilhelm, † 19. 07. 1958] Brunold, [Emanuel, † 24. 07. 1955] Treitner, Dr. Johannes [Schöch, 126

Ebd., dok 396, S. 166.

127

Walser, Ein Leben für Christus (Anm. 14), S. 74 ff. – Ders., Dreimal zum Tod verurteilt (Anm. 14), S. 41 ff. – In allen Büchern sowie Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln wird für die Abfahrt von Torgau nach Halle/Saale das Datum des 13. Novembers 1944 angegeben, nur in einem Brief eines ungenannten Mitgefangenen im Gefängnis von „Fort Zinna“ zu Torgau wird das Datum des 10. Novembers genannt: DAF, Lampert-Akten, Ordner 7, dok. 399, S. 189; auch in: DÖW, 11.598 bzw. 10.875, „Dokumente des Generalvikariats Innsbruck-Feldkirch. Schriftverkehr und letzte Briefe des Pater Carl Lampert aus dem KZ Dachau und dem Zuchthaus Torgau/Elbe. Lampert wurde am 13. 11. 1944 enthauptet. 16 Seiten Kop. Orig. (A4)“. In diesem Schreiben des Mitgefangenen heißt es: „10. Nov. Nachschrift: Dr. Lampert übergab mir noch diesen Brief zur Übersendung auf besonderem Wege. Um 5 Uhr morgens wurde er geweckt, und es wurde ihm gesagt, dass er nun nach Halle käme. Er war sehr gefasst und voller Vertrauen. Hatte noch Zeit, sich von allen zu verabschieden und seinen Segen zu sprechen. Er war überall beispiellos beliebt und verehrt. Unsere Trauer ist groß.“ Für den 10. November der Abreise von Torgau spricht auch das „Nachlassverzeichnis des Ziv. Karl Lampert, 350/44“, ausgestellt im „Wehrmachtsgefängnis Torgau Fort Zinna - 7. Kompanie“ am „11. 11. 1944“ in: DAF, Lampert-Akten, Ordner 7, dok. 398, S. 171 f. 128

Fricke, Justizvollzugsanstalt (Anm. 112). – Viebig, Zuchthaus (Anm. 92), S. 75 – 97, bes. S. 89 ff. 129

DAF, Lampert-Akten, Ordner 7, dok. 401, S. 197 – 202.

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1151

† 15. 04. 1974] etc.“130, schließlich an den Apostolischen Administrator von Innsbruck-Feldkirch, Bischof DDr. Paulus Rusch131. Um 4 Uhr nachmittags wurde Provikar Lampert zur Hinrichtung durch das Fallbeil geholt. Unmittelbar vor dem Verlassen der Zelle nahm er zum letzten Mal den Bleistift in die Hand und schrieb quer über den Abschiedsbrief an Julius: „Nun ruft mich Gott! Lebt wohl!“ Provikar Carl Lampert wurde als erster enthauptet, dann folgten die beiden anderen Priester und die acht Laien. Der Wehrmachtsoberpfarrer P. Drossert schrieb am 20. November 1944 an Provikars Bruder Julius Lampert: „In meiner Eigenschaft als Seelsorger dieser Anstalt habe ich Ihrem Bruder in den letzten Stunden Beistand geleistet und auf seinen Wunsch schreibe ich Ihnen diese Zeilen. Ihr Bruder hat kurz vor dem Hinscheiden mit großer Andacht die hl. Sakramente empfangen und er hat mich erbaut, besonders dadurch, dass er trotz der Umstände mit Gott und den Menschen versöhnt ohne die geringste Erbitterung aus dem Leben geschieden ist. Er bat mich, besonders Ihnen zu sagen, dass Sie sich seinetwegen keine Sorge machen und auch nicht zu sehr trauern sollen; denn Ihr Bruder sei als Priester gestorben mit dem festen Glauben an Gottes gütige Vorsehung und in der Zuversicht auf ein Wiedersehen im Jenseits. Er versprach, aus dem Jenseits derer zu gedenken, die ihm im Leben nahe gestanden sind. Ihr Bruder wurde auf dem Gertraudenfriedhof in Halle/Saale durch Propst Morsbach kirchlich begraben. Die No. des Grabes ist 4/1519. Am folgenden Tage habe ich eine hl. Messe für seine Seelenruhe gelesen.“132 Was Papst Benedikt XVI.133 am 9. Oktober in seinem Grußwort im Anschluss an die Seligsprechung von Clemens August Kardinal von Galen134, Bi130

Ebd., S. 202 ff.

131

Ebd., S. 205.

132

Ebd., Ordner 26, dok. 1384, S. 49.

133

Dr. Josef Ratzinger, geboren am 16. April 1927 in Marktl am Inn, am 29. Juni 1951 Priesterweihe, 1951 – 1952 Kaplan in München-Bogenhausen, 1953 Promotion an der Universität München, 1957 Habilitation in Fundamentaltheologie, Lehrtätigkeiten in Fundamentaltheologie und Dogmatik in Freising, Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg, vom 24. März 1977 bis 15. Februar 1982 Erzbischof von München-Freising, seit 27. Juni 1977 Kardinal, 1981 – 2005 Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre, Präsident der Päpstlichen Bibelkommision und der Internationalen Theologenkommission, 1992 Titularbischof von Velletri-Segni, 1993 Kardinalbischof, 1998 Vizedekan sowie 2002 Dekan des Kardinalskollegiums und damit Titularbischof von Ostia, am 19. April 2005 im vierten Wahlgang zum Papst mit Namen Benedikt XVI gewählt. 134 Dr. Graf Clemens August von Galen, geboren am 16. März 1878 auf der Burg Dinklage, Priesterweihe 1904, seit 1933 Bischof von Münster, 1946 Kardinal, gestorben am 22. März 1946 in Münster, am 9. Oktober 2005 selig gesprochen. Bischof Galen

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schof von Münster in Westfalen, an die Gläubigen im Petersdom ausdrückte, kann man auch auf Provikar Carl Lampert anwenden: „Wir ... sind dankbar, dass uns der Herr diesen großen Zeugen des Glaubens geschenkt hat, der in finsterer Zeit das Licht der Wahrheit aufgerichtet und den Mut des Widerstands gegen die Macht der Tyrannei gezeigt hat. Aber wir sollen uns auch fragen: ‚Von woher kam ihm diese Einsicht in einer Zeit, in der gescheite Leute der Verblendung verfielen? Und von woher kam ihm die Kraft zum Widerstand in einem Augenblick, in dem auch starke Menschen sich schwach und feige gezeigt haben?‘ Einsicht und Mut sind ihm aus dem Glauben gekommen, der ihm die Wahrheit gezeigt und das Herz und die Augen dafür geöffnet hat, und weil er Gott mehr fürchtete als die Menschen, der ihm den Mut gegeben hat, zu tun und zu sagen, was andere nicht zu tun und zu sagen wagten.“135

sorgte für die sofortige Veröffentlichung und Verbreitung (1937) der Enzyklika „Mit brennender Sorge“. Weithin bekannt wurde er durch seine Predigten (1941) gegen den nationalsozialistischen Klostersturm und die Euthanasie. 135

http://www.zenit.org/german/visualizza.phtml?sid=78029 (Abrufdatum: 8. 3. 2006).

Bibliographie von Johannes Mühlsteiger SJ I. Monographien 1.

Der Geist des josephinischen Eherechts. Wien 1967.

2.

Kirchenordnungen: Anfänge kirchlicher Rechtsbildung (KStuT 50). Berlin 2006.

II. Artikel 3.

Sanctorum Communio, in: ZKTh 92 (1970), S. 113 – 132.

4.

Der Kampf der Salzburger Kirche um das Einweisungsrecht in die Temporalien, in: ZRG. Kan.Abt. 58 (1972), S. 198 – 234.

5.

Der erste Versuch zum Abbau der josephinischen Ehegesetzgebung, in: Kirche und Staat in Idee und Geschichte des Abendlandes. [FS F. Maass]. Hrsg. v. W. Baum. Wien 1973, S. 248 – 265.

6.

Zum Verfassungsrecht der Frühkirche, in: ZKTh 99 (1977), S. 129 – 155; 257 – 285.

7.

Die Kirchenprovinz. Metropolit und Provinzialkonzil, in: Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts. Hrsg. v. J. Listl / H. Müller / H. Schmitz. Regensburg 1980, S. 252 – 255.

8.

Glaubens- und Religionsfreiheit, in: Grundriß des nachkonziliaren Kirchenrechts. Hrsg. v. J. Listl / H. Müller / H. Schmitz. Regensburg 1980, S. 435 – 438.

9.

Exomologese, in: ZKTh 103 (1981), S. 1 – 32; 129 – 155; 257 – 288.

10. Rezeption – Inkulturation – Selbstbestimmung. Überlegungen zum Selbstbestimmungsrecht kirchlicher Gemeinschaften, in: ZKTh 105 (1983), S. 261 – 289. 11. Donatismus und die verfassungsrechtlichen Wirkungen einer Kirchenspaltung, in: ZRG Kan.Abt. 85 (1999), S. 1 – 59. 12. Nikolaus Nilles, in: Neue Deutsche Biographie. Bd. 19. Hrsg. v. der Hist. Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1999, S. 277 f. 13. Die sogenannten Canones Apostolorum, in: K. Breitsching/W. Rees (Hrsg.), Tradition – Wegweisung in die Zukunft. Festschrift für Johannes Mühlsteiger zum 75. Geburtstag (KStuT 46), Berlin 2001, S. 615 – 680.

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Bibliographie von Johannes Mühlsteiger SJ

III. Buchbesprechungen 14. De Paolis, Velasio PSSC, La natura della potestà del vicario generale. Analisi storicocritica (AnGr 155. SFIC: sectio B, n. 20). Rom 1966, in: ZKTh 90 (1968), S. 117 f. 15. Mosiek, Ulrich, Kirchliches Eherecht unter Berücksichtigung der nachkonziliaren Rechtslage. Freiburg/Br. 1968, in: ZKTh 94 (1974), S. 116. 16. Boelens, Martin, Die Klerikerehe in der Gesetzgebung der Kirche unter besonderer Berücksichtigung der Strafe. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung von den Anfängen der Kirche bis zum Jahre 1139. Paderborn 1968, in: ZKTh 94 (1972), S. 116 f. 17. Plassmann, Engelbert, Staatskirchenrechtliche Grundgedanken der deutschen Kanonisten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (Freiburger Theologische Studien 88). Freiburg i. Br. 1968, in: ZKTh 94 (1972), S. 117 f. 18. May, Georg, Interkonfessionalismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Paderborn 1969, in: ZKTh 94 (1972), S. 118. 19. Ius Sacrum. Klaus Mörsdorf zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Audomar Scheuermann / Georg May. Paderborn 1969, in: ZKTh 94 (1972), S. 118 f. 20. Ecclesia et Ius. Audomar Scheuermann zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Karl Siepen / Joseph Weitzel. Paderborn 1968, in: ZKTh 95 (1973), S. 112 f. 21. Dordett, Alexander, Kirchliche Ehegerichte in der Krise. Wien 1971, in: ZKTh 95 (1973), S. 113. 22. Coccopalmerio, Francesco, La partecipazione degli acattolici al culto della chiese cattolica nella pratica e nella dottrina della Santa Sede dall’inizio del secolo XVII ai nostri giorni. Uno studio teologico sull’essenza del diritto di prendere parte al culto cattolico (Publicazioni del Pontificio Seminario Lombardo in Roma. Ricerche di Scienze Teologiche 5). Brescia 1969, in: ZKTh 96 (1974), S. 170 f. 23. Dauvillier, Jean, Les temps apostoliques. 1er siècle (Histoire du Droit et des Institutions de l’Église en Occident 2). Paris 1970, in: ZKTh 96 (1974), S. 169 f. 24. Thils, Gustave, Choisir les Évêques? Élire le Pape? (Réponses chrétiennes 13). Gembloux / Paris 1970, in: ZKTh 96 (1974), S. 170. 25. Heggelbacher, Othmar, Geschichte des frühchristlichen Kirchenrechts bis zum Konzil von Nizäa 325. Freiburg/Schweiz 1974, in: ZKTh 98 (1976), S. 94 f. 26. Suárez, Francisco, De Legibus. Ed. critica bilingüe por L. Pereña / V. Abril / P. Suñer y la colab. de Elorduy (u. a.). Bd. III: De lege naturali (II 1 – 12) und Bd. IV: De iure gentium (II 13 – 20). (Corpus Hispanorum de Pace 13 u. 14). Madrid 1973, in: ZKTh 98 (1976), S. 95 f. 27. Der Einfluß des katholischen Denkens auf das positive Recht (Ruf und Antwort 8). Hrsg. v. Theodor Tomandl. Wien 1970, in: ZKTh 98 (1976), S. 96 f.

Bibliographie von Johannes Mühlsteiger SJ

1155

28. Peretto, Elio, La Giustizia. Ricerea su gli autori cristiani del secondo secolo (Scripta Pontificiae Facultatis Theologicae „Marianum“ 29, N. S. 1). Rom 1977, in: ZKTh 100 (1978), S. 407. 29. Ring, Thomas Gerhard OSA, Auctoritas bei Tertullian, Cyprian und Ambrosius (Cassiciacum 29). Würzburg 1975, in: ZKTh 100 (1978), S. 407 f. 30. Landau, Peter, Ius Patronatus. Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalrecht und der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts (FKRG 12). Köln 1975, in: ZKTh 100 (1978), S. 409. 31. Suárez, Francisco, De Legibus. Ed. critica bilingüe por L. Pereña / V. Abril (u. a.). Bd. V: De civili potestate (III 1 – 16) und Bd. VI: De politica obligatione (III 17 – 35). (Corpus Hispanorum de Pace 15 u. 16 – 17). Madrid 1975 – 1977, in: ZKTh 100 (1978), S. 410 f. 32. Walf, Knut, Das bischöfliche Amt in der Sicht josephinischer Kirchenrechtler (FKRG 13). Köln 1975, in: ZKTh 100 (1978), S. 411 f. 33. Ex aequo et bono. Willibald M. Plöchl zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Peter Leisching / Franz Pototschnig / Richard Potz (Forschungen zur Rechts- und Kulturgeschichte 10). Innsbruck 1977, in: ZKTh 100 (1978), S. 412 f. 34. Holmberg, Bengt, Paul and Power. The Structure of Authority in the Primitive Church as reflected in the Pauline Epistels (Coniectanea Biblica – New Testament Series 11). Lund 1978, in: ZKTh 101 (1979), S. 257 f. 35. Giacobbi, Attilio, La Chiesa in S. Agostino. Bd. 1: Mistero di comunione (Diritto 2). Roma 1978, in: ZKTh 101 (1979), S. 258 f. 36. Suárez Pertierra, Gustavo, Libertad religiosa y confesionalidad en el ordenamiento juridico español (Victoriensia 41). Nitoria 1978, in: ZKTh 101 (1979), S. 259 f. 37. Metz, René, Églises et État en France. Paris 1977, in: ZKTh 101 (1979), S. 260 f. 38. Mikat, Paul, Dotierte Ehe – rechte Ehe. Zur Entwicklung des Eheschließungsrechts in fränkischer Zeit (Rhein.-Westfäl. Akad. d. Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Vorträge G 227). Opladen 1978, in: ZKTh 102 (1980), S. 492 f. 39. Timpe, Nikolaus, Das kanonistische Kirchenbild vom Codex Iuris Canonici bis zum Beginn des Vaticanum Secundum (Erfurter Theologische Studien 36). Leipzig 1978, in: ZKTh 102 (1980), S. 493 f. 40. Stanchina, Peer C., Das Verhältnis von Staat und Kirche in Mexiko. Seit der Revolution von 1910/1917 bis heute (Münchener Universitätsschriften. Reihe des Juristischen Fachbereichs 38). München 1978, in: ZKTh 102 (1980), S. 494 f. 41. Raab, Günter, Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung. Zur Möglichkeit einer kanonischen Verwaltungsgerichtsbarkeit nach dem Modell des deutschen Rechts (AnG 211. SFIC: Sectio B, n. 41). Rom 1978, in: ZKTh 102 (1980), S. 495 f. 42. Minnerath, Roland, Le pape évêque universel ou premier des évêques? (Le point theologique 30). Paris 1978, in: ZKTh 102 (1980), S. 496.

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Bibliographie von Johannes Mühlsteiger SJ

43. Krämer, Werner, Konsens und Rezeption. Verfassungsprinzipien der Kirche im Basler Konziliarismus. Mit Edition ausgewählter Texte (BGPhThMA NF 19). Münster 1980, in: ZKTh 102 (1980), S. 473 f. 44. Suárez, Francisco, De iuramento fidelitatis. Estudio preliminar: Conciencia y politica. Por Luciano Pereña (u. a.). (Corpus Hispanorum de pace 19). Madrid 1979 u. ders., Documentación fundamental. Edición critíca bilingüe por Luciano Pereña (u. a). (Corpus Hispanorum de pace 18). Madrid 1978, in: ZKTh 102 (1980), S. 474 f. 45. Metropolit Maximos von Sardes, Das ökumenische Patriarchat in der orthodoxen Kirche (Veröffentl. der Stiftung Oratio Dominica). Freiburg i. Br. 1980, in: ZKTh 102 (1980), S. 475 f. 46. Aurelius Augustinus, Der Gottesstaat / De civitate Dei. [Lateinisch – deutsch]. In deutscher Sprache von Carl Johann Perl. Bd. 1: Buch I – XIV; Bd. 2: Buch XV – XXII (Aurelius Augustinus’ Werke). Paderborn 1979, in: ZKTh 104 (1982), S. 459 f. 47. Orlandis, José / Ramos-Liss6n, Domingo, Die Synoden auf der Iberischen Halbinsel bis zum Einbruch des Islam (711) (Konziliengeschichte. Reihe A: Darstellungen). Paderborn 1981, in: ZKTh 104 (1982), S. 460 f. 48. Suárez, Francisco, De legibus. Edición crítica bilingüe por Antonio García y García (u. a.). Bd. 7: De lege positiva canonica 2 (IV 1 – 10); Bd. 8: De lege positiva canonica 2 (IV 11–20) (Corpus Hispanorum de Pace 21 u. 22). Madrid 1981, in: ZKTh 104 (1982), S. 461 f. 49. Poulat, Emile (u. a.), La liberté réligieuse dans le judaïsme, le christianisme et l’islam. Colloque international á l’abbaye de Sénanque. Préface de Claude Geffré. Actes mis en forme par Éric Binet et Roselyne Chenu (Cogitatio fidei 110). Paris 1981, in: ZKTh 104 (1982), S. 462 f. 50. Butombe, J. L. Nkulu, La Question du Zaïre et ses répercussions sur les juridictions ecclesiastiques (1865 – 1888) (Recherches Africaines de Théologie 8). Kinshasa 1982, in: ZKTh 104 (1982), S. 463 f. 51. Turowski, Leopold, Ein Rechtsinstitut im Umbruch. Das neue Ehe- und Familienrecht in katholischer Sicht (Familie in Kirche, Gesellschaft und Staat). Frankfurt a. M. 1981, in: ZKTh 106 (1984), S. 329 ff. 52. Immenkötter, Herbert, Hieronymus Vehus. Jurist und Humanist der Reformationszeit Familienrecht in katholischer Sicht (Familie in Kirche, Gesellschaft und Staat). Frankfurt a. M. 1981, in: ZKTh 104 (1982), S. 464. 53. De la Peña, Juan, De bello contra Insulanos. Intervención de España en América. Escuela Española del la Paz. Segunda generación 1560 – 1585. Testigos y Fuentes. Por Luciano Pereña (u. a.). (Corpus Hispanorum de pace 9). Madrid 1982 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 42). Münster 1982, in: ZKTh 106 (1984), S. 331.

Bibliographie von Johannes Mühlsteiger SJ

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54. Minnerath, Roland, Le droit de l’Église à la liberté du Syllabus à Vatican II (Le Point Théologie 39). Paris 1982, in: ZKTh 106 (1984), S. 332. 55. Official Ministry in a New Age. Ed. by James H. Provost (Permanent Seminar Studies 3) Washington 1981, in: ZKTh 106 (1984), S. 332 f. 56. Pennington, Kenneth, Pope and Bishops. The Papal Monarchy in the Twelfth and Thirteenth Centuries (The Middle Age series). Philadelphia 1984, in: ZKTh 107 (1985), S. 456 f. 57. Hernández, Ramón, Derechos humanos en Francisco de Vitoria. Antología (Biblioteca Dominicana 4). Salamanca 1984, in: ZKTh 106 (1984), S. 457 f. 58. Boekholt, Peter, Der Laie in der Kirche. Seine Rechte und Pflichten im neuen Kirchenrecht. Kevelaer 1984, in: ZKTh 106 (1984), S. 458. 59. Rodriguez, Pedro, Iglesias particulares y Prelaturas personales. Consideraciones teológicas a proposito de una nueva institución canónica (Publicaciones de la Facultad de Teologia de la Universidad de Navarra. Collección Teo1ógica 41). Pamplona 1985, in: ZKTh 108 (1986), S. 482 f. 60. Pallath, Paul, The Synod of Bishops of Catholic Oriental Churches. Rom 1994, in: ZKTh 177 (1995), S. 220 – 222.

Verzeichnis der Mitarbeiter Auer, Karl Heinz, Mag. phil., Mag. et Dr. theol., Mag. et Dr. iur. habil, Professor an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Innsbruck und wissenschaftlicher Leiter der Akademielehrgänge Ethik am Pädagogischen Institut des Landes Tirol, rechtswissenschaftlicher Forschungsschwerpunkt: Rechtsphilosophie, insbesondere das Verhältnis von Ethik und Recht; ClemensHolzmeister-Str. 14, A-6020 Innsbruck. Bair, Johann, Dr. iur., Ass.-Prof., Institut für Römisches Recht und Rechtsgeschichte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck; Innrain 52, A-6020 Innsbruck. Banning, Jozef Hendrik Anne van, SJ, geb. 1949, Dr. theol. habil., Lehraufträge in Amsterdam, Utrecht, Tilburg, Rom (päpstliche Universität Gregoriana), Innsbruck (Leopold-Franzens-Universität), Forschungsschwerpunkte: Dogmatik u. Theologiegeschichte; Graafseweg 11, NL-6525 BM Nijmegen. Battisti, Siegfried, Ao. Univ.-Prof., Doz. am Institut für Christliche Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Professor an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Brixen (Südtirol), Forschungsschwerpunkte: Ethik (Naturrecht), Existenzphilosophie in neuerer Sicht (italienische Existenzphilosophie), Grenzfragen: Literatur-Philosophie (Camus, Kafka, Dostojewskij, Buzzati); Unterdrittelgasse 8, I-39042 Brixen. Böhm, Thomas H., Dr. theol., Vertragsassistent am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Fachbereich Pastoraltheologie; Karl-Rahner-Platz 1/2, A-6020 Innsbruck. Breitsching, Konrad, geb. 1959, Dr. theol., Ass.-Prof., Universitätsassistent am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Fachbereich Kirchenrecht; KarlRahner-Platz 1/2, A-6020 Innsbruck. Brieskorn, Norbert, SJ, geb. 1944, Dr. phil. iur. et soc., Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Hochschule für Philosophie München; Studium der Rechtswissenschaften, der Philosophie und Theologie, Habilitation 1985 für die Fächer Rechtsphilosophie, mittelalterliche und neuzeitliche Rechtsgeschichte und Kirchenrecht, Arbeitsschwerpunkte: Das Werk des Francisco Suárez, Menschenrechte; Kaulbachstraße 31 a, D-80539 München.

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Verzeichnis der Mitarbeiter

Carlen, Louis, Dr. iur. utr., em. o. Universitätsprofessor der Rechte an der Universität Freiburg/Schweiz; Sonnenstraße 4, CH-3900 Brig. Díaz Moreno, José María, Profesor de Derecho Canonico, Universidades Pontificias Comillas-Madrid y Salamanca; Alberto Aguilera 23, E-28015 Madrid. Fischer, Georg, geb. 1972, Dr. theol., Wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Kirchenrecht, Staatskirchenrecht und kirchliche Rechtsgeschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Katholisch-Theologische Fakultät, D-55099 Mainz. Gelmi, Josef, geb. 1937, Studium der Theologie, Geschichte und Kirchengeschichte in Brixen und Rom, seit 1973 Professor für Kirchengeschichte an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen und seit 1998 Präsident der Hofburg Brixen; Carduccistr. 10/1, I-39042 Brixen. Gohm, Richard, Mag. theol., Dr. iur., Diözesanrichter am Kirchengericht der Diözese Feldkirch, Kranebitterbodenweg 21/1, A-6020 Innsbruck. Hallermann, Heribert, geb. 1951, Studium der Katholischen Theologie in Eichstätt und Rom, 1996 Promotion an der Universität Trier, 1998 Habilitation an der Universität Mainz, seit 2003 Professur für Katholisches Kirchenrecht an der Universität Würzburg; Ottostraße 16, D-97070 Würzburg. Haunschmidt, Albert, Mag. iur., Dr. theol., Rechtspraktikant u. altkath. Geistlicher im Nebendienst in Linz; Wagrein 107, A-4070 Hinzenbach. Helm, Philipp, OCist, Mag. theol., Pfarrprovisor; Kirchengasse 1, A-8103 Gratwein. Herghelegiu, Monica-Elena, Dr. theol., Assistentin am Lehrstuhl für Kirchenrecht der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen, Forschungsschwerpunkte: Verfassungsrecht der lateinischen und der katholischen Ostkirchen, Sakramentenrecht, Kirchenrecht der orthodoxen Kirche; Liebermeisterstraße 12, D-72076 Tübingen. Hirnsperger, Johann, Dr. theol., Mag. theol., o. Univ.-Prof. für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz; Attemsgasse 8/2, A-8010 Graz. Kandler-Mayr, Elisabeth, Lic. iur. can., Dr. iur., Richterin am Diözesan- und metropolitangericht der Erzdiözese Salzburg; Kapitelplatz 2, A-5020 Salzburg. Katzinger, Gerlinde, Mag. iur., Dr. theol., Universitätsassistentin für Kirchenrecht, Fachbereich Praktische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg; Kaigasse 17/III, A-5020 Salzburg. Kreusch, M. Irina, Dr. theol, verheiratet, drei Kinder, Referentin der Hauptabteilung II: Schule, Hochschule und Bildung des Bistums Speyer, von 1998 –

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2005 wiss. Assistentin am Lehrstuhl für Kirchenrecht der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg, Lehramt und Diplom in Katholischer Theologie, Germanistik und Politologie, freie Journalistin; Kleine Pfaffengasse 16, D-67346 Speyer. Kuoanvih, Ahlonko Kouassi Augustin, Dr. theol., Priester der Diözese Aneho/Togo, Hauskaplan bei den Kreuzschwestern in Hall/Tirol, Ehebandverteidiger am Diözesangericht der Diözese Innsbruck, Bruckergasse 24, A-6060 Hall/Tirol. Lang, Martin, MMag., Dr. theol., Institut für Bibelwissenschaften und Historische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Forschungsschwerpunkte: Alter Orient – Altes Testament, Orientalische Liturgien, Frühchristliche Literatur; Karl-RahnerPlatz 1, A-6020 Innsbruck. Lies, Lothar, SJ, geb. 1940, Ordinarius für Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Forschungsgebiete: Origenes, Sakramententheologie und Ökumene; Karl-Rahner-Platz 1, A-6020 Innsbruck. Loretan-Saladin, Adrian, geb. 1959, Studien in Philosophie, katholischer und evangelischer Theologie, Kirchenrecht und Religionsrecht in Luzern, Tübingen, Rom, Fribourg, seit 1996 Professor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Luzern, Dekan der Theologischen Fakultät 1999 – 2001, Lehr- und Forschungsschwerpunkte: Menschenrechte in den Religionen, Religionsgemeinschaften und der Rechtsstaat, Kirchenmanagement, Kirchliches Eherecht und Verfassungsrecht, Chefredaktor und Herausgeber des Bulletin der Europäischen Gesellschaft für kath. Theologie (bis 2005), seit 2005 Herausgeber der Reihe ‚ReligionsRecht im Dialog‘ (Münster/D); PF 7763, CH-6000 Luzern 7. Marucci, Corado, SJ, geb. 1940, Ordinarius für Geschichte der Exegese am Päpstlichen Orientalinstitut Rom und Editor von Orientalia Christiana Periodica; P.zza S. Maria Maggiore 7, I-00185 Roma. May, Georg, Dr. theol., Lic. iur. can., em. Prof. für Kirchenrecht, Kirchliche Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht; Fränzenbergstraße 12, D-55257 Budenheim. Messner, Johnnes, geb. 1930, 1957 – 1961 Studium der Sozialwissenschaften an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, 1961 – 1988 Diözesanassistent des Katholischen Verbandes der Werktätigen, Vorstandsmitglied der Arbeitsstelle für Südtiroler Heimatferne, 1963 – 1988 Redakteur der KVWZeitung „Arbeit und Gemeinschaft“, 1969 – 1993 Redakteur der Zeitschrift der Südtiroler Heimatfernen „Heimat und Welt“, 1963 – 2000 Professor für Christliche Gesellschaftslehre und Soziologie an der Philosophisch-Theolo-

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Verzeichnis der Mitarbeiter

gischen Hochschule Brixen, 1987 – 2000 Diözesanreferent der Diözese Bozen-Brixen für die Aus- und Weiterbildung der Priester und Laien im kirchlichen Dienst, 1988 Ernennung zum Kanonikus am Dom zu Brixen, 1991 – 2005 Domdekan; Hofburgplatz 1, I-39042 Brixen. Meßner, Reinhard, Dr. theol. habil., o. Univ.-Prof. für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Herausgeber der Reihe „Liturgica Oenipontana“ (Münster); KarlRahner-Platz 1/2, A-6020 Innsbruck. Michaeler, Josef, Dr. iur. can., Generalvikar i. R. der Diözese Bozen-Brixen; Hofburgplatz 1, I-39042 Brixen. Ohly, Christoph, Dr. theol., Lic. iur. can., Priester der Erzdiözese Köln, Wissenschaftlicher Assistent am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik der Ludwig-Maximilians-Universität München (Lehrstuhl für Kirchenrecht, insbesondere für Theologische Grundlegung, Allgemeine Normen und Verfassungsrecht sowie für Orientalisches Kirchenrecht); Geschwister-SchollPlatz 1, D-80539 München. Paarhammer, Hans, Dr. theol., o. Univ.-Prof. für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Paris-Lodron-Universität Salzburg, Generalvikar a. D. der Erzdiözese Salzburg, Domkapitular, Prälat; Kaigasse 17, A-5020 Salzburg. Pacik, Rudolf, Dr. theol. habil., o. Univ.-Prof. für Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der ParisLodron-Universität Salzburg, Universitätsplatz 1, A-5020 Salzburg. Palaver, Wolfgang, geb. 1958, Dr. theol. habil., o. Univ.-Prof. für Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der LeopoldFranzens-Universität Innsbruck, Institut für Systematische Theologie, seit 2003 Executive Secretary des „Colloquium on Violence & Religion“; KarlRahner-Platz 1/2, A-6020 Innsbruck. Panhofer, Johannes, Dr. theol., Vertragsassistent am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Leopold-FranzensUniversität Innsbruck, Fachbereich Pastoraltheologie; Karl-Rahner-Platz 1/2, A-6020 Innsbruck. Potz, Richard, Dr., Univ.-Prof., Vorstand des Instituts für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien; Freyung 6/2/2/4, A-1010 Wien. Pree, Helmuth, DDr., Universitätsprofessor am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik (vormals: Kanonistisches Institut), Katholisch-Theologische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München; Geschwister-SchollPlatz 1, D-80539 München.

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Primetshofer, Bruno, C.Ss.R., Dr. iur. can., em. o. Univ.-Prof. für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Vizeoffizial am Erzbischöflichen Diözesan- und Metropolitangericht Wien; Salvatorgasse 12, A-1010 Wien. Riedel-Spangenberger, Ilona, Dr. theol. habil., Dr. iur. can., Universitätsprofessorin, Lehrstuhl für Kirchenrecht, Kirchliche Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Katholisch-Theologische Fakultät, D-55099 Mainz. Rinnerthaler, Alfred, geb. 1951, Dr. iur., Ao. Univ.-Prof, Universität Salzburg, Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften (Rechtsgeschichte), Vorstand der Abteilung für Kirchliche Zeitgeschichte am Internationalen Forschungszentrum für Grundfragen der Wissenschaften Salzburg; Churfürststraße 1, A-5020 Salzburg. Rotter, Hans, SJ, Dr. theol., em. Univ.-Prof. für Moraltheologie der KatholischTheologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck; Sillgasse 8, A-6020 Innsbruck. Saje, Andreje, Dr. iur. can., Assistent an der Theologischen Fakultät der Universität Ljubljana, Generalsekretär der slowenischen Bischofskonferenz; Dolnicarjeva 4, SI-1000 Ljubljana. Scharer, Matthias, Dr. theol., o. Univ.-Prof. für Katechetik, Religionspädagogik und Religionsdidaktik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, grad. Lehrbeauftragter des Ruth C. Cohn Institutes, Forschungsschwerpunkt: Kommunikative Theologie; KarlRahner-Platz 1/2, A-6020 Innsbruck. Schinkele, Brigitte, Dr. iur., Univ. Lektor am Institut für Rechtsphilosophie, Religions- und Kulturrecht, Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien; Freyung 6/2/2/4, A-1010 Wien. Schöch, Nikolaus, OFM, Dr. theol. habil., Dr. iur. can., Zweiter Ehebandverteidiger am Höchstgericht der Apostolischen Signatur, Professor an der Fakultät für Kanonisches Recht der Päpstlichen Universität Antonianum in Rom, Privatdozent für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät der Universität Salzburg, Konsultor an der Kongregation für den Klerus, Anwalt der Römischen Rota, Kommissar für die Auflösung der nichtvollzogenen Ehe an der Kongregation für den Gottesdienst und die Disziplin der Sakramente; Pontificio Ateneo Antonianum, Via Merulana 124, I-00185 Roma. Schwarz, Karl W., geb. 1952, Dr. theol., Doz. (tit.a.Prof.) für Kirchenrecht an der Ev.-theol. Fakultät, Gastprof. für Kirchengeschichte in Bratislava und Budapest, Ministerialrat im BMBWK; Minoritenplatz 5, A-1014 Wien. Schwendenwein, Hugo, Dr. iur. can., Dr. iur., em. o. Univ.-Prof. für Kirchenrecht der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz; Attemsgasse 8/2, A-8010 Graz.

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Verzeichnis der Mitarbeiter

Siebenrock, Roman, geb. 1957, Mag. phil., Dr. theol., Univ.-Prof., Studium der Philosophie, Theologie und Erwachsenenpädagogik in Innsbruck, München und Tübingen, Promotion zum Werk John H. Newmans, Habilitation zu Karl Rahners Werk und Wirkungsgeschichte, seit 2006 Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, Mitarbeit am Karl Rahner – Archiv in Innsbruck, Leiter des Innsbrucker theologischen Forschungsprojektes RGKW (Religion-Gewalt-Kommunikation-Weltordnung), Vorsitzender der Internationalen Deutschen NewmanGesellschaft, Arbeitsschwerpunkte außerdem: Vatikanum II., Theologische Erkenntnislehre, Theologie als Gotteslehre, Theologiedidaktik; Karl-RahnerPlatz 1/2, A-6020 Innsbruck. Stockmann, Peter, Dr. theol., Lic. iur. can., Offizialsrat, Diözesan- und Vernehmungsrichter am Bischöflichen Offizialat Eichstätt; Luitpoltstr. 4, D-85072 Eichstätt. Tillmans, Reiner, Dr. iur., wissenschaftlicher Assistent am Institut für Kirchenrecht und rheinische Kirchenrechtsgeschichte der Universität Köln; AlbertusMagnus-Platz, D-50923 Köln. Synek, Eva M., Ass.-Prof. PD Dr., Institut für Rechtsphilosophie, Religionsund Kulturrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien; Freyung 6/2/2/4, A-1010 Wien. Wandinger, Nikolaus, Mag. phil. fac. theol., Dr. theol. Universitätsassistent am Institut für Systematische Theologie der Theologischen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck; Karl-Rahner-Platz 1/2, A-6020 Innsbruck. Weiß, Andreas, Dr. iur. can., Dr. theol. habil., Diakon, Prof. für Kirchenrecht und Kirchliche Rechtsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Diözesanrichter am Bischöflichen Offizialat der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Mitglied des Disziplinargerichts der Diözese Rottenburg-Stuttgart; Pater-Philipp-Jeningen-Platz 6, D-85072 Eichstätt. Zotz, Bertram, Dr. theol., Lic. iur. can., Leiter der Gerichtskanzlei und Diözesanrichter des Bischöflichen Diözesangerichts Innsbruck, Notar der Kurie der Diözese Innsbruck, Diplomierter Ehe-, Familien und Lebensberater; Ing.-Sigl-Str. 2, A-6020 Innsbruck.