Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat: Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag [1 ed.] 9783428535354, 9783428135356

Mit der vorliegenden Festschrift wird Klaus Stern anlässlich seines 80. Geburtstages für seine anhaltende, herausragende

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Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat: Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag [1 ed.]
 9783428535354, 9783428135356

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Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag

Duncker & Humblot · Berlin

Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat Festschrift für Klaus Stern

Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag

Herausgegeben von Michael Sachs und Helmut Siekmann in Verbindung mit Hermann-Josef Blanke, Johannes Dietlein, Michael Nierhaus und Günter Püttner

Duncker & Humblot  ·  Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13535-6 (Print) ISBN 978-3-428-53535-4 (E-Book) ISBN 978-3-428-83535-5 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Klaus Stern ist bereits vor 15 Jahren, zu seinem 65. Geburtstag, mit der imposanten Festschrift „Verfassungsstaatlichkeit“ geehrt worden, die Joachim Burmeister im Zusammenwirken mit weiteren Schülern des Jubilars herausgegeben hat. Joachim Burmeister und Peter J. Tettinger, die beide mit ihrem Lehrer Klaus Stern auch gut befreundet waren, sind seither – tragisch früh – verstorben. Nur wenigen Gelehrten ist es vergönnt, die Auszeichnung durch eine Festschrift mehrfach zu erleben. Voraussetzung dafür ist zunächst ein langes Leben. Das ist Klaus Stern gegeben, zudem bei bester Gesundheit und hoffentlich noch für viele Jahre. Hinzu kommen muss aber auch in der Zeit nach der ersten Festschrift eine anhaltende, herausragende Präsenz im wissenschaftlichen Diskurs, weil sie die Grundlage für eine neue Ehrung bietet. Der Einladung, an einer zweiten Festschrift für Klaus Stern mitzuwirken, ist spontan eine sehr große Anzahl von Kollegen und Freunden des Jubilars gefolgt. Die Resonanz war so überwältigend, dass leider niemand, der – aufgrund welcher Zufälligkeiten auch immer – nicht sofort zugesagt hatte, noch nachträglich hätte berücksichtigt werden können. Das ist den Betroffenen und uns sehr schwer gefallen. Die wissenschaftlichen Leistungen, die Klaus Stern – als Emeritus der Ressourcen seines früheren Instituts für Öffentliches Recht und Verwaltungslehre beraubt – seit Anfang 1997 vollbracht hat, sind überaus eindrucksvoll und suchen ihresgleichen. Ein Zeugnis dafür legt das Schriftenverzeichnis von Klaus Stern ab, das die Mitarbeiter des Instituts für Rundfunkrecht an der Universität zu Köln, dessen Mitdirektor er bis heute ist, zu seinem 70. Geburtstag angelegt haben und bis heute fortführen. Dort sind seither allein zwölf selbständige Bücher (zusammen 70) und fast neunzig Aufsätze (zusammen 250) neu aufgeführt. Die weltweit anhaltende Resonanz seines Schaffens dokumentieren 26 (von 56) neue fremdsprachliche Publikationen oder Übersetzungen. Hinzu kommen die Reden, die Klaus Stern im In- und Ausland gehalten hat. Zum siebzigsten Geburtstag des Jubilars ist im Jahre 2002 eine Sammlung ausgewählter Reden unter dem Titel „Im Dienste von Recht, Staat und Wirtschaft“ erschienen. In der folgenden Dekade sind noch viele hinzugekommen, nicht zuletzt auf den zahlreichen Auslandsreisen, die den Jubilar bis jetzt in alle Teile der Welt führen. Angesichts dieser Fülle kann hier nur Weniges hervorgehoben werden: An erster Stelle ist die noch verstärkte Zuwendung zu Themen des europäischen Rechts, des Unionsrechts sowie des Rechts der europäischen Nachbarstaa-

VI

Vorwort

ten zu nennen. Klaus Stern hat insbesondere die Entwicklung der EU-Grundrechte-Charta intensiv begleitet. Diese Arbeit wird eindrucksvoll durch den von ihm gemeinsam mit Peter Tettinger herausgegebenen Kölner GemeinschaftsKommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta belegt, der unter breiter internationaler Beteiligung im Jahre 2006 erschienen ist. Das zweite besonders hervorzuhebende Ereignis ist die Vollendung seines opus maximum „Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland“ im Jahre 2011. Dafür hätten die zwanzig Jahre, die nach den Vorgaben des Gesetzgebers und der Verwaltung bei Erscheinen von Band I im Jahre 1977 noch als „aktives“ Berufsleben verblieben wären, bei weitem nicht ausgereicht, waren doch bis 1997 erst Band II (1980) und – nach der 2. Auflage von Band I (1984) – die Teilbände III/1 (1988) und III/2 (1994) erschienen. Hatte bei diesen beiden Teilbände, die mit weit über 3.000 Seiten den allgemeinen Grundrechtslehren gewidmet sind, schon einer seiner Schüler, Michael Sachs, eher bescheidene Anteile übernehmen dürfen, gelang es Klaus Stern dann wieder im Alleingang, den bis dahin umfangreichsten Band „Die geschichtlichen Grundlagen des deutschen Staatsrechts“ im Jahre 2000 als Band V des Gesamtwerks fertigzustellen. Schließlich hat er es mit Unterstützung seiner Schüler Michael Sachs und Johannes Dietlein geschafft, auch die „Einzelnen Grundrechte“ in den Teilbänden IV/1 (2006) und schließlich IV/2 (2011) umfassend darzustellen, mit jeweils deutlich mehr als 2.000 Seiten. Nach fast 35 Jahren, davon 15 im „Ruhestand“, ist so ein Vorhaben abgeschlossen, das als Lebenswerk einzigartig dasteht. Herausragend war auch das Wirken von Klaus Stern als akademischem Lehrer nach seiner Emeritierung. Ihm war es vergönnt, die Schar seiner Schüler um zwei weitere Kollegen zu vergrößern, Hermann-Josef Blanke und Johannes Dietlein. Zu danken ist allen, die das Erscheinen dieser Festschrift ermöglicht haben; an erster Stelle den Autoren, aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls für Geld, Währungs- und Notenbankrecht der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität zu Köln und des Verlags Duncker & Humblot. Einen besonderen Dank haben Gisela Amend-Khaskhoussi und Birgit Müller für ihren unermüdlichen Einsatz verdient. Danken möchten wir aber auch der Fritz Thyssen Stiftung, die das Vorhaben durch eine namhafte Zuwendung gefördert hat. Alle an dieser Festschrift Beteiligten wünschen Klaus Stern zur Vollendung seines 80. Lebensjahres von Herzen, dass er noch viele Jahre gesund bleiben und an der Seite seiner Frau Helga das Leben genießen möge. Seine wissenschaftliche Arbeit wird aber weitergehen. Das dürfte allen, die Klaus Stern kennen, klar sein. Für die Herausgeber zum Anfang des Jahres 2012 Michael Sachs, Köln Helmut Siekmann, Frankfurt am Main

Inhaltsverzeichnis

1. Teil Grundlagen des grundrechtsgeprägten Verfassungsstaates Michael Bertrams Der Schutz der kommunalen Finanzhoheit durch das Konnexitätsprinzip der nordrhein-westfälischen Landesverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Udo Di Fabio Das mirandolische Axiom: Gegebenes und Aufgegebenes . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Johanna Hey Kommunale Finanzautonomie und politische Verantwortung. Was soll das Gemeindesteuersystem leisten: Bürgerbeteiligung oder Unmerklichkeit? . . . . .

25

Paul Kirchhof Entstehensgrund des Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Jörg-Detlef Kühne Zum Neuerungsgehalt der Weimarer Grundrechte. Genetische Aspekte zu ihrer Platzierung und Textgestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

Thomas Mann Interventionsrechte der Landesregierungen gegen Gesetze – Gestaltungsmittel einer Minderheitsregierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Hartmut Maurer Der Anwendungsvorrang im Normensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101

Angelika Nußberger Der Wandel der Grund- und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

Walter Pauly Nietzsches staatsphilosophischer Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139

Herbert Schambeck Entwicklungstendenzen des demokratischen Verfassungsstaates zwischen Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

Edzard Schmidt-Jortzig Rückblick auf das Potsdamer Abkommen. Grundstein für die deutsche Teilung, Eckstein für die Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

Christian Starck Grundrechte und Gesetz. Eine Entwicklungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

VIII

Inhaltsverzeichnis

Bin Takada Universeller Anspruch grundrechtsgeprägter Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . .

217

Rainer Wahl Die praktische Wirksamkeit von Verfassungen: Der Fall des Grundgesetzes . .

233

Christian Waldhoff Die verfassunggebende Gewalt als Bindeglied zwischen historischer Realität und Geltung der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

2. Teil Allgemeine Grundrechtslehren Peter Badura Die Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts als Verfassungsziel und der Schutz der grundrechtlichen Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

Herbert Bethge Zur grundrechtlichen Konstitutionalisierung des Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . .

295

Klaus Grupp Grundrechtsschutz durch rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien . . . . . . . . . . . . .

313

Bernd Grzeszick Individualrechte und das Gebot konsistenter und kohärenter Rechtsetzung im deutschen und europäischen Recht. Eine Untersuchung am Beispiel der Rechtfertigung von Lotterieveranstaltungsmonopolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333

Hans-Detlef Horn Die Grundrechtsbindung der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

353

Jörn Ipsen Grundrechte als Gewährleistungen von Handlungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . .

369

Vittorio Italia Problemi sui criteri di interpretazione delle norme che prevedono i diritti soggettivi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

381

Eckart Klein Die Grundrechtsgesamtlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

389

Michael Kloepfer Grundrechtskonzertierungen. Zur Frage der parallelen und entsprechungsrechtlichen Ausübung von Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

405

Günter Krings Die subjektiv-rechtliche Rekonstruktion der Schutzpflichten aus dem grundrechtlichen Freiheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

425

Hans-Werner Laubinger Die Geltung der Grundrechte im Verhältnis der evangelischen Pfarrer zu ihrer Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

445

Inhaltsverzeichnis

IX

Detlef Merten Art. 1 Abs. 3 GG als Schlüsselnorm des grundrechtsgeprägten Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

483

Eva-Maria Michel Das Verhältnis zwischen der Dritten und der Vierten Gewalt . . . . . . . . . . . . . . .

503

Theo Öhlinger Vom Gesetzesstaat zum Überwachungsstaat. Wandlungen und Zukunftsperspektiven des Rechtsstaats in der Republik Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

519

Fritz Ossenbühl Die vergessene Grundrechtshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

535

Hans-Jürgen Papier Grundgesetz und Werteordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

551

Günter Püttner Grundrechtsschutz für juristische Personen des öffentlichen Rechts – widersinnig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

563

Wolfgang Rüfner Modernisierung des Staatskirchenrechts durch Vergrundrechtlichung? . . . . . . .

573

Michael Sachs Grundrechtsschutz der Staatlichkeit und der Staatsstrukturprinzipien? . . . . . . .

597

Rolf Stober Zur ökonomischen Relevanz der Grundrechte in einer offenen Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

613

Johan van der Walt Horizontal Application of Fundamental Rights. Rethinking the Structures of Constitutional Democracy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

627

3. Teil Supranationaler und internationaler Grundrechtsschutz Claus Dieter Classen Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit im Spiegel europäischer Rechtsentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

651

Thomas von Danwitz Aktuelle Entwicklungen im Grundrechtsschutz der Europäischen Union . . . . .

669

Thomas Dünchheim Die Europäisierung der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht und das deutsche Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

683

Jörg Ennuschat Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Chancengleichheit für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

711

X

Inhaltsverzeichnis

Lech Garlicki Cultural Values in Supranational Adjudication: Is there a “Cultural Margin of Appreciation” in Strasbourg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

727

Stephan Hobe Abkehr von Solange? – Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung und zu Honeywell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

745

Bernhard Kempen Die Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern verstößt gegen geltendes Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

761

Heribert Franz Köck Das Verhältnis des Grundrechtsschutzes nach der Europäischen Menschenrechtskonvention und nach dem Recht der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des Beitritts der Letzteren zur EMRK . . . . . . . . . . . . . .

785

Markus Kotzur Die anthropozentrische Wende – menschenrechtlicher Individualschutz im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

811

Siegfried Magiera Freizügigkeit von Drittstaatsangehörigen in der Europäischen Union . . . . . . . .

829

Stefan Muckel Religionsfreiheit im Europarecht nach dem Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . .

847

Thomas Oppermann Die EU-Verfassungsbeschwerde – Hebel und Falle eines „Gouvernement de juges“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

869

Hans-Werner Rengeling Entwicklungen des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union . . . . . . . .

881

Burkhard Schöbener Der menschenrechtliche Schutz des privaten Eigentums im universellen Völkerrecht – eine Zwischenbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

901

Rupert Scholz Die sozialen Grundrechte in der Europäischen Union und deren kompetenzrechtliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

923

Meinhard Schröder Das Recht auf gute Verwaltung bei mitgliedstaatlicher Durchführung des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

933

Jürgen Schwarze Der Schutz der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

945

Rudolf Streinz Der Kontrollvorbehalt des BVerfG gegenüber dem EuGH nach dem LissabonUrteil und dem Honeywell-Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

963

Inhaltsverzeichnis Carlos Vidal Prado Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem: Eine spanische Sichtweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

981

Wolfgang Graf Vitzthum Das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde. Europas Identitäten . . . 1001 Jacques Ziller Die Konstitutionalisierung der Grundrechte-Charta und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015

4. Teil Grundrechte in ausländischen Rechtsordnungen und ihr Vergleich zu Deutschland A. Ülkü Azrak Der Schutz individueller Positionen durch die Gewährleistung einklagbarer subjektiver Rechte im öffentlichen Recht der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035 Diana-Urania Galetta Recht auf eine gute Verwaltung und Fehlerfolgenlehre nach dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages: Der Fall Deutschlands und Italiens . . . . . . . . . . . . . 1051 Gábor Halmai From the “Rule of Law Revolution” to an Illiberal Democracy in Hungary . . 1063 Ulrich Karpen Grundrechte, due process und die Reform des Verwaltungsverfahrens in Transformationsländern – Das Beispiel Kroatien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1083 Chien-liang Lee Demokratisierung, Gewaltenteilung und Staatlichkeit. Eine verfassungsrechtliche Betrachtung der politischen Entwicklung und Verfassungsreformen in Taiwan seit dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1097 Konrad Nowacki Polens Beitritt zur Europäischen Union im Gefüge von Umweltrechtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1125 Karl-Nikolaus Peifer Menschenwürde und Medienfreiheiten in den USA und in Deutschland – am Beispiel des Romans „Esra“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141 Hans-Peter Schneider Grundrechte in der Verfassung Südafrikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1155 Hidemi Suzuki Die Beziehung zwischen Selbstkontrolle und staatlicher Kontrolle in der japanischen Rundfunkordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1173 Albrecht Weber Die Rechtssatzverfassungsbeschwerde in vergleichender Sicht . . . . . . . . . . . . . 1189

XII

Inhaltsverzeichnis

Alessio Zaccaria La riserva assoluta dell’attività di mediatore ai soggetti iscritti, quale disposta in Italia, è incostituzionale? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1201

5. Teil Einzelne Grundrechte Hartmut Bauer Das Petitionsrecht: Eine Petitesse? Zugleich ein Beitrag zum Institut der Öffentlichen Petition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1211 Florian Becker Der grundrechtliche Schutz von Geschäftsgeheimnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1233 Hermann-Josef Blanke Religiöse Symbole im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1249 Christian von Coelln Begehrt und gefährdet – die Wissenschaftsfreiheit des Hochschullehrers . . . . 1281 Christoph Degenhart Medienkonvergenz zwischen Rundfunk- und Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 1299 Otto Depenheuer Der Schutz geistigen Eigentums durch Verfahren. Ein Beitrag zur Auslegung des § 140b Abs. 7 PatG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1317 Johannes Dietlein Vergabespezifische Mindestlöhne im Lichte der Grundrechte und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1329 Dieter Dörr Die Sicherung der Meinungsvielfalt und die Rolle des privaten Rundfunks . . 1349 Carl-Eugen Eberle Pressefreiheit versus Rundfunkfreiheit? Zur Zulässigkeit öffentlich-rechtlicher Internetangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1373 Karl-Eberhard Hain Autonomie als Basis freiheitlicher Medienordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1387 Wolfram Höfling Der Tod als Grenze des Schutzguts „Leben“ im Grundrechtstatbestand des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1403 Jörn Axel Kämmerer Preisstabilität und Grundrechtsschutz. Randnotizen zur europäischen Staatsschuldenkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1419 Karl Korinek Das Recht als Garant und Grundlage künstlerischen Schaffens . . . . . . . . . . . . . 1437

Inhaltsverzeichnis

XIII

Thomas Mayen Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Gewährleistungsrecht als leistungsrechtliche Grundrechtsdimension . . . 1451 Reiner Schmidt Konkurrenzschutz durch Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1475 Friedrich Schoch Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in der Informationsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1491 Hiroshi Shiono Die verfassungsrechtliche Grundlage des Informationszugangsgesetzes . . . . . . 1513 Helmut Siekmann Die Legende von der verfassungsrechtlichen Sonderstellung des „anonymen“ Kapitaleigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1527 Udo Steiner Aktuelle Fragen der Religionsfreiheit in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1543 Rudolf Wendt Die Weiterentwicklung der „Neuen Formel“ bei der Gleichheitsprüfung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1553 Reinhold Zippelius Menschenwürdeschutz am Beginn des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1569 Verzeichnis der Autoren und Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1577

1. Teil

Grundlagen des grundrechtsgeprägten Verfassungsstaates

Der Schutz der kommunalen Finanzhoheit durch das Konnexitätsprinzip der nordrhein-westfälischen Landesverfassung* Von Michael Bertrams I. Einleitung Eine angemessene Finanzausstattung der Kommunen zur Erfüllung ihrer Aufgaben gehört zum Inhalt der Verfassungsgarantie der Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 GG, Art. 78 Abs. 1 der Landesverfassung NRW (LV NRW). Um den kommunalen Gebietskörperschaften eine entsprechende Ausstattung zu sichern, enthielt Art. 78 Abs. 3 LV NRW bis zum Jahre 2004 eine Verfassungsdirektive, wonach gleichzeitig mit der Übertragung öffentlicher Aufgaben an die Kommunen Bestimmungen über die Deckung der Kosten zu treffen waren. Wie und in welcher Höhe eine solche Kostenregelung im Einzelnen zu gestalten war, ließ die Verfassung jedoch offen. Insbesondere war nicht vorgegeben, dass die zu gewährenden Mittel gesondert abzugelten waren. Der Gesetzgeber musste den kommunalen Körperschaften bei der notwendig zu treffenden Finanzierungsregelung lediglich insgesamt hinreichende Mittel zur eigenverantwortlichen Verwendung gewähren.1 Diesen Vorgaben genügte bereits eine Kostenregelung, die in dem auf die Aufgabenübertragung folgenden Finanzausgleichsgesetz erfolgte. Hierin lag die Gefahr begründet, dass das Land Lasten durch Aufgabenübertragung auf die kommunalen Körperschaften abwälzte und diese finanziell überforderte. Im Vergleich zur abweichenden Verfassungsrechtslage in einigen anderen Bundesländern2 verband sich damit eine relativ schwache Rechtsposition. Das * Für seine wertvolle Mitarbeit an diesem Beitrag danke ich Herrn ROVG Dr. Wolf Sarnighausen. 1 Vgl. VerfGH NRW, Urteile vom 15. Februar 1985 – VerfGH 17/83 –, OVGE 38, 301, 302 ff., und vom 9. Juli 1998 – VerfGH 16/96 und 7/97 –, OVGE 47, 249, 258 ff., jeweils ausführlich zur früheren Regelung in Art. 78 Abs. 3 LV NRW; kritisch dazu Henneke, DVBl. 1998, 1158 ff.; Schoch/Wieland, S. 165 ff., Wieland, S. 415, 426 ff. m.w. N. 2 Vgl. etwa NdsStGH, Beschluss vom 15. August 1995 – StGH 2, 3, 6, 7, 8, 9, 10/93 –, DVBl. 1995, 1175, 1177, und Urteil vom 25. November 1997 – StGH 14/95 –, DVBl. 1998, 185 ff.; VfG Bbg, Urteile vom 18. Dezember 1997 – VfGBbg 47/96 –, DÖV 1998, 336 ff., und vom 14. Februar 2002 – VfGBbg 17/01 –, DÖV 2002, 522 ff.; SächsVerfGH, Urteil vom 23. November 2000 – Vf. 53-II-97 –, LKV 2001, 223 ff.; ein Überblick findet sich bei Laier, NdsVBl. 2009, 217 ff.

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galt umso mehr, als die den Gemeinden nur als Gesamtvolumen zu gewährende Finanzausstattung gemäß Art. 79 Satz 2 LV NRW unter dem Vorbehalt der finanziellen Leistungsfähigkeit des Landes stand und damit nicht allein nach den Bedürfnissen der örtlichen Gemeinschaft festgesetzt werden konnte.3 Diese verfassungsrechtliche Ausgangslage wurde angesichts der prekären Finanzlage der Kommunen und ihrer starken Abhängigkeit von staatlichen Geldzuweisungen im kommunalen Raum seit langem als unbefriedigend empfunden. Mehrfach musste sich der Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen (VerfGH NRW) unter Mitwirkung des Jubilars, der dem Gerichtshof von 1976 bis 2000 angehörte und an seiner Rechtsprechung in dieser Zeit prägend mitwirkte, mit den schwach ausgebildeten verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine aufgabengerechte Finanzausstattung befassen. Ziel der in diese Zeit fallenden kommunalen Verfassungsbeschwerden war es, eine Rechtsprechungsänderung herbeizuführen.4 Der VerfGH NRW hat jedoch trotz deutlicher Kritik der Versuchung widerstanden, selbst politisch gestaltend tätig zu werden und sich auf die Anwendung des geltenden Verfassungsrechts beschränkt.5 II. Einführung des strikten Konnexitätsprinzips Einer jahrzehntelangen Forderung der kommunalen Spitzenverbände und einem landesverfassungspolitischen Trend entsprechend6 hat der Verfassungsgeber zum 1. Juli 2004 im Verhältnis zwischen Land und Kommunen ein striktes Konnexitätsprinzip durch eine umfangreiche Ergänzung des Art. 78 Abs. 3 LV NRW eingeführt.7 Der Verfassungsänderung und dem zeitgleich in Kraft gesetzten Konnexitätsausführungsgesetz – KonnexAG – vom 22. Juni 20048 liegt die Erwägung zu Grunde, ein striktes Konnexitätsprinzip funktioniere erfahrungsgemäß nicht ohne Gesetzeskostenfolgeabschätzung und ohne eine Verfahrensregelung.9 Die Neuregelung enthält nähere Vorgaben für eine Kostenerstattungsregelung, die gleichzeitig mit einer Aufgabenzuweisung an die Kommunen getroffen wer3 Vgl. VerfGH NRW, Urteil vom 9. Juli 1998, a. a. O., 252 sowie 256 f.; Stern, Staatsrecht I, S. 422; Staatsrecht II, S. 1152 f. 4 Vgl. Wieland, S. 418 ff. 5 Vgl. allgemein zur Gefahr verfassungsgerichtlicher Grenzüberschreitungen Bertrams, S. 1027 ff. 6 Vgl. Schönenbroicher, in: Heusch/Schönenbroicher, Art. 78 Rn. 54; s. ferner z. B. Zieglmeier, NVwZ 2008, 270 ff.; Kemmler, DÖV 2008, 983 ff.; Schoch, VBlBW 2006, 122, 127 f. 7 Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Juni 2004 (GV NRW, S. 360); dazu Schink, NWVBl. 2005, 85 ff.; Meier/Greiner, NWVBl. 2005, 92 ff.; Buschmann/Freimuth, NWVBl. 2005, 365 ff. 8 GV NRW, S. 360. 9 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Hauptausschusses, LT-Drs. 13/5515, S. 20.

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den muss. Führt die Übertragung neuer oder die Veränderung bestehender und übertragbarer Aufgaben zu einer wesentlichen Belastung der davon betroffenen Gemeinden oder Gemeindeverbände, ist dafür nunmehr auf Grund einer Kostenfolgeabschätzung ein entsprechender finanzieller Ausgleich für die entstehenden notwendigen, durchschnittlichen Aufwendungen zu schaffen. Näheres regelt ein Gesetz, das die Grundsätze der Kostenfolgeabschätzung festlegt und Bestimmungen über eine Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände trifft (Art. 78 Abs. 3 Satz 5 LV NRW). In dieser Form wurden die Vorgaben für ein striktes Konnexitätsprinzip während des Gesetzgebungsverfahrens in den Ausschussberatungen erarbeitet und schließlich von allen damaligen Fraktionen des Landtags (SPD, CDU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen) getragen.10 Bereits im Gesetzgebungsverfahren wurde allerdings kritisiert, es handele sich rechtstechnisch um ein zu komplexes und neue Probleme aufwerfendes Regelungswerk.11 Während bei der Verteilung der Aufgaben auf die Kommunen bisher Sachgesichtspunkte im Vordergrund standen und sich die Finanzierungsfrage erst in der Folge stellte,12 nimmt die Neufassung des Art. 78 Abs. 3 LV NRW insoweit einen Paradigmenwechsel vor. Sie ändert zwar nichts an dem aus der Selbstverwaltungsgarantie folgenden Aufgabenverteilungsprinzip hinsichtlich der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu Gunsten der Gemeinden und hinsichtlich der auf das Kreisgebiet beschränkten überörtlichen Aufgaben zu Gunsten der Kreise.13 Sie zielt aber auf eine Schärfung des Kostenbewusstseins, um die finanziellen Folgen einer Aufgabenübertragung oder -veränderung von Anfang an stärker in das Kalkül des Gesetzgebers einzubeziehen.14 Der landesverfassungsrechtliche Schutz der kommunalen Finanzhoheit durch das Konnexitätsprinzip, das in verschiedenen Ausgestaltungen inzwischen in allen Flächenländern eingeführt ist,15 findet im gesamtstaatlichen Kontext eine Ergänzung in dem seit September 2006 geltenden strikten Ausschluss von Aufgabenübertragungen des Bundes auf die Gemeinden und Gemeindeverbände durch Art. 84 Abs. 1 Satz 7 und Art. 85 Abs. 1 Satz 2 GG.16 Adressat für Aufgabenübertragungen durch den Bund sind die Länder. Eine Weiterübertragung auf die 10

Vgl. LT-Plenarprotokoll 13/123, S. 12064, 12076. Vgl. Kirchhof, Ferdinand, LT-Zuschrift 13/3708, S. 5 f.; ähnlich Schönenbroich, in: Heusch/Schönenbroich, Art. 78 Rn. 55. 12 Vgl. dazu Stern, Staatsrecht II, S. 1130. 13 BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 23. November 1988 – 2 BvR 1619, 1628/83 –, BVerfGE 79, 127, 150 ff.; VerfGH NRW, Urteil vom 9. Juni 1997 – VerfGH 20/95 u. a. –, OVGE 46, 295, 304. 14 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Hauptausschusses, LT-Drs. 13/5515, S. 20. 15 Vgl. Henneke, Der Landkreis 2004, 152 ff. 16 Vgl. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. August 2006 (BGBl. I S. 2034 ff.); Henneke, DVBl. 2006, 867 ff.; s. bereits zur früheren Rechtslage Schoch/ Wieland, S. 166 f. 11

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Kommunen kann nur noch durch Landesrecht erfolgen, für das das jeweilige Landesverfassungsrecht maßgeblich ist.17 III. Schutzfunktionen des Konnexitätsprinzips Auch wenn nunmehr grundlegende Entscheidungen durch die Verfassung unmissverständlich getroffen worden sind, so gibt es bei der konkreten Anwendung des Konnexitätsprinzips doch nach wie vor eine Reihe umstrittener und ungeklärter Zweifelsfragen.18 Offen ist insbesondere die Konnexitätsrelevanz mehrerer voneinander unabhängiger und zeitlich auseinanderliegender Aufgabenübertragungen, die jeweils für sich genommen keine wesentliche Belastung mit sich bringen.19 Erste Grundsätze zur neuen Rechtslage sind allerdings bereits durch den VerfGH NRW geklärt. 1. Formale Prüfungskompetenz des Verfassungsgerichtshofs

Zunächst hat der Gerichtshof anerkannt, dass der Anspruch auf einen Kostenausgleich bei Übertragung neuer Aufgaben auf die Gemeinden oder Gemeindeverbände gemäß Art. 78 Abs. 3 LV NRW zu den Vorschriften der Landesverfassung über das Recht der Selbstverwaltung in Gestalt des Rechts auf eine angemessene Finanzausstattung gehört. Dieser Anspruch kann Gegenstand der Kommunalverfassungsbeschwerde sein.20 Auf die damit eröffnete Verfassungsrechtsprüfung beschränkt sich der Schutz der Kommunen in ihrer Finanzhoheit jedoch nicht. Vorgelagert ist vielmehr ein verfahrensrechtlicher Schutz insofern, als das Land und die kommunalen Spitzenverbände in dem gesetzlich geregelten Beteiligungsverfahren über die Aufgabenübertragung bzw. -veränderung und die Kostenabschätzung ins Gespräch kommen sollen, und zwar mit dem erklärten Ziel, einen Kompromiss zu finden.21 Allerdings ist eine solche Einigung im ersten Anwendungsfall der Neuregelung anlässlich der Auflösung der staatlichen Versorgungsämter und der Kommunalisierung von Aufgaben auf dem Gebiet des Umweltrechts nicht erzielt worden.22 17 Vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 7. März 2006, BT-Drs. 16/813, S. 15. 18 Hierzu eingehend Engelken, vor allem orientiert an der Regelung in Art. 71 Abs. 3 der Bad.-Württ. Verfassung; s. ferner Schoch/Wieland, S. 161 ff. 19 Schönenbroicher, in: Heusch/Schönenbroicher, Art. 78 Rn. 59. 20 VerfGH NRW, Urteile vom 23. März 2010 – VerfGH 19/08 –, NWVBl. 2010, 269, 270 = NVwZ-RR 2010, 705, 706, und vom 12. Oktober 2010 – VerfGH 12/09 –, NWVBl. 2011, 54, 55 = NVwZ-RR 2011, 41. 21 Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Hauptausschusses, LT-Drs. 13/5515, S. 20. 22 Vgl. VerfGH NRW, Urteile vom 23. März 2010 – VerfGH 19/08 –, NWVBl. 2010, 269, und – VerfGH 21/08 –, EilDStT NRW, Heft 5, 2010, S. 24.

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2. Konnexitätsrelevante Sachverhalte

Art. 78 Abs. 3 LV NRW verlangt die Schaffung eines Kostenausgleichs, wenn die Übertragung neuer oder die Veränderung bestehender und übertragbarer Aufgaben zu einer wesentlichen Belastung der davon betroffenen Gemeinden oder Gemeindeverbände führt. Als erstmals das Land den kreisfreien Städten und Kreisen Aufgaben der öffentlichen Jugendhilfe übertrug, die ihnen zuvor bereits auf Grund einer bundesgesetzlichen Zuständigkeitsnorm zugewiesen waren, stellte sich die Frage, ob überhaupt ein Kostenausgleich erforderlich war. Im konkreten Fall war die landesgesetzliche Aufgabenübertragung mit Blick auf eine absehbare Änderung des Bundesrechts erfolgt. Auf Bundesebene war geplant, zugleich mit der Einführung neuer Vorgaben für den stufenweisen Ausbau von Kindertageseinrichtungen die bisherige bundesrechtliche Zuständigkeitsbestimmung wegfallen zu lassen. Dadurch sollte ausdrücklich dem Bedürfnis der Länder Rechnung getragen werden, die Zuständigkeit für die Durchführung von Aufgaben im Zusammenhang mit der Kindertagesbetreuung landesrechtlich zu regeln.23 Der Bundesgesetzgeber musste sich daher nicht mehr der in der Literatur heftig umstrittenen Frage stellen, ob Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG auch die Erweiterung bereits übertragener Aufgaben verbietet.24 Die landesrechtliche Zuständigkeitsübertragung trat wenige Wochen vor dem Außerkrafttreten der früheren bundesrechtlichen Zuständigkeitsnorm in Kraft. Ein finanzieller Ausgleich für die kreisfreien Städte und Kreise war nicht vorgesehen. Der Landesgesetzgeber stellte sich auf den Standpunkt, er behalte nur die bisher bewährte Zuständigkeit bei und übertrage daher keine neuen Aufgaben auf die kommunalen Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Der VerfGH NRW ist dem nicht gefolgt. Er hat in diesem Zusammenhang näher ausgeführt, unter welchen Umständen ein konnexitätsrelevanter Sachverhalt vorliegt. Ein solcher setzt danach voraus, dass eine Aufgabenübertragung auf eine Entscheidung des Landesgesetzgebers zurückgeht, also ihm auf Grund eines eigenen Entscheidungsspielraums ursächlich zuzurechnen ist. Darüber hinaus müssen den Gemeinden oder Gemeindeverbänden neue Aufgaben übertragen oder bestehende verändert werden. Schließlich muss die Aufgabenübertragung eine wesentliche, also über eine Bagatellschwelle hinausgehende Belastung der betroffenen Kommunen auslösen. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat der VerfGH NRW im Streitfall bejaht.25 Er hat dazu ausgeführt, die Aufgabenübertragung sei eine originäre Entscheidung des Landesgesetzgebers gewesen, bei der dieser über einen Gestaltungs23 Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Tagesbetreuungsgesetz – TAG, BT-Drs. 15/3676, S. 28. 24 Vgl. zum Meinungsstand Meßmann, DÖV 2010, 726 ff. 25 Vgl. VerfGH NRW, Urteil vom 12. Oktober 2010 – VerfGH 12/09 –, NWVBl. 2011, 54, 56 = NVwZ-RR 2011, 41, 43.

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spielraum verfügt habe. Darüber hinaus habe es sich um eine konnexitätsrelevante Aufgabenübertragung gehandelt, weil die kommunale Zuständigkeit mit Blick auf das absehbare Außerkrafttreten der früheren bundesgesetzlichen Zuständigkeitsbestimmung erstmals nach Maßgabe einer landesgesetzlichen Regelung festgelegt worden sei. Im Verhältnis von Land und Kommunen, das Art. 78 Abs. 3 LV NRW allein in den Blick nehme, habe es sich auch um die erstmalige Zuweisung der in Rede stehenden Aufgaben gehandelt. Für diese Bewertung sei es unerheblich, dass die landesrechtliche Aufgabenübertragungsnorm schon vor dem absehbaren Außerkrafttreten der bundesrechtlichen Vorgängernorm in Kraft gesetzt worden sei. Im konkreten Fall habe ein konnexitätsrelevanter Sachverhalt auch deshalb vorgelegen, weil mit der neuen Zuständigkeitsregelung eine wesentliche Veränderung bestehender Aufgaben einhergegangen sei. Die durch Bundesgesetz vorgegebenen Modalitäten der kommunalen Aufgabenerfüllung hätten sich nämlich zeitgleich mit dem Außerkrafttreten der bundesrechtlichen Zuständigkeitsnorm signifikant und mit beträchtlichen Kostenfolgen verändert. 3. Materiell-rechtliche Verbürgung durch die Landesverfassung

Materiell-rechtlich ist das Konnexitätsprinzip nach der Rechtsprechung des VerfGH NRW von der Funktion des Finanzausgleichs, die finanzielle Grundlage der gemeindlichen Selbstverwaltung zu sichern, zu unterscheiden. Es ist eine von der Finanzkraft der Kommune unabhängige Ausgleichsregelung, die neben die allgemeinen Bestimmungen zur Absicherung einer finanziellen Mindestausstattung durch originäre kommunale Einnahmen und den kommunalen Finanzausgleich tritt. Mit dem Erfordernis eines „entsprechenden“ finanziellen Ausgleichs hat sich der Verfassungsgeber bewusst für das sogenannte strikte Konnexitätsprinzip entschieden. Ein bloß „angemessener“ Ausgleich im Sinne eines relativen Konnexitätsprinzips genügt nicht. Eine gleichzeitig mit der Verpflichtung zur Aufgabenübernahme getroffene Bestimmung über die Deckung der Kosten nach dem strikten Konnexitätsprinzip setzt voraus, dass sich der Gesetzgeber über die finanziellen Auswirkungen der gesetzlichen Regelung auf die Gemeinden und Gemeindeverbände klar wird und seine Entscheidungsgrundlagen, insbesondere zum Schutz der Kommunen, transparent macht.26 Art. 78 Abs. 3 Satz 5 LV NRW ist als absichernder Verfassungsauftrag zu verstehen, in einem Ausführungsgesetz die Grundsätze der Kostenfolgeabschätzung festzulegen und Bestimmungen über eine Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände zu treffen. Obwohl das 26 VerfGH NRW, Urteil vom 23. März 2010 – VerfGH 19/08 –, NWVBl. 2010, 269, 272, unter Bezugnahme auf LT-Drs. 13/5515, S. 21; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 7. Mai 2001 – 2 BvK 1/00 –, BVerfGE 103, 332, 360; BayVerfGH, Entscheidung vom 6. Februar 2007 – Vf. 14-VII-04 –, BayVBl. 2007, 364, 365 f.; VfG Bbg., Urteil vom 14. Februar 2002 – VfGBbg 17/01 –, DÖV 2002, 522, 523; SächsVerfGH, Urteil vom 23. November 2000 – Vf. 53-II-97 –, LKV 2001, 223, 224, und StGH Bad.-Württ., Urteil vom 5. Oktober 1998 – GR 4/97 –, ESVGH 49, 5, 11.

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Ausführungsgesetz einfaches Recht ist, das der Gesetzgeber (unter Befolgung der verfassungsrechtlichen Bindung) ändern kann, muss der aufgabenübertragende Gesetzgeber die zentralen von ihm selbst gesetzten Maßstäbe des Ausführungsgesetzes einhalten. Konkret verpflichtet das Landesverfassungsrecht zur Befolgung des Ausführungsgesetzes, soweit es entsprechend dem verfassungsrechtlichen Erfordernis nach Art. 78 Abs. 3 Satz 5 Halbsatz 2 LV NRW die Grundsätze der Kostenfolgeabschätzung festlegt und Bestimmungen über eine Beteiligung der kommunalen Spitzenverbände trifft. Die darüber hinausgehenden Detailregelungen des Ausführungsgesetzes zur Aufstellung der Kostenfolgeabschätzung haben dagegen nur insoweit verfassungsrechtliche Bedeutung, als ihnen Kernvorgaben für die Kostenaufstellung zu entnehmen sind. So enthalten die Bestimmungen über die Prognose einzelner Kostenansätze die grundsätzliche Vorgabe, ob bestimmte Kosten präzise geschätzt und nachvollziehbar bemessen werden müssen oder aus Vereinfachungsgründen als vergröbernde Pauschale bzw. pauschaler Zuschlag veranschlagt werden dürfen. 4. Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle

Weil das Ausführungsgesetz einfaches Gesetz ist, selbst also nicht unmittelbar verfassungsrechtlicher Maßstab für die Normenkontrolle ist, überprüft der VerfGH NRW nicht die Einhaltung des Ausführungsgesetzes durch den Gesetzgeber in allen Einzelheiten. Vielmehr ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle insoweit auf die Frage beschränkt, ob der Gesetzgeber seine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bindung an das Ausführungsgesetz verkannt hat. Das bedeutet auch, dass versehentliche Unstimmigkeiten keine verfassungsrechtliche Relevanz haben, solange sie sich nur unerheblich auf das Prognoseergebnis auswirken. Ohnehin gilt für jede Prognose, dass sie mit zahlreichen Unwägbarkeiten belastet ist, so dass geringfügige Begründungsdefizite die Normverwerfung nicht rechtfertigen. Einer missbräuchlichen Ausnutzung des Prognosespielraums wird dadurch vorgebeugt, dass in bewusst fehlerhaften Kostenansätzen stets eine Verkennung der Bindung an das Ausführungsgesetz liegt. 5. Wirksamkeit des Schutzes bei begrenzter Rechtskontrolle

Von kommunaler Seite wird im Hinblick auf die dem Gesetzgeber belassenen Spielräume nachdrücklich eine materielle Prüfung der Auskömmlichkeit eines Kostenausgleichs gefordert. Auch die neuen, prozedural abgesicherten Maßstäbe werden mitunter nicht als ausreichend angesehen, um den Kommunen tatsächlich einen auskömmlichen Kostenausgleich für neu zugewiesene Aufgaben zukommen zu lassen. Dabei wird auf Erfahrungen verwiesen, wonach Schätzungen von Land und kommunalen Spitzenverbänden über den Umfang der „notwendigen, durchschnittlichen Aufwendungen“ oftmals weit auseinander liegen, ohne dass

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ein Konsens zu erzielen ist.27 Gerade die Beurteilung derartiger Kostenschätzungen ist jedoch einer umfassenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle nicht zugänglich. Denn die letztverbindliche Entscheidung zwischen verschiedenen vertretbaren Kostenschätzungen ist – nach dem erkennbaren Willen des Verfassungsgebers28 – keine verfassungsrechtliche Frage. Es handelt sich vielmehr um eine politische Entscheidung, die im dafür vorgesehenen Verfahren vom parlamentarischen Gesetzgeber getroffen werden muss. Vorkehrungen gegen eine wegen Schätzungsunsicherheiten letztlich unzureichende Kostenausstattung schafft die Verfassung in Art. 78 Abs. 3 Satz 4 LV NRW. Danach ist der finanzielle Ausgleich für die Zukunft anzupassen, wenn nachträglich eine wesentliche Abweichung von der Kostenfolgeabschätzung festgestellt wird. Im Rahmen der hierdurch begründeten Pflicht des Gesetzgebers, die Kostenentwicklung fortlaufend im Blick zu behalten, werden die legislativen Spielräume kleiner, sobald repräsentative Erfahrungen mit den tatsächlichen Kosten der kommunalen Aufgabenerfüllung vorliegen. Dementsprechend hat der VerfGH NRW gefordert, dass gerade solche Ansätze, die im vorhinein nur grob geschätzt und/oder bereits im Gesetzgebungsverfahren mit guten Gründen in Zweifel gezogen worden sind, bei einer nachträglichen Evaluation besonders gründlich auf ihre Auskömmlichkeit zu untersuchen sind.29 Es bleibt abzuwarten, ob es zumindest in der Rückschau besser gelingt, die Positionen zwischen Land und Kommunen aufeinander abzustimmen. IV. Ausblick Das Konnexitätsprinzip der nordrhein-westfälischen Landesverfassung trägt bei zum Schutz der kommunalen Finanzhoheit und stärkt damit zugleich das Selbstverwaltungsrecht der Kommunen. In der praktischen Anwendung müssen sich die vergleichsweise neuen rechtlichen Maßstäbe allerdings noch bewähren. Allein mit der Schaffung präziser rechtlicher Anforderungen ist es nicht getan. Wegen knapper Kassen und der unterschiedlichen Finanzinteressen von Land und Kommunen setzt ein rechtlich tragfähiger und den Bedürfnissen der Praxis genügender Ausgleich stets besonderes Augenmaß bei allen Beteiligten voraus. Dazu gehört, dass der Landesgesetzgeber nicht jeweils die Grenzen des rechtlich gerade noch Zulässigen auslotet und die Kommunen von sachlich angreifbaren Maximalforderungen Abstand nehmen. Das Verfassungsrecht kann auch hier nur den Rahmen vorgeben, der von den jeweiligen Verhandlungsführern verantwortungsvoll ausgefüllt werden muss. 27

Vgl. Klein, EilD LKT 2010, 289. Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Hauptausschusses, LT-Drs. 13/5515, S. 21. 29 Vgl. VerfGH, Urteil vom 23. März 2010 – VerfGH 19/08 –, NWVBl. 2010, 269, 273, 274 f. 28

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Literatur Bertrams, Michael: Verfassungsgerichtliche Grenzüberschreitungen, in: Burmeister, Joachim (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1027 ff. Buschmann, Marco/Freimuth, Angela: Das Prinzip der strikten Konnexität im neuen Art. 78 Abs. 3 der Landesverfassung von Nordrhein-Westfalen, in: Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter, Heft 10, 2005, S. 365 ff. Engelken, Klaas: Das Konnexitätsprinzip im Landesverfassungsrecht. Die Kommunen und Aufgabenübertragungen durch die Länder, zugleich Kommentierung des neugefassten Art. 71 Abs. 3 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1. Aufl., 2009. Henneke, Hans-Günter: Durchbruch bei Verankerung des Konnexitätsprinzips im Landesverfassungsrecht, in: Der Landkreis, Heft 2–3, 2004, S. 152 ff. – Die Kommunen in der Föderalismusreform, in: Deutsches Verwaltungsblatt, Heft 14, 2006, S. 867 ff. – Kennt Finanznot kein Verfassungsgebot? VerfGH NW lässt verfassungsrechtliche Garantien zu soft law degenerieren, in: Deutsches Verwaltungsblatt, Heft 21, 1998, 1158 ff. Heusch, Andreas/Schönenbroicher, Klaus: Die Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, Kommentar, 2010. Kemmler, Iris: Finanzbeziehungen zwischen Ländern und Kommunen – Die Neuregelungen des Art. 71 Abs. 3 LV Bad.-Württ. und des Gesetzes zur Stärkung des Konnexitätsprinzips –, in: Die Öffentliche Verwaltung, Heft 23, 2008, S. 983 ff. Kirchhof, Ferdinand: Stellungnahme zu den Gesetzentwürfen LT-Drs. 13/4424 und 13/ 2279 über die Einführung eines Prinzips der Gesetzeskausalität in die Landesverfassung zur Abgeltung der Kosten auf die Kommunen übertragener staatlicher Aufgaben, in: Landtag Nordrhein-Westfalen, Zuschrift 13/3708, 28. Januar 2004. Klein, Martin: Konnexitätsprinzip – ein zahnloser Tiger?, in: Eildienst – Monatsschrift des Landkreistages Nordrhein-Westfalen, Heft 9, 2010, S. 289. Laier, René: Ausdifferenzierungen und Durchsetzung der kommunalen Finanzgarantien in der Rechtsprechung der Verfassungs- oder Staatsgerichtshöfe der Länder, in: Niedersächsische Verwaltungsblätter, Heft 8, 2009, S. 217 ff. Meier, Norbert/Greiner, Stefan: Die Neufassung des Art. 78 III LVerf NRW – Einführung eines strikten Konnexitätsprinzips?, in: Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter, Heft 3, 2005, S. 92 ff. Meßmann, Andreas: Das Aufgabenübertragungsverbot aus Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG: Hindernis für die Erweiterung bereits übertragener Aufgaben und die Übertragung von Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft? – Zugleich eine Erwiderung auf Albert Ingold, Das Aufgabenübertragungsverbot aus Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG als Hindernis für die bauplanungsrechtliche Gesetzgebung des Bundes?, in: Die Öffentliche Verwaltung, Heft 17, 2010, S. 726 ff.

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Schink, Alexander: Wer bestellt, bezahlt – Verankerung des Konnexitätsprinzips in der Landesverfassung NRW, in: Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter, Heft 3, 2005, S. 85 ff. Schoch, Friedrich: Das landesverfassungsrechtliche Konnexitätsprinzip (Art. 71 Abs. 3 LV) zwischen verfassungsrechtlicher Schutzfunktion und Aushöhlung durch die Praxis, in: Baden-Württembergische Verwaltungsblätter, Heft 4, 2006, S. 122 ff. Schoch, Friedrich/Wieland, Joachim: Finanzierungsverantwortung für gesetzgeberisch veranlasste kommunale Aufgaben, 1. Aufl., 1995, Kommunalrecht – Kommunalverwaltung, Bd. 16. Stern, Klaus: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984. – Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980. Wieland, Joachim: Die Gemeindefinanzierung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts, in: Der Präsident des Verfassungsgerichtshofs für das Land NordrheinWestfalen (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen, Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Verfassungsgerichtshofs für das Land NordrheinWestfalen, 2002, S. 415 ff. Zieglmeier, Christian: Das strikte Konnexitätsprinzip am Beispiel der Bayerischen Verfassung, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, Heft 3, 2008, S. 270 ff.

Das mirandolische Axiom: Gegebenes und Aufgegebenes Von Udo Di Fabio I. Fixpunkt einer Epochenzäsur Im ersten Teilband des vierten Bandes seines epochalen „Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ schreibt Klaus Stern über die geschichtlichen und kulturellen Grundlagen der Menschenwürde1. Er referiert, dass mit Art. 1 Abs. 1 GG zweieinhalbtausend Jahre Philosophiegeschichte in die Verfassung herein geholt werde2, weswegen manche zumindest bei der Stoa ihre Interpretationsarbeit am ersten Artikel der deutschen Verfassung beginnen möchten. Davon distanziert sich Stern nicht, aber er setzt die entscheidende Zäsur anders. Für ihn ist die Genese des Denkens in anthropozentrischen Bezügen seit dem oberitalienischen Renaissancehumanismus für die Interpretation zumindest als ideengeschichtlicher Ausgangspunkt entscheidend3. Er hebt hier zwei von Aurelius Augustinus und Thomas von Aquin beeinflusste4 Denker des 15. Jahrhunderts hervor: Giannozzo Manetti und Giovanni Pico Graf von Mirandola und Concordia. In Pico della Mirandolas Programmschrift „De hominis dignitate“ sieht er den prägenden Ausgangspunkt, der schließlich zu Kant führe5 und der wiederum den Würdebegriff des Grundgesetzes am stärksten beeinflusst habe6. Im Folgenden möchte ich daran anknüpfend den Ausgangspunkt in den Blick nehmen und die These wagen, dass Picos Traktat nicht nur mit Jacob Burckhardt „eines der edelsten Vermächtnisse“ der Renaissance ist7, sondern einen normativen und faktischen Fixpunkt des neuzeitlichen Weltentwurfs darstellt, der wie ein unhintergehbares Axiom wirkt, dessen Dementierung oder Überschreitung unweigerlich eine Epochenzäsur bedeuten würde. Eine solche im Blick auf das

1 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 8 ff. 2 Stern (Fn. 1), S. 9 unter Zitierung von Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 353. 3 Stern (Fn. 1), S. 10. 4 Klaus Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 1, Rn. 8. 5 s. zu dieser Beziehung auch Wolfgang Kersting, Politik und Recht, 2000, S. 311 f. 6 Stern (Fn. 1), S. 10. 7 Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, 1985, S. 243.

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juristische Alltagsgeschäft sehr artifiziell scheinende Überlegung ist für die Auslegung dessen, was Art. 1 Abs. 1 GG oder auch Art. 1 der Europäischen Grundrechtecharta meint, zumindest von orientierender Bedeutung. II. Ursprünglichkeit und Universalität des mirandolischen Menschenbildes Der Renaissancehumanismus des 15. Jahrhunderts ist der geistige Boden, der das Mittelalter beendet und die Neuzeit gerade auch durch ein neues Menschenund Weltbild beginnen lässt8. Entscheidend ist das Selbstbild des Menschen. Das Mittelalter war zwar bunter und vielfältiger, als es seine rhetorische Herabsetzung als „dunkles Zeitalter“ suggeriert. Aber es hatte doch starke Züge zu einem negativen Menschenbild wie zum Diesseits überhaupt, das allenfalls Warte- und Bewährungsraum der „Kinder Gottes“9 war. Der christliche Glaube an Erlösung, an den Jüngsten Tag und das Jenseits im Sinne einer Heilserwartung korrespondierte mit der Betonung der Erbsünde und der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur: Positive und negative Wertsetzung von Jenseits und Diesseits prägten paradigmatisch die Weltwahrnehmung. Das antike geistige Erbe war dabei über Augustinus auf eine christliche Verengung des Aristoteles sowohl bewahrt wie auch reduziert. Die Reduktion und das kirchlich und theologisch gehaltene Zugangsmonopol zu den geistigen Schätzen der Antike wurden durch das wachsende Selbstbewusstsein der merkantilen Zentren des spätmittelalterlichen Europas, vor allem (aber nicht nur10) in den oberitalienischen Städten durchbrochen. Der Niedergang des byzantinischen Reiches brachte Intellektuelle wie Manuel Chrysoloras, den Lehrer Giannozzo Manettis11 nach Italien und mit ihnen den verstärkten sprachlichen und praktischen Zugang zur antiken griechischen Philosophie, aber auch etwa zu Schriften des Cicero und damit zur römisch-republikanischen Denkweise. Dort trafen die Ideen auf das wirtschaftliche, politische, künstlerische Interesse und auf die Möglichkeiten der wohlhabenden Stadtrepubliken, allen voran Florenz, sowie auf einen geistig fruchtbaren Boden, der seit dem 13. Jahrhundert etwa mit der Dichtung Dante Alighieris gut bestellt war. 8 s. dazu den instruktiven Sammelband Gröschner/Kirste/Lembcke (Hrsg.), Des Menschen Würde – entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, 2008. 9 Eine theologische Metapher, die vor allem von Luther in die Neuzeit „hinübergerettet“ wird. 10 Gegen die Verengung auf das oberitalienische Geschehen wendet sich Peter Burke, The European Renaissance, Centres and Peripheries, Oxford 1998, deutsch: Die europäische Renaissance, 1998. 11 Zu dessen Beitrag für die Vorstellung menschlicher Würde: Alexander Thumfart, Giannozzo Manetti „Wir sind für die Gerechtigkeit geboren“, in: Gröschner/Kirste/ Lembcke (Hrsg.) (Fn. 8), S. 73 ff.

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Klaus Stern skizziert vor diesem Hintergrund Picos Ansatzpunkt, der von der spezifischen Vernunftbegabung des Menschen, der anima rationalis, ausgeht, und erwähnt sodann – gleichsam als Zusatz – die „theonome Begründung“ aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, die imago dei12. Es ist schwer zu sagen, was bei Pico Prämisse, Konstituens (Substanz) oder Akzidenz ist. Vielleicht war manche theonome Begründung eine Konzession an Rom. Wahrscheinlicher aber spiegelt es den Geist der Zeit, der die scharfen Unterscheidungen der Neuzeit aus der thomasischen Einheit christlichen Glaubens und menschlicher Vernunft gewinnt und zunächst noch innerhalb dieses Horizonts argumentiert. Nur so werden das Revolutionäre und das schlechthin Axiomatische im renaissancehumanistischen Menschenbild akzeptabler, ein Menschenbild, das Pico lediglich in luzider Weise abbildet und damit auch wahrscheinlicher und anschlussfähig macht. Das Axiomatische13, an der Schöpfungsgeschichte Ansetzende, – hier schon ganz Neuzeit – steht zu Beginn in einem fest scheinenden, schöpfungsgeschichtlich überlieferten Horizont, stellt sich von dort aus als deduziert dar, versöhnt damit die kosmopolitisch-theonome Welteinheit des Mittelalters mit der kraftvoll beginnenden Neuzeit. Sobald sich die humanistisch-rationale Idee durchgesetzt hat, stößt sie die Leiter der Schöpfungsgeschichte von sich weg, denn jetzt liegt die axiomatische Gewissheit in der Existenz, der Dignitas, der Schönheit des frei geborenen Menschen selbst. Man könnte auch sagen, dass die in Picos Zeitalter geistig präsente aristotelische Metaphysik, wonach es einen unbewegten Beweger gebe, in die alltägliche Welt geholt und damit zugleich das Kausalitätsdenken auf dem neuzeitlichen Weg unterstützt wird. Dahinter wirkt der rationale und ästhetische Geist der Renaissance. Die Ästhetik gewinnt ihre Maßstäbe aus den Proportionen des schönen, weil geistig und körperlich gebildeten Menschen. Der Geist sucht die harmonische Ordnung der Welt, er hat sie in der Offenbarung noch nicht gefunden, nicht vorgefunden. Menschlicher Geist betrachtet nicht einfach die Schöpfungsordnung dem staunenden Kinde gleich, sondern durchdringt sie forschend, auf der Suche nach ihren Geheimnissen und Bauplänen, eignet sich die Welt intelligibel an, bevor er sie nach seinem Willen umgestaltet. Ein Humanismus, der sich ernst nimmt, kann in seinem Ableitungskontext nach der Prämisse der Gottesebenbildlichkeit den theologischen Fixpunkten nichts Entscheidendes mehr abgewinnen: Göttliche Gnade, Wunder, Offenbarung, Priestertum, Gemeinschaft der Gläubigen und Kraft des Gebetes werden jetzt als religions- und bekenntnisspezifisch differenziert und damit aus der Mitte der Gesellschaft geschoben. Deshalb musste die

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Stern (Fn. 1), S. 10 („darüber hinaus“). Zur Axiomatik dieses Ansatzes s. Rolf Gröschner, Des Menschen Würde – humanistische Tradition eines Verfassungsprinzips, in: ders./Kirste/Lembcke (Hrsg.) (Fn. 8), S. 215 ff. 13

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Kirche, aber auch die Reformation14, sich schwer tun mit dem Renaissancehumanismus, aus dem – aus ihrer Sicht – die Hybris der wissenschaftlich-technischen Aneignung der Welt entstand, genauso wie die politische Arroganz des Absolutismus, die Brutalität des Nationalismus, die Zerstörung der eigenen Prämissen humanistischer Weltdeutung durch die Menschenverachtung des Totalitarismus, die Krämermentalität des wirtschaftlichen Zweckrationalismus und die Gottesferne der industriellen und hedonistischen Welt der Zukunft. Die ein halbes Jahrtausend zurückliegende humanistische Revolution ist im Grunde demnach – darauf weist Klaus Stern ganz zu Recht hin – gar nicht theonom15, jedenfalls nicht so eindeutig wie der Bezug auf die Gottesebenbildlichkeit vermuten lassen könnte. Sie ist vielmehr von der, gewiss dem Monotheismus nahestehenden, geistigen Urgründigkeit und der Transzendenzvorstellung des Neuplatonismus geprägt, also der negativen Theologie Plotins nicht unähnlich, obwohl vermutlich Pico selbst das kaum eingeräumt und so gesehen hätte16. Aber wie schon in der frühen und mittleren Kirchengeschichte hat die Ambiguität des spätantiken neoplatonischen Gedankenguts es nicht ausgeschlossen, Philosophie und Theologie zusammenzuführen oder auch gegenläufig aus ihrer Einheit heraus eine separate, nicht-theonome Weltsicht zu begründen. Dabei spielt die neuplatonische Vorstellung eine beträchtliche Rolle, wonach die oberste Seinsstufe (Hypostase), der höchste Bereich der rein geistigen Welt, diese aus dem Nichts (ex nihilo) erschafft, also unabgeleitet am Anfang steht, aber der Entwicklung ihren (konditionierten) Gang lässt. Die Schöpfung im jüdisch-christlichen Verständnis wird somit nicht als definierte Kreation jedes Einzeldings gesehen, sondern als Setzung der ersten Ursache – eine Art materiell-ideeller Urknall – der dann eine folgerichtige Entwicklung in Gang setzt, die auch den zur Freiheit berufenen menschlichen Geist zur Emanation des Geschehens werden lässt. Damit ist dann der Mensch in der Tat die Krone der Schöpfung, weil er seine besondere Konditionalität in der Nicht-Konditionalität (Freiheit) seiner Gattung findet17. Zugleich wird so der Sinn einer Schöpfung plausibel, der kosmologische Entwicklung aus der ersten Ursache heraus entfaltet, womit allerdings der 14 Etwa belegt in der Kontroverse zwischen Luther und Erasmus, wobei vor allem die Streitschrift „De libero arbitrio“ aus dem Jahr 1524 die Ähnlichkeit zwischen Erasmus und Pico demonstriert. s. allgemein zu dem Verhältnis Luther und Erasmus: Karl Heinz Oelrich, Der späte Erasmus und die Reformation, 1961. 15 Stern (Fn. 1), S. 11. 16 Zu platonischen Einflüssen auf Pico s. etwa Michael J. B. Allen, The Birth Day of Venus, in: Dougherty (ed.), Pico della Mirandola, Cambridge University Press 2008, S. 81–113. 17 Das 20. Jahrhundert formuliert das klassische thomasische „dominium sui actus“ als anthropologische Bestimmung oder existentielle Geworfenheit des Menschen, seine exzentrische Positionalität, also seine „natürliche Künstlichkeit“, seine Distanz in der Immanenz der Natur: s. etwa Helmuth Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, 1961.

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eigentliche Sinn der Schöpfung erst mit der Menschwerdung des Menschen als offener, als unentschiedener Prozess sich beginnt zu entfalten: „Du kannst zum Niedrigen, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.“ 18 In dieser wiedergefunden Ursprünglichkeit einer ersten, richtunggebenden Kausalität liegt die Rechtfertigung der humanistischen, der mirandolischen Axiomatik und ihres wuchtigen Universalitätsanspruchs. Denn Universalität im ernsthaften Sinne des Wortes meint sachlich und temporär unbeschränkte Gültigkeit: ewig und allgegenwärtig in Zeit und Raum19. Durch die Wiederaufnahme des Schöpfungsimpetus durch die Selbsterkenntnis des Menschen – d.h. als gattungsspezifisch zur personalen Freiheit befähigt – schließt sich ein Ring, der sich mit der Schließung wegen der Undeterminiertheit des freien Willens zugleich zum Unbestimmten öffnet. Zur Freiheit gehört dabei nicht nur, die Religion, die Konfession, die Glaubensrichtung zu wählen, sondern Gottesglauben auch gänzlich abzulehnen. Für Erasmus von Rotterdam bleibt Gott in seiner Gnade noch wichtig – vielleicht sogar wichtiger, weil das Unbestimmte durch Gnade auch in seinem Freiheitsgebrauch bestimmend ist. Doch letztlich ist der humanistische Weg der Neuzeit kein theonomer mehr: Er erlaubt gerade durch die theonome Begründung der Gottesebenbildlichkeit die Lösung von seinen religiösen Bezügen. III. Die Einbettung der individuellen Dignitas in diejenige der Gattung Die mirandolische Bestimmung des Menschen zum Sich-selbst-Bestimmenden ist strikt personell gedacht, gerade weil sie gattungsspezifisch angelegt ist: Die Würde des Menschen ist Gegebenes und Aufgegebenes zugleich20. Hier liegt bei Pico ein Potential, das für die Interpretation der Würde des Menschen vielleicht noch gar nicht voll erschlossen ist. Das gilt zunächst für die Frage der Gleichheit21. Für den Renaissancehumanismus Picos wird der Mensch aus allen sozial bestimmenden Prägeformen gelöst, er wird nicht als Produkt oder Element einer 18 Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen), Philosophische Bibliothek, Meiner 1990, S. 7. 19 Zum Universalitätsanspruch der Menschenrechte Stern (Fn. 4), § 1, Rn. 79 ff.; Udo Di Fabio, Menschenrechte in unterschiedlichen Kulturräumen, in: Nooke/Lohmann/ Wahlers (Hrsg.), Gelten Menschenrechte universal?, 2008, S. 63 ff. 20 Lorenz Schulz, Das juristische Potential der Menschenwürde im Humanismus, in: Gröschner/Kirste/Lembcke (Hrsg.) (Fn. 8), S. 21 (23). 21 Die, im Neuen Testament angelegt, seit Augustinus zunächst als Gleichheit der Menschen vor Gott und später säkularisiert gegenüber dem Gesetz formuliert wird. Mit der Neuzeit hebt die Würdekonzeption diese Quellen auf und nimmt die Gleichheit aus der Würde axiomatisch auf. Dazu: Paul Kirchhof, in: Isensee/ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl., 2010, § 181, Rn. 51. Vgl. auch Stern (Fn. 4), § 1, Rn. 8 Fn. 17; Udo Di Fabio, Gewissen, Glaube, Religion, 2. Aufl., 2009, S. 93.

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möglichst perfekten sozialen Ordnung verstanden, sondern umgekehrt als die Quelle und der Bestimmungsgrund sozialer Artefakte gesehen. Natürlich weiß auch Pico, dass der Mensch nicht fertig und schon gar nicht kunstfertig auf die Welt kommt. Doch die Abstrahierung der conditio humana orientiert sich am wesensbestimmenden und wesensbestimmten Bild des gebildeten, wissenden, künstlerischen Menschen und an der – jedem offen stehenden – Möglichkeit, sich aus eigener Einsicht und Willensentscheidung einem solchem Ziel zu nähern: zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, „wenn deine Seele es beschließt“. Damit fallen die Faktizität der menschlichen Natur und die Normativität der humanistischen Prämissen zusammen. Konsequenz dieser abstrahierenden Idealisierung der gattungsspezifischen schöpferischen Potenz des Menschen ist ein wohltuend indifferentes Menschenbild, das die gesamte Neuzeit prägt, alles Entgegenstehende herausfordert. Keine Rasse, keine Nationalität, kein Geschlecht und keine Hautfarbe, keine Herkunft und kein Stand sind irgendwie entscheidend (konstitutiv). Der Humanismus redet nur ganz allgemein vom Menschen, was ihm von den Anhängern konkreten Ordnungsdenkens22, materialistischer Geschichtsgewissheiten und den Ingenieuren perfekter Sozialzustände als arge Naivität, bürgerliche Formal-Liberalität, als weltferner Idealismus und als Quelle für Humanitätsduselei angekreidet wird. Doch Picos Indifferenz seines Menschenbildes ist der unerschütterliche Grund für eine Freiheit, die jedem in gleicher Weise zusteht und nur dann in ihrer Substantialität Freiheit bleibt, wenn Menschen nicht nach Gruppen und Merkmalen präformiert und prinzipiell die Unterschiede der Ergebnisse ihres Handelns akzeptiert werden. Wer jenseits der humanistischen Geleise der Bildung, der sozialen Offenheit, des sittlichen Strebens zur Anerkennung des Anderen und der eigenen Vervollkommnung einen neuen Menschentyp braucht, um seine perfekte Gesellschaft zu verwirklichen und das Ziel des homo novus dann mit politischer Herrschaftsgewalt, mit sozial- oder gentechnischen Methoden verfolgt, stellt sich außerhalb des neuzeitlichen Paradigmas von Humanismus, Rationalismus und Aufklärung. Natürlich darf und muss ein politisches Gemeinwesen sich selbst konkret in seiner Existenz begreifen und Menschen in ihren konkreten Lebenslagen sehen und auch unterschiedlich behandeln, den einen vielleicht besser fördern, den anderen stärker belasten. Aber der immer wieder hier zum Augenmaß mahnende normative Ausgangspunkt ist die schöpferische und unberechenbare Freiheit des einzelnen Menschen und nicht die societas perfecta: Keine präsupponierende konkrete Ordnung steht am Anfang, noch nicht einmal wie für Thomas Hobbes

22 Das wird aufgenommen mit der Vorstellung, dass die Nation – bei anderen die Klasse – Subjekt beispielsweise der verfassungsgebenden Gewalt sei, hier konkret eine politisch aktionsfähige „Einheit“ mit dem „Bewußtsein“ und dem „Willen“ zur politischen Existenz. Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 79.

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der Frieden. Denn der wahre, erste und letzte Grund aller normativen Deduktionen ist die gattungsspezifische Gottesebenbildlichkeit des Einzelnen, aus der die Beseeltheit zur schöpferischen Freiheit resultiert und die eine Friedensordnung auf sehr unterschiedliche Weise zu erzielen vermag – gewiss mit dem Leviathan, aber womöglich eben auch ohne ihn. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich (Art. 3 Abs. 1 GG). Dieser Satz wird in seiner ganzen Wucht nur verständlich als Konsequenz des mirandolischen Axioms, ebenso wie der dem Gleichheitsgrundsatz vorausliegende und ihm seinen Grund gebende Halbsatz des Art. 2 Abs. 1 Satz 1 GG: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“. Die Ordnung, die der Verfassungsstaat gewährleistet, ist nicht in einem gleichsam postabsolutistischen Sinne beliebig, auch nicht für die demokratische Mehrheitsentscheidung. Die bürgerliche Privatautonomie, die Institution des Privateigentums und des Vertragsrechts sind gewiss demokratisch gestaltbar. In ihrem freiheitsgewährleistenden Kern sind sie allerdings auch für den Gesetzgeber nicht disponibel, weil sie insoweit notwendige Bedingung für die auf Willensfreiheit zurückgehende freie Entfaltung der Persönlichkeit sind. Alle politisch festgelegten Ausgleichsmaßnahmen und Gleichstellungsanordnungen sind in diesem Sinne nicht nur Eingriffe in Freiheitsrechte, sondern auch in das Gleichheitsrecht des Art. 3 Abs. 1 GG, was aber – wie dogmatisch üblich – gerade im Falle einer speziellen Eingriffsermächtigung wie Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG noch nichts über die Verfassungswidrigkeit, wohl aber über den Prüfungsablauf aussagt. Für die juristische Bestimmung der Würde des Menschen ist aber die Beziehung zwischen der personalen Berufung zum freien Selbstentwurf und der Würde der Gattung innerhalb des mirandolischen Axioms von zentraler Bedeutung. Der strikte Personalismus neuzeitlichen und vor allem des kontraktuell ansetzenden aufgeklärten Denkens23 ist kein Solipsismus: Der einzelne Mensch ist Mittelpunkt der Welt und Ausgangspunkt aller normativen Ableitungen, aber er ist es nie als beziehungslose Monade; er ist Subjekt nur für sich und doch auch nur im Auge des Anderen. Der Mensch ist das Subjekt, das Bindungen eingeht, der frei ist, um sich so binden zu können, wie er es für richtig und verantwortbar hält. Das trifft einmal auf die Erwartung zu, dass sich aus der Willensfreiheit und dem Ergebnis des Bildungsstrebens zugleich soziales Handeln und Bindungsfähigkeit ergibt, weil die Anerkennung des Anderen – der ebenso frei und würdig ist – Voraussetzung der eigenen Identität und Selbstachtung ist. Der Renaissancehumanismus ist deshalb im Kern nicht nur kosmopolitisch und universalistisch, sondern auch in einer besonderen sittlichen Weise gattungssolidarisch, wohlge-

23 Wobei die mittelalterlichen Herrschaftsverträge dem menschen- und vernunftrechtlich ansetzenden Kontraktualismus nicht in einer deduktiven Entwicklungslinie vorangingen, sondern nur Anschauung und Anknüpfungsmöglichkeiten lieferten, s. Stern (Fn. 4), § 1, Rn. 12.

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merkt nicht als dispositiver caritativer Annex einer ansonsten autarken Persönlichkeit, sondern als konstruktive Bedingung des personalen Freiseins. Hier wird deutlich, warum Klaus Stern mit seinen Überlegungen zu den Grundlagen der Geistesgeschichte der Menschenwürde mit einem kühnen Pinselstrich von Pico zu Kant führt24. Doch kann hier noch mehr an Substanz offengelegt werden, wenn man den Ausgangspunkt der Dignitas humana in der Gottesebenbildlichkeit als nicht-theonome, demnach säkulare Rezeption erkennt. Dies gelingt aber nur, wenn man nicht gleich von der personalen Fähigkeit zum Freisein umschaltet auf Solidarität als Schicksalsschwur der Gattung, die sich als Gemeinschaft konstituiert25. Die personale Freiheit ist ebenso radikal individuell wie unhintergehbar gattungsspezifisch, das personale Freisein somit in seinem Wesen bestimmend, entweder als Stiftung eines externalisierten Schöpfers oder als Konsequenz einer impliziten Schöpfungsidee. Damit wäre dann allerdings der freie menschliche Geist nur im Individuum – das in seinem Selbst-Bewusstsein und in seinem Gewissen eine erste und eine letzte Instanz aller Ableitungen findet – in besonderer Weise mit der Allgemeinheit der Gattung verwoben, einer Allgemeinheit, die in genau jener partikularen Besonderheit eines jeden Einzelnen zur Wirkung gelangt. Wechselbezüglich heißt indes, dass der freie Wille sich in der Gattung, das heißt in der Achtung vor dem Anderen findet, spiegelt und konstituiert. Den Anderen als ebenso willensfrei und zur eigenen Selbstbestimmung fähig zu begreifen, wie man sich selbst erlebt, und sich damit denkend in die transzendentalen Bedingungen der praktischen Vernunft einzulassen, ist zwar wesentlich, schöpft aber das Thema nicht aus. Für Pico bedeutet die Erkenntnis der Gottesebenbildlichkeit nicht nur Anerkennung des Anderen als gleich in dessen Willensfreiheit, sondern auch die Empathie zum Anderen als Angehörigen einer besonders ausgezeichneten Gattung. In religiösem Kontext würde man sagen, dass der Mensch sich im anderen Menschen nicht nur (im transzendentalen Sinn notwendig) selber achtet, sondern auch Gottes Schöpfung erkennt und die Auszeichnung der menschlichen Gattung begreift. Diese Differenz (Achtung der Würde aus der Qualität der Willensfreiheit für diejenigen Gattungswesen, die nicht zur 24

Stern (Fn. 1), S. 10. Unter diesem allzu direkten Übergang leidet die ansonsten tief schürfende Abhandlung von Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR Bd. 118 (1993), 353 ff., der zwar Pico als ganz zentral hervorhebt (S. 358), aber seltsamerweise die Berufung zur Selbstschöpfung und zum Selbstentwurf nicht erwähnt; auch im Resumee der rechtswissenschaftlichen Übereinstimmungen fängt es mit Gleichheit an (S. 363), ohne dass die selbstschöpferische Freiheit der Person später „nachgereicht“ würde. Stattdessen wird die bei Pico allenfalls marginale republikanische Gemeinschaft in den Mittelpunkt gerückt (S. 367) und so die liberale Sprengkraft des mirandolischen Axioms, vielleicht aus Furcht vor der säkularen Entfaltung der als theonom empfundenen Gottesebenbildlichkeit, viel zu früh entschärft (S. 357: „teilweise also noch der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit im Hintergrund“). 25

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Willensfreiheit fähig sind26) als Einheit zu sehen, fällt auch säkularer Rezeption etwa naturrechtlicher oder vernunftbezogener Provenienz nicht schwer. Die Übertragung von Picos Würdekonzeption bleibt also nicht notwendig religiös bestimmt27. Für die Frage, ab wann und bis wann dem Menschen Würde zusteht, ist mitunter darauf abgestellt worden, ob sie etwa dem Embryo – vielleicht auch dem Altersdementen oder dem hirnorganisch Schwerverletzten, denen Ich-Bewusstsein, Einsichtsfähigkeit, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung fehlt – zusteht. Auf den ersten Blick kann ein Humanismus, der das Gattungsmerkmal in der Fähigkeit zur Einsicht und Selbsterschaffung betont, dafür in Anspruch genommen werden: Hat nicht schon die Renaissance den geistig und körperlich schönen Menschen idealisiert und mit ihm die Dignitas humana verbunden? Pico della Mirandola kann man für solch ein Missverständnis aber gerade nicht in Anspruch nehmen. Die Gottesebenbildlichkeit ist nach seiner Auffassung dem Menschen als Gattung im Einzelwesen und zur unbeschränkten Willensfreiheit geschenkt, aber doch wiederum in einem dialektischen Zusammenhang, der das Ganze gerade durch die Freiheit der Teile entfaltet. In der undeterminierten und gerade nicht präsupponierten Freiheit wird das Gelingen in die Hand der Individuen gelegt, aber sie haben ihre solcherart unbeschränkte Freiheit im Vertrauen darauf erhalten, dass sie Gattung, Schöpfung und Gott erkennen und anerkennen. Es gibt also für Pico ganz selbstverständlich den sittlichen, den ethischen Diskurs, der normativ beurteilt, ob jemand zum Göttlichen strebt oder zum Tierischen absteigt. Zur Einsicht in die Bedingungen der Freiheit und der eigenen Selbstachtung gehört es, die zur Freiheit beseelte Gattung auch in jenen Menschen zu achten, die ihrerseits nicht (noch nicht, nicht mehr oder niemals) einsichtsfähig sind. Als Humanismus gilt das für alles, was als zur menschlichen Gattung zugehörig identifiziert wird und jenseits dessen beginnt der Respekt vor der Schöpfung im Tier, der Pflanze, der Natur. In diesen drei Dimensionen – Respekt unter einsichtsfähigen Freien, die Achtung der Würde des hilflosen Gattungszugehörigen und der Rücksicht auf die natürliche Umwelt des Menschen – äußert sich die Selbstachtung des vernunftbegabten Menschen, der seine Personalität in aller Eigenwilligkeit als unverlierbar und undisponierbar behauptet und sie dabei doch nicht für autark hält, sondern für sozial dimensioniert, in Anerkennungsverhältnisse eingebettet. Schon an dieser Stelle wird schlaglichtartig klar, welche Bedeutung die technische Manipulation des menschlichen Erbguts erlangt, wenn es etwa um die Schaffung von hybriden Lebensformen geht, die menschliche und tierische Erbanlagen in sich vereinen. 26 Entfaltet bei Wolfgang Wieland, Pro Potentialitätsargument: Moralfähigkeit als Grundlage von Würde und Lebensschutz, in: Damschen/Schönecker (Hrsg.), Der moralische Status menschlicher Embryonen, 2003, S. 149 ff. 27 Der in der frühen Neuzeit noch bestimmende frühchristliche Ideengehalt verliert sich im Übergang zu Aufklärung und Vernunft, s. Stern (Fn. 4), § 1, Rn. 9.

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IV. Konsequenzen für das Recht Was bedeuten die Hinweise auf das mirandolische Axiom und seine Inhalte eigentlich heute? Die bioethische Debatte kann hier gewiss angeführt werden, dabei auch die Präimplantationsdiagnostik. Die Würde des Menschen wird durch die technische Verfügbarkeit, die genetische Disponierbarkeit herausgefordert und lässt deshalb an die neuzeitlichen Quellen denken28. Auch das Menschenbild insgesamt ist neu in die Diskussion geraten, manchmal offen thematisiert, häufiger noch unterschwellig wirkend29. Das mirandolische Axiom prägt die neuzeitliche Geistesgeschichte, auch wenn jahrhundertelang um das Menschenbild einer Dignitas humana, resultierend aus dem Schöpfungsauftrag der Gottesebenbildlichkeit, gerungen wurde. Wenn es stimmt, dass im Übergang zum 21. Jahrhundert das Paradigma der neuzeitlichen Epoche allmählich überschritten wird, müsste man dies an markanten Punkten der gesellschaftlichen und rechtlichen Debatte erkennen können. Fast alles, was an juristischen Streitfällen mit dem Rückgriff auf die letzte und erste Norm der Verfassung, mit der Achtung der Menschenwürde an Problemfällen gelöst werden soll, von der Relativierung des absolut gesetzten Folterverbots30, der Gewährung eines sozio-kulturellen Existenzminimums, über Fragen der Präimplantationsdiagnostik, positiver Eugenik und reproduktiven Klonens31, liefert Anschauungsmaterial für solche markanten Punkte, an denen zu registrieren ist, dass das Vertrauensfundament der Gesellschaft bebt32. Das Fundament bebt, weil das als feststehend Geglaubte in Bewegung gerät, weil Grenzen fließend werden, wie die zwischen Natur und Zivilisation33. Eine der Spannungslagen resultiert aus der ursprünglichen Dualität der mirandolischen Würdevorstellung. Wenn im Recht der Sterbehilfe gestritten wird, dann pochen die einen auf die Heiligkeit des Lebens34 und die anderen auf 28 Thomas Gutmann, „Gattungsethik“ als Grenze der Verfügung des Menschen über sich selbst?, in: Van den Daele (Hrsg.), Biopolitik, Leviathan Sonderheft 23 (2005), 235 ff. 29 Josef Isensee, Menschenwürde – die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR Bd. 131 (2006), 173 ff. 30 Günther Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS 2004, 88; Winfried Brugger, Freiheit und Sicherheit, 2004; Udo Di Fabio, Sicherheit in Freiheit, NJW 2008, 421 ff. 31 Vgl. dazu: Gertrud Nummer-Winkler, Können Klone Identität ausbilden?, in: Van den Daele (Hrsg.) (Fn. 28), S. 265 ff. in Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur, Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, 2001. 32 Josef Isensee, Menschenwürde – die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, AöR Bd. 131 (2006), 173 (198). 33 Interessant dazu im Hinblick auf die Funktion des Rechts: Rainer Döbert/Thomas Gericke, Grundlagen der Verrechtlichung von Natur. Die Entstehung und Verankerung von Umweltnormen im umgangssprachlichen Bewußtsein, in: Lampe (Hrsg.) Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein, 1997, S. 465 ff. 34 Herbert Landau, „Heiligkeit des Lebens und Selbstbestimmung im Sterben“, ZRP 2005, 50 ff.

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Selbstbestimmung bis zur letzten Konsequenz. Das ist ein eigentlich erwartbarer Diskurs, wobei die Würde der Gattung und die Achtung vor einem geschenkten Leben in dem Bemühen unterzugehen drohen, mit Sterbeverfügungen den Raum des personell nicht mehr Beherrschbaren durch den antizipierenden Willen des später per definitionem Willenlosen extrapolierend doch noch beherrschbar zu machen. Aber wer kann schon bei klarem Verstand seine Existenz ohne diesen Verstand antizipieren, wenn er in den Schoß von Liebe, familialer Gemeinschaft, Freundschaft oder einer sittlichen Maßstäben genügenden gesellschaftlichen Pflege fällt? Und wie ist eine Gesellschaft in ihrer Gattungssolidarität und im Maß ihrer Lebensachtung beschaffen, die Leben nimmt, weil sie in solchen Grenzfällen jenseits des personalen Willens oder der Erlebnisfähigkeit35 außer „Potentialität“ oder dem Nachklang selbstbestimmten Lebens kaum etwas zur Kenntnis nehmen will, und das, obwohl sie im Lebensalltag durch ihren sozialtechnischen Paternalismus ohne allzu merkliches Zögern die Willensfreiheit immer wieder begrenzt? Aus dem „Quellcode“36 des mirandolischen Axioms folgt jedenfalls eine äquidistanzierte Ablehnung sowohl des Paternalismus wie auch des Konzepts einer absoluten Willensfreiheit im Sinne einer interaktionell und gattungsreferentiell ungebundenen, im Sinne einer dezisionistischen Kategorie. Die eigentliche humanistische Hochachtung des menschlichen Lebens kann mit den heute gepflegten biologistischen und rechtstechnisch filigranen Ausführungen nichts rechtes anfangen, wenn mit diesen Differenzierungen schlussendlich so fragwürdige Praktiken wie Spätabtreibungen oder eine sanft daherkommende Eugenik gerechtfertigt werden. Das (post-)moderne Verständnis von extrapolierter Selbstbestimmung und sozialtechnischer Perfektion gesundheitsfixierter Diesseitigkeit kann sich auf Pico und die Ursprünge des Renaissancehumanismus nicht berufen. Humanismus auf dem Boden des mirandolischen Axioms steht sehr nahe an jenem Respekt vor der Schöpfung, die sich das christliche Europa auch gegen seine dem widersprechende Praxis immer wieder in Erinnerung gerufen hat – jedenfalls viel näher als eine nicht stimmige Entgegensetzung von Humanismus und Religion glauben machen wollte, die in beiden Lagern der großen Kontrahenten gepflegt wurde und heute auf letzte Überwindung wartet. Nicht nur die Würde des Menschen wird stärker als rechtlicher Beurteilungsmaßstab nachgefragt, sondern auch die Idee der personalen Freiheit gerät unter Druck. Dies geschieht weniger durch missverständliche Rezeptionen der Gehirnforschung, sondern mehr durch die Erwartung sozialtechnischer Steuerbarkeit 35 Reinhard Merkel, Zum normativen Status des Embryos und zum Schutz der Ethik gegen ihre biologistische Degradierung, in: Damschen/Schönecker (Hrsg.), (Fn. 26), S. 35 (S. 43). 36 Andreas Voßkuhle, Stabilität, Zukunftsoffenheit und Vielfaltssicherung – Die Pflege des verfassungsrechtlichen „Quellcodes“ durch das BVerfG, JZ 2009, 917 ff.

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einer Gesellschaft, die deviantes Verhalten weniger in personalen Zurechnungskategorien – wie Selbstverantwortung und Schuld – als in psychopathogenen Rastern einfängt. Wer hier gegen eine Verrechtlichung ohne institutionelle Rechtsidee auf Fortgeltung der Grundsätze der Privatautonomie und Vertragsfreiheit, des Schuldstrafrechts, demokratischer Selbstregierung und verwaltungsrechtlicher Rationalität insistiert, kann sich seiner geistesgeschichtlichen Grundlagen exemplarisch bei Pico della Mirandola versichern. Zukunft gewinnt man mit dem Wissen um die Vergangenheit, um ihre Schwächen und Stärken.37

37 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, S. 2174.

Kommunale Finanzautonomie und politische Verantwortung Was soll das Gemeindesteuersystem leisten: Bürgerbeteiligung oder Unmerklichkeit? Von Johanna Hey I. Das ungelöste Problem der Gemeindefinanzierung Wenn innerhalb von acht Jahren – 2003 und 2010 – zwei Gemeindefinanzkommissionen1 in ihrem Bemühen um eine grundlegende Reform der Gemeindefinanzen scheitern, muss dies einen tieferen, über die Detailprobleme der bisher diskutierten Reformmodelle hinausgehenden Grund haben. Ausgangspunkt der Reformdiskussionen war in beiden Fällen ein konjunkturbedingter Einbruch des Gewerbesteueraufkommens2. In derartigen Zeiten finanzieller Not wächst die Reformbereitschaft der Kommunen. Sie nimmt allerdings in dem Maße direkt wieder ab, wie sich mit Belebung der Konjunktur auch das Gewerbesteueraufkommen wieder erholt3. Die Regenerierung der Steuereinnahmen bedeutet freilich nicht, dass damit die Probleme gelöst wären. Das Finanzierungsproblem der Kommunen ist ein strukturelles, und nicht in erster Linie ein konjunkturelles4. Auf der Ausgabenseite wird vor allem die finanzielle Überforderung aufgrund der den Kommunen übertragenen Sozialaufgaben beanstandet5. Zentrale Forderungen der Kommunen auf der Einnahmeseite sind die Verstetigung des Aufkom1 Zur Gemeindefinanzkommission 2003 s. z. B. Schnittker/Welling, 7. Berliner Steuergespräch: „Reform der Gemeindefinanzen – Gewerbesteuer auf dem Prüfstand“, StB 2003, 454 ff.; P. Heine, Gemeindefinanzreform – Ende des Richtungsstreites bei der Reform der kommunalen Steuerbasis?, KStZ 2003, 145 ff. und 183 ff.; J. Rüttgers, Gemeindefinanzreform braucht Neuanfang, Städte- und Gemeinderat 2003, 15 ff.; Zur Gemeindefinanzkommission 2010 s. M. Eilfort/B. Jonas/G. Müller-Gatermann/M. Junkernheinrich, Standpunkte, DB 2010, 49 ff. 2 Deutscher Städtetag, Die Gewerbesteuer – eine gute Gemeindesteuer. Fakten und Analysen, Heft 94 (2010), 13. 3 M. Kuban, Editorial, Deutscher Städtetag 2010, 1, macht allerdings deutlich, dass die Städte grundsätzlich gegen eine Ersetzung der Gewerbesteuer sind, diese vielmehr gestärkt sehen wollen. 4 So durchaus zutreffend auch M. Kuban, Editorial, Deutscher Städtetag 2010, 1. 5 G. Schwarting, Der kommunale Haushalt, 4. Aufl., Berlin 2010, 37.

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mens sowie Erhalt bzw. Stärkung der Finanzautonomie6. Auf den ersten Blick decken sich diese Forderungen mit dem wissenschaftlichen Anliegen, die Sonderbelastung der gewerblichen Wirtschaft zugunsten einer allgemeinen Kommunalsteuer in Form eines Zuschlags zu Einkommen- und Körperschaftsteuer aufzugeben7. Ein Zuschlag über die gesamte Breite der Einkommensteuer ist nicht nur weniger konjunkturanfällig, sondern würde auch zu einer Verbreiterung des kommunalen Hebesatzrechts führen. Vor allem in der Diskussion des Jahres 2010 hat sich jedoch herauskristallisiert, dass die Kommunen zwar Autonomie einfordern, jedoch nicht bereit sind, die hiermit verbundene Verantwortung gegenüber dem Bürger zu übernehmen. Derzeit tendieren die Kommunen dazu, die Verantwortung für die zunehmende Verschuldung der Gemeindeebene dem Bund anzulasten, der ihnen ohne vollständige Kostenkompensation immer neue Aufgaben auferlege. Die kommunalen Spitzenverbände, machtvolle Advokaten der – allerdings sehr heterogenen8 – Gemeindeinteressen, wehren sich gegen die Überbürdung politischer Verantwortung auf der Einnahmenseite, solange der Einnahmebedarf durch übertragene Aufgaben fremdbestimmt wird. Einnahmeautonomie könne nicht ohne die Aufgabenseite diskutiert werden9. Es gehe eben nicht um die vielzitierte Diskussion mit dem Bürger um die Öffnungszeiten der städtischen Badeanstalten im Gegenzug gegen einen höheren Hebesatz, sondern in erster Linie um den von den Kommunen nicht beeinflussbaren Sozialhaushalt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Forderung nach einer Stärkung der kommunalen Finanzautonomie nicht vielleicht eine Illusion ist und in den Reformdebatten eine unerfüllbare Forderung gestellt wird, jedenfalls eine Forderung, die weit über das kommunale Finanzsystem hinaus die derzeitige Aufgabenverteilung im Bundesstaat in Frage stellt. Das Pochen auf der kommunalen Finanzautonomie passt letztlich nicht zu dem Befund, dass der Großteil der kommunalen Ausgaben fremdbestimmt ist. Einerseits wollen die Kommunen nicht zu bloßen Zuweisungsempfängern werden, andererseits fordern sie Entlastung von den Sozialausgaben10. Dies ist indes nur durch direkte Zuweisungen denkbar. Eines Ausbaus der eigenen Steuerquellen der Gemeinde bedarf es nicht, soweit diese nicht zur Finanzierung eigener Aufgaben dienen. 6 s. den Katalog der Prüfkriterien für den Ersatz der Gewerbesteuer in Anlage 1 zum Zwischenbericht der AG „Kommunalsteuern“ an die Gemeindefinanzkommission. 7 So etwa R. Wendt, BB 1987, 1677 (1680 ff.); M. Jachmann, BB 2000, 1432 (1440 ff.). 8 Ein Problem der Gewerbesteuer ist nicht nur ihre Konjunkturanfälligkeit, sondern auch ihre starke regionale Streuung, vgl. allein die Unterschiede zwischen alten und neuen Ländern, Gemeindefinanzbericht 2010, Deutscher Städtetag 2010, 11. 9 Zutreffend S. Anton/D. Diemert, Kommunale Finanzen: Kein Licht am Ende des Tunnels, Der Städtetag 2010, 11 (19 ff.). 10 M. Kuban, Editorial, Deutscher Städtetag 2010, 1.

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Nichtsdestotrotz ist eine Stärkung der kommunalen Finanzautonomie zu begrüßen, wenn auf diese Weise die Verantwortungszusammenhänge klarer zutage treten und das Interesse der Bürger an lokaler Politik geweckt werden kann. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit einzelne – bestehende bzw. im Rahmen der Gemeindefinanzreform diskutierte – Kommunalsteuern geeignet sind, Kommunalpolitik insoweit bürgernäher zu gestalten, als sie den Zusammenhang11 zwischen kommunaler Sachpolitik und finanziellen Auswirkungen transparent machen. Taugen die bestehenden Hebesatzrechte sowie die in der Diskussion befindlichen Reformmaßnahmen überhaupt, um mittels der kommunalen Steuerpolitik einen Dialog über die Gemeindeangelegenheiten zwischen Gemeindeeinwohnern und Gemeindevertretung zu initiieren? II. Kommunale Finanzautonomie 1. Die Stellung der Kommunen in der Finanzverfassung: Garantie von Einnahmen- und Ausgabenautonomie

Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG garantiert den Kommunen als Bestandteil der kommunalen Selbstverwaltung die „Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung“. Die Garantie der Finanzautonomie schließt sowohl die Einnahme- als auch die Ausgabenseite ein12, wobei nicht abschließend geklärt ist, ob sich auch ein Anspruch auf eine angemessene (aufgabengerechte) Finanzausstattung begründen lässt13. Der Finanzbedarf der Kommunen wird sowohl durch eigene als auch durch übertragene Aufgaben bestimmt, wobei im Bereich der eigenen Aufgaben – mit landesrechtlichen Spezifika – weiter unterschieden werden muss zwischen freien Selbstverwaltungsaufgaben und Pflichtaufgaben14. Im Hinblick darauf, dass die Aufgaben der Kommunen in hohem Maße fremdbestimmt sind, ist es um die Autonomie auf der Ausgabenseite nicht gut bestellt15. Die kommunalen Spitzenverbände machen geltend, nur 10–15%16 des kommunalen Haushalts entfalle auf 11 Zum Zusammenhang zwischen Demokratieprinzip und Finanzordnung C. Waldhoff, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2007), 216 (231 ff.). 12 M. Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl., München 2009, Art. 28 Rz. 84. 13 Dazu M. Nierhaus, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl., München 2009, Art. 28 Rz. 84. Für einen Mindestschutz K. Stern, in: G. Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Band 1, 2. Aufl., 1981, S. 220 f.; ebenso A. Röhl, Finanzverfassungsrechtlicher Dualismus in der Sackgasse?, DÖV 2008, 368; K.-A. Schwarz, Finanzverfassung und kommunale Selbstverwaltung, 1996, 28 ff. (35 f.). 14 s. dazu z. B. G. Schwarting, Der kommunale Haushalt, 4. Aufl., Berlin 2010, S. 41; Anton/Diemert, Der Städtetag 2010, 11 (19). 15 Zutreffend die Feststellung von C. Gröpl, in: VVDStRL Bd. 66 (2007), 334. 16 M. Kuban anlässlich des 36. Berliner Steuergesprächs; vgl. Richter/Welling, Diskussionsbericht, FR 2010, 981 (982); zweifelnd bezüglich der Validität derartiger Aus-

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die freien Aufgaben der Kommune (freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben); der Rest des Haushalts sei entweder durch Pflichtaufgaben oder Auftragsangelegenheiten gebunden. Zwar bestehen auch bei der Ausführung gemeindlicher Pflichtaufgaben sowohl bezüglich der Inhalte als auch der Durchführung Spielräume17, mit denen sich die Ausgaben beeinflussen lassen. Weniger flexibel sind die Kommunen jedoch bei der Durchführung von Auftragsangelegenheiten, insbesondere bei der Ausführung von Leistungsgesetzen, weil hier häufig nicht nur Umfang und Inhalt, sondern auch die Durchführung der Aufgabe vorgegeben sind. Autonomie auf der Einnahmenseite wird insbesondere durch eigene Steuerquellen begründet18. Die bloße Ertragshoheit ist allerdings ohne Gesetzgebungshoheit nicht viel wert. Es bedarf der Möglichkeit individueller Anpassung an die konkreten Finanzbedürfnisse der einzelnen Gemeinde. Den Kommunen stehen verschiedene Steuerquellen zur zumindest teilautonomen Bewirtschaftung zur Verfügung. Zwar folgt aus Art. 28 GG nach zutreffender Auffassung kein eigenständiges Steuererfindungsrecht der Kommunen19. Den Kommunen ist indes zum einen landesverfassungsrechtlich die Kompetenz für die örtlichen Verbrauchsund Aufwandsteuern übertragen. Darüber hinaus verbürgt die Hebesatzautonomie des Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG für Grund- und Gewerbesteuer die Möglichkeit der Anpassung der Einnahmen an den Finanzbedarf20. Damit verfügen die Kommunen schon heute über mehr Steuerautonomie als die Länder, denen ein eigenes Steuersatzbestimmungsrecht – beschränkt auf die Grunderwerbsteuer – erst im Zuge der Föderalismusreform 200621 eingeräumt wurde. Der weit überwiegende Teil der kommunalen Einnahmen resultiert jedoch nicht aus den – zumindest partiell beeinflussbaren – Steuern. Steuern bilden nur einen, und zwar nach den meisten Gemeindeordnungen subsidiären22, Baustein der Gemeindefinanzierung. Für die alten Länder ergibt sich in 2010 ein Anteil von 38,6% an den Gesamteinnahmen, wobei die Gewerbesteuer mit 15,2% der Gesamteinnahmen den größten Einzelposten ausmacht. In den neuen Ländern zeigt sich ein ganz anderes Bild. Hier machen die Steuereinnahmen nur 22,2%

sagen: A. Röhl, Finanzverfassungsrechtlicher Dualismus in der Sackgasse?, DÖV 2008, 368. 17 G. Schwarting, Der kommunale Haushalt, 4. Aufl., Berlin 2010, 42. 18 Ebenso C. Waldhoff, in: Henneke/Pünder/Waldhoff (Hrsg.), Recht der Kommunalfinanzen, München 2006, § 8 Rz. 7. 19 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, München 1980, S. 1124; H. Siekmann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl., München 2009, Art. 105 Rz. 48. 20 Die Verpflichtung auf einen Gewerbesteuermindesthebesatz von 200 Prozent (§ 16 Abs. 4 Satz 2 GewStG) begründet nach Auffassung des BVerfG keine unzulässige Einschränkung der Finanzautonomie, vgl. BVerfG v. 27.1.2010 – 2 BvR 2185/04, BVerfGE 125, 141. 21 Gesetz zur Änderung des GG v. 28.8.2006, BGBl. I 2034. 22 Vgl. G. Schwarting, Der kommunale Haushalt, 4. Aufl., Berlin 2010, 81.

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aus; der Gewerbesteueranteil beläuft sich auf 9,1%. Damit zeigt sich, dass das Ausmaß der steuerbasierten Finanzautonomie starken regionalen Schwankungen unterliegt23, die weniger der kommunalen Haushalts- und Steuerpolitik als der ungleich verteilten Steuerkraft geschuldet sind. Beeinflussen lassen sich die zugrundeliegenden Standortfaktoren nur zum Teil. Gerade kleinere Kommunen in strukturschwachen (Rand-)Gebieten sind nicht in der Lage, aus eigener Kraft ihr Steueraufkommen signifikant zu erhöhen. 2. Finanzautonomie und politische Verantwortung

In dem Maße, in dem den Gemeinden Einnahme- und Ausgabenautonomie zugestanden wird, müssen sie auch politische Verantwortung24 übernehmen. Aus demokratietheoretischer Sicht ist dies durchaus erwünscht. Die Dezentralisierung von Verwaltungsaufgaben auf Kommunalebene verspricht in besonderem Maße Bürgernähe25. Auch wenn es – anders als in der Schweiz26 – nicht darum geht, den Bürger unmittelbar per Volksentscheid über den kommunalen Haushalt und die Hebesätze abstimmen zu lassen, so macht die gemeindliche Hebesatzentscheidung die finanziellen Folgen der gemeindlichen Sachpolitik sichtbar und damit zu einem Gegenstand potentieller politischer Auseinandersetzung. Verantwortung für die kommunale Finanzpolitik schlägt sich dabei nicht nur unmittelbar in der Notwendigkeit nieder, gegenüber den Gemeindewählern Rechenschaft abzulegen, sondern mittelbar auch in den standortpolitischen Folgewirkungen, soweit mobile Faktoren der Besteuerung unterworfen werden, welche die Belastung durch Abwanderung „abwählen“ können. Alternativ ließe sich der Bürger auch durch Beteiligung an den Ausgabeentscheidungen aktiver in die Kommunalpolitik einbeziehen. Ein neues Instrument zur Stimulierung des Interesses am Finanzgebaren der Kommunen ist der sog. Bürgerhaushalt27, der seit 2008 in einer Reihe von Kommunen erprobt wird. 23 B. Jonas, Die Gewerbesteuer – eine schlechte Gemeindesteuer, FR 2010, 976 (977). 24 Zu den Verantwortungszusammenhängen der Staatsfinanzierung C. Waldhoff, Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2007), 216 (238 ff.). 25 Aus historischer Sicht zum Zusammenhang zwischen dezentralisiertem Verwaltungsaufbau und den Möglichkeiten demokratischer Beteiligung auf Kommunalebene B. Weiße, Die Bürgerkommune aus dem Blickwinkel ihrer demokratischen Legitimation. Ein Beitrag zur Verwaltungsmodernisierung, 2009, 186 ff. 26 Dazu C. Waldhoff, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Steuergesetzgebung im Vergleich Deutschland – Schweiz, München 1997, 67 f., 80. 27 s. dazu G. Schwarting, Der kommunale Haushalt, 4. Aufl., Berlin 2010, 315 ff.; L. Holtkamp, Der Bürgerhaushalt, Ein Konzept für Klein und Groß und Arm und Reich?, Gemeindehaushalt 2001, 104 ff.; B. Weiße, Die Bürgerkommune aus dem Blickwinkel

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Hierbei handelt es sich um im Einzelnen heterogene Verfahren, die einerseits auf Transparenz und verbesserte Information der Bürger setzen, diesen andererseits Mitwirkungsmöglichkeiten durch Bürgerkonsultationsverfahren eröffnen. Auch die Einflussnahme auf die gemeindliche Ausgabenpolitik kann die individuelle Position verbessern, freilich nur mittelbar. Zudem bedarf es einer Aktivierung des Bürgers, wohingegen ihn die Abgabenlast automatisch trifft. Deshalb ist es ungleich schwieriger, über eine Beteiligung an der Haushaltsplanung Interesse für die Kommunalpolitik zu wecken. Die bisherigen Erfahrungen mit den Bürgerhaushalten zeigen, dass sich nur ein verschwindend geringer Anteil der Wähler beteiligt. Allerdings hat auch die den Kommunen zugestandene Hebesatzautonomie im Rahmen der Grund- und Gewerbesteuer bisher wenig Einfluss auf das lokalpolitische Bürgerinteresse gezeitigt. Um einen echten Dialog über die Einnahmen- und Ausgabenpolitik zwischen Gemeinde und Gemeindebürger zu initiieren, dürfen zum einen nicht nur einzelne Gruppen mit Gemeindesteuern belastet werden, zum anderen muss sich ein Zusammenhang zwischen gemeindlicher Sachpolitik und gemeindlicher Steuerpolitik herstellen lassen. Hier liegt eine erhebliche Schwierigkeit, weil wegen des Non-Affektationsprinzips ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen bestimmten Steuereinnahmen und bestimmten Ausgaben nicht herstellbar ist. Unter dem Gesichtspunkt eines möglichst unmittelbaren Zusammenhangs zwischen kommunaler Leistung und finanzieller Beteiligung sind Gebühren und Beiträge Steuern deutlich überlegen. Vorzugslasten sind indes bereits aus praktischen Gründen nur in begrenztem Umfang einsetzbar und erlauben überdies nur in engen Grenzen Umverteilung28. 3. Finanzautonomie, landesverfassungsrechtliche Kostenübernahmegarantien und kommunaler Finanzausgleich

Das Ideal der finanziell autonomen Kommune bekommt zudem erhebliche Risse, bezieht man den kommunalen Finanzausgleich in die Betrachtung ein29. Landesverfassungsrechtlich bestehen für die übertragenen Aufgaben Kostenübernahmeregeln im Sinne eines Konnexitätsprinzips30. Hierzu erhalten die ihrer demokratischen Legitimation. Ein Beitrag zur Verwaltungsmodernisierung, 2009, 186 ff.; zur Praxis des Bürgerhaushalts vgl. z. B. http://www.stadt-koeln.de/1/stadtfi nanzen/buergerhaushalt/. 28 Vgl. wegweisend BVerfG v. 10.3.1998 – 1 BvR 178/97, BVerfGE 97, 332 zu Kindergartengebühren. 29 s. etwa A. Oestreicher, Die Reform der kommunalen Steuerfinanzierung, FR 2010, 965 (972 ff.). 30 Landes- oder kommunalverfassungsrechtliches Konnexitätsprinzip vgl. G. Trapp, Das Veranlassungsprinzip in der Finanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1997, 288 ff.; im Einzelnen H.-G. Henneke, in: Henneke/Pünder/Waldhoff (Hrsg.), Recht der Kommunalfinanzen, München 2006, § 4 Rz. 9 ff.; zur Stärkung des

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Kommunen Zweckzuweisungen. Damit scheint den Gemeinden auf den ersten Blick die Finanzierungsverantwortung für die übertragenen Aufgaben genommen, wobei insbesondere der Ausgleich für die Soziallasten der Kommunen als nicht ausreichend angesehen wird31. Gleichzeitig werden die Zweckzuweisungen, die außer für übertragene Aufgaben auch für die Wahrnehmung eigener Aufgaben der Kommunen gewährt werden können, zu Recht als autonomiefeindlich kritisiert32, weil sie mit staatlicher Einflussnahmemöglichkeit einhergehen. Darüber hinaus werden die Unterschiede zwischen den Kommunen durch die allgemeinen Finanzzuweisungen im Rahmen des kommunalen Finanzausgleichs stark nivelliert, der darauf abzielt, den Kommunen die für ihre Aufgaben erforderlichen Finanzmittel unabhängig von den konkreten33 Steuereinnahmen zu sichern. Interkommunale Steuerkraftunterschiede werden durch die sog. Schlüsselzuweisungen weitgehend eingeebnet. Auf diese Weise kommt es zu einer Umverteilung zwischen den Kommunen34, die den Zusammenhang zwischen kommunaler Haushaltspolitik und politischer Verantwortung für die gemeindliche Steuerpolitik grundsätzlich schwächt, auch wenn durch Ansatz fiktiver Hebesätze für Grund- und Gewerbesteuer Einnahmeunterschiede aufgrund der gemeindlichen Hebesatzpolitik nicht vollständig kompensiert werden. III. Folgerungen für das kommunale Steuersystem 1. Autonomieeigenschaften des Gemeindesteuersystems zwischen freier Einnahmengestaltung, Unmerklichkeit und Bürgerbeteiligung

Die derzeitige Reformdebatte krankt daran, dass die Forderung nach Autonomie zu pauschal erhoben wird und ohne zu trennen zwischen der von den Gemeinden erwünschten autonomen Bestimmung der Einnahmehöhe und der eher als problematisch angesehenen Übernahme politischer Verantwortung, die ebenfalls mit Autonomie verbunden ist. Einerseits wollen die Gemeinden unabhängiger werden von Bund und Ländern. Dies betrifft die Kritik, dass die Gemeinden Gesetzesänderungen des Bundes in Einkommen-/Körperschaft- und GewerbeKonnexitätsprinzips s. aktuell Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen v. 12.10.2010 VerfGH 12/09 zur Finanzierung der sog. U 3-Betreuung. 31 Kritisch insb. zu den Soziallastenansätzen H.-G. Henneke, in: Henneke/Pünder/ Waldhoff (Hrsg.), Recht der Kommunalfinanzen, München 2006, § 25 Rz. 43 ff. 32 H.-G. Henneke, in: Henneke/Pünder/Waldhoff (Hrsg.), Recht der Kommunalfinanzen, München 2006, § 25 Rz. 17 f. 33 Dabei werden bei der Ermittlung der Steuerkraftmesszahl allerdings nicht die realen Steuereinnahmen zugrundegelegt, sondern zum einen örtliche Verbrauchs- und Aufwandsteuern außer Betracht gelassen, zum anderen Grund- und Gewerbesteuer aufgrund fiktiver Hebesätze angesetzt. 34 H.-G. Henneke, in: Henneke/Pünder/Waldhoff (Hrsg.), Recht der Kommunalfinanzen, München 2006, § 25 Rz. 8.

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steuer ausgeliefert sind, die sich mittel- oder unmittelbar auf ihre Steuereinnahmen niederschlagen und gegebenenfalls durch Hebesatzanpassungen aufgefangen werden müssen, richtet sich aber primär gegen feste Finanzzuweisungen, deren Höhe von den Kommunen nicht beeinflussbar ist. Dabei haben die bisherigen und in der Reformdebatte diskutierten Gemeindesteuern durchaus unterschiedliche Autonomieeigenschaften, sowohl was ihre Flexibilität und Ergiebigkeit angeht, als auch hinsichtlich ihrer Fühlbarkeit. Die von den Kommunen erhobene Forderung, es dürfe nicht zu einer Umverteilung der Kommunalfinanzierung von der Wirtschaft auf die Bürger kommen, erweckt den Eindruck, den Kommunen gehe es in erster Linie um Steuerquellen, die für die Masse der Gemeindebürger gerade nicht sichtbar werden. Das auf Adam Smith zurückführbare Postulat der Unmerklichkeit35 steht der Zielsetzung einer stärkeren Beteiligung der Bürger an kommunalpolitischen Entscheidungen jedoch entgegen. Die unmerkliche Steuer ist gerade nicht geeignet, für den Bürger sichtbar Sach- in Fiskalpolitik, Ausgabeentscheidungen in Einnahmenotwendigkeiten zu übersetzen36. Andererseits verhindert die Unmerklichkeit von Steuern Steuerwiderstand, sei es, dass Steuern nicht hinterzogen werden, dass Bürger und Unternehmen der Besteuerung nicht durch Abwanderung ausweichen oder dass politische Auseinandersetzungen über die Haushaltsführung vermieden werden. Vielsteuersysteme sind gerade auf einen Mix von Steuereigenschaften angelegt37. Insofern wird man auch in einem kommunalen Mehrsteuersystem die Balance zwischen Fühlbarkeit und Unmerklichkeit, zwischen Einnahmestabilität und Flexibilität halten müssen. Das derzeitige kommunale Steuersystem zeigt sich insofern aber als unausgewogen. 2. Die Gewerbesteuer: Unauffällige Autonomie

Unter dem Gesichtspunkt gemeindeautonomer Anpassung der Einnahmen an den kommunalen Finanzbedarf ist die Gewerbesteuer wenig geeignet. Zwar verfügen die Gemeinden über das Hebesatzrecht. Doch die Bemessungsgrundlage der Gewerbesteuer ist nicht nur ihrerseits bundesgesetzlich geregelt, sondern unmittelbar abhängig von der bundesgesetzlich geregelten Einkommen- und Körperschaftsteuer (§ 7 Satz 1 GewStG). Darüber hinaus hängt das Gewerbesteueraufkommen stark von Entwicklungen der internationalen Steuer- und Standortpolitik ab, da unternehmerische Standortentscheidungen, sieht man von lokalen 35

J. Lang, in: Tipke/ders., Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 8 Rz. 2, 5, 8. I. Deubel, Durch mehr kommunale Selbstverwaltung aus der Krise, in: FS für J. Lang, Köln 2010, 423 (427). 37 Zum Vielsteuersystem im Kontrast zum historischen Ideal der Alleinsteuer J. Lang, in: Tipke/ders., Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 4 Rz. 94; K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, 1213 ff. 36

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Wirtschaftsunternehmen ab, nicht primär regional, sondern global getroffen werden. An erster Stelle steht die – von den Gemeinden unbeeinflussbare – Entscheidung zwischen unterschiedlichen nationalen Standorten. Erst dann wird die Ansiedelungsentscheidung innerhalb eines Landes getroffen. Die Position Deutschlands im internationalen Steuer- und Standortwettbewerb sollte auf Bundes- und nicht auf Gemeindeebene definiert werden. Die Zweigleisigkeit der Kapitalgesellschaftsbesteuerung mit einer der Körperschaftsteuer ebenbürtigen Gewerbesteuer weist den Kommunen eine Verantwortlichkeit für die Positionierung Deutschlands im internationalen Wettbewerb zu, die sie realistischer Weise nicht wahrnehmen können. Politökonomisch wird die Gewerbesteuer dennoch gerne als „Band zwischen Kommune und der ortsansässigen Wirtschaft“38 begründet. Die Gewerbesteuer begründe für die Kommunen einen Anreiz zu wirtschaftsfreundlicher Politik. Richtig an diesem Schlagwort ist, dass ein allgemeiner Steuerrechtfertigungskonnex zwischen der Bereitstellung kommunaler Infrastruktur und steuerlicher Finanzierung herstellbar ist. In diesem allgemeinen Sinne wirkt das Äquivalenzprinzip in der Rechtfertigung jeder Steuer39. Die gleichheitssatzwidrige40 Sonderbelastung der Gewerbetreibenden lässt sich auf diese Weise freilich nicht rechtfertigen. Vor dem Hintergrund des überproportional hohen Anteils der Sozialausgaben in den kommunalen Haushalten41 sollte es der Gewerbesteuer als speziellen Bandes auch gar nicht bedürfen. Die Ansiedelung gewerblicher Unternehmen, auch durch Ausweisung von Gewerbegebieten, liegt im ureigensten Interesse der Kommunen, weil sich auf diese Weise die Anzahl der Leistungsempfänger reduzieren und damit Einfluss auf die Ausgabenseite nehmen lässt. Dies sollte ausreichen, um die Zustimmung zu wirtschaftsfreundlichen Infrastrukturentscheidungen zu erwirken, setzt allerdings voraus, dass die Zusammenhänge transparent gemacht werden. Es mag kommunalpolitisch einfacher sein, den Ausweis eines neuen Gewerbegebiets mit dem Hinweis darauf durchzusetzen, dass die ortsansässigen Gewerbebetriebe „hierfür bezahlen“ als darzulegen, dass die auf diese Weise angesiedelten Arbeitsplätze die Kommunalkasse entlasten. Aus demokratietheoretischer Sicht ist die Gewerbesteuer kein geeignetes Instrument, eine breitere Beteiligung der Bevölkerung an kommunalpolitischen Fragestellungen zu induzieren. Die Höhe der Gewerbesteuer dürfte in Wahlen zum 38 Vgl. z. B. Deutscher Städtetag, Die Gewerbesteuer – eine gute Gemeindesteuer. Fakten und Analysen, Heft 94 (2010), 25; V. Sarrazin, in: Lenski/Steinberg, § 1 Rz. 7: „Draht der Wirtschaft zur Gemeinde“. 39 Dazu ausführlich K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I, 2. Aufl., Köln 2000, 228 ff.; rechtshistorisch K. Vogel, Rechtfertigung der Steuern: Eine vergessene Vorfrage, Der Staat 1986, 481 ff.; ferner J. Hey, in: FS für J. Lang, Vom Nutzen des Nutzenprinzips für die Gestaltung der Steuerrechtsordnung, Köln 2010, 133 (142 f.). 40 Entgegen BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 ff. 41 S. Anton/D. Diemert, Der Städtetag 2010, 11 (16).

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Gemeinderat jedenfalls keine unmittelbare Rolle spielen. Als Wählergruppe sind die Gewerbetreibenden, so sie überhaupt in der Betriebsgemeinde wahlberechtigt sind, von verschwindend geringer Bedeutung42. Die Gewerbetreibenden, auf deren Schultern die Kommunalfinanzierung ruht, haben damit keine Möglichkeit, ihre Interessen in demokratischen Verfahren durchzusetzen. Sie stimmen stattdessen „mit den Füßen“ ab. Ein ungünstiges Verhältnis zwischen kommunalen Infrastrukturleistungen und der Höhe der Gewerbesteuer beeinflusst die unternehmerische Standortentscheidung. Dabei wirkt die Gewerbesteuer, gerade weil sie als Haupteinnahmequelle der Gemeinden in erheblichem Umfang zur Finanzierung nicht wirtschaftsbezogener Ausgaben herangezogen werden muss, stark verzerrend. Die Ansiedlung von Gewerbebetrieben in Umlandgemeinden von Großstädten ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass diese zu deutlich niedrigeren Gewerbesteuerhebesätzen attraktive Infrastrukturangebote machen, weil das Gewerbesteueraufkommen in geringerem Umfang vom Sozialhaushalt in Anspruch genommen wird. Auch wenn das Wählerpotential der Gewerbetreibenden und damit der Einfluss auf die demokratische Legitimierung der Kommunalparlamente gering ist, begründet das Abwanderungsrisiko ein erhebliches Droh- und Erpressungspotential und damit die Möglichkeit der Einflussnahme auf einzelne politische Entscheidungen. Problematisch ist die fehlende Transparenz derartiger Prozesse. Wirtschaftsfreundliche Kommunalpolitik wird nicht zum Wahlkampfthema, sondern Gegenstand von Absprachen im Hinterzimmer. Dies mag aus der Sicht der betroffenen Gewerbebetriebe durchaus effektiv sein, effektiver als bei Abstimmung durch das gesamte Gemeindewahlvolk, entspricht indes nicht der Vorstellung von einer breiten Bürgerbeteiligung. Auch wenn die Gewerbesteuer – aus Sicht von Kommunalpolitikern möglicherweise erwünscht – „geräuschlose“ Einnahmen verspricht, bleibt ein zentraler Makel ihre Volatilität. Dies haben die konjunkturellen Einbrüche in den Jahren 2002/03 und 2009/10 überdeutlich gemacht43. Dies lässt die Gemeinden indes nicht nach einem Ersatz für die Gewerbesteuer suchen, sondern verleitet sie zu der Forderung nach Verstetigung durch weitere Verbreiterungen der Bemessungs42 Dies gilt umso mehr, als von den ohnehin schon wenigen Gewerbetreibenden wegen des Freibetrages in Höhe von 24.500 A p.a. (§ 11 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 GewStG) das Gros keine Gewerbesteuer zahlt. 43 Deutscher Städtetag, Die Gewerbesteuer – eine gute Gemeindesteuer. Fakten und Analysen, Heft 94 (2010), 13. Dabei macht die Gewerbesteuer – trotz der Hinzurechnungen – im Wesentlichen die konjunkturellen Schwankungen der Körperschaftsteuer mit, vgl. C. Dorenkamp, Die Mär von der Gewerbesteuerverstetigung, in: FS für J. Lang, Köln 2010, 781 (794). Unseriös ist es, die vermeintlich größere Stabilität der Gewerbesteuer an den Jahren 2001/02 festzumachen (s. aber M. Kuban, FR 2010, 978 [979]). Der damalige Einbruch der Körperschaftsteuer war in erster Linie der Umstellung des Körperschaftsteuersystems geschuldet, und nicht der konjunkturellen Entwicklung.

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grundlage, etwa durch den Ausbau der Hinzurechnungstatbestände des § 8 Nr. 1 GewStG. Die von kommunalpolitischer Seite erhobene Forderung nach Verstetigung der Gewerbesteuer wird insbesondere mit den Erfordernissen der Finanzierung des Sozialhaushalts begründet. Freilich ist – gerade vor dem Hintergrund der vom Bundesverfassungsgericht bemühten äquivalenztheoretischen Rechtfertigung44 der Gewerbesteuer – nicht erklärlich, warum die Gruppe der Gewerbetreibenden einen überproportional hohen Anteil zur Finanzierung der Sozialausgaben beitragen soll, während andere gleich leistungsfähige Steuerpflichtige nur über den Einkommensteueranteil an der innerkommunalen Umverteilung teilhaben. Der Versuch, bestimmten Steuereinnahmen konkrete Ausgaben gegenüberzustellen, ist im Übrigen nicht mit dem Non-Affektationsprinzip vereinbar, das auch für den Kommunalhaushalt gilt. Der Gemeindehaushalt ist nach dem Grundsatz der Gesamtdeckung als Einheit zu sehen45, lediglich in Vermögens- und Verwaltungshaushalt aufgeteilt. Deshalb ist nicht einsichtig, warum gerade das Gewerbesteueraufkommen mit Hinweis auf das besondere Stetigkeitserfordernis im Bereich der Sozialausgaben durch ertragsunabhängige Elemente verstetigt werden soll. Die Gewerbesteuer ist im Gegenteil zur Deckung des Sozialhaushalts besonders ungeeignet, weil sie sich im Unterschied zu den antizyklischen Sozialausgaben prozyklisch entwickelt. Ertragsunabhängige Elemente in der Gewerbesteuer werden auch nicht durch den geringen Anteil ertragsunabhängiger Steuern am deutschen Gesamtsteueraufkommen legitimiert. Es mag sein, dass das deutsche Steuersystem (zu) ertragslastig ist. Trotzdem ist der Einbau ertragsunabhängiger Besteuerungselemente in Ertragsteuern verfehlt. Steuern auf das Vermögen und Steuern auf das Einkommen weisen ganz unterschiedliche Strukturen auf. Man denke nur an die Steuersatzgestaltung. Ertragsunabhängige Bemessungsgrundlagenelemente in Ertragsteuern führen daher regelmäßig zu einer Übermaßbesteuerung. Wenn die Gemeinden die Gewerbesteuer trotz der dargestellten Nachteile verteidigen, dann liegt dies vorrangig am Wachstumspotential des Gewerbesteueraufkommens46. Wer möchte schon eine Steuer aufgeben, deren Aufkommen sich zwischen 1995 und 2008 annähernd verdoppelt hat47. Dazu ist die Gewerbesteuer aus Sicht der Kommunen bequem, weil sie eben gerade nicht dazu zwingt, die finanziellen Auswirkungen der Kommunalpolitik einer breiten Wählerklientel plausibel zu machen.

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BVerfG v. 15.1.2008 – 1 BvL 2/04, BVerfGE 120, 1 (37 ff.). C. Gröpl, in: Henneke/Pünder/Waldhoff (Hrsg.), Recht der Kommunalfinanzen, München 2006, § 29 Rz. 62. 46 M. Kuban, Editorial, Deutscher Städtetag 2010, 1. 47 Deutscher Städtetag, Die Gewerbesteuer – eine gute Gemeindesteuer. Fakten und Analysen, Heft 94 (2010), 12 f. 45

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Johanna Hey 3. Die Grundsteuer: Überwälzte Autonomie mit verfassungsrechtlichem Reformbedarf

Am wenigsten umstritten scheint als Kommunalsteuer die Grundsteuer. Dies dürfte nicht zuletzt ihrer langen Tradition als lokale Steuer zuzuschreiben sein, lässt sich aber durchaus auch finanzwissenschaftlich begründen. Die Grundsteuer genügt in besonderem Maße den allokationstheoretischen Anforderungen an die kommunale Finanzierung der Bereitstellung lokaler öffentlicher Güter48. Sie wird als „wichtiges Bindeglied im kommunalpolitischen Beziehungsgefüge zwischen Grundbesitzern und Gemeinde“49 gesehen. Die Grundsteuer löst kaum interkommunalen Steuerwettbewerb aus; weder kann ihr ausgewichen werden, noch ist sie hinterziehungsanfällig. Ob die Grundsteuer wirklich in der Lage ist zu kompensieren50, dass die Gewerbesteuer nur einen kleinen Ausschnitt der Gemeindewähler trifft, ist indes fraglich. Zwar belastet die Grundsteuer nicht nur die Eigentümer, sondern durch die Überwälzung in den Mieten auch die Mieter und damit letztlich alle Gemeindeeinwohner. Freilich dürfte sie hier kaum merklich werden, weil die Grundsteuer als ein Kostenbestandteil unter vielen anderen in den Mietnebenkosten weitgehend untergeht. Zudem verhindert die verhältnismäßig geringe Höhe der Grundsteuer bisher, dass sie zu einem Politikum wird. Dies könnte sich indes bald ändern, wenn der Gesetzgeber Konsequenzen aus dem Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 30. 6. 2010 zieht51. Wenig verständlich hat der Senat die der Grundsteuer zugrundegelegten veralteten Einheitswerte für Zeiträume vor 2007 für noch verfassungskonform angesehen52, immerhin aber für Zeiträume danach unmissverständlich eine Reform angemahnt. Es bleibt abzuwarten, ob der Gesetzgeber von sich aus aktiv wird oder einen Richterspruch aus Karlsruhe abwartet. Ein derart abwartendes Verhalten wäre vermutlich relativ gefahrlos, da – unabhängig davon, dass damit für die Vergangenheit ein evident verfassungswidriger Zustand konserviert würde – davon auszugehen ist, dass das Bundesverfassungsgericht im Interesse der Verlässlichkeit der Finanz- und Haushaltsplanung53 der Kommunen von einem Rechtsfolgeausspruch mit ex tunc-Wir48 Wiss. Beirat beim BMF, Gutachten zur Einheitsbewertung in der Bundesrepublik Deutschland, BMF-Schriftenreihe, Heft 41, Bonn 1989, 36. 49 K.-H. Hansmeyer, Grundsteuer, Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. III, Stuttgart 1981, 736. 50 In diese Richtung D. Brümmerhoff, Finanzwissenschaft, 9. Aufl., München 2007, 534. 51 BFH v. 30.6.2010 – II R 60/08, BStBl II 2010, 897. 52 Die unrealistischen Wertansätze werden schon seit geraumer Zeit für verfassungsrechtlich nicht mehr haltbar erachtet, s. R. Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 13 Rz. 16 ff., 25, 203. 53 Zur Kritik an diesem vom Bundesverfassungsgericht selbst in Fällen evidenter Verfassungswidrigkeit herangezogenen Erwägungsgrund vgl. J. Hey, in: FS für W. Spindler, Köln 2011.

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kung absehen würde. Letztlich verschiebt dies die notwendige Reform jedoch nur um einige Jahre auf der Zeitachse. Unabhängig davon, ob die Reform aufkommensneutral durchgeführt oder zu einer (moderaten) Erhöhung des Aufkommens aus der Grundsteuer genutzt wird, sind Belastungsverschiebungen zwischen den Grundsteuerschuldnern unvermeidlich, wenn die derzeitigen Bewertungsungleichheiten beseitigt werden. Damit mag es für manche Grundbesitzer zu einer Entlastung kommen, mehrheitlich jedoch aufgrund der unrealistisch niedrigen Bewertung auf der Grundlage der Einheitswerte von 1964 bzw. 1935 zu einer Erhöhung, wenn die Gemeinden nicht mit einer signifikanten Senkung der Hebesätze reagieren. Aufgrund der Weitergabe von Grundsteuererhöhungen in den Mietnebenkosten dürfte die Grundsteuer damit wieder in das Bewusstsein sämtlicher Gemeindeeinwohner dringen54. Allerdings lässt sich die Verantwortung für die Steuererhöhung auf den Bundesgesetzgeber abwälzen, da die Reform gestützt auf Art. 105 Abs. 2, 3. Alt. GG i. V. m. Art. 125a Abs. 2 S. 1 GG vom Bund verantwortet würde. Anpassungen des Hebesatzes sind auch bei einer dem Grunde nach aufkommensneutralen Durchführung der Reform nicht in der Lage, vollständig zwischen Reformgewinnern und Reformverlierern zu vermitteln. Eine breite Diskussion über die gemeindliche Hebesatzpolitik ist daher nicht zu erwarten, solange die notwendige Reform der Bewertung nicht dazu genutzt wird, den Anteil der Grundsteuer an den kommunalen Steuereinnahmen signifikant zu erhöhen. Eine deutliche Erhöhung der Grundsteuer scheitert indes an den allfälligen Einwänden gegen Vermögensteuern55. Auch zukünftig wird der Grundsteuer damit eher die Rolle eines stabilisierenden Elements im gemeindlichen Steuersystem zukommen, ohne dass sie als Instrument zur stärkeren Bürgerbeteiligung taugt. 4. Vom Einkommensteueranteil zur Bürgersteuer: Aufgedrängte Autonomie?

Allein der kommunale Zuschlag auf die Einkommensteuer verspricht dauerhaft eine breite Beteiligung der Gemeindewähler an der politischen Diskussion über die kommunale Ausgabenpolitik56, denn nur der Zuschlag auf die Einkommensteuer erreicht alle (einkommensteuerpflichtigen) Gemeindeeinwohner gleichermaßen. Ein kommunaler Zuschlag zur Einkommensteuer macht die kommunale Steuerpolitik in Kommunalwahlkämpfen zu einem für den Wähler spürbaren Surrogat der Sachpolitik. 54 I. Deubel, Durch mehr kommunale Selbstverwaltung aus der Krise, in: FS für J. Lang, Köln 2010, 423 (429). 55 R. Seer, in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 13 Rz. 202 ff.; K. Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. 2, 2. Aufl., Köln 2003, 965. 56 Ebenso I. Deubel, Durch mehr kommunale Selbstverwaltung aus der Krise, in: FS für J. Lang, Köln 2010, 423 (429).

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Daher ist der offene Ausweis des heute den Kommunen verdeckt zugewiesenen Anteils an der Einkommensteuer (Art. 106 Abs. 5 GG) verbunden mit einem kommunalen Hebesatzrecht ein zentraler Baustein der derzeitigen Reformdiskussion. Bereits 2003/04 wurde ein derartiges Zuschlagsrecht angeregt, das nunmehr auch dem sog. Prüfmodell57 der Gemeindefinanzkommission zugrundeliegt. Die in der Gemeindefinanzkommission zugrundegelegte Umrechnung des heutigen Anteils der Kommunen am Einkommensteueraufkommen in Höhe von 15% in einen Hebesatz auf die Einkommensteuerschuld führt – bei entsprechend nach unten verschobenem Einkommensteuertarif und unterstellter Aufkommensneutralität – zu einem durchschnittlichen Hebesatz von 17,65%. Es handelt sich also nicht um eine marginale Größe, wobei unter Transparenzgesichtspunkten die Anknüpfung an die Einkommensteuerschuld ungünstig ist. Wird schon dem linearprogressiven Tarif mangelnde Transparenz vorgeworfen58, so gilt dies umso mehr für Zuschläge zu einer anhand eines linear-progressiven Tarifs ermittelten Steuerschuld. Unabhängig von der konkreten Bemessung sind Hebesätze dieser Größenordnung jedoch in einem ganz anderen Maße geeignet, die Aufmerksamkeit des Wahlvolkes für die kommunale Haushaltspolitik zu wecken, als dies ein „Bürgerhaushalt“ oder die Grundsteuer kann. Dass es damit in Maßen auch zu einem Wettbewerb zwischen den Kommunen kommt, ist ein durchaus erwünschter Effekt, wobei die Gefahr, dass die Hebesatzunterschiede Wanderbewegungen in großem Maß auslösen, möglicherweise überschätzt wird59. Die Entscheidung für den Wohnsitz ist von so vielen Faktoren abhängig, dass ein Hebesatzgefälle wohl nur eines unter vielen Entscheidungskriterien sein dürfte. Nicht von der Hand zu weisen ist freilich das von den Großstadtgemeinden befürchtete „Speckgürtelphänomen“60, zumal sich schon heute beobachten lässt, dass gerade Steuerpflichtige mit höheren Einkommen unter Nutzung der großstädtischen Infrastruktur bevorzugt im Umland wohnen. Der grundsätzlich zu begrüßende Wettbewerb zwischen den Gemeinden ist durch die ungleichen Aufgabenlasten strukturell unterschiedlicher Gemeinden verfälscht. Begegnen lässt sich dem Problem mit der von der Kommission Steuergesetzbuch der Stiftung Marktwirtschaft vorgeschlagenen Beteiligung der Betriebsstättenkommunen an der

57 Hierzu im Einzelnen Zwischenbericht Gemeindefinanzkommission AG „Kommunalsteuern“, s. http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_53524/DE/Wirtschaft__ und__Verwaltung/Finanz__und__Wirtschaftspolitik/Foederale__Finanzbeziehungen/Ko mmunalfinanzen/20100708-Laender__3,templateId=raw,property=publicationFile.pdf. 58 Vgl. etwa J. Lang, in: Tipke/ders., Steuerrecht, 20. Aufl., Köln 2010, § 9 Rz. 803. 59 G. Otten, Die Grundmodelle der Alternativen zur Gewerbesteuer: Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und Europarecht, 150. 60 Vgl. dazu G. Otten, Die Grundmodelle der Alternativen zur Gewerbesteuer: Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und Europarecht, 148 ff.

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Lohnsteuer61. Auf diese Weise erhalten die Betriebsstättenkommunen, wenn auch nicht mit Hebesatz bewehrt, einen Anreiz zur Ansiedlung von Arbeitsplätzen. Gleichzeitig kommt es für die Nichtselbständigen zu einer Aufkommensaufteilung zwischen Wohnsitz- und Arbeitsortgemeinde. Würde man das Aufkommen aus dem Kommunalzuschlag zur Einkommensteuer der Freiberufler ebenfalls (voll oder teilweise) der Betriebskommune zuweisen, würde sich die Situation der Großstadtgemeinden gegenüber der heutigen Rechtslage weiter verbessern. Ob Rechtsanwälte, Ärzte etc. mit ihren Kanzlei- und Praxissitzen bei entsprechenden Hebesatzdifferenzen tatsächlich in die Umlandgemeinden abwandern würden, ist mehr als fraglich. 5. Kommunale Verbrauch- und Aufwandsteuern: Finanzinstrument oder Lenkungsspielwiese?

Die größten Spielräume der Kommunen bestehen derzeit auf dem Gebiet der kommunalen Verbrauch- und Aufwandsteuern bei der Ausübung der in den Landesverfassungen62 auf die Kommunen delegierten Kompetenz des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG. Hier erstreckt sich die Zuständigkeit der Gemeinden nicht nur auf die Steuersatzgestaltung, sondern auch auf die Auswahl der Steuergegenstände und die Ausgestaltung der Bemessungsgrundlagen, soweit das Gleichartigkeitsverbot mit bundesgesetzlich geregelten Steuern eingehalten wird. Und hier entfalten die Kommunen gerade in jüngerer Zeit erhebliche Kreativität, indem sie immer neue Besteuerungsgegenstände entdecken. Zwar handelt es sich um Bagatellsteuern, die belastungs- und aufkommensmäßig in der Regel nicht nennenswert ins Gewicht fallen. Dies ändert freilich nichts daran, dass sie unter dem Gesichtspunkt der Allgemeinheit und Gleichmäßigkeit zweifelhaft sind63. Sie erreichen das kommunale Wahlvolk nur ausschnittsweise: Die Hundebesitzer, die Zweitwohnungsinhaber64 oder Solariumsbesucher65. Unter Leistungsfähigkeitsgesichtspunkten ist die Sonderbelastung nicht zu rechtfertigen. Deshalb werden regelmäßig Lenkungsintentionen bemüht. Deren Verfol61 Dazu ausführlich J. Hey, Gewerbesteuer: Reformieren oder ersetzen – aber wie?, in: Reform der Gemeindesteuern 2006, Loccumer Protokolle 59/05, Reform der Gemeindesteuern, 79 ff. 62 s. z. B. Art 79 LV NRW i.V. m. § 1 Abs. 1 KAG NRW; verfassungsrechtlich zulässig vgl. BVerfG v. 6.12.1983 – 2 BvR 1275/79, BVerfGE 65, 325 (343); BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, BVerfGE 98, 106 (123). 63 K. Tipke, Die ungleichmäßige Besteuerung durch kommunale Verbrauch- und Aufwandsteuern, DÖV 1995, 1027. 64 Zurückzuführen auf H.-W. Bayer, den „Erfinder der Zweitwohnungsteuer“ für die Stadt Überlingen. Zur mittlerweile weiten Verbreitung der Zweitwohnungsteuer s. C. Zieglmeier, Die Zweitwohnungsteuer in der Praxis, Stuttgart 2009. 65 Geplante und vom Gemeinderat beschlossene Erweiterung der Vergnügungsteuer der Stadt Essen, vgl. www.focus.de v. 22.9.2010.

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gung ist, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Kasseler Verpackungsteuer66 geurteilt hat, grundsätzlich von der Steuergesetzgebungskompetenz des Art. 105 Abs. 2a GG mit umfasst. Allerdings darf sich die Kommune mit der steuerlichen Lenkung nicht in Widerspruch zu den Zielen und Instrumenten des Sachgesetzgebers setzen. Der Stadt Kassel war es damit verwehrt, ihre eigene (steuerliche) Abfallpolitik zu betreiben. Hebt man auf die hier erörterte Mittlerfunktion kommunaler Steuern für kommunale Sachpolitik ab, dann müsste man indes noch enger eine Beschränkung auf Materien fordern, für die die Kommune über die Sachkompetenz verfügt. Nur dann lässt sich die Verbrauch- und Aufwandsteuer als Instrument zur Verdeutlichung der politischen Anliegen der Kommune begreifen. Denkbar sind etwa städteplanerische oder ordnungsrechtliche Anliegen. So kann ein erhöhter Hundesteuersatz für sog. Kampfhunde mit den Gefahrtierverordnungen67 korrespondieren68. Weniger einleuchtend ist unter diesem Gesichtspunkt die „Solariumsteuer“ als Sondertatbestand gemeindlicher Vergnügungsteuern. Für die Gesundheitspolitik fehlt den Kommunen die Kompetenz. Als Beitrag zur kommunalen Baunutzungsplanung ist sie zu ungezielt, zumal die Kommunen es über das Bauplanungsrecht in der Hand haben, die Ansiedelung von Solarien zu steuern. Kein Instrument zur Verbesserung der politischen Beteiligung der Bürger ist etwa auch die Kölner Kulturförderabgabe in Höhe von 5% der im Kölner Stadtgebiet entrichteten Beherbungsentgelte69. Steuerträger sind (auswärtige) Übernachtungsgäste in Köln. Das Aufkommen ist für die Bereiche Kultur, Bildung und Tourismus designiert. Abgesehen davon, dass die Kulturförderabgabe der Umsatzsteuer gleichartig und damit von der Kompetenz des Art. 105 Abs. 2a GG i.V. m. Art. 79 LV NRW nicht gedeckt ist, richtet sie sich gerade nicht an das Wahlvolk, das über die kommunale Kulturpolitik zu entscheiden hat. Dass die Abgabe gleichwohl entscheidungswirksam ist, zeigt sich an den Reaktionen der Hotelbranche und Veranstaltungsanbietern, die damit drohen, Köln als Veranstaltungsort zukünftig zu meiden, zumal das Rheinland genügend Alternativen bietet70. Aus steuersystematischer Sicht sollte auf örtliche spezielle Verbrauchs- und Aufwandsteuern neben der Umsatzsteuer als allgemeiner Verbrauchsteuer ganz verzichtet werden. Sie sind rational nicht begründbar. In ihrer Absurdität stehen sie in keinem Verhältnis zu den mit ihnen erzielbaren Steuereinnahmen. 66

BVerfG v. 7.5.1998 – 2 BvR 1991/95, BVerfGE 98, 106 (118 f.). Zu deren Rahmenbedingungen aus ordnungsrechtlicher Sicht vgl. BVerwG v. 3.7.2002 – 6 CN 8/01, BVerwGE 116, 347. 68 Als Lenkungsteuer gebilligt durch BVerwG v. 9.1.2000 – 11 C 8/99, BVerwGE 110, 265. Vgl. auch Scholz/Apel, Hilft die Hundesteuer das Problem „Kampfhund“ zu lösen?, in: Deutscher Städtetag 2000, 22. 69 ABl. StK 2010, 843. 70 Kölner Stadtanzeiger vom 17.11.2010: Stadt wartet bei Bettensteuer ab. 67

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6. Beteiligung an der Umsatzsteuer: Verstetigung der kommunalen Einnahmen ohne Autonomie

Bereits als Ersatz für den Wegfall der Gewerbekapitalsteuer wurden die Gemeinden am Aufkommen aus der Umsatzsteuer beteiligt, Art. 106 Abs. 5a GG71. Die Umsatzsteuer wird auch in der aktuellen Diskussion als Ausgleichsmasse zur Kompensation von Einnahmeausfällen aufgrund einer Umgestaltung der Gewerbesteuer in die Überlegungen einbezogen. Eine Verlagerung der Kommunalfinanzierung von den direkten Steuern auf Einkommen und Vermögen hin zu den indirekten Steuern auf den Konsum würde den allgemeinen Trend72 zu einer Stärkung der Besteuerung des Konsums auf Kommunalebene nachvollziehen. Bisher ist der Anteil der indirekten Steuern am Gesamtsteueraufkommen der Kommunen verglichen mit der Rolle der indirekten Steuern für den Haushalt des Bundes und der Länder mit nur rund 5% (3,25 Mrd. Euro)73 sehr gering. Die Kommunen verwahren sich dennoch kategorisch gegen eine stärkere Beteiligung am Umsatzsteueraufkommen, was unter dem Gesichtspunkt der erwünschten Einnahmeverstetigung wenig nachvollziehbar und wohl eher dem Umstand geschuldet ist, dass die Umsatzsteuer weniger attraktive Steigerungsraten als die Gewerbesteuer verspricht. Offizieller Einwand ist, dass es auf diese Weise zu einer unerwünschten Verlagerung der Steuerbelastung von den Unternehmen zum Bürger kommt74, noch dazu ohne Hebesatzrecht der Kommunen. Die Umsatzsteuerzuweisung mache die Kommunen zudem zu passiven Empfängern der vom Bund festgesetzten Anteile. Indes passt die Proklamation des Autonomiewunsches als Hauptargument gegen eine Ausweitung des Umsatzsteueranteils nicht recht zur Beschwer über die Fremdbestimmung der Aufgaben. Die Kommunen müssten in der derzeitigen Situation froh sein, zur Finanzierung der ihnen übertragenen Aufgaben eine stetige Finanzierungsquelle zu erhalten, die sie politisch nicht verantworten müssen. IV. Ausblick Auch die Gemeindefinanzkommission 2010 ist zum Scheitern verurteilt. Anders als bei der Reformdiskussion der Jahre 2002/03 begründen nicht mehr die administrativen Fragen den Widerstand, sondern die Ausgabenseite. Wird die Reform der Finanzierungsseite jedoch verknüpft mit einer Grundsatzkritik an der 71

Eingeführt durch Gesetz v. 3.11.1995, BGBl. I, 1492. Das Umsatzsteueraufkommen (177 Mrd. Euro) hat das Aufkommen der Einkommensteuer (186 Mrd. Euro) nahezu eingeholt, hinzu kommen die zum Teil ebenfalls sehr aufkommensstarken besonderen Verbrauchsteuern vgl. zur Entwicklung BMF Steuerspirale 2009. 73 Vgl. Gemeindefinanzbericht 2010, Der Städtetag 2010, 11. 74 Vgl. Gemeindefinanzbericht 2010, Der Städtetag 2010, 33. 72

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Aufgabenzuweisung im Mehrebenenstaat, entzieht dies den aktuellen Reformbemühungen den Boden, ohne etwas an der Reformbedürftigkeit zu ändern. Es bleibt der Befund: Das heutige Finanzierungssystem passt ebenso wenig zum Status quo der Aufgabenverteilung wie die Reformmodelle. Indes bedürfte es derart fundamentaler Veränderungen der Aufgabenverteilung, um diese an die heutige Finanzierungsstruktur bzw. an die diskutierten Reformmodelle der Gemeindefinanzierung anzupassen, dass die ohnehin schon schwierige Reform der Gemeindefinanzen in eine Pattsituation manövriert wird, aus der es kein Entkommen zu geben scheint.

Entstehensgrund des Verfassungsstaates Von Paul Kirchhof I. Verfassungsrecht und kulturelle Bindung Klaus Stern hat in seinen jüngsten Publikationen1 erneut hervorgehoben, dass das Recht zumindest seit dem 16. Jahrhundert den Menschen in seiner Einzigartigkeit in den Mittelpunkt seines Regelns rückt. Der Mensch gestaltet sein Leben kraft Vernunftbegabung und eigener Einsicht selbst. Er ist allein Rechtssubjekt, Träger von Rechten und Pflichten, während die übrigen Lebewesen nur Rechtsobjekte sind. Damit habe die moderne Rechtsordnung ein vorausgehendes Denken überwunden, das dem Menschen nur als Glied der Gemeinschaft Rechte und Pflichten zuspricht, den Verband als das Primäre, das Individuum als das Sekundäre gesehen habe2. Die Personenhaftigkeit verleihe dem Menschen eine Eigenwertigkeit, gebe ihm eine Würde, die unabdingbarer Bestandteil der menschlichen Natur sei, als überpositives Recht positiviert werde, eine philosophisch oder theologisch begründete Kategorie zu einem Rechtswert mache. Diese Grundentscheidung sagt „zugleich etwas über das Thema Mensch und Staat aus“ 3. „Die gesamte Rechtsordnung muss von dieser Wertentscheidung durchdrungen sein“ 4. Das „Menschenbild“ des würdebegabten, selbstbestimmten, seine Umwelt gestaltenden Menschen gehe „einher mit einer Staatsauffassung, nach der der Staat menschenbezogen gestaltet und der Mensch gemeinschaftsbezogen gesehen wird“ 5. Die Geschichte der grundlegenden Individual-

1 Klaus Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, HStR Bd. IX, 3. Aufl., 2011, § 184 i. E.; ders., Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, HStR Bd. IX, 3. Aufl., 2011, § 185 i. E.; Klaus Stern/Florian Becker, GrundrechteKommentar, 2010, Einleitung, Rn. 1 ff.; dies., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, dort. § 116, zu Schule und Bildung, § 117, zu Kunst und Wissenschaft, § 118, zu Glauben und Gewissen, § 119, zu Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. 2 Insbesondere: HStR, Bd. IX, § 184, Rn. 2 ff. 3 HStR, Bd. IX, § 184, Rn. 7. 4 A. a. O. 5 A. a. O., Rn. 8, in Anschluss an BVerfGE 4, 7 (16) – Investitionshilfe; 6, 389 (422) – Homosexuellen-Urteil; 12, 45 (51) – Wehrpflichtgesetz; 65, 1 (44) – Volkszählung.

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rechte sei vor allem eine Geschichte, die zum „grundrechtsdurchdrungenen Verfassungsstaat“ führe, sei ein Stück nationaler Identifikation6. Andererseits sprechen wir den Menschenrechten universale Geltung zu. Sie sollen in „westlichen“ Ländern mit ihrer kulturellen, religiösen, zivilisatorischen und rechtlichen Tradition gelten, ebenso aber in anderen Rechtskreisen, insbesondere den islamischen, afrikanischen und asiatischen Ländern mit ihrer eher gemeinschafts- denn individualorientierten Werthaltung7. Dieser Geltungsanspruch universaler Menschenrechte ohne ein universelles, kulturell fundiertes Begründungsfundament erscheint ein wagemutiges Experiment. Walter Kasper8 berichtet, dass die Menschenrechte in den Vereinten Nationen 1948 beschlossen worden sind, „unter der Voraussetzung, dass keiner fragt warum“. Jacques Maritain9 erinnert sich, dass während einer der Sitzungen jemand erstaunt gewesen sei, dass enge Anhänger gegenläufiger Ideologien über die Abfassung der Liste dieser Rechte zu einer Übereinstimmung gelangt seien, er dann aber die Erklärung gehört habe: „Ja, . . . wir sind mit diesen Rechten einverstanden, vorausgesetzt man verlangt von uns nicht, sie zu begründen“10. Diese Garantie universaler Menschenrechte ohne Begründung, vielleicht sogar ohne Begründbarkeit schwächt den Geltungsanspruch dieser Rechte, gefährdet aber vor allem auch die Freiheitsrechte, die in der Sicherheit einer gemeinsamen Kultur und der daraus erwachsenden inneren Bindung der Freiheitsberechtigten entwickelt worden sind, nun aber in der Offenheit und Gegenläufigkeit unterschiedlicher Kulturen wahrgenommen werden sollen. Ob jedoch ein Verfassungsrecht und insbesondere eine freiheitliche Demokratie ohne gemeinsame kulturelle Bindung gelingen kann, erscheint durchaus fraglich. Allein die Bindung an das positive Recht schafft in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht den Zusammenhalt, der aus kultureller Gemeinsamkeit erwächst. Wenn das Freiheitsangebot, das die Freiheitsrechte unterbreiten, von den Berechtigten nicht hinreichend angenommen wird, verspielen die Freiheitsberechtigten ihre eigene Zukunft. Das Angebot von Berufs- und Eigentümerfreiheit erwartet, dass die Menschen aus sich heraus – dank kultureller Bindung – sich am Erwerbsleben beteiligen und ihr Eigenes pflegen. Das demokratische Prinzip setzt voraus, dass die Bürger von sich aus am Gemeinschaftsleben teilnehmen, sich unterrichten und Urteilskraft entwickeln, ihre Entscheidungen bei der Wahl zur Wirkung bringen. Der Kulturstaat baut darauf, dass Menschen sich wissenschaftlich für die Erkenntnis der Wahrheit einsetzen, künstlerisch immer wieder das 6

HStR, Bd. IX, a. a. O., § 184, Rn. 10. Klaus Stern, a. a. O., HStR, Bd. IX, § 124, Rn. 65. 8 Walter Kasper, Die theologische Begründung der Menschenrechte, in: Festschrift für Paul Mikat, 1989, S. 99 (100). 9 Jacques Maritain, El hombre y el Estado, 1962, S. 94. 10 Dazu Klaus Stern, a. a. O., § 184, Rn. 66. 7

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Schöne in Form und Sprache zum Ausdruck bringen, religiös die Frage stellen, warum aus dem Nichts ein Etwas, aus dem Etwas ein Mensch, aus dem Menschen eine Kultur entsteht, die nach dem Ursprung und Ziel menschlicher Existenz und der Welt sucht. Und wenn die Verfassung die Freiheit zur Ehe und zur Familie – zum Kind – anbietet, die jungen Menschen dieses Angebot aber weniger annehmen und die Erwerbstätigkeit der Familie vorziehen, so gefährden sie die Zukunft der Rechtsgemeinschaft. Wenn der wirtschaftliche Markt und Wettbewerb dem Prinzip der Gewinnmaximierung folgt, der Einzelne sich also um Steigerung von Umsatz und Gewinn ohne Haltepunkt bemüht, droht für diesen Lebensbereich eine Maßstabslosigkeit und damit eine Maßlosigkeit. Moderne Erscheinungsformen des Finanzmarktes, in dem beide Vertragsparteien den Vertragsgegenstand nicht kennen und deshalb nicht mehr rational tauschen, sondern entgeltlich zukünftige, noch unbekannte Ertragschancen und Gewinne erwerben, Hoffnungen kaufen oder sogar gänzlich auf Spiel und Wette setzten, belegen die Maßstabslosigkeit und damit die Maßlosigkeit dieses Erwerbs und drohen damit das System von Privateigentum und Berufsfreiheit in Markt und Wettbewerb zu gefährden.11 Wie sehr der Universalitätsanspruch der Menschenrechte eine gemeinsame Friedenskultur und eine gemeinsame Achtung der individuellen Menschenwürde voraussetzt, zeigen vor allem Erscheinungen des modernen Terrorismus. Wenn der Angreifer zum Suizid bereit ist, versagt das Recht. Rechtliche Sanktionen – selbst die Todesstrafe – beeindrucken denjenigen nicht, der um des Angriffs willen zum Tode bereit ist. Deswegen lässt sich das Konzept der Verfassungsstaaten, Frieden, individuelle Existenz und Würde für jedermann zu sichern, nur verwirklichen, wenn die rechtsverbindliche Garantie der Menschenrechte auch das Entstehen von deren kultureller Grundlage vermittelt. Menschenrechte sind Ausdruck einer gewachsenen Rechtskultur. Werden sie auf andere Kulturbereiche ohne Begründung oder ohne Begründbarkeit ausgedehnt, sind sie doch auf den Übergang zu einer gemeinsamen Kultur und den von ihr getragenen Rechten angelegt und angewiesen. II. Historischer Entstehensgrund des Verfassungsstaates Die modernen Verfassungsstaaten sind entstanden, als die Leiden und Lasten der Religionskriege den Willen jeder Rechtsgemeinschaft nach einer friedenstiftenden und friedenwahrenden Autorität zur Wirkung brachten. Es entwickelt sich eine Staatsgewalt, die den Bürgerkriegsparteien überlegen ist, ein im Dienst des Friedens stehendes Gewaltmonopol beansprucht und die religiöse Wahrheitsfrage 11 Paul Kirchhof, Erwerbsstreben und Maß des Rechts, HStR, Bd. VIII, 3. Aufl., 2009, § 169, Rn. 38 ff.; Anne Peters, Wettbewerb von Rechtsordnungen, VVDStRL 69 (2010), S. 7 ff.; Katarina Weilert, Transnationale Unternehmen im rechtsfreien Raum? Geltung und Reichweite völkerrechtlicher Standards in: ZaöRV 69 (2009), S. 883 ff.

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offen lässt, um Menschen mit unterschiedlichen Religionen eine Gemeinschaft des gemeinsamen Friedens anzubieten12. Die neuen Herrscher beanspruchen mehr Kompetenzen und Rechte, fordern die alleinige Befugnis, Recht zu setzen und Recht durchzusetzen, entwickeln nach und nach den Herrschaftsverband mit einem Souveränitätsanspruch13. In diesem Friedensgedanken ist angelegt, dass der Staat einerseits die Streitschlichtung nicht mehr dem Kampf und der Faust überlässt, sondern allein der sprachlichen Gewalt, die am Maßstab des Rechts den Streit löst; der Staat andererseits sich selbst rechtlich bindet, um nicht vom Garanten zum Gegner von Freiheit und Frieden zu werden14. Doch das Entstehen von Verfassungen wird letztlich erst in der revolutionären Veränderung – der Trennung der Auswanderer nach Amerika vom englischen Mutterland und dem Sturz der Monarchie in Frankreich – ersichtlich und bewusst15. Der Kampf der Revolutionäre richtete sich nicht nur gegen die Person des Herrschers, sondern vor allem auch gegen das Herrschaftssystem. Die amerikanischen Revolutionäre wollten dabei nicht ein prinzipiell besseres Recht als das des Mutterlandes, sondern sie beanspruchten das in England erlebte Recht in Unabhängigkeit und Eigenständigkeit für sich – mit ihren Vertretern in ihrem Parlament –, während die französischen Revolutionäre die ständische, feudale Ordnung umstürzen wollten, in dem bisherigen System keine Zukunft mehr sahen16. In diesem Aufbruch zu Freiheit und Demokratie ist der moderne Verfassungsstaat nicht Gewährträger für eine bekannte, auf Dauer verbindliche Gemeinwohlkonzeption, sondern auf stetige Erneuerung durch die Prinzipien der individuellen Freiheit und der parlamentarischen Gesetzgebung angelegt. Die individuelle Freiheit ist das Recht zum Neuen, zum Ungewohnten, zum Unkonventionellen, auch zum Provozierenden. Die repräsentative Demokratie gewährt Macht auf Zeit und wählt immer wieder ein neues Parlament, damit es neue – bessere – Gesetze mache17. Dabei ist die Friedensgewähr oft ungeschriebene, aber stets mitgedachte Aufgabe des Staates, die Freiheitsgewähr wesentlicher Inhalt der geschriebenen Verfassungsgewährleistungen18. Das Ideal der französischen Revolu12 Dieter Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, HStR, Bd. I, 3. Aufl., 2003, § 1, Rn. 5 ff.; Helmut Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, S. 333 ff. 13 Quaritsch, a. a. O., S. 40 ff., 333 ff.; Grimm, a. a. O., § 1, Rn. 6 ff.; Albrecht Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, HStR, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 17, Rn. 25 ff., 35 ff.; Christian Hillgruber, Der Nationalstaat in der überstaatlichen Verflechtung, daselbst, § 32 Rn. 50 ff. 14 Paul Kirchhof, Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, 2004, S. 11 ff. 15 Vgl. Grimm, a. a. O., § 1, Rn. 9: Revolutionärer Bruch als Voraussetzung der modernen Verfassung. 16 Grimm, a. a. O., § 1 Rn. 11 ff.; Josef Isensee, Staat und Verfassung, HStR, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 15, Rn. 21 ff. 17 Paul Kirchhof, Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, a. a. O., S. 43 ff. 18 Dazu (in Auseinandersetzung mit Hobbes und John Locke) Isensee, a. a. O., § 15 Rn. 23 ff.; zu den Voraussetzungen der Staatsvertragslehre und der Vorstellung der Auf-

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tion von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit meinte mit der „Brüderlichkeit“ anfangs – ohne jede Aggressivität – nur eine Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeit der Menschen in einer friedlichen Rechtsgemeinschaft, ließ dann die „Verbrüderung“ allerdings auch zu einem Mittel werden, die Menschen in Zugehörige und Fremde, in Gute und Böse aufzuteilen. Das Gefühl der Brüderlichkeit wird verbunden mit der Gewalt, mit einer gemeinsamen kämpferischen Aktion19. Während Freiheit und Gleichheit Rechte begründen, enthält die „Brüderlichkeit“ nur eine moralische Verpflichtung. In den Texten der Verfassung heißt der revolutionäre Dreiklang Freiheit, Gleichheit, Sicherheit. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 stellt in Art. 1 fest, die Menschen werden „frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es“. Nach Art. 2 ist „der Endzweck aller politischen Gesellschaft“ „die Erhaltung der natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit, der Widerstand gegen Unterdrückung“ 20. Das dritte Ideal der frühen Demokratien, die Sicherheit, kommt auch in der Verfassung der Französischen Republik vom 24. Juni 1793 zum Ausdruck. Die jedem Menschen verbürgten Rechte sind „Gleichheit, Freiheit, Sicherheit, Eigentum“.21 Das Zusammenwirken von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit verdeutlicht die Verfassung von 179522. Die Freiheit besteht „darin, tun zu können, was den Rechten eines anderen nicht schadet“. Die Gleichheit besteht „darin, dass das Gesetz das Nämliche ist, es sei, dass es beschütze oder dass es strafe, die Gleichheit lässt keinen Unterschied der Geburt, keine Erblichkeit der Gewalten zu“. „Die Sicherheit fließt aus der Mitwirkung aller, um jedem seine Rechte zu sichern.“ Die Verfassunggeber der Revolutionszeit waren sich der Geschichtlichkeit ihres Tuns, des Neuansatzes ihres Denkens durchaus bewusst. Kant spricht von einem „Geschichtszeichen“ 23. Hegel charakterisiert das Geschehen in der Feststellung, „dass der Mensch sich auf den Kopf, d.i. auf den Gedanken stellt und

klärung von der gleichen Freiheit aller Individuen als Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung, Grimm, a. a. O., § 1, Rn. 19 ff. 19 Mona Ozouf, Brüderlichkeit, in: François Furet/Mona Ozouf (Hrsg.), Kritisches Wörterbuch der französischen Revolution, Bd. II, 1996, S. 1037 ff. 20 Die Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers vom 26.8.1789 wird als Präambel der Verfassung vom 3.9.1791 verstanden und ist übersetzt in: Dieter Grosewinkel/Johannes Masing (Hrsg.), Die Verfassung in Europa 1789 bis 1949, 2006, S. 165 ff. 21 In: Grosewinkel/Masing (Hrsg.), a. a. O., S. 193 ff., dort insbesondere Art. 1 und 2. 22 Art. 1 bis 4 der Verfassung der französischen Republik vom 5. Fructidor III (22. August 1795), vgl. Grosewinkel/Masing (Hrsg.), a. a. O., S. 206. 23 Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten (1798) in: Akademie – Ausgabe, Bd. VII, 1907, S. 1 (84).

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die Wirklichkeit nach diesem erbaut“ 24. Die erneuernde Idee war die individuelle Freiheit und Gleichheit aller Menschen – unabhängig von Rang, Herkommen, Stand und Gruppenzugehörigkeit, deutlich später auch von Geschlecht und Hautfarbe. Nicht das Privileg, sondern das allgemeine Gesetz25, das in der Verallgemeinerung jedermann gleiche Rechte gewährt, macht frei. Diese im Bewusstsein angeborener Freiheit und Gleichheit26 formulierende verfassunggebende Gewalt beansprucht für sich umfassende Freiheit, politische Selbstbestimmung, institutionelle Autonomie, will aber in Wahrnehmung dieser Freiheit den zur Selbstbestimmung und Autonomie befugten Staat rechtlich binden. Dieser Bindungsanspruch in Freiheit scheint eine Grundaporie, ein Paradoxon der Verfassunggebung27. Ein Staatsvolk legitimiert sich selbst als verfassunggebende Gewalt, obwohl bei der Verfassunggebung noch nicht feststeht, dass das demokratische Prinzip die Verfassunggebung kennzeichnen wird. Doch dabei ist von vornherein bewusst, dass nicht Freiheit, sondern Freiheitsrecht, nicht Beliebigkeit, sondern ein definiertes – begrenztes – Dürfen28 angeboren ist und so in dem Freiheitsrecht ein demokratisches Mitgestalten angelegt ist. Der Anspruch des Staatsvolkes als verfassunggebender Gewalt lässt sich nur begründen, wenn auch die revolutionäre Verfassunggebung nicht generell mit Herkommen und Tradition bricht. Die verfassunggebende Gewalt setzt bereits ein Stück Verfasstheit voraus. Das Staatsvolk ist definiert. Es beansprucht die Autorität, Befugnis und Kompetenz zur Verfassunggebung. Es begreift die Verfassungsfragen und den Verfassungstext in der ihm eigenen Sprache. Es kennt ein Verfahren der Gesetzesinitiative – vor allem dessen, der den Verfassungsentwurf schreiben darf –, der Debatte und Abstimmung über diesen Entwurf, der Regeln für dessen Verkündung und vor allem die Grundlage für die Verbindlichkeit der Verfassung. Die Rechtsgemeinschaft muss in ihrem Denken, ihrer politischen Erfahrung, in erprobten Werten und bewährten Institutionen sicher sein, dass die Verfassungsinhalte „richtig“ sind, das verfassunggebende Verfahren gerechtfertigt ist. Wenn Recht gefertigt wird, bedarf dieses Recht stets der Rechtfertigung, der Begründung, der Darlegung seiner Plausibilität und Überzeugungskraft29. 24 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Theorie – Werkausgabe, 1912, 1986, S. 529, zu dieser Entwicklung: Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? 2008, S. 8; Hasso Hofmann, Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaates in: Der Staat 34 (1995), S. 1 (18). 25 Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009, S. 200 ff. und passim. 26 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26.8.1789, Art. 1, oben Fn. 20. 27 Peter Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz in: FS für Ulrich Scheuner, 1973, S. 19 (25); Hasso Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes in: ders., Recht – Politik – Verfassung, 1986, S. 261 (292 ff.); Dreier, a. a. O., S. 26 f. 28 Vgl. zu Fn. 22. 29 Zum Sprachspiel „Recht fertigen und Rechtfertigen“, vgl. Marie Theres Fögen, Das Lied vom Gesetz, 2007, S. 123 mit Fn. 271.

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Jedes Recht braucht einen Ausgangspunkt, ein Tabu, ein Axiom. Dieses zeigt Art. 1 Abs. 1 S. 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Wenn wir diesen Rechtssatz im Tatbestand „Mensch“ in juristisch-handwerklicher Gediegenheit interpretieren wollen, können wir den Menschen als ein Lebewesen mit aufrechtem Gang, eigener Sprache, einem Gedächtnis, der Fähigkeit zur Selbstreflektion definieren. Doch mit dieser Definition würden wir dem Menschen, der nicht aufrecht gehen, nicht sprechen, sich nicht auf ein Gedächtnis stützen, nicht die Fähigkeit zur Selbstreflektion entwickeln kann, von der Würdegarantie – dem Willkommen des Menschen in dieser Rechtsgemeinschaft – ausnehmen, also just dem Menschen die Gewährleistung des Art.1 Abs. 1 S. 1 GG vorenthalten, der ihrer am dringendsten bedarf. Die – begrenzende – Definition wäre ein grober rechtlicher Fehler. Die Verfassung braucht auch als rationale, auf gerichtliche Kontrolle angelegte Grundordnung einen nicht hinterfragbaren Ursprung und Geltungsgrund. Sie braucht die Offensichtlichkeit des Undefinierbaren. Die Unbestimmtheit dieses Gedankens wird ausgeglichen durch das Erfordernis, dass nur eine ersichtliche Würdeverletzung einer Rüge des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG begründet. III. Der Geltungsanspruch der Verfassung über die Autorität der Verfassunggeber hinaus Wenn die Verfassung sich auf das Prinzip der Volkssouveränität stützt, liegt der Gedanke nahe, dass dieses Staatsvolk dann auch in souveräner Entscheidung diese Verfassung aufheben könne. Diese Frage hat bei der Wiedervereinigung Deutschlands ein wesentliche Rolle gespielt: Die sogenannte „Ewigkeitsgarantie“ für das Grundgesetz (Art. 79 Abs. 3 GG) und das Wiedervereinigungsgebot (Art. 23 GG a. F.) machten die Spannung zwischen Unverbrüchlichkeit und Vorläufigkeit der Verfassung sichtbar30. Die „friedliche Revolution“ stellte sodann die Frage, ob die in der Nachfolge der DDR neugebildeten Länder nach Art. 23 GG a. F. der Bundesrepublik beitreten und damit das Grundgesetz als Verfassungsgrundlage der deutschen Einigung durch das Volk der DDR übernehmen sollen, oder ob der Weg der Verfassungsablösung über Art. 146 GG gewählt werden solle31. Diese Frage ist sehr bald und überzeugend für die Übernahme des Grundgesetzes (Art. 23 GG a. F.) entschieden worden.32 Die Vorstellung, das 30 Martin Heckel, Die Legitimation des Grundgesetzes durch das deutsche Volk, HStR, Bd. VIII, 1. Aufl., 1995, § 197, Rn. 1 ff. m. N. 31 Vgl. Christian Starck, Deutschland auf dem Weg zur staatlichen Einheit, in: JZ 1990, S. 349 (351 ff.); Rainer Wahl, Die deutsche Einigung im Spiegel historischer Parallelen in: Der Staat 30 (1991), S. 190 ff.; Eckart Klein, An der Schwelle zur Wiedervereinigung Deutschlands in: NJW 1990, S. 1065 (1069 ff.); Heckel, a. a. O., § 197, Rn. 10, 28 ff. 32 Wahl, a. a. O., Klein, a. a. O., Heckel, a. a. O., und insbesondere die Referate und Diskussionsbeiträge der Berliner Sondertagung der Staatsrechtslehrer-Vereinigung vom

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deutsche Staatsvolk könne in einer Abstimmung über die Alternative Demokratie oder Diktatur sich rechtsverbindlich auch für die Diktatur entscheiden, damit durch eine Entscheidung der kommenden Generation Demokratie und Freiheit vorenthalten, widerlegt sich selbst. Verfassunggebung ist nicht allein ein Willensakt der Beliebigkeit. Herrschaftsausübung allein dank eigenen Willens – des Kaisers, des Tyrannen, des Staatsvolkes – ist Willkür, das Gegenprinzip zum Recht. Recht fordert immer Plausibilität, Begründbarkeit und Begründetheit. Das gilt auch für die verfassunggebende Gewalt. Die verfassunggebende Gewalt löst sich somit aus der alleinigen Autorität eines Subjekts – des Philosophenkönigs, des Tyrannen, des Staatsvolkes – und erscheint als Teil einer Rechtsentwicklung, des Vertrauens in Rechtsideen, der Vertrautheit mit den die Verfassung tragenden Rechtsstrukturen. Die Frage, ob eine Verfassung „die Herrschaft der Toten“ – der Verfassunggeber – über die Lebenden beanspruchen dürfe, wurde bereits bei der Verfassunggebung in Amerika und Frankreich gestellt. Die Fehler und Irrtümer der Vorfahren dürften nicht für immer den nachfolgenden Geschlechtern aufgelastet werden. Die Eitelkeit und Anmaßung, noch jenseits des Grabes regieren zu wollen, sei die lächerlichste und unverschämteste aller Tyranneien33. Die Verfassung beauftragt in den Erneuerungsprinzipien von Freiheit und parlamentarischer Demokratie zur stetigen Erneuerung des Rechts, betont dennoch zugleich die Unverbrüchlichkeit, die Unveräußerbarkeit, die Unabstimmbarkeit bestimmter Verfassungsinhalte und befestigt damit den Geltungsanspruch der Verfassung über allen politischen Streit hinaus. Diese Offenheit in Bindung erklärt sich aus der Willkürfreiheit jeder Verfassunggebung. Die Verfassung wird von Menschen – dem Staatsvolke – formuliert, in dessen Sprache und Lebenssicht begriffen und ausgestaltet. Doch das Staatsvolk erdenkt nicht in gänzlicher Ungebundenheit eine neue Verfassung, sondern stützt sich bei der Verfassunggebung auf hergebrachte Rechtsvorstellungen, Begrifflichkeiten, Verfahrensprinzipien, Lebenserfahrungen, auf eine gewachsene Rechtskultur. Die verfassunggebende Gewalt ist eine verfassungweitergebende Gewalt34. Wenn das Grundgesetz seine Regelungen in Tatbeständen wie Republik, Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat, sozialer Staat begreift, nimmt es eine rechtlich geformte Wirklichkeitserfahrung auf und erklärt sie für die Zukunft mit Verfassungsanspruch für verbindlich. Wenn es Tatbestände wie Gesetz, Gericht, Steuer, Kompetenz und Verfahren nachzeichnet, macht es sich reine – in der April 1990, VVDStRL 49 (1990), mit Referaten von Jochen Abr. Frowein, S. 7 ff., Josef Isensee, S. 39 ff.; Christian Tomoschat, S. 70 ff.; Albrecht Randelzhofer, S. 101 ff.; und die Aussprache, S. 125 ff. 33 Vgl. Darstellung und Nachweise bei Dreier, a. a. O., S. 28 ff. 34 Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung, HStR, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 21 Rn. 1 ff., 28 ff. m.w. N.

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Wirklichkeit nicht vorgefundene – Rechtsideen zu eigen, die historisch erprobt und bewährt sind, deswegen auch in Zukunft verbindlich bleiben sollen. Die Grundlagen der Verfassung – Staat, Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatshoheit – bieten einen historisch gewachsenen realen Rahmen, in dem Verfassung entsteht und besteht. Verfassungsrecht ereignet sich wie alles Recht in Sprache, lebt in Sprache und in sprachlich geformtem Denken, das von einer Generation an die andere weitergegeben wird35. IV. Quellen des Verfassungsrechts 1. Natürliche und gefasste Quelle

Klaus Stern versteht die Verfassung – und in ihrer Mitte das System der Grundrechte – als eine rechtliche Einheit, die geschichtlich begründet und bedingt ist36. Die Grundrechte werden „als innerlich zusammengehöriges geschlossenes Ganzes betrachtet“, deren Gemeinsamkeiten zu entdecken sind, die „als besonderer und höchst bedeutsamer Teil des Verfassungsrechts zu erkennen und zu entfalten“ sind37. Eine Verfassung38 ist das Gedächtnis einer Demokratie39, gibt den gegenwärtigen Elementaranfragen an Recht und Staat eine Antwort am Maßstab erprobter und bewährter Rechtserfahrungen mit menschlichem Zusammenleben in Institutionen, Werten, historischen Einsichten. Die Verfassung ist die in einer Verfassungsurkunde niedergeschriebene, in dieser Schriftlichkeit verstetigte, teilweise unabänderliche, jedenfalls nur erschwert abänderbare Grundordnung eines Staates40, die den Staat rechtlich formt, als Rechtsgemeinschaft legitimiert, in seinem 35

Paul Kirchhof, Deutsche Sprache in: HStR, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 20, Rn. 23 ff. Klaus Stern, § 185, Rn. 2 f., unter Hinweis auf Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928) in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968 S. 121 (264). 37 Stern, a. a. O., § 185, Rn. 2. 38 Zu den verschiedenen Verfassungsbegriffen vgl. Christian Starck, Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, in: ders., Verfassungen, 2009, S. 311 (312 f.). 39 Paul Kirchhof, Das Grundgesetz als Gedächtnis der Demokratie – Die Kontinuität des Grundgesetzes im Prozess der Wiedervereinigung und der europäischen Integration, in: Martin Heckel (Hrsg.), Die innere Einheit Deutschlands inmitten der europäischen Einigung, 1996, S. 35 ff. 40 Zum Staat und seiner Rechtsordnung vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat, 1978; Hasso Hofmann, Politik, Recht, Verfassung, 1986; Paul Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung, in: Deutsches Verwaltungsblatt 1999, 637 ff.; Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 3. Aufl., 2002; Udo Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003; Josef Isensee, Der Verfassungsstaat als Friedensgarant, in: Rudolf Mellinghoff/Gerd Morgenthaler/Thomas Puhl (Hrsg.), Die Erneuerung des Verfassungsstaates, 2003, S. 7 ff.; Udo Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, in: Rudolf Mellinghoff/ Gerd Morgenthaler/Thomas Puhl (Hrsg.), Die Erneuerung des Verfassungsstaates, 2003, 36

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Handeln und seinen Organen ermächtigt und begrenzt. Im Verfassungsstaat werden Staatsorgane und Recht nach den Regeln der Verfassung hervorgebracht. Die Verfassung beansprucht deshalb grundsätzlich Vorrang vor allem anderen Recht41. Wenn wir die Rechtsquelle42 einer Verfassung suchen, begreifen wir in der „Quelle“ das Wasser, das bereits im Berg vorhanden ist, nunmehr in der Quelle sichtbar und nutzbar wird, dort im Naturzustand hervortritt oder aber von Menschenhand gefasst und geformt wird. Die Verfassung wird in der Erkenntnisquelle der Verfassungsurkunde geformt, gilt dann aber als gefasste Quelle für alles übrige Recht, das nach den Zuständigkeiten, Verfahren und materiellen Bindungen des Verfassungsrechts entsteht. 2. Vorausdenken und Vorschreiben

Recht entsteht, wenn der Mensch über sich selbst hinausdenkt, seine Beobachtungen, Einsichten und Erfahrungen gedanklich zu Regeln formt, diese Regeln zur verbindlichen Grundlage einer Rechtsgemeinschaft macht und in dieser Verbindlichkeit an die Zukunft weitergibt. Der Mensch denkt nach, denkt voraus, schreibt vor, begründet eine Vorschrift43. Wenn der Mensch in seinem individuellen Erleben und Erfahren über sich hinausdenkt, trifft er auf zwei Fragen: Wie muss der Mensch handeln, um ein gutes44 und glückliches45 Leben zu führen? Was schuldet der Mensch dem anderen S. 57 ff.; Dieter Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl., 2003, § 1, Rn. 9 f., 11 ff.; Hans-Jürgen Papier, Steuerungs- und Reformfähigkeit des Staates, in: Rudolf Mellinghoff/Gerd Morgenthaler/Thomas Puhl (Hrsg.), Die Erneuerung des Verfassungsstaates, 2003, S. 103 ff.; Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 15, Rn. 21 ff. 41 Zur Besonderheit der europäischen Integration vgl. Paul Kirchhof, Begriff und Kultur der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter, Verfassungstheorie, 2010 § 3, Rn. 91 f. 42 Zur „Rechtsquelle“ vgl. Karl Bader, Deutsches Recht, in: Deutsche Philologie im Aufriss, Bd. III, 2. Aufl., 1962, Sp. 1971 (1983 ff.); Theodor Bühler, Rechtsquellenlehre, 3 Bde., 1977–1985; Ekkehard Kaufmann, Rechtsquellen, in: Adalbert Erler/ders. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. IV, 1990, Sp. 335 ff.; Paul Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz. Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. II, 1976, S. 50 ff. 43 Zu diesem und dem Folgenden m.N. Paul Kirchhof, Begriff und Kultur der Verfassung, a. a. O. 44 Platon, Politeia, 473c–e, abgedruckt in: Thomas Alexander Szlezák (Hrsg.), Plato. Der Staat. Politeia. Griechisch-Deutsch, 2000, S. 450 ff.; ferner auch ders., Nomoi, 711e–712a, abgedruckt in: Gunther Eigler (Hrsg.), Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, Bd. VIII.1, 1977, S. 242 f.; ders., Politikos, 294a–c, ders., Bd. VI, 2. Aufl., 1970, S. 403 (522 f.); hierzu: Franz Vonessen, Der Philosoph als König. Platons Ideenlehre. Bd. 2, 2003. Den Philosophenkönig ablehnend, den Einfluss von Philo-

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Menschen, damit auch dieser ein gutes und glückliches Leben führen kann? In diesen Grundsatzfragen wird der Zusammenklang von Recht und Moral bewusst. Moral bezeichnet die tatsächlich wirksamen, aber nicht rechtsverbindlichen Verhaltensnormen in einer bestimmten Gesellschaft, Gemeinschaft oder sozialen Gruppe46, die sich aus ethischen Prinzipien rechtfertigen und legitimierten, aus den Maßstäben des ethisch Guten und Richtigen ableiten47. Recht hingegen beansprucht Verbindlichkeit letztlich in der Autorität des Staates, der dieses Recht setzt, rechtfertigt und durchsetzt. Die Verbürgungen des Grundgesetzes, insbesondere die Freiheit und Autonomie des Einzelnen, sein Recht auf demokratische Mitwirkung, die Gleichberechtigung, die soziale Zugehörigkeit jedes im Inland lebendes Menschen zur Kultur-, Wirtschafts- und Rechtsgemeinschaft, folgten anfangs noch nicht den vorherrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen, waren damit noch ethische, nicht moralische Prinzipien, die jedoch mit der Aufnahme in die Verfassung zu Rechtsprinzipien, zu verbindlichem positiven Recht geworden sind48. Die Verfassung schreibt Ethik im Elementaren fest, greift rechtlich in die Zukunft der Menschen dieser Rechtsgemeinschaft vor, um Ethik einsichtig, plausibel zu verallgemeinern, damit zur Grundlage des Rechts zu machen. Verfassungsrecht wird verbindlich, wenn der rechtliche Vorgriff in die Zukunft von den Menschen dieser Rechtsgemeinschaft getragen wird. Das Prinzip des Friedens im Recht ist ein Anliegen eines jeden Menschen, der Krieg erlebt oder beobachtet hat. Die Garantie der Existenzsicherung im Elementaren genügt den Mindesterwartungen jedes Menschen an eine rechtliche Gemeinschaft. Die Gewährleistung der Freiheit ist ein Angebot an jeden einzelnen Menschen, sich persönlich zu entfalten, sich eigenverantwortlich zu bewähren, Hoffnungen zu entwickeln und zu verfolgen. Der Gedanke dieser Gleichheit formuliert das heute in der Tradition des Christentums, der Aufklärung, der modernen sozialen Bewegungen bestimmende Menschenbild. Demokratie und parlamentarisches Verfahren erstrecken den Gedanken der Selbstbestimmung jedes Menschen und seiner Gleichheit auf die Gestaltung der Gemeinschaft, auf deren Erneuerung, auf den Garanten dieses Rechts, den Staat, der in seinen Gesetzen und in seinem Geset-

sophen aber in der äußeren Wirklichkeit wünschend: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795), in: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Kants gesammelte Schriften, 1. Abt.: Werke, Bd. VIII, Neudruck 1923, S. 341 (369); hierzu: Heinrich Karpp, Die Philosophenkönige bei Platon und Kant, Gymnasium, (60) 1953, 334 ff. 45 Zum „guten Leben“ vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1153b, abgedruckt und übersetzt in: Rainer Nickel (Hrsg.), Die Nikomachische Ethik, 2001, S. 314 ff.; vgl. ferner Friedo Ricken, Gemeinschaft. Tugend. Glück. Platon und Aristoteles über das gute Leben, 2004, S. 78. 46 Zu dieser – hier bewusst formalen – Begrifflichkeit: Silja Vöneky, Recht, Moral und Ethik, 2010, S. 24, 39 f. 47 Vöneky, a. a. O., S. 27 f. 48 Vöneky, a. a. O., S. 107 f.

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zesvollzug Recht für Gegenwart und Zukunft fortzuentwickeln, neue Anfragen an das Recht zu beantworten hat. 3. Antworten

Verfassungsrecht entsteht aus historischer Erfahrung, die – geläutert zu ethischen Prinzipien – Wegweisungen für die Zukunft einer Rechtsgemeinschaft gibt. Wer einen Bürgerkrieg erlebt hat, wird den Frieden organisieren, deswegen einen Staat gründen und mit Gewaltmonopol ausstatten. Wer entwürdigt worden ist, stellt an den Anfang die Garantie der unantastbaren Würde jedes Menschen. Wer staatliche Unterdrückung und Willkür erdulden musste, drängt auf die Herrschaft des Rechts, eine Gewaltenteilung, eine materielle Verpflichtung durch die Grundrechte, die Staatsgewalt mäßigen und formen. Wer gehungert hat, wirkt auf einen Sozialstaat und dessen Existenzgarantien hin. Wer die historischen Experimente einer staatliche Plan- und Zentralwirtschaft – wie in der DDR – mit einer Privatwirtschaft – wie in der Bundesrepublik – beobachtet und verglichen hat, ist sich in der Grundentscheidung für Privateigentum, Berufsfreiheit, unternehmerische Initiative sicher. Wer im modernen Finanzmarkt sieht, wie die Anonymität von Märkten, Fonds, Kapitalbeteiligungen und Finanzprodukten in die Unverantwortlichkeit führt, wie die Maßstabslosigkeit die Maßlosigkeit einer Gewinnmaximierung ohne Haltepunkt veranlasst, wird Verantwortlichkeiten in Zuständigkeiten, Legitimationsbedürfnissen und Haftungstatbeständen schaffen. Die Verfassung gewinnt Autorität aus der Überzeugungskraft ihrer Regelungen, die Elementaranliegen der Menschen befriedigen, Grundsatzfragen an den Staat und sein Recht überzeugend beantworten, eine gewachsene Rechtskultur im stillschweigenden Einvernehmen der nach dieser Verfassung lebenden Menschen weiterentwickeln. 4. Natur, Vertrag, Staatsvolk

Die Frage nach der Autorität, die Verfassungsrecht setzen darf, wurde in einer religiös geprägten Gesellschaft, in der die Kirche eine alle Menschen bindende Moral definiert, mit der höchsten Autorität des göttlich legitimierten Rechts beantwortet49. Wenn Moses die Gesetzestafeln von Gott empfängt, steht die Autorität dieses Rechts und des Rechtsinterpreten außer Frage. Doch Recht ist Menschenwerk, kann sich heute auf einen übermenschlichen Geltungsgrund nicht mehr berufen. Die naturrechtliche Rechtfertigung von Verfassungsrecht baut weniger auf ein religiös geprägtes Gewissen, das dem Menschen die Unterscheidung von Gut und 49 Zum göttlichen Recht vgl. Franz Böckle, Natürliches Gesetz als göttliches Gesetz in der Moraltheologie, in: Franz Böckle/Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik, 1973, S. 165 ff.; Ralf Dreier, Göttliches und menschliches Recht, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht, (32) 1987, 289 ff.

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Böse vermittelt, ihn in den „Spiegel“ der Selbsterkenntnis schauen lässt50, sondern auf die in jedem Menschen angelegte Einsicht in die natürlichen Bedürfnisse der Menschen nach Existenzsicherung, Frieden, Freiheit, Anerkennung und Mitgestaltung des Gemeinschaftslebens51. Wenn auch das Buch der Natur in Zeichen und Sprachen geschrieben ist, die wir nicht immer verstehen52, die Natur im Übrigen nur in einem begrenzten Themenfeld von den Gesetzmäßigkeiten menschlichen Zusammenlebens handelt, hat naturrechtliches Denken doch wesentlich die Entwicklung der Menschenrechte und die Gewährleistung von Grundrechten befördert, im Vernunftrecht der Aufklärung auch das Prinzip der Gewaltenteilung zur Entfaltung gebracht und insbesondere den völkerrechtlichen Standards einer Entstehungs- und Erkenntnisgrundlage geboten53. Doch wird unsere heutige Gesellschaft in der Individualität ihrer Mitglieder und in der Faszination einer Entwicklungsoffenheit nur bedingt naturgegebene Regeln – etwa zu Beginn und Ende menschlichen Lebens – als verbindliche Grundlage des Rechts anerkennen oder als Maß zur Verteilung von Gütern, als Legitimation für Macht und Ohnmacht praktisch handhaben wollen. Zudem wird das feinsinnige Hineindenken in das Humane Eigennutz kaum unterdrücken, Hoffnung und Enttäuschung, Ehrgeiz und Erwerbsstreben, Machtwillen und Zorn kaum in Wissen und Gewissen binden können. Maßstäbe für Unabänderliches und Wandelbares, für Unabstimmbares und Abstimmbares erwarten wir deshalb von einer Gemeinschaft, die einvernehmlich in einem Gesellschaftsvertrag54 Elementarregeln des Rechts hervorbringt. Alle Mitglieder einer Rechtsgemeinschaft verständigen sich auf Grundbedingen ihres Zu-

50 Der Spiegel der Unsitten als Quelle der Rechtserkenntnis greift deutlich in nachfolgende Rechtsperioden über, vgl. Sebastian Brant, Das Narrenschiff (1494), hrsg. von Heinz-Joachim Fischer, 2007, Vorrede: „In diesen Spiegel sollen schauen die Menschen alle, Männer Frauen“. 51 Matthias Herdegen, Grenzen der Verfassunggebung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter, Verfassungstheorie, 2010, § 9, Rn. 32 f.; zum Naturrecht vgl. Bernd Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl., 2007, § 12; Alexander Hollerbach, Naturrecht, in: Wilhelm Korff/Lutwin Beck/Paul Mikat (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Bd. 2, 1998, S. 738 ff.; Klaus Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 2. Aufl., 2000, § 108, Rn. 9 f. 52 Vgl. auch Iwan Sergejewitsch Turgenjew, Vorabend, 1860, abgedruckt in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden, 1994, Bd. 3, S. 12. „Wie oft du auch an das Tor der Natur klopfen magst, sie wird dir niemals in verständlicher Sprache antworten, denn sie ist stumm.“ 53 Herdegen, a. a. O., § 9, Rn. 32 f. 54 Zum Gesellschaftsvertrag vgl. Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social ou principes du droit politique (1762), übersetzt in: ders., Sozialphilosophische und Politische Schriften, 1981, S. 267 ff.; dazu: Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 2005; ders., Jean-Jacques Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“, 2002; Christian Waldhoff, Entstehung des Verfassungsgesetzes, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter, Verfassungstheorie, 2010, § 8, Rn. 29 f.

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sammenlebens, verzichten auf ein Stück ihrer Freiheit um der gemeinsamen Friedlichkeit und Sicherheit willen. Doch wird es in einer freien Gesellschaft einen solchen Konsens niemals geben, weil die Interessen der Reichen und Armen, der Gesunden und Kranken, der Gebildeten und Ungebildeten, der Erwerbstätigen und Arbeitslosen, der Religiösen und Unreligiösen so unterschiedlich sind, dass daraus kein einheitliches Recht erwachsen wird. Doch kommt der Idee des Gesellschaftsvertrages trotz seines fiktiven Charakters das Verdienst zu, die Mehrheit auf den Schutz der Minderheit zu verpflichten, die verfassungsrechtliche Bindung der kraft Mehrheit Herrschenden zu begründen. Die Theorie vom Staatsvertrag ist das gedankliche Fundament einer alle Beteiligten auf Freiheit, Frieden, Allgemeinheit des Gesetzes verpflichtenden Verfassung. Die Hoffnung, eine stetige offene Debatte55 führe die Menschen in die Nähe der Vernunft und zum richtigen Recht, scheitert an der Erfahrung, dass auch parlamentarische Debatten und öffentliche Diskussionen durch Interessen und Leidenschaften, Ehrgeiz und Resignation, Enttäuschung und Rache geprägt sind. Der selbstvergessen argumentierende, in der Debatte seine eigenen Interessen überwindende Mensch bleibt ein Ideal, das in einer Welt von Vorurteilen, Vorbehalten und Vorbedingungen nicht erreichbar ist. Der demokratische Gedanke, das Staatsvolk sei die „höchste Gewalt“, von der alle Staatsgewalt ausgehe, das sich dank dieser Gewalt eine Verfassung gebe und selbst binde56, muss wiederum Korrekturen gegen die Willkür eines – enttäuschten, geängstigten, übermütigen, verelendeten – Staatsvolkes vorsehen, unterstellt im Übrigen mit der höchsten Gewalt des Staatsvolkes bereits die Verbindlichkeit des demokratischen Prinzips, setzt also eine bereits wirksame Verfassung voraus. Dieses Denken in Natur, Gesellschaftsvertrag, demokratischer Staatsgewalt bietet allerdings eine stetige intellektuelle Basis, aus der eine Gemeinschaftsordnung erwächst, die den Staat legitimiert, seine Gewalt mäßigt, die Mehrheit an Minderheitenrechte bindet, die Kontinuität des Rechts über die Generationen hinaus begründet. Individualismus und Anarchie werden zurückgewiesen, Staatsgewalt und Gewaltmonopol werden gerechtfertigt, der Einzelne und die Minder55 Vgl. Darstellung und Kritik bei Armin Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, 2002; zur weiteren Fiktion eines „Schleiers des Nichtwissens“ vgl. John Rawls, A Theory of Justice (1971), Neudruck 2005, S. 136 ff. et passim, übersetzt in: ders., Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 159 ff. et passim; vgl. ferner ders., Justice as Fairness. A Restatement, 2. Aufl., 2001, S. 85 et passim, übersetzt in Erin Kelly (Hrsg.), John Rawls. Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf, 2006, S. 139 ff. et passim. 56 Zu den Maßgaben an die „höchste Macht“ vgl. John Locke, Two treatises of government (1689), book II., chap. XI, §§ 134 ff., abgedruckt in: Peter Laslett (Hrsg.), John Locke. Two treatises of government. A critical edition with an introduction and apparatus criticus, 1960, S. 285 (373 ff.), übersetzt in: Walter Euchner (Hrsg.), John Locke. Zwei Abhandlungen über die Regierung, 12. Neudruck, 2007, S. 200 (283 ff.); sodann Herdegen, a. a. O., § 9, Rn. 15 f.; Hans-Peter Schneider, Die Verfassunggebende Gewalt HStR, Bd. VII, 1. Aufl., 1992 § 158, Rn. 2.

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heiten sind gegen eine Diktatur der Mehrheit geschützt. In dieser Kontinuität des Denkens entsteht Verfassungsrecht. 5. Gesetz und Gesetzmäßigkeiten

Das Verfassungsgesetz entsteht letztlich aus den Erfahrungen und Einsichten zu den rechtlichen Bedingungen friedlichen Gemeinschaftslebens und guter Politik. Wenn die Menschen erkannt haben, wie ein Auto gebaut und gelenkt werden muss, werden sie diese Gesetzmäßigkeiten von Natur und Technik in aller Zukunft nutzen, sie nicht mehr in Frage stellen, weil das Richtige erkannt und erprobt ist. Gleiches gilt, wenn die Rechtsgemeinschaft erfahren hat, dass Macht einem friedensverpflichteten Staat anvertraut und dort gebündelt werden muss, die Macht in Wirksamkeit und Maß zu organisieren ist, alle Staatsgewalt nur auf Zeit gerechtfertigt ist und durch das Staatsvolk legitimiert werden muss, materielle, überkommene und erprobte Werte die Kulturgemeinschaft des Staatsvolkes und den von ihr hervorgebrachten Staat zusammenhalten. Die Fähigkeit des Menschen, über sich hinauszudenken, damit in Kategorien des Rechts und der Verbindlichkeit zu denken und zu handeln, setzt historische Erfahrungen und langfristige Einsichten voraus. Die Verfassung ist Ausdruck der gewachsenen und erlebten Staats- und Rechtskultur, ist Erfahrung, Erinnerung, Vergewisserung, Verstehen, Einvernehmen. Die Verfassung gewinnt ihre Autorität und Geltung aus der Rechtsüberzeugung der Beteiligten, aus der formenden Kraft der Rechtssprache, aus einer verallgemeinerungsfähigen Überzeugung von der Richtigkeit dieses Rechts. Verfassung entsteht in der Kontinuität einer Kulturentwicklung. Der fiktive Urzustand einer völlig ungebundenen und ungebändigten verfassunggebenden Gewalt ist ein Theorem, das weder der Wirklichkeit noch dem Rechtsdenken gerecht wird. 6. Sprechen über das Verfassungsrecht

Es ist heute Gemeingut, dass die abstrakten, in ihrer Abstraktionshöhe für die Zukunft bindenden Verfassungssätze der Interpretation bedürfen. Erstinterpret ist der Gesetzgeber, Zweitinterpret die Verfassungsgerichtsbarkeit. Dabei begreift das Wort des Verfassungsgesetzes die beim Entstehen des Wortes beobachtete Wirklichkeit. Die Kultur von Rechtsgedächtnis, Rechtserinnerung und Rechtserfahrung gibt erprobte Organisationsprinzipien, bewährte Rechtsfertigungsgedanken und gesicherte Wertmaßstäbe verbindlich an die Zukunft weiter. Das Nachdenken von Vergangenem beantwortet die gegenwärtigen Anfragen an das Verfassungsrecht und erlaubt in allgemeinen Rechtssätzen zeitgerechte Lösungen. Die Verfassung als Rahmenordnung, auch Verfassungsaufträge an den Gesetzgeber lassen viele Fragen offen, erwarten Antworten von den verfassten Organen. Die Wissenschaft bietet Grundrechtstheorien, die – wie Klaus Stern sagt – „meist

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lapidaren und gesetzestechnisch fragmentarisch formulierten Grundrechtsbestimmungen eine ausfüllende Interpretation angedeihen“ lassen57, vermittelt in der Analyse der Verfassungsgeschichte, der Verfassungskultur und insbesondere der Anfragen an das Verfassungsrecht ein die Verfassungsdeutung leitendes Vorverständnis. Die „Zusammenschau von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, System und gesetzgeberischer Zielsetzung“58 bietet die Grundlage richterlicher Rechtsfindung, die eine Verfassung auslegt und fortbildet59. Grundrechtliche Schutzpflichten, Verfassungsaufträge, Institutsgarantien, objektive Gewährleistungen, Grundrechtsausprägung und Grundrechtsverdeutlichung offenbaren eine konstitutionelle Schwäche des Verfassungstextes, die in der Stärke der Verfassungsorgane aufgefangen wird. Der Gesetzgeber erschließt die Verfassung verstehend und verständig für die Gegenwartsbedürfnisse. Die Rechtsprechung würdigt die Verfassung zunächst als Maßstab der Gesetzgebung, dann in ihrer Deutung durch diesen Erstinterpreten, versteht sie sodann in der Gelassenheit und Sachlichkeit des richterlichen Gesprächs für den Einzelfall, formuliert schließlich Leitsätze, in denen die tragenden Gründe zur Fortbildung des Verfassungsrechts verallgemeinert werden. Klaus Stern erläutert die Verfassung aus der Einzigkeit des Menschen, seiner Stellung als Rechtssubjekt, seines sittlichen Eigenwertes und seines Bedürfnisses nach Existenz, Frieden, Freiheitlichkeit60, weitet die Verfassungsinterpretation zu einem Thema vieler Wissenschaftsdisziplinen61, verankert die Verfassung in Staatsvolk und Staat62, entwickelt ein Verfassungs- und insbesondere ein Grundrechtssystem auf der Grundlage der Verfassungsgeschichte, in den Leistungen der Verfassungsrechtswissenschaft, in den Ergebnissen der Verfassungsrechtsprechung und den zur Expansion der Grundrechte drängenden tatsächlichen Anfragen an das Verfassungsrecht63. Sein großes Werk „Staatsrecht“ belegt diese Verfassungskultur, zu der Klaus Stern wesentlich beigetragen und für die wir zu danken haben.

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Stern, a. a. O., § 184, Rn. 29. BVerfGE 50, 177 (194) – Numerus Clausus I. 59 Zur Unterscheidung von Auslegung und Fortbildung vgl. Christian Starck, Verfassungen, 2009, S. 154 f. 60 A. a. O., § 184, Rn. 1 f. 61 Daselbst Rn. 9. 62 Daselbst Rn. 10 f. 63 A. a. O., § 185, Rn. 2 f. 58

Zum Neuerungsgehalt der Weimarer Grundrechte Genetische Aspekte zu ihrer Platzierung und Textgestalt Von Jörg-Detlef Kühne I. Platzierungsüberlegungen in Weimar 1. Einleitung*

Für den Beginn des Grundgesetzes (GG) mit den Grundrechten vor dem organisatorischen Verfassungsteil und damit der Umkehr der Weimarer Reihenfolge lassen sich drei Hauptbegründungen ausmachen. Einmal die Rechtsvergleichung, d. h. 1948/49 der aktuelle Vergleich mit dem Ausland1 sowie der historische u. a. mit bedeutenderen deutschen Vorgängerverfassungen. Weiter die bewusste Gegenbildanzeige i. S. eines entschiedenen Wandels gegenüber „der Zeit vor dem Zusammenbruch des Jahres 1945“.2 Und schließlich eine verfassungstheoretische Erwägung. Vornehmlich für den letztgenannten Aspekt sei Carlo Schmid3 im Parlamentarischen Rat zitiert. Danach hat das GG die Grundrechte „im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung [WRV] an den Anfang des Ganzen gestellt, weil klar zum Ausdruck kommen sollte, dass die Rechte, derer der einzelne Mensch bedarf, wenn anders er in Würde und Selbstachtung soll leben können, die Verfassungswirklichkeit bestimmen müssen“. Und weiter ganz i. S. der liberalen Staatszweckauffassung4: „Letztlich ist der Staat dazu da, die äußere Ordnung zu schaffen, derer die Menschen zu einem auf Freiheit des Einzelnen beruhenden Zusammenleben bedürfen.“ Kaum bekannt ist,5 dass für die damit erreichte heu* Heute weniger geläufige Abkürzungen: BVP = Bayerische Volkspartei; DDP = Deutsche Demokratische Partei; DVP = Deutsche Volkspartei; DNVP = Deutschnationale Volkspartei; Z = Zentrum. 1 s. hierzu den Bericht des Vorsitzenden der Herrenchiemseer Grundlagenkommission Josef Beyerle am 31.8.1948 auf der Ministerpräsidentenkonferenz, in: Der Parl. Rat 1848–49, Bd. I, 1975, S. 282. 2 So das Mitglied des Parl. Rates Hermann v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, S. 34. 3 Ders., in: JbÖR NF 1 (1951), S. 47 im Plenum am 6.5.1949 (9. Sitzung). 4 Dazu bereits Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1914, S. 247, in Rückführung auf John Locke. 5 Bislang nur knappe Hinweise bei: Ludwig Richter, Kirche und Schule in den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung, 1996, S. 415, 430; Thomas Hense, Konrad Beyerle, 2002, S. 149; Walter Pauly, Grundrechtslaboratorium Weimar, 2004, S. 53.

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tige Grundrechtsplatzierung auch an Weimarer Verfassungsüberlegungen hätte angeknüpft werden können, die damals freilich noch ohne Mehrheit blieben. 2. Beyerles Vorstoß für Grundrechtsprimat

Es hängt mit der Armut und dem mangelnden Verfassungsstolz der Weimarer Republik, aber auch der Nachwirkung des Laband’schen Normpositivismus zusammen, dass die Quelleneditionen zum Entstehungsprozess der WRV verglichen mit dem des GG unterkomplex geblieben sind.6 Erst durch verschiedene jüngere Schriften ist hier nachträglich mehr geschehen.7 So etwa durch die Veröffentlichung der Ergebnisprotokolle der vom Weimarer Verfassungsausschuss (VerfA) eingesetzten Unterkommission zur Vorberatung der Grundrechte, die in acht Sitzungen vom 2. bis 13. Mai 1919 tagt. Hierin findet sich gleich zu Beginn der Vorschlag, „die Grundrechte als Buch I der Verfassung auszubauen und den staatsrechtlichen Teil als Buch II folgen zu lassen.“8 Dies war nicht die Idee eines Außenseiters. Sie kam vielmehr aus der Mitte der Weimarer Verfassungskoalition von dem Abgeordneten, VerfA- und Unterkommissions-Mitglied Konrad Beyerle (BVP/Z),9 der als Rechtswissenschaftler namentlich auch Rechtshistoriker war. Mit der sachlichen Vorbereitung der Beratungen in der Unterkommission betraut sollte er dadurch hinsichtlich der konkreten Ausformung der Weimarer Grundrechte zu ihrem „spiritus rector“ werden. Allerdings wurde über die Platzierungsfrage in den Sitzungen der Unterkommission noch „kein Beschluss gefasst“.10 Die Frage wurde vielmehr dem VerfA insgesamt zur (Vor-)Entscheidung überlassen, wobei die Unterkommission jedenfalls anfangs dem Vorschlag von Beyerle durchaus gewogen war. Dafür spricht mittelbar, dass er noch am 27.5.1919 eine Stoffgliederung über „Aufbau und Aufgaben des Reichs und der Länder“ vorlegte und dies bezeichnenderweise noch mit „Zweiter (!) Hauptteil“ überschrieb.11

6 Vgl. vor allem VRT (= Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung bzw. des Deutschen Reichstags), Bd. 326–329 (Sten. Ber. Plenum) und Bd. 336 (VerfA-Prot.) und andererseits für das GG vor allem: Der Parlamentarische Rat, 1948–1949 – Akten und Protokolle, 14 Bde., 1975–2010. 7 So vor allem Thomas Wirth, Der Unterausschuß für die Grundrechte und seine Arbeit in der Weimarer Nationalversammlung, in: Jahrbuch der Hambach Gesellschaft 2 (1989), S. 129 (170 ff.); s. a. Pauly (Fn. 5) mit der Wiedergabe der Drucksachen über die Grundrechtsbeschlüsse der Unterkommission vom 6.5. (S. 79 ff.) und 28.5.1919 (S. 92 ff.). 8 Wirth (Fn. 7), S. 170, 1. Sitzung v. 2.5.1919. 9 Zu ihm eingehend Hense (Fn. 5), wobei keine Verwandtschaft mit dem in Fn. 1 genannten J. Beyerle besteht. 10 So in der 1. Sitzung, s. Wirth (Fn. 7), S. 170, und später in der 6. und 7. Sitzung vom 28. und 29.5.1919 (Wirth, S. 180 f.). 11 Drucksache des VerfA Nr. 222, in: Nachlass Beyerle (BA Berlin N 2022), Nr. 59.

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Wie sehr und aus welchen Motiven Beyerle daran lag, lässt sich trotz erheblicher kriegsbedingter Unterlagenverluste aus einem Beitrag erschließen, dessen Vorfassung sich in seinem Nachlass findet und insoweit aufschlussreich ist. Es handelt sich genauer um das Typoskript eines Mitte Juli 1919 erschienenen Aufsatzes über „Die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“, und zwar noch mit etlichen Zusatzausführungen, die in der veröffentlichten Fassung wegfallen werden.12 Wie später in seiner Veröffentlichung bezeichnet er die Grundrechte zunächst als „lebendige Pfeiler des Rechtsstaats“ oder als „Grundsteine“ und zeigt sich damit nicht nur in der Tradition der von ihm gern zitierten Paulskirche.13 Vielmehr greift er auch der Zukunft vor, indem er diese Rechte in einem Parallelaufsatz14 als „einen Schatz oberster Richtlinien“ bezeichnet, ein Passus, der sich fast wortgleich in der Grundrechtsjudikatur des späteren Bundesverfassungsgerichts15 finden wird. Weiter wirft Beyerle i. S. des von seinem Ausschusskollegen Friedrich Naumann (DDP) propagierten Volks- und Staatskatechismus16 die rhetorische Frage auf, ob nicht „unserer neuen Verfassungsurkunde für die politische Einheit des frei gewordenen Volkes eine gesteigerte Bedeutung zukomme“, um dann mit der in der vorerwähnten Aufsatzveröffentlichung weggelassenen Passage anzuschließen:17 „Von selbst ergab sich hieraus die Forderung, die ,Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen‘ als Ersten Hauptteil der Verfassung den konstruktiven Abschnitten über Aufgaben und Aufbau des Staates vorangehen zu lassen, zu dem sie selbst überleiten.18 So behaupten sie aufs Neue den ersten Platz, wie ihn schon die Menschenrechte der Französischen Konstituante eingenommen haben. Diese Voranstellung ist heute nicht minder gerechtfertigt als damals. Sie bringt zum sinnfälligen Ausdruck, daß die Weimarer Verfassung des Jahres 1919 nicht nur ein Kind der Revolution, sondern in noch höherem Grade das alle verpflichtende Gelöbnis zum Aufbau ist.“

Diese Passage wurde in der im Juli erschienenen Veröffentlichung loyal gestrichen. Denn zwischenzeitlich war es zur Entscheidung gegen die vom Reichstags12 Der Aufsatz von Beyerle erschien in: Illustrirte Zeitung, Leipzig, Bd. 153 (1919), Nr. 3968 v. 17.7.1919, S. 4–6; das zugehörige Typoskript in seinem Nachlass (Fn. 11), Nr. 60, Bl. 304 ff. mit handschriftlicher Datierung des Textabschlusses: 28.5.1919 (Bl. 304). 13 Zitate in der genannten Reihenfolge: Illustrirte Zeitung (Fn. 11), S. 4 und 6; zur Paulskirche Beyerle, VRT (Fn. 6), Bd. 336, S. 367 (32. Sitzung v. 28.5.1919). Zur dortigen Grundrechtswertung als Säulen, Grundprinzipien oder Grundlagen des Staats s. Jörg-Detlef Kühne, Die Reichsverfassung der Paulskirche, 2. Aufl., 1998, S. 179. 14 Josef Beyerle, Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen, in: Weimarer Landeszeitung ,Deutschland‘ v. 5.7.1919 (Nr. 181), S. 1. 15 BVerfGE 7, 198 (215); 21, 362 (372); 39, 1 (41) usw. 16 Vgl. Friedrich Naumann, VRT (Fn. 6), S. 179 f. (18. Sitzung v. 31.3.1919). 17 Nachlass Beyerle (Fn. 11), Bl. 312 f. 18 Gemeint sind damit Bestimmungen wie – mit späterer Zählung – Art. 165 WRV, aber auch Art. 112 Abs. 2, 113 und passim.

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büro gefertigte Drucksache VII v. 2.6.1919 gekommen, in der die Grundrechte ganz i. S. von Beyerle als „I. Abschnitt“19 überschrieben worden waren. Der VerfA-Vorsitzende Conrad Haußmann (DDP) teilte dem Gesamtausschuss am Folgetag dazu mit,20 die Redaktionskommission sei am Vorabend zu dem Entschluss gelangt, die Systematik dieser Drucksache zu verlassen und die Grundrechte besser an den Schluss zu stellen, vor die Übergangs- und Schlussbestimmungen. 3. Gründe des Scheiterns

Wenngleich Protokolle dieser Redaktionssitzung nicht überliefert sind, lässt sich ihr Rahmen wie Gehalt doch mehr als ansatzweise rekonstruieren. Danach hat die Sitzung ausweislich eines Briefes von Haußmann21 am späten Abend des 2. Juni bei Hugo Preuß stattgefunden; dies „mit Wein und Apfelsinen“, womit im Schatten von Versailles kurz die damals bedrückende Ernährungslage aufgrund der von den Alliierten trotz Waffenstillstands beibehaltenen Einfuhrblockade von Lebensmitteln aufscheint. Und im Tagebuch von Erich Koch-Weser22 (DDP) findet sich zum Inhalt: „Über die Systematik haben wir uns bei Preuß noch in kleinem Kreise unterhalten.“ – Mehr lässt sich freilich deswegen ausmachen, weil die Mitglieder der Redaktionskommission des VerfA jedenfalls zu guten Teilen bekannt sind. Ihr gehörten u. a. Beyerle, Haußmann, Koch-Weser und Hugo Sinzheimer (SPD) an.23 Sie hatten über die Platzierungsfrage bereits am 28. Mai 1919 im VerfA eine kurze, aber wiederum nicht entschiedene Debatte24 geführt, in der das vorentscheidende Sachargument von Koch-Weser fiel: „Erst muß ein Staat da sein, ehe Grundrechte geschützt werden.“ Kam die unterstützende Stellungnahme von Preuß hinzu, der es formal „fast unmöglich“ nannte, zunächst die 57 Grundrechte zu bringen und erst dann „den ersten Artikel der eigentlichen [!] Verfassung: ,Das Deutsche Reich ist eine Republik usw.‘.“ Diesen Ausführungen zeigten sich von Seiten der SPD auch die VerfA-Mitglieder Max Quarck und Sinzheimer gewogen, der allerdings die Entscheidung als „Frage der Form“ womöglich zwecks Rückfrage in seiner Fraktion25 noch etwas aufgeschoben wissen 19 Abgedruckt in der Textsammlung von Godehard Jos. Ebers (Hrsg.), Die Verfassung des Deutschen Reichs v. 11. August 1919, S. 66 rechte Sp. 20 VRT (Fn. 6), Bd. 336, S. 400 (36. Sitzung v. 3.6.1919). 21 Brief an seine Frau v. 5.6.1919, in: Sein Nachlass (HStA Stuttgart Q 1/2), Bü 295. 22 Eintrag v. 3.6.1919, in: Sein Nachlass (BA Koblenz N 1012), Nr. 16, Bl. 157. 23 Vgl. Karl Schumacher, Die Redaktionskommission des Verfassungsausschusses, 1927, S. 24. 24 Zur Debatte mit sämtlichen hier gebrachten Zitaten VRT (Fn. 6), Bd. 336, S. 370 (32. Sitzung v. 28.5.1919). 25 Sinzheimer, in: VRT (Fn. 24); in den Fraktionsprotokollen findet sich dazu allerdings nichts, s. Heinrich Potthoff/Hermann Weber (Hrsg.), Die SPD-Fraktion in der Nationalversammlung, 1986, S. 84 ff.

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wollte. – Es fällt demgegenüber sehr auf, dass Beyerle in dieser Diskussion seine Position kaum noch verteidigte. Zeigte er sich im Ergebnis doch auch mit der Gegenauffassung einverstanden. Seinen Worten zufolge war es nunmehr ein „sekundäres Moment“,26 dass er sich im Wesentlichen rechtsvergleichend von den Vorbildern habe leiten lassen, wonach der Verfassungsaufbau von den Individuen durch die Gemeinschaft zum Staat durchzuführen sei. Der Elan für die Erstplatzierung der Grundrechte war damit zugunsten ihrer Nachstellung gebrochen. Im Ergebnis zog die Redaktionssitzung vom 2. Juni also nur noch formal die Konsequenzen – mit bleibender Wirkung für die WRV. Betrachtet man die seinerzeitigen Argumente für und wider für die Voranstellung der Grundrechte näher, so bewegen sie sich genaugenommen auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Bei Beyerle27 ist es ein verfassungsvergleichend gewonnener Ansatz mit dem verfassungstheoretischen Hintergrund der naturrechtlich aktivierten liberalen Staatszwecklehre, „wie ihn schon die Menschenrechte der französischen Konstituante eingenommen haben“, wobei er weiter als deren Vorbild auf „die Declaration of Rights des Staates Virginia von 1776“ verweist. Der erfolgreiche Debattenbeitrag von Koch-Weser28 rückt hingegen pragmatisch die Durchsetzungsfähigkeit i. S. eines liberalen Etatismus in den Vordergrund und fordert letztlich eine moderat machtstaatliche Besinnung. Dabei wird man nicht fehlgehen, für das Scheitern der Erstplatzierung damals hochaktuelle Umstände mitverantwortlich zu machen. Denn am Tag nach dem ersten Durchgang der Grundrechtsberatung im Unterausschuss platzt am 7. Mai die Bombe der Veröffentlichung der Friedensbedingungen von Versailles. Auch wenn man rückblickend ohne sonderliche Beachtung des nur teilgewährten Selbstbestimmungsrechts gemeint hat, diese seien eigentlich ein Wunder gewesen, da sie Deutschland nicht kleingeteilt hätten,29 führen die Friedensbestimmungen hierzulande zu einem Paradigmenwechsel.30 Kein Geringerer als der seinerzeitige Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann (SPD) geißelt sie leidenschaftlich als „Mordplan“.31 Und nüchterner, wenngleich in der Sache kaum anders, spricht Haußmann32 von „Friedenskatastrophe“ und davon, dass unser Heer, wenn ihm dies bekannt gewesen wäre, seine Waffen nicht gestreckt hätte. 26

Sämtliche vorstehende Zitate von Beyerle, in: VRT (Fn. 24). Typoskript (Fn. 12), Bl. 312. 28 Dazu s. o. Fn. 24. 29 So Hagen Schulze, Weimar, Deutschland 1917–1933, 1982, S. 15. 30 Dazu nur Friedrich Purlitz (Hrsg.), Deutscher Geschichtskalender, Vom Waffenstillstand zum Frieden von Versailles (1919), S. 453 ff. 31 So auf der Berliner Protestsitzung der Nationalversammlung, VRT (Fn. 6), Bd. 327, S. 1084 (39. Sitzung v. 12.5.1919). 32 Zitat aus dem Brief an seine Frau v. 17.5.1919, in: Ulrich Zeller (Hrsg.), Schlaglichter, Reichstagsbriefe und Zeichnungen von C. Haußmann 1924, S. 286, und die weitere Aussage Haußmanns auf der Berliner Protestsitzung (Fn. 31), S. 1091. 27

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In Deutschland, das politisch auf einen Rechtsfrieden Wilson’scher Prägung gehofft hatte, treten anstelle der Hoffnungen auf einen Völkerfrühling Widerstandsgedanken. Das Ergebnis der nach jeder Waffenstillstandsverlängerung ab dem 18. Nov. 1918 gesteigerten Entwaffungsregelungen zulasten Deutschlands,33 die in Hoffnung auf Friedensbegünstigungen angenommen worden waren, trat nun schmerzhaft ins Bewusstsein: die Macht- weil Wehrlosigkeit. Insofern dürfte eine zwanglose Erklärung für das Obsiegen des Arguments von Koch-Weser darin bestehen, dass in jenen bitteren Tagen und Wochen die Machtfrage zumindest kompensatorisch einen höheren Stellenwert gewann als andere Staatszwecke, zumal Beyerle34 für das Grundrechtsprimat auch auf das Vorbild Frankreichs und damit der am stärksten intransigenten Siegermacht verwiesen hatte. Kommt hinzu, dass Grundrechte von einem Teil namhafter VerfA-Mitglieder damals nicht als eigentlich notwendig erachtet werden,35 und zwar nicht nur bei den oppositionellen Kräften der Rechtsliberalen (DVP) und der Rechten (DNVP). Die Ablehnung oder Skepsis reicht vielmehr bis in die Reihen der liberalen DDP als Fraktion der Verfassungskoalition hinein. So heißt es etwa bei dem Aufnahmeskeptiker Koch-Weser36 (DDP) über die Grundrechte Mitte Juni: „Die Verfassung wäre längst fertig, wenn sie nicht drinstünden.“ Und Mitte Juli: „Die Grundrechte ruinieren uns.“ Eine Haltung, die ihn bis ans Ende der Weimarer Republik begleiten sollte. Soll heißen, dass die Verfassung in Teilen i. S. der Bismarckschen Vorgängerverfassung als Organisationsstatut verstanden wurde oder zumindest dies für wichtiger gehalten wurde. So etwa bei Preuß37 (DDP), wenn er, wie oben erwähnt, diesen Teil als „eigentliche“ Verfassung bezeichnete. Oder bei Haußmann (DDP), für den die Verfassung zu sichern hatte, dass Deutschland „in den Zeiten größter äußerer und innerer Erschütterungen nicht der staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Grundlage einer zwingenden Verfassung entbehrt“.38 Dass er dabei unzweifelhaft primär an die Verfassungsorganisation dachte, machte sein Schreiben39 an Naumann deutlich, mit dem er diesen als 33 Dazu Purlitz (Fn. 30), S. 151 ff. (9.11.1918); S. 226 ff. (13.12.1918); S. 271 ff. (16.1.1919); S. 328 ff. (14./16.2.1919). 34 s. o. Fn. 27. 35 So nur im VerfA etwa Rudolf Heinze (DVP), VRT (Fn. 6), Bd. 336, S. 319 (32. Sitzung v. 28.5.1919), Koch-Weser (DDP), ebd., und Clemens v. Delbrück (DNVP), ebd., S. 508 (51. Sitzung v. 17.6.1919), GehRat Hans v. Welser, ebd., S. 543 (42. Sitzung v. 18.6.1919). 36 In der Reihenfolge der Zitate Einträge in seinem Tagebuch (Fn. 22) v. 13.6. (Bl. 161) und v. 15.7.1919 (Bl. 233); s. a. später ders., Und dennoch aufwärts. Eine deutsche Nachkriegsbilanz, 1933, S. 19. 37 s. o. Fn. 26 und skeptisch ders., VRT (Fn. 6), Bd. 336, S. 143 ff. (18. Sitzung v. 31.3.1919, sowie warnend ebd., S. 369 (32. Sitzung v. 28.5.1919). 38 So sein Brief an den Präsidenten der Nationalversammlung v. 19.6.1919, in: Zeller (Fn. 32), S. 291.

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Vorsitzenden der Unterkommission für Grundrechte beschwor, die Verhandlungen zügig zum Abschluss zu bringen, und zwar wegen „der ausgesprochenen Tendenz tonangebender Franzosen, ,die Zertrümmerung Deutschlands in der Form der Auflösung des Reichs in Einzelstaaten durchzusetzen und dieses Tun mit dem Mangel einer Reichsverfassung‘ zu begründen.“ Dem Ergebnis einer spürbaren Abstufung zwischen Grundrechts- und organisatorischem Verfassungsteil entspricht weiter, dass damals Staatsaufgabe und Staatszweck noch nicht wie 1948/49 die eingangs bemerkte Entschiedenheit liberaler Provenienz aufweisen, wonach der Staat um des Einzelnen willen da ist. Dabei mag man darüber streiten, wie sehr diese von Locke begründete liberale Staatszwecklehre 1948/49 über C. Schmid (SPD) hinaus ungeteilte Zustimmung auch auf konservativer Seite besaß. Lässt sich doch insoweit auf den seinerzeitigen Vorsitzenden der Unterkommission für Grundrechte Hermann v. Mangoldt (CDU) verweisen. Für ihn40 ging es um Sichtbarmachung eines Wandels gegenüber der Zeit vor 1945, während er die Schmid’sche Zusatzbegründung als „etwas zu schwierig“ mit verhaltener Kritik bedachte und ihr damit zumindest weniger Gewicht beimaß. Indessen braucht diese Divergenz nicht näher vertieft zu werden. Sucht man doch 1919 für die Erstplatzierung der Grundrechte eine vergleichbar dezidierte Äußerung zugunsten der liberalen Staatszwecklehre wie von Schmid noch vergeblich. Das gilt selbst für Beyerle, der zusammen mit Naumann den stärksten Grundrechtsenthusiasmus zeigt. Er gehört nicht einer liberalen Partei, sondern der mit dem Zentrum fraktionell verbundenen Bayerischen Volkspartei an und ist seinem Bildungsgang nach durch die Historische Rechtsschule geprägt.41 Gegenüber dem in Deutschland noch lebendigen42 Organismusverständnis der Staatlichkeit ist für sie der Staat auch, aber nur teilweise organisch gewachsen und ansonsten assoziativ gestaltet und gestaltbar. Dementsprechend gehen die Staatszweckäußerungen von Beyerle in eine weniger individualisierende Richtung als es seine Berufung auf die französischen Menschenrechte und die amerikanische Declaration of Rights vermuten lässt.43 Er sieht zwar, dass die Einschätzung von 39 Schreiben Haußmann an Naumann v. 21.5.1919, in: Nachlass Naumann (BA Berlin N 3001), Nr. 13, Bl. 199. 40 v. Mangoldt (Fn. 2), S. 35; s. a. Josef Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, JZ 1999, 265 (271). 41 Näher Hense (Fn. 5), S. 28 ff., wonach sein akademischer Lehrer Richard Schröder nächst Otto v. Gierke bedeutendster Schüler des Begründers des deutsch-rechtlichen Zweigs der Historischen Rechtsschule Georg Beseler war, der 1848/49 an den von Beyerle geschätzten Frankfurter Grundrechten führend mitgewirkt hatte. Näher BerndRüdiger Kern, Georg Beseler, 1982, S. 217 ff. 42 Dazu Hans Beyersdorff, Die Staatstheorien in der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung vor 1919, 1928, S. 4 ff., der hinsichtlich der Organismustheorien etliche Nachweise anhand der Verfassungsmaterialien und -debatten gibt. 43 Vgl. Beyerle, Die Grundrechte (Fn. 12), S. 4 linke Sp. und Typoskript (Fn. 27).

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Grundrechten „unter dem Wandel der Auffassungen über die Zwecke von Staat und Recht gewechselt“ 44 hat. Doch verbleibt er ganz in der deutschrechtlichen Bahn der Historischen Rechtsschule, wenn es bei ihm45 weiter heißt: „Die Grundrechte der älteren Verfassungen sind rein einzelpersönlich aufgebaute Freiheitsrechte des Individuums gegenüber der Staatsgewalt. . . . Urdeutschem Rechtsdenken ist diese atomistische Auffassung des einzelnen Menschen und Bürgers der französischen Aufklärungszeit ebenso fremd wie dem sozialistisch geschulten Deutschen der Gegenwart. Es galt darum, jeweils eine am Gemeinwohl orientierte Freiheit, die sich mit Pflichten paart, in den Vordergrund zu stellen. Das neue soziale Deutschland ruft . . . zu der Erkenntnis auf, dass Pflicht und Dienst für die Allgemeinheit der starren Betonung der Freiheitsrechte des Einzelnen vorgehen.“

Und ganz i. S. des von Naumann46 zugleich propagierten Gedankens, Grundrechte als Volks- und Staatskatechismus zu verstehen, betont Beyerle47 weiter den ihnen innewohnenden Erziehungsgedanken sowie ihre Verkörperung der „sittlichen Grundauffassung“ für Staat und Gesellschaft. Zieht man danach ein Resümee hinsichtlich der Platzierungsüberlegungen für 1919, so geht die seinerzeitige Erwägung, die Grundrechte an den Beginn der Verfassung zu stellen, fraglos über die Paulskirche hinaus. Die Begründung dafür ist allerdings hinsichtlich des Staatszweckverständnisses noch nicht so dezidiert wie 1948/49. Für den Erfolg der Erstplatzierung im Parlamentarischen Rat wird man freilich weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen haben, die 1919 so noch nicht gegeben waren. Einmal, dass – anders als 1919 im Zeichen von Versailles – nach der bedingungslosen Kapitulation von 1945 und der andauernden Besatzungsherrschaft jede Regung machtstaatlicher Überlegungen nun chancenlos war. Und weiter, dass es angesichts der massiven „Einbrüche in die menschlichen Rechte und Freiheiten“ zwischen 1933 und 1945 als besondere Werbe- und Wirkmöglichkeit des Grundgesetzes erschien, „die Freiheit und Menschenrechte mit ganz besonderem Nachdruck in den Vordergrund zu rücken.“48 Und nicht zuletzt war es der glückliche Umstand, sich damit unmittelbar an den universellen Fanfarenstoß der Vereinten Nationen mit ihrer Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte anschließen zu können, deren Deklaration während der Beratungen des Parlamentarischen Rates erfolgte.49 44

Beyerle (Fn. 43). Beyerle (Fn. 12), S. 4 rechte Sp.; zum Topos des Atomismus bereits in der ersten deutschen Nationalversammlung 1848/49 näher Kühne (Fn. 13), S. 168 Fn. 70, 171 und passim. 46 In der genannten Reihenfolge ders., in: VRT (Fn. 6), Bd. 336, S. 179 (A) und 180 (B). 47 In: Die Grundrechte (Fn. 12), S. 6 rechte Sp.; ebenso Beyerle, Grundrechte (Fn. 14), S. 1. 48 Zitat aus dem Bericht des Vorsitzenden der Herrenchiemseer Grundlagenkommission (Fn. 1). 45

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II. Zum grundrechtlichen Neuerungsgehalt im Spiegel erbetener Professorenkritik 1. Bekannte Stellungnahmen und gewichtiger Zusatzfund

Nach eigenem Bekunden hat Beyerle50 die Beschlüsse des ersten Durchgangs der Grundrechtsberatung in der Unterkommission „einer Reihe erster Staatsrechtslehrer Deutschlands . . . mit der Bitte um gutachtliche Äußerung zugesandt“, wobei es ihm genauer um „Verbesserungsvorschläge redaktioneller, sachlicher und systematischer Art“ ging. Diese Aussage bedarf freilich in zweifacher Hinsicht der Korrektur. Dies lässt sich zum einen anhand der eingegangenen zehn Stellungnahmen feststellen, die – bis auf die hier vorgestellte zehnte – inzwischen weitgehend bei Pauly51 publiziert worden sind. Zeigen diese z. T. sehr kurz gehaltenen Rückläufe doch als Autoren neben einem Rechtshistoriker der Frühzeit,52 drei Strafrechtlern sowie – nun noch gefunden – einem ausgewiesenen Sprachwissenschaftler nur zur Hälfte Staatsrechtslehrer.53 Eine Erklärung dafür dürfte sein, dass Beyerle wegen der äußerst kurz bemessenen Antwortfrist eigentlich nur an ihm besser bekannte Kollegen herantreten konnte.54 Deshalb stammen allein fünf der Stellungnahmen von seiner eigenen Münchner, von der bedeutenden Berliner Juristenfakultät hingegen nur zwei und die weiteren drei von verschiedenen anderen Universitäten.55 Greift die Staatsrechtslehreransage angesichts dieses breiteren Befundes also zu kurz, gilt dies weiterhin, weil andere damals „erste“ Staatsrechtslehrer wie Anschütz und Triepel56 und auch speziell zur Grundrechtsthematik hervorgetretene Kollegen wie Giese und Thoma offen49 Nach entsprechendem Vorlauf wurde sie am 10.12.1948 von den Vereinten Nationen angenommen und proklamiert. 50 VRT (Fn. 6), Bd. 336, S. 368 (32. Sitzung v. 28.5.1919); das zweite Zitat entstammt seinem Kollegenanschreiben, Nachweis bei Hense (Fn. 5), S. 149. 51 Olaf Hünemörder, in: Pauly (Fn. 5), S. 73 ff. 52 Es handelt sich neben dem Rechtshistoriker Karl v. Amira und dem Sprachwissenschaftler Karl Vossler um die Strafrechtler Ernst v. Beling, Reinhard Frank, Richard Schmidt (Leipzig), die bis auf den Letzten sämtlich Münchner Kollegen von Beyerle waren. 53 Neben Hans Gmelin (Gießen), Erich Kaufmann (Berlin), Karl Rothenbücher (München) und Robert Piloty (Würzburg) kann dazu auch der Genossenschaftsrechtler Otto v. Gierke gezählt werden, da er immer wieder auch zum Staatsrecht publiziert hatte. 54 Vgl. die Anrede durch v. Amira: „Verehrter Freund“ bei Pauly (Fn. 5), S. 102. 55 Dazu die vorstehenden Fn. 52 f., wobei die Stellungnahme Vosslers nach der von Gierke zusammen mit der von Schmidt zu den längsten gehört; näher Hünemörder (Fn. 51), S. 107 ff. 56 Gerhard Anschütz (Heidelberg) hatte in seinem Kommentar: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat, 1912, deren Grundrechte behandelt. Heinrich Triepel allerdings war bis dahin eher durch Grundlagenwerke zur organisatorischen Verfassung hervorgetreten und gehörte überdies als DNVP-Mitglied den oppositionellen Kräften zu.

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bar nicht zu Rate gezogen worden sind.57 Umso bemerkenswerter ist deshalb die im Nachlass von Beyerle58 entdeckte zusätzliche Stellungnahme seines Münchner Kollegen. Diese vierseitige Äußerung, über deren Autor gleich näher zu sprechen sein wird, dürfte ebenfalls auf Bitten von Beyerle erfolgt sein. Dies entspricht nämlich seiner auch ansonsten feststellbaren Kollegenheranziehung. Wenn dabei im Gegensatz zu anderen Kollegenzuschriften kein Anschreiben in seinem Nachlass zu finden ist, so spricht dies für persönliche Übergabe und erklärt auch, warum der Autorenname auf der ersten Seite von der Hand Beyerles mit Rotstift aufgetragen und nach gewissem Entzifferungsaufwand als „GR. Vossler“59 zu lesen ist. Dabei zeigen die handschriftlichen Bearbeitungsspuren Beyerles, dass er dieses Papier seines bedeutenden Kollegen von der Münchner Philosophischen Fakultät durchgesehen und somit jedenfalls in seine Überlegungen zur weiteren Grundrechtsberatung einbezogen hat.60 Es liegt auf der Hand, dass dafür auch ein besonderes Interesse bestand. Mit dieser Stellungnahme eines profilierten Konservativen und renommierten Sprachwissenschaftlers, der die Grundrechte nicht in Bausch und Bogen verwarf, sondern Verbesserungen vorschlug, ließ sich nämlich einmal den Grundrechtsgegnern und Skeptikern im VerfA entgegentreten, die Grundrechte als zu unbestimmt ablehnten bzw. wie überkommen auf eine Positivierung durch Einfachgesetze verwiesen. Und überdies versprach gerade Vosslers sprachwissenschaftliche Kompetenz wichtige redaktionelle Hinweise.61 2. Zu Autor und Inhalt des Fundes

Bevor die in der Anlage dokumentierte Stellungnahme genauer beleuchtet sei, gilt es auf ihren Autor etwas näher einzugehen. Es handelt sich um den Romanisten und Sprachphilosophen Karl Vossler (1872–1949), der seit 1911 an der Münchner Universität schon bald eine auch über Deutschland hinaus anerkannte

57 Vgl. Friedrich Giese, Die Grundrechte, 1905; Richard Thoma, Der Vorbehalt des Gesetzes im Preuß. Verfassungsrecht, in: Festgabe Otto Mayer, 1916, S. 165 ff. 58 s. o. (Fn. 12), Nr. 60, Bl. 426–427 R. 59 Dabei ist GR. die Abkürzung für den damaligen Amtstitel Geheimrat gewesen, den Vossler besaß; im Übrigen danke ich für entscheidende Lesehilfe Herrn Dipl.-Bibliothekar Werner Ganzke aus der Handschriftenabt. der hiesigen Landesbibliothek. Im Nachlass Vosslers in der Bay. Staatsbibliothek zu München findet sich nur spätere Korrespondenz von Beyerle v. 19.11.1922. 60 s. o. Fn. 34 und zu Koch-Weser am Ende der Weimarer Republik, Und dennoch aufwärts (Fn. 36), S. 21. 61 Zu Beyerles redaktionellem Interesse s. Hense (Fn. 5), S. 150; Vosslers spezifisch sprachwissenschaftliche Kompetenz als Literaturkenner und Übersetzer u. a. von Dante kommt etwa in seiner Sorge vor behördlichen „Prüderie-Ansichten“ (zu Ziff. 12) und seinem Vorwurf der „Ungenauigkeit gegen die Sprache“ (zu Ziff. 59) zum Ausdruck.

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Berühmtheit ist.62 Neben Gierke dürfte er der bedeutendste der Kollegen sein, die Beyerle zu Rate zog,63 und gehört in den zwanziger Jahren ähnlich wie sein lebenslanger Freund, der italienische Philosoph, Historiker und Politiker Benedetto Croce, zu den politischen Hochschullehrern, die über ihr eigentliches Fachgebiet hinaus Einfluss auf das geistige und politische Leben ihrer jeweiligen Länder nehmen. Konservativ, jedoch parteilos und – dank seiner grenzüberschreitenden Forschungsinteressen wie -reisen – mehr und mehr weltläufiger Grandseigneur, fällt er in der damaligen Zeit durch gewisse Übernationalität und Unabhängigkeit auf. Nachdem er sich 1914 im öffentlichen „Aufruf der 93 an die Kulturwelt“ westlicher Propaganda gegen Deutschlands Kriegsführung entgegengestellt hatte, um allerdings später davon weitgehend Abstand zu nehmen und sich 1917 scharf gegen annexionistische deutsche Kriegsziele auszusprechen, gehört er ab 1919 zu den wenigen Weimarer Hochschullehrern, die offen gegen antisemitische und antirepublikanische Umtriebe in der Studentenschaft Stellung beziehen und – so als Rektor seiner Universität – entschieden durchgreifen.64 Geht man danach auf seine Einzelkritiken ein, die gut zwei Fünftel 65 der 61 Ziffern umfassenden Beschlussdrucksache der Unterkommission behandeln, bestätigt sich zunächst seine den Vorkriegszuständen verpflichtete konservative Haltung.66 Dabei treten freilich auch die besonderen Erfahrungen mit der in mehreren Wellen fast ein halbes Jahr dauernden, 1918/19 innerdeutsch längsten und zuletzt blutigen Revolution in München einschließlich der dortigen Räterepublik zutage.67 So, wenn Vossler von Revolutionsschwärmern (7, 14) oder Radaubrü62 Zu ihm näher zuletzt Hans-Albrecht Koch, in: Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), 2. Aufl., Bd. 10, S. 317 f.; Hans Ulrich Gumbrecht, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten: Biographische Skizzen . . ., 2002, S. 24 ff. Vor München war Vossler Professor in Heidelberg und Würzburg, nach 1933 wählt er als konservativer Nazi-Gegner die innere Emigration, wobei er zu seinem ältesten Schüler Victor Klemperer, der ihn in seinen Tagebüchern bedenkt, Kontakt hält. Zu seiner wissenschaftlichen Bedeutung s. jüngst Wolf Feuerhahn u. a., Max Weber und Karl Vossler, in: Grenzüberschreitende Diskurse, Festgabe Hubert Treiber, 2010, S. 279 ff. 63 Die Prominenz, die Pauly (Fn. 5), S. 43, nur Gierke zuspricht, ist insofern zu ergänzen. 64 Zum Aufruf v. 4.10.1914 näher Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral, 1969, S. 22 ff.; zu 1917 Hans Rheinfelder, Nachruf, in: Theodor Ostermann, Bibliographie der Schriften Karl Vosslers, 1951, S. 5 (7); zu Vosslers Einsatz gegen Antisemitismus usw. als Rektor 1926/27 ders., Politik und Geistesleben, 1927, S. 20 ff. und im Rahmen des Verbands der Deutschen Hochschulen 1932 Rüdiger v. Bruch, in: Kurt Bosl (Hrsg.), Bay. Biographie, 1983, S. 812 sowie DBE (Fn. 62), S. 318. 65 In absoluter Zahl: 25. 66 Vgl. etwa seine Kommentare zu Ziff. 18, 22, 55 und 56. 67 Zu den im November 1918 beginnenden drei Wellen der Münchner Revolution einschließlich des Wirkens der dortigen Räterepublik v. 7.4.–2.5.1919 samt den Kämpfen zwischen ihrer Roten Armee und der Reichswehr wie Freikorps knapp Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 2. Aufl., 1992, S. 1113 ff. Eingehend Allan Mitchell, Revolution in Bayern 1918/19, 1967 und Michael Seligmann, Aufstand der Räte. Die erste Bayerische Räterepublik v. 7.4.1919, 2 Bde., 1989.

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dern und gewissenlosen Hetzern (19) spricht und Misshandlungen von Beamten (26), den Kommunismus (47) oder die Furcht der Betriebsinhaber vor ihren Arbeitern (56) zum Anlass für Verbesserungsvorschläge nimmt. Dem gegenüber besteht unverhüllte Sympathie für vorrevolutionäre Verfassungszustände, wenn er es „jammerschade“ nennt, dass der Jugend in der Schule nicht auch die „Bedeutung einer Monarchie . . . mit aller Begeisterung“ beigebracht werden soll (44). Wenngleich fraglos auch ortsspezifisch situationsbedingt, sind damit klare Verharrungen gegeben, jedenfalls im Vergleich mit einem Neuerungsprofil, das sich ausgehend vom Beschlusspapier der Unterkommission weiter am ersten verfassungsartigen Aufruf der Volksbeauftragten68 sowie der schließlichen WRV samt dem nachfolgenden GG orientiert. Dieser Befund lässt sich noch verbreitern, wenn man die Stellungnahme systematischer untersucht, und zwar im Duktus der offiziellen Untergliederung der Kommissionsbeschlüsse.69 – So zeigt die Kritik an den Rechten der Person einschließlich des auf Münchner Revolutionserfahrungen beruhenden Drittwirkungsvorschlags zu Ziff. 7 überwiegend Freiheitsrückschnitte, wobei neben der tatbestandlichen Schutzbereichseinkürzung zu Ziff. 10 die Haupttendenz in Richtung einer Schrankenausweitung geht. Dies beim ethnischen Minderheitenschutz (6) und bei der Meinungs- und Theater(kunst)freiheit (12). Trotz der im letzteren Fall berechtigten Zweifel Vosslers an der Schrankenbestimmtheit des Begriffspaars „gute Sitten“ bleibt seine angeratene Einschränkung der Theaterfreiheit auch für Erwachsene wiederum klar hinter den einschlägigen WRV- und GG-Regelungen70 zurück. Weiter setzt sich im Unterabschnitt zum Gemeinschaftsleben mit dem quantitativ ersten Kritikschwerpunkt die Tendenz zur Schrankenausweitung fort, indem für den Beibehalt bestimmter kaiserzeitlicher Rechtszustände plädiert wird, denen weder die WRV noch das GG folgen werden. So einmal beim Petitionsrecht (22) für Militärs und Jugendliche. Und zum andern bei der Versammlungs- und Vereinsfreiheit, wobei das Reichsvereinsgesetz von 1908 den Maßstab gibt, und zwar gegen den Aufruf der Volksbeauftragten zugunsten polizeilicher Überwachung sowie zulasten der Jugend.71

68 Aufruf des Rats der Volksbeauftragten an das Deutsche Volk v. 12.11.1918 (RGBl. 1303), auch bei Ernst-Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, 3. Aufl., 1992, Bd. 4, Nr. 7. 69 In die nachstehende Anlage mit eingefügt nach Pauly (Fn. 5), S. 79 ff. 70 Das gilt auch für die ähnliche Kritik von v. Amira und Schmidt, s. Hünemörder (Fn. 51), S. 105 und 117. Vgl. Art. 118 WRV und 5 Abs. 1 f. GG. 71 Dazu (Hans) Delius, Versammlungs- und Vereinsrecht, in: Hans Carl Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. 2, 1930, S. 138 (140 ff.), sowie der Volksbeauftragten-Aufruf (Fn. 63) unter Nr. 2, wonach jede Beschränkung des Versammlungs- und Vereinsrechts aufgehoben wurde.

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Schließlich dürften es erneut die spezifischen Münchner Revolutionserfahrungen sein, die erklären, in welchem Umfang Vossler soziale Freiheitsbeeinträchtigungen in den Blick zieht und ihnen gegenüber zu rechtlichen Schutzpflichten gelangt, wie etwa zur Freiheit des Frauenwahlrechts (21) und zur Garantie des Beamtentums (26), wo seine Vorschläge bis hin zu einer „Art Schmerzens- oder Kränkungsgeld aus Steuermitteln“ zugunsten betroffener Beamten gehen. Die Randbemerkungen Beyerles verweisen demgegenüber auf die spezielle Einfachgesetzgebung. Dass er dabei dem erhöhten Beamtenschutz grundlegend zustimmt, sollte folgenlos bleiben. Denn die von Vossler angesprochenen Revolutionsvorgänge unterfielen zumindest anfangs der Amnestie der Volksbeauftragten72 und im Übrigen war die verfassungsrechtliche Hervorhebung dieser Berufsgruppe regierungsseitig schon früh durch Preuß73 als berufsständisches Privileg infrage gestellt worden. Bei den anschließenden Äußerungen zur Schule treten neben der bereits erwähnten Forderung nach Monarchiekunde (44) Ungleichheitsvorstellungen hervor, die dem sozialstaatlichen Impuls der Novemberrevolution wie der WRV und dem GG diametral zuwiderlaufen.74 Wenn der Autor dafür ist, beim Schüler „die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung seiner Eltern“ zu berücksichtigen, und dies speziell mit der „Gefahr . . . eines Beamtenproletariats“ begründet, so wendet er sich gegen einen republikanischen Ausbau i. S. einer gleichheitlichen Staatsbürgergesellschaft und damit gegen Verschiebungen der innergesellschaftlichen Zustände. Das wird vollends deutlich bei seiner zweiten Schwerpunktkritik, nämlich zum Unterabschnitt über das Wirtschaftsleben. Man beachte die Befürwortung der Aussperrung zu Ziff. 52, während die WRV darauf verzichten wird, Koalitionskampfmittel zu regeln.75 Man beachte weiter zu Ziff. 52 den Rundumschlag gegen „Drückeberger“ und „Rentenhysterie“, was ähnlich bereits mit „vielen Scheinmanöver(n)“ bei der Kriegsfürsorge (18) gesagt worden ist und zu einseitig auf den Rechtsmissbrauch abstellt. Desgleichen werden den Arbeitnehmern in den Arbeiter- und Wirtschaftsräten (57), in denen sie mit den Arbeitgebern gleichberechtigt an der Lösung wirtschaftlicher Fragen mitwirken, einseitig Parteilichkeit und Parteisinn nachgesagt. – Im Ergebnis stellt sich die Kritik Vosslers damit zu zentralen Anliegen der Novemberrevolution und den daraus hervorgegangenen sozialen Grundrechten quer und sucht ebenso wie bei der Sorge vor

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Aufruf (Fn. 68), Nr. 6. So vor allem Hugo Preuß (DDP), VRT (Fn. 6), Bd. 336, S. 184 f. (18. Sitzung v. 31.3.1919), 382 (33. Sitzung v. 30.5. 1919) und S. 507 (41. Sitzung v. 17.6.1919); ähnlich Max Quarck (SPD). 74 Vgl. Art. 146 Abs. 1 S. 2 WRV und heute z. B. Art. 132 VerfBay, 59 Abs. 2 VerfHess, 10 Abs. 1 S. 2 VerfNW. 75 Nipperdey, Koalitionsrecht, in: ders. (Fn. 71), S. 385 (414 f.). 73

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konfiskatorischen Steuern (59) Zustände der Kaiserzeit zu bewahren, in der auf der Rechten schon Steuersätze ab 5% (!) als Konfiskation angegriffen worden waren.76 3. Beyerles Verarbeitung sowie Verfassungsauswirkungen

Nachdem schon gesagt worden ist, dass Beyerle Vosslers Stellungnahme bei seinen Grundrechtsüberlegungen herangezogen hat, bleibt noch näher auf das quantitative wie qualitative Ausmaß einzugehen. Beides lässt sich aus seinen handschriftlichen Zusätzen erschließen, die sich teils als Randbemerkungen, teils als An- oder Unterstreichungen oder Querschreibungen in der Stellungnahme angebracht finden. Dabei ist zunächst zu sagen, dass lediglich 5 der insgesamt 25 Ziffern des Vossler-Papiers ohne Notate Beyerles geblieben sind.77 Das Ausschweigen dazu lässt sich damit erklären, dass es um Bestimmungen im Bereich der „Grundrechte und Grundpflichten auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens“ 78 geht, die zu den essenziellen Forderungen der SPD-Fraktion gehörten und damit Beyerle unverrückbar erscheinen konnten. Die verbleibenden 20 Kritiken, die Bearbeitungsspuren von Beyerle zeigen, lassen sich hälftig in affirmative sowie (teil-)abweichende Zusätze aufteilen. Zu Ersteren kommt es durch bloß hervorhebende An- und Unterstreichungen einzelner Textpassagen79, durch zusätzlich in den Text (26, 27, 30, 44) oder an den Rand gesetztes (47, 56): „Ja“ oder durch Bemerkungen wie „empfehlenswert“ (23) bzw. „sicher“ (43).80 Versucht man insoweit eine Würdigung, so zeigen die Affirmationen Beyerles als einer der Zentralfiguren für die Weimarer Grundrechtsentstehung ebenfalls Neuerungsskepsis bzw. wie sehr die Stellungnahme Vosslers verharrend-konservative Grundtöne auch bei verfassungstragenden politischen Köpfen Weimars traf. So wenn die noch als „Gegenstreik“ bezeichnete Aussperrung sozial gekräftigt werden soll und ebenso vorbehaltlos unterstrichen wird wie eine auf den Steuerzugriff beschränkte Planungsgewinnabgabe (52, 60). So wenn der extensive Ausbau des Schutzes der Staatsdiener von Beyerle ebenso befürwortet wird (26) wie die gegen prophylaktischen Republikschutz gerichtete paritätische Positivvermittlung des Monarchiegedankens in der Schule (44) und eine Mittelstandsförderung, die auch den Schutz des Arbeitgebers vor politischer Einschüchterung durch 76 Näher Emanuel Wurm, Die Finanzgeschichte des Deutschen Reiches (1910), ND 1970, S. 67. 77 Genau die Ziff. 50, 55, 57, 59 und 61. 78 Vor Ziff. 47, s. Anhang, wobei – hier nicht mit aufgenommen – noch unterteilt wurde in: „a) in persönlicher Beziehung“ (vor Ziff. 47) und „b) in sachlicher Beziehung“ (vor Ziff. 58). 79 Z. B. Ziff. 52 unter: Gegenstreiks, Ziff. 60 unter: Steuergesetzgebung. 80 Weiterer Fall ist die Bemerkung: „Richtig“ hinsichtlich Vosslers Stellungnahme zu Ziff. 12 unter „Theater ohne höhere Kunstinteressen“.

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seine Arbeitnehmer umfassen soll (56). Weiter wenn die Zensur bei Theater ohne höhere Kunstinteressen auch für Erwachsene (12) für richtig befunden und die Gefahr der Entstehung eines Beamtenproletariats durch Bildungsförderung ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Herkunft (43) für „sicher“ gehalten wird.81 Damit wird spätestens an dieser Stelle ein sozial unterbelichtetes, kulturell sehr gehobenes grundrechtliches Wertverständnis82 erkennbar, das freilich von der Verfassungsentscheidung für die Republik zu abstrahieren bzw. grundrechtstheoretisch gesprochen vor sie zurückgehen zu können meint. Kommt man schließlich zu den zehn abweichenden Bemerkungen Beyerles, so ist zunächst zur Hälfte eine normhierarchische Bewältigung festzustellen, die die Stellungnahmen Vosslers zu den Ziffern 7, 10, 18, 20 und 21 von der Ebene der Verfassung auf die der Einfach- bzw. Ausführungsgesetzgebung verweist. So etwa bei der Freiheit der Person (7), dem drittgerichteten Schutz gegen sozialrevolutionäre Handgreiflichkeiten oder bei politischen Vereinen bzw. Parteien (20), wie bis 1918 den Beibehalt der Polizeiaufsicht durch anwesende Überwachungsorgane samt des Ausschlusses Jugendlicher sowie – möglicherweise nach Erfahrungen während der langen Münchner Revolutionszeit – ein antipatriarchalischer Schutz der Wahlfreiheit (21).83 Die übrigen inhaltlichen Randbemerkungen bleiben zunächst im Wes. affirmativ. So wenn es in Übereinstimmung mit dem von Vossler vorgeschlagenen Gegenseitigkeitsgedanken im Minderheitenschutz in Ziff. 6 heißt: „M(it) R(ücksicht) auf das Ausland möglichst freie Fassung erwünscht.“ Das Gleiche gilt für Ziff. 12 Abs. 1, wo der Rüge der „guten Sitten“ als zu dehnbare Schranke der Meinungs- und Pressefreiheit mit der Randbemerkung beigetreten wird: „Dort ist gute Sitten ein Gummi im Text.“ 84 Weiter verweist Beyerles Zustimmung dazu, die Petitionsfreiheit für Militärpersonen und Minderjährige zu beschränken (22), mit dem Bemerken: „Dafür Spezialnormen ins ReichswehrG[esetz]“, nicht bloß auf die einfache Gesetzgebung, sondern auf mehr. Denn da die Ziffer ohne entsprechenden Schrankenvorbehalt geregelt ist, wird damit genaugenommen dafür plädiert, sie zunächst noch entsprechend abzuändern. Gelangt man danach zu den klaren Abweichungsfällen, so ist einmal Beyerles Kommentar: „Nichts zu machen“, zu nennen, der sich am Rand der Vossler’schen Einschränkungsanregung zur Versammlungsfreiheit (19) findet. Angesichts des 81 Unberücksichtigt sind dabei zunächst noch die Affirmationen durch bloßes „Ja“ am Rand zu Ziff. 27, 30 und 47. 82 Zum etwas später ansetzenden kulturellen Wertverständnis der Grundrechte näher Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation (1974), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 221 (232 f.). 83 Weitere Fälle des Verweises auf die Ausführungsgesetzgebung bei Ziff. 10 und 18; zur Münchner Revolutionszeit, die bis Anfang Mai 1919 dauert, s. o. Fn. 67. 84 Im Original mit Dehnungsstrich über einfachem „m“.

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unüberhörbar resignativen Untertons oszilliert dies jedoch zugleich noch mit einer Bestätigung. Letztlich bleibt damit ein einziger Fall dezidierter materieller Abweichung, nämlich zu Ziff. 14 Abs. 2 S. 2. Sie sieht die staatliche Förderung kinderreicher Familien vor, was Vossler in bemerkenswerter sozialstaatlicher Extension auf alle Eltern mit Kind erstreckt wissen will. Beyerles Kommentar hierzu lautet demgegenüber: „An sich richtig, stört aber den Ve[r]m[ehrungs]gedanken“, der in Ziff. 14 Abs. 1 wie später in Art. 119 Abs. 1 S. 1 WRV „unter dem besonderen Schutz der Verfassung“ steht und vor dem Hintergrund des massiven Menschenverlusts im Krieg programmatisch auf stärkeren Peuplierungsanreiz zielt. Schließlich ist für das damalige verfassungspolitische Klima der Grundrechtsentstehung zugleich die Frage nach der definitiven Verfassungsdurchsetzung der von Beyerle weithin unterstützten Vossler’schen Vorstellungen von Interesse. Stellt man dabei nicht beckmesserisch auf wortwörtliche, sondern auf sinngemäße Übernahmen ab, so zeigt sich unbeschadet möglicher Mitursächlichkeit anderer Professorenstellungnahmen ein hälftiger Erfolg.85 – So fällt zugunsten betonter Rechtsstaatlichkeit hinsichtlich der Meinungs- und Pressefreiheit die zu unbestimmte Schranke der „guten Sitten“ (12/Art. 118) ebenso wie bei der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie die Beschränkung des Gesetzesvorbehalts allein auf „neue“ Lasten (23/Art. 127). Und desgleichen wird auf die Regelung der Gedankenfreiheit als selbstverständliche Voraussetzung für die Glaubens- und Gewissensfreiheit und als für den Staat letztlich unzugängliches forum internum (30/Art. 135) verzichtet.86 Andererseits kommt es hinsichtlich der Grundpflichten zu Rückschnitten. So wenn bei der pflichtigen Übernahme von Ehrenämtern ein grundrechtsdogmatisch auffälliger87 Gesetzesvorbehalt i. S. verstärkter Befreiungsmöglichkeiten ergänzt wird (27/Art. 132) und die Anforderungen an gesetzliche Zwänge im Bereich des Wirtschaftslebens deutlich gesteigert werden (47/ Art. 151). Erfolgreich sind nicht zuletzt die gegen zu starke soziale Gleichmacherei gerichteten Einwände zu Ziff. 50 und 59,88 die in Art. 157 und 154 WRV zu entsprechenden Einkürzungen führen. Handelt es sich bislang um eher kleinere, weniger wichtige Erfolge, kommt es zu einer kaum zu überschätzenden Veränderung der Bestimmung über die staatsbürgerliche Erziehung (44). Wird hier doch angesichts des nachhaltigen Einsatzes 85 Genauer 9 der 20 von Beyerles Notaten begleiteten Vossler’schen Stellungnahmen sowie zu Ziff. 6 ein Fall späterer Ausführungspraxis. Zur Mitursächlichkeit s. o. Fn. 70. 86 Dementsprechend auch die Stellungnahme v. Gierke, s. Hünemörder (Fn. 51), S. 110. 87 Der Gesetzesvorbehalt, der an sich nur für Eingriffe vorgesehen war, wurde hier nämlich zugunsten von Rechtskreiserweiterungen eingesetzt. 88 Genauer geht es um die in Ziff. 50 S. 3 vorgesehene Regelung: „Wer die Arbeitsleistung steigert, soll daran verdienen können.“ Weiter um den Erbschaftsanspruch in Ziff. 59 Abs. 2.

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für die monarchische Staatsform als Unterrichtsgegenstand gleichsam die Axt an die republikanische Verfassung gelegt.89 Denn der Satz zugunsten ihres prophylaktischen Verfassungsschutzes: „Inhalt und Geist der Verfassung sind Prüfungsgegenstand in allen Zweigen des öffentlichen Prüfungswesens“, verliert daraufhin bereits in der den Professorenstellungnahmen folgenden Zweitberatung des Unterausschusses die Mehrheit.90 Ähnlich wie bei der Grundrechtsplatzierung dürfte dies ebenfalls mit Enttäuschung und Trotz aufgrund der zwischenzeitlich bekannt gewordenen Versailles-Auspizien zu tun gehabt haben. Bleibt noch auf zwei weitere nicht so klar sichtbare Einflüsse einzugehen. Einmal auf die gegenüber Ziff. 12 in Art. 118 S. 2 WRV ergänzte unmittelbare Drittwirkungsregelung zugunsten der sozialen Meinungsfreiheit in Arbeitsverhältnissen, die das Grundgesetz nicht übernehmen sollte. Sie entpuppt sich nämlich angesichts des durch Münchner Revolutionserleben beeinflussten Vossler-Textes zu Ziff. 56 durchaus auch als zum Schutze der Arbeitgeber geregelt, womit zugleich der Grund für ihre mehrheitliche Annahme freigelegt sein dürfte.91 Und schließlich ist der ethnische Minderheitenschutz (6/Art. 113) zu nennen. Zwar vermag sich hier die von Vossler wie Beyerle empfohlene Aufnahme des Gegenseitigkeitsprinzips nicht normativ durchzusetzen. Doch fallen ihre Vorstellungen letztlich doch auf fruchtbaren Boden. Denn die wichtigsten Minderheitenregelungen unter der WRV durch Verträge mit Polen und der Tschechoslowakei sollten nach dem Gegenseitigkeitsprinzip geregelt werden.92 III. Bilanz Den intensiv ausgewiesenen Grundrechtsforschungen des Jubilars verpflichtet, aber auch an Grundrechtseinwirkungen Münchens als dem Ausgangsort seiner späteren akademischen Karriere erinnernd ist Fazit der Untersuchung fraglos, wie sehr der Schattenwurf kaiserzeitlicher Vorprägungen, aber auch der der aktuellen Erfahrungen mit der Revolution und speziell deren Münchner Auswüchsen sowie den Modalitäten der Friedensvertragsgestaltung in Versailles die Weimarer Debatte über die Platzierung sowie die Einzelausgestaltung der Grundrechte beeinflusste. Weiter dürfte für die Justierung des damaligen politischen Spektrums 89

Selbst in der gründlichen Arbeit von Richter (Fn. 5), S. 426 übersehen. Streichung in der 7. Sitzung des Unterausschusses v. 29.5.1919 im dortigen Art. 39, vgl. Wirth (Fn. 7), S. 182. 91 Während der ursprüngliche Antrag H. Sinzheimer (SPD) zur sozialen Meinungsfreiheit noch von „kein Arbeitgeber“ sprach, wurde dieser Passus durch den Unterantrag S. Katzenstein (SPD) durch das insoweit umfassendere Wort „niemand“ ersetzt und so angenommen. 92 Näher Hans Gerber, Artikel 113. Minderheitenrecht, in: H. C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung I (1929), ND 1975, S. 269 (272 ff.). 90

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Folgendes von besonderem Interesse sein. Obgleich sich Beyerle vielfach den konservativen Bemerkungen Vosslers anschloss, wurde er dem linken (!) Flügel der Bayerischen Volkspartei zugerechnet.93 Im schließlichen Vergleich mit den Privatentwürfen zur WRV94 und mit den von Beyerle bei sonstigen Professoren eingeholten Stellungnahmen95 dominieren vorliegend ebenfalls rechtlich konservative gegenüber innovativen Vorschlägen. Das darf nicht verwundern, gehörten doch sämtliche Autoren dem bis 1918 weithin zufriedenen höheren Bürgertum an,96 das nach der Novemberrevolution in besonderem Maße sozialen Verschiebungen entgegensieht und überdies – bezogen auf die zehn Professorenstellungnahmen – zur Hälfte das heftige und in Teilen gewalttätige Auf und Ab der fast ein halbes Jahr dauernden Münchner Revolution von 1918/1997 erlebt hatte. Noch wichtiger erscheint indessen, dass die Hochflut an Vorschlägen und Einwänden gegenüber Weimar, und zwar bereits vor Unterzeichnung des Versailler Friedens, zugleich indirekt das qualitative Ausmaß der in der Nationalversammlung gewollten Verfassungs- und genauer Grundrechtsinnovationen beleuchtet. Angesichts der Aversionsbreite und der Tatsache, dass die bürgerlichen Kräfte in der Weimarer Nationalversammlung durchaus die Mehrheit besaßen,98 lässt es sich danach durchaus als Wunder bezeichnen, dass die Weimarer Grundrechte trotz ihres Neuerungsgehalts zustande gekommen sind.

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Hense (Fn. 5), S. 209. Dazu eingehend Karin Dubben, Die Privatentwürfe zur Weimarer Verfassung, 2009, insbes. S. 33 f., 250 ff. 95 Dazu Pauly (Fn. 5), S. 43 ff., Hünemörder (Fn. 51), S. 73 ff., S. 102 ff. 96 Akzentuierter Dubben (Fn. 94), S. 24: „mehrheitlich . . . großbürgerlich“. 97 Dazu s. o. Fn. 67. 98 Die Linke aus SPD (37,9%) und USPD (7,6%) blieb demgegenüber ca. 5% unter der Mehrheit. 94

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Anhang**: Stellungnahme von Karl Vossler vom Mai 1919 [I. Grundrechte und Grundpflichten der Person.] Ziff. 6

Ziff. 7

Ziff. 10 Ziff. 12

[Schutz nationaler Minderheiten.] Satz 1 ist ein sog. Kautschukparagraph. Satz 2 gibt zwar eine gute Grundlage gegenüber dem Auslande, beseitigt aber nicht genügend die Gefahr des Zuweitgehens bei praktischer Anwendung des Prinzips von Satz 1. Eine Schranke muß dem Satz 1 beigefügt werden mindestens in Rücksicht auf etwaige Gefährdung der Hauptinteressen des Reiches. [Freiheit der Person.] „Unversehrtheit“ wäre zum Schutz gegenüber der Neigung unreifer Revolutionsschwärmer, zu Handgreiflichkeiten zu schreiten, wenn ihre Gründe zu Ende sind, vielleicht an dieser Stelle passend mit einzufügen (Satz 1) [bzw.]** besonders hervorzuheben. [Verbot willkürlicher Rechtspflege.] Vielleicht [in Satz 2] „Steuerbehörden“ noch mit erwähnen. [Preß- und Zensurfreiheit.] Die Schranken der guten Sitten sind sehr dehnbar, je nach der allgemeinen Ansicht, die der Einzelne hat; es wäre vielleicht besser an Vermeid[un]g „dringender Gefahr für das Allgemeinwohl“ zu denken.

** Die Stellungnahme ist auf die bei Pauly (Fn. 5), S. 79 ff. abgedruckte Drucksache „Anträge des Unterausschusses für die Vorberatung der Grundrechte im Anschluß an die Vorschläge des Abgeordneten Dr. Beyerle zu einer Stoffgliederung und Textgestaltung dieses Verfassungsabschnittes“ v. 6. Mai 1919 bezogen. Dieser Drucksache sind auch die in der hiesigen Wiedergabe zum besseren Verständnis vorgenommenen Ergänzungen von Zwischen- und Regelungsüberschriften entnommen, die ebenso wie die gelegentlichen Abkürzungsauflösungen durch eckige Klammern – ohne weiteren Hinweis – kenntlich gemacht sind. Der handgeschriebene vierseitige mit dem Namen Vosslers (s. o. Fn. 59) versehene Text, der genauer entsprechend den anderen erbetenen Professorenstellungnahmen (vgl. Hünemörder, Fn. 51, S. 76) zwischen dem 13. bis 20. Mai 1919 entstanden sein dürfte, findet sich im Nachlass von Konrad Beyerle im Bundesarchiv Berlin (N 2022, Nr. 60) auf der Vor- und Rückseite von Bl. 426 und 427, und zwar auf Pergamentpapier höchstwahrscheinlich wegen Luft- und Kurierpost. Da das Papier ausweislich in München (Universitätsarchiv und Bayerische Staatsbibliothek) verwahrter Handschriftenproben Vosslers nicht von ihm selbst geschrieben ist, dürfte es sich um ein Diktat oder eine Stenoumschrift handeln. Dafür sprechen insbesondere die etlichen, gleich zu behandelnden kleineren Schreibfehler, die für einen Sprachwissenschaftler wie Vossler wenig verständlich, als Hörfehler bei Diktat oder Stenoumschrift aber ohne Weiteres erklärlich sind und wegen des von Beyerle gewünschten raschen Erhalts ohne intensivere Durchsicht an ihn abgegangen sein dürften. – Eckige Klammern mit Doppelasteriskus verweisen auf die hiesige Fn. und bedeuten Korrekturen von offenkundigen Hör- bzw. Schreibfehlern, zu denen es, wie ausgewiesen, über den Satzbruch in Ziffer 18 und den anders als später (Ziff. 57) gebrachten Begriff der „Unparteiischkeit“ in Ziff. 43 hinaus in acht Fällen gekommen ist. Im Original heißt es statt der im Text kenntlich gemachten Korrekturen in Ziff. 7: „bez.“, in Ziff. 22: „betr.“, in 52: „dafür“ und „Gegenstreits“, in 55: „53“ und „dem“, in 56: „aus“ sowie in 60: „bez.“. – Im Übrigen sind die vom Schreiber unterstrichenen Wörter vorliegend durch Kursivsetzung kenntlich gemacht, während hinsichtlich der An- und Unterstreichungen sowie Anmerkungen Beyerles auf den obigen Text II. 3. verwiesen wird.

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Jörg-Detlef Kühne Die besondere Behandlung (Satz 2) für Lichtspiele ist sehr nötig, Theater ohne höhere Kunstinteressen, mit billigen Preisen, sind aber beinahe ebenso gefährlich, auch für Vorstellungen für Erwachsene. Die Zuziehung wirklicher „künstlerischer Sachverständiger“ beseitigt die Gefahr des Erstarkens von Prüderie-Ansichten der Behörde. [II. Grundlagen des Gemeinschaftslebens.]

Ziff. 14 Ziff. 18

Ziff. 19

Ziff. 20

Ziff. 21

Ziff. 22

Ziff. 23

Ziff. 26

[Verfassungsmäßige Gewähr der Ehe.] Der Ausgleich könnte schon für Ehen „mit Kind“ einsetzen. [Fürsorge für Kriegsbeschädigte und Kriegshinterbliebene.] In Rücksicht auf die unglaublich vielen Scheinmanöver von Militärpersonen, die nur irgend während des Krieges eine Tätigkeit (auch hinter der Front) entwickelt haben, dürfte es angezeigt sein, hier von der Fürsorge für genügend nachgewiesene Kriegsbeschädigungen [statt: zu sprechen]** hervorzuheben. [Versammlungsfreiheit.] Die schrecklichen Folgen aller solcher Versammlungsfreiheit sind gerade seit der Revolution so sehr zu Tage getreten, daß hier geeignete Schranken, für politische Versammlungen mindestens, vorzubehalten sein werden. Sonst gibt es nie Ruhe gegenüber (insbesondere jungen) Radaubrüdern u. gewissenlosen Hetzern. [Vereinsfreiheit.] Eine Anzeigepflicht ist aber für politische Vereine doch nötig, mit der Pflicht der Mitglieder, eine polizeiliche Überwachung (in angemessenen Grenzen) sich gefallen zu lassen. Entfernung jugendlicher Personen muß dem überwachenden Organe vorbehalten bleiben (das wird natürlich den Parteien, die für Unzufriedenheit Stimmung machen wollen, wenig gefallen). Stimmen jugendlicher Personen drücken aber nie den eigentlichen Volkswillen mit aus, weil die Jugend an sich in gewissen Jahren zu Opposition neigt u. für solche Zwecke überdies leicht zu gewinnen ist. [Wahlfreiheit.] Es sind besondere Bestimmungen angezeigt, daß nicht die Ehefrauen tatsächlich doch (trotz der allgemeinen Heimlichkeit u.s.w. der Wahl) gezwungen werden, so zu stimmen wie ihre Ehemänner es wünschen. [Petitionsrecht.] Militärpersonen gegenüber ist dieses Recht so zu beschränken, daß ihnen nur die Beschreitung des militärischen „Beschwerdeweges“ verbleibt. Auch Minderjährige sind in geeigneter Weise [entspr.]** zu beschränken. (Bez. der Militärs besteht ja allerdings das Ventil nach § 28 Abs. 1 Satz 2 [betr. Schrankenvorbehalt für dieses bes. Gewaltverhältnis]). [Selbstverwaltung.] Streichung des Wortes: neue [vor „Lasten“] empfiehlt sich. Ferner empfiehlt es sich, an geeigneter Stelle in den Grundrechten zum Ausdruck zu bringen, was sie unter „Gesetz“ verstanden wissen wollen. [Beamtenrecht.] Es empfiehlt sich, eine ausdrückliche Bestimmung zum Schutz des Beamten gegen Verbal- und Real-Injurien in dieser Ziffer mit aufzunehmen. Wenn sich eine Art „Revolutionsrecht“ dahin ein-

Zum Neuerungsgehalt der Weimarer Grundrechte

Ziff. 27

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bürgern sollte, daß man Vorhaltungen, Hausfriedensbrüche, Mißhandlungen von Beamten seitens des unzufriedenen Publikums nicht von amtswegen nachdrücklich ahndet, ja möglichst über solche Vorgänge ein Vertuschungssystem duldet, so wird sich bald kein vernünftiger Mensch mehr für die Beamtenlaufbahn finden. (– Analog Ziff. 30 Satz 2, Ziff. 38 Satz 2, Ziff. 50 Satz 1–3 –)***. Die vergewaltigten Beamten haben Anspruch auf öffentl. Wiederherstellung ihrer Ehre u. auf eine Art Schmerzens- oder Kränkungsgeld aus Steuermitteln. [Pflicht zur Übernahme ehrenamtlicher Staatsaufgaben.] Befreiungsgründe dürften auch an dieser Stelle irgend mit erwähnt werden können, res[p]. genereller Hinweis, daß solche vorbehalten bleiben. [III. Grundrechte und Grundpflichten in Bezug auf Religion, Religionsgesellschaften, Schule.]

Ziff. 30

Ziff. 43

Ziff. 44

[Gewissens- und Glaubensfreiheit, Freiheit und Schutz der Religionsausübung.] Die Gedankenfreiheit [Satz 2] versteht sich so sehr von selbst, daß sie wohl nicht hier mit erwähnt zu werden braucht. [Aus- und Aufbau des öffentlichen Schulwesens.] Ich sehe hier – nach meiner persönlichen Überzeugung – die Gefahr des Aufkommens eines Beamtenproletariats entstehen; dem betr. Hochgekommenen werden ungünstig wirkende Anhängsel aus seiner Jugendzeit sich anheften, die weltberühmte Unparteiischkeit** u. Unbestechlichkeit der deutschen Beamten wird nicht mehr so sicher gewährleistet sein, wenn die Sicherung solcher Charaktereigenschaften durch Familientradition in den Hintergrund gestellt wird. [Staatsbürgerliche Erziehung als Aufgabe der Schule.] Hoffentlich gelingt eine Sicherung dahin, daß die Geschichte nicht etwa von einem Parteistandpunkte aus gefärbt wird. Es wäre jammerschade, wenn die Bedeutung von Monarchen wie Kg. Friedrich II. v. Preußen oder Kaiser Wilhelm I. nicht mit aller Begeisterung der Jugend gelehrt würde, aus lauter Revolutionsschwärmerei vielleicht. Ich empfehle – wiederum nach meiner persönlichen Überzeugung – daß über den unparteilichen Geist, in dem der Geschichtsunterricht zu erteilen ist, auch in den Grundrechten ein ausdrücklicher Hinweis zu stehen kommt.

[IV. Grundrechte und Grundpflichten auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens.] Ziff. 47

Ziff. 50

[Freiheit im Wirtschaftsleben im allgemeinen.] Ein „Zwang“ [Satz 2] des Einzelnen darf nicht durch bloßen Ausgleich zwischen Beteiligten motiviert werden dürfen. Das öffnete ja dem Kommunismus die Tür. [Schutz der Arbeitskraft.] Hinzuzufügen, hinter „verdienen können“, irgend einen Hinweis, daß auch sehr hohe Verdienste oder Gewinne ihm

*** Die damit angezogenen Regelungen verpflichten ausdrücklich zu staatlichem Schutz; in der gen. Reihenfolge: für ungestörte Religionsausübung, für Kunst, Wissenschaft und ihre Lehre sowie für die Arbeitskraft. Näher bei Pauly (Fn. 5), S. 85 ff.

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zufallen dürfen, ohne daß gleich sog. Gleichmacherei zu befürchten wäre. Ziff. 52 [Koalitionsrecht.] Sicherung ist aber da[vor]** zu treffen, daß sog. Gegenstrei[k]s** tatkräftig mit Plünderung oder Benachteiligung bei Lebensmittellieferung seitens der Streikenden geahndet werden. Was dem einen recht ist, muß dem anderen billig sein. Ziff. 5[5]** [Arbeitspflicht und Recht auf Arbeit.] Ich bin persönlich der Meinung, daß ein Recht auf Arbeit prinzipiell nicht zugestanden werden kann, ohne daß mißbräuchliche Ausnutzung durch Drückeberger zu größten Belastungen der Staatskasse führten. Schon die Renten u. das Krankengeld in der Socialversicherung hat zu einer neuen Krankheit, der Rentenhysterie geführt. Wenn neben dem Gedanken an Genesung der Gedanke an die Rente steht, so fehlt die so heilsame große Sorge auf Wiedergesundung; so fehlt hier bei Wegen nach Arbeit auch im Hinblick auf die (viel zu hohe) Arbeitslosenunterstützung das genügend kräftige Stimulans bei de[n]** Nachfragebemühungen. Ziff. 56 [Förderung des Mittelstandes und Kleingewerbes.] Der Schutz des Kleinmeisters muß sich aber in gleicher Stärke auch gegen Vergewaltigung durch seine Arbeiter oder durch deren Kollegen wenden. Der Meister wagt ja in seinem Geschäft seinen Gehilfen u.s.w. kein Wort mehr zu sagen, ja er spielt sich aus Furcht vor ihnen oft auch als Socialdemokrat au[f]**, ohne es in Wirklichkeit zu sein. Ziff. 57 Abs. 5 [Rätesystem.] Die Übertragung von Kontroll- u. Verwaltungsbefugnissen an die Arbeiter- und Wirtschaftsräte, also nur an die Organe einer Klasse der Interessenten, erscheint sehr bedenklich im Streben nach Unparteilichkeit. Man weiß zur Genüge, daß die Arbeiter bei derartigen Kontrollen nicht eben sanft auftreten, sondern ihren Willen durch drohende Mienen u.s.w. mit zum Siege zu verhelfen suchen, u. daß ihre Unparteilichkeit u. die Achtung vor den Gesetzen, die zum Schutze der Arbeitgeber bestehen, durch ihren Parteisinn leicht getrübt wird. Ziff. 59 [Erbrecht.] Man begeht wohl beinahe eine Ungenauigkeit gegen die Sprache, wenn man in neueren Gesetzen so oft noch von Steueransprüchen des Staates spricht, während es geradezu auf Teil-Konfiskationen hinauskommt. Ziff. 60 [Bodenreform und Siedlungswesen.] Abs. 3, Satz 2: Bei der jetzigen Fassung könnte man annehmen, daß von so einer Wertsteigerung dem Eigentümer gar nichts zu Gute kommen solle. Es ist doch wohl nur so zu verstehen, daß diese Wertsteigerung im Wege der Steuergesetzgebung den Aufgaben der Gesamtheit nutzbar gemacht werden soll. Da aber die neuen Gesetze über die Grenze hinaus das Wort der Steuern aufrecht erhalten [bzw.]** benutzen, so ist der Zweifel nicht unberechtigt. Ziff. 61 [Sozialisierung.] Die Fassung des ersten Satzes [„. . ., daß das wirtschaftliche Leben nicht dem Gewinn einzelner, sondern der Herstellung eines menschenwürdigen Daseins für alle dient.“] läßt wiederum eine sehr ungünstige Auffassung für die Interessen der „einzelnen“ zu.

Interventionsrechte der Landesregierungen gegen Gesetze – Gestaltungsmittel einer Minderheitsregierung? Von Thomas Mann1 Neben seinen vielfältigen Aktivitäten als Wissenschaftler ist Klaus Stern zwischen 1976 und 2000 auch als Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen tätig gewesen. Gemeinsam mit Hans Brox, der das Verfassungsrichteramt zwischen 1970 und 1994 bekleidete, kann er damit beanspruchen, das in der Geschichte des Verfassungsgerichtshofs NRW bis heute am längsten amtierende professorale Wahlmitglied gewesen zu sein. So überrascht es nicht, dass ihm innerhalb seiner vielfältigen juristischen Interessen immer auch das Thema der Landesverfassungsgerichtsbarkeit am Herzen lag, deren Wirksamkeitsbedingungen und Tätigkeitsgrenzen er seit seiner Antrittsvorlesung in Berlin2 in vielen Beiträgen ausgeleuchtet hat.3 Seiner mit Blick auf den Verfassungsgerichtshof NRW getroffenen Feststellung „Zentrales Aufgabenfeld des Verfassungsgerichtshofs bildet . . . das nichtgrundrechtliche materielle und organisatorische Verfassungsrecht“ 4 folgend soll an dieser Stelle der Blick auf organisationsrechtliche Vorschriften des Landesverfassungsrechts fallen, die bislang ein Schattendasein geführt haben, angesichts aktueller politischer Entwicklungen aber möglicherweise an Bedeutung gewinnen können.

1 Für wertvolle Vorarbeiten zu diesem Beitrag bin ich Herrn Dr. Stefan Malorny zu Dank verpflichtet. 2 Stern, Probleme der Errichtung eines Verfassungsgerichts in Berlin, DVBl. 1963, 696 ff. 3 Vgl. etwa Stern, Nahtstellen zwischen Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, BayVBl. 1976, 574 ff.; ders., Zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit, DVBl. 1984, 261 ff.; ders., Die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Ländern, JA 1984, 385 ff.; ders., Der Aufschwung der Landesverfassungsbeschwerde im wiedervereinigten Deutschland, in: Festschrift 50 Jahre Bay. Verfassungsgerichtshof, 1997, S. 241 ff.; ders., Nahtstellen zwischen Bundes- und Landesverfassungsgerichtsbarkeit, in: Dörr (Hrsg.), FS Schiedermair, 2001, S. 143 ff.; als Herausgeber in Starck/Stern, Landesverfassungsgerichtsbarkeit, 3 Teilbände, 1981. 4 Stern, Verfassungsrechtliche Grundprinzipien in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen, in: Verfassungsgerichtsbarkeit in Nordrhein-Westfalen – Festschrift zum 50-jährigen Bestehen des Verfassungsgerichtshofs für das Land NRW, 2002, S. 181.

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I. Zur neuen Relevanz der Interventionsrechte Es ist eine unübersehbare Tatsache, dass sich das in den Landtagen vertretene Parteienspektrum immer weiter ausdifferenziert. Die Zeiten, in denen die Landesregierungen wie selbstverständlich von einer der beiden großen Volksparteien getragen wurden, die sich bestenfalls in die Koalition mit einem „Juniorpartner“ begeben musste, sind Vergangenheit; angesichts des prozentualen Nachlassens in der Wählergunst gerät allmählich sogar der Anspruch, immer noch „Volkspartei“ zu sein, selbst ins Wanken. Als Folge dieser Entwicklung lässt sich beobachten, dass die Regierungsmehrheiten in den Landesparlamenten deutlich knapper und instabiler geworden sind und mittlerweile das Modell einer Minderheitsregierung immer häufiger unter praktische Erprobung gestellt wird. Damit einhergehend rücken Vorschriften ins Blickfeld der verfassungsrechtlichen Betrachtung, die in der parlamentarischen Demokratie Deutschlands mitunter schon als „überflüssig wie ein Kropf“ 5 bezeichnet worden sind und deren Abschaffung im Wege einer Verfassungsrevision erst unlängst wieder gefordert worden ist:6 Die Rede ist von den in einigen wenigen Landesverfassungen ausdrücklich vorgesehenen Interventionsrechten der Landesregierungen gegen die Gesetzgebung des Landtags. Im Normalfall der von einer komfortablen Parlamentsmehrheit getragenen Landesregierung lassen sich in der Tat einige Gründe anführen, weshalb es dieser Interventionsmöglichkeiten nicht bedarf: Immerhin dominiert in der Verfassungspraxis der Länder – ebenso wie im Bund7 – die Einbringung von Gesetzentwürfen durch die Landesregierungen selbst8 und es bestehen darüber hinaus noch eine Reihe weiterer Einwirkungsmöglichkeiten formeller oder informeller Art, mittels derer eine Landesregierung Einfluss auf den Gang der Gesetzgebung nehmen kann.9 Darüber hinaus werden Gesetzentwürfe der Opposition im parlamen-

5 So der bay. MdL Welnhofer in einer Expertenanhörung des Hauptausschusses des nrw. Landtags am 5.2.2004, Ausschussprotokoll Hauptausschuss NRW 13/1134, S. 16. 6 Schönenbroicher, in: Heusch/ders. (Hrsg.), Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, 2010, Art. 67 Rn. 2, 6; ebenso Hirsch, Ausschussprotokoll Hauptausschuss NRW 13/ 1134, S. 5; Pieroth, ebd., S. 7; Gusy, nrw. LT-Dr. 13/3687, Zuschrift v. 5.2.2004, S. 10 f. 7 Bryde, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Bd. 3, 5. Aufl., 2003, Art. 76 Rn. 9 mit statistischem Anhang auf S. 172 ff.; Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, § 45 Rn. 53. 8 Vgl. nur Mann, in: Löwer/Tettinger (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art. 65 Rn. 15 mit statistischen Angaben; Braun, Kommentar zur Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1984, Art. 59 Rn. 2; zur gegenläufigen Tendenz in der jüngeren Parlamentspraxis in Niedersachsen s. Janssen/Winkelmann, JöR 51 (2003), 301 (329 ff.). 9 In Nordrhein-Westfalen etwa ist die Landesregierung regelmäßig auch bei der Beratung ihrer Gesetzentwürfe in den Ausschüssen des Landtags vertreten, vgl. § 28 der Geschäftsordnung der Landesregierung i.d. Fass. d. Bek. v. 01.06.2005 (MBl. NW S. 604).

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tarischen Normalfall regelmäßig ohnehin von der Parlamentsmehrheit abgelehnt. Demgemäß hat etwa die nordrhein-westfälische Landesregierung von ihrem Recht aus Art. 67 LV NRW bislang nur äußerst selten Gebrauch gemacht,10 doch hat der während des politischen Vakuums nach der hessischen Landtagswahl im Januar 2008 nur noch geschäftsführend amtierende Hessische Ministerpräsident11 Roland Koch genau dieses Recht als Drohpotential in der verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung thematisiert, als er in einer Regierungserklärung zu dem von der damaligen parlamentarischen Mehrheit aus SPD, Grünen und der Partei „Die Linke“ beschlossenen Gesetz zur Abschaffung der Studiengebühren ankündigte, notfalls von seinem Beanstandungsrecht nach Art. 119 der hessischen Landesverfassung Gebrauch machen zu wollen.12 Dies lässt die Annahme zu, dass auch eine Minderheitsregierung von diesem Mittel Gebrauch machen könnte, um den Landtag zu disziplinieren und dessen Beschlüsse politisch zu steuern – Grund genug, um sich die in der verfassungsrechtlichen Literatur weitgehend unbeachtet gebliebenen Einspruchsrechte der Landesregierungen gegen Gesetzesbeschlüsse des Parlaments einmal näher anzusehen.13 II. Die Interventionsbefugnisse in deutschen Länderverfassungen Im gegenwärtigen Landesverfassungsrecht lassen sich drei Normen ausmachen, welche der Landesregierung eine über die Rechte im Ausfertigungsverfahren hinausgehende Befugnis zum Vorgehen gegen Gesetzesbeschlüsse des Parlaments zuweisen. Hierbei handelt es sich um – Art. 42 Abs. 2 der Niedersächsischen Verfassung14 (NV): „Vor dem Beschluss des Landtages kann die Landesregierung verlangen, dass die Abstimmung bis zu 30 Tagen ausgesetzt wird.“

10 Die einzigen Anwendungsfälle bildeten – soweit ersichtlich – Bedenken anlässlich des Brütereigesetzes v. 20.12.1955/24.05.1961 (GVBl. 1956, S. 69) – vgl. LT-Prot. 3/ 776 C; LT-Dr. 3/265 und anlässlich der Änderung des Art. 46 Abs. 3 der Landesverfassung durch Gesetz v. 21.03.1972 (GVBl. S. 68) – vgl. LT-Dr. 7/1545, LT-Prot. 7/1610 A, B. 11 Rechtsgrundlage war Art. 113 Abs. 3 der hessischen Landesverfassung. 12 Vgl. die Regierungserklärung des geschäftsführenden Hess. Ministerpräsidenten Koch im Hess. Landtag am 5. Juni 2008 – zitiert nach: Pressemitteilungen der Hessischen Staatskanzlei v. 06.06.2008 = Hess. LT-Prot. 17/11, S. 682 ff.; im Wortlaut auch abgedruckt bei Malorny, Exekutive Vetorechte im deutschen Verfassungssystem, 2011, S. 348 ff. 13 Eine ausführliche Darstellung der rechtsgeschichtlichen Genese und eine verfassungsrechtliche und -politische Bewertung derartiger Einspruchsrechte findet sich bei Malorny (Fn. 12), passim. 14 Niedersächsische Verfassung v. 19.05.1993 (GVBl. S. 107), zul. geänd. d. Gesetz v. 18.06.2009 (GVBl. S. 276).

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– Art. 67 der Landesverfassung Nordrhein-Westfalens15 (LV NRW): „Gegen ein vom Landtag beschlossenes Gesetz kann die Landesregierung innerhalb von zwei Wochen Bedenken erheben. Der Landtag entscheidet sodann, ob er den Bedenken Rechnung tragen will.“

– und Art. 119 der Hessischen Verfassung16 (HV): „(1) Gegen ein vom Landtag beschlossenes Gesetz steht der Landesregierung der Einspruch zu. (2) Der Einspruch muss innerhalb fünf Tagen, seine Begründung innerhalb zwei Wochen nach der Schlussabstimmung dem Landtag zugehen. Er kann bis zum Beginn der erneuten Beratung im Landtag zurückgezogen werden. (3) Kommt keine Übereinstimmung zwischen Landtag und Landesregierung zu Stande, so gilt das Gesetz nur dann als angenommen, wenn der Landtag mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder entgegen dem Einspruch beschließt.“

Diese Vorschriften, die auf den ersten Blick Assoziationen zum Beanstandungsrecht der Kommunalaufsicht wecken,17 sind keine solitären Fremdkörper im deutschen Verfassungsrecht. Sie finden auf der Ebene des Grundgesetzes eine ansatzweise Parallele in dem Interventionsrecht der Bundesregierung gegen „finanzwirksame“ Gesetze gemäß Art. 113 Abs. 1 S. 3, 4 GG und können verfassungsgeschichtlich zwar nicht auf unmittelbare Verfassungsvorbilder zurückgeführt,18 aber in eine gewisse Kontinuitätslinie zum Verzögerungsrecht des Reichspräsidenten gemäß Art. 73 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung gestellt 15 Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen v. 28.06.1950 (GV NRW S. 127), zul. geänd. d. Gesetz v. 22.06.2004 (GV NRW S. 360). 16 Verfassung des Landes Hessen v. 01.12.1946 (GVBl. I S. 229), zul. geänd. d. Gesetz v. 18.10.2002 (GVBl. I S. 628). 17 So ausdrücklich auch H. Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl., 2002, Rn. 179. 18 Die niedersächsische Aussetzungsbefugnis ist historisch ohne direktes Vorbild; insbesondere die unmittelbaren geographischen Verfassungsvorläufer zur Zeit der Weimarer Republik, der Freistaat Braunschweig und der Freistaat Oldenburg, waren unter dem Gesichtspunkt der parlamentarischen Verfassungsentwicklung eher rückständig und enthielten in ihren Verfassungen (Verfassung für den Freistaat Braunschweig v. 06.01.1922 [GVBl. S. 55], abgedr. in: Ruthenberg [Hrsg.],Verfassungsgesetze des Deutschen Reichs und der deutschen Länder, 1926, S. 83 ff.; Verfassung für den Freistaat Oldenburg v. 17.06.1919, [GBl. S. 391], abgedr. ebd., S. 164 ff.) noch kaum Regelungen über das Gesetzgebungsverfahren. Lediglich die Verfassung des Freistaates Schaumburg-Lippe (v. 24.02.1922, verkündet am 01.03.1922 [Landesverordnungen 1922, S. 27], abgedr. in: Ruthenberg [Hrsg.], a. a. O., S. 197 ff.) kannte Ansätze eines exekutiven Vetorechts. Für Nordrhein-Westfalen kann Art. 42 der Verfassung des Freistaates Preußen (v. 30.12.1920 [prGS 1920, S. 543], abgedr. in: Ruthenberg [Hrsg.], a. a. O., S. 176 ff.) eine gewisse Vorbildfunktion für Art. 67 LV NRW nicht abgesprochen werden, wenngleich es sich aufgrund fehlender Hinweise in den Verfassungsmaterialien nicht sicher nachweisen lässt, inwieweit es sich tatsächlich um eine Adaption handelt, vgl. Mann (Fn. 8), Art. 67 Rn. 1. Näher zu den Verfassungsvorläufern Malorny (Fn. 12), 2011, S. 291, 316 f.

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werden. Dieses räumte dem Reichspräsidenten allerdings die weitergehende Möglichkeit ein, einen Volksentscheid herbeizuführen.19 Dieses Verzögerungsrecht war angesichts der suspendierenden Wirkung und der sich anschließenden Entscheidung durch das Reichsvolk klar als ein devolutives Vetorecht kreiert worden und wies angesichts der Möglichkeit des Reichspräsidenten zur Auflösung des Reichstags (Art. 25 WRV) zumindest auch erhebliche faktische Durchschlagskraft auf.20 Demgegenüber sind die Einspruchsrechte nach heutigem Landesverfassungsrecht deutlich moderater ausgestaltet, lassen im Vergleich untereinander aber durchaus eine Intensitätstrias erkennen, wie nachfolgend zu zeigen sein wird. III. Die Verortung der Interventionsrechte im Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens Die Verfassungen der drei betroffenen Länder regeln die Grundfragen des Gesetzgebungsverfahrens nur sehr knapp (vgl. Art. 116, 117 HV; Art. 42 NV; Art. 65, 66 LV NRW) und überlassen alle Details der Geschäftsordnungsautonomie des Landtages. Wie im Normalfall der parlamentarischen Gesetzgebung in den deutschen Ländern kommt es auch in Hessen21, Niedersachsen22 und Nordrhein-Westfalen23 regelmäßig am Ende der zweiten Beratung zur Schlussabstimmung, mittels welcher der Landtag feststellt, was Gesetz ist, und ausspricht, dass der festgestellte Text Gesetz sein soll.24 Nur ausnahmsweise kann eine dritte Lesung obligatorisch sein25 oder erforderlich werden.26 Im Anschluss an das parla19 Art. 73 Abs. 1 WRV: „Ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung zum Volksentscheid zu bringen, wenn der Reichspräsident binnen eines Monats es bestimmt.“ 20 Ausführlich Malorny (Fn. 12), S. 129 ff. 21 Vgl. § 12 Abs. 1 der Geschäftsordnung des hessischen Landtags (GeschO LT Hess.) v. 16.12.1993 (GVBl. I S. 628), zul. geänd. d. Bek. v. 07.09.2010 (GVBl. I S. 282). 22 Vgl. § 24 der Geschäftsordnung des Niedersächsischen Landtags (GeschO LT N) v. 04.03.2003 (GVBl. S. 135), zul. geänd. d. Bek. v. 17.08.2010 (GVBl. S. 234). 23 Vgl. § 68 Abs. 1 der Geschäftsordnung des Landtags Nordrhein-Westfalen (GeschO LT NRW), Stand 09.06.2010, nrw. LT-Dr. 15/1. 24 So ausdrücklich die Begründung der Regierungsvorlage zur Verfassungsentstehung für die Vorläufige Niedersächsische Verfassung von 1951 (vgl. Reg. Vorlage Nr. 2073). 25 Nach der derzeitigen Parlamentspraxis in Hessen ist eine dritte Lesung nur bei verfassungsändernden Gesetzentwürfen und den Entwürfen des Haushaltsgesetzes obligatorisch (vgl. § 12 Abs. 2 Nr. 1 u. 2 GeschO LT Hess.), in NRW darüber hinausgehend auch bei dem Entwurf des Gemeindefinanzierungsgesetzes (vgl. § 68 Abs. 2, 73 Abs. 1 GeschO LT NRW). In Niedersachsen schließt sich eine dritte Beratung nur dann an, wenn der Gesetzentwurf am Ende der zweiten Beratung wieder an einen Ausschuss überwiesen wird (vgl. §§ 32, 33 GeschO LT N). 26 In Hessen kann eine Fraktion vor dem Beginn der Schlussabstimmung in zweiter Lesung eine dritte Lesung verlangen (§ 12 Abs. 2 Nr. 3 GeschO LT Hess.), in NRW

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mentarische Gesetzgebungsverfahren sind die Gesetze auszufertigen und im Gesetz- und Verordnungsblatt zu verkünden, was in NRW der Landesregierung (Art. 71 LV NRW) und in Hessen dem Ministerpräsidenten (Art. 120 HV) obliegt. Nach der niedersächsischen Verfassung besteht insoweit die Besonderheit einer Aufgabenspaltung: die Ausfertigung ist dem Landtagspräsidenten zugewiesen, der Ministerpräsident ist nur für die Verkündung der Gesetze zuständig (Art. 45 Abs. 1 NV).27 Unabhängig von der Frage, ob den zuständigen Verfassungsorganen bei diesem Teilakt im Rahmen des exekutiven Erlassstadiums28 ein Prüfungs- und Beanstandungsrecht zusteht,29 bieten die hier zu thematisierenden Einspruchsrechte eine zusätzliche Möglichkeit, verfassungsrechtliche Bedenken gegen ein Gesetz verfahrenswirksam geltend zu machen. Der Zeitpunkt, zu dem diese Rechte geltend gemacht werden können, ist unterschiedlich. Die der Landesregierung zugewiesenen Rechte in Hessen und Nordrhein-Westfalen können gemäß Art. 67 Abs. 1 S. 1 LV NRW und Art. 119 Abs. 1 HV nur „gegen ein vom Landtag beschlossenes Gesetz“ geltend gemacht werden. Mit dieser Formulierung wird deutlich, dass das parlamentarische Beratungs- und Beschlussstadium bereits vollständig durchlaufen sein muss. Das Gesetz, gegen das sich die Intervention der Landesregierung richtet, muss vom Landtag also bereits in einer Schlussabstimmung angenommen worden sein. Demgegenüber setzt das der niedersächsischen Landesregierung gemäß Art. 42 Abs. 2 NV gewährte Recht bereits früher an: Sie kann ihr Aussetzungsverlangen „vor dem Beschluss des Landtages“ geltend machen. „Beschluss“ in diesem Sinne meint, wie sich aus dem systematischen Zusammenhang zu Art. 42 Abs. 1 NV ergibt, die Schlussabstimmung über ein Gesetz. Das Dazwischentreten der Landesregierung wird in Niedersachsen somit bereits während des noch nicht abgeschlossenen Gesetzgebungsverfahrens möglich. Dieser Unterschied in der zeitlichen Verortung im Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens hat auch Auswirkung auf die Rechtswirkung des jeweiligen Interventionsrechts.

kann der schriftliche Antrag einer Fraktion oder eines Viertels der Mitglieder des Landtags eine dritte Lesung herbeiführen (§ 78 Abs. 2, 73 Abs. 1 GeschO LT). 27 Janssen/Winkelmann (Fn. 8), 301 (313) sehen darin den Ausdruck eines neuen Amtsverständnisses des Landtagspräsidenten – Bedenken wegen eines eventuellen Verstoßes gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz bleiben ausgeblendet; zum Prüfungsrecht des Landtagspräsidenten s. Hederich, NdsVBl. 1999, 77 ff. 28 Begriff nach Nierhaus, in: Sachs, GG, 6. Aufl., 2011, Art. 82 Rn. 1. 29 Eine Übertragbarkeit der zur entsprechenden Befugnis des Bundespräsidenten geführten Diskussion erscheint insbesondere in Niedersachsen fraglich und wird maßgeblich davon abhängen, ob man das Prüfungs- und Beanstandungsrecht als Folge der Ausfertigungskompetenz – die gemäß Art. 45 Abs. 1 NV beim Landtagspräsidenten liegt – oder der Verkündungskompetenz ansieht, was an dieser Stelle nicht ausdiskutiert werden soll.

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IV. Die Wirkung der Interventionsrechte Betrachtet man Rechtswirkungen und prozedurale Folgen des Dazwischentretens der Landesregierung, so zeigt sich eine Abstufung in der Wirkmächtigkeit der in den drei Landesverfassungen gewährten Rechte. 1. Niedersachsen: Aussetzungsbefugnis

Macht die niedersächsische Landesregierung von ihrem Recht aus Art. 42 Abs. 2 NV Gebrauch, hat dies zur Folge, „dass die Abstimmung bis zu 30 Tagen ausgesetzt wird“. Mithin ist dem Niedersächsischen Landtag dadurch zunächst die zeitnahe Durchführung der Schlussabstimmung untersagt. Demgemäß ist es dem Landtag auch nicht möglich, durch einen einfachen Geschäftsordnungsantrag wieder „zur Tagesordnung überzugehen“.30 Vielmehr ist „die Besprechung wieder zu eröffnen“ (so § 32 Abs. 4 GeschO LT N), wodurch die zweite Lesung noch nicht abgeschlossen werden kann (vgl. § 32 Abs. 1, 2 GeschO LT N). Die Verwendung des Wortes „wieder“ legt dabei die Einsicht nahe, dass thematischer Beratungsgegenstand nun nicht allein der Aussetzungsantrag der Landesregierung sein darf, sondern dass auch der materielle Inhalt des Gesetzesvorhabens weiterhin im Plenum Erörterung finden darf. Erst nach Ablauf der von der Landesregierung bestimmten Aussetzungsfrist wird das unterbrochene Gesetzgebungsverfahren durch einen Beschluss des Landtages fortgesetzt. Ein solcher Beschluss ist von seiner Natur her zweigeteilt; zum einen kommt ihm eine verfahrensrechtliche Bedeutung zu, soweit er das Aussetzungsverfahren im Sinne des Art. 42 Abs. 2 NV beendet, zum anderen beinhaltet er als Schlussabstimmung eine materielle Entscheidung des Niedersächsischen Landtags darüber, ob er das Gesetz in der vor der Intervention der Landesregierung bestehenden Fassung tatsächlich annehmen will oder nicht. Eines besonderen Mehrheitsquorums, wie es etwa Art. 77 Abs. 4 GG bei der Zurückweisung eines Einspruchs des Bundesrates vorsieht, bedarf es dafür nicht, denn das Aussetzungsverlangen der Landesregierung muss durch den Landtag nicht förmlich zurückgewiesen werden, sondern es verliert nach Ablauf der Aussetzungsfrist lediglich seine dilatorische Wirkung. Die Landesregierung kann sich mit ihren Bedenken mithin nur dann inhaltlich durchsetzen, wenn der Landtag in der durch das Aussetzungsverlangen bewirkten „Denkpause“ zu der Einsicht gelangt, das fragliche Gesetz nicht beschließen zu wollen. Damit gewährt Art. 42 Abs. 2 NV der Landesregierung kein Vetorecht31,

30 Vgl. Neumann, Die Niedersächsische Verfassung, Handkommentar, 3. Aufl., 2000, Art. 42 Rn. 17 mit Verweis auf Dickersbach, in: Geller/Kleinrahm (Hrsg.), Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 1950 ff., Art. 67 Rn. 4. 31 So die allgemeine Meinung, vgl. Neumann (Fn. 30), Art. 42 Rn. 10; Hagebölling, Niedersächsische Verfassung, 2. Aufl., 2011, Art. 42 Anm. 3; Malorny (Fn. 12), S. 307 ff.

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sondern eine schlichte Aussetzungsbefugnis mit marginaler aufschiebender Wirkung. Gerade dieser Aspekt könnte jedoch im Falle einer Minderheitsregierung zu einem politischen Handlungsinstrument der Landesregierung werden, das sich letztlich sogar als Fallstrick für Gesetzgebungsvorhaben der Opposition erweisen kann. Der durch das Aussetzungsverlangen bewirkte Zeitaufschub bis zum späteren Landtagsbeschluss bietet Gelegenheit, in der sachlichen Auseinandersetzung nach neuen Kompromissen zu suchen. Angesichts der eine Minderheitsregierung kennzeichnenden fragilen Mehrheitsverhältnisse im Landtag erscheint es nicht ausgeschlossen, dass sich in dieser Interimsphase noch schwankende Abgeordnete für die Auffassung des Regierungslagers gewinnen lassen. Es besteht damit durchaus die Chance, auf diese Weise noch andere Mehrheiten für die Schlussabstimmung über ein Gesetz herbeizuführen. Darüber hinaus könnte das Aussetzungsverlangen theoretisch sogar in einem eng umrissenen Sonderfall eine echte Suspensivwirkung zeitigen, nämlich dann, wenn innerhalb der von der Landesregierung bestimmten, maximal 30-tägigen Aussetzungsfrist die Wahlperiode des Landtags endet. Angesichts des Grundsatzes der materiellen Diskontinuität32 könnte die Schlussabstimmung dann nicht mehr durchgeführt werden. Dabei dürfte es sich freilich um einen in der Realität kaum vorkommenden Konfliktfall handeln, denn eine Opposition im Landtag würde wohl nicht versuchen, noch kurz vor Ende der Wahlperiode ein der Minderheitsregierung nicht genehmes Gesetzgebungsvorhaben durchzusetzen – es sei denn, es wäre bereits klar absehbar, dass die Minderheitsregierung nach den Wahlen eine Mehrheitsregierung sein wird. 2. Nordrhein-Westfalen: Gegenvorstellungskompetenz

Die niedersächsische Idee, dem Landtag noch im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens eine „Denkpause“ zu verschaffen, lässt sich mit dem in Art. 67 LV NRW vorgesehenen Recht der Landesregierung, Bedenken gegen ein Gesetzesvorhaben zu erheben, nicht erreichen, denn es richtet sich, wie unter III. gezeigt, gegen ein bereits vom Landtag verabschiedetes Gesetz. Nach dem ursprünglichen nordrhein-westfälischen Verfassungsentwurf33 sollte das Interventionsrecht dem seinerzeit noch vorgesehenen Staatsrat eingeräumt werden. Im Rahmen der Verfassungsberatungen wurde aber die Idee eines Staatsrates grundsätzlich verworfen34 und die dem Staatsrat zugedachte Kompetenz bei der Landesregierung an32 s. dazu etwa Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 3. Aufl., 2007, § 102 Rn. 41 f.; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl., 2011, Art. 38 Rn. 15 f. 33 Vgl. die Regierungsvorlage zu einem Entwurf eines Grundgesetzes für das Land NRW, verabschiedet am 29.11.1949, nrw. LT-Dr. II-1359. 34 Vgl. dazu Mann (Fn. 8), Vor Art. 65–67 Rn. 3.

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gesiedelt. In diesem Zuge wurde auch die Konzeption eines sog. Minderheitenentwurfs zur Landesverfassung, welcher der Landesregierung ein echtes Einspruchsrecht gegen Gesetze gewähren wollte, das für den Fall der Nichteinigung vom Landtag nur mit der Mehrheit seiner gesetzlichen Mitgliederzahl hätte zurückgewiesen werden können, im Ergebnis als zu weitgehend verworfen.35 Die stattdessen in Art. 67 LV NRW eingegangene Konzeption einer Gegenvorstellungskompetenz räumt der Landesregierung nur die Handlungsmöglichkeit ein, nach einem bereits erfolgten Gesetzesbeschluss eine erneute Beratung und damit eine nochmalige sachliche Überprüfung eines Gesetzgebungsvorhabens im Landtag zu veranlassen.36 Im Falle einer Gegenvorstellung nach Art. 67 LV NRW wird gemäß § 74 GeschO LT NRW37 eine nachträgliche dritte (bzw. vierte38) Lesung im Landtag anberaumt. Im Anschluss an diese erneute inhaltliche Befassung mit dem Gesetzesinhalt, die sogar von einer Ausschussbefassung flankiert sein kann, muss der Landtag entscheiden, ob er den Bedenken der Landesregierung folgen und das Gesetz nunmehr in veränderter Form beschließen will oder ob er den geäußerten Bedenken keine Rechnung trägt. Bis dahin ist die Landesregierung von ihrer ansonsten bestehenden Pflicht zur unverzüglichen Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes (vgl. Art. 71 Abs. 1 LV NRW) entbunden. Wenn mit Blick auf diese Konzeption auch in den Verfassungsberatungen ebenso wie in Niedersachsen von der „Einschaltung einer kurzen Denkpause“ 39 die Rede war, so handelt es sich hierbei anders als in Niedersachsen nicht um eine Denk-

35 Vgl. Abg. Dr. Scholtissek, VerfA, Sten.Ber., S. 719 B, C; Innenminister Dr. Menzel, VerfA, Sten.Ber. S. 718 B, C. Näher zur Entstehungsgeschichte des Art. 67 LV NRW und dem ursprünglichen Scheitern der Staatsratsinitiative: Mann (Fn. 8), Art. 67 Rn. 1 f. sowie Grimm, Verfassungsrecht, in: Grimm/Papier (Hrsg.), Nordrhein-westfälisches Staats- und Verwaltungsrecht, 1986, S. 8 ff. Ausführlich zu den verschiedenen Phasen der Entstehung der nordrhein-westfälischen Landesverfassung Dästner, Nordrhein-Westfalens Verfassung: Entstehung – Profil – Entwicklung, in: Konflikt und Konsens – 50 Jahre Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, 2000, S. 11 ff. und Kringe, Machtfragen, Die Entstehung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen 1946– 1950, 1988. 36 Vgl. Dästner, in: Die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, Kommentar, 2. Aufl., 2002, Art. 67; Mann (Fn. 8), Art. 67 Rn. 2. 37 § 74 GeschO LT NRW (Stand: 09.06.2010): „(1) Eine weitere Lesung ist erforderlich, wenn die Landesregierung gemäß Artikel 67 der Landesverfassung gegen ein vom Landtag beschlossenes Gesetz Bedenken erhoben hat. (2) Der Landtag kann eine zusätzliche Ausschussberatung beschließen. Die Überweisung an den zuständigen Ausschuss kann auch ohne Beschluss des Landtags durch die Präsidentin bzw. den Präsidenten erfolgen.“ 38 Vgl. § 78 Abs. 2, 73 Abs. 1 GeschO LT NRW. 39 Innenminister Dr. Menzel, VerfA, Sten.Ber. S. 718 B, C. Von den nur noch terminologisch unterschiedlichen Vorschlägen (vgl. z. B. MinDir. Dr. Vogels, VerfA, Sten.Ber. S. 719 B, C: „Einwendungen“) wurde letztlich die von den Abgeordneten Brockmann (Zentrum), Kühn (SPD), Dr. Scholtissek (CDU) und von Innenminister Dr. Menzel vorgeschlagene Formulierung (vgl. VerfA, Sten.Ber. S. 718 C ff.) durch den Verfassungsausschuss angenommen (VerfA, Sten.Ber., S. 751 D).

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pause innerhalb des eigentlichen Gesetzgebungsverfahrens, sondern um eine Art nachgeschaltete Denkpause vor der Ausfertigung, die entsteht, weil die Bedenkenerhebung der Landesregierung das parlamentarische Beratungs- und Beschlussverfahren gleichsam in eine „Nachspielzeit“ geschickt hat. Als Handlungsinstrument für eine Minderheitsregierung bietet die Regelung in Nordrhein-Westfalen zunächst einmal vergleichbare politische Möglichkeiten wie das zuvor geschilderte Aussetzungsverlangen in Niedersachsen: Die „Verlängerung“ des Gesetzgebungsverfahrens verschafft der Minderheitsregierung etwas Zeitgewinn, um sich um andere Mehrheitsverhältnisse für die Abstimmung über ihre Bedenken zu bemühen und auf diese Weise nachträglich Veränderungen am bereits beschlossenen Gesetz zu bewirken. Darüber hinaus erwachsen aus Art. 67 LV NRW aber auch rechtliche Möglichkeiten der Minderheitsregierung. Während das niedersächsische Aussetzungsverlangen durch den Landtag nicht förmlich zurückgewiesen werden muss, sondern nach Ablauf der Aussetzungsfrist und nochmaliger Beratung mit der Schlussabstimmung seine dilatorische Wirkung verliert, hat nach der nordrhein-westfälischen Konzeption diese Schlussabstimmung über das Gesetz bereits stattgefunden, weshalb eine weitere ausdrückliche Entscheidung des Landtags erfolgen muss, um die Fußfessel, die in Gestalt der Bedenkenerhebung der Landesregierung die Ausfertigung und Verkündung des zuvor getroffenen Gesetzesbeschlusses behindert, wieder zu entfernen. Für diese Entscheidung erforderlich sind die Einhaltung des durch die GeschO LT NRW vorgeschriebenen Verfahrens und die auch sonst vorgeschriebenen Mehrheiten. Mithin ist für reguläre Landesgesetze die Beschlussmehrheit gemäß Art. 44 Abs. 2 LV NRW erforderlich,40 für verfassungsändernde Gesetze gemäß Art. 69 Abs. 2 LV NRW sogar eine Zweidrittelmehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Landtags. Ob sich in der parlamentarischen Konstellation einer Minderheitsregierung diese Mehrheiten für einen ausdrücklich gegen die Bedenken der Landesregierung gerichteten Beschluss finden, könnte – je nach politischer „Großwetterlage“ – durchaus fraglich sein. Daher könnte eine Minderheitsregierung ihre Gegenvorstellungskompetenz nach Art. 67 LV NRW mit Blick auf die zusätzlich erforderlichen Beschlussmehrheiten etwa auch als Mittel der Disziplinierung der sie tragenden Fraktionen einsetzen oder dieses zumindest androhen. 3. Hessen: Einspruchsrecht

Die hessische Regelung in Art. 119 HV steht der nordrhein-westfälischen Gegenvorstellungskompetenz näher als dem niedersächsischen Aussetzungsverlangen, denn auch sie eröffnet die Interventionsbefugnis der Landesregierung erst im Anschluss an den eigentlichen Gesetzesbeschluss des Parlaments und sieht die Notwendigkeit einer erneuten Abstimmung vor. Auch in Hessen soll dieses 40

Schönenbroicher (Fn. 6), Art. 67 Rn. 9; Mann (Fn. 8), Art. 67 Rn. 15.

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Instrument dazu dienen, die Legislative zur nochmaligen Beratung und Überprüfung ihres Gesetzesbeschlusses zu zwingen, um mögliche verfassungsrechtliche Bedenken auszumerzen oder gar inhaltliche Fehler zu heilen.41 Anders als in Nordrhein-Westfalen sind die Maßgaben der Verfassung für die nochmalige Abstimmung im Landtag jedoch wesentlich anspruchsvoller ausgestaltet, wie sich bereits am Verfassungswortlaut zeigt. Während Art. 67 LV NRW lediglich formuliert, dass die Landesregierung „Bedenken erheben“ kann, sieht Art. 119 Abs. 1 HV explizit die Möglichkeit zum „Einspruch“ vor. Während das Substantiv „Bedenken“ bereits sprachlich auf eine weniger starke Durchschlagskraft des Interventionsrechts hindeutet, weil es lediglich auf eine intellektuelle Auseinandersetzung begrenzt zu sein scheint, wird mit „Einspruch“ eine Vokabel gewählt, deren Konnotation eher das Vorliegen einer formalisierten Verfahrensposition nahelegt, welche der Landesregierung eine stärkere Position verleiht. Diese stärkere Formalisierung zeigt sich zum einen auf der Handlungsebene; insoweit sind gemäß Art. 119 Abs. 2 S. 1 HV – ähnlich der Berufung im Verwaltungsprozess42 – eine Einlegungsfrist und eine Begründungsfrist zu unterscheiden. Der Einspruch muss innerhalb von fünf Tagen nach der Schlussabstimmung im Landtag eingelegt werden, für die Begründung des Einspruchs hat die Landesregierung hingegen zwei Wochen Zeit.43 Durch die kurze Fünftagesfrist wird die Einspruchseinlegung zu einem dringlichen Rechtsakt, was den politischen Handlungsspielraum der Landesregierung stärker einschränkt als in den beiden anderen Ländern. Insbesondere für die im Falle von Minderheitsregierungen erforderlichen politischen Sondierungen bewirkt diese kurze Fristsetzung einen enormen Handlungsdruck. Zum anderen zeigt sich die stärkere Formalisierung auf der Wirkungsebene; aus Art. 119 Abs. 2 HV erschließt sich, dass als Folge der Einspruchseinlegung eine erneute Beratung des Gesetzes im Landtag zu erfolgen hat,44 wodurch eine Verkündung des bereits beschlossenen Gesetzes vorläufig ausgesetzt wird.45 Diese erneute Beratung dient zwar dem Zweck, eine „Übereinstimmung zwischen Landesregierung und Landtag“ zu erzielen, doch „gilt das Gesetz nur dann als angenommen, wenn der Landtag mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder entgegen dem Einspruch beschließt“ (vgl. Art. 119 Abs. 3 HV). Das benötigte Mehrheitserfordernis, um im Falle eines Dissenses den Einspruch der Landesregierung überwinden zu können, ist im Vergleich zur nordrhein-westfälischen Rechtslage damit deutlich zugunsten der Landesregierung ausgestaltet. Wird nämlich die qualifizierte Mehrheit der

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Vgl. Schonebohm, in: Zinn/Stein, Verfassung des Landes Hessen, Art. 119 Rn. 1. Vgl. § 124a Abs. 2, 3 VwGO. 43 Die Begründung des Einspruchs ist auch in Hessen grundsätzlich schriftlich vorzulegen, vgl. Schonebohm (Fn. 41), Art. 119 Rn. 6. 44 § 20 Abs. 1 GeschO LT Hess. spricht diese Folge ausdrücklich aus. 45 Schonebohm (Fn. 41), Art. 119 Rn. 6. 42

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gesetzlichen Mitgliederzahl des hessischen Landtags nicht aufgeboten, setzt sich gleichsam der Einspruch durch und das Gesetz gilt als gescheitert.46 Zur Kennzeichnung der besonderen Qualitäten dieses Interventionsrechts nach der hessischen Verfassung soll hier daher in Abgrenzung zu dem niedersächsischen Aussetzungsverlangen und zur nordrhein-westfälischen Gegenvorstellungskompetenz von einem „Einspruchsrecht“ der Landesregierung gesprochen werden. Für eine Minderheitsregierung bietet dieses Einspruchsrecht nach Art. 119 HV ein gutes Handlungsinstrument, um im Konflikt mit einer Parlamentsmehrheit im Landtag das Inkrafttreten missliebiger Gesetze zu verhindern. Angesichts der Verfassungsmaßgabe, dass zur Überwindung des exekutiven Einspruchs eine Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl erforderlich ist, kann auch eine Minderheitsregierung mit einiger Berechtigung darauf hoffen, über Art. 119 HV eine rechtliche Handhabe gegen bereits vom Landtag beschlossene Gesetze zu besitzen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der seinerzeit ohne parlamentarische Mehrheit nach Art. 113 Abs. 3 HV geschäftsführend regierende hessische Ministerpräsident Koch das Drohpotential des Art. 119 HV bemüht hat, um sich gegen ein von den Oppositionsparteien beschlossenes Gesetz zu richten.47 V. Einzelfragen 1. Motive

Inwieweit die dargestellten Interventionsrechte den Minderheitsregierungen ein geeignetes Handlungsinstrument in der politischen Auseinandersetzung bieten, hängt nicht zuletzt auch davon ab, aus welchen Gründen die Landesregierungen berechtigt sind, von diesen Rechten Gebrauch zu machen. Der Wortlaut der drei Verfassungsbestimmungen enthält insoweit keine Begrenzungen, weshalb allgemein angenommen wird, dass die Intervention der Landesregierung inhaltlich durch beliebige rechtliche, sachliche oder politische Gründe motiviert sein

46 Falls der Landtag seinen ursprünglichen Gesetzentwurf für erledigt erklärt, reicht demgegenüber eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen aus. Im Falle der Annahme eines abgeänderten Entwurfs wird zu differenzieren sein: tragen die Änderungen den Einwendungen der Landesregierung Rechnung, ist insoweit eine „Übereinstimmung zwischen Landtag und Landesregierung“ erzielt worden, so dass die in Art. 119 Abs. 3 HV enthaltene Vorgabe für ein an der gesetzlichen Mitgliederzahl orientiertes Quorum nicht zur Anwendung gelangt. In diesem Fall genügt also auch eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen. 47 Abgesehen von diesem Anwendungsfall ist in der hessischen Verfassungspraxis von Art. 119 HV nur einmal, im Jahre 1954, Gebrauch gemacht worden, jedoch nahm die Landesregierung ihren Einspruch später zurück, so dass die seinerzeit bereits anberaumte vierte Lesung nicht mehr stattfand. Einzelheiten dazu bei Malorny (Fn. 12), S. 340 f., 344 ff.

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kann.48 Das Aussetzungsverlangen nach Art. 42 Abs. 2 NV, die Gegenvorstellungskompetenz nach Art. 67 LV NRW und der Einspruch nach Art. 119 HV können damit sowohl politischen Zweckmäßigkeitserwägungen folgen als auch Zweifel an der formellen oder materiellen Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zum Ausdruck bringen.49 Hierin unterscheiden sich die genannten Rechte wesentlich von den Befugnissen einer Regierung im Zusammenhang mit der Ausfertigung und Verkündung von Gesetzen, die den Intervenienten allein auf verfassungsrechtliche Argumente verweisen.50 Vor allem mit Blick auf das Aussetzungsverlangen nach Art. 42 Abs. 2 NV schafft die Möglichkeit, Verfassungsbedenken geltend zu machen, eine zusätzliche Handlungsoption, da diese Befugnis, wie gezeigt, schon vor der Schlussabstimmung über ein Gesetz ausgeübt werden kann. Die verfassungsrechtlichen Bedenken der Landesregierung können in Niedersachsen somit bereits zu einem frühen Zeitpunkt im parlamentarischen Beschlussverfahren geltend gemacht werden, nicht erst im Ausfertigungs- und Verkündungsstadium. Das ist für die niedersächsische Landesregierung von besonderer Bedeutung, da der Ministerpräsident dort nicht für die Ausfertigung, sondern nur für die Verkündung der Gesetze zuständig ist (vgl. Art. 45 Abs. 1 NV). Insofern erscheint sein materielles Prüfungsrecht im Rahmen der Verkündung noch weniger eindeutig als das der Ministerpräsidenten/Landesregierungen im Rahmen der Ausfertigung nach anderen Landesverfassungen.51 Der eigentliche „Mehrwert“ gegenüber den Prüfungskompetenzen im Zusammenhang mit der Ausfertigung und Verkündung der Gesetze kommt den Interventionsrechten in den drei Landesverfassungen aber erst durch die Zulassung politischer Zweckmäßigkeitserwägungen zu. Gerade in der Konstellation einer Minderheitsregierung kann der Einsatz der Interventionsrechte aus Zweckmäßigkeitserwägungen zu einer politisch wertvollen, aber gleichwohl immer konfliktreichen Handlungsoption in der politischen Auseinandersetzung werden.

48 So hatte es der BremStGH bereits 1954 zu einer vergleichbaren bremischen Verfassungsnorm (Art. 104 brem. Verf.), die inzwischen außer Kraft getreten ist, angenommen, vgl. StGH Bremen, StGHE Bd. I, 59 (62). 49 Vgl. Hagebölling (Fn. 31), Art. 42 Anm. 3; Dickersbach (Fn. 30), Art. 67 Rn. 3; Grawert, Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2. Aufl., 2007, Art. 67; Mann (Fn. 8), Art. 71 Rn. 9; Schonebohm (Fn. 41), Art. 119 Rn. 5; Hinkel, Verfassung des Landes Hessen, 1998, Art. 119 (S. 210). 50 s. beispielhaft zur Frage, inwieweit der nordrhein-westfälischen Landesregierung im Rahmen ihrer Verpflichtung zu Ausfertigung und Verkündung nach Art. 71 Abs. 1 LV NRW auch ein formelles und materielles Prüfrecht zusteht, Mann (Fn. 8), Art. 71 Rn. 17 ff., wo das strittige materielle Prüfungsrecht u. a. auch unter Heranziehung von Art. 67 LV NRW begründet wird. Für eine materielle Prüfungskompetenz direkt aus Art 71 LV NRW hingegen Schönenbroicher (Fn. 6), Art. 67 Rn. 5. Einen Überblick zu allen deutschen Ländern bieten Blome/Gross-Wilde, DÖV 2009, 615 ff. 51 Hederich (Fn. 27), 77 ff. und Hagebölling (Fn. 31), Art. 45 Anm. 2 diskutieren etwa nur das Prüfungsrecht des für die Ausfertigung zuständigen niedersächsischen Landtagspräsidenten.

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Thomas Mann 2. Begründungspflicht

Damit das mit den exekutiven Interventionsrechten verfolgte Ziel eines Überdenkens der betreffenden Gesetzgebungsakte erreicht werden kann, ist es erforderlich, den Landtag über die Motive, welche die Landesregierung zu diesem Schritt bewogen haben, in Kenntnis zu setzen. Insofern überrascht es, wenn nur in Hessen bereits im Verfassungstext klargestellt wird, dass die Landesregierung ihren Einspruch nach Art. 119 HV mit Gründen zu versehen hat. Diese explizite Anordnung mag ihren Grund in dem bereits oben festgestellten stärker formalisierten Charakter der hessischen Regelung haben, ist in der Sache jedoch keine alleinige Anforderung des Art. 119 HV, sondern wird – mit unterschiedlicher Begründung – auch für Art. 42 Abs. 2 NV und Art. 67 LV NRW Geltung beanspruchen müssen: In Niedersachsen ist dem Verfassungstext nicht eindeutig zu entnehmen, ob die Landesregierung dem Landtag eine Begründung für ihr Aussetzungsverlangen geben muss. Wenn man indes bedenkt, dass die vorübergehende Aussetzung der Schlussabstimmung nach Art. 42 Abs. 2 NV kein Selbstzweck ist, sondern den Landtag zu einem Überdenken des zu erlassenden Gesetzes veranlassen soll, wird man nach der ratio legis zu fordern haben, dass die Landesregierung gleichzeitig mit dem Aussetzungsverlangen auch ihre Motive offenbart. Immerhin handelt es sich um einen dilatorischen Übergriff der Exekutive in das Hausgut der Legislative, so dass auch bereits der Gesichtspunkt der Verfassungsorgantreue52 für eine Begründungspflicht spricht. Allerdings wird man hierfür nicht ausdrücklich eine Schriftform verlangen müssen; soweit es genügen soll, dass ein Mitglied der Landesregierung das Aussetzungsbegehren vor der Schlussabstimmung im Landtag mündlich erhebt,53 wird man auch eine (zunächst) nur mündliche Begründung zulassen müssen, denn anders als in Hessen und Nordrhein-Westfalen geht es in Niedersachsen darum, „vor dem Beschluss des Landtages“ zu intervenieren, was, wenn es im Landtag während der letzten Lesung passiert, ein sofortiges Handeln erfordert. Auch in Nordrhein-Westfalen ist in Art. 67 LV NRW eine Begründung der Gegenvorstellung nicht ausdrücklich vorgeschrieben, doch ist die dortige Wendung, die Landesregierung könne „Bedenken erheben“ bereits mit einer stärker argumentativ besetzten Konnotation verbunden als das Aussetzungsverlangen nach Art. 24 Abs. 2 NV. Dem entspricht, dass auch die in Art. 67 S. 2 LV NRW vorgesehene Entscheidung des Landtags, ob er den geäußerten Bedenken Rechnung tragen will, nur dann sachgerecht erfolgen kann, wenn ihm die das Bedenken tragenden Gründe bekannt sind. Weil die Landesregierung innerhalb von zwei 52 Dazu grundlegend Schenke, Die Verfassungsorgantreue, 1977; s. a. Voßkuhle, NJW 1997, 2216 ff. 53 So Neumann (Fn. 30), Art. 42 Rn. 14; ebenso Hagebölling (Fn. 31), Art. 42 Anm. 3.

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Wochen nach dem Gesetzesbeschluss aktiv werden muss, wird in der Literatur unter Verweis auf die Nachweisfunktion, die dem beim Landtagspräsidenten eingegangenen Schriftstück zukommt, verlangt, dass die Begründung regelmäßig schriftlich zu erfolgen habe und nur in Ausnahmefällen, etwa bei Eilbedürftigkeit, eine mündliche Darlegung der Bedenken in Ausübung des Rederechts der Landesregierung gemäß Art. 45 Abs. 1 S. 2 LV NRW im Landtagsplenum erlaubt sei.54 Angesichts der Fixierung des Redebeitrags im Landtagsprotokoll wird diesem dann der gleiche Informationsgehalt zu entnehmen sein, wie einer schriftlich beim Landtagspräsidenten eingereichten Begründung. Dieser Ausnahme wird man unter der weiteren Voraussetzung zustimmen können, dass das wortführende Regierungsmitglied auch die sonstigen Voraussetzungen der Gegenvorstellungskompetenz hinreichend deutlich macht, also insbesondere auch glaubhaft macht, dass die Landesregierung als Kollegialorgan diesen Beschluss gefasst hat.55 3. Beschlussfassung der Landesregierung als Kollegialorgan

Das Aussetzungsverlangen nach Art. 42 Abs. 2 NV, die Gegenvorstellungskompetenz nach Art. 67 LV NRW und das Einspruchsrecht nach Art. 119 HV stehen jeweils der „Landesregierung“ zu. Diese besteht gem. Art. 28 Abs. 2 NV, Art. 51 LV NRW und Art. 100 HV aus dem Ministerpräsidenten und den Landesministern. Diese Kollegialstruktur bedingt, dass der förmliche Beschluss,56 vom jeweiligen Interventionsrecht Gebrauch zu machen, durch die Landesregierung als Kollegialorgan getroffen werden muss57 – eine verfassungsrechtliche Notwendigkeit, die besondere Anforderungen an das Beschlussverfahren nach sich zieht. Um die Beschlüsse der Landesregierung als Kollegium nicht nur formell, sondern auch materiell zuzurechnen, ist eine Beschlussfassung durch die Landesregierung als Kollegialorgan in gemeinschaftlicher Sitzung oder auch im sog. Umlaufverfahren erforderlich. Es ist jedoch dafür Sorge zu tragen, dass alle Mitglieder der Landesregierung Gelegenheit zur Mitwirkung an der Beschlussfassung erhalten (Information), eine hinreichende Zahl von ihnen am Beschlussverfahren teilnimmt (Quorum) und eine Mehrheit von diesen der Vorlage zustimmt (Majorität).58 Ein sog. Einwendungsausschlussverfahren, bei dem ein Beschluss der Landesregierung im Umlaufverfahren zustande kommt, wenn innerhalb einer gesetzten Frist von keinem Regierungsmitglied Widerspruch erhoben wird, ist demgegenüber verfassungswidrig.59 54 So Dästner (Fn. 36), Art. 67; Vogels, Die Verfassung für das Land NordrheinWestfalen – Handkommentar, 1951, Art. 67 Rn. 3; Dickersbach (Fn. 30), Art. 67 Rn. 4. 55 Ebenso für Art. 119 hess. LV Schonebohm (Fn. 41), Art. 119 Anm. 4. 56 Zu seiner Erforderlichkeit s. Neumann (Fn. 30), Art. 42 Rn. 12; Hagebölling (Fn. 31), Art. 42 Anm. 3. 57 In diesem Sinne eindeutig § 31 Abs. 1 S. 2 GeschO LT NRW. 58 BVerfGE 91, 148 (166). 59 BVerfGE 91, 148 (171 f.); zustimmend Epping, DÖV 1995, 719 (723 f.).

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Thomas Mann 4. Präzisierung des Gegenstandes der exekutiven Interventionsrechte

Aus der eindeutigen Formulierung in Art. 67 LV NRW und Art. 119 HV („gegen ein vom Landtag beschlossenes Gesetz“) wird ersichtlich, dass sich die dort verankerten Interventionsrechte der Landesregierung nur gegen ein förmliches Parlamentsgesetz richten können, das vom Landtag bereits in einer Schlussabstimmung angenommen worden ist. Für Niedersachsen lässt die Wortlautauslegung des Art. 42 Abs. 1 und 2 NV60 ebenfalls keinen Zweifel daran, dass der Landesregierung ein Aussetzungsverlangen nur gegenüber einem bevorstehenden Gesetzesbeschluss des Parlaments zusteht. Mithin scheiden durch Volksentscheid beschlossene Gesetze61 nach allen drei Landesverfassungen als Zielobjekte der exekutiven Interventionsrechte aus.62 Unerheblich ist, welcher der in Art. 42 Abs. 3 NV, Art. 65, 68 Abs. 2 LV NRW bzw. Art. 116 HV genannten Initiativberechtigten (Landesregierung, Mitte des Landtags, Volksbegehren) den Gesetzentwurf ursprünglich in den Landtag eingebracht hatte. Es ist also durchaus denkbar, dass die Landesregierung gegenüber einem von ihr selbst initiierten Gesetz, das aber während der Gesetzesberatungen im Landtag wesentlich verändert worden ist, ein Interventionsrecht geltend macht.63 Mangels thematischer Begrenzung im Verfassungswortlaut wird das auch gegenüber Haushaltsgesetzen gemäß Art. 65 Abs. 4 NV, Art. 81 Abs. 3 LV NRW, Art. 139 Abs. 2 HV zu gelten haben, was im Falle einer Minderheitsregierung selbstredend zu einem besonders wichtigen Einsatzfeld der Interventionsrechte werden kann. Ebenso wie die durch Volksentscheid beschlossenen Gesetze ist auch die Zustimmung des Landtags zu Staatsverträgen kein tauglicher Gegenstand eines Interventionsrechts,64 soweit diese Zustimmung, wie in der nordrhein-westfälischen Staatspraxis zu Art. 66 S. 2 LV NRW, nicht durch Zustimmungsgesetz, sondern

60 Art. 42 Abs. 1 NV: „Die Gesetze werden vom Landtag oder durch Volksentscheid beschlossen“ – Abs. 2: „Vor dem Beschluss des Landtags . . .“ 61 Vgl. dazu Art. 49 NV, Art. 68 LV NRW, Art. 124 HV. 62 Vogels (Fn. 54), Art. 67 Anm. 2 (S. 131); Dickersbach (Fn. 30), Art. 67 Anm. 2; Mann (Fn. 8), Art. 67 Rn. 5; Hinkel (Fn. 49), Art. 119 (S. 209). 63 Für die Niedersächsische Sonderkonstellation des Aussetzungsverlangens nach Art. 42 Abs. 2 NV, in der ein Gesetzesbeschluss noch nicht ergangen ist, bleibt der Landesregierung daneben aber auch die Möglichkeit, ihren Gesetzentwurf zurückzuziehen (so die h. M. seit W. Jellinek, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 160 [170]; krit. Masing, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 76 Rn. 73 f.), was sie angesichts der Unabhängigkeit der Initiativrechte aber nicht davor schützt, dass ein Entwurf gleichen Inhalts aus der Mitte des Landtags neu eingebracht wird, vgl. dazu Mann, in: Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl., 2011, Art. 76 Rn. 37. 64 Ebenso Dickersbach (Fn. 30), Art. 67 Anm. 2; Mann (Fn. 8), Art. 67 Rn. 6; a. A. Vogels (Fn. 54), Art. 67 Anm. 2, freilich auf der Basis seiner Auffassung, dass nach Art. 66 S. 2 ein Zustimmungsgesetz erforderlich ist (ders., ebd., Art. 66 Anm. 2).

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regelmäßig durch Zustimmungsbeschluss erfolgt.65 Das dürfte allerdings selbst im Falle einer Minderheitsregierung die Position der Landesregierung nicht wesentlich beeinträchtigen, da sie infolge der Zustimmung ohnehin noch nicht zur anschließenden Ratifikation verpflichtet ist.66 Aus den gleichen Gründen steht einer Landesregierung bei der Versagung der Genehmigung von Notverordnungen nach Art. 44 Abs. 4 NV, Art. 60 Abs. 5 LV NRW, Art. 110 HV, über die der Landtag ebenfalls nur durch einfachen Beschluss entscheidet,67 kein Interventionsrecht zu. 5. Erlöschen bzw. Verwirkung der Interventionsrechte

Abschließend sind noch zwei Konstellationen zu bedenken, in denen es zu einem Erlöschen bzw. Verwirken der Interventionsrechte kommen kann. In Ansehung des Aussetzungsverlangens nach Art. 42 Abs. 2 NV macht der klare Wortlaut deutlich, dass das Recht der Landesregierung, eine Aussetzung der Schlussabstimmung bis zu 30 Tagen verlangen zu können, mit Fassung des Gesetzesbeschlusses durch den Landtag erlischt. Auch soweit die ratio legis darauf zielt, der Landesregierung ein Instrument in die Hand zu geben, um den Landtag zu einer „Denkpause“ vor einem Gesetzesbeschluss veranlassen zu können, ist dieses Innehalten nach erfolgter Schlussabstimmung nicht mehr erreichbar. In diesem Sinne kann zudem eine Wiederholung des Aussetzungsverlangens als ausgeschlossen gelten; stellt sich die Beschlussempfehlung nach Ablauf der Aussetzungsfrist genauso dar wie vor dem Antrag gemäß Art. 42 Abs. 2 NV, steht der Landesregierung kein erneutes Aussetzungsverlangen zu. Hier wäre ein wiederholtes Aussetzungsverlangen rechtsmissbräuchlich, da es faktisch zu einer dauerhaften Verhinderung der Gesetzgebung führen könnte. Mit Blick auf die Gegenvorstellungskompetenz gemäß Art. 67 LV NRW und das Einspruchsrecht nach Art. 119 HV ist hingegen zu fragen, wie zu verfahren ist, wenn die Landesregierung ein vom Landtag beschlossenes Gesetz zunächst gemäß Art. 71 Abs. 1 LV NRW, Art. 120 HV ausfertigt und verkündet, um dann unter Wahrung der verfassungsrechtlich vorgesehenen Frist68 dennoch Bedenken zu erheben oder Einspruch einzulegen. Hier wird man das Interventionsrecht der 65

Vgl. Mann (Fn. 8), Art. 66 Rn. 40 m.w. N. auch zu anderen deutschen Ländern. Angesichts der alleinigen Vertragsvorbereitung durch die Landesregierung ist ein solcher Konfliktfall wohl nur denkbar, wenn der Zustimmungsbeschluss des Landtags mit der Maßgabe erteilt wird, dass ein nach allgemeinem Völkerrecht erlaubter oder im Vertragstext eröffneter Vorbehalt erklärt oder auch nicht erklärt wird. 67 Vgl. Hagebölling (Fn. 31), Art. 44 Anm. 4; Heusch, in: ders./Schönenbroicher (Hrsg.), Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, 2010, Art. 60 Rn. 10, 13. 68 Angesichts der für die Einspruchseinlegung nach Art. 119 Abs. 2 HV geltenden kurzen Fünftagesfrist ist der Eintritt dieser Konstellation in Hessen freilich deutlich unwahrscheinlicher als in Nordrhein-Westfalen. 66

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Landesregierung aus dem Gedanken des venire contra factum proprium als verwirkt ansehen müssen,69 wenn man nicht sogar einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verfassungsorgantreue annehmen will. Schließlich kann das Ziel, das Gesetz vor seiner Ausfertigung und Verkündung nochmals zu überdenken, bei diesem Szenario auch nicht mehr erreicht werden. 6. Behandlung im Landtag

Der Zeitpunkt einer erneuten Beratung und Beschlussfassung des Landtags wird durch das Aussetzungsverlangen der niedersächsischen Landesregierung gemäß Art. 42 Abs. 2 NV innerhalb der 30-Tagesfrist bestimmt. Demgegenüber enthalten Art. 67 S. 2 LV NRW und Art. 119 HV insoweit keine Vorgaben,70 so dass diesbezüglich auch keine Mindestfristen gelten.71 Der Landtag wird allerdings regelmäßig politisch klug beraten sein, die Angelegenheit alsbald zu terminieren, da im Konfliktfall jede zeitliche Verschiebung nach hinten tendentiell dem Ansinnen der Landesregierung nützlich ist. Obwohl sich die Interventionsrechte nur gegen ein Gesetz als Ganzes richten können72 und deshalb in der Schlussabstimmung konsequenter Weise auch über den Gesetzentwurf im Ganzen abgestimmt wird,73 sollte sich die Befassung des Landtags mit Rücksicht auf den Ausnahmecharakter dieser Vorschriften auf die von der Landesregierung monierten Punkte beschränken und nicht zu einer kompletten Wiederholung der Gesetzesberatung führen.74 Vor diesem Hintergrund kann es allerdings zu einer verfassungsrechtlich nicht vorgeprägten Situation kommen, sofern der Landtag die Monita der Landesregierung nicht vollständig zurückweist: Der Landtag kann den „Bedenken Rechnung tragen“ (Art. 67 S. 2 LV NRW) oder eine „Übereinstimmung zwischen Landtag und Landesregierung“ zustande bringen (Art. 119 Abs. 3 HV), indem er die inkriminierten Bestimmun69 So Mann (Fn. 8), Art. 67 Rn. 5. Unter – nicht einleuchtenden – Verweis auf die Stellung und den Wortlaut des Art. 67 LV NRW im Ergebnis ebenso Dickersbach (Fn. 30), Art. 67 Anm. 2. 70 Im ursprünglichen Regierungsentwurf für eine Landesverfassung NRW v. 29.11. 1949 (nrw. LT-Dr. II-1359) sahen allerdings sowohl der Mehrheitsvorschlag als auch der Minderheitsvorschlag übereinstimmend vor, dass zwischen erster Verabschiedung des Gesetzes und erneuter Beschlussfassung mindestens ein Monat vergangen sein muss. 71 So schon Vogels (Fn. 54), Art. 67 Anm. 5. 72 Anderer Ansicht Malorny (Fn. 12), S. 339, der es ohne nähere Begründung für zulässig hält, dass ein Einspruch auch nur gegen Teile eines Gesetzes erhoben werden kann und damit m. E. verfehlt das (auch bei Schonebohm (Fn. 41), Art. 119 Rn. 6 anklingende) Problem einer formalen Bindungswirkung des früheren Gesetzesbeschlusses hinsichtlich der nicht beanstandeten Teile aufwirft (S. 340). 73 So unmissverständlich § 20 Abs. 4 S. 2 GeschO LT Hess. 74 So auch Dästner (Fn. 36), Art. 67; folgerichtig zieht § 20 Abs. 2 GeschO LT Hess. hieraus die Konsequenz, dass Änderungsanträge auch nur zu den „im Einspruch von der Landesregierung beanstandeten Teilen“ gestellt werden können.

Interventionsrechte der Landesregierungen gegen Gesetze

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gen inhaltlich modifiziert oder sie schlicht aus dem Gesetz herausstreicht. In diesen Fällen wird der Ministerpräsident (Art. 120 HV) bzw. die Landesregierung (Art. 71 Abs. 1 LV NRW) anschließend zu prüfen haben, ob der übrig bleibende „Gesetzestorso“ als solcher noch hinreichend klar und bestimmt genug ist, um von ihm oder ihr ausgefertigt und verkündet werden zu können. Hier könnte sich für eine Minderheitsregierung durchaus noch ein weiteres Spielfeld für ein politisches Kräftemessen eröffnen, nachdem sie bereits vorher vom Interventionsrecht Gebrauch gemacht hat. In politisch zugespitzten Konstellationen wird dem Landtag dann nur noch die Option bleiben, die Angelegenheit im Wege der Organstreitigkeit einer verfassungsgerichtlichen Klärung zuzuführen. VI. Fazit Die in den Landesverfassungen von Hessen, Niedersachsen und NordrheinWestfalen vorgesehenen Interventionsrechte der Landesregierung gegen Gesetzesbeschlüsse des Parlaments könnte man auf den ersten Blick als Relikte längst untergegangener konstitutioneller Fürstenrechte ansehen, für die in einer gewaltenteilenden parlamentarischen Demokratie kein Platz mehr sein sollte. Sie werden im Verfassungsnormalfall, bei dem die Landesregierung von einer komfortablen Parlamentsmehrheit getragen wird, auch kaum zur Anwendung gelangen. Eine Landesregierung ist Gubernative, nicht Gouvernante des Landtags. Das erklärt, warum die Interventionsrechte, wie eingangs dieses Beitrags aufgezeigt, bislang eher ein Schattendasein geführt haben. Eine nähere Betrachtung hat jedoch gezeigt, dass diese Rechte durchaus zu einem politischen Handlungsinstrument einer Minderheitsregierung werden können, weil sie ihr rechtliche Mittel an die Hand geben, um ihre Standpunkte gegenüber den wechselnden Mehrheiten im Parlament zur Geltung zu bringen. Die Wirkkraft der Interventionsrechte in den drei Landesverfassungen ist dabei von unterschiedlicher Stärke; bedingt durch den unterschiedlichen Zeitpunkt, zu dem diese Rechte geltend zu machen sind, und in Abhängigkeit von den erforderlichen Abstimmungsquoren im Landtag lässt sich eine Trias steigender Intensität ausmachen, die vom Aussetzungsverlangen gemäß Art. 42 Abs. 2 NV über die Gegenvorstellungskompetenz nach Art. 67 LV NRW bis hin zum Einspruchsrecht reicht, das Art. 119 HV der hessischen Landesregierung gewährt. Im Ergebnis soll daher dafür plädiert werden, diese Interventionsrechte nicht – wie es mit den vergleichbaren Befugnissen in Bremen,75 Bayern76 und Ham75 Der durch das Verfassungsänderungsgesetz v. 01.11.1994 (Brem.GBl. 1994, S. 289) aufgehobene Art. 104 LV Brem. lautete: „Der Senat hat, abgesehen von dem Fall des Artikels 101 Absatz 2 das Recht, gegen Beschlüsse der Bürgerschaft innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses unter Darlegung der Gründe Bedenken zu erheben. Alsdann ist die Beschlussfassung der Bürgerschaft zu wiederholen. Beharrt die Bürgerschaft auf ihrem Beschluss, so kommt er nur zustande, wenn ihm bei der aberma-

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burg77 geschehen ist – aus den Landesverfassungen zu streichen, sondern sie ähnlich den Notstandsartikeln des Grundgesetzes als Vorkehrungen für „eine besondere Art der Verfassungsstörung“, wie Klaus Stern die Minderheitsregierung einmal bezeichnet hat,78 unangetastet zu lassen.

ligen Beschlussfassung mehr als die Hälfte der gesetzlichen Mitgliederzahl der Bürgerschaft zugestimmt hat.“ 76 Das Gegenvorstellungsrecht des Bayerischen Senats gemäß Art. 41 Abs. 2 LV Bay. („. . . Der Senat kann gegen ein vom Landtag beschlossenes Gesetz innerhalb eines Monats begründete Einwendungen erheben und sie dem Landtag zuleiten. Hat der Landtag ein Gesetz für dringlich erklärt, so beschränkt sich diese Frist auf eine Woche. Der Landtag beschließt darüber, ob er den Einwendungen Rechnung tragen will.“) wurde aufgrund eines erfolgreichen Volksbegehrens aufgehoben, das den Bayerischen Senat – eine Art ständesstaatliche zweite Kammer neben dem Bayerischen Landtag – insgesamt mit Wirkung zum 01.01.2000 abgeschafft hat (s. Bay.GBl. 1998, S. 42). Zu Einzelheiten s. BayVerfGHE 52 (1999), 104 ff. und Pestalozza, JöR 51 (2003), S. 121 (150 ff., 189 ff.). 77 Der durch Verfassungsänderungsgesetz v. 29.05.1996 (Hbg.GBl. 1996, S. 77) aufgehobene Art. 50 LV Hbg. lautete: „Der Senat hat das Recht, gegen ein von der Bürgerschaft beschlossenes Gesetz innerhalb eines Monats unter Darlegung der Gründe Einspruch zu erheben. Alsdann ist die Beschlussfassung der Bürgerschaft zu wiederholen. Das Gesetz tritt nur in Kraft, wenn ihm bei der erneuten Lesung die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl zustimmt.“ Zu Einzelheiten der Aufhebung vgl. die Bürgerschafts-Dr. 14/4179 v. 28.05.1993 sowie Koch, JöR 51 (2003), S. 251 (261). 78 Stern, Der Gesetzgebungsnotstand – eine vergessene Verfassungsnorm, in: Jekewitz (Hrsg.), Politik als gelebte Verfassung, Festschrift Friedrich Schäfer, Opladen 1980, S. 129 (131).

Der Anwendungsvorrang im Normensystem Von Hartmut Maurer I. Prolog Der Anwendungsvorrang ist (noch) kein gesetzlicher oder gar verfassungsrechtlicher Begriff. Er wird aber in der Literatur und Rechtsprechung als dogmatischer Begriff zur Erklärung und zur Bestimmung sehr unterschiedlicher Zusammenhänge herangezogen und verwendet. Er betrifft als unionsrechtlicher Anwendungsvorrang das Verhältnis zwischen dem europäischen Unionsrecht und dem mitgliedsstaatlichen Recht, als bundesstaatlicher Anwendungsvorrang die Konsequenzen der Abweichungsgesetzgebung der Länder nach Art. 72 III und Art. 84 I GG und als vollzugsrechtlicher Anwendungsvorrang die Frage, welche Rechtsnormen der Normenpyramide bei der Entscheidung von Einzelfällen zunächst heranzuziehen sind, – das sachnähere und konkretere Gesetzesrecht oder das ranghöhere Verfassungsrecht. Im Folgenden sollen diese und ggf. weitere Varianten näher dargelegt und miteinander verglichen werden. II. Der unionsrechtliche Anwendungsvorrang Das Recht der Europäischen Union und das deutsche Recht bilden jeweils eigenständige Rechtsordnungen, sie sind aber auch in vielfacher Weise miteinander verknüpft und vernetzt. Das Unionsrecht, das aus den Gründungsverträgen in der Fassung des Lissaboner Vertrages als primäres Unionsrecht und den darauf beruhenden Verordnungen und Richtlinien als sekundäres Unionsrecht besteht, ist für und in allen Mitgliedsstaaten verbindlich und wirkt damit auch auf das deutsche Recht ein. Es ist allerdings auch kein „fremdes“ Recht, da die Bundesrepublik Deutschland als Vertragspartner beim Erlass und der Entwicklung des Unionsrechts mitgewirkt hat und mitwirkt. Das Unionsrecht geht als Gemeinschaftsrecht dem mitgliedsstaatlichen Recht und damit auch dem deutschen Recht vor.1 Das ergibt sich in unionsrechtlicher 1 Vgl. dazu Stern, Staatsrecht I, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 540 ff.; Herdegen, Europarecht, 13. Aufl. 2011, § 10 Rn. 1 ff.; Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rn. 193 ff.; Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 17 Rn. 121 ff.; Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, Festschrift für Stern, 1997, S. 1239 ff.; Ehlers, in: Erichsen/Ehlers

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Sicht aus den Gründungsverträgen, insbesondere Art. 288 II AEUV, der die übergreifende Verbindlichkeit der Rechtsakte der Union bestimmt, ferner aus der Erklärung Nr. 17 zum Vertrag von Lissabon vom 13.12.2007, die sich ausdrücklich auf die bisherige Rechtsprechung des EuGH und auf ein Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates stützt, und schließlich vor allem aus dem allgemeinen Prinzip der Funktionsfähigkeit der Union, die als Rechtsgemeinschaft nicht bestehen könnte, wenn der nationale Gesetzgeber beliebig unionsrechtliche Regelungen durch eigene Rechtsvorschriften ignorieren und durchkreuzen könnte.2 Aus deutscher Sicht ergibt sich die Einordnung in die europäische Union aus den Zustimmungsgesetzen des deutschen Gesetzgebers, die auf der verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Art. 23 GG beruhen.3 Nach ganz überwiegender Meinung bildet der Vorrang des Unionsrechts keinen Geltungsvorrang, sondern einen Anwendungsvorrang.4 Geltungsvorrang und Anwendungsvorrang dienen zwar jeweils der Lösung von Normenkollisionen, liegen aber auf unterschiedlichen Ebenen und haben dementsprechend auch unterschiedliche Konsequenzen.5 Geltung bedeutet, dass eine Rechtsnorm rechtswirksam wird und verbindlich ist. Der Geltungsvorrang wird dann aktuell, wenn sich zwei Rechtsnormen unterschiedlichen Rangs inhaltlich widersprechen und diese Kollision gelöst werden muss. Nach den allgemeinen Rangordnungsregeln setzt sich die höhere Rechtsnorm durch mit der Folge, dass die niedere Rechtsnorm ihre Geltung verliert, d. h. nichtig wird und damit aus der geltenden Rechtsordnung ausscheidet. Die höhere Rechtsnorm derogiert die entgegenstehende untere Rechtsnorm. Der Anwendungsvorrang betrifft dagegen nicht die Existenz und die Geltung der mitgliedsstaatlichen Norm, sondern nur eine, allerdings wesentliche Folge der Geltung, nämlich die Anwendbarkeit. Er löst die Kollisionsfrage nicht durch die Aufhebung der mitgliedsstaatlichen Rechtsnorm, sondern durch die Reduzie(Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 2 Rn. 99 ff.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 4 Rn. 69 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen. 2 Vgl. dazu bereits EuGH vom 15.7.1964, Slg. 1964, 1251, 1269 ff. (Costa/ENEL); st. Rspr. s. etwa EuGH vom 9.3.1978, Slg. 1978, 629, 643 ff. (Simmenthal II); EuGH vom 22.10.1998, Slg. 1998, I 6307, 6332 (Ministero delle Finanzen). 3 Vgl. aus neuerer Zeit BVerfGE 102, 147, 161 ff.; 118, 79, 95 ff.; 123, 267, 396 ff., insbesondere 398 f. und 402; 126, 286, 301 f. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts steht allerdings unter dem Vorbehalt der deutschen Verfassungsidentität (Art. 79 III GG), die von der Ermächtigung des Art. 23 I GG nicht erfasst wird, vgl. etwa BVerfGE 123, 267, 402; ferner allgemein zur Rechtsprechung des BVerfG Streinz (Fn. 1), Rn. 224 ff. 4 Vgl. die Nachweise oben Fn. 1. 5 Vgl. zu dieser Unterscheidung Funke, Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts, DÖV 2007, 733 ff.; Ohler, Die Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungserechts, 2005, S. 139 ff.; Ehlers (Fn. 1), § 2 Rn. 109 ff.; Muthorst, Grundlagen der Rechtswissenschaft, 2011, S. 80 ff.

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rung oder sogar den Ausschluss ihrer Anwendbarkeit. Die mitgliedsstaatliche Rechtsnorm bleibt sonach bestehen, ist aber nicht (mehr) anwendbar, soweit und solange die Unionsnorm gilt und eingreift. Im Übrigen, also jenseits des Kollisionsbereichs, bleibt sie folgerichtig anwendbar. Das ist vor allem dann der Fall, wenn der Anwendungsbereich der mitgliedsstaatlichen Norm weiterreicht als der des Unionsrechts, etwa auch innerstaatliche, vom Unionsrecht nicht erfasste Sachverhalte erfasst, oder wenn das Unionsrecht aufgehoben und dadurch der Anwendungsbereich des mitgliedsstaatlichen Rechts wieder erweitert wird. Der Anwendungsvorrang führt also nicht zur Derogation, sondern nur zur Suspension, die sachlich und zeitlich beschränkt sein kann. Bildlich gesprochen wird das mitgliedsstaatliche Recht durch das Unionsrecht überlagert oder verdrängt, nicht aufgehoben und vernichtet. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts besteht nur im Verhältnis zum mitgliedsstaatlichen Recht und damit auch zum deutschen Recht, nicht aber im unionsinternen Bereich. Hier gilt vielmehr – wie innerhalb der deutschen Rechtsordnung – der Geltungsvorrang der höherrangigen Rechtsnorm. Daher ist ein Rechtsakt der Union, der gegen das primäre Unionsrecht verstößt, grundsätzlich nichtig. Allerdings spricht eine Vermutung für die Rechtmäßigkeit und Gültigkeit der Unionsrechtsakte, so dass die Nichtigkeit erst geltend gemacht werden kann, wenn die Norm vom EuGH für nichtig erklärt oder sonst aufgehoben worden ist.6 Zur Begründung des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs wird darauf hingewiesen, dass er den Anforderungen und Bedürfnissen des Unionsrechts genügt, andererseits aber schonender wirkt und die Integrität der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen soweit als möglich gewährleistet, indem er eine unionsrechtswidrige Rechtsnorm nicht aus deren Rechtsordnung herausbricht, sondern dort belässt und lediglich die Anwendung versagt, soweit und solange das Unionsrecht entgegensteht. Es handelt sich also gleichsam um einen entschärften, aber doch noch wirksamen Vorrang. Dafür spricht auch, dass das Unionsrecht und das nationale Recht jeweils eigenständige und autonome Rechtsordnungen bilden. Die erforderliche Geschlossenheit und Stimmigkeit innerhalb dieser Rechtsordnungen wird konsequenterweise durch die Nichtigkeit und damit die Beseitigung der gegen das höherrangige Recht verstoßenden Rechtsnorm bewahrt. Kollisionen zwischen solchen Rechtsordnungen betreffen dagegen nicht nur eine Norm, sondern haben auch mehr oder weniger Auswirkungen auf die gesamte Rechtsordnung der anderen Seite, so dass Zurückhaltung geboten und die bloße Unanwendbarkeit der kollidierenden Rechtsvorschrift vorzuziehen ist.7 6 Vgl. dazu EuGH vom 15.6.1994, Slg. I-2555, Rn. 48 (BASF); Herdegen (Fn. 1), § 9 Rn. 77 ff.; Ehlers (Fn. 1), § 2 Rn. 98, 116. 7 Im deutschen Recht besteht zwischen dem Bundesrecht und dem Landesrecht, die ebenfalls bis zu einem gewissen Grad als eigenständige Rechtsordnungen angesehen

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III. Der Anwendungsvorrang im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung der Länder 1. Entwicklung

Die Abweichungsgesetzgebung der Länder ist ein Produkt der Föderalismusreform I von 2006.8 Sie soll bestimmte Verluste der Länder im Bereich der Gesetzgebung dadurch ausgleichen, dass die Länder als Ersatz die Befugnis erhalten, von Bundesgesetzen durch den Erlass eigener gesetzlicher Regelungen abzuweichen, die allerdings das betroffene Bundesgesetz nicht aufheben, sondern ihnen nur im Sinne des Anwendungsvorrangs vorgehen sollen. Es handelt sich um zwei Fallgruppen.9 Die erste betrifft den Wegfall der früheren Rahmengesetzgebung (Art. 75 GG a. F.), die den Bund auf Rahmengesetze beschränkte und den Ländern die gesetzliche Ausfüllung und Konkretisierung dieser Rahmenregelungen überließ. Durch die Föderalismusreform wurden die meisten Materien der früheren Rahmengesetzgebung in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung verschoben, den Ländern aber als Ersatz die Kompetenz zugesprochen, von den in diesem Bereich erlassenen Bundesgesetzen abzuweichen.10 Die andere Fallgruppe betrifft den Vollzug der Bundesgesetze durch die Länder als eigene Angelegenheit nach Art. 84 I GG. Die Vollzugskompetenz der werden können, gem. Art. 31 GG der Geltungsvorrang (vgl. dazu gerade in vorliegendem Zusammenhang BVerfGE 123, 267, 398; 126, 286, 302; ferner grundsätzlich Stern, Staatsrecht, Bd. III 2, 1994, S. 1451 ff.). Das ist indessen nicht unbestritten. Es mehren sich die Stimmen, die im Grundrechtsbereich für einen Anwendungsvorrang plädieren, vgl. etwa von Ohlshausen, Landesverfassungsbeschwerde, 1980, S. 157 ff.; Heckmann, Geltungskraft und Geltungsverlust von Rechtsnormen, 1997, S. 318 ff.; Menzel, Landesverfassungsrecht, 2002, S. 201 ff. 8 Die Föderalismusreform I beruht auf dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006 (BGBl. I S. 2034), in Kraft getreten am 1.9.2006. Ihr folgte die Föderalismusreform II von 2009 (BGBl. I S. 2248), die hier jedoch nicht näher interessiert. Vgl. zum Verfahren und zu den Ergebnissen der beiden Reformen Maurer, Staatsrecht, 6. Aufl. 2010, § 10 Rn. 79 ff. 9 Vgl. Art. 72 III und Art. 84 I 2–6 GG; dazu die Erläuterungen in den Kommentaren zum Grundgesetz und die Literaturangaben bei Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 17 Rn. 161; ferner Beck, Die Abweichungsgesetzgebung der Länder, 2009; Gerstenberg, Zu den Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen nach der Föderalismusreform, 2009; B. Becker, Das Recht der Länder zur Abweichungsgesetzgebung (Art. 72 Abs. 3 GG) und das neue WHG und BNatSchG, DVBl. 2010, 754 ff.; ders., Das neue Umweltrecht, 2010, S. 17 ff. 10 Es handelt sich um Gesetze über 1. das Jagdwesen (ohne das Recht der Jagdscheine), 2. den Naturschutz und die Landschaftspflege (ohne die allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes, das Recht des Artenschutzes oder des Meeresnaturschutzes), 3. die Bodenverteilung, 4. die Raumordnung, 5. den Wasserhaushalt (ohne stoff- oder anlagenbezogene Regelungen), 6. die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse. Die Klammerzusätze weisen auf die den Ländern entzogenen und damit dem Bund vorbehaltenden Teilmaterien. Der Bund hat inzwischen auch entsprechende Gesetze – in Anlehnung und Änderung der bisherigen Rahmengesetze – erlassen, vgl. Becker, Das neue Umweltrecht (Fn. 9).

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Länder schließt die Befugnis zur Regelung des Verfahrens- und Organisationsrechts ein. Nach der ursprünglichen Fassung des Art. 84 I 1 GG war der Bund jedoch befugt, durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates andere Vollzugsregelungen zu erlassen. Da die Zustimmungskompetenz des Bundesrates in der Praxis mit Billigung des BVerfG und der überwiegenden Literatur extensiv ausgelegt und auf das ganze Gesetz, auch auf die Sachregelungen, erstreckt wurde, fiel über die Hälfte aller Bundesgesetze in den Zustimmungsbereich des Bundesrates, was die Bundesgesetzgebung verfassungsrechtlich und verfassungspolitisch erheblich erschwerte.11 Diese Entwicklung sollte gestoppt werden. Durch die Föderalismusreform wurde die Zustimmungsbefugnis des Bundesrates weitgehend gestrichen, dafür aber den Ländern die Kompetenz eingeräumt, von den Bundesgesetzen durch eigene Regelungen abzuweichen. 2. Die Konzeption der Abweichungsgesetzgebung

Durch die landesrechtliche Abweichungsregelung wird die bundesrechtliche Regelung nicht aufgehoben. Art. 31 GG, wonach Bundesrecht entgegenstehendes Landesrecht bricht, wird also nicht einfach umgedreht. Vielmehr hat das Landesgesetz nur „Anwendungsvorrang“.12 Es geht der betroffenen bundesgesetzlichen Regelung vor und kommt an deren Stelle zur Anwendung, allerdings nur als Landesgesetz und damit nur für den Bereich des jeweiligen Landes.13 Der Bund muss die Abweichung von seinem Gesetz nicht hinnehmen, sondern kann seinerseits von dem abweichenden Landesgesetz abweichen mit der Folge, dass nun das Land wiederum von dem Bundesgesetz abweichen kann, so dass sich möglicherweise eine ganze Folge jeweils abweichender Landes- und Bundesgesetze ergibt. Art. 72 III 3 GG bestimmt jedenfalls für diesen Bereich ausdrücklich, dass „im Verhältnis von Bundes- und Landesrecht das jeweils spätere Gesetz vorgeht“. Obwohl die Bundesgesetze an sich gegenüber den Landesgesetzen höheren Rang besitzen, gilt insoweit nicht das Superioritätsprinzip, sondern das Posterioritätsprinzip, also nicht der Vorrang des höheren, sondern der Vorrang des späteren Gesetzes. Theoretisch ist danach eine längere Kette sich jeweils verdrängender Bundesund Landesgesetze möglich. Indessen ist das in der Praxis kaum zu erwarten. Es ist eher anzunehmen, dass ein Flickenteppich sachlich unterschiedlicher Regelungen entsteht, nämlich ein durchlöchertes Bundesgesetz und eine Reihe von terri11 Vgl. dazu kritisch Maurer (Fn. 8), § 17 Rn. 73 f., ders., Die Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder, JuS 2010, 945, 947 f. mit weiteren Nachweisen. 12 So ausdrücklich die Begründung zum Gesetzentwurf vom 7.3.2006 (BT-Drs. 16/ 813 S. 11). 13 Entsprechendes gilt für die Abweichungsgesetzgebung nach Art. 84 I 2–6 GG, für die ausdrücklich auf Art. 72 III 3 GG verwiesen wird; die folgenden Ausführungen gelten daher im wesentlichen auch für diese Fälle, vgl. Maurer, JuS 2010, 948 f.

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torial beschränkten Landesgesetzen, und das nicht auf der Geltungsebene, sondern auf der Anwendungsebene. Dadurch könnte die Rechtssicherheit erheblich beeinträchtigt werden, weshalb die Länder dazu übergehen und übergehen sollten, ihre Abweichungen im Landesgesetzblatt zu dokumentieren und im Bundesgesetzblatt nachrichtlich darauf hinzuweisen.14 Art. 72 III GG setzt voraus, dass der Bundesgesetzgeber tätig geworden ist und ein Bundesgesetz vorliegt. Das legt schon der Wortlaut nahe, da nur von einer Regelung abgewichen werden kann, die bereits besteht. Vor allem folgt das aber daraus, dass die in Art. 72 III GG aufgeführten Gesetzgebungsmaterien15 dem Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung angehören (Art. 74 I Nr. 28–33). Danach sind zunächst ohnehin die Länder kraft Verfassungsrecht zuständig, solange und soweit der Bund von seiner (subsidiären) Gesetzgebungskompetenz keinen Gebrauch gemacht hat (Art. 72 I GG). Verzichtet der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung auf eine eigene Regelung, so kann das auf verschiedenen Gründen beruhen. Es ist möglich, dass er kein Interesse an einer bundeseigenen Regelung hat; es ist aber auch möglich, dass er eine Regelung der Länder intendiert und deshalb deren Gesetzgebung durch Verzicht auf eine eigene Gesetzgebung anregt. Ferner kann er bestimmte Teilbereiche oder Einzelfragen aus seinem Gesetz ausklammern und damit den Ländern zuschieben oder überlassen. Diese Möglichkeiten bestanden bislang schon. Neu ist nun, dass der Bund, wenn er im Rahmen der Art. 72 III und Art. 84 I GG ein Gesetz erlässt, mit abweichenden Landesgesetzen rechnen muss. Diese Konzeption könnte sinnvoll sein: Der Bund erlässt zunächst ein Gesetz und legt damit eine (seine) Konzeption fest; die Länder können sich daran orientieren und entweder das Bundesgesetz stillschweigend akzeptieren oder aber eine eigene Alternative entwickeln und gesetzlich festlegen; der Bund kann davon wiederum zur Wahrung der gesamtstaatlichen Interessen und Forderungen abweichen und die landesgesetzlichen Regelungen ganz oder teilweise verdrängen. 3. Grenzen

Die Abweichungsgesetzgebung stößt auf eine ganze Reihe von Grenzen. Zunächst ist zu beachten, dass sie nur für relativ wenige, allerdings sachlich durchaus gewichtige Gesetzgebungsmaterien in Betracht kommt. Zum anderen sind die immanenten Grenzen zu beachten, insbesondere die abweichungsresistenten Kernbereiche und die verschiedenen Fristen.16 Schließlich bestehen externe Grenzen, da die Landesgesetze auch im Rahmen der Abweichungsgesetzgebung an das Grundgesetz, das übrige Bundesrecht, das Unionsrecht einschließlich der 14 15 16

Vgl. dazu Becker, DVBl. 2010, 758. Vgl. oben Fn. 10. Vgl. dazu näher Art. 72 III GG.

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deutschen Regelungen, die Unionsrecht aufgenommen haben, das Völkerrecht und das Landesverfassungsrecht gebunden sind. 4. Vergleich

Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und der Anwendungsvorrang des Art. 72 III GG entsprechen sich strukturell, da die Kollision zwischen zwei Rechtsnormen nicht – wie im Falle des Geltungsvorrangs – durch Aufhebung, sondern durch die Nichtbeachtung der schwächeren Norm gelöst wird. In funktioneller Hinsicht bestehen jedoch erhebliche Unterschiede, die sich aus den jeweiligen Zusammenhängen ergeben. Das Unionsrecht löst die Normenkollision durch die hierarchische Rangordnung der Rechtsquellen. Da das Unionsrecht den höheren Rang besitzt, setzt es sich gegenüber den widersprechenden Rechtsnormen der mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen durch. Das geschieht aber im Blick auf die Eigenständigkeit und die Integrität der nationalen Rechtsordnungen nicht durch Aufhebung und Nichtigkeit der betroffenen Rechtsnorm, sondern nur dadurch, dass sie lediglich nicht beachtet werden muss und darf und damit unangewendet bleibt. Die Abweichungsgesetzgebung des Art. 72 III GG tangiert dagegen nicht die vorgegebene Rangordnung des Rechts, sondern ergibt sich daraus, dass auf der Ebene des Gesetzesrechts eine echte Konkurrenz zwischen dem Bundesgesetzgeber und dem Landesgesetzgeber besteht. Während die sog. konkurrierende Gesetzgebung des Art. 72 I GG in Wirklichkeit nur eine Vorranggesetzgebung darstellt, sind für die in Art. 72 III GG genannten Gesetzgebungsmaterien sowohl der Bund als auch die Länder zuständig. Diese Doppelzuständigkeit wird – ungeachtet des sonst unterschiedlichen Ranges der Gesetzgeber – durch den Vorrang des jeweils späteren Gesetzes gelöst. Diese Regelung entspricht allerdings nur bedingt dem traditionellen Prinzip des Vorrangs der lex posterior. Denn dieses geht davon aus, dass derselbe Gesetzgeber tätig wird und mit seinem späteren Gesetz das frühere Gesetz – bewusst oder unbewusst – aufhebt. Das trifft hier aber nicht zu. Vielmehr konkurrieren zwei Gesetzgeber – der Bundesgesetzgeber und die Landesgesetzgeber – um die bessere oder zumindest um die ihnen besser erscheinende gesetzliche Regelung. IV. Der vollzugsrechtliche Anwendungsvorrang 1. Begriffliche Einordnung

Der vollzugsrechtliche Anwendungsvorrang knüpft zwar – wie der unionsrechtliche Anwendungsvorrang und der Geltungsvorrang in anderen Bereichen – an die Rangordnung der Rechtsquellen an, dient aber nicht – wie jene – der Lösung von Normenkollisionen, sondern bestimmt die im konkreten Fall anzuwen-

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dende Rechtsnorm. Vorrang besitzt in diesem Fall nicht die Rechtsnorm der jeweils höheren Rangstufe, sondern gerade umgekehrt diejenige der jeweils niederen Rangstufe. Es besteht also gleichsam eine umgekehrte Stufenfolge, die von unten nach oben geht.17 Aktuell wird dieser Anwendungsvorrang sowohl im Verwaltungsverfahren als auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren,18 erlangt aber in verwaltungsgerichtlichen Verfahren größeres Gewicht. Die Problematik ist indessen im Wesentlichen dieselbe. Der vollzugsrechtliche Anwendungsvorrang betrifft an sich alle Rechtsnormen der verschiedenen Rangstufen. Im Vordergrund steht jedoch das Verhältnis von Verfassung und Gesetzesrecht und in diesem Rahmen wiederum das Verhältnis von Grundrechten und einfachen Gesetzen. Daher ist gelegentlich vom „Anwendungsvorrang des einfachen Gesetzes“ die Rede.19 Darauf beziehen sich auch die folgenden Ausführungen. Konfliktsträchtig sind vor allem die mehrpoligen Rechtsverhältnisse, die die Abgrenzung und den Ausgleich der unterschiedlichen Rechtspositionen erfordern. So stellt sich z. B. die Frage, ob die Baurechtsbehörde bzw. das Verwaltungsgericht im Falle einer baurechtlichen Nachbarstreitigkeit unmittelbar oder wenigstens subsidiär bei Fehlen einer nachbarschutzrechtlichen Rechtsvorschrift Art. 14 I GG als Entscheidungsgrundlage heranziehen darf.20 Der Anwendungsvorrang ist dem Geltungsvorrang nachgeordnet. Er greift nur ein, wenn die sich inhaltlich entsprechenden Rechtsnormen unterschiedlichen Rangs jeweils für sich betrachtet gelten und somit rechtswirksam sind. Wenn z. B. eine baurechtliche Regelung verfassungswidrig und nichtig ist, stellt sich die Frage des Anwendungsvorrangs gegenüber Art. 14 I GG überhaupt nicht.

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Vgl. Erbguth, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2011, § 7 Rn. 17. Die Stellungnahmen in der Literatur beschränken sich überwiegend auf eine der beiden Alternativen, vgl. zum Anwendungsvorrang im Verwaltungsverfahren Ehlers (Fn. 1), § 2 Rn. 94, § 6 Rn. 4; Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 12 Rn. 12, 16, 30; Ruffert (Fn. 1), Rn. 49; Maurer, Verwaltungsrecht (Fn. 1), § 4 Rn. 58; ders., Staatsrecht (Fn. 8), § 8 Rn. 17. – Zum Anwendungsvorrang im gerichtlichen Verfahren Hermes, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStR 61 (2002), S. 121, 129 ff.; Dreier, Grundrechtsdurchgriff contra Gesetzesbindung?, DV 36 (2003), S. 105 ff.; Bethge, Der Anwendungsvorrang des einfachen Rechts, Gedächtnisschrift für Tettinger, 2007, S. 369 ff.; ders., in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90 (2010), Rn. 317 ff.; Wahl/Schütz, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 42 Abs. 2 (2010) Rn. 57 ff. – Zu beiden Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 156, 272 ff.; Ibler, Verwaltungsrechtsschutz des Baunachbarn unmittelbar aus Art. 14 GG versus „Anwendungsvorrang des einfachen Rechts“, Festschrift für Schenke, 2011, S. 837, 843 ff. 19 Wahl/Schütz (Fn. 18), § 42 VwGO Rn. 57. 20 Vgl. dazu näher unten. 18

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2. Die grundgesetzlichen Vorgaben

Im Grundgesetz finden sich dazu keine ausdrücklichen Vorschriften, aber doch einige maßgebliche Anhaltspunkte. Nach Art. 1 III GG binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht. Damit wird klar ausgesprochen, dass die Grundrechte – entgegen teilweise früher vertretenen Auffassungen – nicht nur Programmsätze, Absichtserklärungen, allgemeine Rechtsprinzipien und dgl. bilden, sondern verbindliche Rechtssätze darstellen. Die Frage, wann, wo und wie die Grundrechte in der Rechtspraxis zur Anwendung kommen, ist damit noch nicht präjudiziert. Bereits Art. 20 III GG differenziert zwischen der Gesetzgebung, die an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist, und der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung, die an Gesetz und Recht gebunden sind.21 Auch wenn nicht zweifelhaft sein kann, dass Art. 20 III GG mit der „verfassungsmäßigen Ordnung“ alle Regelungen des Grundgesetzes und mit „Gesetz und Recht“ zumindest alle Rechtsnormen einschließlich der untergesetzlichen Rechtsvorschriften meint22, so wird damit das Verhältnis von Verfassung, Gesetz und Gesetzesvollzug im Anwendungsbereich noch nicht abschließend festgelegt. Entsprechendes gilt für Art. 97 I GG, dessen Ziel es ist, die Gesetzesbindung der Richter durch Ausschluss aller sonstigen Einflussmöglichkeiten sicher zu stellen. Ergiebiger ist in diesem Zusammenhang Art. 100 I GG, der die sog. Richtervorlage beim BVerfG regelt, diese aber erst und nur dann für zulässig erklärt, wenn das fragliche Gesetz entscheidungserheblich ist, d. h. wenn es – seine Verfassungsmäßigkeit und Geltung unterstellt – im Ausgangsverfahren überhaupt zur Anwendung käme.23 3. Die Wechselbeziehung zwischen Grundrechten und Gesetzgebung

Die Grundrechte des Grundgesetzes zeichnen sich durch prägnant und knapp formulierte Gewährleistungen aus, sind aber gerade deshalb noch sehr allgemein und offen. Das gilt bereits für die Grundrechte, die bestimmte Lebenssachverhalte erfassen, wie z. B. die „Freiheit der Person“, die „Meinungsfreiheit“, die „Religion“ und das „Gewissen“, die „Versammlung“, die „Wohnung“ usw. Noch deutlicher ist das bei den sog. normgeprägten Grundrechten, deren Schutzbereich geradezu auf die Normierung durch den Gesetzgeber angelegt ist.24 So enthält Art. 14 I 1 GG die Garantie des Privateigentums, bestimmt aber in Art. 14 I 2 GG, dass Inhalt und Schranken durch den Gesetzgeber bestimmt werden, der sei21 Vgl. dazu eingehend Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, 1999, S. 93 ff. 22 Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 11. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 32 und 37 f. 23 Es handelt sich also um eine Art mittelbaren Anwendungsvorrang. 24 Vgl. Stern, Staatsrecht, Bd. III 1, 1988, S. 1301; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 26. Aufl. 2011, Rn. 209 ff.

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nerseits wiederum an die grundsätzliche Garantie des Art. 14 I 1 GG und an die Sozialbindung des Eigentums gem. Art. 14 II GG gebunden ist und darüber hinaus auch die allgemeinen Verfassungsprinzipien, insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes, zu beachten hat. Art. 14 I GG wurde und wird erst durch den Erlass entsprechender Gesetze operabel, was tatsächlich auch in erheblichem Umfang geschah und geschieht. Während sich die Grundrechte früher im wesentlichen auf Abwehrrechte des Einzelnen gegen staatliche Eingriffe in seine Freiheitssphäre beschränkten, haben sie in den letzten Jahrzehnten durch die Rechtsprechung des BVerfG25 und der ihr folgenden Literatur eine erhebliche Ausdehnung erfahren. Sie begründen über ihren nach wie vor bestehenden Abwehrcharakter hinaus Leistungsrechte, Schutzrechte und Verfahrensrechte und wirken als objektiv-rechtliche Wertentscheidungen auf die gesamte staatliche Rechtsordnung ein.26 Als Abwehrrechte können die Grundrechte ggf. unmittelbar eingesetzt und durch die Aufhebung der Eingriffsakte vollzogen werden. Indessen bedürfen sie auch hier und vor allem in ihren weiteren Funktionen als Leistungsrechte, Schutzrechte und Verfahrensrechte nicht nur der Auslegung im engeren Sinne, sondern auch der weiterführenden Konkretisierung und Ausgestaltung. Dabei ist unter Auslegung die Ermittlung der inhaltlichen Aussage des Grundrechts, unter Konkretisierung die (gedachte) Umsetzung des Grundrechts in die Wirklichkeit und unter Ausgestaltung die Entfaltung und Weiterführung der in dem jeweiligen Grundrecht angelegten Möglichkeiten zu verstehen. Das ist vor allem die Aufgabe des Gesetzgebers. Er hat im Blick auf die Grundrechte die „Konkretisierungsprärogative“ und das „Konkretisierungsprimat“.27 Schon der Grundrechtskatalog weist immer wieder auf den Gesetzgeber. Selbst die Gesetzesvorbehalte dienen nicht nur der Einschränkung der Grundrechte, sondern zielen zugleich auf ihre Umsetzung und Ausgestaltung. Der Hinweis auf den Gesetzgeber hat vor allem institutionelle, funktionelle und instrumentelle Gründe: Der Gesetzgeber besitzt durch die Volkswahl des Parlaments eine unmittelbare und damit hervorgehobene demokratische Legitimität, er ist in erster Linie zur Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen Lebens und zur 25 Vgl. vor allem die Grundsatzentscheidungen der Anfangszeit BVerfGE 4, 7 (Investitionshilfe); BVerfGE 6, 32 (Elfes: Art. 2 I GG als allgemeines Freiheitsrecht im Rahmen der allgemeinen Gesetze); BVerfGE 6, 55 (Ehegattensplitting: Ehe und Familie); BVerfGE 7, 198 (Lüth: Grundrechte als objektive Wertordnung, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechtes gelten); BVerfGE 7, 377 (Apotheken: Berufsfreiheit). 26 Stern, Staatsrecht, Bd. III 1, S. 315 ff.; ders., Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, S. 3 ff.; ders., in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 2010, Einleitung Rn. 22 ff. jeweils mit weiteren Nachw. 27 Vgl. zu diesen Formeln Bethge (Fn. 18), S. 375 ff.; in grundsätzlicher Sicht Rüthers/Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl. 2010, Rn. 708.

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Verwirklichung des Gemeinwohls berufen und er besitzt mit dem generell-abstrakten Gesetz die angemessene Rechtsform zum Ausbau der Grundrechte. Die Grundrechte dürfen ohnehin nicht nur „von oben“, von der höheren Warte der Verfassung aus betrachtet, sondern müssen auch „von unten“ gesehen werden. Die Konkretisierung und Ausgestaltung der Grundrechte erfolgt vor allem an der Basis. Die Grundrechte müssen in die Regelung der einzelnen Rechtsgebiete, etwa des Baurechts, des Schulrechts, des Sozialhilferechts usw., einbezogen und dort integriert werden. Die isolierte Betrachtung der Grundrechte nützt trotz allen Scharfsinns wenig, sondern degradiert sie eher zu Nebenläufer der staatlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass die Grundrechte zwar den Gesetzgeber binden, andererseits aber auch auf den Gesetzgeber angewiesen sind, der sie nicht nur auslegt, sondern auch konkretisiert und ausgestaltet. 4. Folgerungen für den Anwendungsvorrang

a) Der Anwendungsvorrang der einfachen Gesetze weist die vollziehenden Staatsorgane, die Behörden und die Gerichte, bei der Entscheidung konkreter Einzelfälle und der rechtlichen Beurteilung sonstiger Maßnahmen an die vorliegenden und maßgeblichen Gesetze und schließt damit einen direkten Durchgriff auf die Grundrechte aus. Dafür spricht zum einen, dass im Falle des Durchgriffs die in aller Regel sachnäheren und konkreteren Vorschriften der Gesetze ignoriert würden und möglicherweise wesentliche Teile des Gesetzes unbeachtet blieben, und zum anderen, dass die Verwaltungsbehörden und Gerichte durch die unmittelbare Anwendung der Grundrechte die Konkretisierungsaufgabe des Gesetzgebers an sich ziehen würden. b) Die Rechtsgrundlage des Anwendungsvorrangs ergibt sich bereits aus der Kompetenz des Gesetzgebers zur Konkretisierung und Ausgestaltung der Grundrechte. Besonders deutlich wird dies bei den normgeprägten Grundrechten, vor allem bei der bereits erwähnten Eigentumsgarantie des Art. 14 I GG. Die rechtsanwendenden Organe dürfen diese Kompetenzen nicht durch vorgreifliche und eigenmächtige Anwendung der Grundrechte unterlaufen. Das wird durch die ausdrückliche Bindung der Exekutive und der Rechtsprechung an die Gesetze unterstrichen (Art. 20 III GG). Hinzu kommt das Gewaltenteilungsprinzip, das nicht nur organisatorisch, sondern auch funktionell zwischen den „Gewalten“ differenziert (Art. 20 II GG). Ein wesentliches Element der Gewaltenteilung bildet die Unterscheidung zwischen der Gesetzgebung und dem Gesetzesvollzug, d. h. zwischen dem Erlass generell-abstrakter und damit allgemeinverbindlicher Regelungen und deren Vollzug unter den konkreten Bedingungen des Einzelfalls.28 Der direkte Zugriff auf die Verfassung durch die Verwaltungsbehörden und Gerichte 28

Vgl. Maurer, Der Verwaltungsvorbehalt, VVDStRL 43 (1985), S. 135, 157 f.

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mag zwar noch als Vollzug erscheinen, steht aber in Wirklichkeit als Grundrechtskonkretisierung doch schon mehr auf der Seite der Gesetzgebung. c) Die Grundrechte werden damit auf der einfach-gesetzlichen Ebene nicht ausgeblendet. Sie müssen vielmehr bei der Auslegung des einfachen Gesetzes herangezogen und berücksichtigt werden, sei es im Sinne der verfassungsorientierten Auslegung,29 die die Grundrechte in Blick nimmt und ihre Ziele in die Auslegung des Gesetzes einbezieht, sei es im Sinne der verfassungskonformen Auslegung,30 die von mehreren möglichen Auslegungsergebnissen diejenige ausscheidet, die dem Grundgesetz widerspricht, und sich daher von vornherein auf ein verfassungsgemäßes Auslegungsergebnis beschränkt. d) Zudem greift der Anwendungsvorrang nur ein, wenn das einfache Gesetz mit der Verfassung vereinbar ist. Wie bereits oben dargelegt wurde, ist der Anwendungsvorrang dem Geltungsvorrang nachgeordnet. Wenn die rangniedere Rechtsnorm gegen eine ranghöhere Rechtsnorm verstößt, ist sie nichtig und scheidet damit aus der Rechtsordnung aus. Die Gerichte sind daher, falls dazu Anlass besteht, zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der von ihnen anzuwendenden Gesetze verpflichtet und müssen, wenn sie diese verneinen, die Entscheidung des BVerfG einholen (Art. 100 I GG).31 Damit wird einer Verletzung der Grundrechte über den Anwendungsvorrang der Gesetze vorgebeugt. Das Entscheidungsmonopol des BVerfG ist übrigens keine reine Zuständigkeitsfrage, sondern hat grundsätzliche Bedeutung. Auch wenn das BVerfG nur die Vereinbarkeit des Gesetzes mit den Grundrechten prüft und damit Kontrollinstanz ist, so wird und muss es doch in diesem Zusammenhang eine Grundrechtskonkretisierung vornehmen, die zur bloßen Verwerfung des verfassungswidrigen Gesetzes, aber auch zur (positiven) Entwicklung und Darstellung verfassungsgemäßer Alternativen führen kann. Das BVerfG wird dadurch gleichsam zum Ersatzgesetzgeber. Darin liegt auch der eigentliche Grund für die Konzentration des Prüfungs- und Verwerfungsrechts beim BVerfG. e) Fehlt eine gesetzliche Regelung, dann greift der „Anwendungsvorrang des einfachen Gesetzes“ ins Leere. Der Richter muss gleichwohl seinen Fall entscheiden.32 Es stellt sich dann die Frage, ob der Richter die Lücke auf der einfachgesetzlichen Ebene nach den allgemeinen Grundsätzen der Lückenschließung

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Vgl. dazu Dreier (Fn. 18), S. 110 ff. Vgl. dazu Dreier (Fn. 18), S. 110. 31 Das gilt jedenfalls für die Gerichte, allerdings nur, soweit es sich um formelle und nachkonstitutionelle Gesetze handelt. Die Verfassungsmäßigkeit der vorkonstitutionellen Gesetze und der untergesetzlichen Rechtsnormen kann dagegen von den Gerichten selbst inzidenter geprüft und entschieden werden. Fraglich und umstritten ist die Normenkontrolle der Exekutive, vgl. dazu Stern, Staatsrecht, Bd. III 1, S. 1345 ff.; Maurer (Fn. 1), § 4 Rn. 63 ff. 32 Vgl. Bethge (Fn. 18), S. 389 ff. 30

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(extensive Auslegung, Analogie, Umkehrschluss, Entwicklung von Richterrecht, usw.) klären muss oder ob er in diesem Fall unmittelbar auf die Grundrechte zurückgreifen darf. Grundsätzlich muss der Richter zunächst eine Klärung auf der einfach-gesetzlichen Ebene versuchen, zumal die Gesetze ohnehin nicht isoliert, sondern in ihrem Kontext ausgelegt werden müssen. Dabei sind, wie dargelegt wurde,33 auch die Grundrechte einzubeziehen. Führt das nicht weiter, müssen die Grundrechte direkt herangezogen werden. Ob das jedoch zum Erfolg führt, ist freilich noch nicht ausgemacht, da bei der Auslegung der dann maßgeblichen Grundrechte die Konkretisierungs- und Ausgestaltungskompetenz des Gesetzgebers beachtet werden muss, etwa Art. 14 I 2 GG, der auch und gerade die Frage des Drittschutzes betrifft.34 f) In der Praxis wird die Grundrechtsrelevanz vor allem aus der Sicht des Bürgers bedeutsam, der gegen einen Verwaltungsakt oder eine sonstige Maßnahme klagt, die ihn nur mittelbar treffen, etwa ein Grundstückseigentümer gegen die seinem Nachbar erteilte, aber ihn beeinträchtigende Baugenehmigung oder ein Unternehmer gegen die seinem Konkurrenten bewilligte Subvention.35 In beiden Fällen ist die Klage nur erfolgreich, wenn der Kläger durch die Maßnahme in „seinen Rechten verletzt“ wird. Das setzt – im Fall der Baunachbarklage – voraus, dass die beanstandete Baugenehmigung, (1) gegen eine objektive Rechtsnorm verstößt und (2) diese Rechtsnorm zugleich nachbarschützenden Charakter hat. Fehlt ein einfach-gesetzlicher Drittschutz, dann stellt sich die Frage, ob und inwieweit sich der Nachbar unmittelbar auf Art. 14 I GG berufen kann. Das BVerwG hatte früher die Auffassung vertreten, dass die hier relevanten bauplanungsrechtlichen Vorschriften (§§ 30 ff. BauGB) keinen Nachbarschutz vermitteln, aber ausnahmsweise dann Nachbarschutz nach Art. 14 I GG bejaht, wenn die Baugenehmigung bzw. deren Ausnutzung „die vorgegebene Grundstückssituation nachhaltig verändern und dadurch den Nachbarn schwer und unerträglich treffen.“ 36 Später hat das BVerwG diese Rechtsprechung wieder aufgegeben und unmittelbaren Nachbarschutz durch Art. 14 I GG ausdrücklich verneint, aber – gleichsam als Alternative – aus verschiedenen Tatbestandsmerkmalen der oben genannten bauplanungsrechtlichen Vorschriften das Gebot der Rück33

Vgl. IV. 4. c). So die überwiegende Meinung, vgl. etwa Schmidt-Aßmann, Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 19 IV GG (2003), Rn. 121 ff.; Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 49 ff.; Bethge (Fn. 18), S. 391 ff.; SchulzeFielitz, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 19 IV Rn. 68 ff.; großzügiger und pragmatischer Ibler (Fn. 18), S. 845 ff.; ablehnend Wahl/Schütz (Fn. 18), Rn. 59 ff.; Koch, in: Koch/Hendler, Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 5. Aufl. 2009, § 27 Rn. 40 ff. jeweils mit weiteren Nachw. 35 Vgl. dazu Scherzberg (Fn. 18), § 12 Rn. 12 ff., speziell zum Baurecht Rn. 19 und zum Subventionsrecht Rn. 21 mit weiteren Nachw. 36 BVerwGE 32, 173, 178 f.; ebenso im Blick auf Art. 2 II GG (Gesundheit) BVerwGE 54, 211, 222. 34

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sichtnahme entwickelt und ihm teilweise auch nachbarschützende Funktion zugesprochen.37 Das führt zu der Frage, ob das Rücksichtnahmegebot Richterrecht ist und ob Richterrecht zur Ausgestaltung des Eigentums im Sinne des Art. 14 I 2 GG genügt. Für das BVerwG ist diese Frage freilich nicht relevant, weil es das Rücksichtnahmegebot aus Tatbestandsmerkmalen positivrechtlicher Vorschriften folgert. Da im Subventionsrecht einschlägige gesetzliche Regelungen weitgehend fehlen, kann sich der übergangene Kläger in der Regel ohnehin nur auf die Grundrechte – Art. 12 und 2 I GG (Berufs- und Wirtschaftsfreiheit) und Art. 3 I GG (Gleichheitssatz) – berufen, was auch allgemein anerkannt ist.38 V. Schlussbemerkung Die Unterscheidung zwischen Geltung und Anwendung einer Rechtsnorm wird auch in anderen Bereichen – allerdings in sehr unterschiedlicher Weise – aktuell. Das kann hier nicht weiter verfolgt werden, soll aber doch abschließend am Beispiel der Unvereinbarkeitserklärung im Normenkontrollverfahren noch kurz gezeigt werden. Verfassungswidrige Gesetze sind – auch nach Auffassung des BVerfG – grundsätzlich nichtig und dementsprechend für nichtig zu erklären.39 Durch die Nichtigerklärung wird das verfassungswidrige Gesetz aus der Rechtsordnung beseitigt. In der Praxis wird sie indessen immer wieder problematisch, wenn und weil sie den eigentlichen Verfassungsverstoß nicht ausreichend erfasst (etwa bei Verstößen gegen den Gleichheitssatz) oder sogar das Verfassungsunrecht noch vertieft (etwa bei verfassungsrechtlichen Mängeln von Leistungsgesetzen). Das BVerfG hat daher eine Reihe von Entscheidungsalternativen entwickelt.40 Im Vordergrund steht die Unvereinbarkeitserklärung, die das verfassungswidrige Gesetz nicht für nichtig erklärt, sondern lediglich – allerdings autoritativ und verbindlich – feststellt, dass das Gesetz mit bestimmten Vorschriften des Grundgesetzes unvereinbar (= verfassungswidrig) ist.41 Sie richtet sich in erster Linie an

37 Vgl. BVerwGE 89, 69, 87; 101, 364, 373; 107, 215, 217; ferner den Überblick bei Maurer (Fn. 1), § 8 Rn. 9; eingehender Koch (Fn. 34), § 27 Rn. 1 ff.; Muckel, Öffentliches Baurecht, 2010, § 10 Rn. 1 ff. 38 BerwGE 30, 191, 197; 65, 167, 174; Ziekow, Öffentliches Wirtschaftrecht, 2. Aufl. 2010, § 6 Rn. 128 ff. 39 Vgl. bereits BVerfGE 1, 14, 36 f.; st. Rspr. vgl. etwa BVerfGE 101, 397, 409; Jörn Ipsen, Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, 1980, S. 67 ff.; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rn. 378 f. 40 Vgl. Schlaich/Korioth (Fn. 39), Rn. 395 ff.; Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rn. 120 ff.; Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. III, 6. Aufl. 2010, § 93 Rn. 46 ff.; Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2005, § 78 Rn. 32 ff. 41 Vgl. die Nachweise der vorigen Fußnote.

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den Gesetzgeber und verpflichtet ihn, die verfassungswidrige Rechtslage durch eine verfassungsgemäße Neuregelung zu ersetzen. Da die Neuregelung eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, müssen Übergangsregelungen getroffen werden. Sie erfolgen auf der Anwendungsebene. Das verfassungswidrige, aber nicht für nichtig erklärte Gesetz bleibt zwar formell bestehen, ist aber im Regelfall wegen seiner Verfassungswidrigkeit nicht mehr anwendbar. Die Behörden und die Gerichte dürfen es nicht vollziehen und müssen laufende Verfahren bis zur Neuregelung aussetzen. Die Rechtslage wird dadurch in der Schwebe gehalten. Die Anwendungssperre greift jedoch nicht mehr, wenn und soweit die bisherigen, von der Verfassungswidrigkeit infizierten Regelungen aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes bis zur Neuregelung – ganz oder teilweise – aufrecht erhalten bleiben sollten. Das BVerfG verbindet daher seine Unvereinbarkeitserklärung meistens mit entsprechenden Hinweisen und Anordnungen. Entgegen der in der Literatur gelegentlich verwendeten Terminologie handelt es sich dabei allerdings genau genommen nicht um eine „Weitergeltungsanordnung“, sondern um eine Anwendungsfreigabe, wie das Pendant zur Anwendungssperre zeigt.

Der Wandel der Grund- und Menschenrechte* Von Angelika Nußberger I. Koordinaten des Wandels „Ihr habt eine Erklärung gewollt für alle Menschen, für alle Nationen. Das ist die Verpflichtung, die ihr im Angesichte ganz Europas übernommen habt. (. . .) man darf hier nicht davor zurückschrecken, Wahrheiten für alle Zeiten und für alle Länder auszusprechen.“

So argumentierte der Abgeordnete Duport bei der Ausarbeitung der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im August 1789.1 Damals hatte man die „égalité“, die Gleichheit aller vor dem Gesetz, festgeschrieben. Man hatte von der „liberté“, der Freiheit, gesprochen ebenso wie von der „fraternité“, der Brüderlichkeit. Die von Friedrich dem Großen auf die berühmte Formel, jeder solle nach seiner Façon selig werden, gebrachte Forderung stand im Raum. Wie Klaus Stern in seiner wegweisenden Abhandlung zur „Idee der Menschen- und Grundrechte“ ausgeführt hat, wurden in der Zeit zum Ausgang des 18. Jahrhunderts die „gedanklichen Vorarbeiten von Jahrhunderten“ vollendet.2 Als „Kern aller Argumentationslinien“ kristallisierte sich heraus, „dass Menschenrechte dem Menschen kraft seiner Existenz, kraft seines Menschseins, zustehen und in seiner einmaligen Wesenheit unter allen Lebeweisen und in seiner unverwechselbaren Würde gründen.“ 3 Und doch – hatte man in der Zeit der Aufklärung an die Rechte der Transsexuellen gedacht? An die Rechte der nicht-ehelichen Väter, die ein Umgangsrecht mit ihren Kindern beanspruchen? An diejenigen, die sich durch das Inzestverbot in ihrer Persönlichkeitsentwicklung bedroht sehen? Oder an verurteilte Kriminelle, die geprügelt oder misshandelt werden? – Sicherlich nicht. Der Rahmen der Freiheit und Gleichheit wurde seither – und mit einem accelerando in den letzten Jahren des 20. und den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts – immer wieder neu vermessen, das gesellschaftlich Zulässige und das Unzulässige immer wieder neu abgegrenzt. Aus Wünschbarem wurden subjektive Rechte geformt * Der Aufsatz spiegelt ausschließlich die persönliche Ansicht der Verfasserin wider. 1 Zitiert nach Horst Dreier, Gilt das Grundgesetz ewig? Fünf Kapitel zum modernen Verfassungsstaat, München 2009, S. 7. 2 Klaus Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Heidelberg 2004, S. 10. 3 Ebd., S. 6.

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und ihre Durchsetzung eingefordert. Basierend auf einem zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt fixierten Konsens ist eine fortdauernde Neuordnung der Werte zu beobachten. Grundrechte sind im Wandel begriffen, ihr Potenzial zur Weiterentwicklung ist nicht nur offen, sondern scheint unbegrenzt zu sein. Beschränkungen und Begrenzungen werden immer neu mit Blick auf ihre ratio in Frage gestellt. Das national Tradierte hat nur schwer Bestand, da der vergleichende Blick über die Grenzen traditionelle Sichtweisen aufbricht und die Systeme in Bewegung bringt. Dem Pathos der Französischen Revolution, mit dem man von unwandelbaren und für alle Zeiten gültigen Grund- und Menschenrechten ausging, steht so mit dem Grundrechtsverständnis des 21. Jahrhunderts die Erkenntnis kontingenter Wahrheiten gegenüber. Aus der gleichen Zeit wie die Forderung nach Gleichheit und Freiheit stammt die Erkenntnis, dass Rechtssysteme notwendig vielgestaltig sind und dass die Rechtsregeln, die für ein Volk passen, nicht auf ein anderes Volk anwendbar sind. So argumentiert Montesquieu in seiner Abhandlung „Vom Geist der Gesetze“, die menschlichen Gesetze seien von einer Vielzahl von Faktoren bestimmt, beispielsweise vom Klima4 oder von den „Prinzipien, die den Gemeingeist, die Sitten und den Lebensstil einer Nation formen.“5 In das damit vorgezeichnete Koordinatensystem ist der Wandel der Grundrechte einzustellen: Auch wenn Axiom ist, dass bestimmte Rechte und Werte für alle Zeiten unveränderbar sind, so werden doch die Grund- und Menschenrechte in ihrer Gesamtheit als dynamisch, nicht als statisch angesehen. Zudem schließt der universalistische Ansatz nicht aus, dass grundlegende Wertvorstellungen in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich sein können. Die Frage, was absolut und was relativ ist, steht so im Mittelpunkt der Diskussion um die Wandelbarkeit der Grundrechte, eine Frage, die mit der Legitimität einer grenzübergreifenden Menschenrechtspolitik auf das engste verbunden ist. II. Universelle Standards in vielfacher Brechung 1. Minima und Maxima

Der internationale Menschenrechtsschutz gibt, nachdem er lange im Windschatten der nationalen Schutzsysteme stand, das Tempo bei der Entwicklung in4 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 14. Buch, 1. Kapitel, zitiert nach der Reclamausgabe Stuttgart 1965, S. 261: „Wenn wirklich die Geisteshaltung und die Leidenschaften des Herzens unter andersartigem Klima äußerst unterschiedlich sind, müssen die Gesetze sowohl dem Unterschied dieser Haltungen entsprechen.“ 5 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 19. Buch, zitiert nach der Reclamausgabe Stuttgart 1965, S. 293.

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novativer Ansätze vor.6 Nachdem die Vorstellung einer metaphysischen oder religiösen Rückbindung von Wertsetzungen in einer immer vielgestaltigeren Welt nicht mehr aufrechtzuerhalten war,7 bot sich mit der „Universalität“ oder „Internationalität“ ein neues, grundsätzlich als überzeugend akzeptiertes Begründungsmuster. Was nicht nur von Einzelnen, sondern allgemein und übergreifend für richtig gehalten wird und sogar den Anspruch der „Universalität“ erheben kann, kann eine Orientierung vorgeben. Prämisse dieses Ansatzes aber war ursprünglich, dass sich auf diese Weise die Minima des Menschenrechtsschutzes, eben das Allgemeingültige – die „unveräußerlichen Rechte“ – festhalten ließen. Dieser Gedanke findet sich auch in allen positivrechtlichen Menschenrechtsnormierungen wieder, so beispielsweise in Art. 53 EMRK: „Diese Konvention ist nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden.“

Dies bedeutet, dass die Festlegung höherer nationaler oder internationaler Standards immer zulässig ist. So überzeugend es sein mag, Minima eines Menschenrechtsschutzes länderübergreifend zu bestimmen und die Einhaltung als verbindlichen Mindeststandard zu fordern, so schwierig hat es sich erwiesen, im Einzelnen zu bestimmen, was unter „Mindeststandards“ zu verstehen sei. Besonders problematisch ist dies dann, wenn nicht der Einzelne gegen den Staat steht, sondern es um den Ausgleich eines konkurrierenden Grundrechtsschutzes geht. Berühmt ist etwa der Konflikt zwischen dem von Art. 8 EMRK geschützten Recht der Privatsphäre und dem von Art. 10 EMRK geschützten Recht auf Pressefreiheit, ein Konflikt, der in den divergierenden Entscheidungen einerseits des Bundesverfassungsgerichts8 und andererseits des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte9 paradigmatisch zum Ausdruck kommt. Hier wäre es unangebracht, von einem „höheren“ Schutzstandard der Konvention im Vergleich zum Grundgesetz zu sprechen. Vielmehr geht es um unterschiedliche Gewichtungen der in Frage stehenden Rechtspositionen. 6 Vgl. Klaus Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Heidelberg 2004, S. 19, zur Wechselbezüglichkeit insbesondere S. 29. 7 Vgl. dazu Klaus Dicke, Politische und sozialphilosophische Vorbedingungen der Erfolgsgeschichte der EMRK, in: Constanze Grewe/Christoph Gusy (Hrsg.), Menschenrechte in der Bewährung. Die Rezeption der Europäischen Menschenrechtskonvention in Frankreich und Deutschland im Vergleich, Baden-Baden 2005, S. 19 ff., insbesondere S. 29 ff. 8 BVerfG, Urt. vom 15.12.1999, AZ: 1 BvR 653/96, BVerfGE 101, 361. 9 EGMR, Urt. vom 24.06.2004, Von Hannover ./. Deutschland, Nr. 59320/00, Reports 2004-VI.

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Aber auch ganz grundsätzlich ist es schwierig, einen universellen Mindeststandard zu bestimmen, denn das, was als Mindeststandard angenommen wird, variiert je nach historischem Kontext. Vergleichbar ist dies mit der Bestimmung eines „Existenzminimums“. Dafür lässt sich ein Warenkorb mit Produkten und Dienstleistungen zusammenstellen, deren Fehlen die physische Existenz gefährden würden. In einer Wohlstandsgesellschaft ließe sich aber auch argumentieren, das Existenzminimum sei gefährdet, wenn gewisse Voraussetzungen für die Integrationsmöglichkeit, etwa ein Fernsehgerät oder ein Internetzugang, fehlten. Die Minima sind immer im Verhältnis zum gesamtgesellschaftlichen Standard zu sehen. Die Europäische Menschenrechtskonvention stammt, wie die Mehrzahl der völkerrechtlichen Verträge im Bereich der Menschenrechte, aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die entscheidende Frage bei der Bestimmung der in ihr niedergelegten Mindeststandards ist das Bezugssystem: mit dem Blick zurück wären dies die den totalitären Systemen unterworfenen europäischen Gesellschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts;10 mit dem Blick nach vorne wären es die europäischen Gesellschaften zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit all ihren technischen Möglichkeiten, die von der Reproduktionsmedizin bis zur Datenspeicherung nicht nur neue Gefährdungslagen, sondern auch neue Optionen geschaffen haben. Die grundlegende Auseinandersetzung um diese Frage wurde in der Entscheidung Marckx im Jahr 1978 geführt. Mit dieser Entscheidung wurden auch definitiv die Weichen gestellt. In dem Sondervotum des britischen Richters Sir Gerald Fitzmaurice wird der Mindeststandard mit Blick zurück beschrieben: „It is abundantly clear (at least it is to me) – and the nature of the whole background against which the idea of the European Convention on Human Rights was conceived bears out this view – that the main, if not indeed the sole object and intended sphere of application of Article 8 (art. 8), was that of what I will call the ,domiciliary protection‘ of the individual. He and his family were no longer to be subjected to the four o’clock in the morning rat-a-tat on the door; to domestic intrusions, searches and questionings . . .“11

Ihm gegenüber setzt sich die Mehrheit durch, die die Konvention als „lebendiges Instrument“ versteht, das sich, will es nicht statisch und damit wirkungslos sein, neuen sozialen Gegebenheiten anpassen müsse.12 Aus dieser Perspektive ist die Bestimmung des Schutzniveaus mit Blick auf die Zukunft zu fordern. 10 Deutlich ist dieses Bezugssystem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in der in der Präambel auf die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte, die zu Akten der Barbarei geführt habe, verwiesen wird. 11 EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, abweichende Meinung des Richters Sir Gerald Fitzmaurice, Rn. 7, Series A Nr. 31. 12 EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, Rn. 41, Series A Nr. 31.

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Etwas mehr als 30 Jahre später wiederholt sich diese Debatte und mutiert zum Angriff gegen den „judicial activism“ der internationalen Richter und zur Verteidigung der Souveränität nationaler Parlamente, denen nicht mit Verweis auf die Menschenrechte die Entscheidungshoheit in zentralen gesellschaftlichen Fragen entzogen werden dürfe. In einer mit dem Titel „Bringing Rights Back Home“ überschriebenen Streitschrift argumentiert Michael Pinto-Duschinsky, der Straßburger Gerichtshof habe die in der Konvention niedergelegten grundlegenden Rechte über alle vernünftigen Grenzen hinaus ausgedehnt und damit letztlich trivialisiert und diskreditiert.13 Angemahnt wird eine Rückbesinnung auf die eigentliche – auf die Abwehr von diktatorischen Übergriffen – begrenzte Wirkung der Grund- und Menschenrechte nach ihrer ursprünglichen historischen Bestimmung. Auch Klaus Stern sieht die Gefahr einer „Inflationierung“ der Menschenrechte, die für die Kernaussagen der Menschenrechte „schädlich sei und gestoppt werden“ müsse. So führt es aus: „Zwar ist es richtig, dass geschichtlich Menschenrechte im Grundsatz auf ,Unrechtserfahrungen‘ reagieren, aber nicht jede Ungerechtigkeit kann mit der Verankerung eines Menschenrechts beantwortet werden. Es kann nur um die Sicherung fundamentaler Rechtsgüter und -werte gehen, wie Leben und Gesundheit, Würde, individuelle und politische Freiheit, persönliche Sicherheit, Verbot von Diskriminierung aus Gründen von Rasse, Geschlecht und Weltanschauung sowie Sicherung der menschlichen Grundbedürfnisse.“14

Fraglos sind Grenzziehungen notwendig. Allerdings – wie? 2. Restriktive und proaktive Auslegung

Die in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Formulierungen der grundlegenden Menschenrechtsgarantien sind offen und erlauben ebenso eine restriktive wie eine proaktive Auslegung. Wird „unmenschliche Behandlung“ verboten, so lässt sich dies auf bewusstes Quälen beschränken oder auf nachlässige Pflege von Menschen, die sich nicht selbst versorgen können, ausdehnen.15 Wird die Religionsfreiheit geschützt, so kann man darüber nachdenken, ob dieses Grundrecht bereits mit zu organisatorischen Zwecken notwendigen Angaben auf Lohnsteuerkarten verletzt wird.16 All dies spiegelt zum einen eine unterschiedliche – enge oder weite – Auslegung bestimmter Rechtsbegriffe, 13 Michael Pinto-Duschinsky, Bringing Rights Back Home. Making human rights compatible with parliamentary democracy in the UK, London 2011, Aufsatz erhältlich unter: http://www.policyexchange.org.uk/publications/publication.cgi?id=225 (letzter Aufruf 28.02.2011), S. 30. 14 Klaus Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Heidelberg 2004, S. 46. 15 Vgl. EGMR, Urt. vom 29.06.2010, Stanev ./. Bulgarien, Nr. 36760/06; das Verfahren ist gegenwärtig vor der Großen Kammer anhängig. 16 EGMR, Entsch. vom 17.02.2011, Wasmuth ./. Deutschland, Nr. 12884/03.

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zum anderen aber auch eine unterschiedliche Auffassung von der Rolle der Grundrechte selbst. Dreh- und Angelpunkt bei der Frage, wie weit das Gestaltungspotential der Menschenrechtskonvention erschlossen wird, ist die Auslegung der Schranken und Rechtfertigungsmöglichkeiten. Zentral ist der Begriff „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“. Auf der einen Seite der Skala lässt sich „notwendig“ als vertretbar, rechtfertigbar, begründbar übersetzen, auf der anderen Seite aber als unvermeidbar, essentiell. Dies bedeutet, dass entweder bereits Einschränkungen, die von einem demokratischen Gesetzgeber – willkürfrei – bestimmt werden, akzeptiert werden oder aber, dass zwingende Begründungen verlangt werden und bereits dann, wenn auch eine andere, die Grund- und Menschenrechte weniger einschränkende Gestaltung vorstellbar wäre, eine Menschenrechtsverletzung bejaht wird.17 Die Konflikte bei der Implementierung der Menschenrechtskonvention zeigen hier die unterschiedlichen nationalen Empfindlichkeiten. Im Vereinigten Königreich entzündet sich der Streit beispielsweise an der Auslegung von Art. 3 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK, wonach die Vertragsparteien verpflichtet sind, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten. In dem Urteil Hirst v. Vereinigtes Königreich hat die Große Kammer des Gerichtshofs diese Bestimmung dahingehend ausgelegt, dass ein Wahlrecht, das Strafgefangene von der Wahl allgemein ausschließt, nicht den menschenrechtlichen Mindeststandards genüge.18 Ein derartiger Ausschluss ist zwar nicht willkürlich, sondern sachlich begründbar. Legt man aber einen sehr strikten Maßstab an die Begründungspflicht an, ist auch eine weniger einschränkende Ausgestaltung des Wahlrechts, die nicht einen generellen Entzug des Wahlrechts vorsieht, denkbar. Je nachdem, wie man das Verhältnis von gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit und menschenrechtlicher Korrektur- und Eingriffsmöglichkeit versteht, kann man daher zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.19 Das Urteil des Gerichtshofs ist mit zwölf zu fünf Stimmen ergangen, vom britischen Parlament aber in einer Abstimmung mit 228 zu 20 Stimmen deutlich zurückgewiesen worden.20 Streitpunkt ist, ob der Gerichtshof die Konvention zu einem Instrument machen dürfe, mit dem in den jeweiligen – variablen – nationalen gesellschaftlichen Grundkonsens eingegriffen 17 Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, München 2009, 1. § 5 Rn. 12 ff. (14), S. 34, 35. 18 EGMR, Urt. vom 06.10.2005 (GK), Hirst ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 2), Nr. 74025/01, Reports 2005-IX. 19 Vgl. auch die Sondervoten zu dem Urteil des EGMR vom 06.10.2005 (GK), Hirst ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 2), Nr. 74025/01, Reports 2005-IX. 20 Hansard Commons Debates 10 February 2011, Vol. 523 Part 116 Cols. 493–586, 584 ff.

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wird. Im Vorwort zu der erwähnten Studie von Michael Pinto-Duschinsky bringt Lord Hoffmann die Kritik auf den Punkt, indem er dem Gerichtshof vorwirft, er habe sich selbst die außerordentliche Macht verschafft, die Rechtssysteme der Mitgliedsstaaten des Europarats im Detail zu bestimmen („has taken upon itself the extraordinary power to micromanage the legal systems of the member states of the Council of Europe“).21 Ähnlich grundlegende Kritik kommt aus Russland. Auslöser ist hier das Urteil Markin v. Russland, in der es um die Ungleichbehandlung von in der Armee dienenden Männern und Frauen bei der Gewährung von Erziehungsurlaub geht.22 Bei diesem Konflikt macht der Vorsitzende des Russischen Verfassungsgerichts in der Diskussion unter anderem geltend, in Russland weiche das Verständnis von der Rolle der Frau in der Familie von der Vorstellung in anderen europäischen Staaten ab.23 Beides – das Wahlrecht ebenso wie die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau und ihre jeweilige gesellschaftliche Stellung – sind Beispiele für Regelungskomplexe, deren Entwicklung von der jeweiligen nationalen Geschichte beeinflusst wird und die im Sinne von Montesquieu von Gemeingeist, Sitten und Lebensstil einer Nation geformt werden. Zudem zeigt sich bei beidem der Wandel des gesellschaftlichen Grundverständnisses. Verwiesen sei nur auf den langjährigen Ausschluss des Frauenwahlrechts, dessen Wertung in unterschiedlichen Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten von „Selbstverständlichkeit“ zu „Skandal“ changierte. 3. Nationale Rechtssysteme als variable Bezugssysteme

Geht man davon aus, dass sich Grund- und Menschenrechte dynamisch fortentwickeln, so stellt sich die Frage, wie ein sich wandelndes Verständnis nachweisbar ist. Auf europäischer Ebene ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dazu aufgerufen, in immer neuen Fallkonstellationen mit Blick auf potentielle Konventionsverletzungen zu prüfen, ob ein bestimmtes Grundrechtsverständnis fortbesteht oder sich eine neue Anschauung herausgebildet hat. Wesentlich für die Analyse des grundrechtlichen status quo sind rechtsvergleichende

21 Leonard Hoffmann, Foreword, in: Michael Pinto-Duschinsky, Bringing Rights Back Home. Making human rights compatible with parliamentary democracy in the UK, London 2011, http://www.policyexchange.org.uk/publications/publication.cgi?id= 225 (letzter Aufruf 28.02.2011). 22 EGMR, Urt. vom 07.10.2010, Markin ./. Russland, Nr. 30078/06. 23 Valerij Zor’kin, Predel’ Ustupc ˇ ivosti (Ende der Nachgiebigkeit), Rossijskaja Gazeta vom 29.10.2010, http://www.rg.ru/2010/10/29/zorkin.html (letzter Abruf 01.03. 2011); vgl. auch das Sondervotum des Richters Kovler zum Urteil des EGMR vom 07.10.2010, Markin ./. Russland, Nr. 30078/06, der in diesem Punkt die Argumentation des Russischen Verfassungsgerichts für vertretbar hält.

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Untersuchungen mit Blick auf eine „normative Konsensbildung“. Wird eine Rechtsfrage in einer Mehrzahl von dem Europarat unterworfenen Rechtssystemen in ähnlicher Weise beantwortet, so kann dies ein Indiz dessen sein, was als grundrechtlich geboten angesehen wird. Dies bringt der Gerichtshof selbst explizit zum Ausdruck: „The existence of a consensus has long played a role in the development and evolution of Convention protections beginning with Tyrer v. the United Kingdom (. . .), the Convention being considered a ,living instrument‘ to be interpreted in the light of present-day conditions. Consensus has therefore been invoked to justify a dynamic interpretation of the Convention (. . .).“24

Der margin of appreciation wird damit zu einer Variable der Konvergenz der Rechtsordnungen: Je unterschiedlicher die Regelungen in den verschiedenen Rechtsordnungen zu einem Problem sind, desto größer ist der Beurteilungsspielraum des nationalen Gesetzgebers. Umgekehrt gilt, dass dann, wenn die Regelungen in der Mehrheit der Staaten übereinstimmen, von einem eher engen margin of appreciation auszugehen ist. Dieser Ansatz beruht letztlich auf der Wiener Vertragsrechtskonvention. Nach Art. 31 Abs. 3b WVK lässt sich eine Konvergenz der Rechtssysteme bei einer bestimmten Frage als „spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht“ deuten. Allerdings ist fraglich, welcher Stellenwert dieser „späteren Übung“ zuerkannt wird und welche Schlussfolgerungen aus diesem Ansatz bei der Beurteilung potentieller Konventionsverstöße gezogen werden. Im Folgenden soll am Beispiel von aus verschiedenen Zeiten – 1979, 1998 und 2010 – stammenden Entscheidungen des Gerichtshofs zu ethisch und moralisch kontroversen Fragen im Umfeld von Art. 8 EMRK aufgezeigt werden, wie der Gerichtshof den Wandel der Grund- und Menschenrechte zum Gegenstand seiner Argumentation macht, wie er einen „normativen Konsens“ ermittelt und welchen Stellenwert er diesem bei der Interpretation der Konvention zuerkennt. III. Innovation und ihre Schranken 1. Marckx v. Belgien – Mehrheitsvotum für den Wandel

Der Schutz der Familie ist ein zentrales Thema des verfassungsrechtlichen wie auch des internationalen Menschenrechtsschutzes.25 Das klassische Konzept, wonach die Familie die „natürliche Kernzelle der Gesellschaft“ ist und „Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat“ hat, kann aber eine sehr unterschiedli-

24

EGMR, Urt. vom 16.12.2010 (GK), A, B und C ./. Irland, Nr. 25579/05, Rd. 234. Vgl. neben Art. 6 GG und Art. 8 und 12 EMRK z. B. Art. 17, 23 IPBPR und Art. 10 IWSKR. 25

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che Bedeutung und Wirkung haben je nachdem, wie weit der Begriff „Familie“ verstanden wird. Der Gerichtshof gesteht in der grundlegenden Entscheidung Marckx v. Belgien ein, dass zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der Konvention Orientierungspunkt die „de-iure-Familie“ als Gemeinschaft zwischen einem verheirateten Paar und gemeinsamen Kindern war und daher eine „legitime“ von einer „illegitimen“ Familie abgegrenzt wurde: „It is true that, at the time when the Convention of 4 November 1950 was drafted, it was regarded as permissible and normal in many European countries to draw a distinction in this area between the ,illegitimate‘ and the ,legitimate‘ family.“26

Weiter führt der Gerichtshof aus, dass entsprechende Trennlinien über viele Jahre hin in einer großen Zahl der Vertragsstaaten gezogen worden seien; die Entwicklung zur Gleichbehandlung sei langsam und die Bezugnahme auf die Konvention erst zu einem späten Zeitpunkt in Erwägung gezogen worden.27 Daher überrascht es auch nicht, dass die Europäische Menschenrechtskommission in den 60er Jahren Beschwerden gegen Regelungen, die nicht-eheliche Kinder etwa im Bereich des Erbrechts benachteiligten, ohne weitere Prüfung verwarf.28 In dem Urteil Marckx bricht der Gerichtshof nun aber mit diesem Ansatz und interpretiert den Begriff „Familie“ weit; erfasst sieht er all diejenigen, die de facto in einer Familiengemeinschaft zusammenleben.29 Damit verändert sich der Schutzbereich von Art. 8 der Konvention insbesondere im Zusammenspiel mit Art. 14 EMRK grundlegend, da Ungleichbehandlungen zwischen „klassischen Familien“ und anderen familienrechtlichen Formationen wie der Beziehung zwischen Mutter und nicht-ehelichem Kind damit grundsätzlich konventionsrechtlich verboten sind. Bei dieser neuen – erweiternden – Interpretation wendet der Gerichtshof Interpretationsstrategien an, die über das klassische Muster, das sich für völkerrechtliche Verträge nach Art. 31 WVK bestimmt, in gewisser Weise hinausgehen.30 26

EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, Rd. 48. EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, Rd. 58; auch für das Grundgesetz ist davon auszugehen, dass der Verfassungsgeber die „bürgerliche Kleinfamilie“ als „umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern“ vor Augen gehabt habe; vgl. Arnulf Schmitt-Kammler/Christian von Coelln, in: Sachs, Grundgesetz. Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 6 Rd. 15. 28 Vgl. die von der Kommission de plano abgewiesenen Beschwerden vom 22.12. 1967, auf die der Gerichtshof selbst in seinem Urteil Marckx verweist. 29 Vgl. Thilo Marauhn/Konstantin Meljnik, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG. Konkordanzkommentar, Tübingen 2006, Kapitel 16, Rd. 38; zum Familienbegriff vgl. auch Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl., München 2009 § 22, Rn. 16; Michaela Wittinger, Familien und Frauen im regionalen Menschenrechtsschutz, Baden-Baden 1999, S. 33 ff. 30 Nach Art. 31 WVK ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden 27

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Zwar rekurriert er in dem Urteil Marckx zunächst – und insofern ist es ein klassischer Ansatz – auf den Wortlaut von Artikel 8 EMRK. Danach sieht er als entscheidend an, dass kein expliziter Unterschied zwischen einer „legitimen“ und einer „illegitimen“ Familie gemacht werde. Außerdem stellt er auf das Wort „everyone“ ab. Habe „jede Person“ das Recht auf Achtung ihres Familienlebens, könnten insofern keine Unterschiede gemacht werden, zumal Artikel 14 den Rückgriff auf die „Geburt“ als diskriminierend brandmarke.31 Zu einem anderen Ergebnis hätte der Gerichtshof hier kommen können, hätte er Art. 8 EMRK im Zusammenhang mit Art. 12 EMRK interpretiert, wonach „Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter . . . das Recht [haben], eine „Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen“, denn dies hätte man als Ausdruck des klassischen Familienkonzepts lesen können, bei dem die Eheschließung der Familiengründung vorausgeht. Wichtig ist aber weniger, ob der Gerichtshof den Begriff „Familie“ eng oder weit auslegt und wie er diese Auslegung am Wortlaut der Konvention festmacht. Relevant ist vielmehr die Tatsache, dass der Gerichtshof sich explizit dazu bekennt, die Konvention mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel zu interpretieren. Zur Begründung verweist er auf sein eigenes – erst wenige Monate zuvor geschaffenes – case law, konkret auf das Urteil Tyrer v. Vereinigtes Königreich, in dem er die Konvention zum ersten Mal als „lebendiges Instrument“ bezeichnet hatte. In dieser Entscheidung war es um eine Prügelstrafe als „erniedrigende Bestrafung“ und damit um die Auslegung eines anderen Rechtsbegriffs der Konvention gegangen. Die Annahme, die Konvention sei „lebendig“, wird aber als allgemeine Charakterbestimmung der Konvention angesehen und zum Programm erhoben. Damit aber stellt sich die entscheidende Frage, wie der Wandel, den das „lebendige Instrument“ abbildet, zu bestimmen sei. Die Argumentation des Gerichtshofs baut hierzu im Wesentlichen auf drei Säulen auf: auf dem Ergebnis einer rechtsvergleichenden Analyse, auf dem Verweis zu Entwicklungen im Völkervertragsrecht und auf Stellungnahmen des Ministerkomitees des Europarats und damit internationalem soft law. Die entscheidende Passage des Urteils lautet: „It is true that, at the time when the Convention of 4 November 1950 was drafted, it was regarded as permissible and normal in many European countries to draw a distinction in this area between the ,illegitimate‘ and the ,legitimate‘ family. However, the Court recalls that this Convention must be interpreted in the light of present-day Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Der Rückgriff auf die „vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses“ – die eigentliche historische Auslegung, die auf die ursprünglichen Intentionen der vertragsschließenden Parteien zurückgreift – ist nur als ergänzendes Auslegungsmittel heranzuziehen (vgl. dazu Mark Villiger, Commentary on the Vienna Convention on the Law of Treaties, Leiden, Boston 2009, S. 42). 31 EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, Rd. 29.

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conditions (Tyrer judgment of 25 April 1978, Series A no. 26, p. 15, para. 31). In the instant case, the Court cannot but be struck by the fact that the domestic law of the great majority of the member States of the Council of Europe has evolved and is continuing to evolve, in company with the relevant international instruments, towards full juridical recognition of the maxim ,mater semper certa est‘.“ 32

Interessant ist nun, wie der Gerichtshof im Einzelnen den Nachweis zu den Änderungen, die eine neue Interpretation rechtfertigen, führt. Die Rechtsentwicklung in den Vertragsstaaten des Europarats wird nicht im Einzelnen nachgewiesen; der Gerichtshof lässt den allgemeinen Verweis, der auch ein prognostisches Element enthält, insofern ausreichen. Genauer befasst er sich mit der völkerrechtlichen Situation. Als relevant erachtet er die Brüssler Konvention vom 12.9.1962 „On the Establishment of Maternal Affiliation of Natural Children“, die am 23.4.1964 in Kraft trat, sowie die Konvention vom 15.10.1975 „On the Legal Status of Children born out of Wedlock“, die im Rahmen des Europarats ausgearbeitet wurde und am 11.8.1978 und damit unmittelbar vor der Entscheidung im Fall Marckx in Kraft trat. Allerdings waren an beide Konventionen zum Zeitpunkt der Entscheidung nur vier Staaten und damit ein Fünftel der Vertragsstaaten der Konvention gebunden. Belgien, gegen das die Beschwerde im Verfahren Marckx gerichtet ist, hatte die erste Konvention unterzeichnet, aber nicht ratifiziert, die zweite Konvention noch nicht einmal unterzeichnet. Trotz der geringen Ratifikationsdichte erkennt der Gerichtshof einen Konsens mit Blick auf die evolutive Entwicklung des Familienrechts in diesem Bereich. So führt er aus: „However, this state of affairs cannot be relied on in opposition to the evolution noted above. Both the relevant Conventions are in force and there is no reason to attribute the currently small number of Contracting States to a refusal to admit equality between ,illegitimate‘ and ,legitimate‘ children on the point under consideration. In fact, the existence of these two treaties denotes that there is a clear measure of common ground in this area amongst modern societies.“ 33

Schließlich weist der Gerichtshof noch auf die Resolution des Ministerkomitees von 1970 „On the social protection of unmarried mothers and their children“ hin,34 die den Vertragsstaaten eine Reihe von Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen für Mütter nicht-ehelicher Kinder empfiehlt. Eine Gleichbehandlung mit verheirateten Paaren mit Kindern wird aber nicht gefordert. Dies bedeutet, dass an den Nachweis zum Rechtswandel, als dessen Spiegel die Konvention verstanden wird, keine sehr hohen Ansprüche gestellt werden. 32

EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, Rd. 41. EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, Rd. 41. 34 Resolution (70) 15 of 15 May 1970 on the social protection of unmarried mothers and their children, https://wcd.coe.int/wcd/com.instranet.InstraServlet?command=com. instranet.CmdBlobGet&InstranetImage=586354&SecMode=1&DocId=638758&Usage= 2 (letzter Abruf 01.03.2011). 33

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Dem strikten Maßstab bei der Bestimmung einer „späteren Übung“ im Sinne von Art. 31 Abs. 3b WVK oder auch dem von Art. 31 Abs. 3c WVK geforderten Verweis auf einen „zwischen den Vertragsparteien anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssatz“ würde es wohl nicht genügen.35 Ausgehend von einem gewandelten Familienverständnis argumentiert der Gerichtshof, dass das belgische Recht gegen Art. 8 und Art. 14 EMRK verstoße. Belgien verweist zur Begründung seiner Gegenposition auf die gesellschaftlichen Moralvorstellungen,36 die nach dem Wortlaut von Art. 8 EMRK zur Einschränkung auch des Familienlebens berechtigten. Der Gerichtshof weist diese Argumentation aber entschieden zurück: „The Court recognises that support and encouragement of the traditional family is in itself legitimate or even praiseworthy. However, in the achievement of this end recourse must not be had to measures whose object or result is, as in the present case, to prejudice the ,illegitimate‘ family; the members of the ,illegitimate‘ family enjoy the guarantees of Article 8 (art. 8) on an equal footing with the members of the traditional family.“ 37

Das telos, das der Gerichtshof mit seinem Urteil verfolgt, ist durchaus sozialpolitischer Natur. Explizit verweist der Gerichtshof darauf, es gelte zu ermöglichen, dass sich das Familienleben einer unverheirateten Mutter mit ihrem Kind normal entwickeln könne.38 Grundrechtsschutz findet, insbesondere wenn es nicht nur um die Abwehr staatlicher Eingriffe geht, immer in einem feinmaschigen Netz von Rechten und Pflichten statt; Einzelinteressen Betroffener können sich unter Umständen konträr gegenüberstehen. Dies hat der Gerichtshof bei der Auslegung der Konvention zu berücksichtigen. Beim Urteil zum Fall Marckx klingt diese Überlegung auch an, da es etwa im Bereich des Erbrechts nicht von der Hand zu weisen ist, dass die Zuerkennung von Rechten an nicht-eheliche Kinder eine Schmälerung der Rechte der ehelichen Kinder mit sich bringen kann. Der Gerichtshof sieht dies aber dennoch nicht als Grund, um die Schlechterstellung der nicht-ehelichen Kinder zu akzeptieren: „Admittedly, the ,tranquillity‘ of ,legitimate‘ families may sometimes be disturbed if an ,illegitimate‘ child is included, in the eyes of the law, in his mother’s family on the same footing as a child born in wedlock, but this is not a motive that justifies depriving the former child of fundamental rights.“ 39 35 Vgl. Mark Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, Leiden, Boston 2009, weist explizit darauf hin, dass nicht-bindende Regeln des Völkerrechts insoweit nicht relevant seien. 36 Wörtlich: „objective and reasonable grounds relating to morals and public order (ordre public)“; EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, Rd. 40. 37 EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, Rd. 40. 38 EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, Rd. 34. 39 EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, Rd. 48.

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Wo genau die Grenzen zu ziehen sind, führt der Gerichtshof nicht aus. Eine weitere Vertiefung dieser Problematik ist in der Entscheidung aber auch nicht angezeigt, da die Antragstellerin keine weiteren Kinder hat und eine Benachteiligung von Halbgeschwistern daher ausgeschlossen ist. In späteren Entscheidungen – etwa in dem Urteil Anayo v. Deutschland40 – ist der Ausgleich zwischen verschiedenen Rechtspositionen wesentlich problematischer. Beispielsweise bedeutet die verfahrensrechtliche Absicherung eines Umgangsrechts des nicht-ehelichen Vaters mit seinem in eine bestehende Familie hineingeborenen Kind zumindest potentiell einen direkten oder indirekten Eingriff in die Rechte aller anderen Familienangehörigen. In der Rückschau wird man zweifellos sagen können, dass die Entscheidung Marckx v. Belgien ganz überwiegend positiv aufgenommen worden ist und dass sie den Erfolg des europäischen Menschenrechtsschutzsystems auf der Grundlage der Konvention als eines „lebendigen“ Instruments entscheidend mitbegründet hat. Sie hat den „Nerv der Zeit“ getroffen und war Zeichen des Fortschritts, indem sie ermöglichte, ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen aufzudecken und zu sanktionieren. In den nachfolgenden Urteilen, die das europäische Schutzsystem weiterentwickeln, sind in der Regel dieselben Argumentationsmuster zu erkennen. Nicht bei allen Entscheidungen aber ist es so evident, in welche Richtung eine vom gesellschaftlichen Konsens getragene Menschenrechtsrechtsprechung zu gehen hat. Insbesondere erfährt der Gerichtshof oftmals deutlichen Widerspruch aus den Staaten, denen aufgrund einer in anderen Vertragsstaaten beobachtbaren Rechtsentwicklung eine Menschenrechtsverletzung angelastet wird, insbesondere, soweit dies besonders sensible und kontroverse Themen der Gesetzgebung betrifft. Dies gilt beispielsweise für die eingangs erwähnten Urteile Hirst v. Vereinigtes Königkreich und Markin v. Russland. Die Gegenargumente gegen den vom Gerichtshof konsequent verfolgten Ansatz lassen sich bereits in den Sondervoten zu dem Urteil Marckx finden, insbesondere in dem dezidiert negativen Sondervotum des britischen Richters Sir Gerald Fitzmaurice. Er führt im Wesentlichen aus, der Schutz der Familie, der mit Blick auf Missbrauch und Gefährdungslagen in diktatorischen Systemen konzipiert worden sei, sei etwas grundsätzlich anderes als die Ausgestaltung des Familienrechts. Art. 8 der Konvention werde damit in einer Art „aufgeblasen“, die mit der eigentlichen Stoßrichtung der Bestimmung völlig unvereinbar sei. Familienrecht und Schutz des Familienlebens seien nicht dasselbe; während der Schutz des Familienlebens relativ leicht zu gewärtigen sei, sei die Ausgestaltung des Familienrechts ein sehr komplexes Unterfangen, für das Art. 8 EMRK keine Grundlage liefern könne. Damit kommt Fitzmaurice zu dem vernichtenden Urteil: 40

EGMR, Urt. vom 21.12.2010 (V. Sektion), Anayo ./. Deutschland, Nr. 20578/07.

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„In my opinion, it is quite wrong and a misuse of the Convention – virtually an abuse of the powers given to the Court in relation to it – to hold a Government, or the executives or judicial authorities of a country, guilty of a breach of the Convention merely by virtue of the existence, or application, of a law which is not itself unreasonable or manifestly unjust, and which can even be represented as desirable in certain respects.“ 41

Der dissentierende Richter greift damit nicht nur die auf einem gewandelten Familienverständnis aufbauende Argumentation der Mehrheit an, sondern wendet sich grundsätzlich gegen den Ansatz, eine bestimmte nationale gesetzliche Regelung für konventionswidrig zu erklären, obwohl es dafür von der Konvention anerkannte Rechtfertigungsgründe gibt. Dies müsse auch dann gelten, wenn die Rechtfertigungsgründe von anderen Vertragsstaaten nicht in gleicher Weise als relevant erachtet werden. Das mit der Entscheidung Marckx entwickelte Rechtsfortbildungsmuster durch den Gerichtshof stellt sich für Fitzmaurice daher als ultra vires dar. Der Argumentationsansatz der Marckx-Entscheidung basiert darauf, dass die rechtsfortbildende Auslegung eine Stärkung des menschenrechtlichen Schutzes bewirkt und damit linear einen „Fortschritt“ darstellt. In besonders sensiblen Bereichen, in denen bestimmte Regelungsmuster tradierten Konzepten entsprechen und bei Änderungen ein gesellschaftlicher Konsens nicht unbedingt gegeben ist, kann dies aber problematisch sein. Dies gilt umso mehr, wenn es um einen Ausgleich zwischen verschiedenen Rechtspositionen und damit um ein Nullsummenspiel geht, bei dem die größere Freiheit des einen eine Einschränkung der Freiheit des anderen bewirkt. Vor diesem Hintergrund kann das Urteil im Fall X, Y und Z gegen Großbritannien,42 bei dem es über die rechtliche Anerkennung der „Vaterschaft“ einer als Frau geborenen Person zu entscheiden gilt, für die Grenzen des Wandels der Grundrechte aufschlussreich sein. 2. X, Y und Z v. Großbritannien – Mehrheitsvotum gegen den Wandel

Der Antragsteller X, der als Frau geboren worden war, hatte sich nach der Pubertät einer Geschlechtsumwandlung unterworfen und in der Beziehung zu einer Frau die Rolle des Mannes übernommen. Nach der künstlichen Insemination der Partnerin begehrte X als Vater des Kindes in das Geburtsregister eingetragen zu werden. Dies wurde ihm verweigert, obwohl bei derselben Konstellation, wäre X von Geburt an ein Mann gewesen, eine entsprechende rechtliche Anerkennung der Vaterschaft möglich gewesen wäre.

41 EGMR, Urt. vom 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, abweichende Meinung des Richters Sir Gerald Fitzmaurice, Rd. 31. 42 EGMR, Urt. vom 20.3.1997 (GK), X, Y und Z ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/ 93, Reports 97-II.

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Auch in dieser Entscheidung, die nicht ganz 20 Jahre nach der Entscheidung Marckx ergeht, steht die Auseinandersetzung um den Begriff „Familie“ im Mittelpunkt. Zwar leben X, Y und Z miteinander in einer familienähnlichen Gemeinschaft. Die britische Regierung aber argumentiert, dass, da eine vollständige Geschlechtsumwandlung von X medizinisch nicht möglich gewesen sei und er daher nach innerstaatlichem Recht noch als weiblich angesehen werde, X und Y ein gleichgeschlechtliches Paar und damit keine de-facto-Familie seien, die unter Art. 8 EMRK zu schützen wäre. Der Gerichtshof widerlegt dieses Argument und führt aus, dass Art. 8 EMRK nicht auf Familien, die auf einer Ehe basieren, beschränkt sei und andere de-facto-Beziehungen gleichermaßen umfasse. Als für die Bestimmung relevante Kriterien verweist der Gerichtshof auf die Tatsache des Zusammenlebens, die Dauer der Beziehung und das nach außen erkennbare Eintreten füreinander, das unter anderem bei gemeinsamen Kindern gegeben sei.43 Dem hält der Richter Pettiti entgegen, eine Familie könne nicht nur ein „Aggregat von Personen, die unter einem Dach leben“ sein. Die ethische und soziale Dimension einer Familie dürfe nicht ignoriert oder unterschätzt werden. Außerdem moniert er, dass die zugunsten von X erfolgende Einordnung der Lebensgemeinschaft mit einem Transsexuellen als „Familie“ Y’s Tochter Z aufoktroyiert werde und plädiert für eine grundlegende Neuordnung derartiger familienähnlicher Beziehungen mit Blick auf die Interessen des Kindes: „The growing number of precarious and unstable family situations is creating new difficulties for children of first and second families, whether legitimate, natural, successive or superimposed, and will in the future call for thoughtful consideration of the identity of the family and the meaning of the family life which Article 8 (art. 8) is intended to protect, taking into account the fact that priority must be given to the interests of the child and its future.“ 44

Auch der Richter de Meyer betont in seinem Sondervotum, allenfalls könne die partnerschaftliche Beziehung zwischen X und Y, nicht aber die Beziehung zwischen dem Transsexuellen X und dem Kind Z als „Familienleben“ angesehen werden. Diese Diskussion zeigt die Vielperspektivigkeit einer umfassenden Bestimmung des Schutzbereichs des „Familienlebens“ im Sinne von Art. 8 EMRK. Deutlicher als im Fall Marckx ist erkennbar, dass der Ausgleich einer Benachteiligung mit den Rechtspositionen anderer in Konflikt treten kann. Wiederum geht es um die Frage, ob sich auf europäischer Ebene ein Konsens herausgebildet hat, auf dessen Grundlage der konventionsrechtliche Schutzgehalt von Art. 8 EMRK neu zu bestimmen wäre. Anders als in der Entscheidung 43 EGMR, Urt. vom 20.3.1997 (GK), X, Y und Z ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/ 93, Reports 97-II, Rd. 36. 44 EGMR, Urt. vom 20.3.1997 (GK), X, Y und Z ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/ 93, Reports 97-II, Rd. 36; abweichende Meinung des Richters Pettiti.

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Marckx lehnt dies die Mehrheit der Richter im Fall X, Y und Z mit Blick auf die rechtliche Zuerkennung der Vaterschaft Transsexueller bei künstlicher Insemination ihrer Partnerin aber ab. Ein entsprechender gemeinsamer Ansatz habe nicht nachgewiesen werden können. Trotz der Entwicklung entsprechender medizinischer Technologien seien die Regelungen zur Abstammung in diesen Fällen weiterhin Gegenstand einer lebhaften Debatte. Insbesondere sei strittig, ob es den Interessen des Kindes am besten entspreche, wenn der Samenspender anonym bleibe oder aber, wenn dem Kind das Recht eingeräumt werde, den Samenspender zu kennen.45 Die Ergebnisse der rechtsvergleichenden Analyse, auf der diese Schlussfolgerung des Gerichtshofs beruht, werden allerdings von den dissentierenden Richtern anders gedeutet. Ganz nach dem Muster der Marckx-Entscheidung argumentieren sie, fast die Hälfte der Europaratsstaaten ergriffe Maßnahmen („are taking steps“), um die rechtliche Stellung der Transsexuellen vollständig anzugleichen. Die rechtsvergleichende Argumentation untermauern sie mit dem Hinweis auf eine entsprechende Resolution des Europäischen Parlaments vom 12.9.1989 und eine Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 29.9. 1989. Dies zeigt, dass man bei der Feststellung eines „europäischen Konsenses“ zu einer bestimmten Sachfrage leicht zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen bei einem nicht eindeutigen Befund kommen kann, wenn man, wie in dem Urteil Marckx, die Anforderungen an den Nachweis nicht sehr hoch ansetzt. Die Feststellung einer diffusen Gesetzeslage in Europa aber ist entscheidend dafür, dass der Gerichtshof in dem Urteil X, Y und Z gegen das Vereinigte Königreich, anders als in dem Urteil Marckx, keinen Verstoß gegen die Konvention annimmt. Er bejaht einen weiten Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers und akzeptiert, dass mögliche negative Folgen einer entsprechenden Regelung auch Restriktionen rechtfertigen. Als problematisch sieht der Gerichtshof insbesondere nicht vorhersehbare Auswirkungen auf die Rechtsposition des Kindes Z und Inkonsistenzen im Familienrecht an, wenn Transsexuelle einerseits „Väter“ sein können, andererseits aber auch berechtigt sind, als Frauen eine Ehe mit einem Mann einzugehen. Aufgrund dessen kommt der Gerichtshof zu folgender Schlussfolgerung: „In conclusion, given that transsexuality raises complex scientific, legal, moral and social issues, in respect of which there is no generally shared approach among the Contracting States, the Court is of the opinion that Article 8 (art. 8) cannot, in this context, be taken to imply an obligation for the respondent State formally to recognise as the father of a child a person who is not the biological father. That being so, the fact that the law of the United Kingdom does not allow special legal recognition 45 EGMR, Urt. vom 20.3.1997 (GK), X, Y und Z ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/ 93, Reports 97-II, Rd. 44.

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of the relationship between X and Z does not amount to a failure to respect family life within the meaning of that provision (art. 8).“ 46

Interessant ist, dass Richter de Meyer die auf dem Fehlen einer Konvergenz der Rechtssysteme und der Annahme eines weiten Gestaltungsspielraums des nationalen Gesetzgebers beruhende Entscheidung des Gerichtshofs in seiner „Concurring Opinion“ kritisiert. Er geht davon aus, dass als Begründung ausreichend gewesen wäre darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung, X nicht als Vater von Z zu registrieren, nicht willkürlich oder unvernünftig gewesen wäre und auch nicht gegen das Gebot eines gerechten Interessenausgleichs verstoßen habe: „These principles and rules are quite simple. Indeed, it is self-evident that a person who is manifestly not the father of a child has no right to be recognised as her father.“

Mit einer derartig knappen Entscheidungsformel würde aber nicht erklärt, warum der Gerichtshof in diesem Fall – anders als bei Marckx – gegen eine Weiterentwicklung der Grund- und Menschenrechte entschieden und damit eine Grenze für die Rechtsfortbildung anerkannt hat. Mit der von der Mehrheit in dem Fall gegebenen Begründung dagegen hält sich der Gerichtshof im Rahmen der von seinem case law vorgezeichneten Linien. Die Gegenmeinung des Richters Foighel setzt an der Inkonsistenz der Regelung zur Stellung der Transsexuellen im britischen Recht an und stellt auf das als „gemeinsames europäisches Erbe“ apostrophierte menschenrechtliche Grundkonzept des besonderen Schutzes benachteiligter Gruppen der Bevölkerung ab.47 Unklar ist, wo bei einem derartigen Ansatz die Grenzen einer reformatorischen „Menschenrechtspolitik“ zu sehen wären. Bei jeder gesetzgeberischen – auch experimentellen – Teilregelung eines neu sich stellenden Problems gäbe es die Möglichkeit, die Regelungsansätze „zu Ende zu denken“ und damit Reformen einzufordern, die vom politischen und gesellschaftlichen Konsens gerade nicht gedeckt würden. Anzumerken ist, dass der Gerichtshof fünf Jahre später, im Urteil Goodwin v. Vereinigtes Königreich,48 seine Rechtsprechung zur Transsexualität grundsätzlich geändert und im konkreten Fall Art. 8 und Art. 12 EMRK als verletzt angesehen hat. Grundsätzlich ist somit davon auszugehen, dass der Gerichtshof die Konvergenz der nationalen Rechtssysteme als Indiz für die Herausbildung eines europäischen Konsenses anerkennt und aufgrund dessen den Gestaltungsspielraum der 46 EGMR, Urt. vom 20.3.1997 (GK), X, Y und Z ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/ 93, Reports 97-II, Rd. 52. 47 EGMR, Urt. vom 20.3.1997 (GK), X, Y und Z ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/ 93, Reports 97-II, Rd. 52. 48 EGMR, Urt. vom 11.7.2002 (GK), Goodwin ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 28957/ 95, NJW-RR 2004, 289 ff.

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einzelnen Vertragsstaaten bei der Lösung menschenrechtlicher Probleme als eingeschränkt sieht. Würde dieser Ansatz allerdings strikt gehandhabt, würde damit grundsätzlich ausgeschlossen, dass die Vertragsstaaten dezidiert einen Sonderweg einschlagen und sich nicht dem mainstream anschließen. Rechtsvereinheitlichung könnte damit in noch weiterem Umfang als bei der Europäischen Union eingefordert werden, bei der die Mitgliedsstaaten in der Regel ein Vetorecht haben, wenn es um ethisch und moralisch sensible Fragen geht, für deren Beantwortung die jeweilige nationale Tradition eine besondere Rolle spielt. Vor diesem Hintergrund ist die nachfolgend dargestellte Entscheidung A, B und C v. Irland von besonderem Interesse, da sie Grenzen der Rechtsfortbildung auch in den Fällen aufzeigt, in denen bereits eine Tendenz zur Herausbildung eines gesamteuropäischen Konsenses zu erkennen ist. 3. A, B und C v. Irland – Mehrheitsvotum für die Rechtfertigung des Status quo

Bei der Entscheidung A, B und C gegen Irland geht es um die Abtreibungsproblematik, die in verschiedenen Konstellationen bereits dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlag.49 Während aber in den Entscheidungen Open Door and Dublin Well Woman v. Irland, Vo v. Frankreich und Tysiac v. Polen nur bestimmte Detailfragen – so das Recht auf Information über die Möglichkeit zur Abtreibung im Ausland, die Pflicht zum Schutz des Lebens bei einer versehentlich durchgeführten Abtreibung und die verfahrensmäßige Absicherung der Durchführung einer medizinisch indizierten Abtreibung – thematisiert wurden, betrifft die Beschwerde von A, B und C das auf verfassungsrechtlicher Ebene verankerte Verbot der Abtreibung in Irland als Grundsatzproblem. Antragstellerinnen sind drei Frauen, die in Großbritannien eine Abtreibung vorgenommen haben, da ihnen die entsprechende Möglichkeit in Irland nicht zur Verfügung stand, eine Abtreibung im Ausland aber nach irischem Recht straffrei möglich war. Sie alle beschweren sich wegen einer Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen, konkret von Art. 2, 3, 8, 13 und 14 EMRK. Bei der Antragstellerin C liegt eine medizinisch indizierte Abtreibung vor, da sie an Krebs erkrankt ist und Angst vor einer Schädigung des Fötus und vor einer Gefährdung ihrer eigenen Gesundheit hat. In diesem Fall moniert der Gerichtshof einstimmig eine Verletzung der Konvention aufgrund der unzureichenden Schutzregelungen in Irland.

49 EGMR, Urt. vom 8.7.2004 (GK), Vo ./. Frankreich, Nr. 53924/00, Reports 2004VIII, EGMR, Urt. vom 29.10.1992, Open Door and Dublin Well Woman ./. Irland, Nr. 14234/88; 14235/88, A246-A, EGMR, Urt. vom 22.3.2007 (IV. Sektion), Tysiac ./. Polen, Nr. 5410/03.

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Problematisch sind dagegen die Beschwerden der Antragstellerinnen A und B. Die erste Antragstellerin ist eine alkoholkranke Frau, die bereits vier Kinder hat und erneut gegen ihren Willen schwanger wird. Ihren Wunsch nach Abtreibung begründet sie damit, dass sie andernfalls die Chance, ihre in Pflege untergebrachten Kinder wiederzubekommen gefährde, da aufgrund einer zu erwartenden postnatalen Depression ein Rückfall in die Alkoholabhängigkeit zu erwarten sei. Die zweite Antragstellerin hat Furcht, dass besondere Komplikationen bei der Schwangerschaft bestehen könnten. Allerdings ist bereits vor der Abtreibung medizinisch erwiesen, dass es keine besondere Gefährdung gibt. Die Notwendigkeit, die Abtreibung im Ausland vorzunehmen, hat für beide Antragstellerinnen zusätzliche gesundheitliche Probleme zur Folge. Der Gerichtshof sieht lediglich eine Verletzung von Art. 8 EMRK als diskussionswürdig an, verneint diese aber im Ergebnis mit 11 zu 6 Stimmen. Die Auseinandersetzung um die Frage, ob sich ein Recht auf Abtreibung entwickelt haben könne, zeigt wie ein Brennspiegel die Problematik der Grenzziehung bei der rechtsfortbildenden Auslegung des Grundrechtsschutzes. Fraglich ist, ob der Nachweis einer Tendenz zur Konvergenz der nationalen Abtreibungsgesetze in Europa ausreichend sein kann, um daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, dass der nationale Gestaltungsspielraum entscheidend eingeschränkt und ein Sonderweg Irlands damit nur mehr schwer begründbar ist. Die irische Regierung setzt bei ihrer Argumentation daran an, dass eine entsprechende „Harmonisierung“ die „anerkannte Bedeutung und fundamentale Rolle des demokratischen Prozesses in jedem Staat und die von Art. 53 EMRK garantierte Diversität der Traditionen und Wertsetzungen in den Vertragsstaaten“ gefährden würde.50 Umstritten ist allerdings zunächst, ob eine Konvergenz der nationalen Abtreibungsgesetze überhaupt erkennbar sei. In drei europäischen Staaten – San Marino, Malta und Andorra – ist die Gesetzgebung noch restriktiver als in Irland und schließt straffreie Abtreibungen ausnahmslos aus. Allerdings ist eine Abtreibung aus sozialen Gründen in etwa 35 Vertragsstaaten grundsätzlich möglich. Zudem ist eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts in Monaco, Montenegro, Portugal und Spanien zu beobachten. Der Befund ist damit nicht eindeutig, trotz einer klar erkennbaren Mehrheit der Vertragsstaaten, die Möglichkeiten zur legalen Abtreibung einräumen, aber immerhin weniger vage als etwa in der MarckxEntscheidung. Der Gerichtshof geht daher auch, anders als die irische Regierung, von der Herausbildung eines entsprechenden europäischen Konsenses aus ohne eine Analyse der völkerrechtlichen Rechtsentwicklung für nötig zu halten. Dennoch – und hier zeichnet sich in der Entwicklung des case law eine entscheidende Wende ab – erklärt der Gerichtshof entgegen der allgemeinen Regel, 50

EGMR, Urt. vom 16.12.2010 (GK), A, B und C ./. Irland, Nr. 25579/05, Rd. 181.

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nach der bei einem sich abzeichnenden Konsens der verschiedenen nationalen Gesetzgebungen der „margin of appreciation“ eingeschränkt ist, dass der beobachtete Konsens den weiten Entscheidungsspielraum des nationalen Gesetzgebers in diesem Fall nicht entscheidend schmälere: „However, the Court does not consider that this consensus decisively narrows the broad margin of appreciation of the State.“ 51

Hauptargument des Gerichtshofs ist, dass man den Zeitpunkt der Entstehung menschlichen Lebens auf der Grundlage der Konvention nicht mit juristischen Mitteln eindeutig feststellen könne. Daher sei nicht auszuschließen, dass sich das aus Art. 2 EMRK ableitbare Recht des Kindes auf Leben und die aus Art. 2 und 8 EMRK ableitbaren Rechte der schwangeren Mutter grundsätzlich unvereinbar gegenüberstünden. Bei einem derartigen Grundrechtskonflikt könne aber eine Tendenz zur Herausbildung eines einheitlichen Ansatzes in verschiedenen nationalen Rechtsordnungen nicht der entscheidende Faktor sein, um einen gerechten Ausgleich zwischen den verschiedenen Rechten und Interessen zu finden. Und dies, so betont der Gerichtshof, gelte auch trotz der evolutiven Interpretation der Konvention. Dies ist eine eindeutige Aussage des Gerichtshofs: Geht es um den Ausgleich zwischen verschiedenen, von der Konvention gleichermaßen geschützten Rechten, besteht für die Vertragsstaaten kein „Zugzwang“, sich dem von der Staatenmehrheit favorisierten Modell anzuschließen. Vielmehr lässt diese Konstellation wieder Raum für individuelle, vom gesellschaftlichen Konsens im jeweiligen Land getragene Lösungen und dies selbst dann, wenn sie von den in anderen Ländern gefundenen Lösungen – wie gerade beim irischen Abtreibungsrecht – grundlegend abweichen. In diesen Fällen enthält sich der Gerichtshof, anders als im Fall Marckx, auch einer Stellungnahme zu dem sozialpolitisch Wünschbaren und Vernünftigen und verweist die Frage an den nationalen Gesetzgeber zurück: „As noted above, by reason of their direct and continuous contact with the vital forces of their countries, the State authorities are, in principle, in a better position than the international judge to give an opinion, not only on the ,exact content of the requirements of morals‘ in their country, but also on the necessity of a restriction intended to meet them.“ 52

Die dissentierenden Richter dagegen gehen streng auf der Basis der MarckxRechtsprechung argumentierend, von einem „unzweifelhaft starken Konsens unter den europäischen Staaten“ mit Blick auf einen Vorrang der Rechte der schwangeren Frau gegenüber den Rechten des ungeborenen Kindes aus und bekennen sich explizit – auch bei derartigen Wertungskonflikten zwischen verschiedenen Grundrechtspositionen – zu einer harmonisierenden Rolle der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Damit wird letztlich einem gewissen Automatismus bei 51 52

EGMR, Urt. vom 16.12.2010 (GK), A, B und C ./. Irland, Nr. 25579/05, Rd. 236. EGMR, Urt. vom 16.12.2010 (GK), A, B und C ./. Irland, Nr. 25579/05, Rd. 223.

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der Rechtsfortbildung der Grund- und Menschenrechte das Wort geredet. Die Mehrheit der Richter und Richterinnen des Gerichtshofs lehnt dies ab, nimmt stattdessen eine Einzelfallabwägung vor und akzeptiert einen „moralischen Vorbehalt“ der Vertragsstaaten in besonders sensiblen Grundrechtsfragen. Die Minderheit des Gerichtshofs stellt sich dem entgegen: „. . . it is the first time that the Court has disregarded the existence of a European consensus on the basis of ,profound moral views‘. Even assuming that these profound moral views are still well embedded in the conscience of the majority of Irish people, to consider that this can override the European consensus, which tends in a completely different direction, is a real and dangerous new departure in the Court’s case-law. A case-law which to date has not distinguished between moral and other beliefs when determining the margin of appreciation which can be afforded to States in situations where a European consensus is at hand.“ 53

In den Augen der Mehrheit, die die Entscheidung trägt, wird aber gerade an diesem Punkt die Grenze der richterlichen Rechtsfortbildung erreicht. Die Rolle des Gerichtshofs bei der Durchsetzung menschenrechtlicher Standards wird nicht in einer Angleichung nach oben gesehen, sondern erneut auf die Wahrung von allgemein akzeptierten (Mindest)standards zurückgebunden. Dies bedeutet, dass die Feststellung eines „europäischen Konsenses“ auf der Grundlage rechtsvergleichender Analysen sowie mit Blick auf Weiterentwicklungen im Völkerrecht und Stellungnahmen der Organe des Europarats nur Indizwirkung für ein gewandeltes Grundrechtsverständnis hat, die Auslegung der Konvention und damit das Urteil über das Vorliegen einer Konventionsverletzung aber nicht unmittelbar bestimmen kann. Denn das „menschenrechtliche Sollen“ kann auch im Widerspruch zu den von der Mehrheit der Staaten akzeptierten Normen stehen. Die Konvention kann nicht nur dann Motor der Veränderung sein, wenn sie in die Richtung des „mainstream“ weist, sondern auch dann, wenn sie sich dem „mainstream“ entgegenstellt. IV. Ausblick Montesquieus Beobachtung, dass in verschiedenen Kulturen verschiedene Regeln gelten, die unterschiedliche moralische und ethische Anschauungen spiegeln, dürfte auch im Europa des 21. Jahrhunderts noch gültig sein. Zugleich wirkt auch das Pathos der Französischen Revolution nach und wird als Rechtfertigung verstanden, „Wahrheiten für alle Zeiten und alle Länder“ politisch und rechtlich zu verwirklichen.

53 EGMR, Urt. vom 16.12.2010 (GK), A, B und C ./. Irland, Nr. 25579/05, abweichende Meinung der Richter Rozakis, Tulkens, Fura, Hirvelä, Malinverni und Poalelungi, Rd. 9.

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Die in der Zeit der Aufklärung erhobenen Postulate sind daher ebenso wie die damals formulierten Ideen noch immer relevant. Zugleich ist anerkannt, dass moderne Gesellschaften einen Grundrechtsschutz, der auch die neuen Gefahrenlagen adäquat berücksichtigt, benötigen. Eine Feinjustierung und damit eine dynamische Weiterentwicklung der Grund- und Menschenrechte sind unausweichlich. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, der bindende Urteile für 47 Staaten fällen kann, hat sich in Europa – im Zusammenspiel mit den nationalen Verfassungsgerichten – als Motor für den Wandel der Grund- und Menschenrechte erwiesen. Die vielschichtigen und oftmals kontroversen Entscheidungen des Gerichtshofs zeigen, wie notwendig es ist, den Facetten des Wandels detailgenau nachzuspüren. Ebenso wenig wie die Grenzen einer dynamischen Grundrechtsinterpretation a priori definiert werden können, können neue Grundrechtspostulate von oben „verordnet“ werden. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs muss nicht nur Sensor für Grundrechtsgefährdungen, sondern auch für mögliche Lösungsansätze sein, und dies, ohne die Unterschiede in „Gemeingeist, Sitten und Lebensstil“ in den vielgestaltigen europäischen Staaten gering zu schätzen.

Nietzsches staatsphilosophischer Individualismus Von Walter Pauly Mit der verfassungsrechtlichen Garantie elementarer Rechte jedes einzelnen Individuums hat der Verfassungsstaat einen beachtlichen Reifezustand erreicht.1 Von dieser Warte aus muss es zumindest überraschen, den „Triumph des Individualismus“ im Zuge einer emphatischen juristischen Nietzsche-Rezeption ausgerechnet bei einem Autor verortet zu sehen,2 der in den „sogenannten ,Grundrechten des Menschen‘, des Menschen als solchen,“ sowie der „Würde des Menschen“ lediglich durchsichtige „Lügen“ und „Begriffs-Hallucinationen“ erblickte.3 Über die eigengeartete Gestalt des Individualismus im Verständnis Friedrich Nietzsches geben bereits Attribute Auskunft, wie sie sich im (rechts)philosophischen Schrifttum finden, wenn dort schon frühzeitig einsetzend von einem „unrichtigen“,4 „überreizten“5, „radikalen“,6 „aristokratischen“ oder „elitaristischen“7 Individua1 Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit (1984), in: ders., Der Staat des Grundgesetzes, 1992, S. 1009; hierbei bildet die „individuelle Existenz“ des konkreten Menschen den Ausgangspunkt, vgl. ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 13. 2 Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 2008, S. 178; allgemein spricht Schönherr-Mann, Friedrich Nietzsche, 2008, S. 88, von einer „Philosophie des Individuums“. 3 Nietzsche, Der griechische Staat, in: Colli/Montinari (Hrsg.), Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), Neuausgabe 1999, Bd. 1, S. 764 ff. 4 Vecchio, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1951, S. 288; dass das „strikte Gegenteil von dem, was Nietzsche über den Individualismus ausgesagt hat, . . . richtig“ sei, hatte bereits Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 3: Philosophie des Staates, 1906, S. 142 Anm. 10, behauptet. Extrem negative Aufnahme aus juristischer Sicht bei Düringer, Nietzsches Philosophie vom Standpunkte des modernen Rechts, 2. Aufl., 1906, der „psychopathische“ Züge im Spätwerk ausmacht (ebd., S. 41 u. 56). Dagegen wertet es Emge, Über das bleibende Erbe Nietzsches, 1955, S. 19, in seiner Bilanz positiv, dass der „wirkliche Mensch“ bei Nietzsche stets als „in einer Situation“ befindlich betrachtet werde; zur Einfügung in Emges eigene Situationsphilosophie Hebeisen, „An sich redet Alles, was ist, das Ja“ – Zur Verwendung Nietzsches durch den Rechtsphilosophen Carl August Emge, in: Seelmann (Hrsg.), Nietzsche und das Recht, 2001, S. 219 ff.; vgl. auch Pauly, „Ab insulis“. Carl August Emges Vorschule der Rechtsphilosophie, in: ders. (Hrsg.), Wendepunkte – Beiträge zur Rechtsentwicklung der letzten 100 Jahre, 2009, S. 245 ff. 5 Binder, Nietzsches Staatsauffassung, Logos Bd. XIV (1925), S. 285. 6 Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1963, S. 168. 7 Stulpe, Gesichter des Einzigen. Max Stirner und die Anatomie moderner Individualität, 2010, S. 664 ff. m.w. N.; zur rezeptionsgeschichtlichen Aufarbeitung der „Formel

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lismus die Rede ist, der sich vom „vulgären“8 oder liberalen9 Individualismus absetze. Sehr klar hat Georg Simmel wenige Jahre nach Nietzsches Tod herausgestellt, dass „weder die Gesellschaft als solche noch der Einzelne, bloß weil er ein Individuum ist“, hier eine Rolle spielt: Nietzsche wolle „den Einzelnen weder als Einzelnen – und damit also jeden Einzelnen – noch als Element der Gesellschaft akzentuieren, sondern ausschließlich diejenigen Einzelnen, durch deren Wertqualitäten der menschliche Gattungstyp eine höhere als die bisher erreichten Stufen gewinnt.“10 Schon in seinen frühen Schriften kontrastiert Nietzsche „einzelne grosse Menschen“, d.h. „einzelne höhere . . . ungewöhnlichere, mächtigere, complicirtere, fruchtbarere“ Exemplare, mit den „Meisten“, den „einzeln genommen, werthlosesten“ Exemplaren.11 Deswegen besitze der „Mensch an sich“, der „absolute Mensch“, verstanden im Sinne von Fichtes „allem, was Menschenantlitz trägt“,12 mangels eines in der Gattung gelegenen Anknüpfungspunktes „weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten“13, und von daher gilt auch: „Menschenrechte giebt es nicht.“14 Hieran knüpft sich die Frage, „wie erhält dein, des Einzelnen Leben den höchsten Werth, die tiefste Bedeutung“15, und Nietzsche bringt im Rahmen der Antwort zugleich den Staat ins Spiel. I. Ästhetische Funktionalisierung von Staat und Individuum Inspiriert nicht zuletzt durch Jacob Burckhardts Vorlesung „Über das Studium der Geschichte“ einschließlich des Vortrages „Über historische Grösse“,16 die der ,Stirner und Nietzsche‘“, die um 1900 als „Signatur“ eines heftig umstrittenen Individualismus gedient habe, ebd., S. 570 ff.; Klassifikation im „individualistisch-aristokratischen“ Sinne bei Rickert, Die Philosophie des Lebens, 1922, S. 81 u. ähnlich S. 84. 8 Maihofer, Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1956, S. 29 u. 31; beim Individualismus handele es sich um ein gängiges „Nietzsche-Klischee“, urteilt Marcic, Geschichte der Rechtsphilosophie, 1971, S. 327. 9 Den Abstand vom „sozialen Ideal“ des „individualistischen Liberalismus“ betont Simmel, Schopenhauer und Nietzsche (1907), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 10, 1995, S. 361 f. 10 Simmel (Fn. 9), S. 362. 11 Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher, KSA 1, S. 384 f. 12 Fichte, Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution (1793), in: ders., Fichtes Werke, hrsg. v. H. Fichte, Nachdruck 1971, Bd. VI, S. 90; bei dems., Die Staatslehre, ebd., Bd. IV, S. 423, findet sich die Formulierung der „Gleichheit alles dessen, was Menschenangesicht trägt“, die in Friedrich Eberts Eröffnungsrede in der Deutschen Nationalversammlung am 6. Februar 1919 unter expliziter Bezugnahme auf Fichte in der bis heute oft bemühten Fassung einer „Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt“, wiederkehrte; Nachweis und Kontext bei Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, S. 517. 13 Nietzsche (Fn. 3), S. 776. 14 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1877, KSA 8, S. 482. 15 Nietzsche (Fn. 11), S. 384.

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junge Basler Altphilologe bei seinem 26 Jahre älteren kultur- und kunsthistorischen Kollegen im Wintersemester 1870/71 genussvoll besucht,17 betont Nietzsche in seinem erst posthum veröffentlichten Essay „Der griechische Staat“ aus dem Jahre 1872 den „geheimnißvollen Zusammenhang“ zwischen Staat und Kunst und erklärt die „olympische Existenz und immer erneute Zeugung und Vorbereitung des Genius“ zum eigentlichen „Ziel des Staates“.18 Um „einer geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen“, bedarf es Nietzsche zufolge der „Mehrarbeit“ der Masse, die durch die „eiserne Klammer des Staates“ in einen pyramidalen Aufbau der Gesellschaft gezwängt werde.19 In diesem Sinne gehört für ihn „zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum“20 – neben dem antiken wohl auch das der „Fabrik-Sklaverei“21. 16 In seiner erstmals im Wintersemester 1868/69 gehaltenen und erst 1905 von Burckhardts Neffen Oeri unter dem Titel „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ edierten Vorlesung findet sich wie bei Nietzsche hinsichtlich der Staatsentstehung die „Kontrakthypothese“ verworfen und die „Gewalt“ samt „Knechtung der Unterworfenen“ zum „Prius“ erklärt; vgl. Burckhardt, Gesamtausgabe, Bd. 7, 1929, S. 21 ff.; die „grosse Krisis des Staatsbegriffs“ in der modernen Kultur sieht Burckhard darin, dass dieser „alles mögliche können, aber nichts mehr dürfen“ solle, und beklagt den „herzlosen Hochmut“, durch dessen „Schulden“ das „Vermögen der künftigen Generationen vorweg zu verschleudern“; vgl. ebd., S. 102 ff.; ausgehend „von unserm Knirpstum“ definiert Burckhardt „Größe“ als das, „was wir nicht sind“, und beschreibt die „Koinzidenz des Allgemeinen und des Besondern“ im Fall der „großen Individuen“, die eine „merkwürdige Dispensation von dem gewöhnlichen Sittengesetz“ rechtfertigt; vgl. ebd., S. 160, 176 u. 186; die Gegenwart kennzeichne „das Besser-Lebenwollen der Massen“ einhergehend mit einer allgemeinen „Verflachung“, dabei bedürfe es der „großen Männer“, um die „weltgeschichtliche Bewegung . . . periodisch und ruckweise frei“ zu machen „von bloßen abgestorbenen Lebensformen und von reflektierendem Geschwätz“; vgl. ebd., S. 191. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Kulturkritik Burckhardts und Nietzsches vgl. Löwith, Sämtliche Schriften, Bd. 7: Jacob Burckhardt, 1984, S. 62; vgl. weiter Martin, Nietzsche und Burckhardt, 4. Aufl., 1947, S. 63 ff. u. Salin, Jakob Burckhardt und Nietzsche, 2. Aufl., 1948, S. 74 f., unter Schilderung der gemeinsamen Tränen angesichts der unrichtigen Nachricht vom Brand des Louvre im Juni 1871. Zur dominanten Stellung der Kultur gerade auch im Vergleich zum Staat schließlich Schulin, Burckhardts Potenzen- und Sturmlehre, 1983, S. 9 u. passim. 17 In einem Brief vom 7. November 1870 berichtet Nietzsche seinen Jugendfreund Gersdorff von dem „Genuß“ und wähnte „der einzige seiner 60 Zuhörer zu sein, der die tiefen Gedankengänge mit ihren seltsamen Brechungen und Umbiegungen, wo die Sache an das Bedenkliche streift, begreift“; zitiert nach Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 1, 1994, S. 387. 18 Nietzsche (Fn. 3), S. 772 u. 776. Später sollte Nietzsche davon sprechen, „den Staat auf Musik zu gründen“; vgl. ders., Unzeitgemäße Betrachtungen IV. Richard Wagner in Bayreuth, KSA 1, S. 458. 19 Nietzsche (Fn. 3), S. 767 u. 769. 20 Nietzsche (Fn. 3), S. 767. Kritisch Geijsen, Geschichte und Gerechtigkeit, 1997, S. 233. 21 Nietzsche, Morgenröthe, KSA 3, S. 183; ders., Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister II.2: Der Wanderer und sein Schatten, KSA 2, S. 682 f.; jetzt seien sich „fast alle Menschen“ darin gleich, sich Arbeit „um des Lohnes willen“ zu suchen; vgl. ders., Die fröhliche Wissenschaft, KSA 3, S. 408. Vgl. weiter Brose, Sklavenmoral. Nietzsches Sozialphilosophie, 1990, S. 11 ff.

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Die „Rechtfertigung der Welt als eines aesthetischen Phänomens“,22 die Nietzsche zeitgleich in seiner Schrift „Die Geburt der Tragödie“ unter Berufung auf die dionysische Kunst der Musik vorgibt, verbietet jedes liberale Verständnis des Staates „als Schutzanstalt egoistischer Einzelner“, die die „Politik zum Mittel der Börse“ missbrauchten.23 Hiergegen helfe Apollo, der „Reinigungsgott des Staates“, der mittels Krieg die „Ablenkung der Staatstendenz zur Geldtendenz“ verhindere.24 Durch die mit dem Soldatenstand verbundene Aufteilung in „militärische Kasten“ werde „das Urbild des Staates vor Augen gestellt“, ausgerichtet auf die „Erzeugung des militärischen Genius“, dem der Staat seine Entstehung verdanke, den „Sieger“, „Eroberer mit der eisernen Hand“, einherschreitend mit „Anmaßung“, „Usurpation“ und „Gewaltthat“.25 Dem einzelnen Menschen in Krieg und Arbeit eigne dabei lediglich die Würde, „zum Mittel des Genius gewürdigt zu sein“: Würde vermag er nur als „Werkzeug“ zu erlangen.26 Einen solchen „Kulturstaat im Gegensatz zu den lügnerischen, die sich jetzt so nennen“, zu schaffen, erklärt Nietzsche kaum drei Jahre nach der Reichsgründung für „geboten“.27 Ausgerechnet die „Gesammtconception des platonischen Staates“28 wählt der „Anti-Sokratiker“29 und Vertreter eines „umgedrehte[n] Platonismus“30 zum Leitbild, wenn auch mit gewissen Korrekturen an Platons Ständelehre, da dieser infolge des sokratischen Einflusses die „genialen Künstler“ aus seinem Staat ausgeschlossen habe: Der „Genius in seinem allgemeinen Begriff“ gehöre indes an die Spitze des vollkommenen Staates gestellt.31 Das kulturaristokratische Nahziel einer „künstlerisch-tragischen Kultur der Moderne“32 trifft sich in seiner antiegalitären Zumessung individueller Positionen mit platonischen und aristotelischen Bestimmungen,33 weshalb die neuere Nietzsche-Forschung in diesem Zusammenhang den Begriff einer „proportionalen Gerechtigkeit“ fruchtbar 22

Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, S. 152. Nietzsche (Fn. 3), S. 774. 24 Nietzsche (Fn. 3), S. 774. 25 Nietzsche (Fn. 3), S. 775 u. 770. 26 Nietzsche (Fn. 3), S. 776. 27 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1873–Winter 1873/74, KSA 7, S. 733. 28 Nietzsche (Fn. 3), S. 777. 29 Ottmann, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 2. Aufl., 1999, S. 45. 30 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Ende 1870–April 1871, KSA 7, S. 199; Ambivalenz und Abwehr resultieren aus Platons nicht ästhetisch gegründeter Ideenlehre und Wirklichkeitsflucht; vgl. im Einzelnen Orsucci, Antike, griechische, in: Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch, 2000, S. 375 f. u. Brobjer, Platon, in: Niemeyer (Hrsg.), Nietzsche-Lexikon, 2009, S. 277 ff. 31 Nietzsche (Fn. 3), S. 776. 32 Hierzu und zum Folgenden Zachriat, Die Ambivalenz des Fortschritts. Friedrich Nietzsches Kulturkritik, 2001, S. 78 ff. 33 Hierzu und zum Folgenden Knoll, Nietzsches Begriff der sozialen Gerechtigkeit, Nietzsche-Studien 38 (2009), S. 161 u. 164 ff. 23

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macht, der auf die spezifischen individuellen Fähigkeiten rekurriert. Den „gerechten Geniestaat“34 kennzeichnet das im Spätwerk formulierte Credo, das „Unrecht“ liege „niemals in ungleichen Rechten“, sondern „im Anspruch auf ,gleiche‘ Rechte“.35 Dieser Individualismus der Wenigen negiert programmatisch die Rechte und die Freiheit der Meisten. II. Entfesselung der Privatperson Nietzsches Kulturstaatstheorie führt ihn binnen weniger Jahre von einem überzu einem un- oder apolitischen Ansatz, der ihn die „Heilung von der Politik“36 ersehnen und das Recht reklamieren lässt, „sich der Politik zu enthalten und ein Wenig bei Seite zu treten“.37 Versöhnlich gesteht er Ende der siebziger Jahre den „Möglichst-Vielen“ zu, auch zu „bestimmen, was sie unter einem erträglichen Leben verstehen“, wenn es sich denn „nun einmal bei aller Politik darum handelt, möglichst Vielen das Leben erträglich zu machen“.38 Gegen dieses „Gefühl der Selbstbestimmung“, verbunden mit dem „Stolz auf die fünf, sechs Begriffe, welche ihr Kopf birgt“, sei „wenig einzuwenden“, solange man nicht verlange, „es solle Alles in diesem Sinne zur Politik werden, es solle Jeder nach solchem Massstabe leben und wirken.“39 Der einst bestimmende Heroismus ist zum kleinen „Stolz“ zusammengeschrumpft, „zu schweigen, wenn zu Viele oder überhaupt nur Viele reden“, zur „ironischen Miene“ und zur einsamen Empfänglichkeit für ein anders beschaffenes Glück.40 Es ist eine „Freiheit über den Dingen“, ein „als ästhetisches Phänomen“ erträgliches „Dasein“, während den „Allermeisten“ das „intellectuale Gewissen“ fehlt, das „Verlangen nach Gewissheit“, um eben nicht „diess oder jenes zu glauben . . ., ohne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wieder bewusst geworden zu sein“, sich jedenfalls „die Mühe um solche Gründe“ gemacht zu haben.41 In dieser Phase aufklärerischer „Freigeisterei“ würdigt Nietzsche die „Compromisse“ der „herrschenden

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Zachriat (Fn. 32), S. 84. Nietzsche, Der Antichrist, KSA 6, S. 244. 36 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Anfang 1874–Frühjahr 1874, KSA 7, S. 776; die Griechen mit ihrer Polis-Verehrung erscheinen ihm alsbald als die „StaatsNarren der alten Geschichte“; vgl. ders. (Fn. 21, Wanderer), S. 658. 37 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister I, KSA 2, S. 286; zum Übergang zur „Überpolitik und schließlich Apolitie“ vgl. Ottmann (Fn. 29), S. 48. 38 Nietzsche (Fn. 37), S. 285. 39 Nietzsche (Fn. 37), S. 285 f. 40 Nietzsche (Fn. 37), S. 286. 41 Nietzsche (Fn. 21, Wissenschaft), S. 373 u. 464 f.; das scheide die „höheren Menschen von den niederen“ (ebd., S. 373); wie für den Sklaven Epiktet gilt grundsätzlich, dass ein „idealer Mensch . . . ohne Stand und in allen Ständen möglich“ ist; ders. (Fn. 21, Morgenröthe), S. 316. 35

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constitutionellen Regierungsform“, entlarvt „Gerechtigkeit als Parteien-Lockruf“, reklamiert den „politische[n] Werth der Vaterschaft“, der sich aus einer Erweiterung des „Egoismus der Zeitdauer nach“ ergebe, erklärt die Willkürlichkeit des Rechts nach dem Verlust von Herkommen und Rechtsgefühl und erläutert das „Recept zu dem, was die Masse einen grossen Mann nennt“.42 In der modernen Demokratie sieht er die „historische Form vom Verfall des Staates“, weil die mit ihr einhergehende Säkularisierung dessen Legitimität verzehrt: „Der Glaube an eine göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der Existenz des Staates“ schwinde mit der Religion und der Staat verliere „seinen alten Isisschleier“; „Zauber“ und „Ehrfurcht“ lösten sich mit der „Souveränität des Volkes“ auf.43 Die Behandlung der „Religion als Privatsache“ werde langfristig eine „staatsfeindliche“ Gesinnung nach sich ziehen; am Ende stehe die „Abschaffung des Staatsbegriffs“, die „Aufhebung des Gegensatzes ,privat und öffentlich‘ “ und die „Privatgesellschaften würden „Schritt für Schritt“ die Staatsgeschäfte absorbieren und „selbst der zäheste Rest“ der überkommenen Regierungsgeschäfte werde „allerletzt einmal durch Privatunternehmer besorgt werden“.44 In diesem Szenario kommt es zu „Missachtung“, „Verfall“ und „Tod des Staates“, zur „Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich zu sagen: des Individuums)“. Nietzsche billigt diese „Consequenz“ und „Mission“ der Demokratie und verweist gelassen auf „ein neues Blatt im Fabelbuche der Menschheit“, auf eine gewiss kommende „noch zweckmässigere Erfindung, als der Staat es war“. Zu den Stützkräften des Staates zählt Nietzsche den „Socialismus“ mit seinem „Feldgeschrei ,so viel Staat wie möglich‘“, der den „halbgebildeten Massen das Wort ,Gerechtigkeit‘ wie einen Nagel in den Kopf“ treibe, um als jüngerer „Bruder des fast abgelebten Despotismus“ letztlich jedoch die „förmliche Vernichtung des Individuums“ anzustreben.45 Für diese ressentimentgestützte Bewegung von „Begehrlichkeit“, „Neid und Faulheit“46 vermag Nietzsche ebenso wenig Sympathien zu entfalten wie für den Nationalismus, der sich ebenfalls als eine „Reaktion gegen das Individuellwerden“ entpuppe und danach strebe, das „ego . . . wieder unter die Glocke“ zu stellen.47 Nietzsche prognostiziert aufgrund von „Handel“, „Industrie“, „Bücher- und Briefverkehr“, „Gemeinsamkeit aller höheren Cultur“ und dem schnellen „Wechsel von Ort und Landschaft“ die „Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen“ und präsentiert sich selbst „ungescheut als guten Europäer“, der an der „Verschmelzung der Nationen“ ar42

Nietzsche (Fn. 37), S. 292 f., 294, 297 f. u. 300. Nietzsche (Fn. 37), S. 306. 44 Hierzu und zum Folgenden Nietzsche (Fn. 37), S. 305 f. 45 Nietzsche (Fn. 37), S. 307 f.; das vermöge wiederum angesichts der brutalen Demonstration staatlicher Machtkonzentration Gegenkräfte mit dem Ruf „so wenig Staat wie möglich“ zu mobilisieren (ebd., S. 308). 46 Nietzsche (Fn. 37), S. 293 u. 314. 47 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr–Herbst 1881, KSA 9, S. 515. 43

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beite.48 Schon Anfang der siebziger Jahre hatte er „nicht Bildung nach dem Deutschen“, sondern „Bildung des Deutschen“ und „Kosmopolitismus“ gefordert;49 nun sieht er die Rolle der darin bewährten Deutschen vornehmlich als „Dolmetscher und Vermittler der Völker“.50 Er prophezeit wegen der „um sich greifenden Demokratisierung“ einen „europäische[n] Völkerbund“, in dem die einzelnen Völker die „Stellung eines Cantons“ bei untrennbarer Verknüpfung von innerer und äußerer Politik erhielten, und empfiehlt als „Mittel zum wirklichen Frieden“ ein „sich wehrlos machen“, die Auflösung der Heere und ein Zerbrechen der Schwerter.51 Sein zeitweise milder Sinn bedenkt nun auch „das Wohl des Arbeiters, seine leibliche und seelische Zufriedenheit“ und erkennt die „Ausbeutung“ desselben als eine „Dummheit“ und einen „Raub-Bau auf Kosten der Zukunft“.52 Nietzsche missbilligt grundsätzlich Umstand und Lage, „einen Preis zu haben, für den man nicht mehr Person, sondern Schraube wird!“, unabhängig von einem entsprechenden Befinden der Betroffenen und der Höhe des Entgelts.53 Allerdings soll die „schwere Arbeit und Noth des Lebens“ dem aufgebürdet sein, „welcher am wenigsten durch sie leidet“, also dem „Stumpfesten“.54 Tendenziell geht es in der sozialen Frage für ihn um „allmähliche Umschaffungen des Sinnes“, nicht aber um einen gewalttätigen Sozialismus, der schlicht materiell das erstrebt, was die Bürgerlichen derzeit besitzen.55 Trotz der ihr zugestandenen zeitgenössischen Unaufhaltsamkeit hinterfragt Nietzsche die Legitimität der Demokratie ausgehend von einem radikalen Individualismus, der „das Recht des allgemeinen Stimmrechtes“ und das damit verbundene Majoritätsprinzip der „Einstimmigkeit Aller“ unterwirft: „das ganze Land 48 Nietzsche (Fn. 37), S. 309; hierzu Witzler, Europa im Denken Nietzsches, 2001, S. 198 ff., und zu Nietzsches Abschied von der Nation Gamm, Standhalten im Dasein, 1993, S. 273 ff. 49 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Sommer 1872–Anfang 1873, KSA 7, S. 508, u. Sommer–Herbst 1873, KSA 7, S. 693; Kennzeichen der Tüchtigsten im Volke sei immer die „Wendung zum Undeutschen“ gewesen, und „gut deutsch sein“ bedeute „sich entdeutschen“; vgl. ders., Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister II.1: Vermischte Meinungen und Sprüche, KSA 2, S. 511 f.; als „Verächter der Deutschen par excellence“ wollte Nietzsche gelten; vgl. ders., Ecce homo. Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, KSA 6, S. 362. Zur nichtsdestotrotz tiefgreifenden Nietzsche-Rezeption der Deutschen Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, 1996, S. 17 ff. u. Riedel, Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama, 1997, S. 86 ff., zur nationalsozialistischen Halbierung und Banalisierung Nietzsches. 50 Nietzsche (Fn. 37), S. 309. 51 Nietzsche (Fn. 21, Wanderer), S. 678 u. 684. 52 Nietzsche (Fn. 21, Wanderer), S. 682. 53 Nietzsche (Fn. 21, Morgenröthe), S. 183. 54 Nietzsche (Fn. 37), S. 299. 55 Nietzsche (Fn. 37), S. 294; auf die für Nietzsche bestehende geistige Verwandtschaft von Sozialisten und Bürgerlichen weist Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3/3, 2008, S. 243, zutreffend hin.

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muss es wollen“.56 Eigentlich müsse das „absolute Veto des Einzelnen“ genügen, auch in Form der „Nichtbetheiligung an einer Abstimmung“, um „das ganze Stimmsystem zum Falle“ zu bringen.57 Hier artikuliert sich ein verhaltener Protest gegen „etwas Oedes und Einförmiges“ der Demokratie, wobei Nietzsche einräumte, „dass die Nachwelt über dieses unser Bangen einmal lacht“.58 III. Das souveräne Individuum und das kälteste aller kalten Ungeheuer In der späten Werkphase der achtziger Jahre, die 1889 mit seinem geistigen Zusammenbruch in Turin endet, entfaltet Nietzsche eine Philosophie des Nihilismus, deren Wurzeln bis in die Anfänge seines erkenntnistheoretischen Perspektivismus in den siebziger Jahren zurückreichen. Die Selbstzersetzung des tradierten Begriffs objektiver Wahrheit und die Entlarvung der wahren Welt einschließlich ihrer Moral als Produkt eines jenseitsorientierten, diesseitsverneinenden, lebensfeindlichen, auf Furcht vor sinnlosem Leiden gegründeten Denk- und Glaubenssystems, das mit dem vom Menschen selbst herbeigeführten Tod Gottes kollabiere, führe in eine sinnlose, entgöttlichte Welt, in der gilt: „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“.59 Mit Abschaffung der „wahren“ und zugleich „scheinbaren“ Welt eröffne sich allerdings die Möglichkeit „zu einem dionysischen Jasagen zur Welt, wie sie ist, ohne Abzug, Ausnahme und Auswahl“, zu einer „ExperimentalPhilosophie, die „den ewigen Kreislauf“ will, die sich dem „amor fati“ ergibt.60 Nicht in abgelebten Wahrheitsmodellen zu verharren, statt des Nichts sich selbst zu wollen und zu bilden, sich selber Gesetze zu geben, Sinn zu stiften und neue an die Stelle alter Werte zu setzen, verlange jedoch eine ungeheure Stärke zur Selbstüberwindung, wie sie nur den wenigsten eigne. Die „Lösung von der Weltmüdigkeit“ und „Erlösung des Menschen von sich selber“ als „Künstler (Schaffender), Heiliger (Liebender) und Philosoph (Erkennender)“ beschreibt einen Bildungsauftrag, und die Vereinigung von allen dreien „in Einer Person“ erscheint 56

Nietzsche (Fn. 21, Wanderer), S. 672 f. Nietzsche (Fn. 21, Wanderer), S. 673; um nicht „in’s Kleinliche zu verfallen“, hebt Nietzsche auf das „Veto weniger Tausende“ ab, das über diesem System hänge (ebd.); zur „Rechtfertigung der Mehrheitsentscheidung . . . aus der Einigkeit über die grundlegenden verfassungsrechtlichen Ordnungsprinzipien, in die Anwendungsbereich und Verfahren der Mehrheit eingebettet sind“, vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 612. 58 Nietzsche (Fn. 21, Wanderer), S. 671. 59 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 399; zur Genese des Nihilismus Kuhn, Nihilismus, in: Ottmann (Hrsg.), Nietzsche Handbuch, 2000, S. 293 ff. m.w. N.; Düsing, Nietzsches Denkweg, 2006, S. 353 ff.; zu den politischen Implikationen Lee, Politische Philosophie des Nihilismus, 1992, S. 7 ff. 60 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr–Sommer 1888, KSA 13, S. 492; zur „ewigen Wiederkunft“ oder „Wiederkehr“ als „Diesseitsmythos“, der zu Daseinsund Lebensbejahung führen soll, vgl. Ottmann (Fn. 55), S. 247 u. 250, u. weiter Abel, Nietzsche, 1998, S. 187 ff. 57

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als „mein praktisches Ziel“.61 So lehrt Nietzsche im Zarathustra den „Übermenschen“ als den „Sinn der Erde“, der ihm „am Herzen“ liege und „nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidendste, nicht der Beste“.62 Entsprechend sei auch nicht „Menschheit“, sondern „Übermensch“ das „Ziel“.63 Dabei handelt es sich bei dem „Übermenschen“ im Grunde keineswegs um ein „Wesen, das nicht mehr Mensch“ ist; vielmehr bezieht sich das „Über“ auf einen „ganz bestimmten Menschen“, der als gewandelter Mensch auf den bisherigen zurückblicken kann, der als der „heutige“, als der „letzte“ Mensch erscheint.64 Die „Art-Überwindung“ führt nicht zu einer seinsmäßig verfestigten neuen Gattung, sondern entscheidend ist die „Existenzform“, das „Selbstverhältnis“ in Form der „Tätigkeit des Über-sich-hinaus-Schaffens“, die das „Selbst unendlich auszudehnen trachtet“.65 Dieses kreative Schaffen bedeutet für Nietzsche das „einzige Glück“, und er notiert: „Nur im Schaffen giebt es Freiheit“.66 Staat und „Übermensch“ setzt Nietzsche in seinem Zarathustra unter der Kapitelüberschrift „Vom neuen Götzen“ in ein Ausschlussverhältnis: „Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist“, dort sieht er „den Regenbogen und die Brücken des Übermenschen“.67 Komplementär formuliert: „Für die Überflüssigen ward der Staat erfunden!“68 Als Institution der zur Selbsterkenntnis und -entfaltung Unfähigen vermag der Staat entgegen seiner Lockrufe nicht Recht und Sitten zu achten, wie sie dem organisch gegliederten Volk entsprachen, das dem „Leben“ dienende „Schaffende“ hervorgebracht hatten.69 Aus diesem Grund bezeichnet Nietzsche den Staat, zumindest den zeitgenössischen egalitären Massenstaat, an dieser Stelle als „das kälteste aller kalten Ungeheuer“, das „kalt lügt“, indem es sich mit dem Volk gleichsetzt. Dieser „Heuchelhund“ wolle das „wichtigste Thier auf Erden“ sein,70 aber Konsequenz 61

Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1883, KSA 10, S. 501. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, KSA 4, S. 14 u. 357; als genitivus subjektivus verstanden, fasst „Sinn der Erde“ dieselbe nicht als „bloße passive Sinnempfängerin“, sondern zielt auf eine irdische Sinnproduktion, wie Pieper, Zarathustra als Verkünder des Übermenschen, in: Gerhardt (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, 2000, S. 98, herausstellt; eine Übergangsstellung nimmt der „höhere Mensch“ ein; vgl. ebd., S. 347 u. 356 ff.; vgl. weiter Fleischer, Der „Sinn der Erde“ und die Entzauberung des Übermenschen, 1993, S. 61 ff. 63 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Sommer–Herbst 1884, KSA 11, S. 210. 64 Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, 4. Aufl., 1961, S. 284 f. 65 Pieper (Fn. 62), S. 110 f. u. 119. 66 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente November 1882–Februar 1883, KSA 10, S. 135 u. Sommer 1883, ebd., S. 403. 67 Nietzsche (Fn. 62), S. 63 f. 68 Nietzsche (Fn. 62), S. 62. 69 Nietzsche (Fn. 62), S. 61. 70 Nietzsche (Fn. 62), S. 170. Und solange sich der Mensch in den Staat einfüge, bleibe er Nietzsche zufolge „wesentlich ein Tier“, stellt Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, 2. Aufl., 1988, S. 205, fest. 62

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seiner beanspruchten Ordnung sei der „langsame Selbstmord Aller“.71 Die von blankem Egoismus und Gleichmacherei gespeiste ersatzreligiöse Staatsvergötterung vernichte die sinn- und lebenspendende Individualität und münde in einen Nihilismus, mit dem der Tod von Staat und Mensch einhergehe.72 Dabei geht es auch nicht darum, die Herrschaft der „geschwinden Affen“73 durch diejenige der „Übermenschen“ zu ersetzen. „Letzte Menschen“ und „Übermenschen“ sollen als „zwei Arten neben einander bestehen – möglichst getrennt; die eine wie die epikurischen Götter, sich um die andere nicht kümmernd.“74 Eine Wiederannäherung an das Politische75 markiert die Figur des „souveränen Individuums“, die Nietzsche in seiner 1887 erschienen Schrift „Zur Genealogie der Moral“ als „reifste Frucht“ der „Societät“ und der mit ihr verbundenen „Sittlichkeit der Sitte“ präsentiert.76 Mittels der „socialen Zwangsjacke“ unter Einsatz von „Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus“ in einem in vorhistorischer Zeit einsetzenden Prozess berechenbar gemacht, sodann aber der Sittlichkeit der Sitte entwachsen, habe sich das „autonome übersittliche Individuum“ als verlässlicher Träger eines „eignen unabhängigen langen Willens“ vollendet.77 Als „Frucht des Gemeinwesens“78 wird das souveräne Individuum also zum „Thier“ herangezüchtet, „das versprechen darf“; seine Souveränität erheischt „Furcht“ wie „Ehrfurcht“ und erlaubt neben der „Herrschaft über sich“ selbst und die „Umstände“ die Herrschaft über die „Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Creaturen“.79 Damit legt Nietzsche den Grundstein für die Bildung von Recht und die Möglichkeit politischer Zukunftsgestaltung, entsprechend der in „Menschliches, Allzumenschliches“ formulierten Doktrin „ohne Vertrag kein Recht“.80 Man mag Nietzsche von daher zum Kontraktualisten erklären,81 wenn71

Nietzsche (Fn. 62), S. 62. Vgl. Lee (Fn. 59), S. 201 ff.; Kunnas, Politik als Prostitution des Geistes, 1982, S. 83 ff. 73 Nietzsche (Fn. 62), S. 63. 74 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr–Sommer 1883, KSA 10, S. 244. 75 In seinen vier letzten Schaffensjahren laut Gerhardt, Friedrich Nietzsche (1844– 1900), in: Maier/Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. 2, 5. Aufl., 2001, S. 200. 76 Nietzsche (Fn. 59), S. 293. 77 Nietzsche (Fn. 59), S. 293; zu Ausbildung und Vermögen des souveränen Individuums vgl. Stegmaier, Nietzsches ,Genalogie der Moral‘, 1994, S. 136 ff.; u. Höffe, „Ein Thier heranzüchten, das versprechen darf“, in: ders. (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Zur Genealogie der Moral, 2004, S. 72 ff.; zum Zusammendenken von Autonomie und Individualität Himmelmann, Freiheit und Selbstbestimmung. Zu Nietzsches Philosophie der Subjektivität, 1996, S. 155 ff. u. 365 f. 78 Nietzsche (Fn. 74), S. 321; dort spricht Nietzsche auch von der „Moral“ als „Mittel, innerhalb der Individuation zu bleiben“; das „principium individuationis mit aller Moral“ sei für das Individuum eine „erlösende Vision“; vgl. ebd., S. 238. 79 Nietzsche (Fn. 59), S. 291 u. 293 f.; hierzu Körnig, Perspektivität und Unbestimmtheit in Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, 1999, S. 115 ff. 80 Nietzsche (Fn. 37), S. 290. 72

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gleich mit der Einschränkung, dass er den Keim der Staatsentstehung in Machtund nicht in Vertragsverhältnissen sieht: „irgend ein Rudel blonder Raubthiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt und mit der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt.“82 Den Staat mit einem Vertrag beginnen zu lassen, wird demgegenüber als „Schwärmerei“ abgetan: „Wer befehlen kann, wer von Natur ,Herr‘ ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit Verträgen zu schaffen!“83 In „Menschliches, Allzumenschliches“ hatte Nietzsche bereits ein zweistufiges Modell der Normentstehung angedeutet, bei dem in einem ersten Schritt der „Gewaltthätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatsgründer“ die „Schwächeren“ unterwirft, und sodann in einem zweiten Schritt ein „grösseres Individuum oder ein Collectiv-Individuum“ wie der Staat entsteht, das die „Einzelnen . . . aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet.“84 Da der Normativität der Zwang vorausgehe, bedeutet das „Recht“ der Gewalttätigkeit auf der ersten Stufe lediglich: „es giebt kein Recht, welches diess hindern kann.“85 In diesem Sinne „giebt“ die Gewalt nur „das erste Recht“, das noch in „Anmaßung“ gründet.86 Hieran schließen sich Vertragsverhältnisse an, die auf dem Machtkalkül der Beteiligten beruhen, indem ungefähr gleichmächtige Parteien sich schon um der Schonung ihrer Ressourcen willen gewaltfrei arrangieren oder ein Stärkerer Schwächere einbindet und zu schützen verspricht.87 Der im Zentrum dieser Überlegungen stehende Gleichgewichtszustand kann sich auch über den Zusammenschluss Schwacher herstellen, weshalb die „Gemeinde“ für Nietzsche „im Anfang die Organisation der Schwachen zum Gleichgewicht mit gefahrdrohenden Mächten“ darstellt.88 Warum bei erreichtem Gleichgewicht „nicht gut Freund mit einander sein?“89 Und entsprechend gibt es auch überaus gute Gründe, gestörte Gleichgewichtslagen wiederherzustellen. Das Prinzip des Gleichgewichts bildet Nietzsche zufolge die „Basis der Gerechtigkeit“ und liefert den Zentralbegriff „für die älteste Rechts- und Morallehre“.90 Hieraus erklärt sich für Nietzsche 81

Höffe (Fn. 77), S. 70. Nietzsche (Fn. 59), S. 324. 83 Nietzsche (Fn. 59), S. 324. 84 Nietzsche (Fn. 37), S. 96; zur „zweistufigen Betrachtung“ Petersen (Fn. 2), S. 162. 85 Nietzsche (Fn. 37), S. 96. 86 Nietzsche (Fn. 3), S. 770. 87 Subtile Rekonstruktion dieser Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse bei Kerger, Autorität und Recht im Denken Nietzsches, 1988, S. 11 ff. m.w. N. 88 Nietzsche (Fn. 21, Wanderer), S. 555. 89 Nietzsche (Fn. 21, Wanderer), S. 556. 90 Nietzsche (Fn. 21, Wanderer), S. 556; Entschlüsselung dieses komplexen Gleichgewichtsdenkens bei Yang, Die Problematik des Begriffs der Gerechtigkeit in der Philo82

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auch der Befund, dass ein Gemeinwesen „mit erstarkender Macht . . . die Vergehungen des Einzelnen nicht mehr so wichtig“ nimmt, da „sie ihm nicht mehr in gleichem Maasse wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen“.91 Die Kopplung von sozialer Machtlage und Normativität begründet allerdings eine enorme Fragilität rechtlicher Stabilität, da das Recht in hohem Maße im Kalkül und zur Disposition der Machteinheiten steht. Gerade weil Nietzsche die „Liebe zur Macht“ zum „Dämon der Menschen“ erklärt,92 sind für ihn letztlich „Rechtszustände immer nur Ausnahme-Zustände“, die den „eigentlichen Lebenswillen, der auf Macht aus ist“, restringieren.93 Daher wäre eine „Rechtsordnung souverän und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel gegen allen Kampf überhaupt“ in seinen Augen „ein lebensfeindliches Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts.“94 Hier tritt der „Wille zur Macht“ auf den Plan, eine dem Leben inhärente Größe, die auf Wachstum, Steigerung und Erlangung von „Übergewicht“ ausgeht, die das „Leben selbst“ seinem Wesen nach als „Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung“ begreift.95 Wenn Nietzsche 1886 die „Zeit für kleine Politik“ für abgelaufen erklärt und prognostiziert, das „nächste Jahrhundert“ bringe den „Kampf um die Erd-Herrschaft, – den Zwang zur grossen Politik“,96 so hat das 20. Jahrhundert diese Prophezeiungen keineswegs widerlegt. In der Floskel von der großen Politik artikuliert sich der „Wille zum höchsten Menschen, zum Übermenschen“, wie Karl Jaspers schreibt,97 aber nicht mehr in apolitischer Konzentration auf die individuelle Selbstüberwindung, sondern in Form einer „Herrschaftslehre“98, die die „Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste“ ins Auge fasst.99

sophie von Friedrich Nietzsche, 2005, S. 46 ff.; vgl. weiter Gerhardt, Das „Princip des Gleichgewichts“, in: ders., Pathos und Distanz, 1988, S. 98 ff. 91 Nietzsche (Fn. 59), S. 308. 92 Nietzsche (Fn. 21, Morgenröthe), S. 209. 93 Nietzsche (Fn. 59), S. 312 f., betrachtet „vom höchsten biologischen Standpunkte“ aus. 94 Nietzsche (Fn. 59), S. 313. 95 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, S. 207, weshalb sich Gewaltenthaltung nicht zum „Grundprincip der Gesellschaft“ eignet. Weiterführend Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, 1971, S. 10 ff.; ders., Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, Nietzsche-Studien 3 (1974), S. 1 ff.; Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 1996, S. 85 ff. 96 Nietzsche (Fn. 95), S. 140. 97 Jaspers, Nietzsche, Nachdruck der 4. Aufl., 1981, S. 289. 98 Ottmann (Fn. 29), S. 239. 99 Nietzsche (Fn. 95), S. 195.

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Züchtung zielt dabei weniger auf einen biologistisch-rassistischen darwinistischen100 Zuschnitt als denn auf Erziehung und kulturelle Heranbildung; Nietzsche spricht denn auch von einem „Züchtungs- und Erziehungswerke“.101 Noch in der letzten Abhandlung, die er im Herbst 1888 nur Wochen vor seinem geistigen Zusammenbruch fertigstellt, kontrastiert Nietzsche den „höherwertigen, lebenswürdigeren, zukunftsgewisseren“ Typus Mensch mit dem „Herdenthier“, für ihn das „kranke Thier Mensch“, der „Christ“.102 Hiermit verband er eine den Menschen verkleinernde Herdenmoral, gerichtet auf Mitleid, Güte und Demut, auf die moralstrategische Unterwerfung der Starken, deren Überlegenheit ins Böse abgleitet, insgesamt eine von den Unterlegenen ersonnene Pervertierung der alten vor-moralischen Identifizierung von gut mit vornehm und mächtig. Entsprechend lautet seine Zeitdiagnose im Spätwerk: „Wir sehen heute Nichts, das grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch abwärts, abwärts geht, in’s Dünnere, Gutmüthigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmässigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere“.103 Dem korrespondiert die Einschätzung, die „moderne Demokratie sammt ihren Halbheiten“ bilde eine „Verfallsform des Staats“.104 Hinsicht des Allgemeinwohls erklärt Nietzsche, „es giebt kein solches Allgemeines“,105 und hinsichtlich der „Lehre von der Gleichheit“, es „giebt gar kein giftigeres Gift“.106 In einem die prinzipielle Gleichheit aller Menschen leugnenden Sinne formuliert er im Nachsatz die „wahre Rede der Gerechtigkeit“: „Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches“. Nietzsches Gesellschaftsmodell letzter Hand favorisiert angelehnt an das Gesetzbuch des Manu eine dreigeteilte „Ordnung der Kasten“, die keine Willkür darstelle, sondern lediglich die „Natur-Ordnung, Naturgesetzlichkeit“ sanktioniere.107 In der Schichtung nach 100 Zu seiner Zurückweisung des Darwinismus als „Philosophie für Fleischerburschen“, seinem Anti-Antisemitismus und seiner Auffassung, Rassenmischung sei „der Quell großer Cultur“ vgl. Ottmann (Fn. 55), S. 246 f. m.w. N.; zur Entschärfung der legendären „blonde Bestie“ zur „flava bestia der Römer“ als „Sinnbild des freien Geistes“ ebd., S. 246. 101 Nietzsche (Fn. 95), S. 79. 102 Nietzsche (Fn. 35), S. 170; an dieser Stelle findet sich auch das die Grenzen der Nietzsche-Apologetik erreichende Zitat: „Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.“ 103 Nietzsche (Fn. 59), S. 278. Zum „Sklavenaufstand in der Moral“, der die prämoralische Gleichsetzung des Guten mit dem vornehmen Starken pervertiere, vgl. Hofmann, Nietzsche (1844–1900), in: Maier u. a. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. 2, 1987, S. 288 m.w. N.; vgl. weiter Schweppenhäuser, Nietzsches Überwindung der Moral, 1988, S. 14 ff. 104 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, KSA 6, S. 141. 105 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, November 1887–März 1888, KSA 13, S. 47. 106 Nietzsche (Fn. 104), S. 150. 107 Nietzsche (Fn. 35), S. 242; Knoll (Fn. 33), S. 178 f., erblickt deswegen in Nietzsche einen Vertreter antiken Naturrechtsdenkens und bezieht dessen explizite Zurückweisung des Naturrechts und -unrechts nur auf die neuzeitliche Variante.

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„vorwiegend Geistigen“, vornehmen Kriegern und Mittelmäßigen sollen König und Richter der zweiten Kaste entstammen, quasi die „Exekutive der Geistigen“, während die erste Kaste der bevorrechtigten „Wenigsten“ sich dem „Asketismus“ und dem „Schönen“ widmet.108 Die Vertreter der hohen Geistigkeit bestimmen zwar den König, schaffen sich aber „Ruhe vor dem Lärm und der Mühsal des gröberen Regierens und Reinheit vor dem nothwendigen Schmutz alles PolitikMachens“.109 Wie in seinem anfänglichen antikisierenden Modell rechtfertigt ihr Leben und Werk „das Opfer einer Vielzahl von Menschen“, im aristokratischen Grundglauben, „dass die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen . . . zu einem höheren Sein emporzuheben vermag“.110 Das Ziel politischer „Herrschafts-Gebilde“ bildet eine der „härtesten Selbst-Gesetzgebung“ entspringende „Herren-Rasse“ philosophischer „Gewaltmenschen“ und „Künstler-Tyrannen“.111 Wie die Vielzahl der Menschen bildet der Staat nicht mehr als ein Instrument hierzu, „als organisirte Gewaltthätigkeit“ allerdings ein prinzipiell gefährliches, da „der ungeheure Wahnsinn im Staat“ schnell den Einzelnen in einer Weise überwältigt, dass er im Gehorsam „die Verantwortlichkeit für das, was er thut, ablehnt.112 Die Einschätzung, dass in seinem arbeitsteiligen, von Gehorsamspflichten wie -tugenden geprägten Rahmen „eine große Menge Dinge thut, zu denen der Einzelne sich nie verstehen würde“,113 verrät eine Einsicht, die bereits wenige Jahrzehnte nach Nietzsches Tod eine schaurige Plastizität gewann. IV. Der Mensch der Menschenwürde Nietzsche verwirft die Vorstellung einer Würde des Menschen, weil sie auf vier Grundirrtümern des Menschen über sich selbst beruhe. Sich selbst nur „unvollständig“ erkennend, aber sich „erdichtete Eigenschaften“ beilegend, habe sich der Mensch „in einer falschen Rangordnung zu Thier und Natur“ gefühlt und „immer neue Gütertafeln“ für „eine Zeit lang als ewig und unbedingt“ postuliert. Mit diesen Irrtümern entfielen auch „Humanismus, Menschlichkeit und ,Menschenwürde‘“.114 Die „schönen Verführungs- und Beruhigungsworte“115 dienten

108 Nietzsche (Fn. 35), S. 242 f.; hierzu Polin, Nietzsche und der Staat, in: Steffen (Hrsg.), Nietzsche. Werk und Wirkungen, 1974, S. 37 f. 109 Nietzsche (Fn. 95), S. 80. 110 Nietzsche (Fn. 95), S. 207, „vergleichbar jenen sonnentüchtigen Kletterpflanzen auf Java“. 111 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885–Herbst 1886, KSA 12, S. 87. 112 Nietzsche (Fn. 105), S. 97. 113 Nietzsche (Fn. 105), S. 187; aus diesem Grund nennt Nietzsche den Staat auch „die organisirte Unmoralität“ (ebd.) und einen „Wahnsinn“ (ebd., S. 97). 114 Zum Vorstehenden Nietzsche (Fn. 21, Wissenschaft), S. 474. 115 Nietzsche (Fn. 22), S. 117.

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nur dazu, gegen das „Nicht-gleich-gestellt-sein“ zu protestieren und so „jene liebe Eitelkeit“116 zu befriedigen, weil man doch immerhin ungeachtet der Ermangelung anderer Eigenschaften die gleiche Würde teile. Die Würde des Menschen sei eine „erträumte“,117 weil auf falschen anthropologischen Voraussetzungen beruhend. Zunächst überschätze der Mensch seine Vernunft, stilisiere ihre Leistung als Erkenntnis objektiver Wahrheit, während sie in Wirklichkeit nur ein evolutionär entstandenes Mittel zur Überlebenssicherung und Machtsteigerung darstelle.118 Namentlich das Bewusstsein entschlüsselt Nietzsche als Erfindung von Priestern, die sich auf diese Weise ein Recht zur Bestrafung angeblich freier und damit verantwortlicher Menschen zu verschaffen suchten.119 Hieraus resultiert eine Erschütterung jeder vernunftbezogenen Begründung menschlicher Würde. Nietzsches Angriff auf die erdichteten Eigenschaften des Menschen gilt dem freien Willen, der immateriellen Seele und der Göttlichkeit im Menschen, letztlich seiner Gottebenbildlichkeit und damit auch hergebrachten Begründungsansätzen für eine spezifische Würde des Menschen.120 Seit Kopernikus scheine der Mensch „auf eine schiefe Ebene gerathen“ und rolle „immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg“;121 üblicherweise wird die Liste der Kränkungen des Menschen heute ergänzt um Darwin und Freud, dessen Hauptthesen sich vielfach bereits bei Nietzsche vorweggenommen oder zumindest angedeutet finden.122 Wenn Nietzsche an der zitierten Stelle schreibt, der Mensch sei „Thier geworden, Thier, ohne Gleichnis, Abzug und Vorbehalt“, illustriert dies die von ihm gerügte falsche Rangordnung im Verhältnis Mensch und Tier. Das nur noch durch wechselnde Prädikate exponierte Tier – krank, künstlich, verlogen, undurchsichtig, leidend lachend, im Superlativ grausam, listig und ausdauernd – verliert seine würdebegründende Exklusivstellung.123 Immerhin „ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrund“, stehe der Mensch im „grosse[n] Mittag . . . auf der Mitte seiner Bahn . . . zwischen Thier und Übermensch“.124 Dennoch lässt Nietzsche den Menschen aus dieser Übergangs- und Vorbereitungsstellung kein Kapital für eine herausgehobene Würde schlagen. Seine Kritik gilt schlussendlich den immer aufs Neue als ewig imaginierten Gütertafeln, die er genealogisch decodiert, seinem erkenntnistheoretischen Perspektivismus folgend in den Schablonen einer Herren- und Sklaven116

Nietzsche (Fn. 37), S. 296. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Februar 1871, KSA 7, S. 355. 118 Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche, 2010, S. 153 ff. m.w. N. 119 Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1888, KSA 13, S. 425; Sorgner (Fn. 118), S. 161 f. 120 Im Einzelnen Sorgner (Fn. 118), S. 166 ff. m.w. N. 121 Nietzsche (Fn. 59), S. 404. 122 Hierzu einsetzend mit dem „Plagiatsverdacht gegen Freud“ Gasser, Nietzsche und Freud, 1997, S. 3 ff. 123 Reihung der Prädikate bei Sorgner (Fn. 118), S. 183 ff. m.w. N. 124 Nietzsche (Fn. 62), S. 16 u. 102. 117

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moral.125 Die Perspektivierung aller in beständiger Entwicklung begriffener Werte, die sich als Emanationen des Willens zur Macht erwiesen, führt schließlich zu einer Kontingenz, die auch die Menschenwürde ergreift. Mehr als die Würde eines Werkzeugs, eines Mittels im Dienste des Genius wollte bereits der frühe Nietzsche, wie gesehen, dem Menschen nicht zugestehen. Auf Nietzsches Konzept und Kritik, die in vielem an moderne Debatten um die Willensfreiheit und naturwissenschaftliche Verortung des Menschen erinnern, wird das Plädoyer gestützt, den „Menschenwürde-Begriff“, wie er Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG zugrunde liegt, als „unzeitgemäß“ zu verwerfen, zumindest zu revidieren.126 Der Mensch der Menschenwürde nehme eben keine entsprechende „Sonderstellung“ ein und trage keine „nicht abstufbaren Eigenschaften“; die mit der Menschenwürde verbundenen „metaphysischen und anthropologischen Implikationen“ seien mit den „Grundlagen einer liberal-demokratischen und pluralistischen Gesellschaft“ unvereinbar.127 Trans- und posthumanistisch informiert und inspiriert wird jedenfalls die Umwandlung in einen „graduellen“ Würdebegriff verlangt, der zudem den Kreis menschlicher Träger übersteige.128 Das hier profilierte neue Bild des sich nur graduell, aber „nicht kategorial von anderen natürlichen Wesen“ unterscheidenden Menschen129 scheint allerdings davon auszugehen, dass sich der Mensch noch immer der Extension und Grenzen seiner Gattung gewiss sein kann. In den Margen dieser Bestimmbarkeit ist es dem Menschen unbenommen, sich selbst eine spezifische Würde zuzuschreiben, auch eingedenk und möglicherweise gerade wegen ihrer Fragilität und Fiktionalität. Natürlich stehen die in gewissem Sinne kontrafaktischen normativen Zuschreibungen unter dem Belastungsdruck gesellschaftlicher Selbstverständigungsprozesse – mit einer geschichtlichen Kraft, die ganze Verfassungssysteme fort- oder jedenfalls unterspülen kann. Nicht zufällig erlebt die geisteswissenschaftliche und juristische Beschäftigung mit der Menschenwürde derzeit eine Hochkonjunktur, bemüht um Dammbau und Selbstaffirmation. Die Verteidigungslinien einer allen Menschen gleichermaßen zukommenden, „schlicht im Menschsein“ gründenden Menschenwürde wollen dabei nicht nur in Abwehr einer Auflösung des speziesspezifischen Schutzes, sondern ebenso gegenüber nichtegalitären oder hierarchischen Würdezuschreibungen im Kreis der Menschen gezogen wer-

125 Im Einzelnen Sorgner (Fn. 118), S. 193 ff. m.w. N.; zur damit verbundenen interpretatorisch hermeneutischen Auflösung des Willens zur Macht Vattimo, Friedrich Nietzsche, 1992, S. 81 f.; zur Verbindung von erkenntnistheoretischem Perspektivismus mit der Kunst der Gerechtigkeit vgl. Kaulbach, Die Tugend der Gerechtigkeit und das philosophische Erkennen, in: Berlinger/Schrader (Hrsg.), Nietzsche kontrovers I, 1981, S. 59 ff. 126 So von Nietzsche herkommend Sorgner (Fn. 118), S. 262 ff. m.w. N. 127 Sorgner (Fn. 118), S. 262. 128 Sorgner (Fn. 118), S. 263. 129 Sorgner (Fn. 118), S. 266.

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den.130 Der Absolutheitsanspruch der Menschenwürde richtet sich gegen Graduierungen jeder Art, sowohl intern innerhalb der Menschengattung als auch extern im Verhältnis zur nichtmenschlichen Umwelt. V. Individuum als gewaltsame anthropomorphe Abstraktion Nietzsches Reserve gegenüber einem jeden einzelnen Menschen gleichermaßen einbeziehenden und anerkennenden Individualismus resultiert aus einem Denken von der „Rangordnung“ her, das von der „Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch“ ausgeht und das „Pathos der Distanz“ pflegt.131 Auf den je einzelnen Menschen abzustellen, widerstreitet Nietzsche zufolge auch der Herkunft des Menschen, der als „Theil eines Ganzen“ begonnen habe, das den Einzelnen „zu seinem Organ“, zu einem „Organ des Gemeinwesens“ machte.132 Ganz an die „Affekte der Gesellschaft“ gebunden, fürchtet und hasst der Mensch als „Mitglied“, namentlich an Carl Schmitt erinnernd, „nicht seinen persönlichen Feind, sondern den öffentlichen“.133 Der Einzelne unterliege vollends der Formung und Erziehung durch die Gesellschaft, weshalb der Staat auch „ursprünglich“ nicht die Individuen unterdrücke, denn „diese existiren noch gar nicht“, abgesehen „höchstens“ von einem „Kernpunkt“, einem „Häuptling“, um den sich die anderen scharen.134 Erst allmählich entstünde durch äußere und innere Kämpfe die „Existenzmöglichkeit als Individuum“, allerdings gingen die meisten „Versuchs-Individuen“ wieder zugrunde, nicht ohne zum Teil auch die „Gebilde“ zugrunde zu richten, aus denen sie herkämen.135 Die „Ethiker“ träten ihnen unter Berufung auf ein „ewiges Sittengesetz“ entgegen; die Chinesen hielten „große Männer für ein nationales Unglück“ und Individuen gelten als „Zeichen des Verfalls“.136 Aber auch der Individualismus führt Nietzsche zufolge nicht zu einer vollständigen Herauslösung aus der Gesamtheit, zumal auch im „erwachten Individuum . . . der Urbestand der Heerdengefühle noch übermächtig“ sei und der Mensch noch immer „gleiche Rechte mit den Anderen“ wolle.137 Das belegten auch die nur „scheinbar“ entgegensetzten Züge des modernen Europäers, einerseits das „Indivdualistische“, andererseits die „Forderung 130 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 22; die Ablehnung der von Niklas Luhmann begründeten sog. Leistungstheorie erfolgt denn auch auf Grund der in ihr gelegenen „Aussonderung“ (ebd., S. 22). 131 Nietzsche (Fn. 95), S. 205. 132 Nietzsche (Fn. 47), S. 510 f. 133 Nietzsche (Fn. 47), S. 510. 134 Nietzsche (Fn. 47), S. 511. 135 Nietzsche (Fn. 47), S. 511 u. 604. 136 Nietzsche (Fn. 47), S. 512 u. 552; mit der „Tendenz zur Verewigung des Staates“ gehe die „Abnahme der Individuen und Unfruchtbarkeit des Ganzen“ einher (ebd., S. 552). 137 Nietzsche (Fn. 47), S. 531.

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gleicher Rechte“.138 Als „bescheidene und noch unbewusste Art des ,Willens zur Macht‘“ begnüge sich der Individualismus damit, von der gesellschaftlichen Übermacht „freizukommen“, aber der Einzelne stellt sich dabei „nicht als Person in Gegensatz“, sondern „vertritt alle Einzelnen gegen die Gesammtheit.“139 Dabei setze er sich „instinktiv gleich mit jedem Einzelnem“ und erkämpfe nichts für sich als unterschiedene „Person“.140 In ähnlicher Weise unterscheidet Nietzsche die „eingebildeten Individuen“ auf der einen und die „wahren ,Lebenssysteme‘, deren jeder von uns eins ist“, auf der anderen Seite.141 Dass der Einzelne in der Gliedstellung „sein Wesen zertheilt“ und einen Teil von sich „zum Opfer bringt“, hatte Nietzsche bereits früher betont und insofern die Bezeichnung „dividuum“ statt „individuum“ gewählt.142 Die von Nietzsche getroffene Unterscheidung von gliedhafter Individualität und konkretem leibhaftem Leben wirft in der Folge auch ein Schlaglicht auf die Konzeption von Menschenrechten und Menschenwürde, je nachdem ob den Schutzgehalt eine typisierte, gliedmäßig zugeschnittene Position „des“ objektivierten Menschen oder die ebenso subjektive wie situative Lage der je einzelnen Menschen bestimmt. Nietzsche legt den Akzent demgegenüber auf die Rangordnung unter den Menschen, die sich für ihn an der Frage ausrichtet, „wie solitär oder wie heerdenhaft Jemand ist“.143 Dass die meisten Menschen ihm zufolge keine „Personen“ sind, hängt an den hohen Anforderungen, die die Personwerdung an den Einzelnen stellt. Die Person als ein „relativ isolirtes Faktum“ entstehe eben nicht schon durch die Befreiung von äußeren Pressionen, sondern erfordere eine „zeitige Isolirung“, den „Zwang zu einer Wehr- und Waffen-Existenz“ und eine „geringere Impressionalität“.144 Der „freieste Mensch“ habe den „verhältnismäßig größten Kampf in sich“, eine immense Komplexität starker und gleichwohl geordneter Kräfte, verbunden mit einem inneren Machtgefühl und enormen „Wissen über 138

Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, August–September 1885, KSA 11, S. 642. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1887, KSA 12, S. 502 f.; auch die „große Menge von Sklaven und Halbsklaven“ wolle „zur Macht“, mache sich auf einer ersten Stufe „frei“, kämpfe auf einer zweiten um „Anerkennung, gleiche Rechte, ,Gerechtigkeit‘ “, ziele auf einer dritten Stufe auf „Vorrechte“ und erstrebe auf einer vierten Stufe „die Macht allein“ (ebd., S. 499). Man wolle „Freiheit, so lange man noch nicht die Macht hat“, habe man sie, wolle man „Übermacht“; erringe man diese nicht, weil man noch zu „schwach“ sei, wolle man „,Gerechtigkeit‘, d.h. gleiche Macht“ (ebd., S. 504). 140 Nietzsche (Fn. 139), S. 503. 141 Nietzsche (Fn. 47), S. 443. 142 Nietzsche (Fn. 37), S. 76; bezogen auf internalisierte moralische Zumutungen. Vom „Individuum ohne Individualität“ spricht Kuss, Der Staat in der Philosophie Nietzsches, Diss. iur. Freiburg, 1982, S. 296, und vom „Individuum als ,kollektiver Begriff‘“ Losurdo, Nietzsche der aristokratische Rebell, Bd. 2, 2009, S. 960 ff., bezogen nun auch auf Nietzsches Privilegierung einer elitären Gemeinschaft, eine „Verflechtung von Individualismus und Anti-Individualismus“. 143 Nietzsche (Fn. 139), S. 492. 144 Nietzsche (Fn. 139), S. 492. 139

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sich“.145 Er schildert im „Zarathustra“ die „drei Verwandlungen“ des Geistes vom lastentragenden Kamel über den die Freiheit des „Ich will“ erbeutenden Löwen, der mit dem großen Drachen des „Du sollst“ um den Sieg ringt, hin zum unschuldigen Kind, dem „heraklitischen Weltenkind“,146 das spielend schafft, neu beginnt und seine Welt gewinnt wie „ein aus sich rollendes Rad“.147 Nicht auf ein vererbbares Resultat fixierbar, sondern selbst „der ganze Prozeß in gerader Linie“, verliert das „Einzelwesen“148 in den zukunftsgerichteten Selbstentwürfen die Gestalt eines abgeschlossenen Individuums. Individuum wie Gattung erscheinen als etwas „Flüssiges“,149 das Individuum selber als „Irrthum“, ein „Glaube“, „eine ,Einheit‘, die nicht Stand hält“.150 Unter der Überschrift „Zur logischen Scheinbarkeit“ nennt Nietzsche die Begriffe „Individuum“ wie „Gattung“ sprachkritisch „gleichermaßen falsch und bloß augenscheinlich“, der „Nöthigung“, Begriffe zu bilden, geschuldet, so dass in der Folge die Welt „uns logisch“ erscheint, „weil wir sie erst logisirt haben“.151 Da wir uns selbst für Einheiten hielten, hätten wir ausgehend „von unserem ,Ich‘begriff“ den Begriff „Ding“ gebildet, das „Atom“ erfunden und begonnen, in Einheiten zu rechnen.152 Die Basis des Individualbegriffs ist damit nicht mehr als ein „psychologisches Vorurtheil“, das allerdings unseren „ältesten Glaubensartikel“ bezeichne.153 Der nicht aus dem „Wesen der Dinge“ entstammende „Gegensatz von Individuum und Gattung“ offenbare sich daher als „anthropomorphisch“.154 Pointe dieser Aufklärung ist das Plädoyer, „schrittweise“ zu lernen, „das vermeintliche Individuum abzuwerfen“ und jenseits von „Egoismus“ und nicht minder egoistischem „Altruismus“ über „mich“ und „dich“ hinaus endlich „kosmisch“ zu empfinden.155 145

Nietzsche (Fn. 139), S. 488. Löwith, Friedrich Nietzsche, nach sechzig Jahren, in: ders., Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, 1960, S. 139; vgl. auch ders., Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, 3. Aufl., 1979, S. 40 ff., u. Wellner, Allgemeinheit und Individualität – Nietzsches Kritik am metaphysischen Denken Europas, in: Goedert/Nussbaumer-Benz (Hrsg.), Nietzsche und die Kultur – ein Beitrag zu Europa?, 2002, S. 171. 147 Nietzsche (Fn. 62), S. 31. 148 Nietzsche (Fn. 139), S. 349. 149 Nietzsche (Fn. 139), S. 385. 150 Nietzsche (Fn. 47), S. 443. 151 Nietzsche (Fn. 139), S. 417 f. Die allgemeinen Begriffe, Vernunft, Moral wie auch die Forderung von Gleichheit und Gerechtigkeit enthüllt Nietzsche als „Wille zur Macht“, dessen unausweichliche Präsenz Losurdo (Fn. 142), S. 976, zufolge in eine „Metakritik“ mündet, die nachzuweisen suche, „dass jede Kritik am Willen zur Macht und zur Herrschaft sich selbst widerspricht“. 152 Nietzsche (Fn. 119), S. 258 f. 153 Nietzsche (Fn. 119), S. 258 f. 154 So bereits Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, KSA 1, S. 880. 155 Nietzsche (Fn. 47), S. 443. 146

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Nietzsches „zirkuläre Dynamisierung des Verhältnisses von Individuellem und Allgemeinem“156 führt über die Erfassungs- und Begriffskraft der Rechts- und Staatsphilosophie hinaus und sprengt die Welt der allgemeinen Regeln des Rechts wie einer darauf gegründeten Staatlichkeit. Die juridische Rasterung verfehlt Nietzsches kosmische Auflösung des Individuellen und den nicht mehr abstrakt kategorisierbaren Lebensprozess. Die hilflose Masse klammert sich an die Schemata der Vernunft und stellt sich mit den Gesetzen auf scheinbar „festes Land“, sie sucht Nietzsche zufolge letztlich „einen großen Menschen, einen Steuermann, vor dem sich die Gesetze selber auswischen“.157 Aus der „Höhe“ anerkennt Nietzsche aber die Berechtigung, die Notwendigkeit und den Antagonismus sowohl der „Heerde“ und des ihr entsprechenden individuellen Typus als auch des „solitären Typus“.158 Dabei entzieht sich die auf einer unerreichbaren Metaebene angesiedelte Solitär-Person den juridischen Schablonen, auch wenn diese noch so großzügige Freiheitsbereiche gewähren sollten. Keine Selbstbegrenzung, sondern eine Selbstaufgabe wäre es, wenn das Recht den Solitär entweder gänzlich freistellte oder ihm umgekehrt jedwede Rechtsmacht einräumte. Nietzsche belehrt, enttäuscht und überfordert unser Rechts- und Staatsdenken.

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Wellner (Fn. 146), S. 172 mit Folgerungen S. 176 f. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Winter 1884/85, KSA 11, S. 389. 158 Nietzsche (Fn. 139), S. 492, während ihre Annäherung und Aussöhnung als „Entartung“ abgelehnt wird (ebd., S. 492 f.). Vgl. weiter Löhr, Jenseits von Moderne und Postmoderne, in: Schönherr-Mann (Hrsg.), Der Wille zur Macht und die „große Politik“, 2010, S. 124 ff. 157

Entwicklungstendenzen des demokratischen Verfassungsstaates zwischen Recht und Politik Von Herbert Schambeck „In einem langwierigen politischen, sozialen und rechtlichen Entwicklungsprozess wurde“ der Staat „Verfassungsstaat, ein Staat, dessen Gestalt und Funktionen sowie dessen grundlegende Abgrenzung zu den Individuen durch eine nach bestimmten Prinzipien zielbewusst ausgerichtete, rechtliche Grundordnung bestimmt wurden. Dieser Verfassungsstaat wurde in den letzten 200 Jahren zum festen Besitz vieler Staaten und zu einem selbstverständlichen Bestand unseres Denkens. Mit gutem Grund sind wir bestrebt, ihn zu einem Baustein einer soliden Organisation der Gemeinschaft der Völker zu machen, auch wenn wir wissen, dass die Welt um uns viele Prinzipien dieses freiheitlichen demokratischen Rechtsstaates bekämpft. Weil wir überzeugt sind, dass die Idee des konstitutionellen Staates die für das Leben der Menschen in einer Gemeinschaft beste Form des Staates ist, müssen wir uns beständig Rechenschaft über ihre wesentlichen Inhalte geben.“ 1

Diese Feststellung betreffend der Pflicht zur Rechenschaft über die Inhalte des Verfassungsstaates traf Klaus Stern in seiner Festrede 1984 anlässlich der 125Jahrfeier der Berliner Juristischen Gesellschaft, als es noch die Teilung Berlins, Deutschlands und Europas gab. Sechs Jahre später ist die Mauer, die durch Berlin und Deutschland ging, zu Fall gekommen, weil die Menschen für jenes natürliche Recht, das ihnen mehr oder weniger als Begriff nicht deutlich geläufig war, aber dessen sie sich bewusst waren, auf die Straßen gingen, um agierend und demonstrierend eine neue Ordnung herbeizuführen, die Humanität und Legalität verbindet. Hermann van Rompuy hat es betont: „Die Menschen in Osteuropa selbst nahmen außerdem nicht nur die wirtschaftliche Vormachtstellung des Westens war, sondern vor allem ihren eigenen Mangel an Freiheit. Der Unterschied zwischen West und Ost ist nicht die Höhe des Bruttoinlandsprodukts, sondern vielmehr die Werte, die der Gesellschaft zugrunde liegen – kurz, der Unterschied zwischen menschlich und unmenschlich. Die jungen Ostdeutschen flüchteten nicht, weil sie Hunger hatten, sondern weil sie nach Freiheit dürsteten. Sie haben die Berliner Mauer durchbrochen, wie einst JOSUA die Mauern von Jericho unter seinen Posaunenklängen fallen sah.“ 2 1 Klaus Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 91, Berlin/New York 1984, S. 8. 2 Hermann van Rompuy, Christentum und moderne Werte für die Zukunft Europas, Kevelaer 2010, S. 52.

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Das Bonner Grundgesetz 1949 hat schon vierzig Jahre vor dem Fall der Mauer diesen Weg Deutschlands „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands“ zu vollenden in seiner Präambel gefordert, welche durch die politische Entwicklung Deutschlands vor mehr als zwanzig Jahren plebiszitär herbeigeführt und konstitutionell verwirklicht zustande kam. Stern hat diesen Weg deutscher Verfassungsstaatlichkeit als Autor beginnend schon 1977 in den sieben Bänden „Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland“ 3 und als Herausgeber4 maßgeblicher Werke staatsrechtswissenschaftlich richtungsweisend begleitet. I. Gerade dieser Weg Deutschlands zeigt das Spannungsfeld, in dem sich in der Beziehung vom Einzelnen und Staat der demokratisch gewordene Konstitutionalismus befindet. Für diesen gilt auch in den Tendenzen seiner Entwicklung am Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts das, was Max Imboden vor fünfzig Jahren bereits festgestellt hat: „Was sich im sozialen Gefüge als ,Struktur‘ manifestiert, ist nur der Widerschein von Vorgängen, die sich im Inneren des Menschen vollziehen. ,Innen‘ und ,Außen‘ sind letztlich eines. Es gibt nur eine Wirklichkeit im sozialen Zusammensein der Menschen: die aus der Erfüllung der eigenen Persönlichkeit geschaffene Beziehung zum anderen.“ 5

3 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I: Grundbegriffe und Grundlagen des Staatsrechts, Strukturprinzipien der Verfassung, 2., völlig neu bearbeitete Aufl., München 1984; Bd. II: Staatsorgane, Staatsfunktionen, Finanz- und Haushaltsverfassung, Notstandsverfassung, München 1980; Bd. III/1: Grundlagen und Geschichte, nationaler und internationaler Grundrechtskonstitutionalismus, juristische Bedeutung der Grundrechte, Grundrechtsberechtigte, Grundrechtsverpflichtete, München 1988; Bd. III/2: Grundrechtstatbestand, Grundrechtsbeeinträchtigungen und Grundrechtsbegrenzungen, Grundrechtsverluste und Grundpflichten, Schutz der Grundrechte, Grundrechtskonkurrenzen, Grundrechtssystem, München 1994; Bd. IV/1: Existenz, Persönlichkeit und Rechtsstellung des Menschen, Aufenthalt im Staatsgebiet, Allgemeines Freiheitsrecht, Bewegung, Assoziation und Kommunikation, Medien, wirtschaftliche Entfaltung, München 2006; Bd. IV/2: Die einzelnen Grundrechte, München 2011 und Bd. V: Die Entwicklung der deutschen Staatlichkeit, die Errichtung des deutschen Nationalstaates, deutsche Staatlichkeit nach 1945: Teilung und Wiedervereinigung, München 2000. 4 s. vor allem Klaus Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz, Entstehung, Bewährung und internationale Ausstrahlung, München 1990; Deutsche Wiedervereinigung. Die Rechtseinheit, Köln/Berlin/Bonn/München 2001, und ders. (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Verfassungsverbund, München 2010; beachte aber auch Germania restituta, Wissenschaftliches Symposion anlässlich des 60. Geburtstages von Klaus Stern am 11. Januar 1992 in der Universität zu Köln, hrsg. vom Kreis seiner Schüler J. Burmeister, M. Nierhaus, F. Ossenbühl, G. Püttner, M. Sachs, P. J. Tettinger, Köln/Berlin/Bonn/München 1993. 5 Max Imboden, Die politischen Systeme, Basel/Stuttgart 1962, S. 12.

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Imboden hat in dieser seiner Feststellung auf den dialoghaften Charakter der Rechtsgeltung hingewiesen, welche allgemein gesehen in der Beziehung von Normsetzer und Normadressaten sowie von Staat und Bürger im Besonderen gilt. Diese Beziehung ist auch mitbestimmend für die Entstehung und den Bestand der Geltung6 von Normen, für die auch Hans Kelsen in der von seiner „Reinen Rechtslehre“ getragenen rechtspositivistischen Rechtsbetrachtung erklärte, dass diese Rechtsgeltung von der Wirksamkeit der Norm abhängig ist, da „eine Norm, die nirgends und niemals angewendet und befolgt wird, das heißt, eine Norm, die – wie man zu sagen pflegt – nicht bis zu einem gewissen Grad wirksam ist, nicht als gültige Rechtsnorm angesehen“ wird.7 Dieser geradezu dialoghafte Charakter der Rechtsgeltung zeigt sich vor allem in den beiden wesentlichen Teilen der demokratischen Verfassungsordnungen, welche einerseits den Aufbau und die Organisation des jeweiligen Staates und andererseits die Stellung des Einzelnen in den Grundrechten grundlegen.8 Diese verfassungsrechtliche Zweiteilung in den Staatsrechtsordnungen geht auf den Einfluss zurück, der im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts von der nordamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung ausging, als die selbständig gewordenen Kolonien der englischen Krone zu Staaten werden, Verfassungen dadurch bekamen, dass sich die Pflanzungsverträge in ihren Charten zu Konstitutionen verwandeln, die eine Zweiteilung in Bill oder Decleration of Rights und Plan oder Frame of Government, nämlich Bestimmungen über die Rechte des Einzelnen und über den Aufbau sowie die Organisation des Staates beinhaltet hatten.9 Diese beiden Grundelemente aus der Frühzeit der späteren Vereinigten Staaten von Amerika wurden prägend für die nordamerikanische Verfassungsentwicklung und über diese für die Entwicklung der französischen Verfassungen 1789–1791 und hernach wegweisend für die Verfassungen Europas.10 Auf diese Weise wurde der Verfassungsstaat, wie es bereits James Madison zu Recht in den Federalist Papers feststellte, „the greatest of all reflections on human nature“ 11.

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Näher Herbert Schambeck, Ethik und Staat, Berlin 1986, S. 64 ff., bes. S. 78 ff. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 10, beachte auch S. 215 ff. 8 s. zur Entwicklung dieser Verfassungsrechtsordnung besonders Carl Joachim Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1953. 9 Beachte Samuel Eloit/Morison Henry Steele Commager/William E. Leuchtenburg, The Growth of the American Republic, Volume one, 7th edition, New York/Oxford 1980, S. 209 ff., und Dokumente zur Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, eingeleitet von Herbert Schambeck und gemeinsam herausgegeben mit Helmut Widder und Marcus Bergmann, erweiterte 2. Aufl., Berlin 2007, bes. S. 94 ff. 10 Beachte Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S. 515 ff. 11 Hamilton-Madison-Jay, The Federalist Papers, Middletown, CT: Wesleyan University Press, 1961, Nr. 51, S. 322. 7

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Diese von den USA ausgehende Verfassungsentwicklung, welche die Humanität mit der Konstitutionalität verbunden hat, konnte sich in Europa mit einem Prozess der Rechtsentwicklung verbinden, der auf Grund des Rationalismus zu den Kodifikationen des Rechts durch das Vernunftsrecht als Wegbereiter zunächst in den Kodifikationen des privaten Rechts in den Naturrechtsgesetzbüchern12 und hernach vor allem durch die Symbiose von Demokratismus und Liberalismus im demokratischen Rechts13- und Verfassungsstaat besonders zur Sicherung der politischen Freiheit14 führte. II. Es ist rechtssystematisch und rechtshistorisch hervorhebenswert, dass es zunächst zu den Kodifikationen des privaten und erst hernach zu jenen des öffentlichen Rechts gekommen ist, obgleich nach der von Adolf Merkl entwickelten Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung15, welche die Reine Rechtslehre von Kelsen dynamisierte16, zunächst das öffentliche und dann erst das private Recht positiviert werden sollte. Die Entwicklung der Rechtsordnung verlief aber anders. Erst dadurch, dass als Folge der Symbiose von Demokratismus und Liberalismus der Verfassungsstaat entstand und das Handeln des Staates vorhersehbar und berechenbar durch die Gebundenheit an positive Rechtsnormen werden sollte, kam es zur Kodifikation des öffentlichen Rechts, welches im Staat unter anderem auch dem bereits vorhandenen privaten Recht eine normative Grundlage bot. Sehr deutlich zeigt sich dies in Österreich, wo 1811 das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch17 zustande kam, die Entwicklung zum Verfassungsstaat18 aber erst 12 s. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 280 ff. 13 Näher Herbert Schambeck, Vom Sinnwandel des Rechtsstaates, Schriftenreihe der Berliner Juristischen Gesellschaft e. V., Berlin Heft 38, Berlin 1970, Neudruck in: ders., Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002, S. 3 ff. 14 Dazu Adolf Merkl, Idee und Gestalt der politischen Freiheit, in: Demokratie und Rechtsstaat, Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 163 ff., Neudruck in: Adolf Julius Merkl, Gesammelte Schriften, 1. Bd.: Grundlagen des Rechts, 2. Teilbd., hrsg. von Dorothea Mayer-Maly/Herbert Schambeck/Wolf-Dietrich Grussmann, Berlin 1995, S. 579 ff. 15 Näher Adolf Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Alfred Verdross (Hrsg.), Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Hans Kelsen zum 50. Geburtstag, Wien 1931 (Neudruck Frankfurt am Main 1967), S. 252 ff., Neudruck in: ders., Gesammelte Schriften, 1. Bd., 1. Teilbd., Berlin 1993, S. 437 ff. 16 Dazu Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Rechtslehre Hans Kelsens, Juristische Blätter 1984, Jg. 106, Heft 5/6, S. 126 ff., Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 765 ff., bes. S. 769 ff., sowie ders., Adolf Merkl und die Wiener Rechtstheoretische Schule, in: Der Staat und seine Ordnung, S. 782 ff. 17 Robert Dittrich/Helmut Tades (Hrsg.), Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, 21. Aufl., Wien 2005.

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nach der Märzrevolution 1848 begann und 1867 in der von Kaiser Franz Josef erlassenen sogenannten Dezemberverfassung19 ihren Abschluss fand, der durch die Übernahme der Grundrechte20 aus dieser Dezemberverfassung der Monarchie in das Staatsrecht der Republik bis heute wirkt! Diese Dezemberverfassung von 1867 haben damals die Liberalen einen zu dieser Zeit noch sehr absolutistisch denkenden Monarchen abgetrotzt, als es noch keine demokratisch gewählte Volksvertretung gab.21 Diese Verfassung umfasste fünf Staatsgrundgesetze, nämlich je eines für jede Staatsfunktion, eines für die Einsetzung eines Reichsgerichtes sowie einen Grundrechtskatalog, der mangels Einigung auf einen neuen Katalog heute noch auf Grund der Rezeption im Art. 149 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes gilt.22 In dieser Dezemberverfassung 1867 mit ihren fünf Staatsgrundgesetzen ist eine seither in Österreich nie mehr erreichte Identität von Verfassung im formellen und materiellen Sinn begründet worden23, die auch ein besonderes Staats- und Verfassungsbewusstsein erzeugte, welches in der Republik Österreich seither und auch heute nicht gegeben ist24, während andere Staaten eine Identität von Verfassung im formellen und materiellen Sinn haben, wie sie z. B. in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Inkorporationsgebot25 verankert ist, fehlt Derartiges in Österreich, wo jede Rechtsbestimmung unabhängig von ihrem Inhalt im Verfassungsrang beschlossen und kundgemacht werden kann. Österreich ist näm-

18 Dazu Herbert Schambeck, Österreichs Weg durch die Geschichte und seine europäische Verantwortung, in: ders., Zu Politik und Recht, Ansprachen, Reden, Vorlesungen und Vorträge, hrsg. von den Prädidenten des Nationalrates und den Präsidenten des Bundesrates, Wien 1999, S. 3 ff., bes. S. 8 ff. 19 s. Edmund Bernatzik (Hrsg.), Die österreichischen Verfassungsgesetze mit Erläuterungen, Wien 1911, S. 390 ff. 20 Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, RGBl. Nr. 142, Bernatzik (Fn. 19), S. 422 ff. 21 s. dazu Ernst C. Hellbling, Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2. Aufl., Wien/New York 1974, S. 374 ff. und Wilhelm Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 8. Aufl., Wien 2001, S. 154 ff. 22 Näher Walter Berka, Lehrbuch Grundrechte, Wien/New York 2000, bes. S. 9 ff. 23 Beachte Herbert Schambeck, Der Verfassungsbegriff und die Dezemberverfassung 1867, in: Ursula Floßmann (Hrsg.), Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik, Festschrift Hermann Eichler, Wien/New York 1977, S. 549 ff. 24 Dazu näher Herbert Schambeck, Gedanken über das Verständnis des Staates und des Verfassungsrechtes in Österreich, in: Georg Lienbacher/Theodor Thanner/Mathias Tschirf/Katharina Weiss (Hrsg.), Ein Leben für Staat und Gesellschaft, Festschrift für Vizepräsident des Bundesrates Jürgen Weiss anlässlich seines 60. Geburtstages, Wien/ Graz 2007, S. 61 ff., und ders., Gedanken über einen Verfassungspatriotismus in Österreich, in: Franz Matscher/Peter Pernthaler/Andreas Raffeiner (Hrsg.), Ein Leben für Recht und Gerechtigkeit, Festschrift für Hans R. Klecatsky zum 90. Geburtstag, Wien/ Graz 2010, S. 657 ff. 25 Art. 79 (1) GG.

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lich durch einen Verfassungsrechtspluralismus26 gekennzeichnet, der in Verfassungsgesetzen des Bundes und der Länder, Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen und verfassungsändernden Staatsverträgen begründet ist. Welcher Rechtsinhalt welche Rechtsform und damit Rang im Stufenbau der Rechtsordnung erhält, ist eine Entscheidung der Politik, von der auch ihre Überprüfbarkeit durch den Verfassungsgerichtshof abhängt, weil Verfassungsrecht abgesehen von der Übereinstimmung mit dem Baugesetzen27 der Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof in Österreich entzogen ist.28 Dieser Hinweis sei vor allem im Vergleich des deutschen und österreichischen Verfassungsrechts im Allgemeinen sowie des Bonner Grundgesetzes 1949 und des Österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 im Besonderen29 gegeben. Die deutsche Verfassungsstaatlichkeit ist gekennzeichnet insbesondere wegen des bereits erwähnten Inkorporationsgebots von der Konzentration des Bundesverfassungsrechts Deutschlands in einem Gesetz, die österreichische Bundesverfassung hingegen von einem unübersichtlichen Rechtsquellenpluralismus, weshalb Hans R. Klecatsky zu Recht und sehr anschaulich diese als „Ruine – innerlich und äußerlich“ 30 bezeichnet hat. Dieser Zustand ist trotz aller Reformbemühungen auch in letzter Zeit31 keineswegs besser geworden. Aktivitäten sowie Interessen der Wirtschafts- und Sozialpolitik begleiten den Alltag der Politik wegweisend für die Gesetzgebung, nicht aber die Verfassungspolitik, außer sie

26 Art. 44 B-VG, dazu Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, 9. Aufl., Wien 2009, S. 26 f. 27 Vgl. VfSlg. 16.327/2001. 28 s. Herbert Schambeck, Österreichs Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, in: Heinz Schäffer (Hrsg.), Im Dienst an Staat und Recht, internationale Festschrift Erwin Melichar zum 70. Geburtstag, Wien 1983, S. 185 ff., Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 665 ff., sowie ders., Gedanken zur Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung in Österreich, in: B.-Chr. Funk/G. Holzinger/H. R. Klecatsky/ K. Korinek/W. Mantl/P. Pernthaler (Hrsg.), Der Rechtsstaat vor neuen Herausforderungen, Festschrift für Ludwig Adamovich zum 70. Geburtstag, Wien 2002, S. 709 ff. 29 Dazu Herbert Schambeck, Sechzig Jahre Grundgesetz aus österreichischer Sicht, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge, Bd. 57, Tübingen 2009, S. 71 ff. 30 Hans R. Klecatsky, Bundes-Verfassungsgesetz und Bundesverfassungsrecht, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, Berlin 1980, S. 83, beachtenswert auch die Literaturübersicht dazu in Fn. 2. 31 Beachte Andreas Khol/Christian Konrath, Der Österreich-Konvent. Auf dem Weg zu einer neuen Verfassung, Festschrift für Nikolaus Michalek zum 65. Geburtstag, hrsg. von der Österreichischen Notariatskammer, Wien 2005, S. 191 ff.; dies., Bilanz des Österreich-Konvents und Fortsetzung der Verfassungsreform, in: Österreichisches Jahrbuch der Politik 2005, Wien/München 2006, S. 431 ff., und Georg Lienbacher, Staatsreform. Die Ergebnisse der Expertengruppe im Jahr 2007, Jahrbuch Öffentliches Recht 08, hrsg. von Georg Lienbacher/Gerhart Wielinger, Wien/Graz 2008, S. 23 ff.

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befindet sich in legislativem Zugzwang, wie anlässlich der Teilnahme an der Integration Europas32, die in Österreich eine Volksabstimmung 1994 verlangte33, während sich die Bundesrepublik Deutschland bereits 1949 in der Präambel ihres Grundgesetzes „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ sieht. III. Verfassungsrecht, hat schon Merkl34 betont, ist kodifizierte Politik und je nach dem politischen Bewusstsein eines Volkes, begleitet von seinem Staats- und Verfassungsbewusstsein, kommt der Beschluss des Verfassungsrechts sowie damit die Prägung des jeweiligen Verfassungsstaates zustande. Gleich welche Beschlüsse des Verfassungsrechts gefasst werden, bewusst oder nicht, sie stellen eine Auseinandersetzung von Geschichtsbewusstsein, Gegenwartsverantwortung und Zukunftserwartung dar. Verantwortung verlangt Antwort geben, dies ist wieder nur möglich bei einem auf gestern, heute und morgen bezogenen Zeitverständnis. In demokratischen Staaten zeigt sich dieses Zeitverständnis in der politischen Einstellung der Bevölkerung, die jeweils mehr oder weniger bewusst und deutlich vom religiösen Glauben, von ideologischen und weltanschaulichen Einstellungen, kulturellen Auffassungen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen sowie nicht zuletzt von rechtlichen Überzeugungen begleitet sind. All diese Umstände sind für die politische Meinungs-, Urteils- und Willensbildung ausschlaggebend, die sich in einer parlamentarischen Demokratie in der Wahl von Volksvertretern und in deren Aktivitäten zeigt. Der Satz: Jedes Volk hat die Vertreter, die es verdient, ist daher in Demokratien grundsätzlich richtig. Die Stimmabgabe durch die Wähler begründet die Verantwortung der Gewählten auf Zeit. Das Verfassungsrecht ist die Wegweisung für das Zustandekommen und den Gebrauch dieser Verantwortung, es enthält den Anspruch, der auf den Einzelnen als Wähler oder Gewählten sowie als Normsetzer oder Normadressat gerichtet ist. Diese Wegweisung durch das Verfassungsrecht für die Ordnung der Staatlichkeit kann sich, wie in Österreich, durch das auf Kelsen35 zurückgehende rechts32

Näher Öhlinger (Fn. 26), S. 89 ff. und Art. 23a ff. B-VG. BGBl. 744/1994. 34 s. Adolf Merkl, Die Wandlungen des Rechtsstaatsgedankens, Österreichisches Verwaltungsblatt, 8. Jg., 1937, S. 174 ff., Neudruck in: ders., Gesammelte Schriften, 1. Bd., 2. Teilbd., S. 251 ff. 35 Beachte Georg Schmitz, Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 6, Wien 1981, und Felix Ermacora (Hrsg.), Die österreichische Bundesverfassung und Hans Kelsen, Analysen und Materialien zum 100. Geburtstag von Hans Kelsen, Wien 1982, sowie Hans 33

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positivistische B-VG und damit auf die Begründung und Nutzung von Rechtswegen oder aber auf eine auch inhaltsbezogene politische Verantwortung beziehen. Letzteres ist im Bonner Grundgesetz, nicht aber in diesem Maß auch im österreichischen B-VG gegeben. Es enthält keine Wertaussagen36, wie die von der Freiheit und Würde des Menschen, vom Schutz des Lebens, keine Definition der Ehe und nicht Begriffe wie Rechts- und Gesetzesstaat und von einigen Ausnahmen37 abgesehen, keine Angaben von Staatszielen und Staatszwecken. Solche sind in den Kompetenzartikeln des B-VG als an den einfachen Gesetzgeber gerichtete Möglichkeiten ablesbar, ihre konkrete Nutzung und ihr Rang ergibt sich aus dem Budget38 auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene39. Die Ergänzung zu dem, wie es einst René Marcic: „das beredte Schweigen der Verfassung“ 40 nannte, erfolgt meist auf dem Weg der Politik durch einfachgesetzliche Beschlüsse im Parlament. In diesem sogenannten intermediären Bereich zeigt sich hier der bestimmende Einfluss der politischen Parteien und der Interessenverbände, die ihrer Bedeutung nach in den einzelnen Verfassungsrechtsordnungen unterschiedliche positivrechtliche Grundlagen haben, expressiv verbis im Bonner Grundgesetz 194941, nicht in dieser Weise im österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz 1920, das keinen Abschnitt über Parteien und Verbände kennt. Die Parteien wurden in Österreich erst 1975 in der Verfassungsbestimmung eines einfachen Gesetzes42 verfassungsrechtlich verankert, nachdem sie bereits 1918 für die Ausrufung der Republik43 und 1945 für deren Wiedererrichtung44 bestimmend sowie wegweisend waren.

Kelsen, Autobiographie (1947), in: ders. im Selbstzeugnis, hrsg. von Mathias Jestaedt, Tübingen 2006, S. 68 ff. 36 Näher Herbert Schambeck, Von den Staatszwecken Österreichs, in: ders. (Hrsg.), Parlamentarismus und öffentliches Recht in Österreich, Entwicklung und Gegenwartsprobleme, 1. Teilbd., Berlin 1993, S. 3 ff. 37 Dazu Öhlinger (Fn. 26), S. 69 ff. 38 s. Johannes Hengstschläger, Das Budetrecht des Bundes, Gegenwartsprobleme und Entwicklungstendenzen, Berlin 1977; ders., Art. 51 ff. B-VG (1999), in: Karl Korinek/Michael Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Wien (Lose Blatt). 39 Hengstschläger, Gemeindehaushaltsrecht, in: Friedrich Klug/Peter Oberndorfer/ Erich Wolny, Das österreichische Gemeinderecht, Wien 2008 (Lose Blatt). 40 Renè Marcic, Das beredte Schweigen der Verfassung, in: Anton Burghardt/Karl Lugmayer/Erich Machek/Gerhard Eichler/Hans Schmitz (Hrsg.), Im Dienste der Sozialreform, Festschrift für Karl Kummer, Wien 1965, S. 403 ff. 41 Art. 9 (3) und Art. 21 GG. 42 BGBl. Nr. 404/1975; hiezu Herbert Schambeck, Politische Parteien und österreichische Staatsrechtsordnung, in: Heinz Mayer (Hrsg.), Festschrift für Robert Walter zum 60. Geburtstag, Wien 1991, S. 603 ff., Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 627 ff. 43 StGBl. Nr. 5/1918. 44 StGBl. Nr. 1/1945.

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Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die verfassungsrechtliche Grundlage der Interessenverbände, die auch nicht ihrer Bedeutung entsprechend in der Hauptquelle der österreichischen Verfassungsrechtsordnung, nämlich dem B-VG, genannt sind; sie haben ihre Rechtsgrundlage als Kammern, nämlich juristische Persönlichkeiten des öffentlichen Rechts, die wirtschaftliche Selbstverwaltungskörper45 sind, in den Kompetenzartikeln des B-VG46 und die sogenannten freien Interessenverbände, das sind solche mit Vereinscharakter, in dem auf das Staatsgrundgesetz über die Allgemeinen Rechte der Staatsbürger der Dezemberverfassung 1867 zurückgehenden Grundrecht der Vereinsfreiheit47 und der Europäischen Menschenrechtskonvention48. Von diesen verfassungsrechtlichen Ansätzen ausgehend hat sich in der Wirklichkeit der Verfassungsstaatlichkeit Österreich zu einem Parteien- und Verbändestaat49 entwickelt, der auf letztgenanntem Gebiet in beispielgebender Weise, wie es Franz Korinek50 erklärte, durch die freiwillige gemeinsame Ausübung der Rechte, welche diesen Interessenverbänden schon bisher einzeln zugestanden sind, eine Sozial- und Wirtschaftspartnerschaft der Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen ermöglichte, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Sozialfrieden und damit zum Wiederaufbau sowie zur Europareife Österreichs beitrug. Ihre Bedeutung und ihr Einfluss zeigt sich schon viele Jahrzehnte in der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung Österreichs und erweist sich als eine gemeinwohlgerechte Bewältigung des Spannungsverhältnisses von Recht und Politik, welche erst 2008 im Art. 120a (2) B-VG ihre verfassungsrechtliche Anerkennung51 mit der B-VGN BGBl. I Nr. 2/ 2008 fand. Diese Beziehung von Recht und Politik52 ergibt sich in Bezug auf die normativ vorgesehenen Einrichtungen, die demokratische Verfassungsstaaten kennzeichnen und ihre eigene Geschichte haben. Stern hat es schon hervorgehoben: „Von der griechischen Antike bis zur Gegenwart erweist sich die Historie des Verfassungsstaates als eine Geschichte der Verrechtlichung der – um nicht missverstanden zu werden – unentbehrlichen Macht des Staates, die für den Menschen ein freiheit45

Dazu Karl Korinek, Wirtschaftliche Selbstverwaltung, Wien/New York 1970. Art. 10 Abs. 1 Zi 8, Art. 11 Abs. 1 Zi 2. 47 Art. 12 StGG, s. Herbert Schambeck, Interessenvertretung und Vereinsfreiheit, in: Michael Fischer/Raimund Jakob/Erhard Mock/Helmut Schreiner (Hrsg.), Dimensionen des Rechts, Gedächtnisschrift für René Marcic, 1. Bd., Berlin 1974, S. 646 ff. 48 Art. 11 MRK. 49 s. u. a. Öhlinger (Fn. 26), S. 164 ff. 50 Franz Korinek, Verbände in der österreichischen Wirtschaftspolitik, Zeitschrift für Nationalökonomie 1967, S. 373 und 376. 51 Beachte Öhlinger (Fn. 26), S. 76, 168 und 248. 52 Näher Herbert Schambeck, Politik und Recht, in: Geiserich E. Tichy/Herbert Matis/Fritz Scheuch (Hrsg.), Wege zur Ganzheit, Festschrift für J. Hanns Pichler zum 60. Geburtstag, Berlin 1996, S. 225 ff., Neudruck in: ders., Politik in Theorie und Praxis, hrsg. von Helmut Widder, Wien 2004, S. 55 ff. 46

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liches, aber rechtlich geordnetes und staatsbürgerlich gesichertes Leben in der Gemeinschaft gewährleisten will. An die Stelle des ,imperium absolutum‘ sollte das ,imperium limitatum‘ treten.“ 53

IV. Diese normgebundene Gewalt des demokratischen Verfassungsstaates zeigt sich vor allem im Wahlrecht, der parlamentarischen Staatswillensbildung, den Grundrechten, der Verfassungs- und Rechtsgebundenheit allen Staatshandelns in den drei Staatsfunktionen der Gesetzgebung, Gerichtsbarkeit und Verwaltung, dem parlamentarischen Regierungssystem, der Ministerverantwortlichkeit, der Unabhängigkeit der Justiz, der Gesetzesgebundenheit der Verwaltung mit Weisungsbindung der öffentlichen Bediensteten, dem Instanzenzug der Verwaltung, der Gerichtsbarkeit öffentlichen Rechts, der Rechnungs- und Gebarungskontrolle, der Rechnungshofkontrolle54 und der Amtshaftung. Diese Kennzeichen der demokratischen Verfassungsstaatlichkeit sind oft begleitet von Umständen, die politischer und auch rechtlicher Natur sind sowie Konsequenzen haben, welche für die gesamte Staatsordnung von Bedeutung, weil auf sie wirksam sind; dazu zählt die Entscheidung beispielsweise für das Mehrheits- oder Verhältniswahlsystem. Das eine hat einen stärkeren Integrationseffekt und führt meist zu Alleinregierungen, die handlungsfähig sind, das Wahlsystem der Proportionalität ist von einer stärkeren Repräsentation begleitet, die dann Koalitionsregierungen zur Folge hat, welche Kompromisse im Regierungshandeln bedürfen. Diese Bedeutung des Wahlrechts gemeinsam mit der parlamentarischen Staatswillensbildung und der Rechtsgebundenheit allen Staatshandelns führt bei der wachsenden Mehrzweckeverwendung des Staates nicht allein im Dienst des Rechts- und Machtzweckes, sondern auch des Kultur- und Wohlfahrtszweckes zu einer Gesetzesflut und diese oft zu mangelnder Rechtskenntnis und so zu einer Rechtsunsicherheit55, welche das im demokratischen Verfassungsstaat erforderliche Rechtsbewusstsein, das nicht allein Grundrechte und sonstige Rechtsansprüche garantiert, sondern auch Grundpflichten56 und sonstige auch einfache Rechtspflichten begründet, oft nicht entsprechend entstehen lässt. 53

Stern (Fn. 1), S. 9. Hengstschläger, Rechnungshofkontrolle, Kommentar zu den Artikeln 121 bis 128 B-VG, Wien 2000. 55 Beachte Theo Mayer-Maly, Rechtskenntnis und Gesetzesflut, Salzburg/München 1969. 56 Näher Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Alfred Klose/Herbert Schambeck/Rudolf Weiler/Valentin Zsifkovits (Hrsg.), Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, Berlin 1976, S. 445 ff., bes. auch S. 493 ff. sowie Stern (Fn. 3), III/2. 54

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Gerade der demokratische Verfassungsstaat lebt von der bejahenden Haltung und dem Verfassungs- und Rechtsbewusstsein seiner Bürger und Einwohner, das verlangt sowohl durch normativen Rechtsanspruch als auch motivierenden Gewissensanspruch eine positive Haltung des Einzelnen zu dieser Staatlichkeit. Ein Anspruch, der die Positivität dieser Rechtsordnung übersteigt. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat es bereits klassisch geworden formuliert: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit Willen eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.“ 57

Zu diesen präpositiven Bezügen, die konstituierend für den Staat im allgemeinen und für die demokratische Verfassungsstaatlichkeit im besonderen sind, zählen vor allem Ethik und Religion sowie in Präambeln der Gottesbezug bzw. die Invocatio Dei58. Sie fand u. a. aus der jeweiligen Tradition in der Verfassung der Schweiz59, Deutschlands60 und Polens61 Aufnahme; sie ist im Verfassungsreformbemühen des Verfassungskonvents in Österreich kürzlich zur Diskussion62 gestanden. V. Dieser Glaubensbezug kommt mangels Transzentenzbewusstsein nicht immer und überall im entsprechenden Ausmaß zum Tragen; Relativismus63 sowie Saekularismus werden immer deutlicher und das Denken von Werten her geht zurück. van Rompuy hat schon darauf hingewiesen:

57 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1976, S. 60; s. a. Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates?, in: ders./Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung, Über Vernunft und Religion, Freiburg/Basel/Wien 2005, S. 15 ff. 58 Näher Herbert Schambeck, Präambel und Gottesbezug, in: Peter J. Tettinger/Klaus Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur europäischen Grundrechte-Charta, München 2006, S. 241 ff. 59 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1999. 60 Präambel GG 1949. 61 Präambel Verfassung der Republik Polen 1997. 62 Näher Herbert Schambeck, Zur Gottesfrage als Verfassungsfrage in Österreich, in: Franz Lackner/Wolfgang Mantl (Hrsg.), Identität und offener Horizont, Festschrift für Egon Kapellari, Wien/Graz/Klagenfurt 2006, S. 1107 ff. 63 Dazu Herbert Schambeck, Die Möglichkeiten der Demokratie und die Diktatur des Relativismus – ein Beitrag zur Zeitverantwortung in der Lehre Papst Benedict XVI., L’Osservatore Romano, Wochenausgabe in deutscher Sprache vom 12. Mai 2006, Nr. 19, S. 10 f. und 19. Mai 2006, Nr. 20, S. 9 f.

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„Es ist ein Paradoxon, dass die Europäer heute immer mehr von ,unseren Werten‘ sprechen, während ,Werte‘ an sich immer stärker angezweifelt werden. Der Individualismus und sein Ableger, Ethnozentrismus, stellen viele Werte auf den Kopf. Der große französische Philosoph Emmanuel Levinas sagte, Europa sei die Summe aus ,den Griechen und der Bibel‘. Aber wer kennt Hellas noch, und wer kennt die Bibel? Das ist leider großteils passè. Das postmoderne Europa hat sich von seinen Wurzeln losgemacht und wagt es nicht einmal mehr, über diese Wurzeln zu sprechen.“ 64

Dieser Verlust an Wertebewusstsein wird auch begleitet von mangelndem Verständnis und Verzerrungen politischer Begriffe. In diesem Zusammenhang hat schon Gottfried Benn anlässlich der Berliner Blockade in einem erst später bekannt gewordenen Brief geschrieben: „Das Abendland geht . . . meiner Meinung nach gar nicht zugrunde an den totalitären Systemen oder an den SS-Verbrechen, auch nicht an seiner Verarmung oder an den Gottwalds und Molotows, sondern an dem hündischen Kriechen seiner Intelligenz vor den politischen Begriffen.“ 65

Zu diesen politischen Begriffen von Relevanz zählt auch der der Demokratie. Übersetzt bedeutet Demokratie Herrschaft des Volkes. Dieser Begriff wird vorausgesetzt, gebraucht und auch missbräuchlich verwendet; er befindet sich in eigener Entwicklung.66 Im österreichischen B-VG wird der Begriff der Demokratie nicht hauptwörtlich, sondern nur eigenschaftswörtlich verwendet und das in Art. 1 B-VG, dem keine Präambel vorangeht und daher eine besonders die Staatsform sowie das politische System bestimmende Bedeutung zukommt. Er lautet: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Betrachtet man das gesamte B-VG in seinen Aussageinhalten und Begriffsverwendungen, kann davon ausgegangen werden, dass der Verfassungsgesetzgeber in Österreich nur jene Begriffe im B-VG verwendet hat, die nach Ende der Monarchie mit Ausrufung der Republik neu in das österreichische Staatsrecht aufgenommen wurden67; das war im Art. 1 die Staatsform der Republik und im Art. 2 der Staatsaufbau als Bundesstaat, da Österreich vor 1918 eine konstitutionelle Monarchie und ein dezentralisierter Einheitsstaat68 war. Da Österreich vorher seit der Dezemberverfassung 1867 bereits eine zwar sich noch in Entwicklung

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van Rompuy (Fn. 2), S. 164. Gottfried Benn, in: Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, dargestellt von Walter Lennig, Reinbek 1962, S. 135. 66 Beachte Herbert Schambeck, Entwicklungstendenzen der Demokratie, in: Dieter Wilkes (Hrsg.), Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Berlin/New York 1984, S. 640 ff. 67 Dazu Herbert Schambeck Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation in Österreich, Juristische Blätter, 102. Jg., Heft 9/10/1980, S. 225 ff., Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 73 ff. 68 Näher Hellbling (Fn. 21), S. 374 ff. 65

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befindende Demokratie und ein Rechtsstaat mit Grundrechten war, wurden diese Begriffe im B-VG nicht verwendet. Die Demokratie und der Rechtsstaat werden im System des B-VG69 deutlich und der nicht im B-VG verwendete Begriff der Grundrechte70 geht im Zusammenhang mit der Kompetenz des Verfassungsgerichtshofes als Sonderverwaltungsgericht im Begriff des „verfassungsgesetzlichen gewährleisteten Rechts“ iSd Art. 144 B-VG unterschiedslos auf. VI. Nach dem jeweiligen politischen Bewusstsein in einem Staat sowie der Auseinandersetzung mit seiner bisherigen Entwicklung, in ihrer Annahme oder Ablehnung wird Demokratie in einem Staat wirksam sein und zwar in repräsentativ demokratischer Form des Parlamentarismus, wie in Österreich und Deutschland auf Bundes- und Landesebene, und in der Möglichkeit ihrer plebiszitären Form, in Deutschland als Volksentscheid71 bei Neugliederung des Bundesgebietes und in Österreich als Volksabstimmung obligatorisch bei Gesamtänderung der Bundesverfassung, fakultativ bei Teiländerung, wenn dies von einem Drittel des Nationalrates oder des Bundesrates verlangt wird72, sowie als Volksbegehren, wenn der Antrag von 100.000 Stimmberechtigten oder von je einem Achtel der Stimmberechtigten dreier Länder verlangt wird. Zusätzlich zu diesen bereits 1920 vorgesehenen plebiszitären Verfassungseinrichtungen wurde 1989 eine zusätzliche direktdemokratische Einrichtung, nämlich die Möglichkeit der Volksbefragung über eine Angelegenheit von grundsätzlicher und gesamtösterreichischer Bedeutung geschaffen, zu deren Regelung die Bundesgesetzgebung zuständig ist, sofern der Nationalrat dies auf Grund eines Antrages seiner Mitglieder oder der Bundesregierung nach Vorberatung im Hauptausschuss beschließt.73 Bei Einrichtungen der Demokratie kommt es im Rahmen eines Verfassungsund Rechtsstaates darauf an, dass diese in einer aufeinander Abgestimmtheit im gesamten System des Verfassungsstaates vorgesehen sind, d.h. dass die Möglichkeiten der direkten Demokratie das parlamentarische Regierungssystem als Entscheidungshilfe ergänzen und nicht ersetzen74; dies wäre nicht ein Weg zur Demokratisierung, sondern zur Jakobinisierung75. 69 Beachte in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, Berlin 1980, ders., Die Demokratie, S. 149 ff., und Edwin Loebenstein, Der Rechtsstaat, S. 253 ff. sowie Öhlinger (Fn. 26), S. 56 ff. 70 s. Karl Korinek/Brigitte Gutknecht, Der Grundrechtsschutz, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, S. 291 ff. und Öhlinger (Fn. 26), S. 486 ff. 71 Art. 29 (2) GG. 72 Art. 44 (3). 73 Art. 49b (1) B-VG. 74 In diesem Sinne auch Hans Kelsen, Das Problem des Parlamentarismus, Wien/ Leipzig 1925, Neudruck in: Hans R. Klecatsky/René Marcic/Herbert Schambeck

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Gerade in einem demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat soll die Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Organhandelns systemgerecht erhalten bleiben, um damit auch zur Rechtssicherheit und zum Rechtsbewusstsein beizutragen, denn Imboden hat schon treffend darauf hingewiesen, „dass innerhalb der Legalstruktur die demokratischen Komponenten weit zerbrechlicher sind, als herkömmlich angenommen wird.“ 76 Im demokratischen Verfassungsstaat entwickelt sich die Staatswillensbildung zwischen der Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung des Einzelmenschen und den legitimierten sowie damit autorisierten Organen des Staates, nämlich dem Parlament und der Regierung; dazu öffnet sich zwischen diesen individuellen und institutionellen Bereichen der intermediäre Bereich der Gesellschaft! In diesem intermediären Bereich sind vor allem meist nach Ideologie und Weltanschauung organisiert politische Parteien sowie nach Berufsständen, wie bereits erwähnt mit freiwilliger Mitgliedschaft, nämlich als Vereine und somit als juristische Personen des privaten Rechts sogenannte freie Interessenverbände oder aber als juristische Personen des öffentlichen Rechts, nämlich Selbstverwaltungskörper, die Kammern. Diese Interessenverbände dienen im demokratischen Verfassungsstaat der Repräsentation organisierter Interesse der selbständig und unselbständig Erwerbstätigen. Die politischen Parteien nominieren meist die Kandidaten zur Wahl der allgemeinen Vertretungskörper und, auch von Ausnahmen abgesehen, die Mitglieder der Regierungen. Ihr Einfluss ist meist so groß, dass der demokratische Verfassungsstaat der Form und dem Inhalt nach Parteienstaat wird. Über die Funktionsträger der allgemeinen Vertretungskörper, nämlich die Parlamentarier, und der Regierungsmitglieder hinaus wirkt sich der Einfluss der politischen Parteien auch auf den öffentlichen Dienst, der dem obersten Vollzugsorganen verantwortlich ist, so aus, dass die demokratische Verfassungsstaatlichkeit oft das Aussehen eines Parteienstaates annimmt. Dabei mögen Parteien nie vergessen, dass das Wort Partei von pars und das heißt Teil kommt. Eine Partei kann sich daher auch nicht mit dem Staat identifizieren; es sind daher auch alle Parteien zusammen nicht der Staat, sie haben genau so dem Gemeinwohl77 (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl und Alfred Verdross, 2. Bd., Wien 2010, S. 1366. 75 Dazu Winfried Martini, Das Ende aller Sicherheit, eine Kritik des Westens, Stuttgart 1955, S. 29 ff., und Herbert Schambeck, Festrede gehalten in der Festsitzung des Nationalrates und des Bundesrates der Republik Österreich am 27. April 1985 im Reichsratssitzungssaal des Parlaments in Wien aus Anlass des 40. Jahrestages der Gründung der Zweiten Republik in: 40. Jahrestag der Gründung der Zweiten Republik, Wien 1985, S. 11. Neudruck in: Hans Walther Kaluza/Johann Penz/Martin Strimitzer/Jürgen Weiss (Hrsg.), Recht-Glaube-Staat, Festgabe für Herbert Schambeck, 4. Aufl., Wien 1997, S. 76. 76 Max Imboden, Die Staatsformen, Basel/Stuttgart 1959, S. 95.

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und daher über den Kreis der Mitglieder der Allgemeinheit zu dienen, wie es auch den Interessenverbänden aufgetragen ist. Weniger deutlich und auch nicht immer organisiert wirkt sich der Einfluss der Interessenverbände auf die Funktionen des Staates aus. Auf diese Weise entsteht die Gefahr, dass sich der Staat zu einem Clearinghaus der Gruppeninteressen entwickelt und vergesellschaftet wird. Der Staat soll mit den Möglichkeiten der demokratischen Verfassungsstaatlichkeit als Gemeinwesen Autorität begründen, mit dieser gemeinwohlgerecht zum Interessenausgleich beitragen und auch auf jene im Rahmen des Möglichen Bedacht und Rücksicht nehmen, die nicht Parteien und Interessenverbänden angehören, sondern berufsständisch und parteipolitisch Heimatlose sind! Neben der Tendenz zur Vergesellschaftung des Staates gibt es umgekehrt auch die Gefahr einer Verstaatlichung der Gesellschaft, dann nämlich wenn der Staat immer mehr Aufgaben über seinen Primärzweck, nämlich den Rechts- und Machtzweck hinaus, auch im Bereich des Kultur- und Wohlfahrtszwecks allein zu erfüllen sucht. Diese Tendenz verletzt damit das Subsidiaritätsprinzip,78 wodurch die Eigeninitiative und Eigenleistung des Einzelnen zurückgeht. Das Subsidiaritätsprinzip ist nicht nur staatsrechtlich im Bundesstaat relevant, was sich in der föderalistischen Kompetenzverteilung zeigen kann, sondern auch in Bezug auf die Aufgaben, Ziele und Zwecke des Staates, welcher den Eigeninitiativen des Einzelmenschen und der Gesellschaft mit ihren Verbänden Raum auch zur Eigenverantwortung lassen soll. Wird diese Eigenverantwortung gewährt, kann diese in Abgestimmtheit mit der Verantwortung des Staates in obrigkeitlicher, sozialer und individualer Verantwortung Ruhe, Ordnung und Sicherheit sowie kulturellen Fortschritt, wirtschaftliches Wachstum und soziale Sicherheit ermöglichen und gewähren. VII. Zu dem Bewusstsein dieser Mehrfachverantwortung können die Massenmedien Entscheidendes beitragen; ihre Möglichkeiten und Grenzen sind aber auch zu bedenken. 77 s. Johannes Messner, Das Gemeinwohl, Idee, Wirklichkeit, Aufgaben, Osnabrück 1962. 78 Näher Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 1. Aufl., Berlin 1968, 2. Aufl. mit Nachtrag: Die Zeitperspektive 2001 Subsidiarität – das Prinzip und seine Prämissen, Berlin 2001; Roman Herzog, Subsidiaritätsprinzip, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel/Darmstadt 1998, S. 482 ff., und Rupert Scholz, Subsidiaritätsprinzip und zu erneuernde Staatlichkeit, in: Otto Depenheuer/Markus Heintzen/Matthias Jestaedt (Hrsg.), Staat im Wort, Festschrift für Josef Isensee, Heidelberg 2007, S. 295 ff.

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Die Massenmedien79 können täglich mit der Ausgabe von Zeitungen und den stündlichen Radio- sowie Fernsehsendungen einen permanenten Einfluss auf den Einzelnen im Staat und in der Gesellschaft ausüben; sie können auf diese Weise den Ruf und das Ansehen von Personen auf- und abbauen sowie Themen und Anliegen vor- und abstellen. Die Massenmedien sind nicht an Funktions- und Legislaturperioden gebunden, deshalb können sie eine nicht immer berechenbare Entwicklung in der Meinungs-, Urteils- und Willensbildung hervorrufen, wodurch die Demokratie dynamisiert wird. Die Nutzung der Wege demokratischer Verfassungsstaatlichkeit wird durch die Legislaturperioden allgemeiner Vertretungskörper und die Funktionsperioden der Vollzugsorgane bestimmt; die Parteien mit ihren Programmen sowie die Verbände mit der Vertretung ihrer Interessen sind wieder im Rahmen des Denkbaren einsichtbar und vermitteln damit auch ein Maß an Begründung für zu erwartende Haltungen. Sie sind auch prägend für die Legislaturperioden der Parlamente und auf Grund deren Gesetzesbeschlüsse für das Handeln der Regierung. Die Massenmedien sind es mit ihren Möglichkeiten nicht. Die Massenmedien sind ohne Legitimierung etwa durch Wahl oder Ernennung allein durch das Grundrecht der Pressefreiheit überall und jederzeit berechtigt in Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen Auffassungen und Meinungen zu vertreten, die in Gesetzgebung und Regierung verantwortliche Politiker bestätigen, aber auch kritisieren können. Oft, ja meist regelmäßig, können Diskussionen in Talkshows und Interviews zu aktuellen Ereignissen in Nachrichtensendungen des Rundfunks und Fernsehens, bei Letzterem auch durch Kameraführungen zur freundlichen oder kritischen Präsentation des Interviewten und seiner Themen beitragen und so mehr Einfluss auf den Einzelnen im Staat als die Übertragung von Parlamentsdebatten und Presseerklärungen von Chefs sowie Mitgliedern der Regierung ausüben. Was schon durch eine nicht aufeinander abgestimmte, sondern wo möglich gleiche Demokratisierung aller Staatsfunktionen zur Jakobinisierung80 im Staat und seinem politischen System beitragen kann, ist auch durch den täglichen Einfluss der Massenmedien möglich. Dazu treten noch der Einfluss und die Wirkung der von privaten Institutionen entweder in regelmäßigen Abständen oder ad hoc durchgeführten Meinungsumfragen. Diese Meinungsumfragen können während der Legislaturperiode eines allgemeinen Vertretungskörpers und der Funktions-

79 s. Herbert Schambeck, Von der Bedeutung der Medien für Europa, in: Gabriele von Watzdorf (Hrsg.), Wir in Europa, Albert Scharf zum 65. Geburtstag, Lindenberg 2000, S. 92 ff., Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 741 ff. 80 s. Fn. 75.

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periode von Vollzugsorganen, vor allem wenn diese mit Ministerverantwortung81 begleitet sind, zu einer Destabilisierung in der Meinungs-, Urteils- und Willensbildung beitragen, besonders wenn diese Meinungsumfragen während eines Wahlkampfes stattfinden! Bei einzelnen Einrichtungen der direkten Demokratie, wie etwa bei Volksbegehren82, handelt es sich nicht um ein Begehren und damit eine Entscheidung des ganzen Volkes, sondern nur eines jeweiligen Teiles. Auch Meinungsumfragen sind nicht die Wiedergabe der Meinung aller Einwohner eines Staates, sondern nur eines Teiles, der gefragt seine Meinung äußert; sie sind gleich Volksbefragungen, die von einem Parlament oder einer Regierung ausgehen, nicht eine endgültige der Rechtskraft fähige Entscheidung, sondern nur eine Entscheidungshilfe! Solche Entscheidungshilfen, wie Volksbefragungen, die von offiziellen Organen ausgehen oder auch von diesen bisweilen ausgehende Meinungsumfragen ersetzen keinesfalls die rechtssetzende oder rechtsvollziehende Entscheidung eines Organs, sondern können diese aber hinsichtlich ihrer gemeinwohlgerechten Gestaltung und Beurteilung erleichtern. Plebiszitär orientierte Möglichkeiten des öffentlichen Lebens setzen somit im demokratischen Verfassungsstaat sowohl bei den Normsetzern in Gesetzgebung und Vollziehung als auch beim jeweiligen Normadressaten die eigenständige Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung, somit auch das Wissen voraus, über das man sich ein Gewissen machen soll! Es ist somit ein ethisches Gebot, das den Einzelnen, wie in jedem Fall, aber im demokratischen Verfassungsstaat besonders, begleitet! Demokratische Wahlen können allgemeine Vertretungskörper und damit auch in einem parlamentarischen Regierungssystem die Zusammensetzung von Regierungen in Perioden verändern In einem solchen Fall ist dies in einem demokratischen Verfassungsstaat konstitutionell legitimiert. Meinungsumfragen und Massenmedien hingegen können auf Grund der grundrechtlich geschützten Meinungs- und Pressefreiheit unabhängig von diesen Legislatur- und Funktionsperioden jederzeit eine Änderung in der Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung herbeiführen. 81 Beachte Herbert Schambeck, Die Ministerverantwortlichkeit, Schriftenreihe, hrsg. von der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 101, Karlsruhe 1971, Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 553 ff. 82 Dazu Herbert Schambeck, Das Volksbegehren, Recht und Staat, Heft 400/401, Tübingen 1971, Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 305 ff., sowie ders., Repräsentative und plebiszitäre Komponenten im demokratischen Verfassungsstaat Österreichs, in: Jean Rivero/Marcel Waline/Gerhard Leibholz/ders./Giovanni Cassandro/ Giuseppe Ernini/Theodore Anghelopoulos/Spyridon Gangas (Hrsg.), „MNHMH“, Gedächtnisschrift für Michael A. Dendias, Athen/Paris 1978, S. 209 ff., Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 289 ff.

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VIII. Diese Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung des Einzelnen ist Kennzeichen und Erfordernis in der Demokratie überhaupt und ist auch ein Bestimmungsmoment des demokratischen Verfassungsstaates; sie kann ihrem Inhalt nach konstant und auch variabel sein. Staaten mit demokratischem politischem Ordnungssystem im Allgemeinen und mit republikanischer Staatsform im Besonderen eignet eine eigene Relation an Meinungs-, Willens- und Urteilsbildungen. Kelsen hat deshalb in seiner Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ erklärt: „Wer absolute Wahrheit und absolute Werte menschlicher Erkenntnis für verschlossen hält, muss nicht nur die eigene, muss auch die fremde, gegenteilige Meinung zumindest für möglich halten. Darum ist der Relativismus die Weltanschauung, die der demokratische Gedanke voraussetzt. Demokratie schätzt den politischen Willen jedermanns gleich ein, wie sie auch jeden politischen Glauben, jede politische Meinung, deren Ausdruck ja nur der politische Wille ist, gleichermaßen achtet.“ 83 In diesem Zusammenhang weist Kelsen auf das 18. Kapitel des Evangeliums Johannes hin, in dem berichtet wird, dass die Volksabstimmung auf die Frage des Pilatus, wen das Volk frei haben möge, gegen Jesus für Barabas ausfiel. „Der Chronist aber fügt hinzu: Barabas war ein Räuber.“ 84 Auf diesen Relativismus hat auch, anders als Kelsen, nämlich vom Glauben her kommend Joseph Kardinal Ratzinger vor seiner Wahl zum Papst in seiner Homelie während der Heiligen Messe „Pro eligendo Romano Pontifice“ vor der Petersbasilika am 18.4.2005 hingewiesen: „Wie viele Glaubensmeinungen haben wir in den letzten Jahrzehnten kennengelernt, wie viele ideologische Strömungen, wie viele Denkweisen . . . Das kleine Boot des Denkens vieler Christen ist nicht selten von diesen Wogen zum Schwanken gebracht, von einem Extrem ins andere geworfen worden: Vom Marxismus zum Liberalismus bis hin zum Libertinismus; vom Kollektivismus zum radikalen Individualismus; vom Atheismus zu einem wagen religiösen Mystizismus; vom Agnostizismus zum Synkretismus, und so weiter . . . Einen klaren Glauben nach dem Credo der Kirche zu haben, wird oft als Fundamentalismus abgestempelt, wohingegen der Relativismus, das sich ,vom Windstoß irgendeiner Lehrmeinung hin- und hertreiben lassen‘, als die heutzutage einzige zeitgemäße Haltung erscheint. Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als Maß nur das eigene Ich und seine Gelüste gelten lässt.“ 85

83 Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., Tübingen 1929, S. 101. 84 Kelsen (Fn. 83), S. 104. 85 Predigt von Kardinaldekan Joseph Ratzinger am 18. April, Heilige Messe „Pro eligendo Romano Pontifice“ in der Petersbasilika, L’Osservatore Romano (deutsch), Sonderausgabe 2005, S. 20.

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Gerade die Staatswillensbildung im demokratischen Verfassungsstaat mit ihrer Parteien- und Verbändevielfalt läuft Gefahr diesem Relativismus im Parteienkompromiss und der Verbändepartnerschaft, noch dazu, wenn diese begleitet sind von einer pluralistischen und technisierten Industriegesellschaft im Bemühen um den geringsten gemeinsamen Nenner und einer für erforderlich erachteten Sachlichkeit das Grundsätzliche übersehend oder vergessend zu erliegen. Das beginnt in unserer Zeit mit dem Recht auf Leben, auch des noch nicht geborenen Menschen. Nicht alles, was man nämlich tun kann, ist auch ethisch gerechtfertigt getan zu werden und ist auch nach dem jeweiligen Verfassungsrecht zulässig! Bemerkens- und betonenswert ist, dass die Bundesrepublik Deutschland in ihrem Grundgesetz insofern den politischen Relativismus in der Gesetzgebung beschränkt, als Art. 79 Grundgesetz, eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebungen oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze, die sich auf den Schutz der Menschenwürde, den demokratischen und sozialen Bundesstaat, das Ausgehen aller Staatsgewalt vom Volke, die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht beziehen sowie das Recht aller Deutschen zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist, für absolut „unzulässig“ erklärt. IX. Genauso wie die Bedeutung der Sachlichkeit der Wissenschaft für die Ordnung der Gesellschaft und des Staates nicht übersehen und unterschätzt werden darf, darf sie aber auch andererseits in der Weise nicht überschätzt werden, wollte man meinen, dass durch eine lückenlose Institutionalisierung aller Interessen und Versachlichung aller Anliegen eine Harmonie besonderer Art und Sicherheit besonderer Qualität erreicht werde. Das ist unmöglich. Aus der Erkenntnis von Tatsachen allein lassen sich noch keine Postulate ableiten; es bedarf des ordnenden Denkens des Menschen! Es käme dem Verfolgen eines positivistischen Leitbildes gleich, wollte man meinen, dass in einer zukünftigen Gesellschaft die Sachnotwendigkeiten und die Vernünftigkeiten eine so zwingende Macht ausüben werden, dass sie aus sich heraus imstande seien, den Gesellschaftsprozess in seinen wesentlichen Bereichen zu steuern, das vor allem dann, wenn auf Grund der fortschreitenden Wissenschaft und der allgemeinen Bildung der Menschen die wirtschaftlichen und sozialen Prozesse eine größere Transparenz erhalten. Dies stellt Johannes Schasching klar und fügt noch hinzu: „Wir wissen aber ebenso aus der Erfahrung des individuellen Erlebens und aus der Geschichte der menschlichen Gesellschaft: Obwohl von der Sache her bestimmte Handlungen der menschlichen Vernunft geradezu aufgetragen wurden, wurden sie von der Emotion oder vom Willen beiseitegeschoben und durch andere ersetzt . . .

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Von den Sachen her sind absolut keine zuverlässig wirkenden Ordnungsgarantien gegeben. Sie sind für mehrere Zwecke verwendbar. Es bedarf ganz wesentlich der Ordnungsimperative, die nicht materiell-technischer, sondern geistiger Art sind.“ 86

Wären diese geistigen Ordnungsimperative nicht erforderlich, würde der Mensch einem Automatismus von ausschließlich sachlich begründeten Vorgängen ausgeliefert sein, der keinen Raum mehr für jene Freiheit ließe, aus der der Mensch allein zu leben vermag. Dies muss man heute bei der Zunahme eines immer mehr um sich greifenden naiven Intellektualismus, der auch in der Politik Platz greift, erkennen. Ralf Dahrendorf hat schon bemerkt, „dass der Sozialwissenschaftler, wenn er seinen Untersuchungen des Wirklichen nicht ebenso gründliche Untersuchungen des Wünschbaren hinzutut, sich eines Tages in der Gesellschaft finden mag, die er selber vorausgesagt hat, sich aber nie in der Gesellschaft finden wird, in der er gerne leben möchte.“ 87

In dieser Betrachtung sei betont, dass sachliche Möglichkeiten und religiös Gebotenes sowie ethisch Erlaubtes nicht in einem Neben- oder gar Gegeneinander bestehen, sondern in einem Für- und Miteinander das Ihre in der Staatswillensbildung des demokratischen Verfassungsstaates leisten mögen, damit Humanität sich mit Konstitutionalität und Legitimität so verbindet, dass das Recht im Staat verantwortungsvoll vom Volk und nicht am Volk ausgeht. Dieses notwendige Verantwortungsgedenken, das im Rahmen des Möglichen das sachlich Erforderliche mit dem sittlich Erlaubten für das Gemeinwohlgerechte verbindet, könnte auch der Tendenz der Entmythologisierung, welche das Rationelle an die Stelle des Ideellen, Emotionellen und Spirituellen setzt, begegnen, was auch bei entsprechender Gewissenhaftigkeit des Einzelnen im Staat diese Rechtsordnung normierend und motivierend gelten und wirksam werden lässt. Als der Verfassungsstaat im letzten Jahrhundert entstand, war er als Rechtswegestaat geradezu eingebettet in die Staatsform der Monarchie, die besonders deutlich auch in Österreich in der Verbundenheit von Krone und Altar das Transzendente zur Begründung des Immanenten nützte. Kaiser Franz Josef von Österreich, dem Österreich mit der Dezemberverfassung 1867 die Grundlage seiner Verfassungsstaatlichkeit zu danken hatte, war so anerkannt, dass er schon vierundachtzigjährig unwidersprochen und mit Begeisterung von der Bevölkerung angenommen 1914 den Ersten Weltkrieg erklären konnte. Dr. Karl Renner, nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg Staatskanzler und hernach auch 1945 Bundespräsident soll später erklärt haben, hätte 1918 Kaiser Franz Josef noch gelebt, man hätte es nicht gewagt, die Republik auszurufen.

86 Johannes Schasching, Soziologische Aspekte der gesellschaftlichen Verflechtung, in: Fragen des sozialen Lebens – Vergesellschaftung und Freiheit, Wels 1966, S. 102. 87 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S. 358.

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Nach dem Ersten Weltkrieg war aber die Spannung vom Einzelnen zum Staat und die soziale Situation so problematisch, dass es zu Ausrufungen von Republiken kam und, um mit starker Repräsentation gegenüber den verantwortungsvollen Funktionsträgern vertreten zu sein, das Verhältniswahlrecht verlangt wurde, das nach häufigen Wechseln der Regierungen und mangelnden Handlungsmöglichkeiten den Ruf nach dem starken Mann und somit autoritären Regierungssysteme entstehen ließ, die mit den Namen Engelbert Dollfuss in Österreich, Adolf Hitler in Deutschland, Benito Mussolini in Italien, Franzisko Franco in Spanien und Antonio Salazar in Portugal verbunden waren. In diesem Zusammenhang sei nicht unerwähnt, dass Dollfuss 1934 unter Bruch88 und Hitler 1933 unter Wahrung der Verfassungskontinuität89 an die Macht gelangten! Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs und der autoritären sowie totalitären Herrschaftssysteme in Deutschland und Österreich begann die Bundesrepublik Deutschland 1949 in kritischer Auseinandersetzung mit der Weimarer Verfassung im Bonner Grundgesetz90 ein neues Verfassungssystem, das u. a. vorausblickend die Einheit Deutschlands91 anstrebte und als sozialer Rechts- und Bundesstaat mit dem System sozialer Marktwirtschaft92 von wegweisendem Einfluss und prägender Wirkung später auch auf die neuen demokratischen Verfassungssysteme der postkommunistischen Staaten nach der Wende93 wurde. Die Republik Österreich schloss sich hingegen 1945 dem Verfassungssystem des B-VG 1920 mit seinem Rechtsquellenpluralismus und dem Grundrechtekatalog von 1867, also der Zeit der konstitutionellen Monarchie, sowie der Grundlegung der Verfassungsstaatlichkeit 1920 an. Dieser auch heute erfahrbare demokratische Verfassungsstaat zeichnet sich, wie in vielen anderen Staaten so auch in Deutschland und Österreich, durch zwei Begriffspaare, nämlich durch Zuständigkeit und Verantwortung sowie Verantwortung und Kontrolle aus. Dieser Kontrolle dient vor allem die Teilung der Gewalten. Formell organisatorisch sieht die Gewaltenteilung 94 vor, dass eine Behörde nicht gleichzeitig Funktionen der Gesetzgebung und Vollziehung sowie von Ge88

BGBl. 239/1934 I = BGBl. 1/1934 II. Dazu Stern (Fn. 3), Bd. V, S. 811 ff. 90 s. Stern (Fn. 3), Bd. V. 91 Präambel Grundgesetz. 92 Beachte Ludwig Erhard (Hrsg.), Soziale Marktwirtschaft, Ordnung der Zukunft, Frankfurt am Main 1972; Karl Hohmann (Hrsg.), Grundtexte zur sozialen Marktwirtschaft, Stuttgart 1988, und Soziale Marktwirtschaft und Globalisierung, Die politische Meinung, Mai 2008, 53. Jahrgang. 93 Dazu Herbert Schambeck, Politik und Verfassungsordnung postkommunistischer Staaten Mittel- und Osteuropas, in: Zu Politik und Recht, S. 121 ff. 94 Näher Herbert Schambeck, Zur Idee und den heutigen Formen der Gewaltenteilung im Staat, Zeitschrift für Schweizerisches Recht, N. F. Bd. 115, 1. Halbbd., Heft 5, Bd. 137 der gesamten Folgen, 1996, S. 423 ff., Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 141 ff. 89

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richtsbarkeit und Verwaltung ausübt. In der politischen Wirklichkeit ist Gewaltenteilung als Machtverteilung vor allem erfahrbar in der Konfrontation repräsentativ und plebiszitär demokratischer Verfassungseinrichtungen, in der Gegenüberstellung von Regierung und Opposition, von Politikern und Beamten, von Parteien und Interessensverbänden sowie von Staatsorganen und Massenmedien. Alle diese Verfassungseinrichtungen stehen zu ihrer Nutzung Einzelnen zu, die durch Grundrechte zu Meinungs-, Willens- und Urteilsbildung oder durch Ernennung und Wahl zu Organfunktionen legitimiert sind. In Ausübung ihrer Funktionen haben sie Gelegenheit, Konstitutionalität und Funktionalität mit Humanität zu verbinden. Das System der Konstitutionalität vermittelt dem Einzelnen als Normsetzer und Normadressat Autorität und durch diese Autorität Legitimität. Anlässlich der kürzlich revolutionären Vorgänge in Nordafrika, besonders in Tunesien und Ägypten wies schon Gudrun Harrer darauf hin: „Wer keine Legitimität hat, verliert früher oder später die Autorität und muss sich auf die Gewalt stützen.“ 95 Diese Autorität kann wieder mit Gewalt, etwa durch ein Polizei- und Armeesystem voluntaristisch ausgeübt werden oder aber durch ein System, welches den Konstitutionalismus mit glaubwürdigen Herrschafts- und Ordnungsanspruch autoritativ so verbindet, dass es das Normieren mit dem Motivieren vereint und den Einzelnen von dem Ordnungsanspruch des Staates zu überzeugen vermag. Andernfalls kann bloß mit Gewalt begründete Herrschaft in einem Staat beim Einzelnen zum zunächst inneren und späteren auch äußeren Widerstand der Revolution führen, von der Merkl oft sagte: „Es kann Zeiten geben, in denen es ehrwerter ist, durch den Staat als für den Staat zu sterben.“ Dafür gibt es auch in letzter Zeit leider nur allzu viele Beispiele! Waren in vergangenen Jahrhunderten Revolutionen, d.h. Verneinungen der Herrschaftsansprüche im Rahmen der Staatsform der Monarchie zunächst Auseinandersetzungen des Adels mit dem Herrscher und später mit zunehmender Demokratisierung auch des Volkes mit dem Monarchen sowie dem Adel, aktivierte sich später besonders deutlich in der französischen Revolution das aufstrebende liberale Bürgertum gegen die absolute Monarchie und die Feudalherrschaft. Bei den folgenden Revolutionen dynamisierten sich breite Kreise der Bevölkerung, innerhalb dieser wegweisend und führend aber Gruppen von mehr oder weniger gut organisierten Radikalen, meist Intellektuellen, die zur Machtübernahme imstande waren. Bei der französischen Revolution seien Georges Danton, Jean Paul Marat und Maximilian de Robespiere als Beispiele genannt; letztlich durchgesetzt zu einer Dauerherrschaft auf Zeit hat sich dann fast immer ein Einzelner, wie nach der französischen Revolution Napoleon Bonaparte und nach der russischen Oktoberrevolution Lenin und Jossif W. Stalin. Die Einrich95 Gudrun Harrer, Herr Al-Fuli hat sich geirrt, Standard vom 5. Februar 2011, Album A 1.

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tungen der Staaten mit in ihren Verfassungen genannten normativen Grundordnungen wurden zunächst meist jakobinisiert und erst im 19. Jahrhundert in einer Symbiose von Liberalismus und Demokratismus zur Ausgewogenheit des heute erfahrbaren demokratischen Verfassungsstaates geführt. Dazu gaben die Revolutionen gegen die absoluten Monarchen vor allem Mitte des 19. Jahrhunderts Anlass, besonders die sogenannte Märzrevolution 1848 in Wien, deren staatsrechtlicher Grund die Nichterfüllung des Art. 13 der Schlussakte des Wiener Kongresses 1815 waren, in dem die Herrscher sich verpflichteten, den Völkern ihrer Staaten „landständische Verfassungen“ 96 zu gewähren, was nicht bei allen vor der Märzrevolution 1848, wie etwa in Österreich und Preußen, der Fall war. Unabhängig von den Umständen dieser revolutionären Vorgänge waren es später nur allzu oft Einzelpersonen, welche auf Dauer an die Spitze der Staaten traten, wie nach dem Ersten Weltkrieg Lenin, Stalin, Hitler, Musolini, Franco und Salazar. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es im Rahmen der Entkolonisierung in Nord- und Zentralafrika meist Militärs, die als Despoten und Diktatoren an die Spitze der Staaten traten. Anders verlief die Revolution in Österreich nach dem Verlust des Ersten Weltkriegs, als die noch 1911 nach dem Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie, der Dezemberverfassung 1867, gewählten deutschsprachigen Abgeordneten 1918 in der provisorischen Nationalversammlung des neuen Staates Deutschösterreich die Republik ausriefen. X. Betrachtet man rück- und vorausblickend die Entwicklung der demokratischen Verfassungsstaatlichkeit zwischen Recht und Politik muss festgestellt werden, dass diese mit traditionsreichen Rechtseinrichtungen in der Ausübung der drei Staatsfunktionen, der Gewaltenteilung und Kontrolle in verschiedenen Formen, der Sicherung der Stellung des Einzelnen in möglichen Grundrechten und bisweilen auch Grundpflichten sowie der Staatsziele und Staatszwecke bei unterschiedlichen Staatsformen und politischen Systemen sowohl unter Wahrung der Verfassungskontinuität, wenn eine Änderung unter Beachtung der bisherigen Verfassungsvorschriften erfolgte, oder bei deren Negierung unter Diskontinuität zustande kommt. Im letzteren Fall entsteht bei gleichen Realfaktoren an Volk und Gebiet ein Neustaat im Rechtssinn, andernfalls ist Gleichheit mit Identität der Staaten gegeben. Vorgänge der letzten Zeit, gerade jetzt im Norden Afrikas zeigen, dass bei Gleichheit an Volk und Gebiet durch Entwicklungstendenzen in Recht und Politik revolutionärer Art verfassungsrechtliche Neustaaten entstehen, entweder 96 Hugo Hantsch, Die Geschichte Österreichs, 3. Aufl., Graz/Wien/Köln 1962, S. 281.

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durch Demokratie- oder Sozialrevolutionen. Im erstgenannten Fall verdrängt die plebiszitäre Seite einer Demokratie ihre Repräsentative und verändert den Parlamentarismus oft auch in jakobinischer Form. In letzter Zeit haben aber Umwälzungen im Rahmen eines Verfassungsstaats mit sozialen und wirtschaftlichen Gegensätzlichkeiten und Aufständen mangels Arbeitsplätze und Beschäftigung als Sozialrevolutionen um sich gegriffen. In diesem Fall rangiert der Kultur- und Wohlfahrtszweck der Gesellschaft vor dem Rechts- und Machtzweck des Staates! Die Einhaltung des Verfassungsrechts in einem Staat, welche mit der Achtung des entsprechenden Präsens- und Konsensquorums im Parlament verbunden ist, dient mit der Wahrung der Identität und Kontinuität des Staates auch dem Minderheitenschutz, denn auch eine Mehrheit hat in einem Parlament die Voraussetzungen an Konsensquoren für Verfassungsmaterien zu beachten, vor allem wenn sie keine absolute Mehrheit hat. Jeder Staat hat seine spezielle Prägung, auch die klassischen Einrichtungen demokratischer Verfassungsstaatlichkeit, was sich besonders in dem Wahlrechtsund Regierungssystem, den Mehrheitsvoraussetzungen, der Form der Gewaltenteilungen und den Grundrechtsordnungen zeigt. In der Beurteilung dieser demokratischen Verfassungsstaatlichkeit genügt nach der rechtspositivistischen Sicht der Reinen Rechtslehre Kelsens97, die Rechtssätze nur im normativen Sinn, also ohne eine Wertung, sei diese ethisch, religiös, ideologisch oder weltanschaulich bedingt, zu erfassen; Kelsen kam es auf die Wahrung der Rechtsform und nicht auf die Beurteilung des Rechtsinhaltes an. Dies ließ aus der rechtspositivistischen Sicht der Reinen Rechtslehre Kelsens den Rechtsstaat zum Rechtswegestaat werden, der in einer Vielzahl von Beispielen besonders auch im 20. Jahrhundert mit einem Werteneutralismus und Gesinnungsindifferentismus verbunden war. Merkl, Schüler, Weggefährte und Mitbegründer der Reinen Rechtslehre98 Kelsens und sicher einer der besten Kenner seiner Lehre hat selbst zum 80. Geburtstag Kelsens in der Abhandlung „Reine Rechtslehre und Moralordnung“ 1961 festgestellt: „Der Rechtstheoretiker Kelsen gibt allen Rechtsinhalten und damit allen politischen Wertlehren Raum, mag auch der Rechtpolitiker Kelsen liberal gesinnt sein“ 99 und dazu angemerkt: „Diese Überlegungen lassen auch die Versuche un97

Kelsen (Fn. 7), S. 1 ff. Hans Kelsen, Adolf Merkl zu seinem siebzigsten Geburtstag am 23. März 1960, Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht, Neue Folge, Bd. X, Heft 3–4, Wien 1960, S. 313; s. a. Wolf Dietrich Grussmann, Adolf Julius Merkl Leben und Werk, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts, Bd. 13, Wien 1989, sowie Herbert Schambeck, Adolf Julius Merkl und die Wiener Rechtstheoretische Schule, in: B.-Ch. Funk/H. R. Klecatsky/E. Loebenstein/W. Mantl/K. Ringhofer (Hrsg.), Staatsrecht und Staatswissenschaften in Zeiten des Wandelns, Festschrift für Ludwig Adamovich zum 60. Geburtstag, Wien/New York 1992, S. 621 ff., Neudruck in: Der Staat und seine Ordnung, S. 781 ff. 98

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haltbar erscheinen, die Reine Rechtslehre auf das liberale Bekenntnis ihres Schöpfers festzulegen.“ 100 Kelsen hat mit seiner rechtspositivistischen Reinen Rechtslehre in einer Zeit mehrfachen Pluralismus die Begründung und Sicherung der Verfassungsstaatlichkeit im Hinblick auf die Auslegung des Rechtes im bloß normativen Sinn und seinen Wertneutralismus auf die Konstitutionalisierung der Rechtswege bezogen und damit Wertediskussionen vermieden. Sie konnten entweder durch Rechtsrezeptionen ergänzt oder überhaupt erübrigt werden. Das war in Österreich 1918 bei Ende der Monarchie und Ausrufung der Republik auf dem Weg zum B-VG 1920, zu dem er mit seinem Entwurf wegweisend war,101 der Fall. Die unbeantworteten Fragen bei dieser Verfassungswerdung Österreichs stellten sich in der Folgezeit dem Verfassungsgesetzgeber und einfachen Gesetzgeber, wurden beantwortet oder nicht, wie im letztgenannten Fall bezüglich der Grundrechte, die noch heute im 21, Jahrhundert bekanntlich geltend, von der Dezemberverfassung 1867 rezipiert102 wurden. XI. Je mehr das Verfassungsrecht in den jeweiligen Staaten Antworten auf Werte schuldig bleibt, desto größer ist die Verantwortung des einfachen Gesetzgebers und diese verlangt eine bestimmte Kultur. Beachtenswert hat erst kürzlich aus der aktualitätsbezogenen Sicht des Journalisten Georg Paul Hefty erklärt: „Ohne Leitkultur ist Demokratie lediglich eine Verfahrensregel. . . . Das Messbare ist allerdings nur die Oberfläche der Demokratie. Ihr Wesen ist anderer Natur: geistig, seelisch, psychisch oder mental, ein Gemisch aus objektiven und tradierten Kriterien und subjektiven Empfindungen, mit einem Wort: kulturell. Dennoch ist Demokratie nur zum geringen Teil individuell geprägt; sie ist ein Massenphänomen, und ihre Ausprägung hängt von der regionalen Leitkultur ab . . . Der Begriff Leitkultur ist mit Blick auf die Demokratie einzelstaatlich eng, aber zugleich so weit zu fassen, dass er auch die trotz der Globalisierung fortbestehende alt hergebrachte Eigenart verschiedener Weltgegenden umfasst.“ 103

Nach dem jeweiligen politischen und rechtlichen Bewusstsein sowie geistigen Einstellungen wird in jedem einzelnen Staat begleitet von den Ergebnissen der 99 Adolf Merkl, Zum 80. Geburtstag Hans Kelsens, Reine Rechtslehre und Moralordnung, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Neue Folge Bd. XI, Heft 3–4, Wien 1961, S. 298, Neudruck in: Gesammelte Schriften, 1. Bd., S. 635. 100 Merkl (Fn. 99), S. 298, Fn. 3. 101 s. Fn. 35. 102 Art. 149 B-VG; s. dazu Walter Berka, Lehrbuch Grundrechte, Wien/New York 2000. 103 Georg Paul Hefty, Demokratie und Leitkultur, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Februar 2011, S. 1.

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Geschichte, den Erfordernissen der Zeit und den Erwartungen an die Zukunft der Einzelne seine Haltung für die demokratischen Prägungen der jeweiligen Verfassungsrechtsordnung einbringen sowie auf diese Weise von den politischen Möglichkeiten der demokratischen Verfassungsstaatlichkeit Gebrauch machen. In diesem Fall treten zu den Möglichkeiten der Demokratie, beginnend mit dem Wahlrecht des Einzelnen, die Erfordernisse der Verfassungsstaatlichkeit. Diese Erfordernisse der Verfassungsstaatlichkeit verlangen von dem Verfassungsrecht, sei es in einem einzigen Gesetz wie in Deutschland, oder in dessen Pluralität höchsten Ranges wie in Österreich, die Erfüllung der Funktion der Konstitutionalisierung durch Begründung der Staatsgewalt, deren Integration in einem Imperium, das in der Ausübung den drei Staatsfunktionen und in Grundrechten dem Schutz des Einzelnen dient, dabei Antwort auf die Anliegen der Einzelnen und die Repräsentation der Gesellschaft zu geben sowie im Notfall auch Sozialhilfe zu leisten. Diese in verschiedener Form normierbaren Funktionen der Verfassung104 zur Konstitutionalisierung, der Integration, der Sozialhilfe und des Antwortgebens ist nur möglich bei einer bestimmten Geltung des Verfassungsrechtes mit Dauerhaftigkeit und nicht mit Zeitbedingtheit sowie mit Übersichtlichkeit; alles Aufgaben die vorausdenkend, richtungs- und wegweisend zugleich sein sollten, um Ansprüche an den Staat von der Verfassung herzustellen sowie auch eine Ordnungsfunktion gegenüber der Pluralität der Gesellschaft zu erfüllen. Dieter Grimm ist daher zuzustimmen: „Ihrer Eigenart nach ist die Verfassung ein Ensemble von Rechtsnormen, die sich auf die Einrichtung und Ausübung der öffentlichen Gewalt beziehen. Ihrer Funktion nach bringt sie legitime Herrschaft hervor und legt die Bedingungen fest, unter denen sie ausgeübt werden darf. Die Verfassung beschreibt also nicht die politische Wirklichkeit, sondern richtet Anordnungen an diese.“ 105

Es obliegt der parlamentarischen Staatswillensbildung, ob der Gesetzgeber in verfassungsrechtlicher oder einfachgesetzlicher Form diese Anordnungen trifft, welche in einer Mehrzahl von Rechtssatzformen möglich sind, die nach der von Merkl veranschaulichten Lehre in ihrem Stufenbau106 hierarchisch geordnet sind, wobei sich in diesem Stufenbau der Rechtsordnung der Rang der einzelnen Rechtsnormen nach deren derogatorischen Kraft sowie rechtlichen Bedingtheit bestimmt. Jede dieser Rechtsnormen, nämlich ob als verfassungsrechtliche oder einfachgesetzliche Rechtsnorm, ob Gerichtsurteil, Verwaltungsbescheid oder Vollstreckungsakt steht im Dienst der Verfassungsrechtskonkretisierung! 104 s. Herbert Schambeck, Zum Begriff der Verfassung im formellen und materiellen Sinn, in: Siegbert Morscher/Peter Pernthaler/Norbert Wimmer (Hrsg.), Recht als Aufgabe und Verantwortung, Festschrift für Hans R. Klecatsky zum 70. Geburtstag, Wien 1990, S. 247 ff., bes. S. 250 ff. 105 Dieter Grimm, Ändert das Grundgesetz, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Dezember 2010, S. 6. 106 Beachte Fn. 15.

Entwicklungstendenzen des demokratischen Verfassungsstaates

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XII. Die Rechtssatzformen sind im demokratischen Verfassungsstaat vorgegeben, ihr Inhalt verlangt vor allem für das Gesetz eine politische Entscheidung und diese sowohl Sachkenntnis als auch Ordnungsdenken, gleich welcher Begründung, ob religiös, ideologisch, weltanschaulich oder berufsständisch orientiert. Die Entscheidung für den Inhalt der jeweiligen Rechtssatzform bestimmt das durch Wahl oder Ernennung legitimierte Organ des Staates oder bei plebiszitärer Entscheidung das Volk selbst. Zwischen dem Einzelnen und dem Staat haben sich mit wachsender Demokratisierung der Staaten politische Parteien und Interessenverbände für die Meinungs-, Urteils- und Willensbildung mitbestimmend gebildet. Für diese kommt es im intermediären Bereich darauf an, die Anliegen der Menschen wahrzunehmen und gemeinwohlgerecht zu vertreten. Leider wissen in der heutigen Massengesellschaft immer mehr Menschen nicht, was immer weniger werdende Menschen mit ihnen oder über sie verfügen, wodurch ein großes Misstrauen entsteht, welches für das Verantwortungsdenken im demokratischen Verfassungsstaat nicht förderlich ist. Ein Kenner auch der Tagespolitik, Hanno Burmeister, bemerkte daher nicht zu Unrecht: „Die Bürger bekunden der repräsentativen Demokratie ihr Misstrauen – und zeigen zeitgleich, dass sie am demokratischen Prozess teilhaben möchten“ 107 und weist auf die Gefahr hin, wenn Unterschiedlichkeiten zwischen Repräsentanten und Repräsentierten entstehen: „Gesellschaft und Parteienwelt entwickeln sich seit Jahren in getrennten Sphären, oftmals froh, nicht zu viel vom anderen mitzubekommen. Volk und Volksvertreter sind sich nicht nur fremd geworden. Sie haben eine tiefe Abneigung gegeneinander entwickelt. Es gibt keine gemeinsame Sprache mehr, geschweige denn ein gemeinsames Verständnis von Politik und Partizipation . . . Die Parteien haben sich zunehmend Parallelrealitäten geschaffen, die mit der Stimmung im Land wenig zu tun haben. Sie sind entfremdet vom Heute und der Bürgerschaft zunehmend müde.“ 108

Eine solche Situation zeigt sich in der rückgängigen Zahl an Parteien- und Verbändemitgliedern, Abnahme an Mitarbeit in denselben sowie in der Wahlbeteiligung. Dazu tritt auf vielen Ebenen des öffentlichen Lebens, beginnend mit den Gemeinden bis zum Gesamtstaat, ein wechselndes Stimmverhalten, was dort, wo die politische Verantwortung anhält, ein kritisches Mitdenken und dynamisches Wählerverhalten dokumentiert. In einem solchen Fall erweist sich bei wechselndem Inhalt die Form der Rechtswege als konstant und so als Beitrag zur Sicherheit im demokratischen Verfassungsstaat, ohne aber Selbstzweck werden

107 Hanno Burmeister, Repräsentative Demokratie in der Krise, Die Tagespost, 4. Dezember 2010, Nr. 144/Nr. 48 ASZ, S. 9. 108 Burmeister (Fn. 107).

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zu können. Das Zu- und Füreinander der Menschen mit den Einrichtungen demokratischer Verfassungsstaatlichkeit können dazu hinführen. In einer entscheidenden Phase, nicht nur der Entwicklung seines Landes, sondern darüber hinaus Europas, die später zum Ende deren Teilung durch die Wende geführt hat, hob Václav Havel hervor: „Niemand wird geholfen, wenn die Regierung so lange wartet, bis die Menschen demonstrieren und streiken. All dem könne man sehr einfach durch sachlichen Dialog und durch den guten Willen, auch kritische Stimmen anzuhören, vorbeugen.“ 109

Diese Forderung stellte mutig und risikoreich Havel in einer gefahrvollen Zeit seines Lebens, nämlich in seiner Schlussrede am 21. Februar 1989 vor dem Prager Gericht. Sie war ein Beitrag zu der Wende, welche zur neuen Ordnung in seinem Land und darüber hinaus in Europa zum Werden des nachkommunistischen Zeitalters beitrug. Für diese folgende Entwicklung gilt bis heute der beachtenswerte Titel des von Havel später herausgegebenen Sammelbands: „Versuch in der Wahrheit zu leben“. Sie ist der moralische Auftrag an den Einzelnen für die Nutzung der Rechtswege des demokratischen Verfassungsstaates in seiner Entwicklung zwischen Recht und Politik, von dem Stern schon 1984 in Berlin fordernd das feststellte, was sich hernach mit dem Fall der Mauer in Berlin sowie der Wiedervereinigung dieser Stadt und Deutschlands als richtig erwiesen hat: „Die Entwicklungsgeschichte verfassungsstaatlicher Prinzipien sollte uns lehren, dass ihrer Verwirklichung ein lange währendes Ringen vorausging, aber auch dies, dass das limited Government und der Geist der Freiheit und Gerechtigkeit sowie das Recht der individuellen und nationalen Selbstbestimmung sich auf Dauer niemals unterdrücken lassen. Der Unterschied zwischen dem freiheitlich-demokratischen und totalitären Staatswesen ist ein Konflikt universaler und historischer Dimension.“ 110

Jede Zeit hat sich dieser Aufgabe zu stellen, Klaus Stern hat dazu in seinem Lebenswerk seinen Beitrag geleistet, der zum Weg Deutschlands und mit Deutschland zur neuen Ordnung des integrierten Europa beitrug111, wofür ihm der verdiente Respekt gebührt.

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Václav Havel, Versuch in der Wahrheit zu leben, Hamburg 1989, S. 7. Stern (Fn. 1), S. 37. 111 Beachte vor allem Klaus Stern, Von der europäischen Menschenrechtskonvention zur europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: ders./Peter J. Tettinger (Hrsg.), Die europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, Berlin 2005, S. 13 ff.; ders., Europäische Verfassung und Grundrechte-Charta nach dem Nein der Franzosen und Niederländer, in: ders./Peter J. Tettinger (Hrsg.), Europäische Verfassung im Werden, Berlin 2006, S. 25 ff., und Peter J. Tettinger/ders. (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur europäischen Grundrechte-Charta, München 2006. 110

Rückblick auf das Potsdamer Abkommen Grundstein für die deutsche Teilung, Eckstein für die Wiedervereinigung Von Edzard Schmidt-Jortzig Als Klaus Stern vor bald dreißig Jahren zu seinem opus magnum über „Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland“ ansetzte, da begann er Arbeit und Präsentation in abstracto mit den ,Grundbegriffen und Grundlagen des Staatsrechts‘ (Bd. I, 1985). Das mag auch der Aufbau der Vorlesung „Staatsrecht (I)“ bei ihm gewesen sein. Aber nahe gelegen hätte zu dem doch sehr konkreten Themengegenstand auch (und für examensausgerichtete Studenten zumal), mit der geschichtlichen Herausbildung des deutschen Staatswesens und eben speziell der Bundesrepublik Deutschland zu starten. Neben seiner systematischen Überzeugung hielt Stern indessen augenscheinlich ein Gespür für die noch Unfertigkeit dieses Fundamentes, wahrscheinlich auch eine irgendwie intuitive Hoffnung auf seine Vollendung, von solch eher induktiver Herangehensweise ab. Als Patriot lag ihm jene Perspektive einfach am Herzen, und als Hochschullehrer zunächst einige Jahre in Berlin war ihm der rechtliche Schwebezustand Deutschlands ohnehin gewissermaßen „in Fleisch und Blut übergegangen“. Sein Gespür und seine Hoffnung haben Klaus Stern bekanntlich nicht getrogen. 1989/90 lief die politische Entwicklung plötzlich immer unwiderstehlicher auf die Beendigung des Transitoriums und damit eine endgültige Sockelbildung der heutigen deutschen Staatlichkeit zu. Die deutsche Wiedervereinigung wurde errungen, die Nachkriegsordnung fand ihren Abschluss, das definitive rechtliche Fundament aktueller deutscher Staatlichkeit war gefunden. Klaus Stern hat diesen Prozess beratend und reflektierend intensiv mit begleitet. Und jetzt konnte er mit Bd. V des „Staatsrechts“ (2000) also endlich auch den wissenschaftlich systematischen Schlussstein für die monumentale Rechtsdarstellung setzen. Klaus Stern hat darin seine Ausführungen nach der Explanation „Ältere(r) Formen deutscher Staatlichkeit“ und der „Errichtung des deutschen Nationalstaates“ in die Beschreibung und Erläuterung der „Deutsche(n) Staatlichkeit nach 1945“ einmünden lassen und hierbei nicht zuletzt dem sog. „Potsdamer Abkommen“ eingehende Beachtung geschenkt. „Die entscheidende politische Weichenstellung (für Deutschland) erfolgte . . . in den Konferenzen von Jalta und Potsdam; beide Konferenzen bestimmten das Schicksal Deutschlands über fast viereinhalb Jahrzehnte; beide Konferenzen (lassen sich schlicht) als Verhandlungen und Be-

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schlüsse über die europäische Nachkriegsordnung östlich des Rheins kennzeichnen.“ Die Potsdamer Konferenz habe entscheidend „das Schicksal Deutschlands bestimmt“, sie „war einschneidend“. Und „in der Nachkriegsauseinandersetzung (sei deshalb) bis 1989 die Bedeutung des ,Protokolls‘ der (Potsdamer) Konferenz“ politisch immer heftig umstritten gewesen, manchmal „stark hochstilisiert“ oder „mitunter abgewertet“. Wenn zu Ehren Klaus Sterns hier nun an eben dies Potsdamer Konferenzergebnis erinnert werden soll, so gewiss nicht, um dazu noch bisher Unbekanntes aufzudecken. Ebenso lässt sich der rechtswissenschaftlichen Diskussion wenig Neues hinzufügen, weil – so Stern mit ausführlichen Nachweisen – „Verlauf und Inhalt, auch die Handelnden dieser Konferenz . . . Gegenstand umfassender Betrachtungen in der historischen und juristischen Literatur bis in die jüngste Zeit gewesen“ ist. Aber immerhin jährte sich das Ereignis vor kurzem zum 65. Mal, wurde im Zuge der allseitigen 20-Jahr-Feiern der Wiedervereinigungsereignisse jedoch weitgehend übergangen. Und auch seine Bedeutung, ja, Präjudizienfunktion für das Einigungswerk fand eigentlich wenig Würdigung.

I. Gegenstand der Potsdamer Übereinkunft Nach verschiedenen Konferenzen, die von den alliierten deutschen Kriegsgegnern bereits während der laufenden Kampfhandlungen abgehalten wurden, den Beschlüssen der Europäischen Beratenden Kommission in London sowie dann vor allem der militärischen (7. und 8. Mai 1945) wie der politischen (5. Juni 1945) deutschen Kapitulation wurde „die entscheidende politische Weichenstellung“ für das Schicksal Deutschlands bekanntlich auf eben den beiden Konferenzen der „Großen Drei“ in Jalta (4. bis 11. Februar 1945) und Potsdam (17. Juli bis 2. August 1945) vorgenommen. Die „Potsdamer (oder ,Berliner‘) Konferenz“ befasste sich dabei im Gegensatz zur Krim-Konferenz, bei der es ja auch um die Nachkriegsordnung in Polen und Jugoslawien, den Eintritt der Sowjetunion in den Pazifikkrieg und insbesondere die Gründung der Vereinten Nationen ging, ausschließlich mit Deutschland. In acht (operativen) Kapiteln des Schlussdokuments wurden darin die maßgebenden Regelungen für die deutsche Nachkriegsordnung getroffen. – Frankreich notabene, das nicht eingeladen war oder sonst irgendwie teilgenommen hatte, stimmte später dem Verhandlungsergebnis unter verschiedenen Vorbehalten zu, wurde anschließend also in die Regelungen mit einbezogen, betrachtete sich aber selber nicht als deren Partner. Der bis heute andauernde Streit um die genaue Rechtsnatur des gängigerweise als „Potsdamer Abkommen“ bezeichneten Konferenzergebnisses ist dabei im Grunde eine Quisquilie, die keinerlei wirkliche Auswirkung auf die Bedeutung des Übereinkommens hat. Und im Kern liegt die Uneinigkeit auch wohl daran, dass oft nicht genau zwischen Form, sachgegenständlichem Ergebnis und inhalt-

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licher Einstufung unterschieden wird. Formell war die Potsdamer Einigung gewiss nicht wirklich ein „Abkommen“. Dem Erscheinungsbild nach dokumentierte sie vielmehr nur das Verhandlungsresultat der drei Delegationschefs Truman, Stalin und Attlee, das in einem gegenseitig abgestimmten Protokoll aufgelistet wurde. Irgendeine Ratifizierung des Werkes fand auch nie statt, und es gab keinerlei Verkündung des Textes in einem förmlichen Gesetzblatt. Herausgegeben wurde es nach der in der Nacht zuvor erzielten Einigung am frühen 2. August 1945 als Presseverlautbarung. Erst etliche Tage später fand es (mit einigen erläuternden Ergänzungen, aber auch Auslassungen) im Amtsblatt des Kontrollrats einen offiziellen Abdruck. Und letzte Einzelpunkte wurden überhaupt erst mit der amerikanischen Veröffentlichung 1947 bekannt. Gewissermaßen stofflich müsste man die Erklärung also eher als Kommunique, als konsentiertes Protokoll bezeichnen. Aber inhaltlich stellte die Potsdamer Übereinkunft zweifellos einen völkerrechtlichen Vertrag dar, für dessen Wirksamkeit es nicht auf die einzelnen Verfahrensabläufe und (staatsrechtlichen) Förmlichkeiten ankommen kann. Systematisch indessen war das diffuse Publikationsgeschehen irgendwie bereits symptomatisch für Argumentationsgang und Aussagestringenz der Übereinkunft. Manche Regelungen blieben bewusst ungenau. Die Formulierungen waren unscharf und glichen – wie Klaus Stern kommentiert – „eher Absichtserklärungen, Wünschen oder Empfehlungen“. Und wichtige Fragen wurden wegen ihrer Strittigkeit auch ganz ausgeblendet. Churchills klassisches „We agreed to disagree“ zu manchen Punkten traf die Situation genau; an anderer Stelle verdeckten nur Formelkompromisse diesen Befund. Man verwies solche Fragen dann auch an den extra geschaffenen „Rat der Außenminister“, der freilich nur vereinzelt noch tagte, wegen des einsetzenden ,Kalten Krieges‘ aber zu keiner nennenswerten Einigung mehr kam und bald sein Wirken einstellte. Die Potsdamer Verhandlungen hatten ja aber auch unter Ausnahmebedingungen stattgefunden. Der Zeitdruck war groß. Zwar konnte man auf die Vorverständigungen von Teheran (1. Dezember 1943), London (12. September und 14. November 1944) sowie Jalta (11. Februar 1945) zurückgreifen. Jetzt ging es indessen um die notwendigen Detailanweisungen und Praxisdirektiven. Die kriegerischen Anstrengungen im Pazifik waren außerdem noch nicht zu Ende (im Zuge der Potsdamer Verhandlungen wurden ja auch die Kapitulationsbedingungen für Japan diktiert und vier Tage nach der Kommunique-Unterzeichnung fiel die Atombombe auf Hiroshima). Schon damals zeichneten sich zudem die anstehenden großen weltpolitischen Umgewichtungen deutlich ab, und dass einige Verhandlungspartner nicht geringe innenpolitische Probleme hatten, sei nur am Rande noch erwähnt (für die USA musste Truman den verstorbenen Roosevelt ersetzen, und in Großbritannien wurde mitten im Verhandlungsgeschehen die Regierung Churchill abgewählt).

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II. Einige staatsrechtliche Aspekte Der erreichte Minimalkonsens formte immerhin die deutsche Nachkriegssituation so, wie sie dann bis zur Wiedervereinigung 1990, also fast ein halbes Jahrhundert, galt. Und der staatsrechtlich wichtigste Punkt war dabei sicherlich, dass augenscheinlich der deutsche Staat als fortbestehend erachtet wurde, denn irgendeine Debellation, Annexion oder Dismembration war in Potsdam (wie auch Jalta) nicht vorgesehen, und systematisch baute eben alles auf dem Kontinuitätstatbestand auf. Freilich war dieser Tatbestand juristisch lange umstritten. Die These Hans Kelsens vom kapitulationsbedingten Untergang des Deutschen Reiches fand – vielfach schon aus politischen Gründen – manche Unterstützer. Rein rechtswissenschaftlich war über die einzelnen Beendigungs- oder Fortbestandsmöglichkeiten auch nicht völlig eindeutig zu entscheiden. Die vielfältigen Dokumente des alliierten Nachkriegsagierens boten zu oft unterschiedliche Anhaltspunkte. Aber die praktische politische Entwicklung ging auf der Basis von Potsdam immer rascher und entschiedener von der Kontinuität Deutschlands aus, und als reale Gestalt dieser Fortsetzung galt eben die Bundesrepublik Deutschland (Identitätsdogma). Innerstaatlich fand diese Position Eingang in die laufende Rechtsetzung, vom Zollgesetz bis zum Mehrwertsteuergesetz, und entwickelte sich (trotz einer kleinen Irritation durch das Bundesverfassungsgericht im Juli 1973) zum regelmäßigen Diktum der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Im internationalen Bereich wurde der Kontinuitäts- und Identitätsstandpunkt zur offiziellen Position der Bundesregierung, und völkerrechtlich eben fand sie entsprechende Festlegung. Nur so konnte ja die Bundesrepublik etwa im Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 ihre Haftung für Vorkriegsschulden des Deutschen Reiches „bestätigen“, nach dem Vertrag mit Frankreich 1956 bruchlos die Eingliederung des Saarlandes in ihren Staatsverband vornehmen oder beispielsweise im Weltpostverein durch einfache Erklärung wieder in die Rechte des Mitglieds „Deutschland“ einrücken. Im „Potsdamer Abkommen“ jedenfalls wurde von den Alliierten nur die oberste Vollzugsgewalt übernommen, nicht die staatliche Gesamthoheit, und das geschah auch lediglich treuhänderisch, nicht als originär eigene Kompetenz. In Abschnitt III der Übereinkunft (,A. Politische Grundsätze‘) wird insoweit noch einmal die sog. „politische Kapitulation“ (,Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands‘ vom 5. Juni 1945) bestätigt und erklärt, dass nun „die höchste Regierungsgewalt in Deutschland“ von den drei Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte ausgeübt werde, u. zw. einzeln von jedem in seiner Besatzungszone sowie gemeinsam „in den Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen“. Der geschaffene Zustand sollte also nur ein Provisorium sein bis zu einer umfassenden Regelung, die einem Friedensvertrag vorbehalten war. Bis dahin blieb ausdrücklich auch die Frage der deutschen Einheit offen.

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Im Übrigen wurden in der Potsdamer Übereinkunft detaillierte Entnazifizierungsmaßnahmen für Deutschland angeordnet, eine Dezentralisation der Verwaltung gefordert, die Bildung freier Gewerkschaften und demokratischer Parteien vorgeschrieben sowie verschiedene wirtschaftspolitische Grundsätze für die Entwicklung Deutschlands formuliert. Darauf soll hier jedoch nicht näher eingegangen werden. Genaueres Augenmerk gilt vielmehr drei staatsrechtlichen Aspekten, die von nachhaltiger Wirkung waren: 1. Was davon als erstes den künftigen territorialen Zuschnitt Deutschlands anbetraf, so stimmte die Potsdamer Konferenz „grundsätzlich“ (also noch nicht definitiv) und vorbehaltlich genauer Grenzfestlegung dem Vorschlag einer „endgültigen Übergabe der Stadt Königsberg und des anliegenden Gebietes“ an die Sowjetunion zu. Amerikaner wie Briten ließen aber keinen Zweifel daran, dass sie bereit waren, „diesen sowjetischen Annexionswunsch zu unterstützen“ (Stern). Und niemand widersprach anschließend auch der unverzüglichen Machtübernahme der Sowjetunion in dem Bereich. Außerdem sollten nach der Übereinkunft die Gebiete östlich der Oder-NeißeLinie einschließlich der früheren Freien Stadt Danzig „unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen“. Freilich blieb die endgültige Festlegung der damit thematisierten Westgrenze Polens gleichfalls bis zu einer Friedenskonferenz zurückgestellt, aber realiter wurden immer mehr Fakten zur bleibenden Einverleibung dieser Gebiete in den polnischen Staat geschaffen. Und seit dem Warschauer Vertrag von 1970 stellte auch die Bundesrepublik faktisch ihre Vorbehaltsäußerungen gegen diesen Tatbestand ein. 2. In Ergänzung zu diesen Gebietszuschreibungen ordnete die Potsdamer Einigung – und das war wohl die tiefgreifendste und tragischste Regelung – auch, wie es hieß, „orderly transfers“ deutscher Bevölkerungsteile an und erstreckte diese Anordnung noch auf die Territorien der Tschechoslowakei und Ungarns. Damit wurde die Vertreibung von über 10 Millionen Deutscher legalisiert, die meist ja schon unter schlimmsten Bedingungen längst in Gang war und sich nun fortsetzte. Zwar wurde tapfer bekundet, „dass jede derartige Überführung . . . in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll“. Aber die Umstände waren einfach nicht so, dass dies gewährleistet sein konnte. Und zumindest Churchill ahnte das auch. Der bleibende Verlust der Heimat hat jedenfalls für die Überlebenden und Nachkommen bis heute nur wenig an Schmerz verloren. Wie es ja überhaupt eine Illusion ist, dass solcherart massenhafte Menschenrechtsverletzungen nach dem Motto „die Zeit heilt alle Wunden“ in Vergessenheit geraten. Die Bundesrepublik Deutschland war für die Eingliederung im Übrigen sozial und wirtschaftlich vor eine große Herausforderung gestellt, die sie aber – und das ist wohl die bemerkenswerteste Leistung der Nachkriegspolitik – eindrucksvoll bewältigt hat. Auch im Staatsangehörigkeitsrecht hinterließ die Integrationsaufgabe ihre Spuren.

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3. Als strukturell markanteste Weichenstellung für die staatliche Entwicklung Deutschlands in den nächsten Jahrzehnten erwies sich aber schließlich die Aufteilung in die „von der UdSSR besetzte Zone in Deutschland“ einerseits und die „westlichen Zonen“ andererseits. Eingangs der Übereinkunft wurde noch lediglich an die Regelungen des Londoner Protokolls und der Jalta-Erklärung bezüglich einer Einrichtung von vier Besatzungszonen und deren Zuteilung an die Siegermächte (einschließlich Frankreichs) angeknüpft. Und schon das lief ja angesichts der zunehmenden Polarisierung unter den Kriegsalliierten auf eine Zweiteilung hinaus. Aber in dem Abschnitt über die „Reparationen aus Deutschland“ erfolgte dann auch die textliche und damit rechtliche Differenzierung. Die Sowjetunion sollte ihre Reparationsansprüche sachgegenständlich durch Entnahme allein aus der von ihr besetzten Zone befriedigen und aus diesem Anteil zugleich noch Polen mit entschädigen. Die Forderungen Großbritanniens und der USA hingegen waren gemeinsam „aus den westlichen Zonen“ zu erfüllen, weil sich beide bereits auf einheitliche Reparationsgrundsätze geeinigt hatten (nachher galt mit Einschränkung Gleiches auch für Frankreich). Da die Sowjetunion dann in ihrer Besatzungszone die Demontage deutscher Produktionskapazitäten auch wesentlich intensiver betrieb, war somit (trotz der tapferen Beschwörung gemeinsamer Wirtschaftsziele für ganz Deutschland in Abschnitt III.B des Protokolls) das Auseinanderdriften der künftigen Entwicklung im geteilten Deutschland angelegt. Der später sprichwörtliche „Eiserne Vorhang“ konnte sich herausbilden. Es erwies sich deshalb letztlich nur als konsequent, dass die amerikanische und die britische Besatzungszone Ende 1946 sich zur „Bizone“ zusammenschlossen, gut zwei Jahre später dorthin auch die französische Besatzungszone fusionierte und auf dem gemeinsamen Gebiet dann am 23. Mai 1949 die Bundesrepublik Deutschland konstituiert wurde. Für das Gebiet der sowjetischen Besatzungszone folgte daraufhin am 7. Oktober des Jahres die Gründung der Deutschen Demokratischen Republik.

III. Die Rundung der Entwicklung Die Nachkriegsordnung, die mit der Potsdamer Übereinkunft geschaffen wurde, währte bekanntlich 45 Jahre. Sie endete mit der deutschen Wiedervereinigung. Aber diese konnte die grundlegende Neugestaltung nur zustande bringen, weil sie auf dem Potsdamer Fundament aufbaute und die zwischenzeitlich daraus gewachsenen Elemente in sich aufnahm. Auch politisch ist die heutige Lage in Europa deshalb ohne die Potsdamer Vorprägungen undenkbar. Dafür sollen nachfolgend vier Begründungen geliefert werden: 1. Ein umfassendes Vertragswerk zwischen den beiden deutschen Nachkriegsstaaten abzuschließen, wie es sich (auch weit vor einem damals ja noch ganz

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undenkbaren Wiedervereinigungsvertrag) politisch immer mehr aufdrängte, verlangte zunächst einmal entsprechende Handlungsmacht. Die war indessen nach Potsdam auf dem dort vorgezeichneten Weg für beide Seiten bald erreicht. Im Deutschland-Vertrag vom 26. Mai 1952 wurde von den drei Westmächten für die Bundesrepublik das Besatzungsregime beendet, das Besatzungsstatut aufgehoben und ihr somit „die volle Macht eines souveränen Staates über die inneren und äußeren Angelegenheiten“ eingeräumt, mit der Maßgabe freilich, dass getreu dem Potsdamer Kommunique „die Drei Mächte die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung“ noch behielten. Und mit der Moskauer Souveränitätserklärung erfolgte seitens der Sowjetunion am 25. März 1954 für die DDR Ähnliches. Auch sie erhielt nun „die Freiheit, nach eigenem Ermessen über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten einschließlich der Frage der Beziehungen zu Westdeutschland zu entscheiden“, die UdSSR behielt sich aber gleichfalls potsdamkonform die Rechte bezüglich der Sicherheitsgewährleistung und Deutschland als Ganzem vor (und die DDR übernahm hierbei übrigens ausdrücklich die Verpflichtungen, die sich „aus dem Potsdamer Abkommen über die Entwicklung Deutschlands als eines demokratischen und friedliebenden Staates ergeben“). Auf dieser Basis konnten später das Transitabkommen von 1971, der Verkehrsvertrag vom Mai 1972 und vor allen der sog. „Grundvertrag“ vom 21. Dezember 1972 geschlossen werden. 2. Die fortbestehenden Rechte der Siegermächte hatten jeweils verlangt, dass solche Gesamtdeutschland betreffenden Vereinbarungen (sowie ergänzende Verwaltungsabsprachen) nur unter Beteiligung oder doch zumindest Zustimmung der Vier Mächte erfolgten. Das war auch allenthalben so geschehen. Erst recht galt dies für eine deutsche staatliche Wiedervereinigung. Hier war die Mitwirkung der alten Siegermächte schon politisch unverzichtbar, denn danach mussten ja die alliierten Vorbehaltsrechte wohl auch überhaupt aufgegeben werden. Der „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ vom 12. September 1990, aufgrund der Partnerzusammensetzung kurz: „Zwei-plus-Vier-Vertrag“, erbrachte indessen beide Voraussetzungen in geradezu stupender Weise. Er besiegelte das deutsche Vereinigungs-Vertragswerk („Unionsvertrag“ vom 18. Mai, Wahlvertrag vom 3. August und Einigungsvertrag vom 31. August 1990) zwischen Bundesrepublik und DDR und legte zugleich fest, dass die Vier Mächte „hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes (beenden und) . . . die entsprechenden damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst“ werden.

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Der Vertrag war ein Meisterstück internationaler Diplomatie. Er war auch bis zum Schluss heftig umkämpft, ließ sich aber durch die Dynamik des Verständigungsprozesses dann einfach nicht mehr aufhalten. Selbst die bizarre Episode der sowjetischen Herausholung Erich Honeckers aus dem Militärhospital Beelitz bei Potsdam (13. März 1991) konnte das Inkrafttreten zwei Tage später nicht mehr gefährden. Der Vertrag bedeutete mit seinen Regelungen über den Rückzug der sowjetischen Westgruppe-Truppen, die Stärke der deutschen Streitkräfte und die Bündniszugehörigkeit des vereinten Deutschland schließlich auch einen maßgeblichen Pfeiler der neuen gesamteuropäischen Sicherheitsordnung. 3. Mit Wiedervereinigung und Zwei-plus-Vier-Vertrag war 1990 zudem die Versöhnung mit allen ehemaligen Kriegsgegnern vollendet, u. zw. nicht nur politisch, sondern nun eben auch völkerrechtlich. Auch darin schloss sich nun die von Potsdam ausgehende Entwicklung. Dafür wurde die dort erst faktisch bestimmte Ostgrenze Deutschlands juristisch endgültig anerkannt. Deutschland bekräftigte überdies förmlich sein Bekenntnis zum Frieden und erklärte noch einmal seinen Verzicht auf atomare, biologische und chemische Waffen. Vor allem war damit jetzt auch die von Potsdam verlangte abschließende Friedensvereinbarung zustande gekommen. Dies war zwar nicht formell der Fall, denn der Ausdruck „Friedensvertrag“ taucht im Zwei-plus-Vier-Vertrag nirgends auf. Und die Aufnahme nicht mehr feindseliger, sondern normaler diplomatischer Beziehung mit den ehemaligen Gegnern war seitens der beiden deutschen Staaten ja längst anderweitig erfolgt, weshalb irgendeine kriegsrechtbestimmte zwischenstaatliche Lage auch nirgends mehr bestand; jetzt noch einen veritablen Friedensvertrag zu fordern, wäre also wahrlich „als ,anachronistisch‘ empfunden“ worden (Stern). Wenn dies alles aber noch einer förmlichen Bestätigung bedurfte, so war die nun durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag eindeutig erbracht. Reparationen waren nach Potsdam an die eigenständig und gravierender betroffenen Staaten tatsächlich mehr als erwartet geleistet worden, und diese Frage sollte deshalb auch nicht mehr aufgerollt werden. Der Vertrag hatte nach seiner Titulierung zudem ausdrücklich eine „abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ zum Gegenstand. Und zwischen den Vertragspartnern bestand nach den Worten des verhandlungsführenden damaligen (bundes-)deutschen Außenministers hierbei „Konsens . . ., dass (nun) ein Friedensvertrag oder eine friedensvertragliche Regelung nicht (mehr) beabsichtigt“ werde. Das noch vom Krieg bestimmte Provisorium war damit nun definitiv beendet und das wiedervereinigte Deutschland mit den vier früheren Siegermächten auf eine Stufe stellt. Die Potsdamer Zukunftsoption ist deshalb nun nicht nur politisch, sondern auch rechtlich erfüllt. 4. Schließlich sind auch die politischen Forderungen an die innere Ordnung Gesamtdeutschlands nicht nur endgültig eingelöst worden, sondern haben sich in ihrer Wirksamkeit als nachhaltig erwiesen. Die Potsdamer Übereinkunft hatte ja

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in ihrem Abschnitt III. A (Punkte 8 bis 10) vom künftigen Deutschland die Reorganisation einer unabhängigen Justiz, die Dezentralisierung der vollziehenden Gewalt und lokale Selbstverwaltung sowie die Einführung demokratischer politischer Parteien verlangt. Damals noch ausdrücklich „unter Berücksichtigung der Notwendigkeit zur Erhaltung der militärischen Sicherheit“ war außerdem „die Freiheit der Rede, der Presse und der Religion (sowie) die Schaffung freier Gewerkschaften“ aufgegeben worden. Mit der Verfassungsordnung des Grundgesetzes wurden all diese Ansprüche für die Bundesrepublik Deutschland schon vier Jahre nach Potsdam befriedigt, und ihr Funktionieren hatte sich in der anschließenden Zeit eindrucksvoll bewährt. Mit dem Beitritt der Gebiete (genauer: der neugeschaffenen Länder) der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik war diese Konstitution nun auch auf die übrigen Teile des vereinigten Deutschland erstreckt worden. Und die Stabilität dieser Ordnung verdiente weiterhin alles Vertrauen der Staatenwelt. IV. Staatssystematische Zusammenschau Die Konferenzergebnisse vom 2. August 1945, als „Potsdamer Abkommen“ in die Annalen eingegangen, sind damit in normativer Hinsicht nur noch Erinnerung bzw. Verfassungsgeschichte. Die in Potsdam geprägte Nachkriegsordnung Deutschlands wurde durch die staatliche Wiedervereinigung vor gut zwanzig Jahren endgültig beendet und von einem neuen völker- wie staatsrechtlichen Arrangement abgelöst. Für das verfasste deutsche Gemeinwesen hat sie aber eine entscheidende Etappe gezeichnet, die ihre Spuren auch im jetzigen Glacis unübersehbar hinterlassen hat. Der deutsche Staat, 1867 gegründet, 1871 zum Deutschen Reich erweitert, 1919 und 1933 (1938) verfassungsrechtlich umkonstituiert, wurde 1945, u. zw. durch Potsdam, neu positioniert. 1949 bauten darauf Zwischenorganisierungen auf, die 1990 schließlich in eine (erst einmal) endgültige Form einmündeten. Die staatliche Kontinuität durch anderthalb Jahrhunderte hat dramatische Zwischenstufen erlebt – nicht zuletzt und besonders dramatisch eben 1945. Und an die reglementarische Ordnung der damals eingeleiteten Etappe sollte hier erinnert werden. Eine tiefgehend-grundsätzliche staatsrechtliche Bestandsaufnahme, wie sie Klaus Stern uns geschenkt hat, war deshalb nicht nur eine faszinierende wissenschaftliche Lebensaufgabe und fertig gestellt nun eine bewundernswerte Leistung. Sie konnte auch auf festem Grund aufbauen. Das Werk vermag epochale Bedeutung für sich in Anspruch zu nehmen.

Grundrechte und Gesetz Eine Entwicklungsgeschichte Von Christian Starck I. Einleitung Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts werden Menschenrechte und Bürgerrechte, später Grundrechte in Verfassungen verbürgt. Die Menschenrechte sind schon lange vorher in der politischen Philosophie als Idee entwickelt worden.1 Als die Rechte in den Verfassungen erschienen, erhob sich die Frage ihrer Geltungsqualität und ihres Geltungsranges. Sind sie bloße Direktiven für die Gesetzgebung, die frei über das Ob und Wie der Umsetzung entscheidet, oder kommt ihnen bindende normative Kraft zu? Hat der parlamentarische Gesetzgeber die Souveränität vom Monarchen aus der Zeit des monarchischen Absolutismus übernommen, ist schwer zu begründen, dass er an höherrangiges Recht gebunden sein soll, wenn man nicht naturrechtliche Grundsätze oder Völkerrecht annimmt. Wo Souveränität gemeinsam bei Fürst und Volksvertretung ruht, sind Gesetze als übereinstimmende Entscheidungen beider Staatsorgane schwerlich einem innerstaatlichen Recht höherer Ordnung unterworfen. Daraus folgt, dass verfassungsrechtlich verbürgte Grundrechte effektive Geltungskraft erst nach Maßgabe der Gesetzgebung erhalten. Wo jedoch die Verfassung auf Volkssouveränität beruht und die Staatsgewalt ursprünglich durch die Verfassung begründet und kompetenziell aufgeteilt wird wie in den USA, ist weder die Legislative noch ein anderes Organ souverän. Die Einhaltung der Verfassung durch Exekutive und Legislative kann die Judikative bewirken, wenn sie wie in den USA gleichrangig mit den anderen Zweigen der Staatsgewalt durch die Verfassung eingerichtet ist. Die verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte werden heute in vielen Staaten nicht nur im Rahmen der Gesetze gegenüber der öffentlichen Verwaltung durch Gerichte gesichert sondern auch gegenüber dem Gesetzgeber durch gerichtliche Normenkontrolle, wofür in einigen Staaten das Monopol eines besonderen Verfassungsgerichts besteht. Soweit die Grundrechte Abwehrrechte gegenüber dem Staat sind, d. h. den status negativus des Bürgers umschreiben, sind sie

1 Christian Starck, Die philosophischen Grundlagen der Menschenrechte, in: Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 553, 556 ff.

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in der Regel unmittelbar geltendes Recht,2 das durch prinzipale oder inzidente Normenkontrolle durchgesetzt werden kann. Die folgenden Ausführungen beschreiben den Weg dahin. Dieser ist gekennzeichnet zunächst durch die „Souveränität“ des Gesetzgebers mit überragender Bedeutung für die Grundrechte (II.), durch die abschließende gesetzliche Definition und Einschränkung der Grundrechte durch Grundrechtsgesetze (III.) und durch den Kampf um den Vorrang der Verfassung (IV.). Zum Schluss wird das Ergebnis der Entwicklung, die „Souveränität“ der Grundrechte, skizziert (V.). II. Die Souveränität des Gesetzes 1. Frankreich und Rousseau

Seit den ersten katalogartig proklamierten Menschen- und Bürgerrechten3 spielt das Gesetz eine große Rolle. In der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) fungiert das Gesetz als wesentliches Instrument der Definition der Freiheit. Die Freiheit besteht nach Art. 44 darin, alles tun zu dürfen, was dem anderen nicht schadet; somit hat die Ausübung der natürlichen Rechte jedes Menschen nur die Grenzen, welche den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss derselben Rechte sichern. Da die Grenzen aber im Einzelnen streitig sein können, heißt es weiter, dass diese Grenzen nur durch das Gesetz bestimmt werden können. Den Gesetzgeber beschränkend heißt es dann in Art 55, dass das Gesetz nur Handlungen verbieten darf, die der Gesellschaft schaden. Was das Gesetz nicht verbietet, darf nicht verhindert werden und nicht darf erzwungen werden, was es nicht anordnet. Die entscheidende Rolle des Gesetzes folgt aus seinem repräsentativen Charakter. Denn nach Art. 66 haben alle Bürger das Recht, persönlich oder durch ihre Repräsentanten an seiner Bildung mitzuwirken. So wird das Gesetz als Ausdruck des allgemeinen Willens bezeichnet. Im Weiteren wird angeordnet, dass das Gesetz für alle gleich sein müsse, sei es, 2 So ausdrücklich Art. 1 Abs. 3 GG, Art. 25 Abs. 1 griechische Verf., Art. 40 Abs. 3 irische Verf., Art. 31 Abs. 3 polnische Verf., Art. 18 Abs. 1 portugiesische Verf., Art. 53 Abs. 1 spanische Verf. 3 Über die Entwicklung dahin vgl. Starck (Fn. 1), S. 553 ff. 4 La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui: ainsi, l’exercice des droits naturels de chaque homme n’a de bornes que celles qui assurent aux autres membres de la société la jouissance de ces mêmes droits. Ces bornes ne peuvent être déterminés que par la loi. 5 La loi n’a le droit de défendre que les actions nuisibles à la société. Tout ce qui n’est pas défendu par la loi ne peu être empêché, et nul ne peut être contraint à faire ce qu’elle n’ordonne pas. 6 La loi est l’expression de la volonté générale. Tous les citoyens ont droit de concourir personnellement, ou par leur représentants à sa formation. Elle doit être la même pour tous, soit quelle protège, soit quelle punisse. Tous les citoyens, étant égaux à ses yeux, sont également admissible à toutes dignités, places et emplois publics, selon leur capacité et sans autre distinction que celle de leurs vertus et de leurs talents.

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dass es schützt, sei es, dass es bestraft. Es folgen in Art. 7–9 Garantien für den Strafprozess und das Strafrecht jeweils durch Gesetz. Art. 10 und 11 garantieren die Religions- und Meinungsfreiheit, und zwar wiederum im Rahmen der Gesetze. In den acht dargestellten Artikeln kommt achtmal das Wort Gesetz vor, das begrenzt, schützt, festlegt, verbietet. Die zentrale Rolle des Gesetzes in der französischen Erklärung der Menschenund Bürgerrechte ist von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) vorgeprägt worden. Sein Gesetzesbegriff ist eng mit seiner Vorstellung vom Gesellschaftsvertrag und der volonté générale verknüpft. Der Gesellschaftsvertrag7 dient der Erhaltung der Menschen und ihrer Freiheit. Er ist Grundlage eines Bundes (foedus), der mit gemeinsamer Kraft die Person und deren Güter schützt. Mit dem Zusammenschluss zu einem Bund versprechen die Menschen Gehorsam. Dieser Gehorsam gilt nicht einem allein berechtigten Herrscher, sondern dem Verband, der Träger der Souveränität ist. So besteht ein Rechtsverhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Verband, dem Träger der Souveränität. Der Souverän, also die Gemeinschaft, darf nur das für das gemeinsame Interesse Notwendige fordern8, wie es wenige Jahre später in dem zitierten Art. 5 der Erklärung der Menschenund Bürgerrechte heißt. Das in der Republik vereinigte Volk, das als Ganzes souverän über jedem Mitglied steht, äußert sich in der volonté générale. Diese unterscheidet sich von der volonté particulière und der volonté de tous dadurch, dass sie im Sinne des Gemeininteresses Gerechtigkeit und Gleichheit verbürgt.9 Gemeinwille ist das, was alle für alle wollen. Da nach dem Gesetz der Vernunft jeder Wille jeweils das Beste für sich will, will dies auch der Gemeinwille für die Gemeinschaft. Deshalb, so folgert Rousseau, ist der Gemeinwille immer gut und kann niemals irren.10 Gemeinwille wird also nicht empirisch begriffen, sondern ist normativ zu verstehen.11 Auch Republik und Volk sind bei Rousseau normative Begriffe. Konsequent nimmt Rousseau an, dass das Volk seinen Charakter verlieren und eine bloße Zusammenfügung von Menschen (agrégation) werden kann.12 Ähnlich spricht Goethe von der „Volkheit“ im Gegensatz zum Volk, die der Gesetzgeber hören müsse, sie spreche immer dasselbe aus, sei vernünftig, beständig, rein und wahr.13 7 Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social (= C. S.) I 6; vgl. Volker Schlette, Konzeption des Gesetzes im französischen Verfassungsrecht, in JöR 33 (1984), S. 279 ff. 8 C. S. II 4: Mais le souverain, de son côté, ne peut charger les sujets d’aucune chaîne inutile à la communité. 9 C. S. I 7, II 1. 10 C. S. II 3. 11 So auch Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, 1960, S. 120 ff. 12 C. S. II 1. 13 Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 682 (Ausgabe Verlag Cotta 1950) = Nr. 154 (Ausgabe Beck Verlag 1981).

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Das Gesetz ist feierlicher14 Ausdruck der volonté générale. Es steht als Erzeugnis des Souveräns über den einzelnen und gewährleistet politische Freiheit. Da der allgemeine Wille nur über einen allgemeinen Gegenstand beschließen kann, darf das Gesetz niemals einen bereits konkretisierten Einzelfall betreffen.15 Die Adressaten des Gesetzes sind die „sujets en corps“, niemals Einzelpersonen.16 Was über die Normativität des Begriffs des allgemeinen Willens gesagt worden ist, gilt auch für den Gesetzesbegriff, dem die Gemeinwohlklausel ebenso innewohnt wie der volonté générale. Gesetze sind nur solche Beschlüsse des Souveräns, die „gerecht“ sind. Dies entspricht dem Motto, unter das Rousseau seinen Contrat social stellt: Foederis, aequas dicamus leges17 (Nennen wir die gerechten Gesetze des Bundes). Die Rousseausche normative Begrifflichkeit von Gesellschaftsvertrag, volonté générale und Gesetz geht von einer nicht zutreffenden Analogie aus: So wie der Einzelwille stets das dem Einzelnen Nützliche und Beste anstrebe (was schon fraglich ist), so soll dies auch der Gemeinwille für das Gemeinwohl tun. Auch der als Erzieher eingesetzte législateur18 kann da nicht weiterhelfen.19 Gleichwohl hat Rousseau die französische Gesetzeslehre bis in die 2. Hälfte des 20. Jh. stark beeinflusst. So blieb der freilich empirische Gesetzgeber, wie in den zitierten Vorschriften der Menschenrechtserklärung von 1789 vorgesehen, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts der authentische Interpret der Menschen- und Bürgerrechte.20 Die idealistische Überhöhung der Souveränität des Gesetzgebers machte blind dafür, dass der empirische Gesetzgeber Gesetze erlassen kann, die nach Rousseaus Theorie ungerecht, also keine Gesetze sind, weil sie z. B. entgegen Art. 5 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte etwas verbieten, was der Gesellschaft nicht schadet. Die Souveränität der Nationalversammlung als Gesetzgeber und der von ihr eingesetzten Regierung ersetzte die Souveränität des absoluten Monarchen. 2. Deutschland und Kant

In Deutschland treten Rechtekataloge in den frühkonstitutionellen Verfassungen in Erscheinung. Gewährleistet werden keine Menschenrechte, sondern 14 Vgl. Art. 4 der Französischen Verfassung v. 1793: La loi est l’expression libre et solennelle de la volonté générale. 15 C. S. II 6. 16 C. S. II 6. 17 Virgil, Aeneas XI, 321. 18 C. S. II 7. 19 Zur Kritik s. Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 128 ff., 132 ff. 20 Vgl. in diesem Sinne noch Georges Burdeau, Les Libertés publiques, 4. Aufl., 1972, S. 74 ff.; für die präventive Normenkontrolle am Maßstab der Grundrechte François Luchaire, La Protection constitutionnelle des droits et des libertés, 1987, S. 17; Christian Starck, Praxis der Verfassungsauslegung II, 2006, S. 110 ff.

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Staatsbürgerrechte der Bayern, Badener, Württemberger usw.: Eigentum und persönliche Freiheit, Religions- und Glaubensfreiheit, Pressefreiheit, Auswanderungsfreiheit und strafprozessuale Garantien werden gewährt. Da der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz in Deutschland und in den anderen europäischen Staaten noch nicht anerkannt war, konnten diese Rechte durch Gesetz beliebig eingeschränkt werden. Einige Verfassungen enthielten ausdrückliche Gesetzesvorbehalte, z. B. bei der Pressefreiheit21, der Gewerbefreiheit22 usf. Immerhin bedurfte die Exekutive einer gesetzlichen Grundlage, wenn sie in Grundrechtspositionen einzugreifen gedachte. Nach § 65 der Badischen Verfassung (1818) „ist zu allen . . . die Freiheit der Person oder das Eigentum der Staatsangehörigen betreffenden allgemeinen neuen Landesgesetzen oder zur Abänderung oder authentischen Erklärung der bestehenden, die Zustimmung der absoluten Mehrheit einer jeden der beiden Kammern erforderlich“23. Der Schutz wurde damals vor allem im Gesetz gesehen, das nur zustande kommen konnte, wenn die Ständeversammlung bzw. die Kammern zustimmten. Die in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts erlassenen deutschen Territorialverfassungen enthalten durchgehend ausdrückliche Gesetzesvorbehalte.24 Die Gleichheit wird entsprechend Art. 3 der französischen Verfassung von 1793 als Gleichheit vor dem Gesetz (devant la loi) gewährleistet. Dieses „devant la loi“ muss im Zusammenhang mit der Definition des Gesetzes als l’expression libre et solennelle de la volonté générale (Art. 4) gesehen werden. Gilt das Gesetz Ausdruck des allgemeinen Willens25 d.h. der Vernunft und damit allgemein im materiellen Sinne, d.h. gerecht, so fängt das Gleichheitsproblem erst nach der Gesetzgebung bei der Anwendung des Gesetzes an. Gleichheit bedeutet folglich Gesetzmäßigkeit. Nicht nur im Zusammenhang mit der Gleichheit sondern auch bei den Freiheitsrechten kommt dem Gesetz, das im Rahmen der Repräsentativverfassung idealer Weise als Ausdruck der Vernunft26 angesehen wurde, eine entscheidende, die zu schützende Freiheit definierende Funktion zu. So schreibt Carl v. Rotteck, dass Gründe für die Rechtsungleichheit vom wahren Gesamtwillen getragen sein und auf vernünftigen Gründen beruhen müssten, was eine repräsentative Verfassung voraussetze.27 21

§ 28 württ.Verf. (1819), Teil IV, § 11 bayer.Verf. (1818). § 29 württ.Verf. 23 Entspr. Teil VII § 2 bayer.Verf. (1818). 24 §§ 31, 32, 36, 37 Kurhessische Verf. (1831), §§ 27, 28, 31, 32, 35 Sächsische Verf. (1831). 25 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), hrsg. von K. Vorländer, 1922, Rechtslehre §§ 46 f. 26 Hemmung der Verwirklichung der Bürgerrechte durch Vorbehalte aus der Wiener Schlussakte (1820), durch den Wahlzensus, durch Karlsbader Beschlüsse (1819), vgl. zusammenfassend Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 149 ff. 27 Carl v. Rotteck, Art. „Gleichheit“, in: ders./Welcker, Staatslexikon, 2. Aufl., Bd. VI, 1847, S. 44, 47 f. 22

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Der Gesetzesvorbehalt bei Eingriffen in Freiheit und Eigentum war ein großer Fortschritt. An der Gesetzgebung waren die Ständeversammlungen, später die Parlamentskammern, in der Weise beteiligt, dass jedes Gesetz ihrer Zustimmung bedurfte. Obwohl in den deutschen Fürstentümern ebenso wenig wie in den europäischen Staaten ein gleiches und allgemeines Wahlrecht galt, wurde im Gesetzesvorbehalt die Sicherung der Bürgerrechte gesehen. Hierfür konnte man sich nicht nur auf die Rousseausche Theorie berufen, sondern auch auf Kant (1724–1804). Er schrieb im Rousseauschen Geist:28 „Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muss sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, dass er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden eben dasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend ist.“ Kant sieht die gesetzliche Freiheit des aktiven Staatsbürgers darin, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat.29 Diese Aussage muss man freilich unter dem Vorbehalt sehen, dass Kant der damaligen allgemeinen Meinung entsprechend zwischen aktiven (= wahlberechtigten) und passiven Staatsbürgern (bloßen Staatsgenossen) unterschied. Die drei Gewalten im Staat sieht er jeweils als Ergänzungsstücke der anderen zur Vollständigkeit der Staatsverfassung, wobei keine der anderen untergeordnet sei. Der Wille des Gesetzgebers sei in Ansehung dessen, was das äußere Mein und Dein betrifft, untadelig (irreprehensibel), das Ausführungsvermögen des Oberbefehlshabers unwiderstehlich (irresistibel) und der Rechtsspruch des obersten Richters unabänderlich (inappelabel).30 Im Begriff der Untadeligkeit des Gesetzgebers steckt der Rousseausche Gedanke des Gemeinwillens. Die Untertanen seien zugleich Staatsbürger, die nach Gesetzen ihrer eigenen Selbständigkeit behandelt werden, jeder besitze sich selbst und hänge nicht vom absoluten Willen eines anderen neben oder über ihm ab. Man muss dabei freilich in Rechnung stellen, dass nur die aktiven Staatsbürger durch Abgeordnete im Parlament repräsentiert werden und dass es neben den aktiven Staatsbürgern auch passive, bloße Staatsgenossen gibt.31 Das Entscheidende freilich ist, dass bei Kant wie bei Rousseau das Gesetz den Freiheitsstandard bestimmt. Das wird ebenso in den französischen Verfassungen 28

Kant (Fn. 25), Rechtslehre § 46. Kant (Fn. 25), § 46 auch zum folgenden. 30 Kant (Fn. 25), § 48, weiter ausgeführt in § 49, insbes. unter A. 31 Gesellen, Dienstboten, Hauslehrer, Unmündige und „alles Frauenzimmer“ (Kant, a. a. O., § 46). 29

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der Revolutions- und Nachrevolutionszeit wie in den Verfassungen der deutschen Fürstentümer zum Ausdruck gebracht. 3. England/USA und John Locke

In England war schon früher als in Frankreich und den deutschen Fürstentümern der Freiheitsstandard durch acts of Parliament bestimmt. Was Freiheitserklärungen im Einzelnen besagten, wurde vom Parlament bestimmt, soweit es seine Entscheidungen nicht delegierte, und ergab sich aus dem Common Law. Diese Parlamentssouveränität ist später von A. V. Dicey wie folgt klassisch beschrieben worden:32 Sie bedeute nicht mehr und nicht weniger, als dass das so definierte Parlament nach der englischen Verfassung das Recht hat, jedes Gesetz zu erlassen oder aufzuheben, und dass nach dem englischen Recht keine Person oder Körperschaft das Recht hat, die Gesetzgebung des Parlaments außer Kraft zu setzen oder außer Acht zu lassen. Das ist von John Locke (1632–1704) schon früh formuliert worden: Die Freiheit der Menschen in einem Staat bedeute, unter einem Gesetz zu leben, das für alle Glieder der Gesellschaft gültig sei und von der in ihr errichteten Legislative geschaffen worden sei.33 Er fügt hinzu, dass Freiheit dort herrscht, wo man nicht dem unbeständigen, ungewissen, unbekannten, eigenmächtigen Willen eines anderen Menschen unterworfen ist.34 Freiheit ist nach Locke nur unter der Herrschaft eines von der Vernunft gelehrten natürlichen Gesetzes möglich. In der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. im Staat, bestimme das positive Recht den Bereich der bürgerlichen Freiheit. Die bürgerlichen Gesetze schränkten die natürliche Freiheit ein.35 Dies bewirke keinen Gegensatz von Gesetz und Freiheit, sondern eine Zivilisierung des Naturzustandes. Die Freiheitsbestimmung durch Gesetz wird bei Locke vom individualistischen Zweck der Staatsgründung her definiert (sc. Schutz von Freiheit und Eigentum) und durch die gesetzgebende Versammlung gesichert, deren Mitglieder, wenn die Versammlung aufgelöst wird, gleich allen übrigen Menschen den allgemeinen Gesetzen unterworfen sind.36 Die besondere Betonung der Bindung auch der Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften, erst nachdem ihre Mitgliedschaft beendet ist, irritiert zunächst, soll aber wohl nur besagen, dass sie dem Gesetz unterworfen sind. 32 A. V. Dicey, An Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 10. Aufl., 1959, S. 39 f.: „The principle of Parlamentary sovereignty means neither more nor less than this, that Parliament thus defined has, under the English constitution, the right to make or unmake any law whatever; and, further, that no person or body is recognised by the law of England as having a right to override or set aside the legislation of the Parliament.“ 33 John Locke, Second Treatise of Government (= S. T.), § 22. 34 S. T. § 6. 35 S. T. § 129. 36 S. T. § 139.

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In der Bill of Rights, der Verfassung der englischen Kolonie Virginia (1776), die Freiheit und Gleichheit gewährleistet, ist von government (sect. 3) und legislative power (sect. 5) die Rede, und die Repräsentation wird durch Wahlgesetz in sect. 6 gesichert. Die Staatsorgane sind eingesetzt für das Gemeinwohl, für Schutz und Sicherheit des Volkes. – In den heute noch geltenden Zusatzartikeln der US-amerikanischen Verfassung von 1791, die die Bill of Rights des Bundes darstellen, kommt das Gesetz einmal vor, und zwar um ein Verbot an den Gesetzgeber zum Ausdruck zu bringen, nämlich: Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das eine Staatsreligion einführt, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Missständen zu ersuchen (Zusatzartikel I). Die ersten zehn amerikanischen Zusatzartikel knüpfen inhaltlich an das Common Law an und stellen Anforderungen an bestimmte staatliche Handlungen vor allem auf dem Gebiete des Strafrechts und des Prozessrechts. Auch im amerikanischen Verfassungsrecht des ausgehenden 18. Jahrhunderts waren Schutz, d.h. Definition und Einschränkung der Grundrechte dem Gesetz und dem Common Law anheimgegeben, die im konkreten Streitfall von den Gerichten ausgelegt und angewandt wurden. 4. Zusammenfassung

Die Entstehung der verfassungsrechtlichen Grundrechtskataloge war verbunden mit der Beauftragung der Gesetzgebung, die Grundrechte zu sichern. Dazu gehört die souveräne Definition dessen, was wieweit zu schützen ist. Deshalb hatte die Gesetzgebung eine Schlüsselfunktion für den Grundrechtsschutz. Die entsprechende Formel im deutschen monarchischen Konstitutionalismus war der Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in Freiheit und Eigentum des Bürgers.37 Die Gesetzgebung wurde als befähigt angesehen, die Grundrechte zu schützen, indem die Interessen des Grundrechtsträgers und die Gemeinwohlbelange gegeneinander abgewogen wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich daraus die sog. Grundrechtsgesetze ergeben. Diese definierten die Grundrechte, schränkten sie ein und schützten sie. Da sich der Gedanke des Vorrangs der Verfassung in Europa noch nicht durchgesetzt hatte, war die Gesetzgebung relativ frei in der Gestaltung der Grundrechtsgesetze, die Maßstäbe für die Gerichte waren, die gegen Grundrechtsverletzungen durch die Exekutive angerufen werden konnten. III. Grundrechtsgesetze Die Deutsche Reichsverfassung von 1871 enthält keine Grundrechte. Sie liegt damit auf einer Linie mit der französischen Verfassungsentwicklung seit 1852. 37

Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 320 f.

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Realpolitischer Pragmatismus, die Erinnerung an das Schicksal der Grundrechte von 1848/49 und die Rücksicht auf die in Deutschland für den Rechtsvollzug zuständigen Staaten sprachen gegen eine reichsverfassungsrechtliche Grundrechtsproklamation.38 In der letzten Auflage des von Georg Meyer und Gerhard Anschütz verfassten Lehrbuchs des deutschen Staatsrechts (1919) heißt es auf S. 955 f. im Hinblick auf die Grundrechtsproklamationen in den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten: „Derartige allgemeine Aussprüche leiden aber meist an dem Übelstande, dass sie sich zur unmittelbaren praktischen Anwendung nicht eignen, sondern zu ihrer Durchführung besonderer Ausführungsgesetze bedürfen, in deren Ermangelung aber sich als wertlos erweisen.“ So regelte das Reichsrecht zahlreiche Rechtsgebiete mit Grundrechtsbezug z. B. auf den Gebieten der Gerichtsverfassung, des Prozessrechts und des Strafrechts, des Gewerberechts, des Presserechts usf. Insgesamt sind 18 Grundrechtsgesetze nachweisbar.39 Entsprechende Grundrechtsgesetze gab es auch in Frankreich.40 Da im 19. Jahrhundert in Deutschland und auch in den anderen europäischen Staaten der Vorrang der Verfassung noch nicht anerkannt war, vor allem nicht auf Grundrechte angewandt wurde, sah man in Grundrechtsgesetzen eine willkommene Stärkung der Grundrechte und kam nicht auf den Gedanken, diese Gesetze an verfassungsrechtlichen Grundrechten, sofern es diese überhaupt gab, zu messen.41 In Frankreich hatte die Menschenrechtserklärung die Bedeutung eines staatsphilosophischen Textes, der die Gesetzgebung der ganzen Welt anregen sollte, hatte selbst aber keine normative Wirkung.42 Grundrechte waren ebenso wie in England in Gesetzen geregelt. Mit dem Vordringen der positivistischen Rechtsauffassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging die Vorstellung von der Freiheit und den Freiheitsrechten als vorstaatlich verloren, die noch v. Rotteck in der 2. Auflage des Staatslexikons 1847 vertreten hatte.43 Die „allmächtige“ Staatsgewalt, in England das Parlament (King in Parliament), wurde 38 Ernst-Rudolf Huber, Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem in: ders., Bewahrung und Wandlung, 1975, S. 133 ff.; Meyer/Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., 1919, S. 956–973. 39 Huber (Fn. 38), S. 138 f.; Klaus Stern, Staatsrecht V, 2000, S. 862 f. 40 Z. B. Loi relative aux Associations syndicales (1865), loi sur les Réunions publiques (1881), loi concernant l’exercice public des cultes (1907). 41 So deutlich Ludwig v. Rönne, Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie Bd. 2, 1882, S. 37. 42 Emile Boutmy, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek (1902), in: Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 88 f. 43 Karl v. Rotteck, Staatslexikon, 2. Aufl., 1847, Bd. V, S. 184: „Der Staat als Rechtsanstalt hat in dieser Eigenschaft die Freiheit seiner Angehörigen als ein ihnen in allen Sphären der menschlichen Tätigkeit schon schlechthin als Personen zukommendes Recht anzuerkennen und zu schützen und braucht also nicht erst ihnen dieselben zu verleihen, oder gar nur einzelne Bruchstücke derselben unter dem Titel von ,Freiheiten‘, Ihnen zu verleihen . . .“

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die alleinige Quelle des Rechts und so auch der Freiheitsrechte. Einen bemerkenswerten Schutz der gesetzlich gefassten Grundrechte gegen Eingriffe der Exekutive gewährte die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Auch das gilt für Frankreich, dort der Conseil d’Etat. So ist die Grundrechtsgeltung über Spezialgesetze ganz ins Verwaltungsrecht mit Schutz durch die Verwaltungsgerichte und ins Strafprozessrecht mit Schutz durch die ordentlichen Gerichte verlagert worden. Gegen legislative Grundrechtsverletzungen z. B. durch die Sozialistengesetze und Kulturkampfgesetze vor allem in Preußen, Hessen und Baden waren die Grundrechtsgesetze machtlos.44 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Gerhard Anschütz in seinem Kommentar zur Preußischen Verfassung den Stand der Grundrechtsentwicklung wie folgt zusammengefasst:45 Er teilte die Grundrechte ein in solche, die sich ausschließlich an den Gesetzgeber wenden; diese würden auf keinen Fall subjektive Rechte erzeugen, „da Ansprüche von Individuen gegen den Staat als Gesetzgeber, sei es auf Vornahme, sei es auf Unterlassen oder Zurücknahme eines legislativen Akts, nach unseren Rechtsanschauungen zu den Unmöglichkeiten gehören“. Hier wird die in Frankreich und England gleichermaßen geltende Vorrangstellung der Gesetzgebung deutlich, die Geltung, Inhalt und Reichweite der Grundrechte bestimmte. So heißt es auch bei Anschütz konsequent, verfassungsrechtliche Grundrechte seien nicht gegebene Gesetze, „sondern Direktiven für zu gebende Gesetze“. Eine zweite Kategorie von Vorschriften enthalte aktuelles, aber rein objektives Recht, das ebenfalls keine Ansprüche der Bürger begründe. Subjektive Rechte ergäben sich immer erst aus den Gesetzen. Anschütz weist zutreffend darauf hin, dass die gesetzlich geschützte Freiheit der Preußen weit über das hinausgehe, was die Verfassung schütze, so z. B. die Freiheit des Berufs, des Vertragsschlusses, der Verehelichung, des Wettbewerbs, des Gemeingebrauchs an öffentlichen Wegen und Gewässern usw. Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sicherte die gesetzlich gewährte Freiheit. Die Periode der Grundrechtsgesetze markiert zwar den Verlust an menschenrechtlichem Elan, wie er noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert zum Ausdruck gebracht worden war. Der Weg von den naturrechtlichen Menschenrechten zum positivistischen formalen Gesetzmäßigkeitsprinzip kann aber durchaus als Fortschritt gesehen werden, und zwar als Fortschritt des wirksamen Schutzes einzelner Rechte gegenüber der Verwaltung, gesichert durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, vor allem durch das Preußische Oberverwaltungsgericht.46 44

Huber (Fn. 38), S. 145 f. Gerhard Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31.1.1850, Bd. 1, 1912, S. 94 ff. auch zum Folgenden. Ähnlich Hermann Schulze, Das Preußische Staatsrecht, 2. Aufl., 1888, Bd. I, S. 369. 46 Ausführlich v. Rönne (Fn. 41), S. 38–211; Ulrich Scheuner, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift für Ernst-Rudolf Huber, 1973, S. 139, 159–165. 45

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Die kurze Zeit der Geltung der Weimarer Verfassung hat trotz des umfangreichen verfassungsrechtlichen Katalogs von Grundrechten neben Grundpflichten keine wesentliche Änderung gebracht. Denn der Vorrang der Verfassung, mithin die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht wurde in der Praxis abgelehnt und selbst bei Annahme einer solchen Bindung47 mangels gerichtlicher Normenkontrolle nicht hätte durchgesetzt werden können. IV. Begründung und Sicherung des Vorrangs der Verfassung Der Vorrang der Verfassung hat eine Vorgeschichte, die bis ins Mittelalter zurückreicht und insbesondere in der frühen Neuzeit in den leges fundamentales eine Vorform gefunden hat, die als Herrschaftsverträge über den einfachen Gesetzen des Souveräns standen.48 Aber erst die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Präambel der Bundesverfassung von 1787 schufen die politische Grundlage für den Vorrang der Verfassung: „We the People of the United States . . . do ordain and establish this Constitution for the United States of America.“ Nach diesen Worten der Präambel begründet und begrenzt das Volk als Souverän durch die Verfassung die Staatsgewalt, organisiert sie, verleiht Kompetenzen und bestimmt die Verfahren, in denen die Staatsgewalt ausgeübt wird.49 Die durch die Verfassung eingerichtete Staatsgewalt ist an die Verfassung gebunden; davon macht die Gesetzgebung als Zweig der Staatsgewalt keine Ausnahme. Dies ist in England aufmerksam registriert worden, wo wegen der Souveränität des Parlaments das Prinzip der begrenzten Gesetzgebung unbekannt war.50 Die Begrenzung der Gesetzgebung durch die Verfassung kommt ferner deutlich im ersten Zusatzartikel der US-amerikanischen Verfassung (1791) zum Ausdruck, wonach der Kongress kein Gesetz erlassen darf, dass die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Missständen zu ersuchen. Grundrechte sind damit zu Schranken der Gesetzgebung geworden, die wie auch die anderen Staatsorgane an das in der Verfassung geregelte 47 Diese wurde von einigen Autoren vertreten, so Carl Schmitt, HbDStR II (1932), § 101, S. 580: Der bürgerliche Rechtsstaat „hat den Zweck und die Aufgabe, bestimmt geartete Grundrechte nicht zu gewähren, sondern nur zu gewährleisten, zu sichern und zu wahren“. 48 Vgl. im Einzelnen mit weiteren Nachweisen Starck (Fn. 26), S. 34 ff. 49 Georges Burdeau, Traité de science politique, tome IV, 3. Aufl., 1984, S. 49; Raymond Carré le Malberg, Contribution à la théorie générale de l’Etat, 1920, Bd. I, S. 232. 50 John W. Gough, Fundamental Law in English Constitutional History, 1955, S. 3.

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Organisations-, Kompetenz- und Verfahrensrecht gebunden ist.51 Gewaltenteilung und Garantie der Menschenrechte werden in Art. 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789) als condiciones sine quibus non einer Verfassung erklärt. Als der Vorrang der Verfassung in der Gründersituation der USA gedacht wurde, bedurfte es der Instrumente, mit denen er praktisch gesichert werden konnte. Alexander Hamilton hat 1788 im Zusammenhang mit der Verfassunggebung im Federalist – ausgehend vom Vorrang der Verfassung – folgendes über dessen Sicherung geschrieben (Nr. 78): Die eigentliche Aufgabe der Gerichtshöfe besteht in der Auslegung der Gesetze. Eine Verfassung ist ihrem Wesen nach ein Grundgesetz (fundamental law) und muss von den Richtern als solches ausgelegt werden. Es obliegt ihnen daher, dessen Sinn zu ermitteln, ebenso wie sie den Sinn aller von der Legislative erlassenen Gesetze zu ermitteln haben. Sollte sich zwischen beiden ein unvereinbarer Widerspruch ergeben, so muss das Gesetz den Vorrang erhalten, welches die höhere Verbindlichkeit und Geltung hat. In anderen Worten: Die Verfassung muss über ein erlassenes Gesetz gestellt werden, die Absicht des Volkes über die Absicht seiner Vertreter. Wenige Jahre später hat sich Emmanuel de Sieyès über die gerichtliche Sicherung der Verfassung Gedanken gemacht und in einem Gutachten für den Nationalkonvent eine Jury constitutionnaire vorgeschlagen und folgendes geschrieben:52 „Eine Verfassung ist eine Einheit verpflichtender Gesetze oder sie ist nichts. Wenn sie eine Einheit von Gesetzen ist, so fragt man: wo ist der Wächter, wo ist die Richterschaft für diesen Kodex? Darauf muss man eine Antwort finden können. Ein Versäumnis dieser Art wäre in der bürgerlichen Ordnung ebenso unbegreiflich wie lächerlich; warum duldet ihr es im politischen Leben? Gesetze, um welche es sich auch immer handelt, schließen die Möglichkeit ihrer Missachtung ein, weshalb das Bedürfnis besteht, ihre Einhaltung zu bewirken.“ 53 Während in Frankreich solche Gedanken nicht in die Praxis umgesetzt wurden, weil die Ideologie vom souveränen Gesetzgeber herrschte, der, wie oben dar-

51 Klaus Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, 1984, S. 15 f. 52 Emmanuel de Sieyès, Opinion sur les attributions et l’organisation du jury constitutionnaire proposée le 2 thermidor, prononcée à la Convention Nationale le 18 du même mois, l’an 3 de la République (1795), imprimée par l’ordre de la Convention Nationale, Paris, S. 3, 20. 53 Da dieses Gutachten schwer zugänglich ist, füge ich den Originaltext aus der, in der vorangegangenen Fußnote zitierten Parlamentsdrucksache hinzu: „Une constitution est un corps de lois obligatoires ou ce n’est rien; si c’est un corps de lois, on se demande où sera le gardien, où sera la magistrature de ce code. Il faut pouvoir répondre. Un oubli de ce genre serait inconcevable entant que ridicule dans l’ordre civil: pourquoi le souffririez-vous dans l’ordre politique? Des lois, quelles qu’elles soient, supposent la possibilité de leur infraction avec un besoin réel de les faire observer.“

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gestellt, eine unkritisierbare volonté générale zum Ausdruck bringt,54 sind die Worte Hamiltons vom Obersten Gerichtshof der USA schon 1803 in der Entscheidung Marbury v. Madison aufgegriffen und in die Praxis umgesetzt worden.55 Die Argumentation des Gerichtspräsidenten Marshall geht von dem höheren Rang der Verfassung aus, die über den Gesetzen steht. Dafür konnte er sich auf europäische Vorbilder berufen. Seit der frühen Neuzeit gab es die leges fundamentales, die höherrangiges Recht waren und über die Gültigkeit niederrangigeren Rechts bestimmten. Was Verfassungsrecht ist, erklärten bemerkenswerterweise Hamilton und Sieyès gleichermaßen unter Hinweis auf die leges fundamentales,56 die den Monarchen bindendes Recht darstellten. Auf dieser Basis bildet Marshall die Alternative:57 Entweder beeinflusst die Verfassung jeden legislativen Akt, der ihr widerspricht, oder die Gesetzgebung kann durch jeden gewöhnlichen Akt die Verfassung ändern. Diese Alternative eröffnet keinen Mittelweg. Wenn der erste Teil der Alternative stimmt, dann ist ein legislativer Akt, der der Verfassung widerspricht, kein Gesetz. Wenn der zweite Teil der Alternative wahr ist, dann sind geschriebene Verfassungen absurde Versuche von Seiten des Volkes, eine Macht zu begrenzen, die unbegrenzbar ist. Wer in der Kategorie denkt, dass eine Verfassung die Grundlegung für alle Zweige der Staatsgewalt ist, auch für die Gesetzgebung, wird deren gerichtliche Kontrolle für notwendig halten. Hier liegt der große Unterschied zum damaligen England, in dem die Parlamentssouveränität als oberster Verfassungsgrundsatz (King in Parliament) galt. In den USA war freilich eine gerichtliche Kontrolle von Gesetzen nicht vorgesehen, weder in der Verfassung noch in einem Prozessgesetz. Aber der Oberste Gerichtshof gehört mit dem Kongress und dem Präsidenten zu den drei Obersten Staatorganen, die mit ihren verfassungsrechtlich geregelten Kompetenzen konkreter Ausdruck der Idee der Gewaltenteilung sind. Die Verfassung regelt in den Art. I–III in je einem Artikel die Stellung des Kongresses, des Präsidenten und des Obersten Gerichtshofs, gewissermaßen ebenbürtig. Die erwähnte Entscheidung von 1803 traf in den folgenden Jahren auf Akzeptanz vor allem wegen der notwendigen Kompetenzgerichtsbarkeit für Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Staaten.58 In der Verfassung sind aber nicht nur Kompetenzen festgelegt, sondern in den Verfassungsergänzungen auch 54 Burdeau (Fn. 47), S. 379 f. äußert Zweifel an der Kontrollfähigkeit der Jury constitutionnaire; vgl. auch Gerhard Robbers, Emmanuel Joseph Sieyès – Die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Französischen Revolution, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, 1987, S. 247, 250 ff. 55 Stern (Fn. 51), S. 30 f. m.w. N. 56 Emmanuel de Sieyès, Qu’est ce que le Tiers Etat? (1789), édition critique par R. Zapperi, Genf 1970, S. 180 f., bezeichnet die lois constitutionnelles erläuternd als lois fondamentales; Alexander Hamilton, The Federalist Nr. 78: „A constitution is in fact, and must be, regarded by the judges as a fundamental law.“ 57 Marbury v. Madison, 2 Law Ed. U.S. 60, 73 (1803). 58 Z. B. McCulloch v. Maryland et al., 4 Law Ed. U.S. 579, 601 (1819).

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Grund- und Menschenrechte, die am Vorrang der Verfassung teilhaben und Maßstäbe für die Gesetzgebung sind, wie es besonders deutlich im I. Zusatzartikel zum Ausdruck kommt: „Congress shall make no law respecting . . ., prohibiting . . ., abridging . . .“ In Europa waren die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Anerkennung des Vorrangs der Verfassung ungünstig, wie oben dargestellt: In England blieb es bei der Parlamentssouveränität. In Frankreich war die richterliche Gewalt nur schwach ausgebildet, und der überwundene monarchische Absolutismus wurde durch den Absolutismus der gesetzgebenden Gewalt abgelöst, die die volonté générale verkörperte. In Deutschland wurden in den einzelnen Fürstentümern Verfassungen gegeben oder vereinbart, die die ursprüngliche Herrschaftsgewalt der Kronen durch Volksvertretungen eingeschränkten, die bei der Gesetzgebung als Organe zur Wahrung der Freiheit verstanden wurden. Politisch gesehen waren die Verfassungen ein Kompromiss zwischen dem Fürsten und dem Bürgertum. Streitigkeiten zwischen ihnen sollte nicht der Richter entscheiden. In der deutschen Staatsrechtslehre war diese Sicht die herrschende. Das kommt besonders deutlich zum Ausdruck in Robert v. Mohls Buch „Das Bundesstaatsrecht der Vereinigten Staaten von Nordamerika“ (1824); v. Mohl unterschied zwischen Verfassungen, die auf der Volkssouveränität beruhen, und Verfassungen, die in einer Monarchie gegeben oder vereinbart wurden. In diesen sog. repräsentativen Erbmonarchien seien der Fürst und die Volksvertretung zusammen souverän und keiner Kontrolle unterworfen. Die Volksvertretung wahre die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, an die die Richter gebunden und somit ungeeignet seien, diese zu prüfen. Viele Jahre später stellt v. Mohl auf den Vorrang der Verfassung ab, woraus das Recht des Richters erwachse, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen.59 1863 beschäftigte sich der Deutsche Juristentag mit der richterlichen Normenkontrolle, die einige Redner forderten; die Mehrheit wandte sich dagegen und stimmte nur für ein formelles Prüfungsrecht.60 Bismarck lehnte es scharf ab, die Machtverteilung zwischen der Krone und dem Landtag von einem richterlichen Urteil abhängig zu machen61 und traf damit den Kern des Problems des monarchischen Konstitutionalismus. Ihm folgte Paul Laband.62 Georg Jellinek dagegen schlug einen Verfassungsgerichtshof für Österreich vor.63 In der Praxis des Verfassungsrechts hat sich nichts getan. Auch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte dem Konstitutionalismus keinen wirklichen Fortschritt. Verfassungen wurden auf eine eher existentialistische Weise 59

Robert v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. I, 1860, S. 66, 81 ff. Scheuner (Fn. 46), S. 156. 61 Zitiert nach Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 972. 62 Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. II, 1878, S. 43 ff. 63 Georg Jellinek, Ein Verfassungsgerichtshof für Österreich, 1885. 60

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als politisch und flexibel verstanden. Ihnen fehlte zumeist die gerichtliche Sicherung. Wo zu diesem Zweck ein Verfassungsgericht eingerichtet wurde wie in Österreich, blieb dessen Wirksamkeit schwach. Das gilt besonders im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte vor der Gesetzgebung. Diese wurde als befugt angesehen, die Grundrechte einzuschränken. Das wurde auf die verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehalte gestützt, ohne dass Argumentationsinstrumente zur Verfügung standen, um zwischen erlaubter Grundrechtsbegrenzung und verbotener Grundrechtsverletzung zu unterscheiden. Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich (Art. 108, 172 WRV) war nicht zuständig für Normenkontrollen am Maßstab der Grundrechte.64 Das gleiche gilt für die damals bestehenden Landesstaatsgerichtshöfe.65 Das Reichsgericht machte im Jahre 1925 im Hinblick auf den Eigentumsschutz den Versuch, den Vorrang der Verfassung zu realisieren. Das Reichsgericht hatte zugunsten einer Normenkontrolle so argumentiert: Die Reichsverfassung sei dem einfachen Reichsgesetz übergeordnet. Die Verfassung enthalte keine Vorschrift, nach der die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der Reichsgesetze den Gerichten entzogen sei.66 Diese Aussage hätte der Ausgangspunkt für eine Entwicklung sein können, die 120 Jahre früher in den USA die Entscheidung Marbury v. Madison ausgelöst hat. Die Verhältnisse in Deutschland seit Januar 1933 schlossen eine solche Entwicklung aus. V. Souveränität der Grundrechte Die Vorgeschichte zum Thema Grundrechte und Gesetz findet ihr Ende mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Jahre 1949 und der Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 1951. Unmittelbare Bindung auch der Gesetzgebung an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) und Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Art. 100 Abs. 1) ermöglichen nicht nur die formellen Grenzen von Grundrechtseingriffen zu prüfen, sondern mit dem Instrument des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch die materiellen Voraussetzungen gesetzlicher Grundrechtseinschränkungen unter verfassungsgerichtliche Kontrolle zu stellen.67 Diese Geschichte und ihre Ausbreitung in viele andere Länder nicht nur Europas seit den 70er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts wird hier noch kurz erzählt.

64 Ernst Friesenhahn, Die Staatsgerichtsbarkeit, in: HbDStR II, 1932, S. 523, 529 f.; Stern (Fn. 39), S. 649 ff. 65 Friesenhahn (Fn. 64), S. 531 f. 66 RGZ 111, 320, 323. 67 Vgl. das Apothekenurteil von 1958 als Leitentscheidung BVerfGE 7, 377, 378 (Leitsatz 6), 407.

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Nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur und des Zweiten Weltkrieges ist bei der Schaffung des Grundgesetzes ein neues Konzept der Grundrechtsgewährleistung zum Tragen gekommen. Das findet Ausdruck im Bekenntnis des Deutschen Volkes zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Abs. 2 GG) und darin, dass die nachfolgenden Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden (Art. 1 Abs. 3 GG). Was die Formulierung der Grundrechte anbelangt, heißt es im schriftlichen Bericht des Abgeordneten Hermann v. Mangoldt 68, den dieser im Parlamentarischen Rat gegeben hat:69 „Der Ausschuss beschloss in seiner Sitzung am 21. September auch die Grundrechte nicht in der weiten und rechtlich unbestimmten Fassung von Weimar aufzunehmen, sondern einen Versuch zu machen, sie stärker zu konkretisieren. Eine Mischung von Sätzen, die zu einem Teil aber nur ein Programm für die Gesetzgebung aufstellen oder zur Durchführung erst eingehender Regelung bedürfen oder nicht nur Freiheitsrechte, sondern auch die Beibehaltung gewisser Institutionen oder Rechtsinstitute sichern, wie sie im Zweiten Hauptteil der Weimarer Verfassung vorhanden war, hat rechtlich zu erheblichen Schwierigkeiten geführt. Diese Schwierigkeiten sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Die Absicht ging dahin, die Grundrechte so zu formulieren, dass sie, wie Abs. 3 des Artikels 1 dann auch zum Ausdruck gebracht hat als unmittelbar geltendes Recht (Hervorbebung im Original) angesehen werden können, das sowohl die Gesetzgebung70 wie Verwaltung und Rechtsprechung, und zwar sowohl des Bundes als auch der Länder in gleicher Weise bindet.“ 71 Für Art. 6 und 7 stellte v. Mangoldt im zitierten Schriftlichen Bericht eine Ausnahme fest. Er betont dann, „dass die Geschichte der Grundrechte zugleich die Geschichte der menschlichen Freiheit ist. Bei aller durch die Sache selbst gegebenen Abhängigkeit von früheren Grundrechtskatalogen ist das Verhältnis des Einzelnen zum Staat hier doch in einer eigenen, durch die Zeit bedingten Art geregelt. Trotz der sehr bewussten Reaktion gegen die Unterdrückung menschlicher Freiheit in der jüngsten Vergangenheit ist der Gedanke von der Notwendigkeit der sozialen Einordnung jedes Einzelnen bei der Formulierung jeder einzelnen Bestimmung von maßgebendem Einfluss gewesen.“ 68 Hermann v. Mangoldt hatte 1934 seine Habilitationsschrift „Geschriebene Verfassung und Rechtssicherheit in den Vereinigten Staaten von Amerika“ veröffentlicht, s. Christian Starck, Hermann von Mangoldt (1895–1953). Mitglied des Parlamentarischen Rates und Kommentator des Grundgesetzes, in: AöR 121 (1996), S. 438 ff. 69 Anlage zum Stenographischen Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. Mai 1949, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (Drucksachen Nr. 850, 854), S. 5 f. 70 A. a. O., S. 7 konstatiert insoweit v. Mangoldt eine klare „Fortbildung“ der Weimarer Verfassung. 71 s. dazu Hermann v. Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 153, S. 25 ff.

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Die Grundrechte des Grundgesetzes haben gegenüber den Grundrechten der Weimarer Reichsverfassung eine ausdrücklich angeordnete und durchgehend unbestrittene Geltungskraft vor dem Gesetz. Es waren wohl die grundrechtliche Garantie gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG) und die zunächst gesetzliche und ab 1969 verfassungsrechtlich garantierte Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) und die anderen verfassungsgerichtlichen Verfahren der Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Art. 100 Abs. 1 GG), die sicherstellten, dass die Grundrechte auch gegenüber dem Gesetzgeber Effektivität entfalten konnten. Hinzu kommt, dass die Grundrechte des Grundgesetzes nur den status negativus schützen, somit Abwehrrechte darstellen und keine schwer einlösbaren Versprechungen enthalten. Der heute in Deutschland bestehende Freiheitsstandard wäre ohne Verfassungsgerichtsbarkeit nicht erreicht worden.72 Diese hat insbesondere ein hinreichend klares Konzept der Grundrechtsschranken entwickelt, wonach alle Einschränkungen der Grundrechte zum Schutze eines mit der Verfassung im Einklang stehenden Rechtsgutes geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinne sein müssen.73 Damit wurde die früher herrschende Vorstellung überwunden, dass die den einzelnen Grundrechten beigefügten Gesetzesvorbehalte den Gesetzgeber zu beliebigen Grundrechtseinschränkungen ermächtigten, wenn nur der Wesensgehalt des betreffenden Grundrechts nicht verletzt wird. Da in Art. 19 Abs. 2 GG der Wesensgehalt der Grundrechte garantiert ist, war die Versuchung groß, die einzelnen Grundrechtsgarantien darauf zu beschränken, wie das in Österreich bis 1984 der Fall war. Der dortige Verfassungsgerichtshof 74 hielt Gesetze nur dann für grundrechtswidrig, wenn sie gegen das Wesen des Grundrechts verstoßen, wenn sie den Wesensgehalt des Grundrechts aushöhlen oder wenn sie in ihrer Wirkung einer Aufhebung des Grundrechts gleichkommen. Eine ähnliche Entwicklung war in Italien zu beobachten.75 Seit 1985 haben der österreichische und der italienische Verfassungsgerichtshof die Argumentation in Grundrechtsfällen auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip gestützt.76 Auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Einschränkung der Grund-

72 So zutreffend Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 1292 ff. mit umfangreichen Nachweisen S. 1294, Fn. 187. 73 Vgl. v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, 6. Aufl., 2010, Art. 1 Rdnr. 262 ff. 74 VfG Slg. 8991/1980. 75 Heinz Schäffer, Die Entwicklung der Grundrechte und ihrer Interpretation durch die Verfassungsgerichtshöfe in Österreich und Italien, in: Starck (Hrsg.), Fortschritte der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Welt II, 2006, S. 121 ff. 76 Karl Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2000, S. 48 ff.; Paolo Barile, in: AA. VV., Il principio di ragionevolezza nella giurisprudenza della Corte costituzionale, 1994, S. 21 ff.

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rechte übernommen worden.77 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt als Maßstab für Grundrechtseinschränkungen auch in Spanien78 sowie in den mittel- und osteuropäischen Staaten, soweit eine intakte Verfassungsgerichtsbarkeit existiert79 und ist in einigen neueren Verfassungen ausdrücklich statuiert.80 Insgesamt kann man feststellen, dass die Bindung der Gesetzgebung an die Grundrechte in Staaten mit Verfassungsgerichtsbarkeit mittels des Instruments des Verhältnismäßigkeitsprinzips realisiert werden kann. Dabei bleibt dem Gesetzgeber aber immer noch hinreichende Gestaltungsfreiheit.81 Das Thema Grundrechte und Gesetz umfasst auch die gesetzlichen Verfahren, Rechtsformen und Organisationen, die notwendig sind um grundrechtliche Freiheit zu realisieren.82 Beispiele sind das Vertragsrecht, Sachenrecht, Familienrecht, Vereins- und Gesellschaftsrecht. Ferner erlässt der Gesetzgeber Leistungsgesetze, die materielle Grundrechtsvoraussetzungen sichern sollen.83 Unabhängig von der Antwort auf die Frage, ob der Gesetzgeber verfassungsrechtlich zum Erlass von Leistungsgesetzen verpflichtet ist, stehen solche Leistungsgesetze im engen Zusammenhang mit den Grundrechten, vor allem dem Gleichheitssatz.84 Ferner richtet der Gesetzgeber grundrechtsrelevante Leistungsverhältnisse ein wie z. B. das Schulverhältnis, durch das der Staat vor allem seinem Bildungsauftrag nachkommt. Das Thema Grundrechte und Gesetz enthält auch die neue Institution der grundrechtlichen Schutzpflichten.85 Aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht staatliche Schutzpflichten abge77 Jochen Abr. Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl., 2009, S. 286. 78 STC (= Sentencias del Tribunal Constitucional) 66/1995, 55/1996, 270/1996; Markus González Beilfuß, El principio de proporcionalidad en la jurisprudencia del Tribunal Constitucional, 2003. 79 Andreas Zimmermann, Bürgerliche und politische Rechte in der Verfassungsrechtsprechung mittel- und osteuropäischer Staaten unter besonderer Berücksichtigung der Einflüsse deutscher Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Frowein/Marauhn (Hrsg.), Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, 1998, S. 89, 92. 80 s. z. B. 36 Abs. 3 Schweiz. Bundesverfassung, Art. 52 Abs. 1 Charta der Grundrechte der EU. 81 s. v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 73), Art. 1 Rdnr. 279; Friederike Valerie Lange, Grundrechtsbindung des Gesetzgebers, 2010, S. 218 ff. m.w. N. 82 Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 108 ff.; Matthias Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005. 83 Christian Starck, Staatliche Organisation und staatliche Finanzierung als Hilfen zu Grundrechtsverwirklichungen, in: ders. (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. II, 1976, S. 480 ff.; zuletzt BVerfGE 125, 175, 223, 226. 84 Christian Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 267 ff.; ders., Soziale Rechte in Verträgen, Verfassungen und Gesetzen, in: Gedächtnisschrift für Peter J. Tettinger, 2007, 761, 770 ff. 85 Klaus Stern, Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, in DÖV 2010, S. 241 ff.; Lange (Fn. 81), S. 397 ff. m.w. N.

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leitet, die der Gesetzgeber vor allem durch Zivilrecht und Strafrecht erfüllt. Es handelt sich um die klassischen Pflichten des Staates, vor allem Leben und Gesundheit, Freiheit, Eigentum und andere Rechtsgüter seiner Bürger vor Angriffen Dritter zu schützen.86 In diesem Sinne sah schon Kant das Privatrecht unter dem Prinzip der Einstimmung der Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen.87 Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (1794) schützte die natürliche Freiheit des Menschen, „sein eigenes Wohl ohne Kränkung der Rechte eines anderen suchen und befördern zu können“.88 Obwohl solchen staatlichen Schutzpflichten auf Seiten der Bürger nach dem Wortlaut der Verfassung regelmäßig keine Schutzrechte entsprechen89, hat das Bundesverfassungsgericht im Wege der Fortbildung der Verfassung aus den objektiv-rechtlichen staatlichen Schutzaufgaben subjektive Grundrechte auf Schutz der Bürger abgeleitet.90 Diese Neuerung beruht auf dem Gedanken, dass, soweit die Grundrechte Anknüpfungspunkte für bestimmte Rechtspositionen sind, sie auch einen Anspruch auf Durchsetzung entfalten müssen.91 Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aus den Menschenrechten Schutzpflichten entwickelt.92 Besonders Ansprüche an das „Wie“ und das erforderliche Ausmaß des Schutzes wirkt sich auf das gewaltenteilige Verfassungssystem aus.93 Denn Schutzansprüche verlangen staatliche Leistungen, die nicht unmittelbar aus den Grundrechten folgen, sondern Gesetzgebung voraussetzen.94 Diese Variante zum Thema Grundrechte und Gesetz eröffnet eine neue Dimension der Kontrolle des Gesetzes am Maßstab der Grundrechte. Gilt in der klassischen Fallgestaltung für die Eingriffsbeschränkung das Übermaßverbot, werfen die Schutzrechte ein Untermaßverbot auf, da sie hinreichenden Schutz verlangen. So kann der Gesetzgeber z. B. bei der Einschränkung der Pressefreiheit zum 86 Das ist mit der sûreté in Art. 2 der Französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gemeint; v. Rönne (Fn. 41), S. 38. 87 Kant (Fn. 25), §§5, 10, 18. 88 § 83 Einleitung PrALR. 89 Ausnahmen sind Art. 1 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1, 4 GG, in denen ausdrücklich von „Schutz“ die Rede ist; in Art. 6 Abs. 4 heißt es sogar „Anspruch auf Schutz“. 90 BVerfGE 49, 89, 141; 53, 30, 57; 77, 170, 214; 79, 174, 201 f.; 96, 56, 64; Christian Starck, Praxis der Verfassungsauslegung, 1994, S. 57–62; ders. (Fn. 73), Art. 1 Rdnr. 196. 91 Peter Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 64 f.; die Rechtsprechung wird bestätigt durch Stern (Fn. 72), S. 978; Hans H. Klein, Die grundrechtliche Schutzpflicht, DVBl. 1994, S. 489 ff. 92 Hans-Werner Rengeling/Peter Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, S. 222 ff.; Heike Krieger, Funktion von Grund- und Menschenrechten, in: Grote/ Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, 2006, S. 278 ff. 93 Starck (Fn. 90), S. 46, 64 ff.; Werner Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992, S. 68 ff. 94 Josef Isensee, Grundrechte als Abwehrrechte und als staatliche Schutzpflichten, in: HStR V (1992), § 111, Rdnr. 151 ff.

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Schutze des Persönlichkeitsrechts in die Klemme zwischen Übermaßverbot und Untermaßverbot geraten.95 Es geht um eine Balancierung von Abwehrrecht und Schutzrecht. Diese läuft nicht auf eine ganz bestimmte, verfassungsrechtlich allein erlaubte Lösung hinaus. Zwischen der Obergrenze des Eingriffs und der Untergrenze des Schutzes liegt der Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung.96 So bleibt es bei der unverzichtbaren Funktion des Gesetzgebers, im Rahmen der grundrechtlichen Vorgaben das gesellschaftliche Leben zu gestalten und dabei insbesondere Freiheit und Sicherheit den zeitlichen Umständen entsprechend zu gewährleisten.

95 Karl-E. Hain, Der Gesetzgeber in der Klemme zwischen Übermaß- und Untermaßverbot, in: DVBl. 1993, S. 982 ff. 96 BVerfGE 79, 174, 202.

Universeller Anspruch grundrechtsgeprägter Rechtsstaatlichkeit Von Bin Takada I. Einleitung 1. Annäherung und Zielsetzung

Die dem hochverehrten Professor Klaus Stern gewidmete Festschrift trägt den Titel „Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat“. Dem Thema des grundrechtsgeprägten Verfassungsstaates möchte sich der vorliegende Beitrag von einer wichtigen Flanke, nämlich der Entwicklung des Rechtsstaatsgedankens, nähern. Steht doch, wie Professor Stern nachdrücklich betont hat,1 dieser Gedanke in enger Beziehung zur Idee des Verfassungsstaates. Die ersten Theorien und der Begriff des Rechtsstaates bildeten sich parallel mit der aufkommenden Idee des Verfassungsstaates heraus.2 Man sprach „vom Verfassungs- und Rechtsstaat“ und erklärte „den Rechtsstaat für gleichbedeutend mit dem Verfassungsstaat.“3 Ganz in diesem Sinne sah Otto Mayer im Rechtsstaat den vollendeten Verfassungsstaat.4 Bis heute hat sich dieses Band zwischen Rechtsstaat und Verfassungsstaat als unauflöslich erwiesen. Denn der Rechtsstaat ist der Verfassungsstaat, sofern man ihn aus der Perspektive einer rechtlichen Kontrolle staatlicher Tätigkeit betrachtet. Die Grundrechte, die den Kern des Verfassungsstaates bilden, stellen zugleich das Ziel des Rechtsstaates dar. Die Grundrechtsgeprägtheit des Rechtsstaates korreliert mit der Grundrechtsprägung des Verfassungsstaates, obgleich zwischen der Entstehungszeit des Rechtsstaatsbegriffs und der Nachkriegszeit unter dem Grundgesetz die Grundrechte von der Definition des (formellen) Rechtsstaates ausgeklammert waren. Ziel dieses Beitrags ist es auf der Basis einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung nicht nur die Prägung des Rechtsstaatsprinzips durch die Grundrechte herauszuarbei-

1 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., 1984, S. 769, S. 787 f. 2 Ebd., S. 769. 3 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Bd., 1. Aufl., 1895, S. 61 m.w. N. zu den zahlreichen Vertretern dieser Auffassung (u. a. Rosin, Gneist, Stein, Schulze, Seydel). Auch nach dem 1. Weltkrieg, A. Merkl, W. Jellinek u. a. 4 Ebd., S. 61 f.

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ten, sondern auch zu zeigen, dass der Geltungs- und Ordnungsanspruch des Rechtsstaates sich immer weiter über die Staaten unserer Erde erstreckt. 2. Untersuchungsgegenstand

Im Folgenden wird die Geschichte des Rechtsstaatsbegriffs in Deutschland und in Japan erörtert. Deutschland ist das Mutterland rechtsstaatlichen Denkens und Japan ist das Land, das außerhalb Europas das deutsche Nachdenken über den Rechtsstaat aufgriff und es – den Rechtsstaatsgedanken inhaltlich weiterentwickelnd – mit seinen eigenen rechtskulturellen Vorstellungen verband. Angesichts der Weite des Themas und der Fülle der Debatten müssen sich die Betrachtungen mit einem Überblick bescheiden, der sich auf markante Veränderungen und Eigenheiten rechtsstaatlichen Denkens konzentriert. Nach diesem ersten Schritt wird im zweiten Schritt die zunehmende Ausbreitung des Rechtsstaatsbegriffs in Europa und in Ostasien verfolgt. 3. Vom Rechtsstaat zur Rechtsstaatlichkeit

In diesem Beitrag wird die „Rechtsstaatlichkeit“ vom „Rechtsstaat“ unterschieden. Während sich Letzterer auf die verfassungsrechtlichen Gehalte bezieht, die sich an den Staat wenden, sollen mit dem Begriff der „Rechtsstaatlichkeit“ auch Bindungen erfasst werden, die sich an nichtstaatliche Einrichtungen und Vereinigungen richten. Ein so weites Verständnis ist erforderlich, um den immer weiter greifenden Geltungsanspruch des Rechtsstaates und die Tendenz seiner Verallgemeinerung auch begrifflich zum Ausdruck zu bringen. II. Etablierung des grundrechtsgeprägten Rechtsstaats in Deutschland 1. Untersuchungen über die Entwicklungsstufen und die Begriffsgeschichte des Rechtsstaates

Die Entwicklung der Rechtsstaatstheorie in Deutschland lässt sich grob in zwei Perioden einteilen, nämlich den Zeitraum von der Anfangsphase bis zur Weimarer Zeit und der Zeit seit Erlass des Grundgesetzes. Für den Zeitabschnitt bis zur Weimarer Zeit erweist es sich als hilfreich, zwischen der ideengeschichtlichen Entwicklung der Rechtsstaatstheorien und der Vorstellungs- bzw. Begriffsgeschichte zu unterscheiden. Denn wichtige ideengeschichtliche Schritte sind, wie etwa die Theorie Kants, nicht ausdrücklich mit dem Begriff „Rechtsstaat“ verknüpft.

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a) Herrschende Ansicht über die Entwicklungsstufen der Rechtsstaatslehre: Vom materiellen Rechtsstaat der Anfangsphase zum formellen Rechtsstaat und zurück zu einem materiellen Verständnis unter dem Grundgesetz Nach der herrschenden Ansicht wurde der Rechtsstaat in der klassischen Rechtsstaatslehre von der Freiheit der Bürger sowie vom System der staatlichen Gewalten (Kant, der junge Fichte) oder der Freiheit der Bürger (Humboldt) herausgebildet. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jh. betrachtete Mohl das Wesen des Rechtsstaates als Gewährleistung der Rechte der Staatsgenossen. Der Rechtsstaat wurde in seiner Anfangsphase also als eine materielle Ordnungsvorstellung verstanden. Es war Stahl, der den Rechtsstaat gründlich formalisierte. Der Rechtsstaat sollte Stahl zufolge nur Art und Charakter, Ziel und Inhalt des Staates zu verwirklichen.5 Auf diese Weise verlor die Rechtsstaatstheorie ihren materiellen, bürgerschaftlichen Gehalt und beschränkte sich zusehends auf das Gebot gesetzmäßiger Verwaltung und die sie garantierende Einrichtung, das Verwaltungsgericht. Der bittere Umsturz der Weimarer Republik und die scheinbar „legale“ Errichtung einer menschenverachtenden Diktatur erstickte die Rechtsstaatsdebatte in Deutschland. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren es aber gerade diese fürchterlichen Erfahrungen, die zu einem Um- und Neudenken des Rechtsstaates führten.6 In kurzer Zeit etablierte sich ein materielles Verständnis, das sich in den neuen Länderverfassungen und im Grundgesetz niederschlug. Das Grundgesetz verankerte das Prinzip sowie das System des Rechtsstaates vor allem in den Artt. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 79 Abs. 3, 93 und 100 GG. Parallel dazu festigten sich auch das Entwicklungsschema des Rechtsstaates (vom materiellen Rechtsstaat der Anfangsphase zum formellen Rechtsstaat, ferner zum materiellen Rechtsstaat unter dem Grundgesetz) und die Begriffe des „formellen Rechtsstaates“ und des „materiellen Rechtsstaates.“ 7 Auf das Ganze gesehen ging aus dieser Neuorientierung das grundrechtsgeprägte Rechtsstaatsverständnis hervor.

5 Friedrich Julius Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bd. 2, Abt. 2, 2. Aufl., 1846, S. 131; 5. Aufl., 1878, S. 138. 6 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristen-Zeitung, 1946, S. 1 ff. 7 Christian-Friedrich Menger, Der Begriff des sozialen Rechtsstaats im Bonner Grundgesetz, 1953, S. 9 ff.

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b) Vorstellungs- bzw. begriffsgeschichtliche Entwicklungen: Vom Staatszweck über die Mittel, den Zweck zu verwirklichen, bis hin zu Mittel und Zweck Das beschriebene Entwicklungsschema zeichnet die Entwicklung der Rechtsstaatstheorie nach. Die zugrunde liegenden Ideen entwickelten sich gerade in der anfänglichen Phase manchmal losgelöst von der Benutzung des Begriffs des Rechtsstaates. Vom Rechtsstaatsbegriff wird aber die der Begriffsgeschichte eigene Frage gestellt. Wie kam es, dass der Begriff des Rechtsstaates im Anschluss an die begrifflich-konzeptionelle Ausgestaltung, die Stahl ihm gab, eine so große Wirkkraft entfaltete, dass auch dedizierte Gegner der Stahlschen Lehren auf den Begriff zurückgriffen? Stahl wandte sich gegen den liberalen Inhalt des Rechtsstaates. Dennoch „soll der Staat Rechtsstaat seyn.“ 8 Er versuchte daher den Rechtsstaat zu metamorphosieren. Damals wurde das Wort „Rechtsstaat“ gleichgesetzt mit einem Gemeinwesen, das einen liberalen Staatszweck verfolgt.9 Um den Rechtsstaatsbegriff aus dessen politisch-liberaler Zwecksetzung herauszulösen, kritisierte Stahl die Gleichsetzung von Rechtsstaat und bürgerlich-liberalem Staatszweck. Der Begriff des Rechtsstaates sei „nicht etwa[,] daß der Staat bloß die Rechtsordnung handhabe ohne administrative Zwecke, oder vollends bloß die Rechte der Einzelnen schütze.“ Der Rechtsstaat bedeute eben „überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen.“ 10 Gerade weil der bürgerlich-liberale Staatszweck spätestens seit Mitte der 1860er Jahre nicht mehr wirkungsmächtig war, eröffnete die Formalisierung des Rechtsstaatsbegriffs eine Möglichkeit, mit seiner Hilfe die Verwirklichung der aktuell vorherrschenden Staatszwecke anzuleiten. Der Begriff wandelte sich vom Zweck zu einem Mittel staatlicher Tätigkeit, das in den Rechtsstaatsbegriffen in der ersten Hälfte des 19.Jh. nicht besonders behandelt wurde. Es wäre aber logischer gewesen, die Vorstellung des Rechtsstaates vom bloßen Zweck zu einer als Zweck und Mittel zu entwickeln, und nicht von der als Zweck zu der als Mittel. Wenn der bürgerlich-liberale Staatszweck nicht mehr zeitgemäß wäre, wäre es natürlicher, den Zweck des Rechtsstaates an die gesellschaftspolitischen Entwicklungen anzupassen. In der Tat stößt man auch in der zweiten Hälfte des 19. Jh. auf eine „Zweck und Mittel“-Lehre, wie die von Held11, und

8 Stahl, S. 137: „Das ist die Losung und ist auch in Wahrheit der Entwicklungstrieb der neueren Zeit.“ 9 Das Wort Rechtsstaat erschien damals gewöhnlich in den Abschnitten „Zweck des Staates“ der Bücher; z. B. bei v. Aretin, Murhard, Mohl, und in der zweiten Hälfte des 19. Jh. bei Zoepfl, F. Walter, Kaltenborn, Escher, Schulze, Bluntschli u. a. 10 Stahl, S. 137 f. (2. Aufl., 1846, S. 106) 11 J. Held, Der verfassungsmäßige oder konstitutionelle Staat, 1865, S. 341 ff.

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auch auf eine materielle Rechtsstaatslehre von Maurus12. Der bekannteste Vertreter einer solchen materiellen Rechtsstaatslehre während der Weimarer Zeit war Heller13. Größere Bedeutung vermochte die „Zweck und Mittel“-Lehre sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik jedoch nicht zu gewinnen. Erst unter dem Grundgesetz kam es zum erneuten Meinungsumschwung zugunsten eines materiellen Rechtsstaatsverständnisses. Formelle und materielle Gehalte wurden zu einer umfassenden „Zweck und Mittel“-Lehre verbunden. Die Rationalitätsanforderungen wurden wieder mit einer inhaltlichen Ordnungsvorstellung, nämlich mit der eines grundrechtsgeprägten Verfassungsstaates, verbunden. 2. Materieller Rechtsstaat und formeller Rechtsstaat: Der Rechtsstaatsbegriff unter dem Grundgesetz

a) Die Diskussion um den Rechtsstaatsbegriff unter dem Grundgesetz Unter dem Grundgesetz wandelte sich das Rechtsstaatsverständnis. Die rein formelle, an einer Zweckverwirklichung ausgerichtete Bedeutung trat zurück, beziehungsweise verband sich mit weitreichenden inhaltlichen Vorstellungen über die Rechtsordnung. An diesem materiellen Verständnis wird seither festgehalten. aa) Materieller und formeller Rechtsstaat als zwei Typen des Rechtsstaates Als wesentliche Bestandteile des formellen Rechtsstaates wurden formelle Elemente, wie Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die gerichtliche Kontrolle der vollziehenden Gewalt angesehen. Als Merkmale des materiellen Rechtsstaates wurden dagegen nicht nur formelle Elemente, sondern auch materielle, vor allem die Gewährleistung der Grundrechte betrachtet.14 Bis zu den 1960er Jahren hatte sich dieses Verständnis und die damit einhergehende Zweiteilung in formellen und materiellen Rechtsstaat in der Wissenschaft15 und beim BVerfG16 durchgesetzt.17

12

H. Maurus, Der moderne Verfassungsstaat als Rechtsstaat, 1878, S. 109 f. H. Heller, Rechtsstaat oder Diktatur?, 1930, S. 7 ff. 14 Menger, S. 17 f. 15 Statt aller Ulrich Scheuner, Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860– 1960, Bd. II, 1960, bes. S. 248 ff. 16 Vgl. Beschluss des Zweiten Senats vom 31. Mai 1960, BVerf GE 11, 150 (163). 17 Die Zweiteilung der Typen des Rechtsstaates setzt die nach dem Zweiten Weltkrieg durchgeführte Betrachtung der Geschichte voraus und ist auch heute noch einflussreich: s. Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. II, 2004, S. 553. 13

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bb) Kritik und Weiterentwicklung des materiellen Rechtsstaatsbegriffs Seit dem Ende der 1960er Jahren sah sich die Vorstellung des materiellen Rechtsstaates der Kritik ausgesetzt, die vor allem von Böckenförde ausgeübt wurde. Das Denken vom materiellen Rechtsstaat führe dazu, dass die staatliche Gewalt vor dem Prozess demokratischer Selbstbestimmung bereits an bestimmte oberste Rechtsgrundsätze gebunden und der Schwerpunkt staatlicher Tätigkeit in der Konsequenz auf die Herstellung dieses inhaltlich umschriebenen Rechtszustandes gerichtet sei. Mit einem solchen Verständnis werde der Charakter der Verfassung als Rahmenordnung gesprengt und eine umfassende Grundordnung geschaffen. Diese Tendenz zur umfassenden rechtlichen Positivierung gesellschaftlicher Wertvorstellungen werde auch vom BVerfG vorangetrieben.18 Mit dem materiellen Rechtsstaatsverständnis gehe eine umfassende Konstitutionalisierung der Rechtsordnung und eine Beschneidung des politischen Selbstbestimmungsprozesses einher. Die Kritik führte nicht zu einer Überwindung, aber zu einer Schärfung des materiellen Verständnisses. Paradigmatisch dafür stehen die Überlegungen Sterns, der die Kritik von Böckenförde aufgriff und betonte, dass materielle Rechtsstaatlichkeit nicht heiße, die Form über Bord zu werfen und den Inhalt alles sein zu lassen. Vielmehr gehe es darum, rechtsstaatliche Prinzipien des Grundgesetzes als Strukturprinzip zu begreifen, in dem rationalisierende Form und grundrechtsgeprägter Inhalt eine untrennbare Synthese eingegangen seien.19 cc) Materielle und formelle Elemente der Rechtsstaatlichkeit Nachdem Generationen von Wissenschaftlern über den Wandel des Rechtsstaatsverständnisses nachgedacht und gestritten hatten, kam die Generation, die den Wandel selbst nicht mehr thematisierte. Dies hat dazu geführt, dass die Gegenüberstellung von formellem und materiellem Rechtsstaatsbegriff als „unnatürlich“ empfunden wird, da der formelle Rechtsstaat zwar nur formelle Elemente beinhaltet, der materielle Rechtsstaat aber sowohl formelle als auch materielle Elemente. Dies führte zu Versuchen in jüngerer Zeit, die Begriffe formeller und materieller Rechtsstaat inhaltlich neu zu konstruieren. Exemplarisch verfolgen lässt sich dies an der Kommentierung des Rechtsstaatsprinzips durch Sommermann: Er betrachtete die in Art. 20 Abs. 3 GG genannten Grundsätze, also 18 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, Festschrift für Arndt zum 65. Geburtstag, 1969, S. 53 ff. Eine spätere Kritik von Philip Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, Überlegungen zu seiner Bedeutung für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986, versucht zu zeigen, dass man auf das Rechtsstaatsprinzip verzichten kann, da sich sein normativer Gehalt aus einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes herleiten lässt. 19 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1. Aufl., 1977, S. 609 f.

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die Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt sowie der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, zusammen mit dem in Art. 20 Abs. 2 GG verankerten Gewaltenteilungsprinzip als Kern der formellen Rechtsstaatlichkeit. Nach seiner Auffassung findet die materielle Rechtsstaatlichkeit in Art. 1 GG ihre verfassungsrechtliche Verankerung.20 Mit dieser Neuausrichtung geht auch eine begriffliche Verschiebung einher; statt von „Rechtsstaat“ mit seinen zwei Typen, wird vermehrt von „Rechtsstaatlichkeit“ und seinen verschiedenen Merkmalen gesprochen. b) Begriffliche Beurteilung Formeller und materieller Rechtsstaat bezeichnen eigentlich historische Konzepte, die miteinander konkurrierten. Die Vorstellungen des Rechtsstaates von aa) und bb) setzen diese historische Entwicklung voraus. Die Vorstellung von cc) passt sich dem natürlichen Sinn des Wortes an, hat aber ein Problem bei der Beschreibung der historischen Entwicklung des Rechtsstaates. Auch bei cc) müsste der Rechtsstaat in der Vergangenheit als formeller Rechtsstaat bezeichnet werden. Der Rechtsstaat unter dem GG sollte dabei mit einem Oberbegriff, der formelle sowie materielle Rechtsstaatlichkeit abdecken würde, zum Ausdruck gebracht werden.21 Will man die historische Entwicklung mit zum Ausdruck bringen, bietet sich eine Charakterisierung mit Hilfe des Adjektivs „universell“ oder „zu verallgemeinern“ an. Die universelle oder zu verallgemeinernde Rechtsstaatlichkeit würde sowohl an die philosophischen und damit über das positive Recht hinausgehenden Geltungs- und Ideengrundlagen, als auch an ihre Grundrechtsgeprägtheit erinnern. 3. „Rechtsstaatlichkeit“ im Zeitalter von Internationalisierung und Globalisierung

„Rechtsstaat“ war wie „Verfassungsstaat“ ein Begriff, der ein Attribut des Staates ausdrückte; der Staat sollte Rechts-Staat bzw. Verfassungs-Staat sein. Zwischenzeitlich wird der Begriff „Rechtsstaat“ nicht mehr nur auf Staaten angewandt. Auch die Europäische Union ist dem Rechtsstaatsprinzip und auch andere internationale Organisationen, allen voran die Vereinten Nationen, sind diesem Prinzip verpflichtet. So darf die Bundesrepublik Deutschland der Europäischen Union nur beitreten und sich an ihrer Entwicklung beteiligen, sofern diese den durch Art. 79 III GG gesicherten rechtsstaatlichen Kerngehalten genügt (vgl. 20

Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Stark, GG II, 4. Aufl., 2000, Art. 20, Rn. 217,

228. 21

Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 25.

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Art. 23 I 2 GG). Um diese Veränderungen begrifflich einzufangen, bietet es sich an, von „Rechtsstaatlichkeit“ statt von „Rechtsstaat“ zu sprechen.22 III. Die Entwicklung vom formellen Rechtsstaat zur universellen Rechtsstaatlichkeit am Beispiel Japans 1. Der formelle Rechtsstaat unter der Meiji-Verfassung (MV) von 1889 23

Das Wort „hochikoku“ wurde in der Verfassungsgebungsperiode der oktroyierten Meiji-Verfassung (1881–1889) als Übersetzung des deutschen Wortes „Rechtsstaat“ gebildet. Bei der Schaffung der oktroyierten Verfassung in Japan diente die damalige deutsche Verfassung als Vorbild. Es war daher nur konsequent, dass beim Wandel Japans zum Verfassungsstaat deutschen Typs das Wort „Rechtsstaat“, weil untrennbar mit dem Begriff „Verfassungsstaat“ verknüpft, auch übernommen wurde. Während damals der formelle Rechtsstaatsbegriff schon die herrschende Lehre in Deutschland war, gab es in der Anfangszeit unterschiedliche Vorstellungen vom Rechtsstaat in Japan. Man stellte den Rechtsstaat durch das mit chinesischen Zeichen übersetzte Wort „Hoh-chi-koku“ vor. Nachdem sich die Staatsrechtslehre und die Verwaltungsrechtslehre seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Japan allmählich als eigenständige Disziplinen herausgebildet hatten, begannen sie zu verstehen, dass das Gebot gesetzmäßiger Staatstätigkeit und die staatlichen Einrichtungen, die dieses Gebot mit Wirklichkeit und Substanz erfüllten, die zentralen Elemente des Rechtsstaats bildeten. Dieses Verständnis setzte sich in der Taisho-Zeit (1912–1926) durch. Außerhalb der Verfassungs- und Verwaltungsrechtswissenschaft stieß man gerade während der Taisho-Demokratie aber auch auf die Vorstellungen eines materiellen Rechtsstaates. Die Vorstellung vom formellen Rechtsstaat blieb auch in der Showa-Zeit (1926–1989) vorherrschend.24 Außerhalb der Rechtswissenschaft gewann in der öffentlichen Meinungsbildung in den darauf folgenden Jahren eine völlig andere Auffassung an Boden. Ihr zufolge bedeutete „Rechtsstaat“ den Gehorsam des Volks gegenüber

22 Vgl. den Unterschied zwischen Evangelisches Staatslexikon (1966), S. 2041 ff. und dessen Neuausgabe (2006), S. 1926 ff.: In Letzterer wird die Internationalisierung und Supernationalisierung des Rechtsstaatsprinzips behandelt (S. 1932 f.). 23 Vgl. Bin Takada, Die Rezeption des Begriffs „Rechtsstaat“ in Japan, RECHTSTHEORIE, Beiheft 12, 1991. 24 Die Wissenschaft vom öffentlichen Recht unter der MV, die den formellen Rechtsstaatsbegriff annahm, entsprach dem System der MV. Die MV bestimmte die Rechte und Pflichten des Untertans im 2. Abschnitt, wo die Freiheiten innerhalb der Gesetze gewährleistet und Eingriffe in die Freiheiten und die Rechte den Gesetzen vorbehalten wurden. Art. 61 MV nahm das Verwaltungsgerichtswesen auf. Zu diesem Wesen passte die Vorstellung des Rechtsstaats, dessen Elemente die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und die diese gewährleistende Institution bilden.

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dem Recht. Diese gehorsamspositivistische Position wurde von Seiten der Rechtswissenschaft indes heftig krtisiert.25 2. Die Japanische Verfassung und die grundrechtsgeprägte Rechtsstaatlichkeit

a) Die Entstehung der Lehre des materiellen Rechtsstaats: Auseinandersetzung um „Rechtsstaat“ und „rule of law“ nach dem Zweiten Weltkrieg26 Die Japanische Verfassung vom 3. November 1946 (JV), die am 3. Mai 1947 in Kraft trat, wurde zwar nach dem Verfahren der Verfassungsänderung des Art. 73 Meiji-Verfassung geändert, doch stellt die Japanische Verfassung inhaltlich eine ganz neue Verfassung dar. Trotz des fundamentalen Wandels der Grundsätze und Struktur der Verfassung wurde der unter der MV von der Wissenschaft geschaffene Begriff des Rechtsstaats bis zur Mitte der fünfziger Jahre unverändert beibehalten. Doch schon bald begann man kritisch nachzudenken und sich zu fragen, ob denn das tradierte Verständnis überhaupt zur neuen Verfassung passe. Die Kritik betonte den großen Einfluss des anglo-amerikanischen Rechts auf die Verfassungsgebung und vertrat entsprechend die These, dass die JV die rule of law aufgenommen habe. In den folgenden Jahren kam es so zur Auseinandersetzung zwischen den Vorstellungswelten von Rechtsstaatsprinzip und rule of law: Seit ihrem Ausbruch im Jahr 195227 ging es bei dieser Kontroverse also um die Frage, welches der beiden Prinzipien unter der JV gelten solle. Ein Beitrag in dieser Debatte votierte zugunsten der rule of law und stellte die These auf,28 dass das Rechtsstaatsprinzip ein Grundsatz sei, der die Beziehung zwischen Recht und Verwaltung ordne. Die JV erkenne sowohl das Rechtsstaatsprinzip als auch das verfassungsrechtliche Gebot der Unverletzlichkeit der Grundrechte als unterschiedliche Prinzipien an. Die rule of law hingegen sei eine Vorstellung, die beide Prinzipien gleichermaßen umfasse. Die Überzeugungskraft dieses Vorschlags hing entscheidend davon ab, dass man den Rechtsstaatsbegriff in seiner überkommenen auf ein formelles Ver25 Yorozu Oda, Der Gedanke des Rechtsstaats, 1939, in: ders., Recht und Mensch, 1943, S. 46 ff. (Japanisch): Nach dem Rechtsstaatsprinzip solle das Volk von der Regierung den Gehorsam des Rechts verlangen. 26 Vgl. Takada, Die Auseinandersetzung um „Rechtsstaat und rule of law“ in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg (1945–1955), in: Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht und Völkerrecht, 36, S. 9–32 (1985). 27 Die Kontroverse um „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und rule of law“ zwischen Tsuji und Yanase im Jahr 1952. 28 Toshimasa Sugimura, Rule of Law, in: Hogaku-ronso, Bd. 60, Nr. 5, 1954 (Japanisch).

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ständnis eingeschränkten Form verstand. In der Verfassungsrechtswissenschaft konzentrierte man sich in der Folgezeit deshalb darauf, den Rechtsstaatsbegriff inhaltlich neu zu konstruieren. Als erstes Ergebnis dieser Bemühungen29 zeigte sich im Rahmen genealogischer Untersuchungen des Rechtsstaatsgedankens, dass das formelle Rechtsstaatsverständnis gar keine dem Rechtsstaat spezifischen Eigenschaften in sich trug. Es wurde deutlich, dass sich der Gehalt des Rechtsstaatsbegriffs gar nicht losgelöst von der jeweiligen Verfassung bestimmen lässt, in der er gelten soll. In diesem Sinne war der Rechtsstaat, wie er im 2. Abschnitt MV geregelt worden war, als formeller Rechtsstaat zu verstehen. Demgegenüber hatte die JV den Rechtsstaat im materiellen Sinne und zusammen mit diesem auch die „rule of law“ inkorporiert. Dieses Verständnis vom Rechtsstaat in der JV setzte sich in der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts durch. b) „Formeller Rechtsstaat“ und „materieller Rechtsstaat“ in Deutschland und Japan Das Begriffspaar vom formellen und materiellen Rechtsstaat entstand nach dem 2, Weltkrieg sowohl in Deutschland als auch in Japan. Der formelle Begriff verstand den Rechtsstaat als rechtliches Formprinzip, das Anforderungen an das Mittel stellte. Demgegenüber zeichnet sich der materielle Begriff durch Vorstellungen aus, die nicht nur aus der Form und dem Mittel, sondern auch aus dem Inhalt und dem Zweck bestehen. Während die Entwicklung vom formellen zum materiellen Verständnis als Ausdruck einer allgemeinen Linie der Verfassungsgeschichte verstanden werden darf, hat in Japan anders als in Deutschland keine Umdeutung des Begriffspaars stattgefunden.30 Weiterhin stehen sich formeller und materieller Rechtsstaat als widerstreitende Begriffe gegenüber, die unterschiedliche Entwicklungsstufen der Rechtsstaatlichkeit bezeichnen. Seinen tieferen Grund findet dieser Umstand in der japanischen Verfassungsentwicklung. Die MV und mit ihr die Vorstellung eines formellen Rechtsstaates war Ausdruck unvollkommener Verfassungsstaatlichkeit. Im Unterschied dazu verwirklicht sich in der JV die Idee des Verfassungsstaates und mit ihr auch die Idee des materiellen Rechtsstaates.31 Formeller und materieller Rechtsstaatsbegriff kennzeichnen in Japan gerade diesen Strukturwandel der Verfassung. Ein vergleichbar scharfer Gegensatz hat sich in Deutschland nicht ergeben. Denn dort hatte sich zwischen Grundgesetz und Bismarckscher Reichsverfassung die Verfassung der Weimarer Republik geschoben, 29 Takada, „Gesetzmäßige Verwaltung“ und formeller Rechtsstaat, in: Festschrift für Prof. Dr. Sotaro Watanabe zum 60. Geburtstag, 1956 (Japanisch). 30 s. o. unter II.2.a)cc). 31 An dieser Stelle zeigt sich erneut die Fruchtbarkeit der oben vorgeschlagenen Begriffsbildung, bei der an die Stelle von formellem und materiellem Rechtsstaatsbegriff der Begriff universeller bzw. zu verallgemeinernder Rechtsstaatlichkeit tritt.

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deren Rechtsstaatsverständnis zwar als formell verstanden wurde, das aber trotzdem schon Ausdruck echter Verfassungsstaatlichkeit war. Anders als in Deutschland wurde die MV auch nicht mittels einer (scheinbar) „legalen Revolution“ überwunden, vielmehr ging die MV, die bis 1947 galt, an ihren eigenen Unzulänglichkeiten zugrunde (vor allem die Unmöglichkeit der Kontrolle des Militärs unter der kaiserlichen Prärogativen und die unzulängliche Gewährleistung bürgerlicher Rechte). Erst unter der JV wurden in Japan Grundrechte wirksam gewährleistet, wurde der Parlamentarismus vollkommen verwirklicht, die Verfassungsgerichtsbarkeit eingerichtet und der effektive Rechtsschutz der Bürger durch das Gericht hergestellt. Die Durchsetzung dieser neuen Inhalte bildete die Aufgabe der Verfassungsrechtswissenschaft dieser Zeit. Trotzdem hielten sich gerade bei den Grundrechten sowohl Rechtswissenschaft als auch Verfassungsgerichtsbarkeit deutlich damit zurück, diese Rechte mit materiellem Gehalt anzureichern. Es ist besonders bemerkenswert, dass die Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit in Japan von Passivität geprägt war und selten von aktivistischen Haltungen kritisiert wurde. Von der in Deutschland gelegentlich zu hörenden Sorge vor einer Überbetonung materiellen Rechtsdenkens kann deshalb in Japan keine Rede sein.

c) Grundrechtsgeprägtheit der Rechtsstaatlichkeit Die JV wandelte die tragenden Struktur- und Leitprinzipien der Verfassung um, in diesem Rahmen auch in die materielle Rechtsstaatlichkeit. Doch es brauchte seine Zeit, bevor die verschiedenen Elemente materieller Rechtsstaatlichkeit von der japanischen Rechtswissenschaft konzeptionell durchdrungen und konkretisiert wurden. Seit den 1990er Jahren trat die Gesetzgebung und seit Ende des 20. Jh. auch die Verfassungsgerichtsbarkeit als konkretisierungsmächtige Gewalt hinzu. Die Zunahme der materiellen Rechtsstaatlichkeit (besser der zu verallgemeinernden Rechtsstaatlichkeit) bedeutet in erster Linie die Steigerung der grundrechtlichen Prägung der Rechtsstaatlichkeit. Mit der Entfaltung des grundrechtsgeprägten Verfassungsstaats entwickelte sich zugleich die grundrechtsgeprägte Rechtsstaatlichkeit. Die Vorstellung einer universellen bzw. grundrechtsgeprägten Rechtsstaatlichkeit lässt sich an folgenden Punkten ablesen: – Gewährleistung der Grundrechte: Die Grund- und Menschenrechte, die die Verfassung dem japanischen Volk garantiert, werden als unverletzliche, ewige Rechte dem Volk und damit der heutigen Generation wie auch den künftigen Generationen anvertraut (Art. 97, 11 JV); – Gewaltenteilung: Parlament (Abschnitt 4 JV), Kabinett (Abschnitt 5 JV), Rechtspflege (Abschnitt 6 JV);

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– Verfassungsbindung der Gesetzgebung: Bindung an die Verfassung als der ranghöchsten Rechtsvorschrift (Art. 98 Abs. 1, 81 JV); – Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an Gesetz und Recht: Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Bindung der Verwaltung an zentrale Verfassungsgrundsätze, wie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, der Gleichheit, des Vertrauensschutzes, eines fairen Verfahrens; – Umfassender und effektiver Rechtsschutz: Rechtsschutzanspruch (Art. 32 JV); – Verfassungsgerichtsbarkeit (Art. 81 JV); – Öffentlich-rechtliche Ersatzansprüche: Staatshaftung (Art. 17 JV); Entschädigung (Art. 29 Abs. 2 JV); Ausgleich der Folgen (Art. 17 u. 29 Abs. 2 JV). Und schließlich – die gewissenhafte Befolgung der geschlossenen Verträge und der internationalen Rechtssätze (Art. 98 Abs. 2 JV).

IV. Die Verallgemeinerung der Rechtsstaatlichkeit Um den Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht zu sprengen und doch einen kurzen Blick auf das weltweite Ausgreifen der Idee der Rechtsstaatlichkeit werfen zu können, beschränken sich die folgenden Überlegungen auf Stichworte: 1. Rechtsstaatlichkeit in Europa

a) Rechtsstaatlichkeit in Kontinentaleuropa aa) Die Westeuropäisierung des Rechtsstaatsverständnisses Der Begriff „Rechtsstaat“ entstand im deutschsprachigen Raum. Neben Deutschland verwenden Österreich, Liechtenstein und die Schweiz deshalb diesen Begriff. Aber auch viele andere westeuropäische Länder greifen in Form von Übersetzungen auf den Begriff zurück: Niederlande (rechtsstaat), Dänemark (retsstat), Schweden (Rättsstatt), Norwegen (rettsstat), Finnland (oikeusvaltio), Italien (stato di diritto), Griechenland (krÜtonzdikaßon). In den 1970er Jahren überwanden Spanien und Portugal ihre diktatorische Ordnung und wurden zu demokratischen Verfassungsstaaten. Im Zuge dieser Umwälzungen wurde auch das Rechtsstaatsprinzip in deren Verfassungen aufgenommen: Spanien (Estado de Derecho, Präambel, 1978), Portugal (Estado de Direito, Präambel u. Art. 2, 1976). Als eine gewisse Merkwürdigkeit ist schließlich Frankreich zu verzeichnen, das nach der Einführung des Conseil Constitutionnel den Begriff „état de droit“ aufnahm. Bis Ende der 1980er Jahre setzte sich der Rechtsstaatsgedanke – sieht man von osteuropäischen Staaten einmal ab – überall im Kontinent durch.

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bb) Die Entstehung des Rechtsstaatsbegriffs in den osteuropäischen Ländern und in Russland Nach dem 2. Weltkrieg führten die osteuropäischen Länder das System der sozialistischen Gesetzlichkeit ein (z. B. Art. 90 DDR-Verfassung von 1968). In der ehemaligen DDR wurde darüber hinaus der Begriff des „sozialistischen Rechtsstaats“ gebraucht,32 doch entfaltete dieser keine nennenswerte Kraft für sozialistische Gesellschaftsordnungen. Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begann man mit Einsetzen der Perestroika in der Sowjetunion auf den Begriff des Rechtsstaates zurückzugreifen. Nach den weitgehend friedlichen Revolutionen in den osteuropäischen Ländern im Jahr 1989 wurde der Rechtsstaatsbegriff in die neuen Verfassungen dieser Länder aufgenommen: Ungarn (jogállam, 1989), Polen (Pan´stwo prawa, 1989), DDR (Rechtsstaat, Verfassungsentwurf des Runden Tisches, 1990), Tschechische Republik (právni stát, 1992), Slowakische Republik (Pra´vny sˇta´t, 1993), Russische Republik (QSDɜɨɜɨɟɬɨɫɭɞɚɪɫɬɜɨ , 1993). Aufgrund dieser Entwicklung hat sich der Gedanken der Rechtsstaatlichkeit zumindest als verfassungsrechtlicher Anspruch im gesamten kontinentaleuropäischen Raum durchgesetzt. b) Rechtsstaatlichkeit auf europäischer Ebene aa) EU-Vertrag und Rechtsstaatlichkeit Der Maastricht-Vertrag (1992), der Amsterdamer-Vertrag (1997) und der Nizza-Vertrag (2001) anerkannten die Rechtsstaatlichkeit als einen konstitutiven Grundsatz, auf dem die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaften beruhten (vgl. Art. 6 EUV sowie die Präambel). In dem nicht in Kraft getretenen Vertrag über eine Verfassung für Europa (2004) zählte der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit zu den tragenden Säulen der Union (vgl. Präambel, Art. 1–2, Teil II: Präambel). Der Vertrag von Lissabon (2009) hält an der Rechtsstaatlichkeit als einem universellen Wert, einem Wert der Union und einem Grundsatz beim Handeln der Union auf internationaler Ebene fest (vgl. Präambel, Art. 2 und 3 EUV). bb) Der von den Mitgliedsländern übernommene Rechtsstaatsbegriff Der EU-Vertrag ist in einer Urschrift in der Sprache jedes Mitgliedslandes abgefasst, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist (Art. 55 EUV). Dies 32 Über den sozialistischen Rechtsstaat in der DDR: Klaus Sieveking, Die Entwicklung des sozialistischen Rechtsstaatsbegriffs in der DDR, 1975: Detlef Joseph, Zur Geschichte der Diskussion um den sozialistischen Rechtsstaat, Staat und Recht 2/90, S. 139 ff., u. a.

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hat zur Folge, dass der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit in der Sprache eines jeden Mitgliedstaates ausgedrückt wird. Folgende Formulierungen wurden gewählt: – Rule of Law: 2 Länder – Großbritannien (rule of law) und Irland (an smacht reachta); – Rechtmäßigkeit: 1 Land: Lettland (tiesiskums); – Rechtsstaat bzw. Rechtsstaatlichkeit: 24 Länder: Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Niederlande, Luxemburg (Beitritt 1957), Dänemark (1972), Griechenland (1981), Spanien, Portugal (1986), Österreich, Finnland, Schweden (1995), Estland (Õigusriik), Zypern (krÜtonzdikaßon), Litauen (Teisine˙ valstybe˙), Ungarn, Malta (l-stat tad-dritt), Polen, Slowenien (Pravna drzˇavz), Tschechische Republik, Slowakei (2004), Bulgarien (QSDɜɨɜDɬDɞESɠDɜD ), Rumänien (statului de drept) (2007). cc) Grundrechtsgeprägte Rechtsstaatlichkeit in EU In Art. 6 Abs. 1 EUV anerkennt die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig. Außerdem tritt die Union nach Art. 6 Abs. 2 EUV der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei. 1989 veranstaltete Professor Stern ein Internationales Symposion mit dem Titel „40 Jahre Grundgesetz“.33 Ein Thema des Symposions war „Die Entstehung einer Europäischen Grundrechtsgemeinschaft“. Damals stellte dies ein neues und – wie sich gezeigt hat – zukunftsträchtiges Thema dar. Zwei Jahrzehnte später ist die EU zu einer wahren Grundrechtsgemeinschaft geworden. Auf diese Weise erfährt der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit auch auf europäischer Ebene seine spezifische Grundrechtsprägung. 2. Die Durchsetzung des Rechtsstaatsdenken in Ostasien

Auch außerhalb Europas breitet sich der „Rechtsstaat“ aus. Besonders in vier Länder in Ostasien stößt man auf den Rechtsstaatsbegriff. Er wird in derselben chinesischen Schrift geschrieben, aber die Aussprachen sind unterschiedlich. Hoh-chi-Staat heißt er in Japan, Fah-chi-Staat in der Volksrepublik China und in Taiwan und in Korea wird er Buchi-Staat genannt.

33 Klaus Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz-Entstehung, Bewährung und internationale Ausstrahlung, 1990.

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a) Republik Korea34 Die Verfassung der Republik Korea, die ursprünglich aus dem Jahr 1948 stammt, wurde neun Mal geändert, zuletzt 1987. Die Verfassung garantiert eine demokratische Ordnung und garantiert in weitem Umfang die Grundrechte seiner Bürger (2. Abschnitt). Korea besitzt auch ein Verfassungsgericht (6. Abschnitt). Auch in Korea kann man auf den Wandel vom formellen hin zu einem materiellen Rechtsstaatsverständnis hinweisen. Aufgrund eines weit gefassten Grundrechtskatalogs ist sogar vom sozialen Rechtsstaat die Rede. b) National-China (Taiwan) 35 Taiwans Verfassung von 1946 war von 1948 bis 1991 suspendiert. Die heute geltende Verfassung wurde seitdem viermal geändert. Im zweiten Abschnitt der Verfassung sind die Rechte der Bürger garantiert; vom dritten bis zum neunten Abschnitt finden sich Regelung über die Gewaltenteilung und Staatsorganisation. Taiwan kennt außerdem einen Justizhof (Justizyan), der nicht nur für die Zivil-, Straf- und Verwaltungsangelegenheiten (Art. 77), sondern auch für Verfassungsstreitigkeiten zuständig ist (Art. 78, 171). Gebildet wird das Verfassungsgericht von den Hohen Richtern der Justizyans (Art. 79 II). Zur Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Taiwan hat der Justizyans mit seiner Verfassungs- und Rechtsauslegungsarbeit maßgeblich beigetragen. Auch in Taiwan spricht man von einem Wandel vom formellen Rechtsstaat (bis 1991) hin zu einem materiellen Rechtsstaatsverständnis (seit 1991). c) Volksrepublik China In China hat das Wort „Fah-chi“ eine sehr lange Tradition. Das alte Wort hatte jedoch eine andere Bedeutung und fungiert als ein Gegenentwurf zum Konfuzianismus. Das heutige Wort Fah-chi ist nach der politischen Wende seit 1978 in Gebrauch gekommen. Besonders nach der Entstehung der geltenden Verfassung von 1982 nahm die Zahl der Aufsätze über Fah-chi sehr stark zu.36 Art. 5 Abs. 1 der geänderten Verfassung von 1999 proklamiert „den Bau des sozialistischen Rechtsstaats“. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Gebot der rechtmäßigen

34 Der Verfasser verdankt Quellen über den koreanischen Rechtsstaat Herrn Dr. Kyu-Hah Kim, emeritierter Professor an der Universität Kyonggi. 35 Der Verfasser verdankt viele Quelle über den Rechtsstaat in Taiwan Frau Meifeng Lin, Doktorandin an der Universität Nagoya. 36 Z. B. in den Zeitschriften „Politik und Gesetz“, „Konstitutionalismus“, „Forschung nach Jurisprudenz“, „Juristische Zeitschrift“ u. a. (chinesisch) wurden 1982 eine Reihe von Aufsätzen über „Fah-chi“ veröffentlicht.

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Verwaltung.37 Als Folge dieser Anstöße entwickelte sich ein Verwaltungsrecht.38 Es bleibt abzuwarten, doch kann man durchaus auch hoffen, dass diese Ansätze sich zu einem rechtsstaatlichen Grundverständnis weiter entwickeln. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Gewährleistung der Grundrechte kein Ziel dieses chinesischen Rechtsstaats bilden wird. China stellt in seiner jetzigen Form keinen grundrechtsgeprägten Rechtsstaat dar. Bemerkenswert bleibt aber die Einführung einer Menschenrechtsklausel (Art. 33 Abs. 3) durch die Verfassungsänderung von 2004. Man muss abwarten, welche Kraft der dort niedergeschriebene freiheitliche Kern wird entfalten können. d) Rechtsstaatlichkeit in Ostasien Trotz der erheblichen Verständnisunterschiede, die hinsichtlich der Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit bestehen, darf man wohl davon sprechen, dass die Länder Ostasiens eine Gemeinschaft des Rechtsstaatsbegriffs bilden. Ausschlaggebend für die Weiterentwicklung in Ostasien sind wichtige Ansätze im verwaltungsrechtlichen Bereich in China. Im Unterschied zu Europa stellen die Länder Ostasiens aber keine „Grundrechtsgemeinschaft“ dar. Eine solche Gemeinschaft zu verwirklichen, ist Konsequenz und Ausdruck universeller Rechtsstaatlichkeit. Dessen weltweiter Ordnungs- und Gestaltungsanspruch zeigt sich gerade darin, dass sich selbst ein Land wie China dem Anspruch nicht zu entziehen vermag. Gerade in der immer weitergehenden Anerkennung der Rechtsstaatlichkeit als gemeinsames Ziel der Staaten Ostasiens wird man einen Beweis oder – für jene die skeptischer sind – wenigstens ein wichtiges Indiz für den universellen Anspruch der Rechtsstaatlichkeit sehen.

37 Beschluss des Staatsrats über die allseitige Beförderung der rechtmäßigen Verwaltung vom 8. November 1999. 38 Robert Heuser, „Sozialistischer Rechtsstaat“ und Verwaltungsrecht in der VR China (1982–2002), IFA, Hamburg 2003.

Die praktische Wirksamkeit von Verfassungen: Der Fall des Grundgesetzes Von Rainer Wahl I. Der Verfassungsstaat als Typ und konkrete Verfassungen als historisch-politische Besonderheiten Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hat einen Siegeszug des Verfassungsstaates in den europäischen Staaten gesehen;1 zu dem lange etablierten Verfassungspionier USA und dem Vereinigten Königreich, dem intensiven Verfassungsstaat ohne geschriebene Verfassung, sind eine größere Anzahl von substantiellen Verfassungsstaaten2 hinzugekommen, deren Markenzeichen die Verfassungsgerichtsbarkeit wurde. Die Verfassungsidee hat nach mehr als 150 Jahre eine neue Entwicklungsstufe erreicht: zahlreiche Verfassungen sind in ihrer Rechtqualität gesteigert, sie haben an Durchsetzbarkeit und Wirkungskraft gewonnen. Diese Verfassungen haben nach 1945 den Status als Vollrecht erhalten, an dem es ihnen 150 Jahre gemangelt hatte, solange dem Anspruch auf Verbindlichkeit keine Sanktionen und Durchsetzungsinstrumente zur Seite standen.3 Die Verfassungs1 Wenn hier und im Folgenden von Siegeszug und Erfolgsgeschichte und ähnlichem die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass sich einige Verfassungen nach 1945 in ihrem normativen Anspruch und in ihrer realen Verwirklichung deutlich gegenüber Vorläuferverfassungen gesteigert haben. Es wird nicht behauptet, dass sie in irgendeiner Weise eine absolute Höhe erreicht oder fehler- und kritikfreie Regelungen enthielten. Es geht um Relationsurteile. Relativierungen von „Erfolgsmeldungen“ sind immer mit vorausgesetzt, sie werden aber um der Überschaubarkeit des Gedankengangs willen nicht ausdrücklich vermerkt. 2 Im Text wird der Begriff „substantielle Verfassungen“ im Gegensatz zu ScheinVerfassungen oder nur formellen Etiketten-Verfassungen benutzt. Verfassungen sind längst zu einem Normalbestandteil jedes Staates geworden, auch wenn viele Staaten materiell vom Verfassungsdenken denkbar weit entfernt sind. Anfang 2011 wurde auch einem breiteren Publikum deutlich, dass es in Tunesien, Ägypten, Libanon, Syrien oder im Jemen Verfassungen gab und gibt, dass dort aber seit mehr as 3 Jahrzehnten der permanente Notstand galt – m. a. W. die Verfassungen waren nur nominell, die Regime dagegen in Wahrheit diktatorisch oder autoritär. – Die Ausführungen des Textes gelten nur für die substantiellen Verfassungen bzw. Verfassungsstaaten, die nicht allein eine Verfassung haben, sondern die in ihr jeweils niedergelegten Prinzipien (Machtbegrenzung durch Recht, Grundrechte und Gewaltenteilung) auch verwirklichen (wollen). 3 Es sind zwei unterschiedliche Entwicklungsstufen oder Aggregatzustände des Rechts, wenn das Recht noch nicht durch Sanktionen flankiert ist oder wenn es durchsetzfähig gestaltet wird. Das Völkerrecht zeigt diese Problematik deutlich. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jhd. waren die meisten Verfassungen (mit Ausnahme vor allem der

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gerichtsbarkeit hat das Potential des materiellen Verfassungsrechts zur Wirksamkeit und zur Entfaltung gebracht.4 In diesem Sinne hat sich die Verfassungsgerichtsbarkeit als Schlussstein der Verfassungsarchitektur erwiesen, ohne den die jahrhundertealte Architektur unvollendet geblieben wäre. Ablesen mag man diese Entwicklung an der Karriere des Begriffs „Verfassungsstaat“. Auch in zahllosen Würdigungen zu den Jubiläen des Grundgesetzes spiegelt sich ein solches Selbstverständnis wider.5 Von der Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik und des Grundgesetzes ist darin überwiegend die Rede.6 Wenn im Folgenden diese Einschätzung zugrunde gelegt wird, so bedarf dies einer erläuternden Vorbemerkung: Von Erfolgsgeschichte und Siegeszug ist die Rede, weil das Verfassungsrecht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in europäischen und einigen nicht-europäischen Staaten ein neues Niveau an Bedeutsamkeit erhalten hat. Das Interesse richtet sich dabei auf die Steigerung der Bedeutung in Relation zu früheren Niveaus. Behauptet wird keineswegs, dass die derzeitigen substantiellen Verfassungen7 die beste aller denkbaren Verfassungswelten verwirklichten; sie haben aber ein höheres Niveau als vor 1945 erreicht – so meine Ausgangsthese. Klaus Stern hat diesem Siegeszug – er spricht gelegentlich vom Triumphzug8 – seine Hauptaufmerksamkeit und sein Lebenswerk gewidmet, sei es in dem als USA) im ersten Entwicklungsstadium verblieben, in welchem das Völkerrecht in beträchtlichen Teilen noch heute steckt. 4 Materielles Verfassungsrecht (also eine Verfassung ohne Verfassungsgerichtsbarkeit) hat zwar als solches eine gewisse Steuerungswirkung, zumal wenn der Verfassungsgedanke wie im 19. Jhd. eine hohe Wertschätzung genießt. Doch im Konfliktfall kann sich, wie ebenfalls das deutsche 19. Jhd. zeigt, das Recht nicht entfalten, es bleibt bei der bloßen Rechtsbehauptung, die verbindliche Feststellung und anschließende Durchsetzung fehlen. 5 Aus der Literatur zum 60jährigen Jubiläum des Grundgesetzes Paul Kirchhof, Das Grundgesetz – ein oft verkannter Glücksfall, DVBl. 2009, 541 ff.; 60 Jahre Grundgesetz, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 18–19/2009; Peter M. Huber, Das europäisierte Grundgesetz, DVBl. 2009, 574; Michael Sachs, Das Grundgesetz in seinem sechsten Jahrzehnt, NJW 2009, 1441; Fabian Wittreck (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz. Verfassung mit Zukunft? (Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft; N.F. 1), 2010; Christian Bommarius, Das Grundgesetz: Eine Biographie, 2. Aufl., 2009; Christoph Möllers, Das Grundgesetz. Geschichte und Inhalt, 2009; Maximilian Steinbeis/Marion Detjen/Stephan Detjen, Die Deutschen und das Grundgesetz. Geschichte und Grenzen unserer Verfassung, 2009 – Zu den Beiträgen von Klaus Stern anlässlich der Jubiläen s. u. Fn. 10. 6 Natürlich sind zu jeder Zeit gewichtige Einwände gegen die Regelungen des Grundgesetzes und Kritik an der jeweiligen Auslegung vorgebracht worden, dazu zuletzt Horst Dreier (Hrsg.), Macht und Ohnmacht des Grundgesetzes: sechs Würzburger Vorträge zu 60 Jahren Verfassung, 2009 (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Bd. 57), 2009; viel Material dazu auch in: Klaus Stern, Einführung, in: ders. (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz: Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Verfassungsverbund, 2010, S. 7 ff. 7 Zum Terminus „substantielle Verfassungen“ s. Fn. 2.

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Lehrbuch firmierenden großen Handbuch des Staatsrechts, sei es kondensiert und konzentriert in Aufsätzen, Vorträgen und Festreden.9 An erster Stelle sind hier zu nennen die kontinuierlichen Deutungen des Grundgesetzes anlässlich seiner Jubiläen10 oder bei Vorträgen im Ausland. Im Weiteren kreist sein Hauptwerk um den Verfassungsstaat11 oder den grundrechtsprägten Verfassungsstaat. Für diesen Fokus sind Aufsatztitel programmatisch wie etwa „A Society based on the Rule of Law and Social Justice: The Constitutional Model of the Federal Republic of Germany“ 12 oder „Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modernen Verfassung“.13 Bei der kontinuierlich betriebenen Verfassungsvergleichung liegt der Schwerpunkt bei der Gegenüberstellung der Verfassung der USA und dem Grundgesetz.14 Die beiden hier verwendeten Grundformeln vom Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit und vom Erfolg neuerer Verfassungen sind in verfassungsrechtsvergleichender Hinsicht gut abgesichert und bestätigt. Sie konzentrieren sich gemäß der in der Rechtsvergleichung vorherrschenden Perspektive auf das mehreren Rechtsordnungen Gemeinsame. Übereinstimung und Anerkennung einheitlicher Prinzipien, in der EU die „gemeinsamen Verfassungstraditionen,“ gelten in einer zusammenwachsenden Welt von vornherein als wichtig und positiv. Das ist leicht verständlich und in einer integrationspolitischen Perspektive auch in sich richtig. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass die Suche nach Gemeinsamkeiten rasch, 8 Klaus Stern, Deutschlands Verfassung, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1995 Nr. 1, S. 1 ff. 9 „Ausgewählten Reden“ ist der umfangreiche Sammelband Klaus Stern, Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft, hrsg. v. Peter J. Tettinger/Michael Sachs, 2002, gewidmet. 10 Klaus Stern, Das Grundgesetz im fünften Jahrzehnt seiner Geltung – erfüllte und unerfüllte Verfassungserwartungen, NWVBl. 1990, S. 1–8; ders. (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz: Entstehung, Bewährung und internationale Ausstrahlung; Internationales Symposion vom 17. bis 20. Mai 1989, 1990; ders., Ausstrahlungswirkung des Grundgesetzes auf ausländische Verfassungen, in: Bewährung und Herausforderung: Die Verfassung vor der Zukunft, hrsg. v. Bundesministerium des Innern, 1999, S. 2549 ff.; ders. (Fn. 6) S. 7 ff. mit zahlreichen Hinweisen auf die Literatur zu den Grundgesetz-Jubiläen. 11 So trägt die FS zum 65. Geburtstag von Klaus Stern (hrsg. v. Michael Nierhaus/ Günter Püttner/Michael Sachs/Helmut Siekmann/Peter J. Tettinger, 1997) den Titel: Verfassungsstaatlichkeit. 12 Stern (Fn. 9), S. 69. 13 Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modernen Verfassung, in: Georg Müller (Hrsg.), FS für Kurt Eichenberger zum 60. Geburtstag, 1982, S. 197–207. 14 Klaus Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit 1984; ders., 200 Jahre amerikanische Verfassung („Ihr Ideal wurde zum Vorbild“), in: Helmut Siekmann (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes. Ausgewählte Schriften und Vorträge, 1992, S. 1027 ff.; ders., The Genesis and Evolution of European – American Constitutionalism, 1985, in: ders., Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft, Ausgewählte Reden, 2002, S. 161 ff.

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nicht selten zu rasch, zu hohen Abstraktionen führt. Die Folge davon ist, dass Besonderheiten der einzelnen Verfassungsordnungen, die sich aus ihrer Lage, Tradition und historischen Entscheidungen ergeben, tendenziell vernachlässigt und eher als Beiläufiges gesehen werden. Dabei ist beim Thema Erfolgsgeschichte von Verfassungen unübersehbar, dass der „Erfolg“ in den einzelnen Staaten recht unterschiedlich ausfällt. So wird dem Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland in ihrem politisch-gesellschaftlichen System eine besondere, gegenüber anderen Staaten erhöhte Bedeutung beigemessen – und dies sowohl in der Binnen- wie in der Außensicht, und nicht nur im historischen Längsschnitt, sondern auch im horizontalen Vergleich mit anderen Verfassungen. Für die Wissenschaft ist aber nicht nur diese weithin geteilte politische Einschätzung von Bedeutung, sondern sie muss auch in beide Richtungen nach den Gründen für Entwicklungen fragen. Die konkreten Gründe sind etwa wichtig, um zu erklären, warum das Grundgesetz nicht so fragil wie die Weimarer Verfassung ist, und Gründe sind erforderlich, um zu erklären, warum das Grundgesetz anders und wirksamer ist als zum Beispiel die französische Verfassung. Wie erwähnt, scheint es für die Verfassungs(rechts)vergleichung dennoch wichtiger zu sein, die Gemeinsamkeiten, insbesondere die gemeinsame geistes- und ideengeschichtliche Abstammung, nämlich die Herkunft aus dem Staatsdenken der Aufklärungszeit zu betonen, als genauer und konkreter die Unterschiede der einzelnen Verfassungen und diejenigen Gründe zu analysieren, die den einen Staat auf der Basis der gemeinsamen Ideen zu einer schwachen Variante des Verfassungsstaates hat werden lassen, einen anderen dagegen zu einer starken. Die hier betonte Frage nach den Gründen für eine bestimmte Entwicklung ist für ein substantielles Vergleichen wichtig. Sie ist aber auch wichtig für die logisch vorrangige Analyse der Eigenarten einer Verfassung und für die Faktoren, die einer Verfassung Kraft und Wirksamkeit geben – oder eben nicht.15 Notwendig ist also die in die Tiefe gehende Analyse der spezifischen Verfassungsstaatlichkeit eines konkreten Staates. Worauf aber muss sich eine solche Analyse erstrecken? Natürlich stehen am Anfang Texte und ihre politisch-programmatische und juristische Qualität. Allein die Betrachtung der Verfassungstexte aus der Ferne und vom Schreibtisch aus ist aber sicher unvollständig und ungeeignet. In einem zweiten Schritt müssen die Interpretationen durch die (Verfassungs)Gerichte und die Wissenschaft ausgewertet und einbezogen werden. Das erscheint als eine selbstverständliche Anforderung, ist aber bereits sehr anspruchsvoll: Wer will behaupten, seriös die Entscheidungen und Interpretationspraxis der Verfassungsgerichte in, sagen wir 5 oder 8 Staaten ordentlich über15 Zum Zusammenhang zwischen einer vertieften Analyse der eigenen Rechtsentwicklungen und dem heute unverzichtbaren Vergleichen zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen (mindestens der Mitgliedstaaten der EU) Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 13– 16.

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schauen zu können? So fallen Verfassungsvergleiche oft wider Willen doch auf eine nur wenig vertiefte Gegenüberstellung der Texte zurück. In ein noch schwierigeres Terrain gerät man bei der notwendigerweise anschließenden Frage, warum denn in einem (unbestreitbaren) Verfassungsstaat die Kraft und Wirksamkeit des Verfassungsrechts gering, in einem anderen aber hoch ist – gemessen an dem im Überblick gewonnenen Eindruck über die Bedeutung des Verfassungsrechts und verfassungsgerichtliche Entscheidungen im jeweiligen politisch-gesellschaftlichen Leben. So schwierig und methodisch prekär solche Aussagen sein mögen: Das Faktum unterschiedlicher praktischer Bedeutung kann angesichts sehr verschiedener Häufigkeit von verfassungsgerichtlichen Prozessen insgesamt und zumal in (hoch)politischen Fragen nicht zweifelhaft sein, vom Umfang der Probleme und der „Durchdringungs“tiefe der Entscheidungen gar nicht zu sprechen. Wenn die Unterschiede nicht im Text oder seiner Interpretation allein liegen, dann muss es außerjuristische Faktoren geben,16 die für die Besonderheiten und Unterschiede des gelebten Verfassungsrechts, also für das Verfassungsrecht in der Staatspraxis und im gesellschaftlichen Leben verantwortlich sind. Inner- und außerjuristische Faktoren zusammen ergeben ein anspruchsvolles Bündel von Themen und Problemen.17 Ehe diese im Einzelnen behandelt werden (unten III. und IV.), ist zunächst das Phänomen der Wirksamkeit von Verfassungsrecht näher darzulegen (II.). II. Das Phänomen der Wirksamkeit von Verfassungsrecht – Alltäglichkeit und Gegenwärtigkeit des Verfassungsrechts in Deutschland 1. Praktische Wirksamkeit von Recht

In der Regel interessieren sich Rechtswissenschaftler für die Geltung von Verfassungsnormen, nicht für seine Wirksamkeit. Auch die Frage, ob eine Verfassung eine eher geringe oder eine hohe Wirksamkeit hat, bleibt meist außerhalb des wissenschaftlichen Interessenfelds. Recht in Geltung ist jedoch nicht notwen-

16 Aus der innerjuristischen Perspektive spricht man dann gerne von Rahmenbedingungen, wobei für das Gesamtergebnis des Rechts die inner- und außerjuristischen Faktoren die gleiche Bedeutung haben. Allein die eingenommene juristische Perspektive ist es, die die inner- und außerjuristische Faktoren trennt und – selbstverständlich – den innerjuristischen eine besondere Bedeutung zumisst. 17 Näher dazu unten IV. 1. und 2. Ähnlich wie im Text Dieter Grimm, Identität und Wandel – das Grundgesetz 1949 und heute, AnwBl. 2009, S. 505, 507 ff. mit dem leitenden „Dreieck aus Text, Kontext und Interpretation“, das über die Bewährung einer Verfassung entscheide; vgl. auch Peter Lerche, „Bewährung“ des Grundgesetzes, in: Matthias Herdegen/Hans Hugo Klein/Hans-Jürgen Papier/Rupert Scholz (Hrsg.), Staatsrecht und Politik, FS Roman Herzog, 2009, S. 265 ff.

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digerweise auch Recht von hoher Wirksamkeit. Manches in Geltung befindliche Recht steht nur auf dem Papier. Speziell für das Verfassungsrecht heißt dies vor allem, dass sich die politisch Mächtigen um dieses Recht nicht kümmern müssen, es ist schwach, sie können es unsanktioniert übertreten. Umgekehrt heißt praktische Wirksamkeit der Verfassung, dass die mächtigen politischen Kräfte die grundsätzliche Verrechtlichung und die rechtlichen Grenzen ihres Handelns anerkennen und sie im Regelfall freiwillig befolgen. Und generell kann man praktische Wirksamkeit definieren als die möglichst hohe Verwirklichung des normativen Anspruchs im gesellschaftlichen Leben und eine weitgehende Befolgung in der Realität, wobei beides am besten auf der Grundlage einer tatsächlichen generalisierten Anerkennung des (Verfassungs-)Rechts bei den handelnden Politikern und bei den Bürgerinnen und Bürgern geschieht. Die oben wiederholt aufgegriffene Behauptung vom Erfolg des Grundgesetzes muss sich deshalb an seinen Wirkungen ablesen bzw. bestätigen lassen. Aus den vielen Wirkungen des Grundgesetzes seinen hier die Alltäglichkeit und die hohe Gegenwärtigkeit des Verfassungsrechts im politisch-sozialen Leben herausgegriffen. 2. Der Alltag des Sich-Berufens auf die Verfassung in Deutschland

An den Wirkungen lässt sich der Erfolg des Grundgesetz am einfachsten ablesen. Das Verfassungsrecht blüht in der Bundesrepublik nicht im Verborgen oder einer professionellen Nische. Das Bundesverfassungsgericht hat für ein Gericht eine sehr große Bekanntheit und auch hohe Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit, es ist alles andere als eine unbekannte Institution. Zugleich ist es über die Jahrzehnte hinweg die am höchsten geschätzte Institution der Bundesrepublik, der unter den Staatsorganen am meisten Vertrauen entgegengebracht wird. Der Gang nach Karlsruhe ist sprichwörtlich geworden18 sowohl für die politischen Verfassungsorgane wie auch für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger. Niemand ist überrascht, wenn wichtige öffentliche oder politische Themen auch als verfassungsrechtlich relevante Fragen behandelt werden. Noch weniger trifft es auf Erstaunen, wenn immer wieder politische Streitfragen und der Inhalt von umstrittenen Gesetzesvorhaben vor das Bundesverfassungsgericht gebracht werden. Die Verwandlung politischer Streitfragen in Rechtsstreitigkeiten in Karlsruhe, das verfassungsrechtliche Argumentieren ist zu einem Normalbestandteil des öffentlichen Lebens geworden. Der Appell an die Verfassung ist längst nicht mehr das ausnahmsweise Appellieren an die „ew’gen Rechte, die droben hangen unveräußerlich“, sondern gehört zum Alltag öffentlicher und politischer Auseinandersetzung über Gesetze und sonstige Akte des Staates. 18 Ausführlich und tiefgehend Uwe Wesel, Der Gang nach Karlruhe. Das Bundesverfassungsgericht in der Geschichte der Bundesrepublik, 2004; schon früher ders., Der Hüter der Verfassung. Das Bundesverfassungsgericht, seine Geschichte, seine Leistungen und seine Krisen, 1996.

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Die Mehrzahl der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ergehen aufgrund von Verfassungsbeschwerden einzelner: Sie berühren naturgemäß die Antragsteller und meist auch andere einzelne, und diese einzelnen erleben die Verfassungsgerichtsbarkeit als etwas, was sie angehen kann und angeht. Mit der Verfassungsbeschwerde ist die Initiative für das In-Gang-Bringen der obersten rechtlichen Verfahren in die Hand der einzelnen gelegt, von ihnen geht das Verfahren aus, und es kehrt in den Entscheidungen zu den einzelnen zurück. Sie sind betroffen, ihre Lebensumstände werden von den Entscheidungen mitbestimmt. So ist das oberste Recht bei den einzelnen und in ihrem Alltag angekommen, es hat einen Sitz im Leben erhalten. Das Verfassungsrecht ist in Gestalt der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sichtbar, nicht mehr als fernes StaatsRecht, sondern ein im Alltag erlebbares Recht für potentiell jedermann.19 In eine einfache Formel gebracht kann man von der Alltäglichkeit und hohen Gegenwärtigkeit der Verfassung sprechen. Alltäglichkeit heißt dabei auch Wirksamkeit und Relevanz der Verfassung in vielen Verhältnissen, bei Problemen und Streitigkeiten des Alltags. Das Verfassungsrecht ist deshalb nicht mehr nur ein Recht für „die da oben“, für die Großen der Politik, das Verfassungsgericht ist in der Gegenwart nicht mehr nur der „Staats“-Gerichtshof, wie im 19. Jahrhundert vorgestellt. Weil stattdessen das Verfassungsrecht alltägliche, jeden Einzelnen betreffende Fragen entscheidet, entsteht – und dies ist besonders wichtig – eine Resonanz der Verfassung bei den einzelnen, ein Rückhalt bei ihnen. Das Gericht erwirbt sich, nicht nur, aber doch in besonderer Weise, Respekt und Anerkennung, wenn es als allerletzte Instanz20 Gesetzesvorschriften aufhebt oder grundrechtsfreundlicher auslegt. Mit diesem „Pfund“ kann das Gericht wuchern und arbeiten, wenn es um die harten Konflikte zwischen Verfassungsorganen und daraus folgend auch um die möglichen Konflikte zwischen einzelnen Verfassungsorganen und dem Gericht geht. Die Nähe des Gericht und seiner Entscheidungen zum Leben und Alltag der einzelnen verschafft dem Gericht ein Gewicht in der Bevölkerung, das ihm in den harten staatsrechtlichen Konstellationen nützt und geeignet ist, seine Wirksamkeit zu erhöhen.21

19 Ähnlich in der Ausgangs-Beschreibung, aber zu einer anderen Konzeptualisierung gelangend, ist die bekannte Formel von Peter Häberle von der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, dazu ders., Verfassungsgerichtsbarkeit in der offenen Gesellschaft, in: Robert von Ooyen/Martin H. W. Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006, S. 35 ff. mit Hinweisen auf frühere Publikationen. 20 In dieser Funktion werden das Bundesverfassungsgericht wie auch andere nationale Verfassungsgerichtshöfe immer wieder einmal vom EGMR, manchmal auch vom EuGH, abgelöst. 21 Dazu näher unten IV. 4. – Hervorzuheben ist die dem Text zugrundeliegende These: Es ist eine Besonderheit des deutschen politisch-gesellschaftlichen Lebens, dass das Verfassungsrecht und die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts eine so hohe Bedeutung haben. Keineswegs ist dies der durchschnittliche Standard der Verfassungsstaaten.

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Ein sprechendes Indiz für diese Wirksamkeit des Verfassungsrechts ist die bekannte Formel vom Verfassungspatriotismus. Wenn es eines Beweises bedürfte, dann liegt er in der raschen Karriere, die diese Formel vom Verfassungspatriotismus gemacht hat. Was immer die (unterschiedlichen) Intentionen der beiden „Erfinder“ Dolf Sternberger und Jürgen Habermas22 waren, als popularisierte und in der Öffentlichkeit verbreitete Formel meint Verfassungspatriotismus, dass die Verfassung nicht nur wichtig ist, sondern dass sie so wichtig ist, dass sie – zumindest in den Jahren vor 1989 – zum Anker für eine Art neuen Patriotismus bzw. zum Symbol der positiven Angehörigkeitsgefühle der einzelnen zu ihrem Staat geworden ist. 3. Die hohe Gegenwärtigkeit des Verfassungsrechts in politischen Prozessen

So gegenwärtig das Verfassungsrecht in allen (Rechtsfragen und) Lebensumständen der einzelnen ist, so gegenwärtig und relevant ist es auch in allen Fragen der großen und kleinen Politik. Eine political question doctrine gibt es nach dem Grundgesetz nicht.23 Der Zugang zum Bundesverfassungsgericht ist also den Antragstellern der „staatsrechtlichen“ Klagearten Organstreit, Bund-Länder-Streit und z. T. auch der abstrakten Normenkontrolle24 durchgehend eröffnet; diese Verfahrensarten sind nicht nur potentielles oder selten praktiziertes Recht, sondern sie sind auch hier höchst aktuell und vielfach gebraucht. Die Öffentlichkeit kann diese Verfahren, die oft einen starken politischen Hintergrund haben, durch die Vorbereitung und Durchführung der mündlichen Verhandlung und der breiten Berichterstattung darüber intensiv erleben. Mehr noch: Das deutsche Publikum hat während der nahezu 60 Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit erlebt, dass die meisten politischen Auseinandersetzungen der Zeit in der einen oder anderen Einkleidung auch vor das Bundesverfassungsgericht kommen. Kaum ein anderes Phäno22 Den Begriff hat in mehreren Schriften Dolf Sternberger geprägt; ausführlich in: ders., Schriften Bd. X: Verfassungspatriotismus, 1990; der Begriff wurde aufgenommen und umgeprägt durch Jürgen Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, in: ders., Faktizität und Geltung, 1992, S. 632–660, sowie ders., Verfassungspatriotismus – im Allgemeinen und im Besonderen, in: ders., Die nachholende Revolution, 1990, S. 147–174. Vassilios Skouris will den Begriff auf die europäische Ebene heben und postuliert einen europäischen Verfassungspatriotismus: Die mitgliedstaatlichen Verfassungen nach fünfzig Jahren europäischer Integration – Bemerkungen zum Beispiel des Grundgesetzes, in: Klaus Stern (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz (Fn. 6), S. 37, 47 f. 23 Wo und wie immer sich das BVerfG in hochpolitischen Streitigkeiten „zurückhält“ und einer Art judical restraint ausübt, ist in der Bundesrepublik in der Entscheidungspraxis von Karlsruhe allenfalls ein tatsächliches Phänomen, es ist keineswegs in eine rechtliche Regel übernommen. Niemand kann erwarten, dass sich das BVerfG in hochpolitischen Entscheidungen spürbar zurückhält und seine Kontrolle etwa „verdünnt“. 24 In diesen Verfahrensarten schöpfen das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht die „politischen“ Streitigkeiten in einem hohen Maße aus. Auch hier ist nicht sichtbar, dass irgendwo anders mehr Zuständigkeiten oder gar mehr Fälle in der Staatspraxis gegeben sein könnten.

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men zeigt die Unterschiede zwischen der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit und derjenigen anderer europäischer Staaten so anschaulich. Mit nur geringer Übertreibung lässt sich sagen, dass die Geschichte der größeren politischen Auseinandersetzungen der 60 Jahre Bundesrepublik anhand der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nachvollziehbar ist. Insofern sind die bisher über 120 Bände eine noch ungenutzte Quelle, insgesamt ein Geschichtsbuch der Bundesrepublik mit nur wenigen Lücken25 – es ist schwer vorstellbar, Ähnliches von einem anderen europäischen Verfassungsstaat zu sagen. Die Ubiquität der Verfassungsgerichtsbarkeit, die flächendeckende, jedenfalls potentielle Gegenwärtigkeit des Verfassungsrechts als der maßgeblichen Kontrollinstanz, macht das Verfassungsrecht im politischen Leben und im Handlungsraum der höchsten Organe, der Mächtigsten wirksam, mithin in Bereichen, in denen jahrhundertelange das Recht keine Chancen des praktischen Einflusses hatte. Bei allen politischen Auseinandersetzungen ist den Beteiligten durchaus bewusst, dass die Sache (wahrscheinlich) beim Bundesverfassungsgericht landen kann. Wie in Fällen des Alltags so ist auch hier das Grundgesetz in einem sehr breiten Sinne ein „Trumpf“ im Meinungsstreit und den politischen Auseinandersetzungen. Alltäglichkeit und Ubiquität kennzeichnen die erlebte Relevanz der Verfassung für die einzelnen und die politischen Kräfte in ihrer je eigenen Praxis. Dieser Abriss ist weit entfernt von einer umfassenden Charakterisierung des deutschen Verfassungsrechts, doch veranschaulicht er wichtige Eigenarten, die in anderen Verfassungsstaaten wie etwa den anderen Mitgliedsstaaten der EU, so nicht gegeben sind. Die Bundesrepublik teilt mit diesen substantiellen Verfassungsstaaten vieles. Im Rahmen dieser Gemeinsamkeiten sind aber gleichwohl beträchtliche Eigenarten und Unterschiede sichtbar. Auf sie konzentrieren sich die weiteren Überlegungen. III. Faktoren der juristischen Stärke einer Verfassung am Beispiel des Grundgesetzes Die Darstellung und die innerjuristischen Gründe für die Stärke des Grundgesetzes sind eines der Hauptkapitel des deutschen Verfassungs- und Staatsrechts und demzufolge in den Hauptwerken zum Grundgesetz ein bevorzugter und umfassend behandelter Gegenstand. Was im Folgenden in einem äußerst gerafften Überblick dargestellt wird, ist in aller Ausführlichkeit bei Klaus Stern in seinen Staatsrechts-Lehrbüchern nachzulesen. Die innerjuristischen Faktoren – das sind die Eigenarten des deutschen Verfassungsrechts in dogmatisch-systematischer

25 Vgl. in diesem Zusammenhang den Vortrag von Dieter Grimm, Kann man die Geschichte der Bundesrepublik ohne die Verfassungsgeschichte schreiben?, Siemens Stiftung 2010.

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Hinsicht – sind bekannt; hier werden einige, die für den Gedankengang relevant sind, herausgegriffen. 1. Aufwertung des Rechtscharakters des Grundgesetzes

Für Staatsrechtler – und nicht nur für sie – liegt die Erklärung für die hohe Wirksamkeit des Grundgesetzes nahe: Es ist eine inhaltlich-materiell besonders gute Verfassung („die beste Verfassung auf deutschem Boden“), und sie hat durch die ihrerseits sehr gute Rechtsprechung und Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts eine wirkungsmächtige Interpretation erhalten und damit hohe Geltung erlangt. Als Gründe werden – in unterschiedlicher Abstraktionshöhe und stichwortartig – genannt:26 die hohe normative Kraft des Grundgesetzes27 und der von in- wie ausländischen Beobachtern hervorgehobene hohe Grad an Verrechtlichung der politischen Auseinandersetzungen und des gesellschaftlichen Lebens.28 In der Tat kann die Bedeutungssteigerung der Verfassung konkret an den Normen des Grundgesetz festgemacht werden. An vorderster Stelle steht dabei Art. 1 Abs. 3 GG, der explizit eine Bedeutungssteigerung der Grundrechte angeordnet und sehr erfolgreich mit-bewirkt hat. Art. 1 Abs. 3 GG ist eine vom Grundgesetztext selbst bewirkte und überaus folgenreiche Weichenstellung. Auch nach 60 Jahren Grundgesetz muss diese Innovation als eine der grundlegenden Weichenstellungen für den verfassungsrechtlichen Weg der Bundesrepublik hervorgehoben werden. Die Wendung der Grundrechte auch und gerade gegen den Gesetzgeber hat die Grundrechte(dogmatik) und damit das Verfassungsrecht insgesamt auf eine neue Stufe gehoben und mitten im Zentrum des modernen Gesetzgebungsstaates verankert. Der Terraingewinn für das Verfassungsrecht und die Verrechtlichung war so bedeutsam, dass diese Innovation gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Als klare Reaktion auf Willkür im Staat und im Recht hat das Grundgesetz die Verfassung gezielt und betont an die Spitze der Rechtsordnung gesetzt und mit umfassendem Geltungsvorrang ausgestattet. Dies ist mit aller Konsequenz geschehen und deshalb ist auch eine institutionelle Absicherung des Vorrangs 26 Eine andere Auflistung, auf die ergänzend verwiesen wird, bei Wahl (Fn. 15) S. 31 ff.: „grundlegende Eigenarten des deutschen Öffentlichen Rechts: Verfassungsabhängigkeit des Gesetzesrechts, objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte, grundrechtsgeprägtes Verwaltungsrecht, Garantie des umfassenden Rechtsschutzes“. Weitere Auflistung in: ders., Die zweite Phase des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Der Staat 38 (1999), S. 495, 496 ff.; ders., Zwei Phasen des Öffentlichen Rechts nach 1949, in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 411, 414 f.: Verfassungsabhängigkeit des Gesetzesrechts, Expansion des subjektiv-öffentlichen Rechts, umfassender Verfassungs- und Verwaltungsrechtsschutz, Rechtsstaatsgebot und seine Auswirkungen, Phobie gegenüber dem Ermessen, Verrechtlichung. 27 Dazu die bekannte Formel von Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung 1959. 28 Wahl (Fn. 15), S. 20 ff.; ders., Zwei Phasen (Fn. 26), S. 414 ff.

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durch die neue Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit geschaffen worden.29 Insgesamt ist dadurch das in der Normativität der Verfassung angelegte Potential im positiven Verfassungstext angereichert und letztlich ausgeschöpft worden. Das Ergebnis war die Steigerung der Normativität, also des genuinen Rechtscharakters der Verfassung.30 Erst mit der Verfassungsgerichtsbarkeit sind die der Verfassung (als ganzer) innewohnenden rechtlichen Möglichkeiten konsequent entfaltet worden. Erst mit ihr wurde die juristische „Seite“ der Verfassung auf ein solches Niveau gehoben, dass auch das Verfassungsrecht zu einem „richtigen“ harten Recht mit juristischem Biss wurde.31 2. Die Macht der Interpretation

Sehr stark gewonnen haben die Normen des Grundgesetzes natürlich durch den typischen Verstärkungs- und Ausdehnungsprozess durch die Interpretation der Normen. Entsprechend der klassischen, von Chief Justice Charles Evans Hughes 1907 geprägten Formel gilt: „we are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is . . .“ In diese Interpretations-, Konkretisierungs-, letztlich aber immer schleichenden Erweiterungsprozesse finden auch die Interpretation(svorschläge) der Literatur Eingang. Sie sind nicht bloß Vorlauf für mögliche Verfassungsgerichtsentscheidungen, sondern bereiten in Argument und Gegenargument den Verständigungshorizont der Normen vor, sind Wurzelgrund für die Interpretationen der Gerichte. Die praktischen Leistungen und Folgen solcher Interpretationsarbeit werden etwa darin sichtbar, dass bei den Grundrechten sowohl der Ausbau des Grundrechtsschutzes als auch alle notwendigen Reaktionen des Rechts auf neue Gefährdungslagen in den sechs Jahrzehnten seit 1949 im Wege der Interpretation, weniger auf dem der expliziten Verfassungsänderung erfolgten. Zu Leistungen der Interpretation für die Ausdehnung des Inhalts des Grundgesetzes und zumal der Grundrechte und anderer grundlegender Weiterentwicklungen des Textes im gelebten Verfassungsrecht müssen hier einige Stichworte 29 Die Normativität der Verfassung, der Vorrang der Verfassung und die Verfassungsgerichtsbarkeit – diese drei Elemente bilden das rechtliche Zentrum des (entwickelten) Verfassungsstaates in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dazu Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20 (1981), S. 485 ff. 30 Dieter Grimm, Die Zukunft des Staatsrechts, in: Stefan Grundmann u. a. (Hrsg.), FS 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2010, S. 1283, 1286 spricht von Geltungsverstärkung und Geltungsausweitung. 31 Insofern bringt die Verfassungsgerichtsbarkeit das Potential, das im materiellen Verfassungsrecht seit dem 19. Jhd. angelegt war, erst zur realen Entfaltung: Das Verfassungsrechts, das zunächst nur als reine Sollensordnung vorgelegen hatte, erhält durch die Verfassungsgerichtsbarkeit Chancen der Verwirklichung und Durchsetzung. Die Normativität der Verfassung wird damit ergänzt von der Wirksamkeit des Verfassungsrechts.

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genügen. Der durch Interpretation geleistete Beitrag zur Erweiterung und Vertiefung des Gehalts des Grundgesetzes hat sich niedergeschlagen in verschiedenen Elementen, die hier in Stichworten skizziert werden: (1) Zunächst ist zu nennen die kontinuierliche juristische Ausgestaltung der Grundrechte und ihrer Schranken durch ein juristisch-dogmatisches Konzept von systematisch aufeinander bezogenen Konstruktionselementen, nämlich durch die „Prüfungs“schritte des weit auszulegenden Schutzbereichs, der Schranken und der Schrankenschranken (in erster Linie der Verhältnismäßigkeit als praktischem Kern des Grundrechtsschutzes). (2) In der ausgefeilten Grundrechtsdogmatik fallen auf: – Die Interpretation von Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht mit der Folge der Lückenlosigkeit der Grundrechtsthematik. – Die „Erfindung“ neuer Grundrechte wie des allg. Persönlichkeitsgrundrecht32 und seiner „Derivate“ (Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und als weitere Verdeutlichung des Grundrechts auf „Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“33). – Die Menschenwürde als voll geltendes Grundrecht34.35 (3) Alle bisher genannten Beiträge zur intensiven Grundrechtskultur des Grundgesetzes sind in ihren theoretischen und praktischen Auswirkungen durch die „Erfindung“ der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension bedingt. Diese Entwicklung habe ich an anderer Stelle als bedeutsamste Weiterentwicklung der Grundrechtstheorie nach 1949, zugleich den Grund für die Bedeutungssteigerung der Grundrechte unter dem Grundgesetz, charakterisiert.36 Die 32 Der Sache nach ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht ein neues Grundrecht: Seine übliche Verankerung in Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG verdeckt diesen Umstand weithin. Mit der Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist die in der Elfes-Entscheidung (BVerfGE 6, 32) formulierte Alternative nicht im Sinne einer Ausschließlichkeit, sondern im Sinne einer Kumulation entschieden worden. Seit der Volkszählungs-Entscheidung (BVerfGE 65, 1) schützt das Grundgesetz sowohl den „Persönlichkeitskern“ (bzw. „Kernbereich der Persönlichkeit“, so die Terminologie 1957 im Elfes-Urteil) als auch die allgemeine Handlungsfreiheit. 33 BVerfGE 65, 1 und BVerfGE 120, 274. 34 In den letzten Jahren gibt es eine wachsende Tendenz, Art. 1 Abs. 1 GG als vielerorts einsetzbares „normales“ oder Reservegrundrecht zu verstehen. Dies ist sehr problematisch, weil sich der singuläre Charakter von Art. 1 Abs. 1 GG als abwägungsresistente Norm nicht mit der zu beobachtenden Expansion des Anwendungsbereichs verträgt. 35 Klaus Stern, Die normative Dimension der Menschenwürdegarantie, in: Michael Brenner/Peter M. Huber/Markus Möstl (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, FS für Peter Badura zum 70. Geburtstag, 2004, S. 571–588. 36 Rainer Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich; in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland

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Bedeutung dieser Innovation für die Grundrechtskultur und Grundrechtsrechtsprechung und die darin liegende Erweiterung und Vertiefung der juristischen Bedeutung der Grundrechte für die gesamte Rechtsordnung kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.37 Auch durch diese objektive Bedeutung der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte, die sich nicht zuletzt in der Schutzpflichtendimension und in den Formen der mittelbaren Grundrechtswirkung zeigt,38 unterscheidet sich das Grundgesetz nicht nur von der Weimarer Verfassung, sondern auch vom Verfassungsrecht anderer substantieller Verfassungsstaaten.39 (4) Die Singularität des Verfassungsrechts unter dem Grundgesetz zeigt sich auch in der sog. Konstitutionalisierung, also in der Verfassungsgeprägtheit weiter Teile der Rechtsordnung.40 Die Grundrechte durchdringen die Rechtsordnung. Sie wirken als Grundsätze und Grundentscheidungen, die nicht nur für eine engere Eingriffsproblematik im Verhältnis Staat – Bürger, sondern für die gesamte Rechtsordnung, wenn auch in je unterschiedlicher Intensität, relevant werden. Die deutsche Rechtsordnung ist grundrechtsgeprägt, sie ist grundrechtsabhängig, Vieles am sog. einfachen Recht ist konkretisiertes Verfassungsrecht. Dies alles hat im deutschen Recht zu einer besonderen Nähe zwischen dem einwirkenden und ausstrahlenden Verfassungsrecht und dem immer wieder einmal angestrahlten Gesetzesrecht geführt – eine Denkweise und eine Praxis, die es in anderen Ländern in dieser Intensität nicht gibt. Schon die Redeweise vom einfachen Recht ist singulär, damit ist unvermeidlich eine Abwertung und Relativierung des Gesetzesrechts verbunden, also eine gewisse Entthronung des Gesetzes, in welchem im 19. Jahrhundert immerhin noch der Schutzwall für die bürgerliche Freiheit, insbesondere gegenüber exekutivischer Herrschaft gesehen wurde. Die große Hochachtung des und Europa, Bd. I: Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004, S. 745–781 (dort ausführliche Verfassungsvergleichung Rn. 28–51); Klaus Stern, Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, DÖV 2010, S. 241–250; ders., Das Problem der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf das Privatrecht, in: Rolf Wank u. a. (Hrsg.), FS für Herbert Wiedemann zum 70. Geburtstag, 2002, S. 133–154. 37 Im Text geht es nicht um die Richtigkeit dieser Doktrin, sondern um die großen Auswirkungen und ihren prägenden Charakter für die deutsche Verfassungsrechtsordnung und die Rechtsordnung insgesamt. 38 Zu diesen Formen Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), S. 1 ff. (ders., Staat, Verfassung, Demokratie 1991, S. 163 ff.) sowie Wahl (Fn. 36), Rn. 5 ff. 39 Dazu im Einzelnen ausführlich Wahl (Fn. 36), dort auch Rn. 52 ff. gegen die Gleichsetzung der deutschen Lehre von den objektiven Grundrechtsdimension mit Figuren in anderen Rechtsordnungen. 40 Dazu ausführlicher Wahl (Fn. 15), S. 97 ff.: Konstitutionalisierung ist der eine Großprozess der Durchdringung des deutschen Gesetzesrechts, der andere die Europäisierung; vgl. auch Gunnar F. Schuppert/Christian Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung. Überlegungen zum Verhältnis von verfassungsrechtlicher Ausstrahlungswirkung und Eigenständigkeit des „einfachen“ Rechts, 2000.

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Gesetzes, wie sie etwa in Frankreich oder im Vereinigten Königreich herrscht, ist mit dem Begriff des einfachen Rechts nicht mehr verbunden. Die genannten Faktoren und noch einige mehr haben spektakuläre Terraingewinne für das (Verfassungs-)Recht und insgesamt einen singulären Verrechtlichungsschub bewirkt. Verfassungsrecht von Gewicht gibt es in allen substantiellen Verfassungsstaaten, eine so hohe Verrechtlichung wie in Deutschland jedoch nicht. IV. Außerjuristische Faktoren für Stärke und Wirksamkeit der Verfassung: Constitution in contexts – Verfassungen in verschiedenen Kontexten Die rechtsinterne normative Sicht schöpft das Thema Verfassung keineswegs aus. An einer Verfassung interessiert nicht nur die juristisch zu beantwortende Frage der Geltung, sondern auch die weiterreichende Frage nach ihrer praktischen Wirksamkeit. Woran sich die Wirksamkeit einer Verfassung ablesen lässt, ist oben (unter II.) am Beispiel des Grundgesetzes und anhand der Stichworte „Alltäglichkeit“ und „Ubiquität“ der Verfassung illustriert worden. Ob eine konkrete Verfassung nur geringe oder hohe Chancen der Befolgung und der Realisierung des normativ Gewollten hat, hängt von einer Reihe rechtsinterner, aber vor allem auch rechtsexterner Voraussetzungen ab. Was genau Wirksamkeit oder steuernde Kraft einer Verfassung bedeutet, ist nicht mit einer einfachen Formel zu beantworten. Es ist letztlich die gleiche Frage wie jene nach dem Unterschied zwischen law in the books und law in action.41 Jedenfalls geht es auch um die tatsächliche Anwendung, um die Häufigkeit und Verlässlichkeit der Anwendung, insgesamt um die Steuerungsfähigkeit des Verfassungsrechts.42 Die weiteren Erörterungen müssen deshalb weiter ausholen. 1. Constitution in contexts

Die Verfassung ist – weit mehr als nur ein Rechtsinstrument und -dokument zu sein – ein vielfältig verwobener Bestandteil der gesamten politisch-gesellschaftlichen Sphäre, letztlich ein Kulturphänomen,43 womit zugleich ihr komplexer Charakter betont und die Notwendigkeit eines pluri-disziplinären Zugangs he41 Diese Gegenüberstellung geht zurück auf den begriffsprägenden Aufsatz von Roscoe Pound, Law in Books and Law in Action, Am. L. Rev. 44 (1910), S. 12 ff. 42 Der Steuerungsbegriff und Untersuchungen zu den Möglichkeiten, aber auch den Grenzen der Steuerungsfähigkeit durch Recht sind im letzten Jahreszehnt vorwiegend im Rahmen der (Neuen) Verwaltungsrechtswissenschaft breit diskutiert worden; diese Ansätze und der Ertrag dieser Diskussion verdiente es, auf das Verfassungsrecht übertragen zu werden, was zwar nicht einfach eins zu eins gelingen dürfte, aber prinzipiell denkbar ist. In diesem Kontext wäre nach der Steuerungswirkung einer Verfassung zu fragen.

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rausgestellt ist. Vom Recht her gesehen kann dieser Gesamtcharakter konzeptualisiert werden als das Eingebettet-Sein des Rechts in vielfältige und umfassende Zusammenhänge (oder Bezüge). Zu diesen (größeren) weitreichenden Zusammenhängen gehören die zahlreichen, heterogenen politisch-gesellschaftlichen Prozesse, in denen Verfassungen zuallererst entstehen und in Geltung gesetzt werden ebenso die Prozesse, in welchen der Rechtsanspruch einer erlassenen Verfassung reale Wirksamkeit und Kraft zur Gestaltung der politisch-sozialen Verhältnisse gewinnt. Ein Denken, das das Recht in seine vielfältigen Bezüge hineinstellt und in ihnen reflektiert, findet in der derzeitigen Theoriediskussion eine Verwandtschaft und einen generellen Nenner im Konzept law in context,44 oder besser: law in different contexts. Dieses Generalkonzept wird hier spezieller als constitution in contexts (Verfassung in ihren Bezügen) verwendet. Dies ist eine Art Dach-Konzept, das unterschiedliche Ansätze unter der verbindenden Grundvorstellung vereint, dass Recht nicht nur rechts-intern, sondern in seinen vielen Bezügen zur Politik, zu gesellschaftlichen Bewegungen und Auffassungen sowie Werthorizonten ins Blickfeld genommen werden soll.45 Einige Ähnlichkeiten weist das Konzept law in contexts mit der immer wieder verwendeten Kategorie der Verfassungsvoraussetzungen46 auf. Dieses Konzept 43 Dazu immer wieder und intensiv Peter Häberle mit seinem kulturwissenschaftlichen Konzept. 44 In Deutschland am stärksten von Ulrich Haltern artikuliert und vertreten. Aus seinen Schriften vor allem: Europarecht und das Politische, 2005, S. 13 („Recht im kulturellen Kontext“); Europarecht. Dogmatik im Kontext (2005), 2. Aufl., 2007, S. 2 ff., 6 ff. (programmatisch). – Zur internationalen Diskussion vor allem William Twining, Globalisation and legal theory, Evanston, Ill.: Northwestern University Press, 2001 (zuerst: London 2000, in der Reihe law in context) und insgesamt die Reihe law in context bei Cambridge University Press. 45 Die Binnendifferenzierung soll an dieser Stelle nicht interessieren. Der Text versteht die contexts als reale Umgebungen des Rechts, als Kräfte, die der Wirksamkeit des Rechts entweder nützlich oder hinderlich sind. Es geht um reale politische Prozesse, die zum Beispiel den Erlass einer Verfassung fordern, oder um reale Bewegungen, die wichtige Prinzipien des Verfassungsrechts stützen oder bekämpfen. Es versteht sich, dass aus dieser Sichtweise die Notwendigkeit eines multidisziplinären Ansatzes folgt. Das Ziel der Überlegungen ist aber nicht die multidisziplinäre Analyse von Interpretationen im Verfassungsrecht, sondern die multidisziplinäre Analyse der realen Einbettung von Verfassung(srecht) in politisch-gesellschaftliche Kraftfelder. 46 Zu dieser Kategorie: Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: FS Scheuner, 1973, 285 (291 ff.); Josef Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: HStR, Bd. V, 1992, § 115 Rn. 105; ders., Staat und Verfassung, in: HStR, Bd. I, 1. Aufl., 1987, § 13 Rn. 1; Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 15 Rn. 1; Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HStR, Bd. I, 1. Aufl., 1987, § 19 Rn. 49 ff.; Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 21. – Vgl. auch den bemerkenswerten Obertitel der Staatsrechtslehrertagung des Jahres 2008: Erosion von Verfassungsvoraussetzungen (darin Christoph Möllers, VVDStRL 68 (2009) S. 47, und Susanne Baer, ebd., S. 300); zum Ganzen schon Christoph Möllers, Staat als Argument, 1999.

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bringt schon im Ansatz zum Ausdruck, dass das Gelingen der Verfassungen und des Verfassungsrechts nicht allein von deren normativer Geltung und der korrekten Anwendung von Methoden abhängt.47 2. Notwendigkeit und Schwierigkeit einer multi-disziplinären Perspektive

Das später zu behandelnde Thema der Wirksamkeit des Rechts und der unterschiedlichen Grade von Wirksamkeit ist offensichtlich keine Frage, die im rechtstypischen und -spezifischen Code rechtmäßig – nicht rechtmäßig (bzw. geltend – nicht geltend) beantwortet werden kann. Es ist leicht zu erkennen, dass hier eine multidisziplinäre Perspektive erforderlich ist, die weder Staatsrechtswissenschaft, Politikwissenschaft, politische Soziologie noch Geschichtswissenschaft allein aus sich heraus einnehmen können. Der Zugang zum Ganzen von constitution in contexts ist keiner der beteiligten Disziplinen gegeben. Für jede ist es eine schwierige Erweiterung des eigenen Aufmerksamkeitshorizonts und der eigenen Methoden. In dieser prekären Ausgangssituation unterscheidet sich die Staatsrechtwissenschaft nicht von den anderen beteiligten Wissenschaften, also Sozial- und Politikwissenschaft wie generell den Geisteswissenschaften. Für die Nachbardisziplinen der Rechtswissenschaft kommt hinzu, dass sie von ihrem Kerninteresse her die Rolle des Rechts, auch die des Verfassungsrechts in einer Gesellschaft oder dem Staat, kaum erfassen können und ihnen die Inhalte des Rechts und die Interpretationsmethoden recht fremd bleiben48 und deshalb ihre Vorleistungen zur gemeinsam zu erarbeitenden Thematik nicht als sehr groß veranschlagt werden können.49 Da im Übrigen die große Synthese oder Integration nicht möglich, 47 Die Verwendungsweise der Kategorie Verfassungsvoraussetzungen ist keineswegs einheitlich. Sie bleibt problematisch, wenn sie als Geltungsvoraussetzung verstanden wird (stark angenähert an ein solches Verständnis Paul Kirchhof (Fn. 46), 3. Aufl., § 21 Rn. 65 „Verfassungsvoraussetzungen sind Geltungsvoraussetzungen des Verfassungsgesetzes, nicht Inhalt der Verfassungsgarantien . . .“), weil dann der Weg von der vom jeweiligen Autor formulierten Verfassungs-Voraussetzung zum Gehalt der Norm recht kurz wird. 48 Die Folge ist, dass die Nachbardisziplinen ein so weichenstellendes und grundlegendes Urteil wie das Lüth-Urteil und seine Folgen für die gesamte Rechtsordnung in Deutschland und damit auch für den erweiterten Umfang der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht substantiell rezipieren, vielleicht gar nicht verstehen können. In ihren Analysen über die Entwicklung der Bundesrepublik hat das Verfassungsrecht mit seinen Inhalten praktisch keinen Platz. Natürlich kommen die Ausgangskonflikte und dann die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vor, die als liberal oder konservativ u. ä. bewertet werden. Dass aber die Ausbildung der objektiven Grundrechtsdimension etwas mit dem Alltagsleben aller zu tun haben könnte, liegt außerhalb der Vorstellung. 49 Ungeachtet der wichtigen Arbeiten von Christine Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber: Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf parlamentarische Willensbildung und soziale Realität, 1984 und des Sammelbandes von Robert von Ooyen/Martin H. W. Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006. – Selbstreflektion und -kritik bei Klaus von Beyme, Das Bundesverfassungsgerichts aus der Sicht der Politik- und Gesellschaftswissenschaften, in: Peter Badura/

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jedenfalls bisher nicht sichtbar ist, bleibt nur, dass jedes Fach mit seinem Aufmerksamkeitshorizont und seiner Perspektive beginnt, diese vorsichtig erweitert und andere Aspekte einbezieht. Hier kann weder eine umfassende Theorie der verschiedensten Kontexte, in denen eine Verfassung stehen mag, zugrundegelegt noch nur die Vielzahl der Faktoren angemessen behandelt werden. Bereits der Startpunkt aller dieser Überlegungen, die Entstehungszeit einer Verfassung, offenbart sich bei näherer Analyse als extrem komplex bei den hier interessierenden außer-juristischen Faktoren.50 Hierher gehören traditionelle Überlegungen wie etwa Ideen und Zeitströmungen zum Zeitpunkt der Entstehung, die allgemeine politische Lage (Autonomie der Beratungen oder etwa Verfassungsgebung im Auftrag und unter der Kontrolle der Alliierten). Die große Komplexität der Einwirkungen und der Wechselbeziehungen zwischen politisch-sozialen Entwicklungen und dem Rechtsverständnis setzen sich auch nach der Startphase einer Verfassung fort. 3. Das Grundgesetz – ohne Gründungsmythos, aber mit starken Anfangsjahren

Die sich steigernde Wirksamkeit des Grundgesetzes lässt sich bereits ab 1949 und dann verstärkt ab 1951 (Aufnahme der Tätigkeit des Verfassungsgerichtes) beobachten. Dabei kommt schon den Gründungsjahren eine überraschende, wenig bemerkte Bedeutung für die Weichenstellung zu.51 Zwar wurden die Verabschiedung des Grundgesetzes und sein Inkrafttreten 1949 damals von den Bürgerinnen und Bürger nicht mit den für eine Verfassungsgebung zu erwartenden hohen Emotionen begleitet, ein Gründungmythos kommt den einschlägigen Ereignissen somit keineswegs zu.52 Noch heute ist der 23. Mai als Verfassungstag Horst Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, 2001, S. 495 mit dem Eingangsatz: „Die Politikwissenschaft hat das Bundesverfassungsgericht nur selten behandelt.“; ähnlich S. 494: „Die Defizite der politikwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Verfassungsgerichtsbarkeit liegen als nur indirekt an den Juristen durch ihre Übermacht. Sie liegen in erster Linie an den Politikwissenschaftlern selbst.“ – Ähnlich auch im Einführungsbeitrag der beiden Herausgeber Robert Chr. van Ooyen/Martin H. W. Möllers, Einführung: Recht gegen Politik – politik- und rechtswissenschaftliche Versäumnisse bei der Erforschung des Bundesverfassungsgerichts, in: dies. (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006, S. 9, 10 ff.: ein Sammelband unter Beteiligung der verschiedenen Disziplinen, der einen Neuanfang bezeichnen könnte. 50 Natürlich gehört zur innerjuristischen Analyse die Analyse der einzelnen Entwürfe sowie insgesamt der Beratungen in den verfassungsgebenden Versammlungen, Gründe für die Entscheidung für die endgültigen Formulierungen usw. 51 Eine Ausnahme bildet Dieter Grimm, Identität und Wandel – das Grundgesetz 1949 und heute, AnwBl. 2009, 505 (Stichwort: ungünstige Ausgangssituation). 52 Die Theorie der (demokratischen) Verfassungsgebung ist eben nur eine Theorie, die ihre eigenen Voraussetzungen hat und die an die historischen Abläufe in den USA und in revolutionären Staaten wie in Frankreich anknüpft, die aber diesen Bezug nicht

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wenig bekannt, die Beflaggung an diesem Tag löst verbreitet Verlegenheit aus. Dies alles ändert aber nichts daran, dass die ersten Jahre der Bundesrepublik zu einer prägenden Pionierzeit geworden sind. Gibt es keinen Mythos eines einzigen Tages, so gibt es doch einen sehr starke Anfangsphase der Bundesrepublik und ihrer Verfassung, die beide bewusstseins- wie identitätsbildend geworden sind. Was als „Provisorium“ unter der Oberaufsicht der Alliierten als halbsouveräner Staat begann, erhielt im Laufe weniger Jahre durch die Praxis und das Erlebnis erfolgreicher wirtschaftlicher und rechtlicher Aufbaujahre53 rasch Zustimmung und Akzeptanz, insofern gab es mit den gelungenen Aufbaujahren doch einen fulminanten Anfang. Als Formel zusammengefasst: Beim Grundgesetz gab es zwar keinen Gründungsmythos, aber gelungene verfassungsrechtliche Aufbaujahre; aus der erlebten Bewährung erhielt die Verfassung Stärke und hohe Wirksamkeit. Begünstigt vom zeithistorischen Umfeld54 wuchs bei den Bürgerinnen und Bürgern eine Bejahung des Grundgesetzes, noch mehr: ein Wille zur Verfassung, eine Bereitschaft, das Recht und die Bahnen des Rechts für wichtig zu halten und dann auch darauf zu vertrauen. Zugleich geriet die Verfassung zu einem Symbol des Neuanfangs, der zwar kein vollständiger, aber doch ein hinreichend starker war. Selten war der Impuls, eine Gegen-Verfassung und eine Nach-Diktatur-Verfassung zu errichten, so mächtig und so nötig. Mit aufgenommen war darin der zeitgenössische Bedarf nach Werten, nach inhaltlicher Grundlage, nach Orientierung. Dies alles waren günstige Rahmenbedingungen für das, was dann bei der Interpretation des Grundgesetzes geschah, nämlich die entschiedene Aufwertung der Grundrechte und ein substantielles Auffüllen der offenen Grundrechtsbestimmungen. Die zeitgenössischen Bedürfnisse und der juristische Gehalt flossen zusammen in dem Verständnis der Grundrechte als einer Wertordnung. Dieses Konzept war weit thematisiert und reflektiert. Eine Verfassungsgebung ist zwar in jedem Fall eine Zäsur, sie hat regelmäßig auch den Charakter einer Opposition zur vorhergehenden Verfassungslage. Was aber die Verfassung jedes Mal positiv ausmacht, hängt von der historischen Situation mehr ab, als dies in der Theorie der Verfassungsgebung wahrgenommen und reflektiert wird. Ein Volk kann sich von einer als bedrückend erlebten Regierung selbst befreien (1776, 1789/91). In einer solchen Situation wird die Verfassungsgebung geradezu rauschhaft und als Symbol des Kampfes um die jetzt anbrechenden besseren Zustände gefeiert. Nach 1945 stand dieses Verlaufsmuster nun wirklich nicht zur Verfügung – aber trotzdem konnte eine Verfassung auf den Weg gebracht werden, die zwar kein Gründungsmythos umgab, die sich aber schon sehr bald durch erfahrbare Leistungen den Bürgerinnen und Bürgern empfahl. Der Weg zu einer wirksamen Verfassung wird also nicht durch die Theorie der Verfassungsgebung vorgeschrieben oder durch eine einzige historische Variante abschließend beschrieben. 53 Die Funktion des Anfangs bezieht sich beim Grundgesetz nicht auf ein Ereignis (die Verfassungsgebung), sondern auf das Erleben erfolgreicher Aufbaujahre in jeder Hinsicht. 54 Dazu schon Wahl (Fn. 15), S. 18–24; ders. (Fn. 36), Rn. 12–27.

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mehr und anderes als eine beliebige juristische Theorie, sondern es waren die Anforderungen der Zeit und ihre Bedürfnisse, in ein juristisches Kleid gebracht. Diese Theorie „passte“ und sie war erfolgreich, weil sie passte. Um den Grundgedanken weiter zu konkretisieren: Nach den massenhaft erlebten Willkürhandlungen von Polizei und Verwaltung im NS-Regime waren die Deutschen in den fünfziger Jahren „reif“ und aufnahmebereit, wohl auch dankbar für die bald sichtbaren Leistungen und „Wohltaten“ der Rechtlichkeit, der verwirklichten Rechtssicherheit und der jetzt umfassend eingeräumten Rechtstellung als Subjekt. Dies alles setzte die einzelnen instand, ihr behauptetes Recht vor einem Gericht einzufordern.55 Dass man die ehedem allmächtige und unkontrollierbare Polizei jetzt vor einem Gericht „verklagen“ konnte, dass man sie in einen Prozess zwischen Gleichen und Gleichstarken involvieren konnte, hat das Rechtsbewusstsein, die Bejahung des Rechts und die Einschätzung, Recht als eine Lösung und nicht als ein Problem zu verstehen, befördert.56 Insgesamt waren die Bürgerinnen und Bürger nach 1945 und nach 1949 besonders bereit, Recht und Rechtsstaat positiv zu denken. Das Ergebnis war u. a. eine positive Stimmung gegenüber dem Rechtsstaat. Übertragen haben sich diese Einstellungen auch auf diejenigen Instanzen, die den Rechtsstaat getragen und verwirklicht haben, die Gerichte. Dieses bald vorhandene Vertrauen hat auch das sich entwickelnde Bundesverfassungsgericht positiv getragen, zumal an seinen Entscheidungen nochmals verstärkt abzulesen und zu erfahren war, dass die Mächtigen sich im Medium des Rechts und vor Gericht rechtfertigen mussten und gelegentlich zur Ordnung gerufen wurden. Dabei haben die positiv erlebten Leistungen des Bundesverfassungsgerichts dies innerhalb kürzester Zeit zu einer respektierten und geschätzten Institution gemacht. Die Geschichte der (Selbst-) Behauptung des Gerichts in den ersten Jahren kann hier nicht ausgebreitet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat aber, soviel sei angemerkt, eine sehr starke Gründungsphase erlebt. Das Grundgesetz wurde zum Pionier einer neuen Welle von substantiellen Verfassungen und entsprechendem Verfassungsverständnis. Das Bundesverfassungsgericht wurde zum Vorbild einer ganzen Generation von ebenfalls jungen Verfassungsgerichten. In dieser Gründungsphase wurden Verfassung und Verfassungsgericht auf ein neues und hohes Niveau gehoben. Die Folge war und ist die hohe Anerkennung des Bundesverfassungsgerichts und da-

55 Wie es häufig der Fall ist: Das Positive des Rechts und die vielen Vorteile eines geordneten Rechtsstaats erlebten viele einzelne in den Nachkriegsjahren zuerst und am deutlichsten in der Gestalt von Gerichtsverfahren. 56 Nichts stärkt mehr den „aufrechten Gang“ als das Bewusstsein und das Erleben, dass man die mächtige Polizei und die Verwaltung vor ein Gericht bringen kann, wo nicht mehr die Regeln der Verwaltung, wo nicht mehr Einseitigkeit und Unterordnung das Verhältnis prägen, sondern eigenständige, auf formelle Gleichordnung bedachte Regeln der Fairness gelten, nämlich diejenigen des Gerichtsverfahrens.

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mit des Verfassungsrechts (oder umgekehrt).57 Es wurde bereits erwähnt, dass dieses hohe Niveau in den Jahrzehnten seither gewahrt werden konnte. 4. Akzeptanz des Rechts und des Verfassungsgerichts als wesentlicher Faktor für die Wirksamkeit des Verfassungsrechts

Entstanden ist nicht nur die generalisierte Anerkennung der Verfassung als ein wichtiger Faktor – das gibt es natürlich in Italien, Spanien oder Frankreich auch –, sondern entstanden ist geradezu die Erwartung, dass wichtige Probleme auch und zu einem gehörigen Anteil von Verfassungsrecht und vom Verfassungsgericht entschieden werden. Die immer wieder und bei allen Verfassungsgerichten vorgebrachte Kritik, diese würden sich zu weit in die Politik einmischen, sie würden Probleme an sich ziehen, die besser bei der demokratisch legitimierten Politik abgehandelt würden – diese normale und typische Kritik an einem Verfassungsgericht – verschlägt in Deutschland relativ wenig, die Resonanz auf solche Vorwürfe ist auf die Dauer gesehen gering.58 Es gibt eine verbreitete und gefestigte Bereitschaft, das Verfassungsrecht und Urteile als Lösung von Problemen zu akzeptieren, wenn nicht wegen der Qualität der Urteile, dann wegen der Ernsthaftigkeit des Verfahrens, des umfassenden Abwägens und der Einsicht in die Rolle einer letztverbindlichen Entscheidung. Diese Einstellung ist im Übrigen, darauf sei ergänzend hingewiesen, nicht nur eine Folge der Entwicklung seit 1945/9. Die Akzeptanz von Recht als Lösungsinstrument von Problemen sowie die relative Hochschätzung von Recht gegenüber politischen Prozessen hat in Deutschland eine Tradition, die sicherlich bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Für die engere Geschichte der Bundesrepublik ist festzuhalten, dass es einen starken Anfang gab, der die Verfassung und das Verfassungsgericht in den 1950er Jahren auf ein hohes Niveau gehoben hat, und dass in der weiteren Folge dieses Niveau beibehalten wurde, ein Niveau, das nicht als das reguläre, erwartbare und normalerweise sich einstellend angesehen werden kann (wobei es Auf- und Abwärtsbewegungen gegeben haben mag). 57 Bei der Argumentation im Text handelt es sich um eine Historisierung der Anfangsphase des Verfassungsrechts des Grundgesetzes. Es ist aber ein Historisierung, die mit der Verortung in den konkreten Zeitumständen nicht eine Relativierung der damals erreichten Leistungen verbindet, sondern im Gegenteil aufzeigt, dass aus starken Anfängen ebenfalls starke weiterlebende Impulse für die Beibehaltung des damals eingeschlagenen Wegs, hier also der großen praktischen Bedeutung von Verfassungsrecht und Verfassungsgericht, folgen können. 58 Dies gilt auch für die theoretische Kritik und das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und richterlicher Entscheidung; auch diese Diskussion taucht in den deutschen Diskursen von Verfassungsrechtlern oder Politikwissenschaftlern nur kurz auf. Der amerikanische Klassiker John Hart Ely, Democracy and Distrust: A Theory of Judicial Review, Cambridge/Mass., 2002 (Erstauflage von 1980), ist in Deutschland keineswegs unbekannt, die Resonanz ist aber schwach, vermutlich weil die erwähnte Spannungslage in den USA einerseits und in Deutschland andererseits anders eingeschätzt wird.

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Dieses Element der Anerkennung und Zustimmung bei den Einzelnen ist ein wesentlicher Grund für die Wirksamkeit der Verfassung und des Verfassungsgerichts.59 Geht in einem gefestigten Rechtsstaat schon von jeder inhaltlichen Norm eine gewisse Wirksamkeit aus, so lässt diese sich noch beträchtlich steigern, wenn diesen Normen Durchsetzungsinstrumente beigegeben werden, im Falle der Verfassungsnormen also die Einrichtung eines Verfassungsgerichts. Aber auch dann ist die praktische Wirksamkeit des Rechts noch nicht automatisch erreicht, denn die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit muss ihrerseits Akzeptanz finden. Die Verwirklichung des immer voraussetzungsvollen und prekären Verrechtlichungsanspruchs bedarf vieler „Kraftquellen“ außerhalb des Rechtssystems. Zu den vielen Faktoren, die insofern erfüllt sein müssen, gehört auch eine möglichst hohe Identifikation der einzelnen Bürgerinnen und Bürger mit der Verfassung und dem Staat (bzw. der zu verfassenden politischen Einheit). Identifikation, Akzeptanz und starke Anerkennung einer politischen Einheit durch ihre Bürgerinnen und Bürger schlagen sich im Gemeinschaftsbewusstsein und einem starken Angehörigkeitsempfinden nieder. Sie zeigen, dass die politische „Einheit“ auch eine Gemeinschaft und im positiven Falle eine Gemeinschaft mit starkem Angehörigkeitsbewusstsein ist. Auch eine solche Gemeinschaft ist nicht von Anfang an vorhanden, sondern wird erst im Laufe einer Entwicklung gebildet. Politische Akzeptanzprozesse bei den Bürgerinnen und Bürgern mussten sich in der Anfangsphase des Grundgesetzes erst ausbilden, sie mussten gekräftigt werden, sie sind es auch heute, die der Verfassung und dem Verfassungsgericht Beachtung und Zustimmung verschaffen. Gerade Verfassungsrecht ist immer prekär, es braucht die Durchsetzungsinstrumente in Gestalt eines Verfassungsgerichts und die politischen Unterstützung durch die Einzelnen oder das Volk. Schließlich soll das Verfassungsrecht die Mächtigen limitieren. Dafür sind politische Prozesse notwendig, Prozesse des Akzeptierens, des Mit-Tragens der Verfassung. Diese politischen Prozesse sind eine wichtige Hilfs-Kraft für die Wirksamkeit der Verfassung insgesamt. Beim Verfassungsrecht ist das Normative am wenigsten selbsttragend, gerade bei ihm bedarf es gewichtiger, starker unterstützender Kräfte, eben der erwähnten Faktoren. Wie man Akzeptanz oder in verschiedenen Verfassungsstaaten Unterschiede in der Akzeptanz messen kann, ist schwierig zu beantworten. Allerdings ist ein Einflussfaktor nicht deshalb nicht-existent, weil es derzeit keine exakten Methoden gibt, ihn zu messen. Dann muss man ihn vorläufig abschätzen oder ihn durch Umfragen näherungsweise erheben. Und vorderhand genügen auch plausible Be59 Eine der oft übersehenen oder zu Unrecht für unproblematisch gehaltenen Vorbedingungen für praktische Wirksamkeit ist eine ausreichende Zustimmung aller regionalen Teile und sozialen Schichten des Volkes. Selbstverständlich mangelt es einer in Kraft getretenen Verfassung später an Wirksamkeit, wenn sie von relevanten Teilen im Volk überhaupt bestritten oder sogar in ihrer Existenz abgelehnt wird.

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obachtungen und Eindrücke. Eindrücke solcher Art sind es, wenn man im Zusammenhang der Schuldenkrisen in der EU etwa feststellt, dass die Maßnahmen zur Hilfe von Griechenland in Deutschland als ein Verfassungsproblem diskutiert werden (bis hin zu verfassungsgerichtlichen Verfahren), in anderen Mitgliedstaaten als eine rein politisch zu beurteilende Weiterentwicklung der Verträge. Das Beispiel gibt Gelegenheit, eine wichtige Präzisierung vorzunehmen. Die Bedeutung der Akzeptanz des verfassungsrechtlichen Weges bei der Beurteilung von Problemen ist hier betont als außerjuristische Dimension von Verfassung(sgerichtsbarkeit) vorgestellt und verstanden worden. Diese Überlegungen zielen nicht darauf ab und sind auch kein Plädoyer dafür, die zu treffende Entscheidung von Vermutungen über ihre Akzeptanz abhängig zu machen. Im Text geht es darum, dass in der deutschen Öffentlichkeit gerade verfassungsgerichtliche Verfahrens als normal und nicht weiter rechtsfertigungsbedürftig angesehen werden, während in anderen Ländern dieselben Probleme als rein politische interpretiert werden. Auf der Basis dieser Grundeinstellung gibt es in Deutschland wesentlich mehr Antragsteller in Karlsruhe als bei anderen Verfassungsgerichten, eben weil die Antragsteller nichts Außergewöhnliches tun, wenn sie sich an das Gericht wenden, das alle für zur Entscheidung berufen halten. An diesem Beispiel bestätigt sich, dass die Wirksamkeit des Verfassungsrechts viel mit der Häufigkeit der Anrufung des Gerichts und der ergehenden Entscheidungen zu tun hat. In der Bundesrepublik braucht man sich nicht zu sorgen, ob es zu irgendeinem einigermaßen wichtigen politischen Thema einen Antragsteller, einen „Kläger“ geben wird: er wird sich verlässlich finden. In Frankreich wächst die Zahl der Antragsberechtigten langsam an. Eine Verfassungsbeschwerde, die in Deutschland die Vielzahl der Fälle zum Verfassungsgericht erbringt, gibt es aber noch nicht. V. Zusammenfassung „Verfassung“ im Staat ist nicht nur eine höchste Norm mit grundlegenden Prinzipien und mit Vorrangwirkung, sondern „Verfassung“ ist eine Gesamtkonstellation von rechtlichen Wirkungen, von politischen Erwartungen, von Akzeptanz durch „die da unten“ und die realen Kräften im politischen Leben. Insgesamt lässt sich von einer komplexen vielgliedrigen verfassungsstaatlichen Konstellation60 sprechen, die innerjuristische Gründe für die Geltung und außerjuristische Faktoren für die Wirksamkeit der Verfassung umschließt. Der Begriff der kom60 Zur verfassungsstaatlichen Konstellation bereits Rainer Wahl, Verfassung jenseits des Staates – Eine Zwischenbilanz, in: Martin Hochhuth (Hrsg.), Nachdenken über Staat und Recht. Kolloquium zum 60. Geburtstag von Dietrich Murswiek, 2010, S. 107– 148, und ders., Die Rolle staatlicher Verfassungen angesichts der Europäisierung und der Internationalisierung, in: Stefan Korioth/Thomas Vesting, Der Eigenwert der Verfassung, 2011. – Für die anderen politischen Gemeinschaften bzw. Organisationen, also die EU und die internationalen Gemeinschaft bzw. internationale Organisationen, ist eine ähnliche (aber nicht die gleiche) Gesamtkonstellation zu beschreiben.

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plexen verfassungsstaatlichen Konstellation fasst das komplexe Feld law in contexts für die Verfassungen der Staaten zusammen, das bereits an anderer Stelle dargelegt wurde.61 Die juristische-normative Aufwertung der Verfassungen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die eine Seite, die praktische Ausfüllung des Verfassungsvorrangs und der Verfassungsgerichtsbarkeit die andere, ebenso bedeutsame Seite. Die häufig herausgestellten Gemeinsamkeiten unter den Verfassungsstaaten der Gegenwart liegen in der Rechtsdimension, also in den Texten und manchmal auch in ihrer Interpretation. Die beträchtlichen Unterschiede, die gleichwohl bestehen, liegen in der Dimension der Wirksamkeit und der Kraft der Verfassungen im politischen und gesellschaftlichen Leben begründet. Das Konzept und das Programm constitution in contexts ist geeignet, juristische und außerjuristische Faktoren der Wirksamkeit einer Verfassung zu thematisieren und die notwendige breite Analyse anzuregen, in der dann sowohl Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede der einzelnen Verfassungen explizit hervortreten. Vor allem macht das Konzept deutlich: contexts matters. Mit dieser Leitformel ist dann auch der Weg zum substantiellen Vergleich zwischen den Verfassungen in den Staaten und Verfassungen jenseits der Staaten geebnet, in dem einerseits Gemeinsamkeiten des Verfassungsdenkens und andererseits gewichtige Unterschiede aus den beträchtlich anderen Kontexten zu Tage treten. Für den besonders naheliegenden Vergleich mit einer europäischen Verfassung fällt vor allem ins Gewicht, das die staatlichen Verfassungen auf die Staaten als hochintegrierte politische Einheiten bezogen sind, die von ihren Bürgerinnen und Bürgern in einer ganz anderen und viel höheren Weise getragen und akzeptiert sind, als dies bei der Europäischen Union der Fall ist. Alle Textgemeinsamkeiten zwischen Staatsverfassungen und dem europäischen Primärrecht können über diese Unterschiede im Kontext nicht hinwegtäuschen.

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Näher dazu Wahl (Fn. 60), Die Rolle, Abschnitt IV.

Die verfassunggebende Gewalt als Bindeglied zwischen historischer Realität und Geltung der Verfassung Von Christian Waldhoff Klaus Sterns vor kurzem vollendetes Großwerk zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland hatte sich schon in seinem 1977 erstmals erschienenen ersten Band mit den Grundkategorien von Staat und Verfassung auseinanderzusetzen. Eine Art „Grundfrage der Grundfragen“ ist dabei das Problem, warum eine konkrete Verfassung gilt, wie sich historische Realität und juristische Konstruktion bzw. Geltung zusammenführen lassen. Eine rein dogmatisch vorgehende Arbeitsweise könnte die Geltung der Verfassung voraussetzen und auf eine Hinterfragung verzichten. Dogmatik, die sich Grundlagenfragen nicht verschließt, insofern „offen“ oder „informiert“ ist, nimmt auch solche Problemstellungen in den Blick1. Klaus Sterns staatsrechtliches Arbeiten habe ich immer im letztgenannten Sinn verstanden. In diesem ihm zu seinem 80. Geburtstag gewidmeten Beitrag soll es um diese verfassungstheoretische Grundfrage, wie es von einem historisch realen Geschehen zu normativer Geltung kommt gehen. Stern leitet sein entsprechendes Kapitel „Verfassunggebung und Verfassungsänderung“ im ersten Band des Staatsrecht mit einem Hegel-Zitat ein: „Die Frage, wem, welcher und wie organisierten Autorität die Gewalt zukomme, eine Verfassung zu machen, ist dieselbe mit der, wer den Geist eines Volkes zu machen habe.“ 2

I. Das Problem Während Rechtsnormen nach den in der Verfassung dafür vorgesehenen Verfahren zustande kommen und ihre Geltung aus der höherrangigen Verfassung herleiten3, führt die Frage nach der Entstehung und der Geltung der Verfassung 1 Vgl. als jüngeren Versuch zu bestimmen, was juristische Dogmatik ist m.w. N. Christian Waldhoff, Lob und Kritik der Dogmatik: Rechtsdogmatik im Spannungsfeld von Gesetzesbindung und Funktionenorientierung, in: Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was können wir über Rechtsdogmatik wissen? erscheint 2011. 2 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 143; das Zitat ist entnommen Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss, 1830, § 540. 3 Zur Abgrenzung von Verfassunggebung und Verfassungsänderung eingehend Christian Winterhoff, Verfassung – Verfassunggebung – Verfassungsänderung, 2007, S. 183 ff.

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in juristische Aporien4. Weil normativ vorgezeichnete Verfahren hier regelmäßig nicht zur Verfügung stehen5, wird das Verhältnis zwischen historischer Realität und juristischer bzw. rechtstheoretischer Konstruktion virulent. Das Problem ist damit auf die Frage zugespitzt, „wie der Übergang des Verfassungswerks aus dem nur politischen in den rechtlichen Zustand zu verstehen ist“ 6. Mit dem Terminus der verfassunggebenden Gewalt 7 als „staatstheoretischem Schlüsselbegriff “ 8 im Sinne der „Möglichkeit zur Setzung positiven Verfassungsrechts“ 9 wird dieses Problem begrifflich einzufangen versucht – dass ein derartiges Schlagwort Gefahr und Chance der Vereinfachung eines sehr viel Komplexeren impliziert, versteht sich von selbst10. Anders als im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ist eine von vornherein andere Realitätsprägung des Vorgangs auch aus juristischem Erkenntnisinteresse gegeben: „Politik und Recht werden durch die verfassunggebende Gewalt in ihrem Angelpunkt verbunden.“ 11 Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Verfassungen voraussetzungsvoll sind, ohne dass zugleich die Voraussetzungen zu normati4 Walther Burckhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, 2. Aufl., 1944, S. 207 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, 1986 (hier zitiert nach dem Wiederabdruck in ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, S. 90); Peter Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 160 Rdnr. 1; Gerd Roellecke, Verfassunggebende Gewalt als Ideologie, in: Depenheuer (Hrsg.), Aufgeklärter Positivismus, 1995, S. 149; Josef Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995; Dietrich Murswiek, in: Dolzer/Kahl/Waldhoff/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung, Stand des Gesamtwerks: 150. Lfg. Februar 2011, Präambel Rdnr. 91; Martin Heckel, Die Legitimation des Grundgesetzes durch das deutsche Volk, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8, 1. Aufl. 1995, § 197 Rdnr. 60, spricht von „Paradoxien“. 5 Nach Henner Jörg Boehl, Landesverfassunggebung im Bundesstaat, Der Staat 30 (1991), S. 572, 575, für den Juristen „eine beängstigende Situation“. 6 Wilhelm Henke, Staatsrecht, Politik und verfassunggebende Gewalt, Der Staat 19 (1980), S. 181, 210; Stern, Staatsrecht (Fn. 2), S. 147; Murswiek (Fn. 4), Präambel Rdnr. 94. 7 Zu diesem grundlegend Claude Klein, Théorie et pratique du pouvoir constituant, 1996. 8 Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl., 2004, Präambel Rdnr. 64; Ernst Gottfried Mahrenholz, Die Verfassung und das Volk, 1992, S. 9: Fragestellung prinzipieller Natur. 9 Roellecke (Fn. 4), S. 149. 10 Treffend und aus geschichtswissenschaftlicher Sicht auch konsequent am Begriff des „(juristischen) Staatsstreichs“ Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, 1973, S. 277 Fn. 3; deutlich etwa in den Formulierungen von Gunnar Folke Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, AöR 120 (1995), S. 32, 38, wo die verfassunggebende Gewalt als „Vulkanausbruch“ und das Verfassungsrecht als „geronnene Lava“ bezeichnet werden; dazu Jörg Menzel, Landesverfassungsrecht, 2002, S. 140 Fn. 37. 11 Heckel (Fn. 4), Rdnr. 47.

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ven Bestandteilen der Verfassung werden12. Die Deutung des Verhältnisses der Ebene der historischen Realität und der juristischen Konstruktion, die neben der verfassunggebenden Gewalt auch den Staatsbegriff selbst und die Staatszwecklehren betrifft, hat in der Zeit geschwankt und ist auch heute alles andere als geklärt13. Kurz: „Der Begriff der verfassunggebenden Gewalt ist eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Verfassung.“14 Durch diesen an einen „säkular-religiösen Akt der creatio ex nihilo“15 erinnernden Vorgang der Rechtsnormsetzung wird eine neue Legalitätsordnung errichtet, aus der das übrige Recht deduzierbar ist. Die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt ist eine besondere Form der Rechtsetzung16, die sich nicht in Rechtsetzung erschöpft, sondern zugleich eine Gründungserzählung17 entfaltet – eine Gründungserzählung des Rechts, des Staats, der Nation. Diese Lehre hat in der jüngeren deutschen Verfassungsgeschichte in zweierlei Zusammenhang praktische Relevanz18 gefunden: Im Zuge der Wiedervereinigung 1989/90 wurde erstens die einzige explizite Bezugnahme auf die verfassunggebende Gewalt in der Präambel des Grundgesetzes verändert und die Schlussbestimmung der Verfassung in verunklarender Weise neugefasst19. Erst 12 Zum Problem der Verfassungsvoraussetzung als normativer Kategorie kritisch am Beispiel der Staatlichkeit Christoph Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 256 ff. 13 Möllers (Fn. 12), S. 192 f. 14 Henke (Fn. 6), S. 194. 15 Ulrich K. Preuß, Zu einem neuen Verfassungsverständnis, in: Frankenberg (Hrsg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, 1994, S. 103, 104; ähnlich Isensee (Fn. 4), S. 57. Bezeichnenderweise konzediert selbst Hans Kelsen – freilich zum Zwecke der Kritik – die nicht zu leugnende theologische Dimension des umrissenen Themas: Der juristische und der soziologische Staatsbegriff, 2. Aufl., 1928, S. 128. Zur Kritik Kelsens am Begriff der Volkssouveränität vgl. Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius, Der Rechts- und Demokratietheoretiker Hans Kelsen – Eine Einführung, in: Kelsen, Verteidigung der Demokratie. Aufsätze zur Demokratietheorie, 2006, S. VII, XIX f. 16 Ulrich Häfelin, Verfassungsgebung, Referate zum Schweizerischen Juristentag, 1974, Schweizer Juristenverein Bd. 108, S. 77; Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1992, § 162 Rdnr. 30; Murswiek (Fn. 4), Präambel Rdnr. 91. 17 Vgl. zum Begriff Albrecht Koschorke, Zur Logik kultureller Gründungserzählungen, Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2007), S. 5. 18 Ausgeblendet bleibt im Folgenden Verfassunggebung als vom Verfassungsgeber gewollte/angeordnete Verfassungsergänzung, wie sie in der Frühzeit des Grundgesetzes mehrfach stattfand, vgl. dazu statt anderer nur Stefan Schaub, Der verfassungsändernde Gesetzgeber 1949–1980, 1984, S. 176 ff., 186 ff.; für die Finanzverfassung Klaus Vogel/Christian Waldhoff, in: Dolzer/Kahl/Waldhoff/Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung, Stand des Gesamtwerks: 150. Lfg. Februar 2011, Vorb. zu Art. 104a–115 Rdnr. 199 ff. (= dies., Grundlagen des Finanzverfassungsrechts, 1999, Rdnr. 199 ff.). 19 Zum Zusammenhang Mahrenholz (Fn. 8), S. 9 ff. Zu den beitrittsbedingten Verfassungsänderungen insgesamt Hans Hugo Klein, Kontinuität des Grundgesetzes und seine Änderung im Zuge der Wiedervereinigung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 8, 1995, § 198; zum Legiti-

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jüngst wieder hat zweitens das Bundesverfassungsgericht in der verfassungsgerichtlichen Sorge um eine „kalte“ Verfassunggebung auf europäischer Ebene in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon die verfassunggebende Gewalt und die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG über den Begriff der „Verfassungsidentität“ vor dem Demokratieprinzip verkoppelt20: „Die Verletzung der in Art. 79 Abs. 3 GG festgelegten Verfassungsidentität ist aus der Sicht des Demokratieprinzips zugleich ein Übergriff in die verfassungsgebende Gewalt des Volkes. Die verfassungsgebende Gewalt hat insofern den Vertretern und Organen des Volkes kein Mandat erteilt, über die Verfassungsidentität zu verfügen.“ 21

Die staatliche Neukonstituierung wird an den „unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes“ gebunden22. Die im Zentrum der folgenden Betrachtung stehende Kategorie der verfassunggebenden Gewalt ist mit dem Verfassungsrecht kompatibel, sofern sie als verfassungstheoretische, nicht als verfassungsrechtliche verstanden wird23. Es handelt sich um eine grundsätzlich nicht normierbare „komplexe Legitimationsfigur“, nicht um einen subsumtionsfähigen Rechtssatz24 und nicht um eine Beschreibung historischer Realität25. Es wird zu zeigen sein, dass im verfassungsrechtlichen Diskurs so wenig auf die verfassunggebende Gewalt „durchgegriffen“ mationsproblem Richard Bartlsperger, Verfassung und verfassunggebende Gewalt im vereinten Deutschland, DVBl. 1990, S. 1285; Hermann Huba, Theorie der Verfassungskritik am Beispiel der Verfassungsdiskussion anlässlich der Wiedervereinigung, 1996. Grundlegende Dokumentation der rechtlichen Dimension der Wiedervereinigung durch Klaus Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, 4 Bde., 1991/92. 20 Der Gedanke, Art. 79 Abs. 3 GG als Triumph der Lehre vom pouvoir constituant zu begreifen, findet sich bereits bei Klein (Fn. 7), S. 107 ff.; ders., La découverte de la doctrine française du pouvoir constituant en Allemagne: de l’Empire à la République fédérale, in: Beaud/Wachsmann (Hrsg.), La science juridique française et la science juridique allemande de 1870 à 1918, 1997, S. 148 f.; ferner Karl-E. Hain, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 5. Aufl. 2005, Art. 79 Abs. 3 Rdnr. 31; Sebastian Unger, Der Verfassungsprinzip der Demokratie, 2008, S. 195. 21 BVerfGE 123, 267 (344). 22 Ebd. 23 Vgl. auch Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Aufl., 2005, Präambel Rdnr. 14. 24 Begriff nach Dreier (Fn. 8), Präambel Rdnr. 72. Eingehend zum Problem Roellecke (Fn. 4), S. 149 ff.; Heckel (Fn. 4), Rdnr. 49 f.; Möllers (Fn. 12), S. 200; Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl., 2003, S. 103; Bernd Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Loseblattsammlung, Stand des Gesamtwerks: 59. Lfg. Juli 2010, Art. 20 IV Rdnr. 50; Stern (Fn. 2), S. 146; teilweise abweichend Böckenförde (Fn. 4); Boehl (Fn. 5), S. 576, der sich – verfehlt – insoweit auf die Inbezugnahme in der Präambel des Grundgesetzes beruft. Zur Unterscheidung von Verfassungsrecht und Verfassungstheorie Matthias Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: Depenheuer/Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 1. 25 Daher geht auch eine Polemik, wie diejenige von Isensee (Fn. 4), S. 73, wonach die verfassunggebende Gewalt ein „Klapperstorchmärchen für Volljuristen“ sei, zumindest auf der hier eingenommenen Ebene fehl.

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werden kann wie auf eine vom „Verfassungsgesetz“ gesondert gedachte „Verfassung“ „hinter“ dem Verfassungsgesetz. Die verfassunggebende Gewalt bezieht sich mithin auf die Verfassung im Ganzen: „Der Geltungsgrund der Rechtsordnung ist als solcher nicht als rechtliches Argument zu verwenden“26. In den Worten Heinrich Triepels: „Der ,Rechtsgrund‘ der Geltung des Rechts ist kein rechtlicher.“ 27 Ferner sei darauf hingewiesen, dass die Universalität der Figur der verfassunggebenden Gewalt begrenzt bleibt28. Ausgehend von der Französischen Revolution ist sie in Mitteleuropa der Sache oder dem Begriff nach rezipiert worden, in Deutschland mit der üblichen, durch das konstitutionelle System des 19. Jahrhunderts bedingten Verspätung29, während die US-amerikanische Diskussion30 – obgleich von außen betrachtet prototypische Ausformungen in der amerikanischen Verfassungsgeschichte aufscheinen – Zurückhaltung zeigt(e)31. In ungeschriebenen Verfassungsordnungen passt der Begriff von vornherein nicht und ist ihnen dementsprechend fremd geblieben32.

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Möllers (Fn. 12), S. 200. Völkerrecht und Landesrecht, 1899, S. 82; vgl. auch Burckhardt (Fn. 4), S. 209: „kann eine Verfassung, kann ein rechtlicher Erlass überhaupt über seine eigene Geltung verfügen? . . . Er kann es offenbar nicht. Sowenig das Gesetz oder die Verordnung sich selbst in Kraft setzen, d.h. selbst den Rechtstitel ihrer Verbindlichkeit abgeben können, sowenig können sie die Bedingungen ihrer Geltung . . . bestimmen.“ Ebd., S. 210: „Der Anspruch einer rechtlichen Ordnung auf Geltung kann nicht aus der Tatsache der Geltung eben dieser Ordnung abgeleitet werden.“ 28 Den besten internationalen Vergleich bietet Klein (Fn. 7). Allgemein Klaus Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, 1984. 29 Vgl. den Hinweis bei Ulrich Scheuner, Art. 146 GG und das Problem der verfassunggebenden Gewalt, DÖV 1953, S. 581, 584, wonach erst Carl Schmitt in seiner 1928 erstmals erschienenen Verfassungslehre den Topos in die deutsche Diskussion eingeführt habe. 30 Zu dieser und den Bezügen zur französischen Diskussion vgl. Klein (Fn. 7), S. 21. 31 Vgl. den Hinweis und Nachweis bei Christoph Möllers, Verfassunggebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung. Begriffe der Verfassung in Europa, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 1 (5 mit Fn. 15); ferner Franz-Joseph Peine, Volksbeschlossene Gesetze und ihre Änderung durch den parlamentarischen Gesetzgeber, Der Staat 18 (1979), S. 375, 386 f.; Stern (Fn. 2), S. 143, erklärt dies damit, weil dort Staatsgründung und Verfasssunggebung in eins fielen und „der Blick der Verfassungsväter stärker auf die praktische Ausgestaltung der Verfassung gerichtet war als auf die Theorie“; ausführlichste Darstellung im deutschen Schrifttum bei Karl Loewenstein, Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789, 1922; vgl. zur Behandlung der Kategorie der verfassunggebenden Gewalt in den USA jetzt jedoch den Beitrag von Andrew Arato, Forms of Constitution Making and Theories od Democracy, Cardozo Law Review 17 (1995/96), p. 191 ff. 32 Vgl. Murswiek (Fn. 4), Präambel Rdnr. 92 für Großbritannien. 27

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II. Geschichte und juristische Konstruktion Die verfassungstheoretische Frage nach dem Geltungsgrund der Verfassung unterscheidet sich von der Beschreibung historischer Prozesse. Nicht das archivarisch-historiographische Interesse, „wie es eigentlich gewesen“ sei33, sondern das Problem juristischer Verbindlichkeit, d.h. der Rechtsgeltung ist erkenntnisleitend: „Es ist weder eine Beschreibung realen Geschehens, noch die rechtsdogmatische Bezeichnung des Geltungsgrundes der konkreten Rechtsordnung, wenn die staatliche Existenz oder die Verfassung auf die verfassunggebende Gewalt zurückgeführt werden.“34

Auf eine Kurzformel gebracht: „Normativität versus Geschichtlichkeit“ 35. Geschichte wird hier durchaus instrumentell in ihrer legitimatorischen Funktion in Bezug genommen. Verfassungsgebung ist insofern Stiftung einer Gründungserzählung, Verfassung das ex post entstandene Protokoll dieser Vorgänge, das nur festhält, was zum Zeitpunkt der Niederschrift noch für wichtig erachtet wird36. Die jedem kodifikatorischen Projekt innewohnende mythische Dimension37 ist im Falle der Verfassung bis zum Höhepunkt gesteigert. Von außen betrachtet handelt es sich um juristische, genauer: um rechtstheoretische Konstruktion, wenn unterschiedliche „Modelle“ der Geltung angeboten werden. Als dogmatischer Begriff hat die verfassunggebende Gewalt die Funktion, die Geltung der Verfassung zu stabilisieren38. Die Unterschiede können besonders anschaulich an der Verfassunggebung durch Revolution oder infolge einer Revolution verdeutlicht werden. Normativ-konstruktiv kann hier regelmäßig besonders klar der revolutionäre Akt, der den überkommenen Legalitätszusammenhang sprengt, identifiziert werden: Wenn sich der Dritte Stand innerhalb der 33 Leopold v. Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker. Sämtliche Werke, Leipzig 1877 ff., Bd. 7, S. 33 f. 34 Peter Badura, Die Methoden der neueren allgemeinen Staatslehre, 2. Aufl. 1997, S. XVI; Dreier (Fn. 8), Präambel Rdnr. 72: „Das staatstheoretische Konzept der verfassunggebenden Gewalt bezeichnet keine beobachtbare Tatsache, sondern eine komplexe Legitimationsfigur.“ 35 Josef Isensee, Wechsel, Wandel und Dauer der Staatsformen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Lappenküper u. a. (Hrsg.), Masse und Macht im 19. und 20. Jahrhundert, 2003, S. 67, 73; insofern ist die Qualifizierung als „fromme Lüge“ – so Hans Meyer, Das ramponierte Grundgesetz, KritV 76 (1993), S. 399, 424 – bereits im Ansatz durch die Verwechslung zentraler Kategorien falsch, was auch nicht dadurch entschuldigt werden kann, dass die von Meyer herangezogenen Kronzeugen – Hermann v. Mangoldt und Thomas Dehler – dem gleichen Irrtum aufsitzen. 36 Vgl. Koschorke (Fn. 17), S. 5 f., 8 ff. 37 Vgl. Inge Kroppenberg, Mythos Kodifikation – Ein rechtshistorischer Streifzug, JZ 2008, S. 905 (909 ff.). 38 Böckenförde (Fn. 4), S. 92; kritisch Möllers (Fn. 12), S. 201 ff., der auf die Parallele zum „Staat“ als Grenzbegriff zwischen Normativität und Faktizität und darauf hinweist, dass rechtstheoretisch dadurch der Geltungsgrund des Rechts selbst zum Recht mutiere.

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Generalstände zur verfassunggebenden Nationalversammlung erklärt und diese damit ihren Einsetzungsauftrag, ihr Mandat überschreitet, liegt in diesem „Punkt“ die zentrale Rechtsverletzung, die Sprengung der überkommenen Legalität39. Historisch-soziologisch erscheint die Französische Revolution demgegenüber als vielaktiger und vielschichtiger Prozess in einem Zeitraum über Jahre40. III. Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt, vom pouvoir constituant ist in Abgrenzung zu soziologischer oder historischer Beschreibung und politischer Rechtfertigung von Verfassungsentstehung eine verfassungstheoretische „Denkfigur“41, eine Konstruktion zur normativen und damit im Grundsatz ahistorischen Plausibilisierung des Geltungsgrundes der Verfassung. Der Grenzbegriff der verfassunggebenden Gewalt beantwortet eine genetische, eine rechtsphilosophische und eine verfassungstheoretische Frage: Der historisch-politische Ursprung der Verfassung, ihr inhaltlicher Geltungsgrund, die Beschreibung der Instanz bzw. tragenden Kraft der Legitimität und die Abgrenzung zwischen Änderung und Beseitigung der Verfassung werden so auf je unterschiedlichen Ebenen beantwortet42. Darüber hinaus ist diese Denkfigur, insbesondere wenn sie in ihrer demokratischen Variante als „verfassunggebende Gewalt des Volkes“ ventiliert wird, von konkreten historischen Anlässen und Umständen nur bedingt ablösbar. Historisch erweist sich die Figur der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als Element einer demokratischen Verfassungstheorie, wie sie in der Französischen Revolution als Prototyp demokratischer Revolution und in den Vorarbeiten Emmanuel Joseph Sieyès zum Ausdruck kamen, indem die traditionale Herrschaftslegitimation des Königs, der Monarchie durch den Rückgriff auf die prinzipiell ungebundene Entscheidungsgewalt der Nation als verfassungsschöpfende Kraft ersetzt wurde43. Das Volk, die Nation44 als solche sind handlungsunfähig, sie 39 Die spätere Hinrichtung des Königs erscheint demnach als retardierendes Moment, vgl. Christian Waldhoff/Holger Grefrath, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung, Stand des Gesamtwerks: 30. Lfg. Juli 2010, Art. 54 Rdnr. 10. 40 Vgl. etwa Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution, 1969, S. 133 ff. 41 Hans-Peter Schneider, Die verfassunggebende Gewalt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 7, 1. Aufl., 1992, § 158 Rdnr. 1. 42 Vgl. Böckenförde (Fn. 4), S. 92. 43 Emmanuel Joseph Sieyès, Préliminaire de la Constitution, Paris 1789; ders., Qu’est-ce que c’est le tiers état? Paris 1789; Grundlegend dazu Egon Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, 1909; Karl Loewenstein,Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789, 1922; Hasso Hofmann, Repräsentation, 3. Aufl., 1998, S. 406 ff.; Carl Schmitt, Die legale Weltrevolution, Der Staat 17 (1978), S. 321 (337); Murray Forsyth, Reason and Revolution, 1987; zu entsprechenden Ansätzen vor Sieyès s. Görg Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 332 f.

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dienen als Referenzpunkte der konkreten Akteure, die im Wege revolutionärer Selbstermächtigung das Heft in die Hand nehmen. Der Theologe Sieyès übertrug theologische Begriffe auf die diesseitige Verfassungsordnung45: In Abkehr von der göttlichen Einsetzung der Herrschaftsgewalt und des Herrschers wird das Volk als Summe der in der Nation vereinten Menschen souverän. Die Analyse der verfassunggebenden Gewalt erweist diese nicht als „Fiktion“, auch nicht als bloßes „Sprachbild“, sondern als spezifisch normtheoretische Konstruktion zur Begründung der Frage: Warum gilt die Verfassung in einem juristischen Sinn? Als Grenzbegriff vermittelt die verfassunggebende Gewalt zwischen Faktizität und Normativität, um eine verfassungstheoretische Aussage machen zu können46. Die Frage nach dem Geltungsgrund gehört zur Verfassungstheorie, übersteigt das positive Recht, denn die Geltung, die Normativität einer Verfassung ruht historisch betrachtet zuförderst auf außernormativen Gegebenheiten. Geltung ist stets normtranszendent: „Die Legitimation der Verfassung ist nicht Thema für die Verfassungsinterpretation, die sich innerhalb des verfassungsrechtlichen Systems bewegt, sondern für die Verfassungstheorie, die es von außen betrachtet.“ 47

Geltung ist nicht Gegenstand, sondern Voraussetzung von und für Verfassungsinterpretation. Wie an kaum einer anderen Stelle in der Rechtsordnung wird so der naturalistische Fehlschluss vom Sein auf das Sollen gestreift, da es sich um eine verfassungstheoretische Kategorie handelt allerdings vermieden. Verfassunggebende Gewalt des Volkes ist kein verfassungsrechtsdogmatischer, sondern ein vorgelagerter und damit verfassungstheoretischer Begriff 48. Das kann durch ein Gedankenexperiment verdeutlicht werden: Wäre die verfassunggebende Gewalt (auch) eine verfassungsrechtsdogmatische Kategorie des geltenden Rechts und ginge man davon aus, dass das Volk als Subjekt dieser Kompetenz diese auch nach Ausübung beibehält, käme man zu dem Ergebnis, dass die konstituierte Verfassung – will sie ihren normativen Anspruch nicht aufgeben – zugleich die Ausübung dieser Kompetenz verbieten, ihr aktiv entgegentreten muss: Die vermit Fn. 4; Thomas Hafen, Staat, Gesellschaft und Bürger im Denken von Emmanuel Joseph Sieyes, 1994, S. 100 mit Fn. 41; ideengeschichtlich scheint es sich hier um eine Verbindung von Rousseauschem Gedankengut mit der Gewaltenteilungsdoktrin der USA zu handeln, vgl. Robert Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789, 1912, S. 151 ff. unter Hinweis auf Jean-Jacques Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Buch II Kap. 12; daraus folgt dann die Trennung zwischen gesetzgebender und verfassunggebender Gewalt. 44 Zu Geschichte und Funktion des Begriffs der „Nation“ in der französischen Tradition in Abgrenzung zu „Volk“ statt aller Kriele (Fn. 24), § 23; Hafen (Fn. 43), S. 71 ff. 45 Schmitt (Fn. 43), S. 337. 46 Ähnlich Christian Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht? 1972, S. 113 f. Zu dem auch hier zugrunde gelegten Konzept von Verfassungstheorie vgl. Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung, 2009. 47 Isensee (Fn. 4), S. 9 f., 80. 48 Dreier (Fn. 8), Präambel Rdnr. 64 ff.

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fasste Gewalt muss gegenüber der verfassenden Gewalt ein Revolutionsverbot statuieren49. Diese Perplexität – von manchen in Art. 146 GG verortet50 – wird vermieden, löst man die Legitimationsfrage vom geltenden Recht ab. Ein radikaler Normativismus verzichtet – von seinem Standpunkt aus betrachtet konsequent – auf außerjuristische „Letztbegründung“, indem mit der Grundnorm ein Axiom an Stelle des Rekurses auf eine materielle Verankerung von Legitimität gesetzt wird51. Die Rückführung von Rechtsnormen auf Rechtsnormen endet zwangsläufig an einer Rechtsnorm, deren Geltung wiederum begründet werden muss – es sei denn, man postuliert die Geltung dieser Rechtsnorm axiomatisch52 und „löst“ das Problem durch Ausgrenzung53: „Die Verknüpfung des Rechts mit vorrechtlichen Gegebenheiten, das Problem des missing link zwischen Normativität und Faktizität kommt . . . bei der Verfassung unabweisbar zum Vorschein.“ 54

Die Frage des „Übergangs“ der Verfassung von der historisch-politischen Sphäre in einen rechtlichen Zustand als eigentliche Frage nach der verfassunggebenden Gewalt ist letztlich ebenso auf eine Setzung, eine konstruktive Annahme angewiesen, wie die Frage nach der Geltung der Grundnorm, beide sind Ausfluss des „Dilemmas der letzten Norm“ 55. Die prinzipielle Trennung von Sein und Sollen 49 Walter Jellinek, Grenzen der Verfassungsgesetzgebung, 1931, S. 15; Roellecke (Fn. 4), S. 151 f. unter Rückgriff auf Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 256. 50 Umfassend zu den divergierenden Auslegungen des Schlussartikels des Grundgesetzes in der seit 1990 geltenden Fassung Ewald Wiederin, Die Verfassunggebung im wiedervereinigten Deutschland. Versuch einer dogmatischen Zwischenbilanz zu Art. 146 GG n. F., AöR 117 (1992), S. 410; Heckel (Fn. 4), Rdnr. 86 ff.; Henning Moelle, Der Verfassungsbeschluss nach Artikel 146 Grundgesetz, 1996; Karlheinz Merkel, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes. Grundlagen und Dogmatik des Artikels 146 GG, 1996; Birgitta Stückrath, Art. 146 GG: Verfassungsablösung zwischen Legalität und Legitimität 1997; zu den Ansätzen einer verfassungsprozessualen Aktivierung von Art. 146 GG vgl. Holger Grefrath, Exposé eines Verfassungsprozessrechts von den Letztfragen?, AöR 135 (2010), S. 221 (231 ff., 235 ff.). 51 Zur „Grundnorm“ Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., 1934, zitiert nach der von Jestaedt hrsg. Studienausgabe 2008, S. 73 ff., 93; in Verbindung mit der dadurch überflüssigen Kategorie der verfassunggebenden Gewalt Johann Schlesinger, Der pouvoir constituant, ZöR 13 (1933), S. 104; dazu Herbert Sauerwein, Die „Omnipotenz“ des pouvoir constituant, Diss. iur. Frankfurt 1960, S. 56 ff.; Erich Tosch, Die Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers an den Willen des historischen Verfassunggebers, 1979, S. 92 f.; eine interessante frühe Bewältigung des Problems – noch ohne den Terminus der verfassunggebenden Gewalt – findet sich bei Walter Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägungen, 1913, S. 27 f. 52 Vgl. im Überblick Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 305 ff., 313 f. 53 Isensee (Fn. 4), S. 18; Tomuschat (Fn. 46), S. 114. 54 Böckenförde (Fn. 4), S. 91 f. 55 Isensee (Fn. 4), S. 9; zur Abgrenzung beider Kategorien aus kelsenianischer Sicht Schlesinger (Fn. 51), S. 104.

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wird lediglich durch unterschiedliche Konstruktionen bzw. Annahmen bewältigt, letztlich transzendiert56; mit solchen Verfahren kann die Verfassungstheorie leben, übersteigt die Frage nach der Geltung von Recht und Verfassung doch die Rechtsordnung selbst. Man kann mit Gerd Roellecke hierin (in einem neutralen Sinn) Ideologie, die „Verhüllung der Selbstlegitimation des Rechts“, sehen57; verfassungstheoretisch funktionslos ist die Kategorie damit nicht. IV. Verfassunggebende Gewalt des Volkes als Ausprägung der Volkssouveränität Die verfassunggebende Gewalt wird im demokratischen Verfassungsstaat zur verfassunggebenden Gewalt des Volkes als Antwort auf die Frage nach der Geltung in einer konkreten historisch-politischen Situation, als sich die Frage nach der demokratischen Begründung der Verfassungsgeltung stellt58. Noch über Kategorien wie „Akzeptanz“ oder „Annahme“ hinaus manifestiert sich im Gründungsakt wie in der Befolgung der „Normwille des Volkes“.59 Insofern fällt sie im Akt der Verfassunggebung mit der Volkssouveränität zusammen60, ohne dass diese nicht positivierte und nicht konstitutionalisierte Emanation mit dem positivverfassungsrechtlichen Grundsatz der Volkssouveränität, wie er in Art. 3 der déclaration des droits de l’homme et du citoyen, in Art. 1 Abs. 2 WRV oder in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG zum Ausdruck kommt, verwechselt werden darf 61. 56

Vgl. auch Röhl/Röhl (Fn. 52), S. 306 f. Roellecke (Fn. 4), S. 163 f. 58 Betonung des Zusammenhangs der Erfüllung demokratischer Standards bei der Verfassunggebung bei Arato (Fn. 31), p. 191 f.; Udo Steiner, Verfassunggebung und verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1966, S. 25, 67; Henning v. Wedel, Das Verfahren der demokratischen Verfassunggebung, 1976, S. 26 ff.; Mahrenholz (Fn. 8), S. 12; Friedrich Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995, S. 14; Heckel (Fn. 4), Rdnr. 46; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., 2005, S. 277; Möllers (Fn. 12), S. 199; Dreier (Fn. 8), Präambel Rdnr. 64. 59 Heckel (Fn. 4), Rdnr. 57 f. 60 Kriele (Fn. 24), S. 103 f., 240; abweichend wohl Tosch (Fn. 51), S. 86 f., der Volkssouveränität als bloß „politisches Postulat“ ohne Bedeutung für Schaffung oder Geltung einer Verfassung versteht. 61 Matthias Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondominialverwaltung, 1993, S. 156 f. mit Fn. 86; zur grundsätzlichen Trennung zwischen der Volkssouveränität als staats-/ verfassungstheoretischer Kategorie, die sich auf das unverfasste Staatsvolk beziehe vom verfassten Staatsvolk als verfassungsrechtlicher Kategorie bei Kelsen bei Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius, Der Rechts- und der Demokratietheoretiker Hans Kelsen – Eine Einführung, in: dies. (Hrsg.), Hans Kelsen. Verteidigung der Demokratie, 2006, S. VII (XIX f.); zu dieser Unterscheidung hinsichtlich des Volkes, freilich mit teilweise abweichenden Schlussfolgerungen, ferner auch Peter Schneider, Über das Verhältnis von Recht und Macht, in: FS Leibholz, Bd. 1, 1966, S. 573 (600 ff.); Tomuschat (Fn. 46), S. 101 und v. a. Brun-Otto Bryde, Verfassunggebende Gewalt des Volkes und Verfassungsänderung im deutschen Staatsrecht, in: Bieber/Widmer (Hrsg.), L’espace constitutionnel européen. Der europäische Verfassungsraum. The european constitutional area, 57

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Das Volk ist zugleich Träger (Subjekt) der verfassunggebenden Gewalt wie der verfassten Staatsgewalt: In der ersten Funktion als soziologische, rechtlich noch unverfasste Entität, in der zweiten Funktion als rechtlich verfasste, regelmäßig über die Kategorie der Staatsangehörigkeit normativ abgegrenzte Einheit. Die verfassunggebende Gewalt ist im Grundsatz – jenseits selbstgesetzter Regeln – unverfasste und insofern „originäre“ (Herrschafts-)Gewalt. Auch wenn man hier die Bezeichnung als „Staatsgewalt“ vermeidet, geht es nicht um einen (gesellschaftsvertraglichen) „Naturzustand“. Der „Naturzustand“ erweist sich in den gesellschaftsvertraglichen Staatstheorien als Konstrukt einer Plausibilisierung, die keine historische Realität für sich in Anspruch nimmt; die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt (des Volkes) ist demgegenüber die staatstheoretische bzw. juristische Konstruktion, die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse normativ einzufangen. Die verfassunggebende Gewalt des Volkes hat von vornherein präskriptiven Charakter als demokratische Legitimationstheorie 62. In den Gründungsdokumenten des demokratischen Verfassungsstaats kommen diese Zusammenhänge zum Ausdruck. In einer frühen amerikanischen Verfassung lesen wir: „. . . the people alone have an incontestable, unalienable, and indefeasible right to institute government“ 63. In der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte heißt es: „Le principe e toute souverainité réside essentiellement dans la nation.“ 64 Es handelt sich systematisch um eine Zuspitzung der allgemeineren Kategorie, die wiederum an konkrete Entstehungsumstände und Bedingungen geknüpft ist65. In der konkreten historischen Situation erweisen sich Freiheit und Gleichheit als die politischen Ziele der Volkssouveränität66. Wenn Verfassungen demokratietheoretisch als „praktisch-juristische Form des demokratischen Versprechens“ verstanden werden, könnte man von einer 1995, S. 329 (334 ff.), mit einer eingehenden Kritik einer nationalstaatlichen Ethnisierung des vorrechtlichen Volksbegriffs im Deutschland des 19. Jh.; zur Gegenposition Walter Leisner, Das Volk, 2005, S. 46 ff., auf der Suche nach „Kriterien“ eines vorfindlichen Staatsvolkes, wobei zwar zwischen dem „Volk der Allgemeinen Staatslehre“ und dem „Staatsvolk“ differenziert wird, durch die Gleichschaltung vom Volk als „Produkt und Träger . . . souveränen Herrschens“ (S. 51) diese Kategorien letztlich wiederum vermengt werden. 62 Murswiek (Fn. 4), Präambel Rdnr. 98. 63 Art. VII der Constitution of Massachusetts von 1779/80; in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt es: „. . . that whenever any form of government becomes destructive of these ends . . . it its the right of the people to alter or to abolish it, and to institute a new government“; vgl. Bernard Schwartz, The Bill of Rights, Bd. 1, 1971, S. 231 ff., 251 ff. 64 Die Formulierung bei Emmanuel Joseph Sieyès, Qu’est ce-que le Tiers états? (ed. Zapperi), Genève 1970, p. 180: ,La nation existe avant tout, elle est l’origine de tout. Sa volonté est toujours légale, elle est la loi elle-meme.‘ Vgl. auch Hermann Heller, Staatslehre, 6. Aufl., 1983, S. 314. 65 Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 312 f.; Ulrich K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung, 1990, S. 18. 66 Mahrenholz (Fn. 8), S. 14.

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(demokratischen) „Anfangserzählung“ sprechen, „mit deren Hilfe wir uns erzählen und erklären, wie es zu einer demokratischen Ordnung kam und was sie bedeutet“ 67. Genetisch tritt die Figur der verfassunggebenden Gewalt sogleich als diejenige „des Volkes“, mit einer politischen Botschaft in Erscheinung. Als „demokratisches Dogma“ ist die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt letztlich untrennbar mit ihrer demokratischen Variante verbunden, indem sie ausführt, wann eine Verfassunggebung demokratische Legitimation besitzt68. In der konkreten Entstehenssituation war die Lehre, gestützt auf die Sieyèssche69 Unterscheidung zwischen pouvoir constituant und pouvoir constitué, zugleich politischer, in der Konsequenz demokratischer Kampfbegriff in einem revolutionären Geschehen: „Denn dass die verfassungsschöpferische und -gestaltende Gewalt nur dem Volke – und nicht etwa einem Monarchen oder einer Aristokratie – zustehen konnte, verstand sich von selbst, denn die ganze Idee der Verfassungsschöpfung und damit des pouvoir constituant ruht auf der Voraussetzung, dass eine Gesamtheit sich selbst durch einen kollektiven Gesamtakt eine Ordnung gibt – die Ideen der Volkssouveränität und die des pouvoir constituant sind mithin untrennbar miteinander verbunden. Nur auf der Grundlage der Volkssouveränität ist das Dogma des pouvoir constituant verständlich, dass die verfassunggebende Gewalt die einzige Gewalt im Verfassungsstaat ist, die ihre Kompetenz und ihre Autorität selbst bestimmt, keiner vorgängigen Normierung unterliegt, an keine Begrenzung gebunden ist und auch nach eigenem Ermessen bestimmt, in welcher Weise und nach welchem Verfahren sie ihren Willen bildet.“70

Historisch erweist sich die Lehre von der Volkssouveränität als polemisches Gegenbild zur (absoluten) Fürstensouveränität71. Schon im Entstehungszusammenhang der Kategorie, genauer: des Wiederaufgreifens des Topos aus dem Hochmittelalter 72 und der Renaissance73, in der Französischen Revolution „brach die Politik“ in diese „ein“ – entsprechende Gegenbewegungen in Deutschland suchten gerade dieses Moment auszuschalten, indem Verfassunggebung als normale Gesetzgebung interpretiert wurde74. Das gelang bis zum Umbruch 1918/19. Die 67

Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2008, Rdnr. 19, 96. Isensee (Fn. 4), S. 21, mit der Bemerkung ebd., S. 22, dass die Formel von der „verfassunggebenden Gewalt des Volkes“ sich als „latenter Pleonasmus“ erweise. 69 Vgl. zum Ursprung des Konzepts Klein (Fn. 7), S. 7 ff. 70 Preuß (Fn. 15), S. 104. 71 Vgl. Mahrenholz (Fn. 8), S. 13 f. 72 Bereits Dante konzipierte das „souveräne“ Volk bereits als unmittelbaren Grund königlicher Herrschaft, die göttliche Gnade nur noch als causa remota, vgl. grundlegend Hans Kelsen, Die Staatslehre des Dante Alighieri (1905), in: HKW 1, S. 134 (235). 73 Vgl. zur vormodernen Geschichte der Volkssouveränität überblicksartig Hasso Hofmann (Fn. 43.), S. 191 ff.; Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004, S. 181 ff., insb. S. 188 ff.; sowie Friedrich Hermann Schubert, Volkssouveränität und Heiliges Römisches Reich, HZ 213 (1971), S. 91. 74 Henke (Fn. 6), S. 182. 68

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verfassunggebende Gewalt wurde auch in Deutschland zu dem, was ihrer historischen Exposition entsprach: zu einer „der wichtigsten Äußerungsformen der Volkssouveränität“ 75. Inzwischen gehört die „Amalgamierung von Staatsgewalt und Demokratie als Inklusionsprinzip“ zum verfassungsrechtlichen Standard freiheitlicher Staaten schlechthin76. Gleichwohl bedeutet diese Verbindung von Volkssouveränität und verfassunggebender Gewalt keine Bindung an ein bestimmtes demokratisches Verfahren. Die Verfahrensautonomie der verfassunggebenden Gewalt gehört zu ihren entscheidenden Steuerungsmöglichkeiten. Insbesondere das Plebiszit über die neue Verfassung gehört weder zum Traditionsbestand demokratischer Verfassunggebung77, noch evoziert sein Fehlen automatisch einen Mangel an demokratischer Legitimation78. Mehr noch stellt sich die Frage, ob die „nacheilende“ Zustimmung des Volkes zu einem Verfassungstext die begriffliche wie normative Durchschlagskraft des Konzepts der Volkssouveränität nicht gar desavouiert: Warum soll das Volk noch einmal zustimmen müssen, wenn es doch die ganze Zeit gehandelt hat? V. Verfassunggebende Gewalt als punktuelles Ereignis und als dauerhafte Legitimationsquelle Die verfassunggebende Gewalt als verfassungstheoretische Konstruktion legitimiert die Verfassung im Sinne ihrer Geltungsanordnung. „Die verfassunggebende Gewalt des Volkes ist . . . zugleich die verfassungslegitimierende Gewalt.“ 79 Legitimation wird der Verfassung nicht nur durch und während ihres Entstehungsvorgangs vermittelt, sondern im Prinzip dauerhaft80. Verfassungen „auf Zeit“ sind unüblich. „Die Verfassunggebung ist nur Auftakt zur Verfassungsträgerschaft.“ 81 Die Verfassunggebung erschöpft sich nicht in einem dezisionistischen Akt, sondern trägt die Geltung auch kontinuierlich in der Zeit82. Sie bricht, wie es für

75

Klaus v. Beyme, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1968, S. 5. Udo Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 44. 77 Vgl. dazu, dass Sieyès die Mediatisierung der Stimmbürger durch repräsentative Versammlungen nicht nur als technischen Notbehelf, sondern als „besseres System“ entwickelt hatte Hofmann (Fn. 43), S. 407. 78 Vgl. Dreier (Fn. 8), Präambel Rdnr. 69; Peine (Fn. 31), S. 386 f.; Tosch (Fn. 51), S. 85 f.; grundsätzliche Gegenposition wiederum bei Bryde (Fn. 61), S. 337 ff. 79 Mahrenholz (Fn. 8), S. 13. 80 Badura (Fn. 4), Rdnr. 7. 81 Heckel (Fn. 4), Rdnr. 58. 82 Grundlegend Böckenförde (Fn. 4); Preuß (Fn. 15), S. 114; Stern (Fn. 2), S. 147, 149; Badura (Fn. 4), Rdnr. 7; Huba (Fn. 19), S. 126, ordnet der Betonung des Entstehungsaktes ein „pathetisches Verfassungsverständnis“ im Sinne der historischen Selbstverständigung eines Volkes über seine politische Existenz und die gesellschaftliche Ord76

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Gründungserzählungen typisch ist83, die Brücken zum Vergangenen ab, setzt eine Zäsur, wirkt aber potentiell auf ewig in Zukunft hinein. Die Einführung des Topos der verfassunggebenden Gewalt in die deutsche Diskussion (erst) in der Verfassungslehre Carl Schmitts 1928, also zehn Jahre nach dem entscheidenden staatsrechtlichen Umbruch, hat durch den pointiert dezisionistischen Ansatz der dortigen Verfassungskonzeption den Blick auf die Dauer, auf den gerade nicht nur punktuellen Charakter erschwert. Dementsprechend betonten Hermann Heller, vor allem jedoch Rudolf Smend und seine Schüler, eher den prozeduralen, zeitlichen Aspekt der Legitimation bzw. des Geltungsgrundes der Verfassung. Rudolf Smend postuliert in „Verfassung und Verfassungsrecht“, Staat und Verfassung lebten in einem „Prozess beständiger Erneuerung, dauernden Neuerlebtwerdens“84. Das bedeutet in der Sache letztlich das gegen eine Überbetonung des dezisionistischen Elements der Verfassunggebung fungierende Postulat eines pouvoir constituant institué85. Die Geltung der Verfassung liegt nach Konrad Hesse in ihrer „Verwirklichung“: „Solche reale Geltung erlangt die Verfassung noch nicht dadurch, dass sie gegeben wird. Verfassunggebung ist in dem, was sie ist und in dem, was sie schafft, verkannt, wenn sie als einmaliger Willensakt der ,verfassunggebenden Gewalt‘ verstanden wird, einer Ur-Gewalt, aus der sich alle konstituierte Gewalt herleitet und deren Gebote kraft ihres Willens zu befolgen sind. . . . Inwieweit es der Verfassung gelingt, diese Geltung zu gewinnen, ist vielmehr eine Frage ihrer normativen Kraft, ihrer Fähigkeit, in der Wirklichkeit geschichtlichen Lebens bestimmend und regulierend zu wirken.“86

Peter Häberle radikalisiert diese Ansätze, indem er die verfassunggebende Gewalt als solche verabschiedet und die verfasste Totalrevision als Maximum der im konstitutionellen Rahmen verbleibenden Verfassungsordnung anerkennt87.

nung, der Hervorhebung der dauerhaften Geltung ein „technisches Verfassungsverständnis“ im Sinne der Funktion der Verfassung als höchstem Gesetz zu. 83 Koschorke (Fn. 17), S. 6. 84 In: ders., Staastsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl., 1994, S. 119 (136). 85 Vgl. etwa Rudolf Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl., 1994, S. 309, 320 Fn. 15: „Es ist . . . nicht der Sinn der Verfassung, ,Entscheidung‘ im Sinne irgendeines sachlich folgerichtigen politischen Denksystems zu sein, sondern lebendige Menschen zu einem politischen Gemeinwesen zusammenzuordnen.“ 86 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rdnr. 42; Heilung etwaiger ursprünglicher Legitimationsmängel dadurch, dass das Grundgesetz „von den Menschen grundsätzlich ,angenommen‘ worden“ sei, ders., Die Verfassungsentwicklung seit 1945, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl., 1994, § 3 Rdnr. 17. 87 Peter Häberle, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat – eine vergleichende Textstufenanalyse, AöR 112 (1987), S. 54, 77 ff., 87, 91 f.; vgl. auch Tomuschat (Fn. 46), S. 98 ff.

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Mit diesen Akzentverschiebungen wird zugleich deutlich, dass nicht bestimmte Mehrheitsanforderungen im Entstehungsakt diese dauerhafte Geltung bewirken, sondern dass der reale Erfolg im Sinne einer übergreifenden Akzeptanz das entscheidende Datum darstellt: Nur sofern die im politischen Prozess unterliegenden Teile sich dem Mehrheitsdiktum beugen, gewinnt die Verfassung Legitimität aus Akzeptanz88. Nicht das Plebiszit im Rahmen der Verfassunggebung, sondern das „plébiscite de tous les jours“ ist entscheidend. Die Verfassung als Rechtssatz verwirklicht in der Max Weberschen Unterscheidung rationale Legitimität, greift in ihrer Entstehung – gerade in der revolutionären Situation mit ihrem Rückgriff auf Nation oder Volk – jedoch u. U. auf charismatische Legitimität zurück: „Der Gründungsakt, der Tradition stiftet, zeugt Legitimität in Permanenz.“ 89 Der aus einer spezifischen „Gründungssituation“ erwachsende Gründungsakt90 und die Legitimation auf Dauer vermittelnde Akzeptanz erweisen sich als Charakteristika der verfassunggebenden Gewalt und damit der Legitimation der Verfassung, die – da sie auf unterschiedlichen Ebenen liegen – nicht gegeneinander ausgespielt werden können91. VI. Schluss Nirgendwo wie in der verfassungstheoretischen Figur der verfassunggebenden Gewalt berühren sich historische Realität und juristische bzw. rechtstheoretische Konstruktion derart und ermöglichen so durch die Reflektion über das Verhältnis dieser auf grundsätzlich verschiedenen Ebenen anzusiedelnden Kategorien Erkenntnisse über Struktur und Bedingungen von Verfassungen, insbesondere ihrer Geltung. In ihrer demokratischen Spielart als verfassunggebende Gewalt des Volkes ist die Figur zur Gründungserzählung des demokratischen Verfassungsstaats, zur juridischen Erklärung der Geltung und damit zur Legitimationsfigur der Verfassung schlechthin geworden. Auch wenn über einen rein dezisionistischen Ansatz hinaus heute klar ist, dass in der ständigen „Verwirklichung“ der Verfassung die „reale Geltung“ ruht, wäre es ein Kurzschluss, die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt ganz zu verabschieden. Gerade die neuere Diskussion um die verfassungsrechtlichen Grenzen der europäischen Integration haben diese Zusammenhänge wieder in das Bewusstsein gerufen. 88 Eingehend – in Abgrenzung zu sog. Anerkennungslehren bzgl. der rechtsphilosophischen bzw. rechtstheoretischen Rechtsgeltungslehren – Hasso Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 60 ff.; ferner Dieter Grimm, Art. „Verfassung“, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 5, 7. Aufl., 1989, Sp. 633, 636; für die Legitimität des Grundgesetzes Michael Kloepfer, Zur historischen Legitimation des Grundgesetzes, ZRP 1983, S. 57, 59; Hesse (Fn. 86),§ 3 Rdnr. 17; Dreier (Fn. 8), Präambel Rdnr. 73 f. 89 Isensee (Fn. 4), S. 32. 90 Vgl. Huba (Fn. 19), S. 120. 91 Vgl. ähnlich Badura (Fn. 4), Rdnr. 7.

2. Teil

Allgemeine Grundrechtslehren

Die Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts als Verfassungsziel und der Schutz der grundrechtlichen Freiheit Von Peter Badura I. Verfassungspolitik, Verfassungsrecht, Verfassungspraxis Rechtsstaatlichkeit, Freiheitlichkeit und politische Teilhaberechte machten im Anfang des Verfassungsstaates seit den bürgerlichen Revolutionen die Bedeutung einer Verfassung aus. „Die Verfassung wurde zum Garanten einer bestimmten rechtlichen und politischen Kultur.“ Im 20. Jahrhundert, vor allem nach dem 1. Weltkrieg, erfolgte dann auf breiterer Ebene der Versuch, „die Gemeinschaft durch Leitgrundsätze, Direktiven, Aufgaben und Programme im Verfassungstext in eine bestimmte Richtung zu entwickeln“1. 1. Weimarer Reichsverfassung

Die Reichsverfassung von 1871 bekundete in ihrem Vorspruch, dass die Monarchen der Reichsländer einen ewigen Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes schließen. Nach Weltkrieg, Revolution und Sturz der Monarchie wurde der Bundesstaat Deutsches Reich kraft der verfassunggebenden Gewalt des Volkes als Republik und Demokratie neu gegründet. Die Neukonstituierung des Staates beurkundete die Weimarer Reichsverfassung von 1919 in ihrem Vorspruch mit folgenden Worten: „Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu befestigen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben.“ Es fällt auf, dass der am 17. Februar 1919 vom Reichsministerium des Innern dem Staatenausschuss vorgelegte Verfassungsentwurf 2 davon sprach, dass sich das Deutsche Volk, von dem Willen beseelt, „den sozialen Fortschritt zu fördern“, 1 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 3 III 2 und 3b. 2 Entwurf einer Verfassung des Deutschen Reichs (Entwurf III), Drucksachen des Staatenausschusses. Tagung 1919. Nr. 4. Ebenso der von dem Reichsminister des Innern der Nationalversammlung vorgelegte Entwurf IV vom 21. Februar 1919, Drucksachen der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung, Nr. 59.

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diese „freistaatliche Verfassung“ gegeben habe. Der Reichsminister Hugo Preuß, den Verfassungsentwurf vor der Nationalversammlung begründend, legte dar, „den sozialen Fortschritt kann die Verfassung unmittelbar so wenig schaffen, wie den sonstigen Willen des Volkslebens; aber ihm durch die politische Organisation den Weg offen halten, das kann sie, und ich hoffe, dass dies der Entwurf tut“3. Diese Hoffnung konnte darauf verweisen, dass die durch Friedrich Naumanns „Versuch volksverständlicher Grundrechte“4 angeregte, breit angelegte Gewährleistung und Programmatik des Zweiten Hauptteils der Verfassung, in den „Grundrechten und Grundpflichten der Deutschen“ den Schutz von Freiheit und Eigentum vielgestaltig mit wohlfahrtsstaatlichen Schranken, Institutionen und Verheißungen, auch eigentlichen „sozialen Rechten“, verband5. Die Arbeitskraft wurde unter den besonderen Schutz des Reichs gestellt und dem Reichsgesetzgeber wurde die Aufgabe gestellt, ein einheitliches Arbeitsrecht zu schaffen (Art. 157 WRV)6. Der Abschnitt über das Wirtschaftsleben wurde mit einer Verfassungsnorm eingeleitet, die sich rück- und vorausblickend wie eine Zusammenfassung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liest: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen zu sichern“ (Art. 151 Abs. 1 WRV). Der gesellschaftliche Fortschritt zu dem sich die Weimarer Reichsverfassung programmatisch bekannte, war – und ist – nur auf Kosten gesellschaftlicher Autonomie zu denken. Er löste notwendig die „zentripetale Dynamik eines sozialen Verwaltungsstaates“ aus, hinter der sich die ganze Problematik des dann in Art. 20 GG ausdrücklich anerkannten „sozialen Bundesstaates“ verbarg. Der Sozialstaat ist seinem Wesen nach Interventionsstaat, auch wenn der soziale Rechtsstaat die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung keineswegs vorhaltlos zur Disposition demokratischer Willensbildung und Gestaltung gestellt hat. „Seitdem sich die neue Reichsverfassung von 1919 in ihrer Präambel ausdrücklich zum Staatsziel der Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts bekannte, sind Wirtschaft und Gesellschaft mehr und mehr in existentielle Abhängigkeit von einer Verwaltung geraten, deren Verantwortung sich seitdem nicht mehr in ihren traditionellen Ordnungsfunktionen erschöpft“7.

3

Nationalversammlung, 14. Sitzung, 24. Februar 1919, S. 288. Ernst Rudolf Huber, Friedrich Naumanns Weimarer Grundrechts-Entwurf. Der Versuch eines Modells der Grundwerte gegenwärtigen Daseins, in: Festschrift für Franz Wieacker, 1978, S. 384. s. a. Alfred Voigt, Geschichte der Grundrechte, 1948, S. 124 ff. 5 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VI: Die Weimarer Reichsverfassung, 1981, S. 1081 ff. 6 s. schon die Verordnung des Rats der Volksbeauftragten über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vom 23. Dezember 1918 (RGBl. S. 1456). 4

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Es sollte allerdings nicht übergangen werden, dass sozialer oder – weitergeblickt – gesellschaftlicher Fortschritt nicht nur durch wirtschaftliche Freiheit und deren soziale Beschränkung, Schutz der Arbeitskraft und staatlich garantierte soziale Sicherheit gefördert wird. Bildung und Schule, Forschung und Lehre und besonders Freiheit der Wissenschaft in den körperschaftlich verfassten und mit anstaltlicher Autonomie ausgestatteten Universitäten sind Bedingungen des gesellschaftlichen Fortschritts. Die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre ist eine bereits in der Paulskirchen-Verfassung (§ 152, dann Art. 20 der VerfassungsUrkunde für den Preußischen Staat von 1850) aufgenommene Forderung der bürgerlichen Verfassungsbewegung. Sie findet in der Organisationsform der die verschiedenen Zweige der Wissenschaft in kollegialen Fakultäten und in dem Prinzip der Einheit von Forschung und Lehre verbindenden Universität ihre eigentliche Verwirklichung8. 2. Gesellschaftliche Programmatik und Verheißungen

Doch noch einmal zurück zu dem Vorspruch der Weimarer Reichsverfassung. Das dort formulierte Staatsziel der Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts wurde offenbar als politisches Bekenntnis zu den Grundlagen des staatlichen Neuaufbaus angesehen, nicht aber als ein juristisch erheblicher Verfassungssatz mit staatsrechtlicher Normativität9. Anschütz geht in seinem Kommentar mit keinem Wort auf diese Klausel ein. Als vor allem erheblich erscheint die legitimierende Volkssouveräntität, die demokratische und nicht bündische Verfassunggebung, die Staatskontinuität und die Absage an die Räterepublik10.

7 Arnold Köttgen, Die Gemeinde und der Bundesgesetzgeber, 1957, S. 34; ders., Der soziale Bundesstaat, in: Festgabe für Hans Muthesius, 1960, S. 19; ders., Struktur und politische Funktion öffentlicher Verwaltung, in: Festschrift für Gerhard Leibholz, 1966, S. 771/772. 8 Deutlich zurückhaltender unter der Perspektive des Art. 5 Abs. 3 GG: BVerfG JZ 2010, 948 (Fachhochschulen, „Entwicklungsoffenheit des sachlichen Schutzbereichs der Wissenschaftsfreiheit“), mit Anm. Klaus Ferdinand Gärditz, ebd., S. 952; BVerwG ZBR 2010, 307 (Stiftungsuniversität Göttingen), mit Anm. Jürgen Costede, ebd., S. 312. – Martin Burgi/Ilse-Dore Gräf, Das (Verwaltungs-)Organisationsrecht der Hochschulen im Spiegel der neueren Gesetzgebung und Verfassungsrechtsprechung, DVBl. 2010, 1125. 9 Dass Präambeln einer Verfassung nicht als Normen formuliert sind und nicht bestimmte Rechtsfolgen hervorbringen, schließt nicht aus, dass in ihnen Staatsziele und Grundsätze mit rechtlicher Erheblichkeit ausgesprochen sind, die Direktiven für die Staatsleitung, die Gesetzgebung und die Auslegung von Gesetzen sein können. Vgl. Peter Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 211. Zum Wiedervereinigungsgebot: BVerfGE 5, 85/ 127; 36, 1/17 ff., 24, 27; 77, 137/149 ff. 10 Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933, S. 12 f., 31 ff.

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Deutlicher fassbar wird der gesellschaftspolitische Entwurf des neuen Staatswesens in dem schon genannten Zweiten Hauptteil der Reichsverfassung. Rudolf Smend sah hier die Beurkundung des von Friedrich Naumann gemeinten „Verständigungsfriedens zwischen Kapitalismus und Sozialismus“11, nicht nur in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Die in Verfassungsnormen gegossenen sozial- und gesellschaftspolitischen Programme und Verheißungen begründeten zwar unmittelbar keine Rechte und Pflichten des Einzelnen. Smend warnt jedoch davor, die Bedeutung dieses Teils der Verfassung zu unterschätzen; denn von dessen Programmen und Grundsätzen könne die Reichsgesetzgebung ohne Verfassungsänderung nicht abweichen, ja, in der Durchführung dieses Programms soll der Staat dauernd seinen Inhalt finden, sich verwirklichen. In dieser Beziehung sei der Zweite Hauptteil der Verfassung „besonders lehrreich für den Sinn der Verfassung überhaupt“12. Diese Einschätzung führt zu der Frage nach der Leistungsfähigkeit des Verfassungsrechts für die rechtlich greifbare Festlegung oder gar Planung und Steuerung des gesellschaftlichen Fortschritts und einer sozialen Gerechtigkeit, jenseits der Gewährleistung des Rechtsstaates, der Wahrung von Recht und Sicherheit und des Schutzes von Freiheit und Eigentum. 3. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

Nach dem Sturz der Weimarer Republik durch die nationalsozialistische Diktatur und dem Zusammenbruch im Zweiten Weltkrieg hat der westdeutsche Parlamentarische Rat mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland eine Verfassung geschaffen, die den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Frieden und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1 Abs. 2 GG) die maßgebliche Stellung im materiellen Verfassungsrecht zuweist. Von weitreichenden und anspruchsvollen Programmen und Verheißungen im Stil der Weimarer Reichsverfassung wurde abgesehen und es wurde nur mit der lakonischen Formel vom „sozialen Rechtsstaat“ (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG) darauf verwiesen, dass Sozialgestaltung und damit auch sozialer Fortschritt eine verfassungsrechtlich erhebliche Aufgabe des Staates und seiner Gesetzgebung ist. Diese Klausel hat nicht nur die verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Reflexion und Phantasie beflügelt, sondern im Feld der Ausprägung und Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit durch Gesetz und Richterspruch erhebliches Gewicht erlangt13.

11 „Das, was bei dem Versuch eines sozialen Staatsrechts herauskommen kann, ist offenbar eine Art Verständigungsfriede zwischen Kapitalismus und Sozialismus.“ (Verfassunggebende Nationalversammlung, Aktenstück Nr. 391, S. 180) 12 Rudolf Smend, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, Einleitung, S. XXII ff.

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Die Verfassungsväter des Grundgesetzes haben sich der Aufnahme sozialpolitischer oder sozialreformerischer Maximen oder Einrichtungen enthalten, abgesehen von dem sozialistischen Traditionsprojekt der gemeinwirtschaftlichen Sozialisierung (Art. 15 GG). Die Erfahrung mit den Weimarer „Programmsätzen“ war nicht ermunternd, vor allem aber sollte angesichts der ungewissen Zukunft Deutschlands die Wirtschafts- und Sozialpolitik dem politisch verantwortlichen und rechtsstaatlich gebundenen Gesetzgeber überlassen bleiben. Dieser verfassungspolitische Leitgedanke, dass es Sache der Gesetzgebung und damit der gewählten Volksvertretung ist, je nach den Gegebenheiten und Erfordernissen den Gang des im politischen Prozess zu findenden Weg der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu bestimmen, kann allgemeine Geltung beanspruchen. Er war und ist das Richtmaß für die vielfältigen Projekte, verschiedenartige Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge und Programme im Grundgesetz zu „verankern“. Die Verfassungsentwicklung ist nicht auf dem Stand des Jahres 1949 stehen geblieben. In verschiedener Hinsicht haben wirtschafts- und gesellschaftspolitische Aufgaben und Direktiven Verfassungsrang erhalten, beispielsweise das konjunkturpolitische Gebot, bei der Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen (Art. 109 Abs. 2, 104a Abs. 4 GG, 1967; dann Art. 109 Abs. 2, 104b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GG, 2006), das vorrangige Ziel der Sicherung der Preisstabilität (Art. 88 Satz 2 GG, 1992) und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 20a GG, 1994). Anderen Bestrebungen blieb bisher der Erfolg versagt, so der Verankerung eines Staatsziels „Kultur“. Die Empfehlung der Regierungen der beiden Vertragsparteien des Einigungsvertrages vom 31. August 1990, sich mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen (Art. 5 EinV), ist von den gesetzgebenden Körperschaften Bundestag und Bundesrat durch Einsetzung einer Gemeinsamen Verfassungskommission aufgegriffen worden, aus deren Arbeit das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 27. Oktober 1994 (BGBl. I S. 3146) hervorgegangen ist14. Die Empfehlung des Art. 5 EinV nannte u. a. ausdrücklich „Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz“. Abgesehen von der Aufnahme des Umwelt-Artikels (Art. 20a GG) blieben jedoch Novellierungsbestrebungen für neuartige Staatsziele erfolglos. Die „Fortschrittlichkeit“ der im Zuge der GG-Reform nach der Wiedervereinigung vorgeschlagenen Verankerungen von Staatszielen (Recht auf Arbeit, Wohnung, Kinder13 Peter Badura, Der Sozialstaat, DÖV 1989, 491; Hans F. Zacher, Das soziale Staatsziel, HStR, 3. Aufl., 2004, § 28. 14 Klaus Stern/Bruno Schmidt-Bleibtreu (Hrsg.), Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Bd. 2: Einigungsvertrag und Wahlvertrag, 1990; Klaus Stern, Deutschlands Verfassung nach der Wiedervereinigung, in: Festschrift für Günther Winkler, 1997, S. 1139; Eckart Klein, Der Einigungsvertrag – Verfassungsprobleme und -aufträge, DÖV 1991, 569; Rupert Scholz, Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, ZG 9, 1994, S. 1.

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gartenplatz, Bildung und Kultur, etc.) „erschöpft sich weitgehend im Terminologischen und im Ausdruck einer spezifischen verfassungspolitischen Ästhetik – ohne eigentliche dogmatische Relevanz“15. Schon für die Grundrechte und Grundpflichten der Weimarer Reichsverfassung wurde erkannt, dass ihre subjektiv rechtliche Schutzwirkung auf einem legitimitätsbildenden Grund eines freiheitlichen und auf Wohlfahrt gerichteten Staats- und Gesellschaftsbildes beruht und ein auf politische Integration abzielendes „Staatsgrundbekenntnis“ darstellt16. „Die Grundrechte und Grundpflichten bilden Richtschnur und Schranken für die Gesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtspflege im Reich und in den Ländern“17. In unterschiedlicher Weise schließen die verfassungsrechtlichen Garantien grundrechtlicher Freiheit und Gleichheit Staatsziele ein. Unter dem Grundgesetz, vor allem durch die kreative Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist, nicht ohne durchdachte und klärende Kritik der Staatsrechtslehre, eine elaborierte Doktrin der objektiven Gewährleistungen und von Schutzpflichten und Ordnungsgehalten der Grundrechte entwickelt und weitergeführt worden18. Darauf ist zurückzukommen. 4. Landesverfassungen

Anders als das Grundgesetz haben einige Landesverfassungen das Weimarer Muster mit unterschiedlichen Vorstellungen zum Vorbild genommen, so etwas avancierter die Verfassungen Bremens und Hessens, und nach der Wiedervereinigung die Verfassung Brandenburgs. Die Verfassung des Freistaates Bayern widmet drei Hauptteile den Grundrechten und Grundpflichten, dem Gemeinschaftsleben und Wirtschaft und Arbeit. Sie versetzt in einen Artikel mit derselben Bezifferung wie die Weimarer Reichsverfassung – Art. 151 BayVerf. – die Proklamation: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.“ An anderer Stelle wird statuiert: „Arbeit ist die Quelle des Volkswohlstandes und steht unter dem besonderen Schutz des Staates“, und wird das „Recht auf Arbeit“ in der 15 Hans-Jürgen Papier, Verfassungskontinuität und Verfassungsreform im Zuge der Wiedervereinigung, in: Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte. Seminar zum 80. Geburtstag von Karl August Bettermann, 1994, S. 85/89. 16 Rudolf Smend, Verfassung a. a. O. (Fn. 12), S. XXII; ders., Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht, 1933. 17 Düringer, Dt. Nationalversammlung, 54. Sitzung (11. Juli 1919), S. 1496 C. 18 Klaus Stern, Staatsrecht a. a. O. (Fn. 1), Bd. III/1, 1988, § 69; ders., Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, HStR, Bd. V, 1992, § 108; ders., Die Schutzpflichtfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, DÖV 2010, 241; Udo Di Fabio, Zur Theorie eines grundrechtlichen Werte-Systems, HGR, Bd. II/I, 2006, § 46; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990.

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Form verheißen: „Jedermann hat das Recht, sich durch Arbeit eine auskömmliche Existenz zu schaffen“ (Art. 166 Abs. 1 und 2 BayVerf.)19. Zu alledem ist anzumerken, dass die Wirkung von landesverfassungsrechtlichen Regelungen und Zielsetzungen, seien sie reine Programmsätze, normative Staatsziele oder selbst Teilhabe- oder Schutzrechte, auf den Kompetenzraum des Landes beschränkt ist und dem Vorrang des Grundgesetzes und der Bundesgesetzgebung unterworfen ist. 5. Wohlfahrt und Arbeit im europäischen Verfassungsvergleich

Das „Recht auf Arbeit“ und der Schutz der Arbeitskraft sowie allgemein die betonte Verpflichtung der staatlichen Gemeinschaft zur Gewährleistung von sozialer Sicherheit, Wohlfahrt und sozialer Gerechtigkeit ist in vielfältigen Formulierungen ein nahezu durchgängiger Bestandteil der Verfassungen des Industriezeitalters. Die Verfassung der Republik Italiens beginnt mit der Grundnorm: „Italien ist eine demokratische, auf die Arbeit gegründete Republik“ (Art. 1 Satz 1) und fährt dann fort: „Die Republik erkennt allen Staatsbürgern das Recht auf Arbeit zu und fördert die Voraussetzungen für die Verwirklichung dieses Rechts. Jeder Staatsbürger ist verpflichtet, gemäß seinen Fähigkeiten und nach eigener Wahl eine Tätigkeit oder Funktion auszuüben, die zum materiellen oder geistigen Fortschritt der Gesellschaft beiträgt“ (Art. 4). Die Verfassung des Königreiches Schweden bestimmt: „Die persönliche, wirtschaftliche und kulturelle Wohlfahrt des einzelnen hat das primäre Ziel der öffentlichen Tätigkeit zu sein. Dem Gemeinwesen obliegt insbesondere, das Recht auf Gesundheit, Arbeit, Wohnung und Ausbildung zu sichern sowie für soziale Fürsorge und Sicherheit einzutreten“ (Art. 2 Abs. 2). Ziel und Programm staatlichen Handelns legt die Verfassung des Königreiches Spanien mit den Worten fest: „Die öffentliche Gewalt fördert im Rahmen einer Politik wirtschaftlicher Stabilität die für den sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt und für eine gerechte Verteilung des regionalen und persönlichen Einkommens günstigen Bedingungen. Ganz besonders betreibt sie eine auf die Vollbeschäftigung ausgerichtete Politik“ (Art. 40 Abs. 1). Die normative Kraft derartiger Leitgedanken und Grundsätze, auch von zu „Rechten“ stilisierten20 Staatszielen und -aufgaben ist, von Land zu Land verschieden, nur in Politik und Gesetzgebung, äußerstenfalls bei der Auslegung und Anwendung des Gesetzes dingfest zu machen. Sie bekunden, überwiegend nur 19 Vgl. Josef Franz Lindner, in: ders./Markus Möstl/Heinrich Amadeus Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, 2009, S. 1091 ff. 20 Gerhard Leibholz, Die Problematik der sozialen Grundrechte, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1958, S. 130; Peter Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschland, Staat 14, 1975, S. 17.

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programmatisch und appellativ, nur im Grenzfall offensichtlicher und willkürlicher Missachtung mit rechtlich fassbarer Wirkung, die Legitimität der Verfassung: Zu Freiheit und Eigentum treten Arbeit und soziale Sicherheit als zu Ausgleich zwingende Rechtfertigung und Zielsetzung staatlichen Handelns und öffentlicher Gewalt hinzu. Es ist in der Sache begründet, dass dem „Recht auf Arbeit“21 unter der Perspektive der Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts ein eigentümliches Gewicht zufällt. Die Wirtschaftsordnung weist mit dem „Produktionsfaktor“ Arbeit über sich hinaus; denn die Arbeit ist nicht nur Beitragen zur Erwirtschaftung des Sozialprodukts, sondern auch unentrinnbar Schauplatz menschlicher Selbstbestimmung. Dass jedermann von seiner Arbeit soll leben können, ist als moralische oder politische Maxime für die gerechte Ordnung eines Gemeinwesens ein Grundgedanke der Aufklärung. Johann Gottlieb Fichte erschließt aus dem Zweck des Staates, Leben, Sicherheit und wirtschaftliche Existenz des einzelnen zu gewährleisten, ein Recht des einzelnen auf Arbeit und Lebensunterhalt und ein zur rechtlichen Verfassung gehörendes Interventionsrecht des Staates zur Sicherung dieses Rechts22. Die von den unternehmenswirtschaftlichen Produktivkräften und den Postulaten der sozialen Sicherheit und des sozialen Ausgleichs vorangetriebene wirtschaftliche und technische Entwicklung der Industriegesellschaft ist auf Wirtschaftswachstum angelegt, erzeugt einen steigenden Bedarf an Energie und natürlichen Ressourcen und erzwingt den Ausbau von Infrastruktur und raumbeanspruchende Maßnahmen. Damit treten die Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts und das „Recht auf Arbeit“ in einen Konflikt mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, von Natur und Umwelt, dem die Verfassung in neuerer Zeit ausdrücklich eine Staatszielbestimmung widmet (Art. 20a GG); dies ist zur Gewährleistung von Sicherheit als Legitimationsprinzip des Staates unter den Bedingungen des modernen Verfassungsstaates folgerichtig23. 6. Europäische Integration

Ein letzter Schritt bei der Betrachtung der Verfassungspraxis muss sich der europäischen Integration zuwenden. Ohne zu grobe Vereinfachung kann man sagen, dass die wohlfahrtsstaatlichen Aufgaben der Wirtschaftsaufsicht und Regulierung und auch das Verfassungsziel der Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts in wesentlichen Feldern Sache der immer engeren Union der Völker

21 Rupert Scholz, Das Recht auf Arbeit, in: E.-W. Böckenförde/J. Jekewitz/Th. Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, 1980, S. 75; Peter Badura, Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, C 93. 22 Grundlage des Naturrechts, 1796, § 18 Über den Geist des Zivil- oder Eigentumsvertrages. 23 Hans-Jürgen Papier, Verfassungskontinuität a. a. O. (Fn. 15), S. 91.

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Europas sind24. Das gilt auch, obwohl die Europäische Union nach wie vor konstitutiv eine überstaatliche Föderation der Mitgliedstaaten ist, was das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen zu den Verträgen von Masstricht und Lissabon bekräftigt hat25. Die Staaten Europas können Wirtschaftswachstum und Wohlfahrt angesichts der europäischen und globalen Gegebenheiten von Politik und Wirtschaft nur in einer „integrierten Staatlichkeit“ (Meinhard Hilf) gewährleisten. Die Europäische Union wirkt auf die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität hin. Sie fördert den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 und 3 EU). Die Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union unterstreicht, dass es zur Verwirklichung der Ziele der Union notwendig ist, angesichts der Weiterentwicklung der Gesellschaft, des sozialen Fortschritts und der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen den Schutz der Grundrechte zu stärken, indem sie in einer Charta sichtbarer gemacht werden. II. Staatsziele, staatlicher Gestaltungsauftrag und grundrechtliche Freiheit 1. Staatsziele und Aufgabennormen in der Verfassung

Die Förderung des gesellschaftlichen und auch des sozialen Fortschritts ist – wie sich zeigt – ein Staatsziel des neueren Verfassungsstaates. Diese Feststellung wäre selbst dann zu treffen, wenn eine ausdrückliche Bestimmung im Verfassungsgesetz fehlen würde. In Deutschland schließt das allgemeine Sozialstaatsprinzip einen entsprechenden Auftrag der Sozialgestaltung ein. Der Demokratie als Staatsform mit ihrem egalitären Grundzug und ihrer Intendierung der Sozialgestaltung durch Gesetzgebung ist eine wohlfahrtsstaatliche Politik immanent, vorangetrieben und bestimmt durch die Kräfte der Parteien-, Verbands- und Mediendemokratie, die sich in den Wahlen zur Volksvertretung und ggf. konkurrierend in plebiszitären Verfahren zur Geltung bringen. Eine andere – und hier interessierende – Frage ist es, welche normative, juristisch fassbare und justiziable Bedeutung und Wirkung Verfassungssätze haben oder haben können, mit denen Staatsziele und Staatsaufgaben benannt und der staatlichen Tätigkeit aufgegeben werden26. 24 Peter Badura, Staatsziele und Garantien der Wirtschaftsverfassung in Deutschland und Europa, in: Festschrift für Klaus Stern, 1997, S. 409. 25 BVerfGE 89, 155/188 ff.; 123, 267/339 ff. 26 Hierzu und zum Folgenden: Peter Badura, Staatsaufgaben und Teilhaberechte als Gegenstand der Verfassungspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wo-

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Der aus der bürgerlichen Verfassungsbewegung hervorgegangene Verfassungsstaat postulierte gegenüber der monarchischen Obrigkeit die Ordnung und den Schutz von Freiheit und Eigentum durch Gesetz und auf Grund Gesetzes. Der heutige Verfassungsstaat trägt den Erfahrungen und der sozialen Frage der Industriegesellschaft, der Kriege und der Staatsumwälzungen Rechnung und postuliert Schutz der Arbeit, soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit, nicht zuletzt durch sozialen Ausgleich, Umverteilung und gesellschaftlichen Fortschritt. Eine Erscheinung, die zum Normalzustand der expandierenden Praxis und Dogmatik des Sozialstaates gerechnet werden muss, dennoch aber einen permanenten Krisenherd darstellt, ist die unablässig steigende Verschuldung der öffentlichen Hand27. Die Dynamik der wohlfahrtsstaatlichen Demokratie sprengt vielfach die rechtliche Ordnung und normative Kraft der Verfassung und darüber hinaus das Regelwerk der voranschreitenden Verwirklichung der europäischen Integration. Was also können Staatsziele und Aufgabennormen in der Verfassung rechtlich erreichen? Die Verfassung muss im sozialen Rechtsstaat der neuen Aufgabe gerecht werden, die rechtliche Bindung der politischen und administrativen Entscheidungen im Rahmen der staatlichen Lenkungs-, Verteilungs- und Leistungssysteme aufrechtzuerhalten und die grundrechtliche Freiheit auch gegenüber der Steuerung und Zuteilung von Daseinschancen, Interessen und Gütern zu wahren. Im Hinblick auf die sozialen Aufgaben und fortdauernde Schaffung sozialen Ausgleichs ist die Verfassung nicht nur Grenze, sondern auch Auftrag und Richtlinie für die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit unter immer neuen Gegebenheiten und – je nach der in ihr erfolgten materiellen Regelung – auch ein Plan, der Aufgaben normiert, ein Versuch, die politische Zukunft durch Leitgedanken, Richtlinien und Schutzpflichten für den politischen Prozess, die Wirksamkeit des Staates und insbesondere die Gesetzgebung zu bestimmen. Staatszielbestimmungen, Aufgabennormen und grundrechtliche Schutzpflichten des Staates sind darauf gerichchenzeitung Das Parlament, B 49/91, 29.11.1991, S. 20; ders., Wirtschafts- und sozialpolitische Ziele in der Verfassung, in: F. F. Segado (Hrsg.), The Spanish Constitution in the European Constitutional Context, 2003, S. 1827; ders., Staatsrecht, 4. Aufl., 2010, D 32 ff. 27 Lerke Osterloh, Staatsverschuldung als Rechtsproblem? NJW 1990, 145; Wolfram Höfling, Staatsschuldenrecht, 1993; Peter Badura, Die Talfahrt der öffentlichen Finanzen und die verfassungsrechtlichen Grenzen von Staatsaufgaben und Sanierungsmaßnahmen, in: Festschrift für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 149; Hermann Pünder, Staatsverschuldung, HStR, 3. Aufl., Bd. V, 2007, § 123. – Zu den Vorkehrungen der Föderalismusreform II (Art. 109 Abs. 3, 115 Abs. 2 GG; GG-Novelle vom 29. Juli 2009, BGBl. I S. 2248): Stefan Korioth, Das neue Staatsschuldenrecht, JZ 2009, 729; Christoph Ohler, Maßstäbe der Staatsverschuldung nach der Föderalismusreform II, DVBl. 2009, 1265; Peter Selmer, Die Föderalismusreform II – Ein verfassungsrechtliches monstrum simile, NVwZ 2009, 1255; Ulrich Häde, Die Ergebnisse der zweiten Stufe der Föderalismusreform AöR 135, 2010, S. 541; Alexander Thiele, Das Ende der Länder? Zur Verfassungsmäßigkeit der „Schuldenbremse“ nach Art. 109 Abs. 3 Satz 5 GG, NdsVBl. 2010, 89.

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tete normative Werkzeuge der Verfassungspolitik. Die außerordentliche Vielgestaltigkeit möglicher oder wünschbarer Staatsaufgaben und die sich oft rasch verändernden Umstände und Bedingungen ihrer Erledigung, nicht zuletzt die begrenzte Leistungsfähigkeit der öffentlichen Finanzen, setzen dem Bemühen des Verfassunggebers, bindende Regelungen über die Staatsaufgaben aufzustellen, enge Grenzen. Aus diesen verfassungspolitischen Grundgegebenheiten entspringen naturgemäß Folgen für eine verfassungsgerichtliche Justiziabilität von Programm- und Aufgabennormen in einer Verfassung. Die unterlassene oder mangelhafte Ausführung eines als normativ bindend fassbaren Verfassungsziels durch die Gesetzgebung kann im Wege verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle nur zu einer feststellenden Entscheidung führen, nicht aber dazu, dass das Gericht gesetzesvertretend selbst eine Sachentscheidung trifft. Eine bei einer individualisierbaren und konkretisierbaren Rechtsbeeinträchtigung denkbare Verfassungsbeschwerde kann nicht eine inhaltlich bestimmte Nachbesserung oder Entscheidung des Gesetzgebers bei unzulänglicher oder unterlassener Erfüllung einer verfassungsrechtlich normierten Staatsaufgabe erreichen. Gerechtigkeit und Wohlfahrt kann das Verfassungsgesetz nicht selbst und unmittelbar durch seine Rechtwirkungen und Rechtsfolgen schaffen. Die verfassungsrechtlich mögliche Garantie der Verwirklichung dieser Ziele der staatlichen Rechtsgemeinschaft kann diese Ziele hauptsächlich nur durch die sinnvolle Ordnung des demokratischen politischen Prozesses und die Bindung von Staatsleitung und Gesetzgebung anstreben. Es ist nicht Sache der Verfassung selbst, sondern vielmehr der gesetzgebenden Volksvertretung, den notwendigen Ausgleich der Freiheit mit den Erfordernissen des sozialen Staatsziels und der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen zu bewerkstelligen und auch kraft des parlamentarischen Budgetrechts die Haushaltwirtschaft der öffentlichen Hand mit den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in Einklang zu halten. Auch wenn die Verfassung Staatsaufgaben regelt oder sich Staatszielbestimmungen explizit oder implizit aus Verfassungsnormen entnehmen lassen, bleiben Art und Weise, Finanzierung und Zeitmaß der Aufgabenerfüllung Sache der politischen Entscheidung. Die Verfassung nimmt die notwendige Abwägung und Regelung nicht vorweg und liefert keine bereitliegenden Lösungen für eine gerechte und wirksame Rechtsordnung und für einen erfolgreichen gesellschaftlichen Fortschritt. Die mit derartigen Aufgaben- und Programmnormen verbundenen Erwartungen stehen außer Verhältnis zu dem rechtlich greifbaren Erfolg, der – ohne nähere gesetzliche Regelung – zu gewinnen wäre. Entgegen dem ersten Anschein ist die wesentliche verfassungspolitische Frage, die durch neue Staatszielbestimmungen aufgeworfen wird, nicht der konsensfähige materielle Gehalt der Norm, sondern die Konsequenz, die eine solche Norm für die Funktion der gesetzgebenden Gewalt und für die Gewaltenteilung hätte. Die rechtsstaatliche Garantie der Rechte des Einzelnen im Interventions- und Umverteilungsstaat liegt im Willkürverbot des Gleichheitssatzes, im Respektieren schutzwürdiger Vertrauenstatbe-

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stände und in dem auf den spezifischen Grundrechtseingriff bezogenen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit28. 2. Schutz-, Gewährleistungs- und Ordnungsfunktion der Grundrechte

Die Grundrechte, vormals Schutzwehr bürgerlicher Freiheit und Gleichheit, nehmen an der Entwicklung der wohlfahrtsstaatlichen Demokratie teil. In der vom Bundesverfassungsgericht zunehmend entwickelten Schutz-, Gewährleistungs- und Ordnungsfunktion wird den Grundrechten eine die Staatsaufgaben durch Gesetzgebung und Auslegung der Gesetze wahrzunehmende Wirkung zugemessen. Als Prinzipien oder Zusicherungen von Wohlfahrt, Arbeit und sozialer Sicherheit, u. a. als Grundlage eines Anspruchs auf ein menschenwürdiges Existenzminimum29, auch als Recht auf informationelle Selbstbestimmung30 und auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme31 und als Recht auf Schutz von Leben und Gesundheit gegenüber Risiken der technischen und industriellen Entwicklung32, haben die Grundrechte eine neue Dimension intendierter Sozialgestaltung angenommen. Der gesellschaftliche Fortschritt durch informationstechnische Entwicklung trifft auf den grundrechtlichen Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts33. Wohlfahrtsziele und soziale Grundrechte, wie z. B. auch ein „Recht auf Bildung“, können normativ nicht ebenso zu Rechtsfolgen oder unmittelbaren Rechtszuweisungen führen, wie die Freiheitsrechte des bürgerlichen (liberalen) Rechtsstaates, die negatorische Schutz- und Abwehransprüche des Einzelnen gegen „Eingriffe in Freiheit und Eigentum“ begründen. Indem und soweit das Grundrecht als Ausdruck der politischen Entscheidung des Verfassunggebers für eine schützenswerte Freiheit oder ein sonstiges Rechtsgut, für eine zu gewährleistende Einrichtung oder für einen Grundsatz staatlichen Handelns aufzufassen ist, nimmt es die normative Bedeutung einer objektiven Garantie an. Der durch Auslegung fassbar werdende objektive Gewährleistungsgehalt des Grundrechts kann ein Programm oder sogar Auftrag und Direktive für den Gesetzgeber sein. Damit ergeben sich konkludent Staatsziele und Gesetzgebungsaufträge als objektives Verfassungsrecht, ergibt sich gewissermaßen eine kodifikatorische Wirkung der

28 Karl Heinz Friauf, Zur Rolle der Grundrechte im Interventions- und Leistungsstaat, DVBl. 1971, 674; Klaus Stern, Grundfragen der Grundrechtsauslegung, in: Nihon University, Comparative Law, Vol. 12, 1995, S. 13; ders., Die Idee der Menschen- und Grundrechte, HGR, Bd. I, 2004, § 1; Peter Badura, Wirtschafts- und Sozialpolitik im sozialen Rechtsstaat, in: Festschrift für Roman Herzog, 2009, S. 7. 29 BVerfGE 125, 175. 30 BVerfGE 65, 1. 31 BVerfGE 120, 374. 32 BVerfGE 49, 89. 33 Klaus Stern, Staatsrecht a. a. O. (Fn. 1), Bd. IV/1, 2006, § 99.

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Grundrechte für die Rechtsordnung, auch für das Privatrecht34. Diese objektive Wirkung von Grundrechten hat ein breites Spektrum35. Sie kann selbst unmittelbar privatrechtsgestaltende Wirkung hervorrufen, wie z. B. bei der Sicherstellung der Bedingungen von Privatautonomie und Vertragsfreiheit36. In der Regel kann die objektive Wirkung eines Grundrechts Gesetzgebungsaufträge und -pflichten begründen. Ein ausdrücklich statuierter Fall ist das Gebot, dass Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen (Art. 6 Abs. 1 GG). Bei individualisierbarer Wirkung lassen sich aus dem objektiven Schutz- und Gewährleistungsgehalt eines Grundrechts im Einzelfall auch subjektive Rechte ableiten, so z. B. ein Anspruch auf Finanzierung einer Privatschule aus der Privatschulfreiheit (Art. 7 Abs. 4 GG)37. Die Grundrechte – so zeigt sich – sind ein weitläufiges und noch nicht erschöpftes Feld für die Praxis und Dogmatik wohlfahrtsstaatlicher Sozialgestaltung. 3. Die Freiheit der Wissenschaft und der Schutz von Natur und Umwelt

„Es ist der Primat von dezentral organisierter Wissenschaft und dezentral veranstalteter Wirtschaft, der die gesellschaftliche Dynamik generiert . . ., der das Fortschrittsaxiom als ein Axiom der Vernunft etabliert“38. Mit der Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre (Art. 5 Abs. 3 GG) sichert die Verfassung eine Bedingung des gesellschaftlichen Fortschritts. Die Schranken des Grundrechts ermächtigen und verpflichten den Gesetzgeber, die Ausübung der grundrechtlichen Freiheit den Grenzen und Bindungen zu unterwerfen, die zum Schutz der verfassungsrechtlich anerkannten Interessen der Allgemeinheit und der Rechte Dritter notwendig sind. Art. 142 WRV hatte bestimmt: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.“ Das Grundgesetz hat die Verfassungsgarantie der Wissenschaftsfreiheit durch die Einfügung des Wortes ,Forschung‘ ergänzt. Es sollte damit die freie Forschungsmöglichkeit als Voraussetzung und Grundlage für die freie Fortentwicklung der Wis-

34 Peter Badura, Kodifikatorische und rechtsgestaltende Wirkung von Grundrechten, in: Festschrift für Walter Odersky, 1996, S. 159; ders., Grundrechte als Ordnung für Staat und Gesellschaft, HGR, Bd. I, 2004, Rdnr. 17 ff. 35 Klaus Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, HStR, Bd. V, 1992, § 109, Rdnr. 50 ff. 36 BVerfGE 81, 242/254 ff.; 89, 214/231 ff. 37 BVerfGE 75, 40; 90, 107/116 ff.; 90, 128/138 ff. In welcher Weise der Gesetzgeber den grundrechtlichen Anspruch der privaten Ersatzschulen auf Schutz und Förderung erfüllt, schreibt ihm das Grundgesetz nicht vor. Es räumt ihm eine weitgehende Gestaltungsfreiheit ein (BVerfGE 90, 107/116). 38 C. Christian von Weizsäcker, Chancen und Grenzen der Zukunftsgestaltung durch Forschung, F.A.Z. 5.11.2010, S. 12.

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senschaft und der freien Lehre ausdrücklich gesichert werden39. Es kann deshalb von der „Forschungsfreiheit“ als einem in den größeren Garantie- und Schutzzusammenhang der Wissenschaftsfreiheit eingefügten Freiheitsrecht gesprochen werden. Das in Art. 5 Abs. 3 GG enthaltene Freiheitsrecht des einzelnen, der als Wissenschaftler und Forscher tätig ist, ist in der Verfassungsnorm verbunden mit einer objektiven, das Verhältnis von Wissenschaft, Forschung und Staat regelnden „wertentscheidenden Grundsatznorm“40. Die als Freiheitsrecht des einzelnen gewährleistete Wissenschaftsfreiheit hatte von vornherein einen tieferen Sinn. Der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt, der auf freier Forschung und Lehre beruht, sollte und soll gegen Eingriffe und Instrumentalisierungen wissenschaftsfremder Interessen und Machthaber geschützt werden. Die „Eigengesetzlichkeit“ der Wissenschaft soll vor allem gegen den Zugriff politischer und bürokratischer öffentlicher Gewalt gesichert werden. Die Universität erschien in besonderer und besonders schutzwürdiger Form als Wirkungsfeld der freien Forschung und Lehre; denn in der kollegialen Autonomie ihrer Fakultäten sind die organisatorischen und personellen Voraussetzungen der freien Wissenschaft spezifisch verfasst. Sie war und ist dennoch nicht die allein der Wissenschaftsfreiheit vorbehaltene Stätte41. Ein zunehmend wesentlicher Aspekt der objektiven Gewährleistung der freien Wissenschaft ist die dem Grundrecht abzugewinnende Aufgabe des Staates, der freien Wissenschaft Schutz und Pflege und damit auch Förderung zuzuwenden. In breiten Bereichen, vor allem in den Naturwissenschaften, wird die Annahme gültig sein, dass Wissenschaftsfreiheit heute heißt, dass der Staat die Wissenschaft fördern muss42. Die Verfassungsnorm erweist sich so als Auftrag und Richtlinie für den Gesetzgeber, dessen politischer Gestaltungsfreiheit es überlassen bleibt – unter Beachtung der Freiheit der Wissenschaft und der Freiheitsrechte der Wissenschaftler –, Art und Maß der Forschungsförderung näher zu bestimmen43. Die Wissenschaftsfreiheit kann, wie andere vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte, auf Grund von kollidierendem Verfassungsrecht durch Gesetz und auf Grund Gesetzes beschränkt werden. Der Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, die Berufsfreiheit und die Eigentumsgarantie möglicher Betroffener und das Staatsziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, 12 Abs. 1, 14 Abs. 1, 20a GG) sind als Verfassungswerte aner-

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Hermann von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 4, Anm. 8. BVerfGE 35, 79/112 ff.; 47, 327/367 ff. 41 Arnold Köttgen, Die Freiheit der Wissenschaft und die Selbstverwaltung der Universität, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 291; Kay Hailbronner, Die Freiheit der Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, 1979; Paul Kirchhof, Wissenschaft in verfasster Freiheit, 1986; Kay Waechter, Forschungsfreiheit und Fortschrittsvertrauen, Staat 30, 1991, S. 19. 42 Ulrich Scheuner, VVDStRL 26, 1968, S. 131. 43 BVerfGE 66, 155/177 f. (für die Hochschulorganisation). 40

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kannte legitime Gemeinwohlbelange und Rechte Dritter, die eine Bindung und Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit rechtfertigen können44. Die hier notwendige Güterabwägung muss insbesondere der Bedeutung der kollidierenden Grundrechte und dem rechtsstaatlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unter Wahrung der Einheit des Grundgesetzes Rechnung tragen. „Zugunsten der Wissenschaftsfreiheit ist stets der diesem Freiheitsrecht zugrunde liegende Gedanke mit zu berücksichtigen, dass gerade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeitsund politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Ergebnis am besten dient“45. Die Verfolgung des Staatsleitung und Gesetzgebung aufgegebenen Staatsziels der Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts schließt, auch in Verantwortung für die künftigen Generationen, den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und der Tiere ein (Art. 20a GG). Einzelne Vorhaben und Maßnahmen der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Entwicklung, so z. B. der friedlichen Nutzung der Kernenergie46 und der Gentechnik47, können Gefahren oder Risiken für das menschliche Leben, die Natur und die Umwelt hervorrufen und damit auch die Frage nach der rechtlichen Grenze staatlicher Aktivität aufwerfen. Art. 20a GG verpflichtet den Gesetzgeber, den in dieser Verfassungsnorm enthaltenen Auftrag bei der Rechtsetzung umzusetzen und geeignete Umweltschutzvorschriften zu erlassen. Dabei steht dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu48. Soweit dabei auf Prognosen beruhende Entscheidungen mit langfristigen Folgen und unumkehrbaren Auswirkungen zu treffen sind, ist deren Justiziabilität anhand besonderer verfassungsrechtlicher Kriterien zu beurteilen. Im Hinblick auf die Zulassung von Anlagen zur friedlichen Nutzung der Kernenergie und zur Endlagerung radioaktiver Abfälle spricht das Bundesverfassungsgericht von einer „Schwelle praktischer Vernunft“. Ungewissheiten jenseits dieser Schwelle sind als „unentrinnbare und insofern sozialadäquate Lasten“ von allen Bürgern zu tragen. Die Hinnahme eines nach den Maßstäben praktischer Vernunft nicht mehr in Rechnung zu stellenden Restrisikos ist mit den aus den Grundrechten der Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 GG ableitbaren Schutzpflichten des Staates vereinbar. Vom Gesetzgeber im Hinblick auf seine Schutzpflicht eine Regelung zu fordern, die mit absoluter Sicherheit Grundrechtsgefährdungen ausschließt, die aus der Zulassung technischer Anlagen und ihrem Be44 BVerfGE 47, 327/369 f.; 57, 70/99; BVerfG Urteil vom 24. November 2010 – 1 BvF 2/05 – C.II.2.d, 4.b und 5.d. 45 BVerfGE 47, 327/369 f. 46 BVerfGE 49, 89/126 ff.; 53, 30/58; BVerfG NVwZ 2010, 114. 47 BVerfG Urteil vom 24. November 2010 – 1 BvF 2/05 –. – Peter Lerche, Verfassungsrechtliche Aspekte der Gentechnologie, in: Rolf Lukes/Rupert Scholz (Hrsg.), Rechtsfragen der Gentechnologie, 1986, S. 88. 48 BVerfGE 118, 79/110 (Zuteilungsplan für Treibhausgas-Emissionsberechtigungen).

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trieb möglicherweise entstehen können, hieße die Grenzen menschlichen Erkenntnisvermögens verkennen und würde weithin jede staatliche Zulassung der Nutzung von Technik verbannen49. Weitergehende Ansprüche des einzelnen gegen den Gesetzgeber, nur „reversible“ Entscheidungen bzw. nur Entscheidungen mit „reversiblen Folgen“ zu treffen, lassen sich dem subjektiv-rechtlichen Gewährleistungsgehalt des Art. 2 Abs. 1 in Verb. mit Art. 38 und Art. 20 Abs. 2 GG nicht entnehmen. Die Einschränkung der künftigen „politischen Handlungsfreiheit“ des Gesetzgebers infolge der Zulassung einer nicht-rückholbaren Endlagerung nuklearer Abfälle führt nicht zu einem Grundrechtsverstoß50. Das Gentechnikgesetz51 schafft den rechtlichen Rahmen für die Erforschung, Entwicklung, Nutzung und Förderung der wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gentechnik und enthält Regelungen, Beschränkungen und Vorkehrungen, um die mit dem gezielten Ausbringen von gentechnisch veränderten Organismen in die Umwelt verbundenen Risiken zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt zu kontrollieren und sowohl eine Grundlage für den Einsatz der neuen Technologie zu schaffen als auch die Interessen der gentechnikfreien Landwirtschaft zu wahren (§ 1 GenTG)52. Durch den Einsatz der Gentechnik bei Kulturpflanzen sowohl zu kommerziellen Zwecken, etwa in der Landwirtschaft und der Saatgutproduktion, als auch zu Forschungszwecken („grüne“ Gentechnik) sollen agronomisch wünschenswerte Ergebnisse wie Produktivitätssteigerungen oder Reduktionen von Umweltbeeinträchtigungen erzielt werden. Risiken und Chancen dieser Nutzung der Gentechnik sind umstritten und nicht abschließend geklärt. Ihre Auswirkungen können unumkehrbar sein. Mit der Möglichkeit, gezielt Veränderungen des Erbgutes vorzunehmen, um erwünschte Eigenschaften von Organismen zu erzeugen, wie es mit Methoden der herkömmlichen Züchtung nicht möglich wäre, greift die Gentechnik in die elementaren Strukturen des Lebens ein. Die Folgen solcher Eingriffe lassen sich, wenn überhaupt, nur schwer wieder rückgängig machen53. Angesichts einer hochkontroversen gesellschaftlichen Diskussion zwischen Befürwortern und Gegner der „grünen“ Gentechnik und eines noch nicht endgültig geklärten Erkenntnisstandes der Wissenschaft bei der Beurteilung von Ursachenzusammenhängen und langfristigen Folgen eines solchen Einsatzes von Gentechnik trifft den Gesetzgeber auf diesem Gebiet eine besondere Sorgfaltspflicht. Der

49 BVerfGE 49, 89/143 ff.; BVerfG NVwZ 2009, 171; BVerfG NVwZ 2010, 114 (Nr. 23, 49). 50 BVerfG NVwZ 2010, 114 (Nr. 19, 29). 51 Gesetz zur Regelung der Gentechnik (Gentechnikgesetz – GenTG) in der Fass. der Bek. vom 16. Dezember 1993 (BGBl. I S. 2066), zuletzt geändert durch Art. 12 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege vom 29. Juli 2009 (BGBl. I S. 2542). 52 BVerfG, a. a. O. (Fn. 47), A.I.1, 2b und 3. 53 BVerfG, a. a. O. (Fn. 47), A.I.1, C. II.2.a.

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Gesetzgeber muss bei der Rechtsetzung nicht nur die von der Nutzung der Gentechnik einerseits und deren Regulierung andererseits betroffenen grundrechtlich geschützten Interessen (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 5 Abs. 3 Satz 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 GG) in Ausgleich bringen. Er hat gleichermaßen den in Art. 20a GG enthaltenen Auftrag zu beachten. Der Auftrag, auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, kann sowohl die Gefahrenabwehr als auch die Risikovorsorge gebieten. Zu den nach dieser Maßgabe von Art. 20a GG geschützten Umweltgütern gehören auch die Erhaltung der biologischen Vielfalt und die Sicherung eines artgerechten Lebens bedrohter Tier- und Pflanzenarten54. Ein nicht endgültig geklärter Erkenntnisstand in einzelnen Gebieten der Wissenschaft und gerade in Hauptfeldern des wissenschaftlichen Fortschritts ist geradezu ein Wesensmerkmal freier Wissenschaft und Forschung. Die „elementaren Strukturen des Lebens“ und die natürlichen Lebensgrundlagen sind dem Erkenntnisfortschritt der Wissenschaft nicht entzogen, müssen aber von der staatlichen Rechtsgemeinschaft vor ungemessener und unverhältnismäßiger Störung und Zerstörung geschützt werden. III. Das Gesetz, die verfassungsmäßige Ordnung und die allgemeinen Geltungsbedingungen des Rechts Ein letzter Gedankengang, den das Thema der Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts als Verfassungsziel anregt, betrifft die normative Kraft der Verfassung und damit die Aufgabe des Juristen, das heißt auch: den Zuschnitt der Ausbildung des rechtsgelehrten Juristen im Rechtsunterricht der Juristischen Fakultäten, soweit das Verfassungsrecht und – allgemeiner – das Öffentliche Recht sein Gegenstand ist55. Die Bildungs-, und darin einbegriffen die Hochschulpolitik ist ein elementarer Teil der Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts. Wissenschaft, Forschung und Lehre dienen nicht zuletzt dadurch der Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts, dass sie den grundrechtlichen Schutz der Freiheit gegen willkürliche und unverhältnismäßige Eingriffe der öffentlichen Gewalt genießen, aber auch Schutz gegen sozial- und gesellschaftspolitische Instrumentalisierung und gegen kommerzielle Abhängigkeit beanspruchen dürfen. Die geläufige Formel, dass die Förderung von Bildung und Ausbildung eine „Investition“ in die Zukunft der Gesellschaft ist, kann einseitig als Rechtfertigung für gesellschafts- und kulturpolitische Inpflichtnahmen von Wissenschaft, Forschung und Lehre verstanden, also missverstanden werden.

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BVerfG, a. a. O. (Fn. 47), C.I.2.a und 5.d.bb. Das war ein Hauptpunkt des Festvortrags des Verfassers bei dem 6. Fakultätstag der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München am 25. Juni 2010, der hier als Abhandlung ausgearbeitet ist. 55

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Als Verfassungsziel tritt die Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts unter die Form und die Wesensart des Verfassungsrechts, das – wie gesagt worden ist – „politisches“ Recht ist56, aber eben doch Recht, und das damit die Eigenschaften der Positivität und Normativität aufweist, die Wert und Wirkung des Rechts auszumachen. Das Recht und die in ihm verkörperte Rechtsidee der Gerechtigkeit dienen auf ihre Weise der Integration der staatlichen Rechtsgemeinschaft57 und durch die staatlich geschaffenen und garantierten Rechtsnormen mit den dadurch begründeten subjektiven Rechten und Pflichten auch der Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts. Damit sind die Aufgabe der juristischen Dogmatik und ebenso das Ziel des akademischen Rechtsunterrichts tangiert. Die Anstrengung des Begriffs und die systematische Durchdringung des Rechtstoffes müssten ihr theoretisches Bildungs- und Ausbildungsziel verfehlen, wenn sie eine zu weitgehende Segmentierung des Rechtsstoffes zugrundelegten und sich zu sehr auf Gerichtspraxis und pragmatische Erledigung der ausufernden Gesetzgebungsproduktion verließen. Ein weiteres kommt hinzu. Die Jurisprudenz des Verfassungsrechts hat zuerst das nationale Recht zum Gegenstand, muss aber die überpositiven Bedingungen und Grundlagen jeden Rechts in ihre Dogmatik einbeziehen. Das Gesetz ist der Schlüsselbegriff der rechtsstaatlichen Demokratie58. Es sichert die Legalität der nationalen Rechtsordnung und der Teilnahme des Staates an der europäischen Integration und an den internationalen Verträgen (Art. 23 Abs. 1, 59 Abs. 2 GG). Kurz und treffend spricht hingegen Art. 20 Abs. 3 GG von der Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“. Noch deutlicher sagt Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EU, dass der Europäische Gerichtshof „die Wahrung des Rechts“ bei der Auslegung und Anwendung der Verträge sichert. Diese Klauseln rufen in Erinnerung, dass das Privatrecht, das Strafrecht, das Prozessrecht und das Öffentliche Recht auf allgemeinen Rechtsgrundsätzen beruhen, die jenseits des positiven Rechts, wenngleich als dessen immanente Regulative Geltung beanspruchen. Je mehr das Gesetz der gewählten Volksvertretung eine situationsbedingte Maßnahme oder eine politische Gestaltung intendierende Intervention ist, umso mehr gewinnen die allgemeinen Geltungsbedingungen des Rechts Gewicht, die vor allem aus der vorrangigen verfassungsmäßigen Ordnung gewonnen werden können und sich besonders als rechtsstaatliche Grundsätze erfassen lassen. Bemerkenswert ist die ausdrückliche Bestimmung des Vertrages über die Europäische Union, die die Grundrechte, wie sie sich „aus den gemein56 Vgl. Gerhard Leibholz, Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Rechtsstaat, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl., 1967, S. 168/175 ff. 57 Bernd Rüthers/Christian Fischer, Rechtstheorie, 5. Aufl., 2010, § 9 Recht und Gerechtigkeit. 58 Peter Badura, Die parlamentarische Volksvertretung und die Aufgabe der Gesetzgebung, ZG 4, 1987, S. 300; ders., Parlamentarische Gesetzgebung und gesellschaftliche Autonomie, in: Das Recht in einer freiheitlichen Industriegesellschaft, 1988, S. 155.

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samen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben“, als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts kennzeichnet (Art. 6 Abs. 3 EU). Doch zurück zum Verfassungsrecht und den Verfassungszielen für die staatliche Tätigkeit. Die neuzeitliche Herrschaftsform des Staates findet im Verfassungsrecht ihre Vollendung, das politische Herrschaft, Schaffung und Fortbildung der Rechtsordnung und staatliche Zwangsgewalt durch ein Staatsgrundgesetz, d.h. durch Recht, begründet und fortdauernd bindet. Nach dem Maße ihrer appellativen Überzeugungskraft und normativen Wirkung gehören dazu auch ausdrücklich ausgesprochene Staatsziele. Die Garantie von Frieden und Gerechtigkeit, Sicherheit und Wohlfahrt durch die im Staat institutionalisierten und wirksamen politischen Kräfte setzt die Integration der Gesellschaft in einer Rechtsgemeinschaft voraus, die gerade in einer Verfassung als Rechtsgesetz und institutionelle Ordnung ihre Legitimität findet. Erfolg und Kraft des Verfassungsstaates verdanken sich der Positivität der Verfassung als Staatsgrundgesetz und in ihrer Wirkung und Durchsetzung durch die Gerichte, nicht zuletzt durch eine unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit59. Einer ausdrücklichen Regelung der Staatsaufgaben in der Verfassung oder gar einer besonderen verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Gesetzgebers, bestimmte Staatsaufgaben zu erfüllen, bedarf es nicht. Dass Verfassungen, die aus Staatsumwälzungen und revolutionärer Neugründung hervorgehen, die Ziele des staatlichen Neubeginns verlautbaren, proklamieren und der neuen Politik aufgeben, liegt in der Natur der Sache. Werden Staatsziele, Programme und Verheißungen in die Verfassung – bei der Verfassungsgebung oder später – aufgenommen, können sie die appellative Wirkung der Verfassung stärken, die Aufgabe und Verantwortung der parteiendemokratischen Gesetzgebung für die Gestaltungs- und Verteilungsaufgaben der wohlfahrtsstaatlichen Demokratie aber nur anregen und anleiten, jedoch nicht ersetzen. Die gesetzgebende Gewalt und das parlamentarische Budgetrecht sind die verfassungsrechtliche Grundlage und das Werkzeug der Förderung des gesellschaftlichen Fortschritts, soweit sie in der Hand des Staates liegt.

59 Christian Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts, in: Festschrift für Willi Geiger, 1989, S. 40; Gunnar F. Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht. Überlegungen zur Steuerungsfunktion von Verfassungsrecht in normalen wie in „schwierigen“ Zeiten, AöR 120, 1995, S. 32; Peter Badura, Verfassung, Staat und Gesellschaft in der Sicht des Bundesverfassungsgerichts, in: ders./Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht 2001, 2. Bd., S. 897.

Zur grundrechtlichen Konstitutionalisierung des Strafrechts Von Herbert Bethge I. Das Grundgesetz als Prototyp einer grundrechtsintrovertierten Verfassung Die Bundesrepublik Deutschland ist Prototyp des modernen Verfassungsstaates westlicher Prägung1. Ein für sie spezifisches Charakteristikum tritt hinzu: Das Grundgesetz konstituiert das Gemeinwesen als prononciert grundrechtsintrovertierten Verfassungsstaat2. Das positive Verfassungsrecht verbindet exemplarisch allgemeine Merkmale der Verfassungslehre zur Eigenart von Verfassungsstaatlichkeit mit besonderen freiheitsrechtlichen Gewährleistungen und deren außergewöhnlichen Sicherungen. 1. Zum Verfassungsstaat Deutschland

Die maßgeblichen Prämissen und Attribute sind: Die Verfassung ist nicht mehr nur äußere Beschränkung einer ansonsten als voraussetzungslos akzeptierten Staatlichkeit, sondern die rechtliche Grundlage des Staates (Werner Kägi).3 Die Verfassung legitimiert und limitiert den Staat, d.h. eine „verfasste Friedens- und Ordnungsmacht“4, die weder Leviathan noch bloßes Argument ist. Die Verfassung hat – wenn auch als Rahmenordnung5 – Normativität und Positivität erlangt. Ihre Normativität macht den verfassungsstaatlich essentiellen Vorrang der Verfassung möglich6. Den Vorrang der Verfassung sichert endgültig7 die Verfas1 Horst Dreier, FS Selmer, 2004, S. 56; zum Grundgesetz als Referenzmodell des modernen Verfassungsstaates s. Winfried Brohm, FS Rehbinder, 2005, S. 635. Zum Verfassungsstaat ferner Josef Isensee, in: ders./Kirchhof, HStR, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 15 Rn. 166, 174; ders., in: HStR, Bd. VI, 3. Aufl., 2008, § 126 Rn. 257. 2 Herbert Bethge, in: Merten/Papier, HGR, Bd. III, 2009, § 72 Rn. 1; § 58 Rn. 45. 3 BVerfGE 62, 1 (82). 4 BVerfGE 49, 24 (56 f.); 115, 320 (346); 120, 274 (319); Walter Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. III, 3 Aufl., 2005, § 38 Rn. 2; s. a. BVerfGE 123, 267 (346): Der Staat (des Grundgesetzes) ist weder Mythos noch Selbstzweck. 5 Christian Starck, JZ 1999, 484. 6 Ulrich Scheuner, DÖV 1980, 473; Isensee, FS Leisner, 1999, S. 360. 7 Die Idee der Verfassungsgerichtsbarkeit ist unmittelbar verknüpft mit dem Vorrang der Verfassung; s. Andreas Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl., 2011, Art. 93 Rn. 17.

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sungsgerichtsbarkeit8, die sich als unverzichtbare Voraussetzung der Erhaltung, Funktionsfähigkeit und Fortentwicklung des demokratischen Verfassungsstaates erweist.9 Das Grundgesetz konstituiert die Verfassungsgerichtsbarkeit (des Bundes und der Länder) nicht nur im blassen Gewährleistungsgehalt einer institutionellen Garantie. Zugrunde liegt ein Staatsstrukturprinzip im Range einer verfassungsgestaltenden Grundentscheidung,10 dessen Kernaussagen sogar über Art. 20 und Art. 1 Abs. 3 GG gegenüber einer Verfassungsänderung geschützt sind.11 Das Bundesverfassungsgericht ist berufen, die unaufgebbaren Essentialia der Verfassungsidentität des Grundgesetzes vor einer Preisgabe zu bewahren.12 Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist die Krönung des Rechtsschutzsystems.13 2. Das Grundgesetz als grundrechtsintrovertierte Verfassung

a) Zur Verfassungsidentität des Grundgesetzes gehören die Gewährleistung und der Schutz der Grundrechte. Die Freiheitsrechte sind – neben der politischen Selbstbestimmung des Volkes – die eigentliche raison d’être des grundgesetzlichen Verfassungsstaates.14 Sie sind Herzstück und identitätsbestimmendes Proprium der Verfassung.15 Erst durch die Grundrechte, nicht allein durch die Volkssouveränität, ist alle Staatsgewalt legitimiert.16 Die Freiheitsrechte partizipieren an und profitieren von der Normativität und der Suprematie des Grundgesetzes. Sie binden alle Staatsgewalt (Art. 1 Abs. 3 GG). b) In der materiellen Grundrechtsbindung des Staates erschöpft sich die Verfassungsstaatlichkeit nicht. Es bedarf auch eines spezifischen Schutzes des Grundrechtsinhabers selbst durch die Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese jüngste Traditionslinie17 moderner Verfassungsstaatlichkeit spiegelt sich für den deutschen Rechtskreis in der grundrechtsbewehrten Individualverfassungsbeschwerde 8 Hans H. Klein, FS Franz Klein, 1994, S. 514; Udo Di Fabio, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 27 Rn. 29. 9 Konrad Hesse, JöR. F. Bd. 46 (1998), S. 2. 10 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG-Kommentar, Stand 2011; Vorb Rn. 2 f.; zustimmend Hans H. Klein, FS Rauschning, 2001, S. 20 f. 11 Ernst Benda/Eckart Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl., 2001, Rn. 1; Axel Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf (Hrsg.), GG, 12. Aufl., 2011, Art. 93 Rn. 48 f. 12 BVerfGE 123, 267 (341). 13 Peter Lerche, FS 50 Jahre BayVerfGH, 1997, S. 79; Brohm, NJW 2001, 2: Vom formalen zum materialen Rechtsstaat. 14 Bethge, Der Staat Bd. 24 (1985), S 351; Eckart Klein, in: Merten/Papier, HGR, Bd. I, 2004; § 5 Rn. 13; Hans H. Klein, ebda, § 6 Rn. 1. 15 BVerfGE 31, 58 (73); 37, 271 (280); 43, 154 (167). 16 Ernst-Wolfgang Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. I, 2. Aufl., 1995, § 22 Rn. 93 f. 17 Voßkuhle (Fn. 7), Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a Rn. 164.

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(Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) wider. Sie ist als außerordentlicher Rechtsbehelf 18 spezifisches Rechtsschutzmittel des Verfassungsrechts.19 Die „Grundrechtsgerichtsbarkeit“ (Hans Huber), die die Verfassungsbeschwerde auslöst, ist genuine Verfassungsgerichtsbarkeit.20 Ungeachtet der Grundrechtsbindung auch der Fachgerichtsbarkeit und ihres vorrangigen21 Beitrags zum Grundrechtsschutz vornehmlich auf der Rechtsanwendungsebene22 ist es erst die Verfassungsgerichtsbarkeit, die den Grundrechtsschutz autoritativ gegenüber allen staatlichen Akteuren, die Fachgerichtsbarkeit und den formellen Gesetzgeber eingeschlossen, durchsetzen kann.23 Dazu gehört ein Verfahren, in dem auf Initiative des betroffenen Grundrechtsinhabers selbst der Grundrechtsschutz im Vordergrund steht.24 Das ist die Individualverfassungsbeschwerde als Komplementärnorm zu Art. 1 Abs. 3 GG25. Sie steht im Kontext mit zwei anderen explizit die Fachgerichtsbarkeit in Pflicht nehmenden Rechtsschutzgarantien. Es handelt sich zum einen um den als wichtiges formelles Hauptgrundrecht ausgestalteten besonderen Justizgewährungsanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG. Zum Zweiten ist der ebenfalls grundrechtlich abgesicherte allgemeine Justizgewährungsanspruch aus Art. 20 Abs. 3 GG i. V. mit Art. 2 Abs. 1 GG angesprochen, der Rechtsschutz in bürgerlichen Streitigkeiten gewährleistet.26 Das GG offeriert ein opulentes und faszinierendes Arrangement von Grundrechtsschutz. Der Rechtsstaat hat ohne Übertreibung seine verfassungsstaatliche Vollendung erfahren.27 II. Die grundrechtliche Konstitutionalisierung der einfachrechtlichen Legalordnung 1. Die Grundlagen

Der Vorrang der Verfassung determiniert die unterverfassungsrechtliche (subkonstitutionelle) Legalordnung, weniger prätentiös: das einfache Recht. Der Verfassungsvorrang erschöpft sich nicht in einer statischen, nur protokollarisch relevanten, im Übrigen auf Distanz angelegten Normenhierarchie. Er bewirkt dyna18

BVerfGE 49, 252 (258); 107, 395 (413); 115, 81 (92). BVerfGE 60, 253 (296); Arno Scherzberg, in: Ehlers/Schoch (Hrsg.), Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 13 Rn. 2. 20 Martin Drath, VVDStRL Heft 9 (1952), S. 39 f. 21 BVerfGE 68, 376 (380); 100, 263 (265); 120, 180 (209). 22 BVerfGE 100, 289 (304 f.); 107, 299 (315); 114, 339 (348); 115, 320 (367). 23 BVerfGE 108, 282 (294 f.). 24 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl., 2010, Rn. 204; Bethge, KritV 1990, 21 f.; Fritz Ossenbühl, in: Merten/Papier, HGR Bd. I, 2004, § 15 Rn. 2. 25 Hopfauf (Fn. 11), Art. 93 Rn. 150; Voßkuhle (Fn. 7), Art. 93 Rn. 164. 26 BVerfGE 107, 395 (401 ff.); dazu Hartmut Maurer, FS Bethge, 2009, S. 536. 27 Christoph Gusy, FS 50 Jahre BVerfG I, 2001, S. 644; Lerche (Fn. 13), S. 79; Gerd Roellecke, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. III, 3. Aufl., 2005, § 67 Rn. 10. 19

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misch die Expansion des Verfassungsrechts in den Bereichen des einfachen Rechts28 sowohl auf der Rechtsetzungs- als auch auf der Rechtsanwendungsebene. Namentlich die Freiheitsrechte erfahren durch die dirigierende Verfassung eine Dimensionserweiterung.29. Die damit erreichte „Vergrundrechtlichung des Unterverfassungsrechts“30 ist eine Erscheinungsform der „Konstitutionalisierung des Rechtsordnung“31. Mit diesem genialen Gemeinplatz wurde der Prozess der Anreicherung des einfachen Rechts um grundrechtliche Verfassungsgehalte nicht schlagartig eingeleitet. Urknall-Funktion32 hat das Schlagwort nicht gerade. Doch bündelt der Begriff wegweisend Tendenzen und Trends, die schon früher in einer Reihe von Argumentationstopoi zu Tage traten. Die Auslegung im Lichte der Verfassung mit (oder ohne) Ausstrahlungswirkung der grundrechtlichen Wertentscheidung; dies wiederum durch (oder ohne) die zivilrechtlichen Generalklauseln33 steht dafür. Joachim Burmeister differenzierte schon 1966 hellsichtig bei der Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung zwischen verfassungskonformer Auslegung und vertikaler Normendurchdringung34. Das Bundesverfassungsgericht erwartet vom Fachrichter die interpretationsleitende Berücksichtigung der Grundrechte35 (ohne freilich dem Kläger und späteren Verfassungsbeschwerdeführer die Last einer „Konstitutionalisierung des fachgerichtlichen Verfahrens“ aufzubürden).36 2. Die Auswirkungen

Die grundrechtliche Unterfütterung des einfachen (Fach-)Rechts forderte die einzelnen Teilrechtsordnungen in unterschiedlicher Weise. a) Die geringsten Schwierigkeiten bereiteten Verwaltungs-, Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrecht. Fritz Werners Klassikerwort vom „Ver28

Wolfgang Löwer, in: Isensee/Kirchhof, HStR Bd. III, 3. Aufl., 2005, § 70 Rn. 204. Horst Dreier, Die Verwaltung Bd. 36 (2003), S. 112; Hans H. Klein (Fn. 14), § 6 Nr. 4 f.; Matthias Ruffert, JZ 2009, 389 ff. 30 Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 56 f. 31 Gunnar Folke Schuppert/Christian Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000; Georg Hermes, VVDStRL Heft 61 (2000), S. 121 ff.; Papier, in: Merten/Papier, HGR, Bd. III, 2009, § 80 Rn. 34. 32 Zur Urknall-Funktion des Lüth-Urteils (BVerfGE 7, 198 ff.) s. Robert Alexy, VVDStRL Heft 61 (2002), S. 9; ähnlich Isensee, in: FS Kriele, 1997, S. 28: Aller Dinge Anfang. 33 BVerfGE 103, 89 (100), unter Rückgriff auf BVerfGE 7, 198 (205 f.); 42, 143 (148); kritisch Jestaedt, VVDStRL Heft 64 (2005), S. 334 ff.; s. a. Isensee, in: Wieser/ Stolz, Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 2000, S. 28 34 s. seine gleichnamige Schrift. 35 BVerfGE 99, 185 (196); 114, 339 (348); 120, 180 (194); s. a. für das Strafrecht BVerfGE 124, 300 (342). 36 BVerfGE 112, 50 (60 f.). 29

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waltungsrecht als konkretisiertem Verfassungsrecht“ steht für die grundrechtliche Imprägnierung des Rechtsstoffs, die sich als bedeutsamster Schritt der Verwaltungsrechtsentwicklung der Nachkriegszeit erwiesen hat.37 b) Ungleich schwerer und widerspruchsvoller tat sich das Zivilrecht, das den Verlust von Privatautonomie befürchtete38. Das grobe Lösungsmodell39 der „sogenannten Drittwirkung der Grundrechte“40 versperrte jahrzehntelang die richtige Einsicht, dass Privatrecht sehr wohl unter dem Verfassungsrecht steht.41 Die grundrechtliche Erschließung des Zivilrechts42 war unaufhaltsam. Notwendig waren aber andere Parameter als das längst zum Ritual erstarrte universale Wertedenken. Wenn das Bundesverfassungsgericht darauf abhebt, dass alle Beteiligten des Zivilrechtsverkehrs den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG genössen und dass die kollidierenden Grundrechtspositionen in ihrer Wechselwirkung gesehen werden müssten43, so ist der Ansatz nicht ohne Substanz. Namentlich der jüngere grundrechtstheoretische Aspekt der grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates44 bietet neue Argumentationsmöglichkeiten. Die Schutzpflichtenkonzeption hat mittlerweile der Sache nach Drittwirkungsdenken abgelöst.45 Auch in der Umgangssprache ist der Topos der Privatrechtswirkung der Grundrechte an die Stelle der belasteten Metapher von der Drittwirkung der Grundrechte getreten.46 III. Die verfassungsrechtliche Relevanz des Strafrechts Selbstverständlich sind auch Strafrecht und Verfassungsrecht keine beziehungslos nebeneinander stehenden Rechtsmassen. Der allgemeinen Verfassungsbindung (Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG) ist das Strafrecht wie jede andere staatlich verantwortete Teilrechtsordnung allemal unterworfen. Doch reicht die verfassungsrechtliche Relevanz der Materie weiter. 37 Eberhard Schmidt-Aßmann, FS Redeker, 1993, S. 225; Horst Dreier (Fn. 29), S. 112. 38 s. zur Privatautonomie zutreffend BVerfGE 81, 242 (254); 89, 214 (232). 39 So schon Hans Heinrich Rupp, DVBl. 1972, 67. 40 So schon zu Recht kritisch die gleichnamige Schrift von Jürgen Schwabe, 1971. 41 Jestaedt (Fn. 30), S. 23 f. 42 Dazu schon Konrad Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988; s. a. Matthias Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001. 43 BVerfGE 89, 214 (232); s. a. BVerfGE 81, 242 (254); Bethge (Fn. 2), § 72 Rn. 8 ff. 44 BVerfGE 39, 1 (44); 88, 203 (254); 114, 1 (33 f.); Isensee, in: Mellinghoff/Morgenthaler/Puhl (Hrsg.), Die Erneuerung des Verfassungsstaates, 2003, S. 30 f.; Wolfram Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 291 ff.; Christian Callies, JZ 2006, 328. 45 Dieter Floren, Grundrechtsdogmatik im Vertragsrecht, 1999, S. 39 f.; Oliver Klein, Fremdnützige Freiheitsrechte, 2003, S. 44; s. allerdings auch Papier, in: Merten/ Papier, HGR, Bd. III, § 79 Rn. 16. 46 Ruffert, JZ 2009, 398.

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Herbert Bethge 1. Die verfassungsrechtliche Verankerung des Strafrechts

a) Strafrecht ist in seinen wesentlichen Grundlagen verfassungsrechtlich verankert.47 Fundamentale Teile – zuvörderst das in der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) enthaltene Schuldprinzip –48 gehören sogar zur unverfügbaren und integrationsresistenten49 Verfassungsidentität.50 Die verfassungsrechtliche Anseilung tritt auch ansonsten nicht allein in den Justiz-, Prozess- oder Verfahrensgrundrechten der Art. 101, 103, 104 GG, ergänzt durch den im grundrechtlich durchwirkten Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsatz der Verfahrensfairness51 sowie durch die Unschuldsvermutung52 zutage. Strafrecht ist ein unverzichtbares Element zur Sicherung der Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung. Wie es das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil hervorhebt53: Die Sicherung des Rechtsfriedens in Gestalt der Strafrechtspflege ist seit jeher eine zentrale Aufgabe staatlicher Gewalt. Bei der Aufgabe, ein geordnetes menschliches Zusammenleben durch Schutz der elementaren Werte des Gemeinschaftslebens auf der Grundlage einer Rechtsordnung zu schaffen, zu sichern und durchzusetzen, ist das Strafrecht unentbehrlich. Jede Strafnorm enthält ein mit staatlicher Autorität versehenes sozialethisches Unwerturteil über die von ihr pönalisierte Handlungsweise. Der konkrete Inhalt dieses Unwerturteils ergibt sich aus Straftatbestand und Strafandrohung.54 Es ist eine grundlegende Entscheidung, in welchem Umfang und in welchen Bereichen ein politisches Gemeinwesen gerade das Mittel des Strafrechts als Instrument sozialer Kontrolle einsetzt. Eine Rechtsgemeinschaft gibt sich durch das Strafrecht einen in ihren Werten verankerten Verhaltenskodex, dessen Verletzung nach der geteilten Rechtsüberzeugung als so schwerwiegend und unerträglich für das Zusammenleben in der Gemeinschaft gewertet wird, das sie Strafrecht erforderlich macht.55 b) Die Zugehörigkeit zur verfassungsstaatlichen Rechtskultur macht eine einfachrechtliche Konkretisierung und Positivierung des Strafrechts nicht entbehrlich. Im Gegenteil: Sie ist schon wegen des strengen Gesetzesvorbehalts des Art. 103 Abs. 2 GG56, aber auch des Art. 2 Abs. 2 GG i. V. mit Art. 104 Abs. 1 47 Hermann Hill, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. VI, 2. Aufl., 2001, § 156 Rn. 1 ff.; Martin Niemöller, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl., 2005, A II 6, S. 107 ff. 48 BVerfGE 90, 145 (173). 49 Vgl. Isensee, ZRP 2010, 33 ff. 50 BVerfGE 123, 267 (413). 51 BVerfGE 101, 397 (405); 103, 44 (64); 110, 339 (342); 122, 248 (271). 52 BVerfGE 82, 106 (114). 53 BVerfGE 123, 267 (408 f.). 54 BVerfGE 25, 269 (286); 27, 18 (30). 55 BVerfGE 123, 267 (405), im Anschluss an Thomas Weigend, Strafrecht durch internationale Vereinbarungen – Verlust an nationaler Strafrechtskultur?, ZStW 1993, S. 789.

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GG57 unerlässlich. Nur der Gesetzgeber entscheidet über die Strafbarkeit. Der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt ist es verwehrt, über die Voraussetzungen einer Bestrafung zu befinden.58 Die Fachgerichte sind auf der Rechtsanwendungsebene nicht auf puren Subsumtionsautomatismus festgelegt59. Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze ist grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte.60 Auch in Strafsachen agiert das per Urteilsverfassungsbeschwerde angerufene Bundesverfassungsgericht nicht als Superrevisionsinstanz. Doch sind die Strafgerichte gehalten, Strafrechtsnormen ggf. im Lichte eines überwölbenden (Kommunikations-)Grundrechts zu interpretieren.61 Die Wechselwirkungsmaxime als Emanation des den Grundrechtseingriff moderierenden Übermaßverbots hat auch das Strafrecht erreicht62, in dem der altvordere Verhältnismäßigkeitsgrundsatz längst heimisch geworden ist.63 Soweit diese verfassungsrechtlichen Implikationen vom Fachrichter verkannt werden, ist die Kontroll- und ggf. die Kassationskompetenz des Bundesverfassungsgerichts angesprochen. In diesem Umfang darf das Bundesverfassungsgericht den rechtsanwendenden Staatsorganen auch Interpretationshinweise geben,64 die nach § 31 Abs. 1 BVerfGG bindend sind. 2. Strafrecht als Ausgangspunkt von Grundrechtseingriffen

Strafrecht ist öffentliches Recht par excellence65. Sowohl die Rechtsetzung als auch die Rechtsanwendung – Verurteilung und Vollzug – beruhen auf genuin staatlicher Autorität. Es kommt zu Grundrechtseingriffen,66 die nicht nur die betriebsspezifischen Justizgrundrechte, sondern auch materielle Freiheitsgrundrechte berühren. Sie bedürfen als Akte öffentlicher Gewalt einer besonderen Legitimation und sind verfassungsbeschwerdefähig.67 56

BVerfGE 124, 300 (338). BVerfGE 109, 190 (239 f.). 58 BVerfGE 71, 108 (114); 124, 300 (338). 59 BVerfGE 124, 300 (339). 60 BVerfGE 122, 248 (257 f.); 124, 300 (342), auch zum Folgenden; s. a. im Anschluss an BVerfGE 7, 198 (208) – Lüth – BVerfGE 90, 255 (259); Hill (Fn. 47), § 156 Rn. 76. 61 BVerfGE 124, 300 (342). 62 s. a. BVerfGE 109, 279 (350). 63 BVerfGE 120, 224 (239 ff.). – Das gilt nur mit Vorbehalten für die Instrumentalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Verfolgungshindernis für Straftaten von Geheimdienstmitarbeitern der DDR nach § 99 StGB. Dazu BVerfGE 92, 277 (325 ff.). 64 BVerfGE 109, 190 (239); 116, 69 (93). 65 Papier (Fn. 45) § 79 Rn. 15. 66 Hill (Fn. 47), § 156 Rn. 19. 67 BVerfGE 33, 1 ff.; 117, 71 (86 f.); 122, 224 (235 f.); 124, 300 (317 ff.); BVerfG(K), NJW 2011, 137 ff. 57

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a) Der Gesetzgeber übernimmt mit der Entscheidung über strafwürdiges Verhalten die demokratisch legitimierte Verantwortung für eine Form hoheitlichen Handelns, die zu den intensivsten Eingriffen in die individuelle Freiheit im modernen Verfassungsstaat zählt.68 Die wichtigste Sicherheitsplanke bietet Art. 103 Abs. 2 GG, der als Abwehrrecht des Bürgers freiheitsgewährleistende Funktion hat.69 b) Die Aufklärung von Straftaten, die Ermittlung des Täters, die Feststellung seiner Schuld und seine Bestrafung obliegen den Organen der Strafrechtspflege, die zu diesem Zweck unter den gesetzlich bestimmten Voraussetzungen Strafverfahren einzuleiten und durchzuführen sowie erkannte Strafen zu vollstrecken haben.70 Das „Eingriffsspektrum“71 ist umfangreich. Das betrifft exemplarisch Vollzugsmaßnahmen, die als Grundrechtseingriffe die Frage nach der ausreichenden gesetzlichen Grundlage aufwerfen. Der Regress auf den bahnbrechenden Strafgefangenenbeschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 197272 liegt nahe, das vom Parlament den Erlass eines modernen Strafvollzugsgesetzes verlangte. Bis dahin hatte es an einer formellen gesetzlichen Grundlage, z. B. für die Briefkontrolle von Strafgefangenen, gefehlt. Stattdessen wurden Verwaltungsvorschriften, also staatliche Binnenrechtsnormen der Exekutive, für ausreichend erachtet73. Dogmatischer Ansatzpunkt für diese Praxis war das schon damals wissenschaftlich umstrittene Vehikel des besonderen Gewaltverhältnisses, das – zugespitzt – den Binnenraum des Staates für grundrechtlich impermeabel, also irrelevant erklärte.74 Das Bundesverfassungsgericht bereitete solchen antiquierten Vorstellungen ein Ende. Zwar enthält auch das GG verfassungsrechtliche Ermächtigungen für die Einschränkung von Grundrechten in Sonderstatusverhältnissen. Für das Strafgefangenenverhältnis übernimmt diese Signalfunktion Art. 104 GG. Doch macht diese verfassungsrechtliche Anseilung eine positive einfachrechtliche Ermächtigungsgrundlage für Grundrechtseingriffe in Sonderstatusverhältnissen nicht entbehrlich. Der Vorbehalt des Gesetzes wird nicht durch einen pauschalen Verfassungsvorbehalt konsumiert.75 Die Beachtung des eingriffsbezogenen Gesetzesvorbehalts ist vorgelagerter Grundrechtsschutz.76 Im Strafgefangenenverhältnis bedürfen auch Grundrechtseingriffe, die über den Freiheitsentzug als solchen hinausgehen, einer eigenen gesetzlichen Grundlage, die 68

So BVerfGE 123, 267 (408). BVerfGE 109, 190 (217). 70 BVerfGE 51, 324 (343); 123, 267 (409). 71 Formulierung von BVerfGE 109, 190 (239). 72 BVerfGE 33, 1 ff. 73 Kritisch Ossenbühl, BVerfG und GG I, 2001, S. 40 f. 74 Dazu Franz-Joseph Peine, in: Merten/Papier, HGR, Bd. III, 2009, § 65. 75 Isensee, FS Kriele, 1997, S. 13 f.; Markus Heintzen, VerwArch Bd. 81 (1990), S. 554; Bethge, in: Merten/Papier, HGR, Bd. III, 2009, § 58 Rn. 104. 76 Michael Sachs, JuS 1995, 304; Di Fabio, JZ 1993, 691. 69

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die Eingriffsvoraussetzungen hinreichend bestimmt normiert.77 Retrospektiv betrachtet, wäre dies richtigerweise schon die Konsequenz des „klassischen“ oder „traditionellen“ Grundrechtseingriffs und des mit ihm verknüpften rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips gewesen. Weder brauchte auf einen erweiterten Grundrechtseingriff noch gar auf die Reizfigur einer mittelbaren Grundrechtsbeeinträchtigung abgestellt zu werden. Operationen mit dem rechtsstaatlich-demokratischen Parlamentsvorbehalt78 wären angesichts seiner Eingriffsindifferenz79 allenfalls ergänzend interessant. Auf der Linie dieser grundrechtlichen Aufwertung des Strafgefangenen liegt die wenige Zeit später vorgenommene Anerkennung eines grundrechtlich geschützten Resozialisierungsanspruchs des Straftäters.80 Das Bundesverfassungsgericht hat die Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts im Strafvollzug in der Folgezeit ausgebaut: Der Jugendstrafvollzug benötigt eine spezielle Rechtsgrundlage, deren Fehlen nicht durch analoge Bezugnahmen auf die normativen Regelungen des Erwachsenenstrafvollzuges überbrückt werden darf.81 3. Strafrecht als Mittel grundrechtsspezifischen Rechtsgüterschutzes

Die grundrechtliche Domestizierung des Strafrechts erfasst nicht nur die Befindlichkeiten des potentiellen oder aktuellen Straftäters, für den die Justizgrundrechte und die formalisierten rechtsstaatlichen Vorkehrungen des materiellen und verfahrensrechtlichen Strafrechts die vielgerühmte Magna Charta darstellen. Der Schutz der Allgemeinheit und der Grundrechte Dritter kommt hinzu. Das Strafrecht ist nicht nur allgemein ultima ratio des Rechtsgüterschutzes.82 Ihm kommt auch die besondere Funktion zu, grundrechtlich gewährleisteten Rechtsgütern den ihnen gebührenden Schutz zukommen zu lassen.83 Die Freiheitsrechte sind nicht nur staatsabwehrender Natur; sie bedingen über die Schutzpflicht des Staates Rechtsgüterschutz84, auch solchen victimologischer Natur85. Effektive Aufklärung von Straftaten und wirksame Gefahrenabwehr sind nicht per se eine Be77

BVerfGE 33, 1 (9 f.); s. a. BVerfGE 60, 237 (253 f.); 58, 358 (367); 116, 69 (80). Ansätze bei Eberhard Grabitz, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. VI, 2. Aufl., 2001, § 130 Rn. 17; s. a. Lerche, in: Merten/Papier, HGR, Bd. III, 2009, § 62 Rn. 10. 79 BVerfGE 40, 237 (248 ff.); 77, 170 (230 f.); s. a. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. III, 2. Aufl., 1996, § 62 Rn. 46. 80 BVerfGE 35, 202 (235), unter Hinweis auf BVerfGE 33, 1 (7 f.). s. a. BVerfGE 96, 100 (115); 109, 133 (149 ff.). 81 BVerfGE 116, 69 (80 ff.). 82 BVerfGE 120, 224 (239 f.). 83 Herbert Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 411 ff. 84 BVerfGE 39, 1 (42); 115, 118 (152). 85 Thomas Weigend, „Die Strafe für das Opfer?“ – Zur Renaissance des Genugtuungsgedankens im Straf- und Strafverfahrensrecht, in: Rechtswissenschaft 2010, Heft 1, S. 46 ff. 78

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drohung für die Freiheit der Bürger. Sie sind notwendig, um die Inanspruchnahme von Grundrechten Dritter abzusichern und die Rechtsgüter des Einzelnen zu schützen.86 Von daher kann sogar aus grundrechtlicher Perspektive – aktiviert durch das Untermaßverbot87 – der Erlass von Normen des Strafrechts geboten sein.88 a) Ansatzpunkt ist die lange verschüttete89, aber seit geraumer Zeit wieder entdeckte90 Dimension der in den Freiheitsrechten angelegten Schutzpflichten des Staates.91 Die Rechtsordnung aller kultivierten Völker kennt denn auch Schutzpflichten. Die Schutzpflichten des GG sind in der Regel objektiv-rechtlicher Natur.92 Sie ergänzen – ähnlich den Einrichtungsgarantien – die subjektive Abwehrkomponente der Freiheitsrechte, ohne sie gänzlich ersetzen zu können. Grundrechtliche Schutzpflichten wirken nicht ohne weiteres self-executing. Ihr Adressat ist der Staat, primär der Gesetzgeber. Sie bedürfen also, um allgemeinverbindlich zu werden, der Gesetzesmediatisierung.93 Die dogmatischen Koordinaten beschreibt das Bundesverfassungsgericht am Beispiel des besonders exponierten Grundrechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG): Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde als eines tragenden Konstitutionsprinzips und obersten Verfassungswertes94. Dem Staat ist es einerseits untersagt, durch eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen die Menschenwürde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Andererseits ist er auch gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen. Der Staat und seine Organe haben sich schützend und fördernd vor das Leben jedes einzelnen zu stellen; d.h. vor allem, es auch vor rechtswidrigen An- und Eingriffen Dritter zu bewahren95. Im Extremfall des Schutzes der durch Art. 2 Abs. 2 geschützten Leibesfrucht vor Schwangerschaftsabbrüchen hat der Staat als ultima ratio das Strafgesetz zu aktivieren. Das ist der eigentliche Kern der Judikatur zur prinzipiell erforderlichen Strafbarkeit

86 So Wilhelm Schluckebier, in: BVerfGE 125, 360 (368 f.), abw. Meinung, unter Bezugnahme auf BVerfGE 49, 24 (56 f.); 115, 320 (346). 87 BVerfGE 88, 203 (254), im Anschluss an Isensee, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. V, 2. Aufl., 2000 , § 111 Rn. 165 f. 88 s. noch die dezidierte Gegenposition von Wiltraud Rupp-von Brünneck und Helmut Simon, in; BVerfGE 39, 1 (68, 73 ff.). 89 Georg Hermes, in: Merten/Papier, HGR, Bd. III, 2009, § 63 Rn. 41 Fn. 180. 90 Bethge (Fn. 83), a. a. O. 91 Zur Wiederentdeckung der „Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte“ Klaus Stern, DÖV 2010, 241 ff. m.w. N.; s. a. Bethge, GS Tettinger, 2007, S. 382 f. m.w. N., auch zum Folgenden. 92 Joachim Wieland, in: Horst Dreier (Hrsg.), GG I, 2. Aufl., 2004, Art. 2 Rn. 151. 93 Isensee (Fn. 44), S. 30 f.; Merten, FS Leisner, 1999, S. 619 ff. Noch weitergehend Cornils, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, S. 690. 94 BVerfGE 115, 118 (152); s. a. 109, 279 (311). 95 BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164).

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von Schwangerschaftsabbrüchen. Unter dieser besonderen Prämisse des unabdingbaren existentiellen Grundrechtsschutzes ist die Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers eingeschränkt und die Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts intensiver. Unterhalb dieser Schwelle ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns unter Berücksichtigung der jeweiligen Lage festzulegen.96 Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit lediglich darüber zu wachen, dass die Strafvorschrift materiell in Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie Grundentscheidungen des GG entspricht.97 Umstritten ist, ob grundsätzlich jedes öffentliche Interesse eine Strafnorm legitimieren kann98 oder ob Kriminalstrafe als schärfste Sanktion und wegen des damit verbundenen sozialethischen Unwerturteils kein universal einsetzbares Regelungsinstrument, sondern eben ultima ratio ist.99 Auch in dem Spannungsverhältnis zwischen der Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer rechtsstaatlichen Strafrechtspflege und des Interesses des Beschuldigten und der Drittbetroffenen an der Wahrung ihrer verfassungsrechtlich verbürgten Rechte ist es zunächst Aufgabe des Gesetzgebers, einen abstrakten Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu erreichen.100 b) Strafrechtlich relevanter Grundrechtsgüterschutz bestimmt auch die Tenorierungs- und Vollstreckungspraxis des Bundesverfassungsgerichts im Fall von Normbeanstandungen. aa) Das Bundesverfassungsgericht verzichtet bei Verstößen des Gesetzgebers gegen das GG zunehmend101 darauf, das Gesetz gemäß der Regel des § 78 Satz 1 BVerfGG mit Wirkung ex tunc für nichtig zu erklären.102 Stattdessen beschränkt es sich seit langem – mittlerweile von § 31 Abs. 2 Satz 2 und 3 und § 79 Abs. 1 BVerfGG gedeckt – auf eine bloße Verfassungswidrig- oder Unvereinbarerklärung.103 Diese Tenorierungsvariante setzt das Gericht in den Stand, über § 35 BVerfGG die vorübergehende, meist befristete Weitergeltung der beanstandeten Norm anzuordnen.104 Um eine Vollstreckungsentscheidung im strengen prozessualen Sinne handelt es sich dabei zwar nicht. Doch trägt das Bundesverfassungsgericht Folgenverantwortung. Es steht im Dienst des überlegenen Durchset96

BVerfGE 120, 224 (241). BVerfGE 90, 145 (173); 96, 10 (25 f.); 120, 224 (241). 98 So wohl BVerfGE 124, 300 (331). 99 So Tatjana Tröndle, JZ 2010, 311; s. a. BVerfGE 96, 245 (249); 120, 224 (240). 100 BVerfGE 109, 279 (350). 101 BVerfG, DVBl. 2011, 97 m.w. N., auch zum Folgenden. 102 Zur Nichtigerklärung als Regelfolge BVerfGE 68, 384 (390); 107, 150 (185); 116, 229 (242). 103 BVerfGE 109, 190 (235); 115, 276 (317); 117, 1 (65 f.); 119, 394 (410 f.). Dazu Bethge, Jura 2009, 18 ff. 104 BVerfGE 91, 186 (207); 93, 37 (85); 115, 276 (317). 97

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zungswillens des Verfassungsgesetzes.105 Es ist zur Durchsetzung der Verfassungsintegrität gehalten.106 Der kurz und dunkel gefasste § 35 BVerfGG wie auch die §§ 31, 79 BVerfGG regeln zwar nicht die Voraussetzungen und die Folgen der bloßen Unvereinbarerklärung.107 Doch reicht es für den Ausspruch bloßer Unvereinbarkeit einer Norm mit dem GG aus, wenn die dafür sprechenden verfassungsrechtlichen Belange überwiegen.108 Das ist – so die geläufige Formel – dann der Fall, wenn der Zustand, der sich im Falle der Nichtigkeit ergäbe, der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die befristete Weitergeltung der verfassungswidrigen Regelung.109 Wie es Peter Lerche formuliert: Ein noch verfassungsentfernterer Zustand110 bzw. etwas „Verfassungsverbotenes“ 111 ist zu vermeiden. Zur Wahrung der Verfassungsintegrität gehört die Vermeidung irreparabler existentieller Grundrechtsverletzungen. Schließlich ist auch das Bundesverfassungsgericht der Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs. 3 GG) und auf der Rechtsanwendungsebene den daraus resultierenden staatlichen Schutzpflichten unterworfen.112 Das kann eine Abwägung widerstreitender Grundrechtsinteressen notwendig machen. Die Anordnung der Weitergeltung eines verfassungswidrigen Gesetzes, die zu einer (weiteren) Freiheitsentziehung von Straftätern und damit zu einem empfindlichen Eingriff in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG führt, ist nur zulässig, wenn das überragende (Grundrechts-)Interesse der Allgemeinheit an effektivem Schutz vor hochgefährlichen Straftaten das Freiheitsinteresse der Betroffenen überwiegt.113 Oder: Die Rüge des Fehlens eines besonderen Strafvollzugsgesetzes für jugendliche Straftäter führte bis zum (angeforderten) Erlass eines solchen Gesetzes zur befristeten Weitergeltung des allgemeinen Strafvollzugsgesetzes für diese besondere Klientel. Zur Rechtfertigung wurde auf den Grundrechtsschutz der inhaftierten Jugendlichen abgehoben.114 bb) Das Erfordernis existentiellen Grundrechtsschutzes war dafür bestimmend, dass das Bundesverfassungsgericht im ersten § 218-StGB-Urteil115 im Anschluss an die Verwerfung der verfahrensgegenständlichen Fristenlösung zu einem ungewöhnlichen Mittel griff: Es verfügte zur Überbrückung eines gesetzlosen Zustan105

Klein (Fn. 8), 1994, S. 514. Benda/Klein (Fn. 11) Rn. 72; Uwe Kischel, AöR Bd. 131 (2006), S. 227. 107 Löwer (Fn. 28), § 70 Rn. 120; Voßkuhle (Fn. 7), Art. 93 Rn. 48. 108 BVerfGE 118, 168 (211); BVerfG, DVBl. 2011, 97. 109 BVerfGE 83, 130 (154); 93, 228 (270). 110 FS Ress, 2005, S. 1221 ff.; s. a. BVerfGE 119, 331 (382 f.). 111 FS Gitter, 1995, S. 511; s. a. Wolfgang Roth, AöR Bd. 124 (1999), S. 498. 112 Zu grundrechtlichen Schutzpflichten der rechtsanwendenden Staatsfunktionen vgl. BVerfGE 96, 64 (56 f.); 103, 89 (100); Christian Callies, JZ 2006, 328; Bethge (Fn. 91), S. 382. 113 BVerfGE 109, 190 (191, 239). 114 BVerfGE 116, 69 (92 ff.). 115 BVerfGE 39, 1 ff.; s. a. BVerfGE 88, 203 ff. 106

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des eine strafbewehrte Interimsregelung auf der Grundlage des von der parlamentarischen Opposition favorisierten Indikationenmodells. Das gravamen, für nicht wenige das Skandalon dieser Vorgehensweise bestand nicht allein darin, dass das Gericht damit selber gesetzesvertretendes Übergangsrecht setzte, dessen Inhalt – die Indikationenlösung – gerade keine Parlamentsmehrheit gefunden hatte. Ein zusätzlicher haut goût kam dem Umstand zu, dass die Regelungen den Rang von Strafrecht einnahmen. Schon allgemein rührt Normsetzung durch das Bundesverfassungsgericht an die funktionell-rechtlichen Schranken von Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber. Bereits richterliche Rechtsetzungsdirektiven (Appellentscheidungen) an die Adresse des Gesetzgebers lassen leicht den Vorwurf vom Richter als Ersatzgesetzgeber 116 aufkommen; entsprechend nahe liegt die Warnung vor jurisdiktionsstaatlichen Tendenzen. Eigene richterliche Normsetzung gar erhärtet den Eindruck von Grenzüberschreitung. Er verstärkt sich scheinbar zur Gewissheit, weil und wenn es sich inhaltlich um Strafrecht handelt, das schließlich – nulla poena sine lege! – dem strengen Gesetzesvorbehalt des Art. 103 Abs. 2 GG unterliegt117, der nicht durch Aktionismen rechtsanwendender Organe ausgehebelt werden darf. Dennoch war im konkreten Fall die Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts im Sinne von § 35 BVerfGG erforderlich.118 Das unverfügbare, aber bedrohte Lebensrecht des nasciturus, der Personeneigenschaft hat und keine bloße Sache darstellt, machte normative Vorkehrungen strafrechtlichen Zuschnitts unabdingbar.119 Die Nichtigerklärung der existenten Strafnormen hätte einen grundrechtslosen Raum geschaffen, der vom Bundesverfassungsgericht interimistisch geschlossen werden musste. Der damit notwendigerweise verbundene Eingriff in die Normsetzungsprärogative des Parlaments wurde gemildert durch dessen Kompetenz, jederzeit die gerichtliche Interimsregelung durch ein Gesetz abzulösen, zu dessen Erlass der Gesetzgeber durch eine Rechtsetzungsdirektive des Gerichts angehalten war. Vor diesem Hintergrund war der Vorwurf von gesetzesvertretender „Notverordnung“120 fehl am Platze. Das Bundesverfassungsgericht agierte vielmehr notgedrungen als Notgesetzgeber auf der Grundlage von Notkompetenz.121

116 s. Udo Steiner, NJW 2001, 2919; Georg Blasberg, Verfassungsgerichte als Gesetzgeber, 2003. 117 Bethge, in: Michael Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, 1995, S. 142 f. s. weiter BVerfGE 86, 390 (397); 88, 203 (337). 118 Zur Erforderlichkeit der Vollstreckungsanordnung Lechner/Zuck, BVerfGG, 5. Aufl., 2006, § 35 Rn. 5; Hopfauf (Fn. 11), Art. 93 Rn. 77. 119 Zur Unabdingbarkeit Lerche (Fn. 110), S. 1222 f. 120 So ein genereller Vorhalt von Hans-Peter Schneider, NJW 1994, 2590 f.; s. a. Christian Hillgruber/Christoph Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl., 2011, Rn. 26. 121 Lerche (Fn. 111), S. 511; Malte Graßhof, Die Vollstreckung von Normenkontrollentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, 2003, S. 258 ff., 293; Paul Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. V, 2. Aufl., 2000, § 125 Rn. 75 ff.

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cc) Nicht ganz so dogmatisch ausziseliert und kompliziert nehmen sich aus heutiger Sicht Entscheidung und Tenorierung im Strafgefangenenbeschluss des Jahres 1972 aus. Der Sache nach dominierte auch hier der Schutz unterschiedlicher Grundrechtspositionen. Eine Normbeanstandung konnte es zwar nicht geben. Das Bundesverfassungsgericht missbilligte ja gerade das Fehlen eines formellen parlamentsbeschlossenen Strafvollzugsgesetzes. Das Gericht gab darum im Weg einer Rechtsetzungsdirektive dem Gesetzgeber auf, das Normdefizit auszuräumen. In der Zwischenzeit musste es beim bisherigen, grundrechtlich unbefriedigenden Zustand bleiben. Die Alternative wäre – fiat iustitia, pereat mundus – die Freilassung aller rechtskräftig verurteilten Häftlinge gewesen. Diesen unrealistischen Schritt verbot der Schutz der Allgemeinheit vor Straftätern, zu dem die grundrechtlichen Belange der „drittbetroffenen Bürger“ zählen. Auch den Inhaftierten wurde in der Zwischenzeit durch eine Rechtsanwendungsdirektive geholfen. Das Bundesverfassungsgericht gab den Fachgerichten und Vollzugsorganen auf, bei unbedingt erforderlichen Grundrechtsbeschränkungen schonend zu verfahren.122 IV. Der Ausschluss von Verhaltensweisen extremer Sozialschädlichkeit aus dem grundrechtlichen Gewährleistungsbereich Das aktuelle staatsrechtliche Schrifttum beschäftigt die Frage, ob es extrem sozial- und gemeinschaftsschädliche Verhaltensweisen (meist ohnehin strafbaren Charakters) gibt, die von vornherein nicht vom Tatbestand eines Freiheitsrechts des betreffenden Aktivisten erfasst werden können; dies mit der Konsequenz, dass es zur Beurteilung der Verwerflichkeit des Tuns auf eventuelle Schrankenregelungen des Strafrechts gar nicht mehr ankommt. Diese Prämisse vom Ausschluss schon des Gewährleistungsbereichs kann sich auf Hinweise des Bundesverfassungsgerichts stützen: Zu Art. 12 Abs. 1 GG kommt – so das Gericht – eine Begrenzung (scil. ein Ausschluss) des Schutzbereichs allenfalls hinsichtlich solcher Tätigkeiten in Betracht, die schon ihrem Wesen nach als verboten anzusehen sind, weil sie aufgrund ihrer Sozial- und Gemeinschaftsschädlichkeit schlechthin nicht am Schutz durch das Grundrecht teilhaben können.123 Prima vista mutet diese Frage wie ein Luxusproblem an. Wenn ein bestimmtes Verhalten ohnehin formell verboten und strafrechtlich sanktioniert ist, lohnt es sich dann noch, schon den sachlichen Gewährleistungsbereich zu exkludieren? So einfach, wie dies erscheint, liegt die Sache nicht.124

122

BVerfGE 33, 1 (13 f.). BVerfGE 115, 276 (300 f.); 117, 126 (137); s. a. Thomas Ossenbühl, DVBl. 2003, 882 f.; Wolfgang Kahl, AöR Bd. 131 (2006), S. 604 Fn. 146; Christian Pestalozza, NJW 2006, 1711 ff. 123

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1. Keine beliebige Disposition des Strafgesetzgebers über den Grundrechtstatbestand

Als Grundsatz muss freilich gelten, dass nicht jedes strafrechtlich relevante Täterverhalten schon aus dem Schutzbereich seiner Freiheitsrechte herausfällt. Im Gegenzug ist es gerade die Frage, ob das Verbot einer Tätigkeit einschließlich seiner Pönalisierung überhaupt grundrechtlich zulässig ist. Das Bundesverfassungsgericht betont zu recht: Einer die Merkmale des Berufsbegriffs grundsätzlich erfüllenden Tätigkeit – in concreto die Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten durch Private – ist der Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG nicht schon dann versagt, wen das einfache Recht diese Tätigkeit verbietet.125 Entsprechend verhält es sich, wenn das Verbot sogar strafrechtlich sanktioniert wird (§ 284 StGB).126 Vielmehr muss die Verfassungsmäßigkeit des strafbewehrten Verbots geprüft werden. Eine apriorische Schutzbereichsversagung kommt darum für gewerbsmäßig betriebene Veranstaltung von Glücksspielen nicht infrage. Die gegenteilige Auffassung liefe auf ein paternalistisches Staatsverständnis hinaus, dass die Akteure der Zivilgesellschaft (Unternehmer wie Kunden) zu ihrer eigenen Wohlfahrt und Tugendhaftigkeit zwingt.127 Auf dieser behutsamen Linie bewegt es sich, wenn das für zwingend erachtete generelle Rechtswidrigkeitsattest des Schwangerschaftsabbruchs für die ganze Zeit der Schwangerschaft nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht dazu führt, dass die Tätigkeit eines „Abtreibungsarztes“ von der Schutzwirkung des Art. 12 Abs. 1 GG ausgenommen werden müsste.128 2. Gründe für den Tatbestandsausschluss extrem perversen Sozialverhaltens

a) Gleichwohl kann in Extremfällen ein Tatbestandsausschluss in Betracht kommen. Grundrechtsdogmatisch ist klar: Ebenso wenig wie Lückenlosigkeit des Grundrechtsschutzes Schrankenlosigkeit bedeuten kann, genauso wenig gebietet Lückenlosigkeit des Grundrechtsschutzes die freiheitstatbestandliche Umhegung jedweden menschlichen (Sozial-)Verhaltens. Nicht nur die juristische Hygiene (Christian Starck) spricht für den Tatbestandsausschluss extrem sozial- und gemeinschaftsschädlichen Verhaltens (Kannibalismus, Kinderprostitution, Men-

124 Matthias Cornils, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. VII, 3. Aufl., 2009, § 168 Rn. 45; Bethge (Fn. 2), § 72 Rn. 26. 125 BVerfGE 115, 276 (300 f.). 126 Dazu Laila Mintas, Glücksspiele im Internet. Insbesondere Sportwetten mit festen Gewinnquoten (Oddset-Wetten) unter strafrechtlichen, verwaltungsrechtlichen und europarechtlichen Gesichtspunkten, 2009, S. 95, 97. Dazu die Rezension von Herbert Bethge, BayVBl. 2010, 738. 127 Herbert Bethge, WiVerw 2008, 80. 128 Dazu BVerfGE 98, 263 (297).

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schenhandel).129 Eine von Art. 1 GG geprägte Gemeinschaftsordnung kann nicht auf die Totalität jedweder Tatbestandserfassung auch evidenter Gemeinschaftsschädlichkeit abstellen, die notdürftig erst durch Schrankenregelungen des Strafrechts gezügelt wird.130 Unter der Prämisse des notwendigen Tatbestandsausschlusses extremer Perversionen muss auch das Argument versagen, die nur vorsorgliche Tatbestandserfassung begründe jedenfalls – gemäß dem rechtsstaatlichen Verteilungsprinzip – die staatliche Rechtfertigungspflicht für die selbstverständlich zulässige Pönalisierung.131 b) Das sind keine theoretischen Distinktionen, die die Realität verfehlen. Sie verlieren auch nicht an juristischer Relevanz durch den Hinweis auf die zulässige Pönalisierung, deren Rechtfertigung den Strafgesetzgeber angesichts seiner Einschätzungsprärogative(n) nicht schwer fällt. Natürlich sind Kupierungen oder gar Eliminierungen des Schutzbereichs allemal ein harter Schnitt. Aber so einzigartig sind sie nicht. Zwei Beispiele: Die Leugnung des Holocaust (die Auschwitzlüge) fällt nicht in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit.132 Und: Gewaltlosigkeit und Friedlichkeit sind prinzipiell Apriori jedweder Grundrechtswahrnehmung.133 Gewalt und Unfriedlichkeit fallen daher nicht nur aus dem Gewährleistungsbereich des Art. 8 Abs. 1 GG, sondern grundsätzlich134 jeden Freiheitsrechts heraus. aa) Ein aktuelles Beispiel: Die bildliche Darstellung und die Verbreitung von Kinderpornographie (im Internet) ist nach richtiger Einschätzung nicht nur ein schweres Vergehen des materiellen Strafrechts. Einschlägige Aktivitäten dürfen auch als extrem sozialschädliches und die Menschenwürde anderer im Kern verletzendes Verhalten unter keinen Schutzbereich eines Freiheitsrechts fallen135. Weder die Kommunikationsfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG noch die Gewährleistung(en) des Art. 5 Abs. 3 GG sind tatbestandlich einschlägig. Auch ein Rückzug auf die lückenschließende Funktion der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) scheidet aus. Wenn ein Spezialgrundrecht bestimmte Verhal129

Detlef Merten, in: ders./Papier, HGR, Bd. III, § 60 Rn. 26. Isensee (Fn. 87), 111 Rn. 174; Christian Hillgruber, FS Isensee, 2007, S. 568 Fn. 34. 131 In dieser Richtung Cornils (F 124), § 168 Rn. 46. 132 BVerfGE 90, 241 (249); 99, 185 (197); kritisch Rudolf Wendt, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GGK I, 5. Aufl., 2000, Art. 5 Rn. 10; Thomas Vesting, AöR Bd. 122 (1997), S. 339 ff. 133 Isensee (Fn. 1), HStR, Bd. II, § 15 Rn. 94; Herbert Bethge, in: Isensee/Kirchhof, HStR, Bd. IX, 3. Aufl., 2011, § 204 Rn. 74 ff. 134 Ausnahme Notwehr! Zur verfassungsrechtlichen Legitimation Isensee (Fn. 87), § 111 Rn. 102; Hillgruber (Fn. 130), S. 571; Walter Schmitt Glaeser, Private Gewalt im politischen Meinungskampf, 2. Aufl., 1992, S. 223. 135 BVerfGE 115, 276 (301); 117, 126 (137); Merten, FS Herzog, 2009, S. 29 f.; Hillgruber (Fn. 130), S. 561; Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG I, 6. Aufl., 2010, Art. 2 Abs. 1, Rn. 13. 130

Zur grundrechtlichen Konstitutionalisierung des Strafrechts

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tensweisen als sozialethisch pervers exkludiert, darf dieses Ergebnis nicht durch eine Flucht ins Auffanggrundrecht konterkariert werden.136 Ein von diesen Gewährleistungen unabhängiges, quasi freischwebendes Internetgrundrecht gibt es nicht. Der Berufung auf Strafrechtsnormen als Begrenzungsfaktoren des Schutzbereichs bedarf es also gar nicht mehr. bb) Diese Differenzierung ist von erheblicher praktischer Relevanz. Wer die fraglichen Aktivitäten – und sei es auch nur, um die Rechtfertigungsbedürftigkeit strafbewehrter staatlicher Verbote zu begründen – auch nur für eine logische Sekunde dem Schutzbereich eines Freiheitsrechts unterstellt, begibt sich in die Falle des Zensurverbots (Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG). Das Zensurverbot schließt präventive staatliche Reglementierungen von grundrechtlich erfassten Inhalten aus137. Verboten ist die staatliche Vorzensur138. Das Verbot ist abwägungsresistent; es wirkt absolut. Von deutscher Staatsgewalt verantwortete Internetsperren würden daher in Kollision mit dem grundgesetzlichen Zensurverbot geraten. Das Zensurverbot des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG oder besser: die Zensurfreiheit ist allerdings kein eigenständiges Freiheitsrecht. Die grundrechtsstützende Vorkehrung (Begleitgarantie) ist akzessorisch; sie ist funktional auf prinzipiell grundrechtlich geschützte, also thematisch erfasste Bereiche, vornehmlich139 des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG, bezogen und figuriert dort als Schranken-Schranke140 oder Eingriffskautele. Das grundgesetzliche Zensurverbot greift als SchrankenSchranke oder Eingriffskautele aber dann nicht Platz, wenn sich die staatliche Reglementierung auf einen von vornherein nicht grundrechtlich, schützenswerten Raum bezieht. Wo von vornherein kein tatbestandlicher Grundrechtsschutz, da kein Substrat für die Anwendung des Zensurverbots. Die staatlich verfügte Sperrung von Internet-Seiten für kinderpornographische Abbildungen wäre von daher kein Fall des Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG; die nachträgliche Löschung wäre es ohnehin nicht. cc) Das Grundrecht auf Sicherheit (Josef Isensee), das hinter dem Rechtsgüterschutz steht, erträgt auch Lösungen auf der Grundlage einer Kombination von präventiver Gefahrenabwehr und repressivem Strafrecht.141

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Herbert Bethge, VVDStRL Heft 57 (1998), S. 24 f. BVerfGE 33, 52 (71 f.). 138 Martin Bullinger, HStR, Bd. VII, 3. Aufl., 2009, § 163 Rn. 23. 139 Sie sollte auch auf die Gewährleistungen des Art. 5 Abs. 3 GG bezogen werden; s. Herbert Bethge, in: Michael Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl., 2011, Art. 5 Rn. 129. 140 Edzard Schmidt-Jortzig, HStR, Bd. III, 3. Aufl., 2009, § 162 Rn. 56. 141 Kritisch gegenüber der „Kriminalisierung im Vorfeld der Rechtsgutsverletzung“ Günther Jakobs, in: ZStW Bd. 97 (1985), S. 774 ff. 137

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V. Schlussbemerkung Der freiheitliche Verfassungsstaat ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine riskante Ordnung.142 Zu ihren Funktionsvoraussetzungen gehört die Sorge des Gesetzgebers für die angemessene Balance zwischen Freiheit und Sicherheit, die beide ihre Austarierung in einem grundrechtsorientierten Strafrecht finden müssen.

142 So Horst Dreier, Der freiheitliche Verfassungsstaat als riskante Ordnung, in: Rechtswissenschaft, Heft 1, 2010.

Grundrechtsschutz durch rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien Von Klaus Grupp Schon vor mehreren Jahrzehnten hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, „daß Grundrechtsschutz weitgehend auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist und daß die Grundrechte demgemäß nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht beeinflussen, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist“ 1; bald danach hat das Gericht diesen Gedanken bekräftigt, indem es ausgeführt hat, dass „die Grundrechte nicht nur die Ausgestaltung des materiellen Rechts beeinflussen, sondern zugleich Maßstäbe für eine Grundrechtsschutz effektuierende Organisations- und Verfahrensgestaltung sowie für eine grundrechtsfreundliche Anwendung vorhandener Verfahrensvorschriften setzen“ 2. Diese Rechtsprechung ist zunächst für den Grundrechtsschutz aus Art. 14 Abs. 1 GG3 und sodann aus Art. 12 Abs. 1 GG4 sowie aus Art. 16 Abs. 2 GG5 und schließlich aus Art. 2 Abs. 2 GG6 entwickelt worden7. Danach ist der Gesetzgeber verpflichtet, Verfahrensregelungen zu treffen, die den Schutz des jeweiligen Grundrechts gewährleisten, ohne in diesem schon spezifisch vorgezeichnet zu sein; es handelt sich vielmehr um Regelungen, die vornehmlich im Rechtsstaatsprinzip oder auch anderweitig in der Verfassung angelegt sind und für das Verfahren ihre konkrete, dem zu schützenden Grundrecht adäquate Form erhalten müssen, wie sie teilweise in der Europäischen Menschenrechtskonvention8 vorgeprägt sind, etwa bezüglich des recht1

BVerfGE 53, 30 (65). BVerfGE 69, 315 (355). 3 Vgl. BVerfGE 37, 132 (141, 148); 46, 325 (334); 49, 220 (225); s. a. BVerfGE 24, 367 (401); 45, 297 (322, 333). 4 BVerfGE 39, 276 (294); 44, 105 (119 ff.); 45, 422 (430 ff.); 52, 380 (389 f.). 5 Vgl. BVerfGE 52, 391 (407). 6 BVerfGE 51, 324 (343); 53, 30 (62). 7 Zur Entwicklung vgl. beispielsweise BVerfGE 53, 69 (71 ff.) – Sondervotum –, sowie ausführlich schon zuvor Konrad Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland, in: EuGRZ 1978, 427 ff. (434 ff.). 8 Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 686) i. d. F. d. Bek. vom 17. Mai 2002 (BGBl. II S. 1055), zul. geänd. durch Bekanntmachung über die vorläufige Anwendung von Bestimmungen des Protokolls Nr. 14 zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfrei2

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lichen Gehörs, des fairen Verfahrens oder der Verfahrensdauer. Selbst wenn diese Schutzfunktion in der verfassungs- wie in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung in späteren Jahren weniger nachdrücklich betont worden ist, so hat Klaus Stern doch zu Recht darauf hingewiesen, dass ihre Bedeutung nicht zu vernachlässigen ist9, und sie hat in neuerer Zeit auch – nicht zuletzt aufgrund der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – wieder verstärkt Beachtung gefunden. Das Verfassungsgebot des Grundrechtsschutzes durch rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien gilt insbesondere für das gerichtliche Verfahren, wie schon die Prozessgrundrechte (Art. 19 Abs. 4, Art. 101, Art. 103, Art. 104 GG) erkennen lassen, erschöpft sich aber nicht darin, sondern beeinflusst auch die Gestaltung eines vorangehenden behördlichen Verfahrens10. I. Rechtliches Gehör Der Anspruch auf rechtliches Gehör vor Gericht hat in Deutschland auf gesamtstaatlicher Ebene erstmals in Art. 103 Abs. 1 GG Verfassungsrang erhalten. Eine derartige Regelung war indes wortgleich bereits in den 1946 bzw. 1947 in Kraft getretenen Verfassungen von Bayern (Art. 91 Abs. 1) und Rheinland-Pfalz (Art. 6 Abs. 2) statuiert worden; sie ist nach der Wiedervereinigung mit identischer Formulierung in Art. 21 Abs. 3 SAVerf und Art. 88 Abs. 1 Satz 1 ThürVerf sowie inhaltsgleich in Art. 52 Abs. 3 BbgVerf und Art. 78 Abs. 2 SachsVerf aufgenommen worden. Das Gebot „audiatur et altera pars“ galt schon im römischen Recht, doch wiesen auch das kanonische Recht ebenso wie deutschrechtliche und gemeinrechtliche Prozessordnungen einen Anspruch auf Gehör auf11, der freilich nicht uneingeschränkt bestand. Im 19. Jahrhundert wurden in den Reichsjustizgesetzen verschiedene Ausprägungen des Instituts verankert und auch gegenwärtig ist das Gebot im Einzelnen vielfältig einfach-gesetzlich normiert12, ohne indes vollständig geregelt zu sein; für das Verwaltungsverfahren ist ein Anhörungsgebot zum einen in den Verwaltungsverfahrensgesetzen13, zum anderen in unterschiedheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention vom 6. Juli 2009 (BGBl. II S. 823). 9 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 1141. 10 BVerfGE 53, 69 (74) – Sondervotum –; s. a. BVerfGE 53, 30 (59 f.) – Mehrheitsmeinung –. 11 Einzelheiten dazu bei Hinrich Rüping, Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs, 1976, S. 12 ff. 12 Vgl. etwa §§ 78a, 105 ArbGG; §§ 160, 161, § 167, 175, 278, 320, 393, 394, 395 FamFG; §§ 33, 33a, 163a, 257, 258 StPO; §§ 103, 152a VwGO; §§ 128, 139, 278, 279, 285, 299, 357, 730, 891 ZPO. 13 §§ 28, 66, 73 VwVfG und – übereinstimmend damit – die entsprechenden Vorschriften der Landesverwaltungsverfahrensgesetze.

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licher Form in Fachgesetzen14 enthalten. Während jedoch der Anspruch auf rechtliches Gehör in gerichtlichen Verfahren durch Art. 103 Abs. 1 GG umfassend gedeckt ist, folgt seine verfassungsrechtliche Gewährleistung in anderen Verfahren vornehmlich aus dem Rechtsstaatsprinzip sowie aus materiellen Grundrechten15. 1. Der Inhalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör

Für das gerichtliche Verfahren hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1983 den Inhalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör zusammenfassend wie folgt umschrieben: „Art. 103 Abs. 1 GG gibt dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten das Recht darauf, daß er Gelegenheit erhält, im Verfahren zu Wort zu kommen, namentlich sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt und zur Rechtslage zu äußern (BVerfGE 60, 175 [210]), Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen (BVerfGE 6, 19 [20]; 15, 303 [307]; 36, 85 [87]). Dem entspricht die grundsätzliche Pflicht des Gerichts, die Ausführungen der Prozeßbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfGE 42, 364 [367]; 60, 250 [252]; st. Rspr.). . . . Darüber hinaus versieht Art. 103 Abs. 1 GG auch das Vorfeld dieser grundrechtlich geschützten Position mit Sicherungen, die es dem Staat verbieten, diese Position in ihrer Wirksamkeit zu unterlaufen oder entscheidend einzuengen und damit das Recht der Prozeßbeteiligten, sich zu äußern, zur inhaltsleeren Form werden zu lassen. Das Gericht darf nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse verwerten, zu denen die Beteiligten Stellung nehmen konnten (BVerfGE 6, 12 [14]; 12, 110 [113]; 57, 250 [274]; st. Rspr.). Sofern die Wahrnehmung dieser Gelegenheit – dem Staat zurechenbar – ansonsten verhindert oder unzumutbar erschwert würde, können auch gerichtliche Hinweise oder Mitteilungen – etwa über den Eingang von Schriftsätzen, die Beiziehung von Akten oder die Durchführung einer Beweisaufnahme – von Art. 103 Abs. 1 GG gefordert sein (vgl. BVerfGE 17, 194 [197]; 20, 347 [349]; 32, 195 [198]; 50, 381 [385]). Nach alledem stellt sich dem Gericht die Aufgabe, den Zugang zu den ihm vorliegenden Informationen den Verfahrensbeteiligten in weitem Umfang zu öffnen, sofern diese Informationen für die gerichtliche Entscheidung verwertbar sein sollen.“ 16 Der Anspruch auf Gehör besteht hiernach, wie auch in der Literatur übereinstimmend angenommen

14 Vgl. beispielsweise § 18a AEG, § 107 Abs. 1, § 137 BauGB, § 10 Abs. 3 BImSchG, § 12 BBodSchG, § 67 EnWG, § 17a FStrG, § 18 GenTG, § 14 PBefG, §§ 9, 14i UVPG, § 14a WaStrG, § 9 WHG. 15 Vgl. dazu Eberhard Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz (Stand: Januar 2011), Art. 103 Abs. I, Rn. 62 m.w. N. auch zu anderen Begründungen; das Rechtsstaatsprinzip als Grundlage nennt z. B. Georg Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, 4. Aufl., 2001, Art. 103 Abs. 1, Rn. 20. 16 BVerfGE 64, 135 (143 f.).

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wird17, aus drei Elementen: der Informationspflicht, dem Äußerungsrecht und der Beachtenspflicht; er gilt in dieser Struktur auch für behördliche Verfahren. Die Pflicht zur Informierung der am Verfahren Beteiligten beginnt mit der Mitteilung über die Einleitung des Verfahrens, etwa durch Zustellung einer Klageschrift oder eines Antrags, durch Ladung zu einer Verhandlung oder einer Anhörung oder mindestens durch Terminsmitteilung; das Absehen von der Bekanntgabe über die Einleitung eines strafprozessualen Ermittlungsverfahrens verstößt gegen die Informationspflicht, indem dem Betroffenen die Möglichkeit genommen wird, schon zum Gang der Ermittlungen Stellung zu nehmen und seine Rechte wahrzunehmen, und ist nur dann gerechtfertigt, wenn andernfalls die Ermittlungen ernsthaft gefährdet werden. Da einer abschließenden behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung prinzipiell nur diejenigen Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden dürfen, zu denen der Berechtigte Stellung nehmen konnte18, bezieht sich sein Anspruch auf alle vorangegangenen verfahrensrelevanten Maßnahmen und einbezogenen Erkenntnisse. Darüber hinaus umfasst der Anspruch auch das Recht auf Akteneinsicht und erstreckt sich auf die Verfahrensakten ebenso wie auf sämtliche beigezogenen Akten und sonstigen Unterlagen, auf die die Entscheidung gestützt wird – wie beispielsweise Gutachten zum Umweltschutz in einem Planfeststellungsverfahren –, nicht jedoch auf Entscheidungsentwürfe und andere vorbereitende Schriftstücke19. Eine zulässige Einschränkung enthält § 99 VwGO für geheimhaltungsbedürftige Akten20, während der Ausschluss des Beschuldigten von der Einsichtnahme, die nach § 147 Abs. 1 StPO nur seinem Verteidiger zusteht, unverhältnismäßig ist21, weil die damit erstrebte Unversehrtheit der Akten mit weniger einschneidenden Mitteln22 erreicht werden kann23 und dem Betroffenen das Recht verbleiben muss, auf einen Verteidiger zu verzichten. Im Übrigen dürften Aktenbestandteile mit höchstpersönlichem oder – beispielsweise aus wirtschaftlichen Gründen – der Geheimhaltung bedürftigem Inhalt von der Einsichtnahme ausgenommen werden24, wenn 17 Vgl. etwa Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 69; Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 29, jeweils m.w. N.; Christoph Brüning, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 103, Rn. 15; aus der neueren Rechtsprechung s. beispielsweise BVerfGE 107, 395 (409). 18 Vgl. auch BVerfGE 10, 177 (182); 18, 399 (404); 89, 381 (392); 101, 106 (129). 19 Vgl. § 299 Abs. 4 ZPO, § 100 Abs. 3 VwGO; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 75. 20 BVerfGE 101, 106 (128 ff.). 21 Ebenso im Ergebnis Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 35, sowie Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 27; s. a. EGMR NStZ 1998, 429, und NJW 2002, 2015; anders Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 74. 22 Etwa durch Einsichtnahme nur unter Aufsicht durch einen Justizbediensteten. 23 Dies sieht Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 74, ebenfalls; wie hier auch Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 35. 24 So wohl auch Schmidt-Aßmann, ebd.

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dies zum Schutz des betroffenen Grundrechtsträgers erforderlich ist und sich nicht auf die Entscheidung auswirkt. Die Information eines Verfahrensbeteiligten kann indes durch sprachliche Barrieren oder Gehör- oder Sprachbehinderung, Sehbehinderung oder Blindheit erschwert oder ausgeschlossen sein. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings die Auffassung vertreten, das Grundrecht auf rechtliches Gehör umfasse nicht den Anspruch eines der deutschen Sprache nicht oder nicht hinreichend mächtigen Beteiligten, dass ihm durch einen Dolmetscher oder Übersetzer zur Überbrückung seiner Verständigungsschwierigkeiten verholfen wird, jedoch aus dem Recht eines derartigen Angeklagten auf ein rechtsstaatliches, faires Strafverfahren das Verbot hergeleitet, ihn zu einem unverstandenen Objekt des Verfahrens herabzuwürdigen; er müsse in die Lage versetzt werden, die ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensvorgänge verstehen und sich im Verfahren verständlich machen zu können25. Das Gericht hat dies begründet mit einem Hinweis auf einen Beteiligten, der die Schwierigkeiten der Sach- und Rechtslage nicht zu bewältigen vermag und deshalb auf die Hilfe eines sachkundigen Beistands angewiesen ist26, doch unterscheidet sich der Fall der mangelnden Fähigkeit, die Information zu verwerten, deutlich von einem Fall, in dem bereits die Information nicht gelingen kann. Da die Gerichtssprache und die Amtssprache in Verwaltungsverfahren deutsch sind27 – und diese Regelungen auch nicht verfassungswidrig sind28 –, wird der Anspruch auf rechtliches Gehör beeinträchtigt, wenn ein des Deutschen unkundiger Ausländer, der durch eine staatliche Maßnahme belastet wird, nicht die Möglichkeit hat, den wesentlichen Ablauf und den Inhalt des ihn betreffenden Verfahrens sowie der ergehenden Entscheidung zu verstehen. Das gilt auch für seh-, hör- und sprachbehinderte sowie blinde Verfahrensbeteiligte, deren Anspruch auf rechtliches Gehör nicht deswegen gegenstandslos werden kann, weil die Information nur mit zusätzlichen Maßnahmen zu ihrer Kenntnis zu gelangen vermag. So sieht auch Art. 6 Abs. 3 lit. e EMRK schon das Recht des Angeklagten auf unentgeltliche Bereitstellung eines Dolmetschers vor; die darüber hinausgehenden Regelungen in den §§ 185 ff. GVG über Dolmetscher etc. werden den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gerecht; sie sind im Verwaltungsverfahren, für das in § 23 VwVfG 29 nur unvollkommene Bestimmungen existieren, entsprechend anzuwenden30. 25

BVerfGE 64, 135 (144 f.). BVerfGE 64, 135 (144). 27 § 184 Satz 1 GVG, § 55 VwGO i.V. m. dieser Norm sowie § 23 Abs. 1 VwVfG und die entsprechenden Vorschriften der Landesverwaltungsverfahrensgesetze. 28 Vgl. BVerfG NVwZ 1987, 785 (Nichtannahmebeschluss); Heribert Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl., 2008, § 23, Rn. 10 ff. 29 Und in den entsprechenden Vorschriften der Landesverwaltungsverfahrensgesetze. 30 Schmitz (Fn. 28), § 23, Rn. 70. 26

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Das Äußerungsrecht räumt dem Berechtigten den Anspruch ein, im Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren zu allen tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen einer Entscheidung Stellung nehmen zu können31. Es ist notwendige Folge des in Art. 1 Abs. 1 GG enthaltenen Verbots, den Einzelnen zum Objekt staatlichen Handelns zu machen32; der Anspruchsinhaber ist Verfahrenssubjekt33, dem die Behörde bzw. das Gericht die Möglichkeit eröffnen muss, aktiv, etwa durch die Stellung von Anträgen, den Verfahrensgang zu beeinflussen34. Allerdings handelt es sich dabei nur um ein Recht, nicht um eine Pflicht zur Äußerung35 – der Anspruchsinhaber kann jederzeit auf eine Stellungnahme verzichten. Im Einzelnen ergibt sich aus dem Äußerungsrecht die Verpflichtung von Behörden und Gerichten, dem Anspruchsinhaber Gelegenheit zu eigenen Tatsachenbehauptungen, zu Beweisangeboten und Beweisanträgen sowie zu Rechtsausführungen zu geben und ihm zu ermöglichen, zu tatsächlichen und rechtlichen Annahmen der Behörde oder des Gerichts sowie zu entsprechenden Äußerungen anderer Verfahrensbeteiligter und zu Beweisergebnissen Stellung zu nehmen36, wobei es dem Berechtigten überlassen bleibt, in welcher Funktion – als Angriffsoder als Verteidigungsmittel – er seine Äußerungen im Verfahren vorbringen will. Indessen sind nur solche Ausführungen vom Äußerungsrecht gedeckt, die in einer konkreten Verfahrenssituation für die Entscheidung erheblich sein können – es gibt keinen Anspruch darauf, Tatsachen vorzubringen oder Rechtsansichten darzulegen, die objektiv in keinem denkbaren Zusammenhang mit dem Verfahrensgegenstand stehen (Grundsatz der potenziellen Erheblichkeit)37. Darüber hinaus folgt aus dem Äußerungsrecht nicht die Berechtigung, bereits abschließend behandelte Aspekte wiederholt zu erörtern38; ebenso wenig besteht ein Recht auf beleidigende oder verleumderische Äußerungen. Schließlich ist der Berechtigte von Verfassungs wegen nicht zur Wahrheit verpflichtet39 – eine derartige Pflicht kann in den Verfahrensordnungen, wie beispielsweise in § 138 Abs. 1 ZPO, nor31 BVerfGE 60, 175 (210); 64, 135 (143); 98, 218 (263); Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 85; Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 37. 32 Vgl. BVerwGE 1, 159 (161); s. z. B. auch BVerfGE 9, 89 (95); 27, 1 (6); 28, 386 (391); 45, 187 (228); 50, 166 (175); 50, 205 (215); 87, 209 (228). 33 Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 80 unter Bezugnahme auf Günter Dürig, in: Maunz/ders., GG, Vorauflage, Art. 103, Rn. 6. 34 Vgl. BVerfGE 107, 395 (409); 109, 13 (37 f.); Christoph Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl., 2009, Art. 103, Rn. 20; Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 37; Bodo Pieroth, in: Jarass/Pieroth; Grundgesetz, 10. Aufl., 2009, Art. 103, Rn. 1; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 85; Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. III, 2. Aufl., 2008, Art. 103 I, Rn. 48. 35 Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 81; Nolte (Fn. 15), Rn. 38. 36 Nolte (Fn. 15), Rn. 41. 37 Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 86. 38 Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 87; Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 43. 39 Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 89.

Grundrechtsschutz durch rechtsstaatliche Verfahrensprinzipien

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miert werden40, endet aber an dem aus Art. 1 Abs. 1 i.V. m. Art. 2 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Verbot, sich selbst einer Straftat bezichtigen zu müssen („nemo tenetur se ipsum accusare“)41, dem die strafprozessualen Regelungen über das Schweigerecht (§ 136 Abs. 1 Satz 2, § 163a Abs. 3 Satz 2, § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO) Rechnung tragen. Das Äußerungsrecht findet dementsprechend seine Grenze an anderen Grundrechten und an den allgemeinen Gesetzen, die auch über Form und Zeitpunkt Regelungen enthalten können. So besteht kein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung oder eine persönliche Anhörung42 – prinzipiell genügt vielmehr die Möglichkeit schriftlicher Äußerung, wenn der Berechtigte auf diese Weise zu allen wesentlichen Gesichtspunkten Stellung nehmen kann. Allerdings folgt aus dem Öffentlichkeitsgrundsatz des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, dass in allen Verfahren, deren Ergebnis unmittelbare Auswirkungen auf „zivilrechtliche Rechte und Pflichten“ haben kann, eine mündliche Verhandlung stattfinden muss43; ein ausschließlich schriftliches Verfahren – wie beispielsweise nach § 47 Abs. 5 Satz 1 VwGO möglich – ist demgemäß mit der Konvention nicht vereinbar, wenn eine unmittelbare Grundrechtsverletzung im Streit ist. Auch im Übrigen hängt die Intensität der Gehörsgewährung von dem Gewicht der zu überprüfenden Grundrechtsbeeinträchtigung ab44, die regelmäßig eine nur mittelbare Anhörung nicht genügen lässt45. Weiterhin kann das das Verfahren regelnde Recht Fristen vorsehen oder Ermächtigungen zur Fristsetzung enthalten sowie statuieren, dass verspätetes Vorbringen nicht mehr berücksichtigt wird46, weil Fristen dem im Rechtsstaatsprinzip angelegten Element der Rechtssicherheit47 und der Effektivität des Rechtsschutzes durch Verfahrensbeschleunigung dienen48; sie dürfen freilich den

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Vgl. BVerfGE 56, 37 (43). Vgl. EGMR NJW 2008, 3549 (3552); BVerfGE 56, 37 (41 f.); Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 89. 42 BVerfGE 60, 175 (210 f.); 89, 381 (391); BVerwG NVwZ 1999, 404; Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 22; Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 45; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 10; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 84; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 51; Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 31. 43 BVerwGE 110, 203; Nolte, ebd. 44 BVerfGE (K) NJW 2004, 1519; Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 22. 45 Vgl. BVerfGE 83, 24 (36); Degenhart, ebd.; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 53. 46 Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 34; Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 59; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 39; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 122; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 70. 47 Vgl. BVerfGE 60, 253 (266 ff.). 48 Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 34; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 39; SchmidtAßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 122; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 70. 41

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Rechtsschutz nicht unzumutbar erschweren49. Unter diesen Voraussetzungen sind auch Präklusionsvorschriften mit der Verfassung vereinbar50, weil der Ausschluss von tatsächlichem oder rechtlichem Vorbringen mit dem Ziel einer Verfahrenskonzentration und -beschleunigung einen legitimen rechtsstaatlichen Zweck verfolgt51. Allerdings muss der Betroffene hinreichend Gelegenheit gehabt haben, sich zu sämtlichen für ihn bedeutsamen Aspekten zur Sache zu äußern, und seinen Anspruch auf Gehör aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht geltend gemacht haben52. Dennoch befördern Präklusionsvorschriften die Gefahr einer Rechtsbeeinträchtigung53 und besitzen deshalb – in der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts – „strengen Ausnahmecharakter“ 54. Die unverschuldete Versäumung von Fristen gibt dem Betroffenen von Verfassungs wegen einen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand55. Das Bundesverfassungsgericht hat ihn sowohl auf Art. 103 Abs. 1 GG56 als auch auf das Gebot wirksamen Rechtsschutzes57 gestützt, doch findet er vor allem in der im Rechtsstaatsprinzip verwurzelten Pflicht zu fairer Verfahrensgestaltung58 (vgl. unten II) seine Begründung, weil er darauf abzielt, die negativen Folgen von Sanktionen bei unverschuldeter Fristversäumnis aufzuheben59. Deshalb dürfen auch die Anforderungen an die Glaubhaftmachung der Wiedereinsetzungsgründe

49 Vgl. etwa BVerfGE 36, 298 (302 ff.); 49, 212 (216); 77, 275 (285 f.); BVerfG (K) NJW 1991, 2076; BVerfG NJW 2005, 1487; NJW 2005, 1768; Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 112; Degenhart (Fn. 34); Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 59; SchmidtAßmann (Fn. 15), Rn. 124; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Rn. 70. 50 BVerfGE 54, 117 (123 f.); 55, 72 (90 ff.); 75, 302 (312 ff.); 81, 264 (273); BVerG (K) NJW 2005, 1487; NJW 2005, 1768 (1769); NJW 2007, 3486); Degenhart (Fn. 34), Rn. 38; Nolte (Fn. 15), Rn. 61; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 41; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 128; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Rn. 74. 51 Schmidt-Aßmann, ebd. 52 BVerfGE 54, 117 (124); 55, 72 (94); 69, 145 (149); 75, 302 (315); 81, 264 (273); BVerfG (K) NJW 2005, 1768 (1769); zustimmend Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 35; Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 38; Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 61; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 41; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 129; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 74. 53 Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 128: „Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung werden dadurch freilich eingeschränkt.“ 54 BVerfGE 59, 330 (334); 60, 1 (6); 62, 249 (254); 75, 302 (312); 81, 264 (273); Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 113; Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 38; Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 61; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 41; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 128; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 74. 55 Degenhart (Fn. 34), Rn. 37; Nolte (Fn. 15), Rn. 64 ff.; Pieroth (Fn. 34), Rn. 40; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 125; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Rn. 73. 56 Vgl. BVerfGE 25, 158 (165 f.); 38, 35 (38); BVerfG (K) NJW 1992, 38. 57 BVerfG (K) NJW 1992, 38; NJW 2007, 3342. 58 Vgl. hierzu BVerfG (K) NJW 1992, 38; NJW 2007, 3342. 59 Vgl. BVerfGE 60, 253 (271 ff.); Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 64; SchmidtAßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 125.

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und an das mangelnde Verschulden nicht überspannt werden60. Das Versagen organisatorischer Einrichtungen, auf die die Verfahrensbeteiligten keinen Einfluss nehmen können – z. B. die Briefbeförderung durch die Post61 –, darf ihnen im Hinblick auf die Fristversäumnis nicht zur Last gelegt werden62; insbesondere Mängel im Bereich der Verwaltung oder des Gerichts, durch die die Einhaltung der Frist vereitelt wurde, sind den Betroffenen nicht zuzurechnen63. Die Pflicht zur Beachtung der Äußerungen verlangt deren angemessene Berücksichtigung bei der Entscheidungsfindung: Das Vorbringen der Beteiligten ist inhaltlich wahrzunehmen und im Hinblick auf die Entscheidung in die Erwägungen einzubeziehen64. Das setzt zunächst Aufnahmefähigkeit voraus65 – die Behörde oder das Gericht muss die Äußerung zur Kenntnis nehmen können. Deshalb genügt es nicht, dass ein Schriftsatz zwar in den Verfügungsbereich des Gerichts gelangt, aber nicht dem Richter vorgelegt wird66; hingegen ist die Aufnahmefähigkeit nicht beeinträchtigt bei einem blinden oder tauben Richter, wenn es für die Entscheidung in der Streitsache nicht auf das Seh- oder Hörvermögen ankommt67, während ein schlafender Richter das Vorbringen nicht zur Kenntnis nehmen kann68 und deshalb den Anspruch auf Gehör beeinträchtigt. Die gebotene Berücksichtigung von Äußerungen setzt weiterhin Aufnahmebereitschaft

60 BVerfGE 31, 388 (390); 37, 93 (97 f.); 38, 35 (38); 40, 42 (44); 40, 182 (184 f.); 54, 80 (84); 60, 251 (289); 67, 208 (212 f.); 110, 339 (342); BVerfG (K) NJW 1991, 351; NJW 1995, 2545; NJW 1997, 1770 (1771); NJW 2003, 1516; BGHZ 151, 221 (227 f.); Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 37; Nolte (Fn. 15); Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 40; Schmidt-Aßmann, ebd.; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 73. 61 Vgl. BVerfGE 51, 352 (354); 53, 25 (28 f.); 67, 208 (212 f.); 110, 339 (342); BVerfG (K) NJW 2003, 1516; BGHZ 151, 221 (227 f.); Nolte (Fn. 15), Art. 103 Abs. 1, Rn. 66. 62 Nolte (Fn. 15), Rn. 65. 63 BVerfG (K) NJW 1997, 1770 (1771); NJW 2005, 3346; NJW 2005, 3629; Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 35 f.; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 40; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 73; Brüning (Fn. 17); Art. 103, Rn. 41. 64 Vgl. etwa BVerfGE 11, 218 (220); 81, 97 (107); 83, 24 (35); 86, 133 (145); 96, 205 (216); 98, 218 (263); 105, 279 (311); BVerfG (K) NVwZ 1995, 1096 (1097); Brüning (Fn. 17) , Rn. 46; Degenhart (Fn. 34), Rn. 28; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 94; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Rn. 60. 65 Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 28; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 95; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Rn. 61. 66 BVerfGE 34, 344 (347); 53, 219 (222 f.); Pieroth (Fn. 34); Schulze-Fielitz (Fn. 34). 67 BVerfGE 20, 52 (55); BVerfG (K) NJW 1992, 2075; Pieroth (Fn. 34); SchulzeFielitz (Fn. 34); Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 43. 68 BVerwG NJW 1986, 2721; Brüning (Fn. 17); Pieroth (Fn. 34); Schulze-Fielitz (Fn. 34); Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 33; Ermüdungserscheinungen allein hindern die Aufnahmefähigkeit noch nicht (Nolte [Fn. 13], Art. 103 Abs. 1, Rn. 55; s. a. Brüning (Fn. 17), Rn. 43 m.w. N.).

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voraus69 – die Behörde oder das Gericht muss das Vorbringen zur Kenntnis nehmen wollen. Dementsprechend müssen alle fristgerecht eingegangenen Schriftsätze berücksichtigt werden70 und bei Anwendung von Präklusionsvorschriften darf der Ausschluss des Vorbringens nicht durch eine fehlerhafte Verfahrensgestaltung, etwa unklare Fristsetzung, verursacht werden71. Die Beachtenspflicht erstreckt sich auf das gesamte Vorbringen der Verfahrensbeteiligten, doch gilt insoweit ebenfalls der Grundsatz der potenziellen Erheblichkeit72: Es muss nur berücksichtigt werden, was für das Verfahren von wesentlicher Bedeutung ist oder zumindest sein kann73, wobei sich dies gemäß dem formellen und materiellen einfachen Recht bestimmt74, so dass hiernach nicht einschlägiges – und insbesondere abwegiges75 – Vorbringen nicht in die Erwägungen einbezogen zu werden braucht. Im Übrigen ist der Vortrag der Beteiligten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf seine Erheblichkeit und Richtigkeit für die zu treffende Entscheidung zu überprüfen76. Das Ausmaß dieser Verpflichtung richtet sich nach der Relevanz für das Verfahren und der Schwere einer geltend gemachten Grundrechtsverletzung77, gibt aber einem Verfahrensbeteiligten keinen Anspruch darauf, dass die Behörde oder das Gericht seinen Tatsachenbehauptungen folgt oder seine Rechtsansichten teilt78; aus dem Recht auf Gehör lässt sich auch kein Anspruch auf einen bestimmten Beratungsverlauf 79 oder eine bestimmte Beratungsdauer80 herleiten81. 69 Vgl. BVerfGE 27, 248 (251); 47, 182 (187); 51, 126 (129); 85, 386 (404); 86, 133 (146); Pieroth (Fn. 34), Rn. 29; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 94; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Rn. 62. 70 BVerfGE 42, 243 (246 f.); 64, 224 (227); 70, 288 (295); BVerfG (K) NJW 1995, 2095 (2096); Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 46; Pieroth, ebd.; Schulze-Fielitz, ebd. 71 BVerfGE 60, 1 (6); 69, 126 (139 f.); 81, 264 (273); Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 113; Pieroth, ebd. 72 Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 86, 97. 73 BVerfGE 47, 182 (187 f., 189); 58, 353 (357); 88, 366 (375 f.); Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 30; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 31; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Rn. 97; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 63. 74 BVerfGE 21, 191 (194); 60, 1 (5); 69, 141 (143 f.); 69, 145 (148); 70, 288 (294); 82, 209 (235); 84, 34 (58); 105, 279 (311); Degenhart, ebd.; Pieroth, ebd.; Schulze-Fielitz, ebd. 75 Vgl. BVerfG (K) NJW 1996, 2785; NJW 1997, 1433 f.; Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 46. 76 Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 31; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 97; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 63. 77 BVerfGE 86, 133 (146); Pieroth, ebd. 78 Vgl. BVerfGE 64, 1 (12); 76, 93 (98); 80, 269 (286); 87, 1 (33); BVerfG (K) NJW 1995, 2839; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 98; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 31; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 64. 79 BVerfG (K) NJW 1987, 2219. 80 BGHSt 37, 141 (143). 81 Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 64.

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Aus dem Recht auf Anhörung folgt die grundsätzliche Notwendigkeit zur Begründung der getroffenen Entscheidung82, weil die Beteiligten nur hieran erkennen können, ob ihr Vorbringen berücksichtigt worden ist83. Diese Verpflichtung, die sich nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte schon aus dem Grundsatz geordneter Rechtspflege gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK ergibt84, erstreckt sich auf alle für die Rechtsverfolgung oder -verteidigung wesentlichen Tatsachen und rechtlichen Überlegungen, die für die Entscheidung bestimmend waren85; andere Aspekte müssen, wenn sie insoweit keine Relevanz besitzen, nicht ausdrücklich erwähnt werden86. Geht die Begründung auf vorgebrachte erhebliche Tatsachenbehauptungen und Rechtsmeinungen nicht ein, so indiziert dies deren Nichtberücksichtigung87. So ist z. B. auch darzulegen, warum von einer höchstrichterlichen Rechtsprechung abgewichen wird88 oder warum kein Sachverständigengutachten eingeholt worden ist89; hingegen besteht keine Pflicht zur Zitierung anderer Entscheidungen90 und die Begründungspflicht kann durch den Verweis auf eine vorinstanzliche Entscheidung91, die Gründe eines Einspruchs- oder Widerspruchsbescheides92 oder der ursprünglichen Verwaltungsentscheidung ebenfalls erfüllt werden; denn für die Beteiligten muss lediglich erkennbar sein, dass ihr tatsächliches und rechtliches Vorbringen in die Erwägungen einbezogen worden ist. Die Begründungspflicht soll indes nach der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr gelten für Gerichtsentscheidungen, die mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr angefochten werden können93, und für

82 BVerfGE 54, 86 (91 f.); 71, 122 (135); 81, 97 (106); Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 50; Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 40; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 31; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 99; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Rn. 76. 83 Degenhart, ebd.; Pieroth, ebd.; Schmidt-Aßmann, ebd.; Schulze-Fielitz, ebd. 84 EGMR NJW 1999, 2429. 85 Vgl. BVerfGE 47, 182 (187, 189); 58, 353 (357); BVerfG (K) NJW 1996, 2786; NJW 1997, 122; BVerwG NVwZ 2007, 216 (218); Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 51; Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 40; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 33; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 99; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 76. 86 BVerfGE 22, 267 (274); 54, 86 (91 f.); 60, 305 (312); 69, 141 (143 f.); 115, 166 (180); Pieroth (Fn. 34), Rn. 32; Schmidt-Aßmann, ebd.; Schulze-Fielitz, ebd. 87 Schulze-Fielitz, ebd. 88 BVerfG (K) NJW 1995, 2911; NJW 1997, 187; Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 40; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 33; Schulze-Fielitz, ebd. 89 BVerwG DVBl 2002, 53; zustimmend Pieroth, ebd.; Schulze-Fielitz, ebd. 90 BVerfGE 80, 170 (181). 91 Vgl. BSG NJW 1997, 2003; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 76. 92 BFHE 169, 1 (2); Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 33; Schulze-Fielitz, ebd. 93 BVerfGE 50, 287 (289 f.); 71, 122 (135 f.); 81, 97 (106); 104, 1 (7 f.); ebenso Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 51; Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 40; Pieroth (Fn. 34), Rn. 32; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 100; s. aber BVerfGE 118, 212 (238), wonach auch für ein Revisionsgericht im Falle des § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO Begründungspflicht besteht.

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Erledigungsentscheidungen94. Dem kann bei Erledigungsentscheidungen im Hinblick auf die Begründung der Erledigungserklärung noch zugestimmt werden, es vermag aber hinsichtlich der letztinstanzlichen Entscheidungen nicht zu überzeugen95, weil der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht lediglich im Interesse der Rechtsmitteleinlegung gewährt ist und auch in der letzten Instanz noch vereitelt werden kann, wobei die verfassungsgerichtliche Geltendmachung deutlich erschwert wird. Der Verpflichtung zur Gewährung rechtlichen Gehörs entspricht es, dass keine Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet werden dürfen, die nicht Gegenstand des Verfahrens waren und zu denen sich die Beteiligten nicht äußern konnten96. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist gleichfalls beeinträchtigt, wenn ein Gericht seine Entscheidung ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem selbst ein gewissenhafter und kundiger Verfahrensbeteiligter auch unter Berücksichtigung der Vielfalt möglicher Rechtsauffassungen nach dem Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte97. Eine derartige „Überraschungsentscheidung“ liegt ebenso vor, wenn ein Gericht ohne Hinweis von seiner ständigen Rechtsprechung98 oder einer im Verfahren zugrunde gelegten Rechtsauffassung99 abweicht100. 2. Folgen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

Ein Verstoß gegen das Recht auf Gehör hat nicht die Unwirksamkeit oder Nichtigkeit der getroffenen Entscheidung zur Folge, sondern lediglich deren Aufhebbarkeit gemäß den generellen Rechtsmittelbestimmungen. Die Verletzung führt dann zur Aufhebung der Entscheidung, wenn nicht auszuschließen ist, dass i. S. potenzieller Kausalität101 die Gewährung rechtlichen Gehörs zu einem ande-

94

BVerfGE 13, 132 (149); BayVerfGH NVwZ 1993, 1083; Brüning, ebd.; Pieroth,

ebd. 95

Zweifelnd wohl auch Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 77. BVerfGE 6, 12 (14); BVerwGE 78, 30 (33); BGHZ 116, 47 (58); BFHE 195, 314 (316 f.); Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 33; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Rn. 76; ausführlich zu Aufklärungs- und Informationspflichten der Gerichte Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 16 ff. 97 BVerfGE 84, 188 (190); 86, 133 (144); 98, 218 (263); 108, 341 (345 f.); BVerfG (K) NJW 2003, 2524; BVerfG (K) NVwZ 2006, 684; NVwZ 2007, 688; BVerwGE 95, 237 (241); BFHE 1780, 396 (401); Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 21; Degenhart (Fn. 34), Rn. 17; Pieroth (Fn. 34), Rn. 42; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 140. 98 BVerwG NJW 1961, 1549. 99 BVerfGE 108, 341 (345 f.). 100 Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 42; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 141. 101 Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 79. 96

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ren, dem Beteiligten günstigeren Ergebnis geführt hätte102. Eine unterlassene Gehörsgewährung kann geheilt werden, indem sie auf derselben Stufe des Verfahrens oder aufgrund einer Rechtsbehelfs- oder Rechtsmitteleinlegung auf einer höheren Verfahrensebene nachgeholt wird103. Während das Verwaltungsverfahrensrecht diese Möglichkeit schon länger vorsieht104 und die Versagung rechtlichen Gehörs im Verwaltungsstreitverfahren und im Finanzgerichtsverfahren absoluter Revisionsgrund ist (§ 138 Nr. 3 VwGO; § 119 Nr. 3 FGO), hat der Gesetzgeber erst im Jahre 2004 die Grundlage für eine Anhörungsrüge in gerichtlichen Verfahren geschaffen (§ 321a ZPO; § 33a StPO; § 78a ArbGG; § 152a VwGO; § 133a FGO; § 178a SGG)105. Die Rüge ist bei dem Gericht zu erheben, das die gerügte Entscheidung erlassen hat, und wenn sie Erfolg hat, ist das Verfahren in der Lage fortzusetzen, in der es sich vor der mit der Rüge angegriffenen Entscheidung befand; gegen die Zurückweisung oder Verwerfung der Anhörungsrüge ist kein Rechtsbehelf gegeben. Mit diesem Institut kann freilich nur ein Eingriff in Art. 103 Abs. 1 GG durch ein Gericht geheilt werden; die Heilung einer Beeinträchtigung des Anspruchs auf rechtliches Gehör in einem Verwaltungsverfahren kann durch Antrag an die Behörde oder in einem Vorverfahren nach Einlegung eines Rechtsbehelfs erreicht werden, doch kann bei deren Erfolglosigkeit die unterlassene Anhörung zur Begründung einer Klage angeführt werden, allerdings auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz nachgeholt werden106. Für eine Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG durch ein Gericht ist die erfolglose Durchführung des Verfahrens nach Erhebung der Anhörungsrüge notwendige Voraussetzung107. Versäumt es der Betroffene, von dieser Möglichkeit oder von der Einlegung eines Rechtsmittels wegen der Gehörsverletzung Gebrauch zu machen, so kann er den Verstoß nicht durch Verfassungsbeschwerde geltend machen; er muss vielmehr – über die erforderliche Erschöpfung des Rechtsweges hinaus – alle für ihn verfügbaren, nicht offensicht-

102 BVerfGE 7, 95 (99); 60, 247 (249); 62, 392 (396); 86, 133 (147); 89, 381 (392); Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 41; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 160; Schulze-Fielitz, ebd. 103 BVerfGE 5, 9 (10); 62, 392 (397); 73, 322 (326 f.); Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 49; Degenhart, ebd.; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 13; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Rn. 80. 104 Vgl. § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG und die entsprechenden Vorschriften der Landesverwaltungsverfahrensrechte. 105 Gesetz über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör – Anhörungsrügengesetz – vom 9. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3220). 106 § 45 Abs. 2 VwVfG und die entsprechenden Vorschriften der Landesverwaltungsverfahrensrechte. 107 BVerfG (K) NJW 2005, 3059; NHW 2007, 3418 (3419); Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 41 f.; Pieroth (Fn. 34), Art. 103, Rn. 13; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 158; Schulze-Fielitz (Fn. 34), Art. 103 I, Rn. 82.

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lich unzulässigen prozessualen Instrumente einsetzen, um schon im Ausgangsverfahren eine Korrektur des geltend gemachten Verfassungsverstoßes herbeizuführen und so einen Eingriff in Art. 103 Abs. 1 GG zu verhindern108. Zur Begründung einer zulässigen Verfassungsbeschwerde reicht die bloße Behauptung eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht aus; der Betroffene muss vielmehr darlegen, was er bei hinreichender Gehörsgewährung vorgebracht hätte, weil nur so festgestellt werden kann, ob die Entscheidung im Ausgangsverfahren auf der Versagung des Gehörs beruht. Begründet ist auch eine Verfassungsbeschwerde, wenn nicht auszuschließen ist, dass bei einer Anhörung im Ausgangsverfahren die dort getroffene Entscheidung für den Beschwerdeführer günstiger ausgefallen wäre109. II. Faires Verfahren Das in Art. 103 Abs. 1 garantierte Recht auf Gehör ist ein Grundelement eines fairen Verfahrens, wie es in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK statuiert ist und seinerseits eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips darstellt110, das Organisation und Verfahren der Ausübung von Staatsgewalt bestimmt, allerdings in einer großen Zahl verfassungsrechtlicher Vorschriften schon seine je besondere Ausformung erhalten hat111. Der Grundsatz des fairen Verfahrens erfasst somit diejenigen Aspekte administrativer und gerichtlicher Verfahren, die nicht bereits in anderen Verfassungsnormen ihre meist spezielle Grundlage erhalten haben112, und Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, die im Grundgesetz keinen ausdrücklichen Niederschlag gefunden haben. Generell bedeutet der rechtsstaatlich begründete Anspruch auf ein faires Verfahren die Verpflichtung von Behörden und Gerichten, das Verfahren unter angemessener Berücksichtigung der Interessen der Verfahrensbeteiligten und widerspruchsfrei sowie in seinem Ablauf vorhersehbar113 zu gestalten, dabei Objektivität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten zu wahren und aus eigenen Versäumnissen keine Nachteile für die Beteiligten herzuleiten114.

108 BVerfGE 81, 22 (27); 81, 97 (102); 112, 50 (62); BVerfG (K) NJW 2007, 3054; Pieroth, ebd.; Schulze-Fielitz, ebd. 109 BVerfGE 7, 95 (99); 60, 247 (249); 62, 392 (396); 86, 133 (147); 89, 381 (392); Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 41; Schmidt-Aßmann (Fn. 15), Art. 103 Abs. I, Rn. 160; Schulze-Fielitz, ebd. 110 Vgl. auch BVerfGE 57, 250 (274 f.); 78, 123 (126); 89, 120 (129); 93, 99 (107); 101, 397 (405); 110, 226 (253); 110, 339 (342); Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 118. 111 Vgl. z. B. Bernd Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz (Stand: Januar 2011), Art. 20 VII, Rn. 129. 112 Vgl. auch Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 42. 113 Vgl. dazu BVerfGE 87, 48 (65); Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 119. 114 Vgl. auch BVerfGE 78, 123 (126).

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Der Anspruch auf ein faires Verfahren erlangt Bedeutung vor allem im Strafverfahren, namentlich als Recht auf eine wirksame Verteidigung115 und auf freie Wahl eines Verteidigers116, der das Vertrauen des Angeklagten besitzt117; auf dem Grundsatz fairen Verfahrens beruht auch das Institut der notwendigen Verteidigung118 und das Recht der Verteidigung, auf die Tatsachenermittlung einzuwirken119. Das in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK ausdrücklich geregelte Recht auf Anwaltsbeistand wird in der Rechtsprechung ebenso als ein spezielles Element des fairen Verfahrens gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK angesehen120 wie das Recht auf Konfrontation mit Belastungszeugen nach Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK121, das Recht auf prozessuale Waffengleichheit122 oder das Recht auf Vertraulichkeit des Gesprächs zwischen Rechtsanwalt und Mandant123. Art. 6 EMRK enthält hiernach ein Gesamtrecht auf ein faires Verfahren124 mit einigen ausdrücklich genannten Teilaspekten, das wesentliche rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze aufweist, partiell indes überlagert wird von expliziten Regelungen im deutschen Verfassungsrecht wie z. B. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG. Zum Fairnessgebot wird nicht nur die Unschuldsvermutung gezählt (Art. 6 Abs. 2 EMRK)125, sondern auch das Verbot, sich selbst einer Straftat bezichtigen zu müssen („nemo tenetur se ipsum accusare“)126; ebenso werden Mitwirkungsrechte unter Verweis auf das Rechtsstaatsprinzip begründet127 und Anforderungen an das Beweisverfahren hierauf zurückgeführt128. Mit dem Gebot einer fairen Verfahrensgestaltung ist es indes vereinbar, dass unter besonderen Voraussetzungen ein nur mittelbarer Beweis durch Urkunden (nach § 251 Abs. 2 StPO) erhoben wird. Angesichts der Ausgestaltung des Strafverfahrens mit seinen vielfältigen, sich gegenseitig verstärkenden und auf die Ermittlung der Wahrheit gerichteten Vorkehrungen ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts weitgehend Vorsorge gegen eine Verfälschung des Beweisergebnisses durch qua115 BVerfGE 38, 105 (118); 39, 156 (167); 57, 250 (24 ff.); 63, 45 (60); 64, 135 (145); 66, 313 (318); 109, 13 (34 f.); BVerfG (K) NJW 2004, 3319; Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 42. 116 BVerfGE 66, 313 (321 ff.); BVerfG (K) NJW 2001, 3695 (3696). 117 BVerfG (K) NJW 2001 3695; NJW 2007, 2749. 118 BVerfGE 65, 171 (174). 119 BVerfGE 63, 45 (70 ff.). 120 EuGH EuGRZ 2000, 160; EGMR NJW 1999, 2353, NJW 2001, 2387. 121 Vgl. EGMR JR 2006, 89. 122 Vgl. Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 44 m.w. N. 123 EGMR NJW 2007, 3409; s. hierzu auch BVerfG NJW 2007, 2749. 124 Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 44. 125 BVerfGE 74, 358 (370 f.); 82, 106 (114 ff.); BVerfG (K) EuGRZ 2002, 466. 126 EGMR EuGRZ 1996, 587; NJW 2006, 3117. 127 EGMR NJW 1999, 2353; NJW 2008, 3549 (3552). 128 EGMR EuGRZ 1999, 660;NJW 2006, 2753 (2755); BVerfGE 57, 250 (274 ff., 280 ff.); 63, 45 (69); BVerfG (K) JR 2004, 37.

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litativ möglicherweise geringwertige Beweismittel getroffen. Deshalb bleibt der Anspruch auf ein faires Verfahren auch unter diesen Umständen gewährleistet129. Für das zivilgerichtliche Verfahren gilt das Fairnessgebot ebenfalls130, besitzt hingegen nur geringere Relevanz131, etwa für das Verfahren vor dem Rechtspfleger, für das es ein Recht auf Anhörung begründet132. Der Grundsatz des fairen Verfahrens begründet darüber hinaus im Zivilprozess wie auch im Verwaltungsprozess ein Recht auf prozessuale Waffengleichheit133. Weiterhin ergibt sich aus dem Erfordernis fairer Verfahrensgestaltung, dass die durch die Anrufung der Gerichte entstehenden Kosten nicht außer Verhältnis zu dem mit dem Rechtsschutz erstrebten wirtschaftlichen Erfolg stehen dürfen134; dies gilt auch für die Kosten eines verwaltungsrechtlichen Widerspruchsverfahrens. Unbemittelten darf das Begehren von Rechtsschutz durch die zu erwartenden Gerichtskosten nicht unbillig vereitelt oder erschwert werden, ihnen muss vielmehr im Hinblick auf den Grundsatz fairen Verfahrens Prozesskostenhilfe gewährt werden, ohne dass eine völlige Gleichstellung mit Bemittelten erforderlich wäre135. Spezielle Bedeutung kommt dem Fairnessgebot in einem verfassungsgerichtlichen Parteiverbotsverfahren zu136: Die den politischen Parteien nach Art. 21 GG zustehende Staatsfreiheit137 gewährleistet, dass eine Einfügung der Parteien in den Bereich organisierter Staatlichkeit zu vermeiden und jegliche Einflussnahme des Staates auf ihre Willensbildung untersagt ist138. Daraus folgt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, dass die verfassungsrechtlich gewährleistete Staatsfreiheit nach der Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens ergänzt wird durch spezifische Grundsätze eines rechtsstaatlichen, fairen Verfahrens. Wird die Selbstdarstellung der Partei im verfassungsgerichtlichen Prozess beeinflusst durch eine mit dem Erfordernis strikter Staatsfreiheit nicht zu vereinbarende Zusammenarbeit von Mitgliedern der Führungsebene der Partei mit staatlichen Behörden, so führt dies zur Schwächung der Stellung der Partei als Antragsgegnerin mit der Folge eines rechtsstaatlich nicht behebbaren Verfahrensmangels, der ein faires Verfahren ausschließt und deshalb ein Verfahrenshindernis bildet.

129

BVerfGE 57, 250 (274 f.). Vgl. BVerfGE 78, 123 (126). 131 Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 47. 132 BVerfGE 101, 397 (404). 133 Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 49. 134 BVerfGE 85, 337 (346); Grzeszick (Fn. 111), Art. 20 VII, Rn. 137. 135 BVerfGE 22, 83 (86); 63, 380 (394 f.); 81, 347 (356 f.); 85, 337 (347); BVerfG (K) NJW 1997, 2745; Grzeszick, ebd. 136 Vgl. BVerfGE 107, 339 (363 ff.). 137 Vgl. nur BVerfGE 85, 264 (283, 287 f.). 138 Vgl. statt vieler Hans Hugo Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz (Stand: Januar 2011), Art. 21, Rn. 261 ff. m.w. N. 130

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Gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK ist die Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen Teil des Gebots eines fairen Verfahrens und darf lediglich unter besonders genannten Voraussetzungen eingeschränkt werden; dabei sieht die Bestimmung nicht nur eine „Saalöffentlichkeit“ vor, d. h. Öffentlichkeit im Raum der Gerichtsverhandlung, sondern erwähnt ausdrücklich in Satz 2 die Presse als Teil der Gerichtsöffentlichkeit. Auch das Bundesverfassungsgericht139 betont die rechtsstaatlichen Aspekte der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen, von den Geschehnissen Kenntnis zu nehmen und die durch die Gerichte handelnde Staatsgewalt einer Kontrolle in Gestalt des Einblicks der Öffentlichkeit zu unterziehen, weist jedoch auf das Persönlichkeitsrecht der am Verfahren Beteiligten, den Anspruch der Beteiligten auf ein faires Verfahren, das durch Ton- und Bildaufnahmen in der Verhandlung beeinträchtigt werden könne, sowie die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, insbesondere die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung140, als entgegenstehende Belange hin. Der Ausschluss der Medienöffentlichkeit in § 169 GVG trage diesen Belangen Rechnung und sei deshalb mit der Verfassung vereinbar; er ist unter diesen Voraussetzungen auch nach Art. 6 Abs. 1 EMRK zulässig. III. Zügiges Verfahren Aus dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG folgt schließlich das Erfordernis eines zügigen Verfahrens141 – im Interesse der Rechtssicherheit sollen strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden142. Welche Dauer noch akzeptabel ist, kann nicht generell festgelegt, sondern muss angesichts der Umstände des Einzelfalls festgestellt werden143. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aus dem Gebot des fairen Verfahrens in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK ebenfalls das Verbot überlanger Verfahrensdauer abgeleitet144 und dies auch auf Verfassungsgerichte erstreckt145; nach seiner Auffassung sind die Konventionsstaaten verpflichtet, ihr Justizwesen so zu gestalten, dass ihre Gerichte innerhalb angemessener Frist entscheiden können146. So ist etwa 139

BVerfGE 103, 44 (63 ff.). Vgl. dazu BVerfGE 33, 367 (382 f.); 77, 65 (76). 141 Vgl. z. B. BVerfGE 88, 118 (124); BVerfG (K) NJW 2000, 797; NJW 2003, 2225; NJW 2003, 2228; NJW 2004, 835 (836). 142 Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 52. 143 Vgl. z. B. EGMR NJW 1999, 3545 (3548); EuGRZ 2002, 325 (327); BVerfG (K) NJW 1997, 2811; NJW 1999, 2582 (2583); NJW 2000, 797; NJW 2001, 214; NJW 2004, 835 (836); NJW 2004, 3320; NJW 2005, 3485. 144 EGMR NJW 1999, 3545 (3548); NJW 2002, 2856; NJW 2002, 3452; NJW 2006, 2389; NJW 2007, 1259 (1262); NVwZ-RR 2006, 513. 145 Vgl. EGMR EuGRZ 1996, 514; NJW 1997, 2809; NJW 2001, 211; NJW 2001, 213; NJW 2005, 41. 146 EGMR NJW 2001, 213; ebenso Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 52. 140

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eine Verfahrensdauer von acht Jahren selbst bei chronischer Arbeitsüberlastung des Bundesverfassungsgerichts als zu lang beanstandet worden147. Ein zügiges Verfahren ist insbesondere in Strafsachen angesichts der Schwere einer möglichen Sanktion erforderlich, vor allem auch in Haftsachen148; für Betroffene in Untersuchungshaft begründet Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK einen Anspruch auf ein Urteil „innerhalb angemessener Frist“ 149. Eine von den Strafverfolgungsorganen zu vertretende erhebliche Verzögerung des Prozesses verletzt den Beschuldigten in seinem Recht auf ein faires Verfahren150. Der Anspruch auf ein faires Verfahren schließt auch die Verpflichtung der Behörde oder des Gerichts ein, eine Entscheidung dem Betroffenen ohne größere Verzögerung zukommen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat es allerdings offen gelassen, ob aus dem Rechtsstaatsprinzip die Notwendigkeit folgt, ein Urteil nicht mit einer Verzögerung von mehr als neun Monaten nach der mündlichen Verhandlung abzusetzen151. Indes sieht § 275 Abs. 1 StPO grundsätzlich eine Frist von fünf Wochen nach der Verkündung vor, innerhalb derer das Urteil abgesetzt werden muss152; die Arbeitsüberlastung eines Richters rechtfertigt eine Fristüberschreitung nicht153. Im Zivilprozess soll das Urteil gemäß § 310 Abs. 1, 2 ZPO innerhalb von drei Wochen nach der mündlichen Verhandlung in vollständiger Form abgefasst sein; im Verwaltungsprozess gilt gemäß § 116 VwGO grundsätzlich eine Frist von zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung für die Absetzung des Urteils. Darüber hinaus ist ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil nicht als mit Gründen versehen einzustufen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind mit der Folge, dass ein absoluter Revisionsgrund gemäß § 547 Nr. 6 ZPO, § 138 Nr. 6 VwGO, § 119 Nr. 6 FGO vorliegt154. Dies beruht auf der Erwägung, dass nach Ablauf einer Frist von fünf Monaten das Erinnerungsvermögen so weit beeinträchtigt ist, dass die Übereinstimmung der Urteilsbegründung mit dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung und dem Beratungsergebnis nicht mehr gewährleistet ist. Diese Überlegung muss auch für Entscheidungen im Widerspruchsverfahren und in anderen Verwaltungsverfahren gelten, sofern eine mündliche Verhandlung 147

EGMR NJW 2001, 213 (214). BVerfG (K) NJW 2001, 2707; NJW 2005, 3485; BGHSt 45, 308. 149 Vgl. EGMR EuGRZ 2001, 391; BVerfG (K) EuGRZ 2005, 168. 150 BVerfGE 63, 45 (69); BVerfG (K) NJW 2001, 357; NJW 2005, 1767; NJW 2005, 3485; EuGRZ 2005, 168 (170); ebenso Degenhart (Fn. 34), Art. 103, Rn. 52. 151 BVerfG (K) NJW 1996, 245. 152 Vgl. BGH NStZ-RR 2007, 88 zu einem Hinderungsgrund. 153 OLG Düsseldorf, Urt. vom 31. Januar 2006 – III-5 Ss 198/05 – 4/06 – (juris). 154 GmS-OBG BVerwGE 92, 367. 148

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vorgesehen ist155, weil hierbei die Annahme einer mit Ablauf der Zeit schwindenden Erinnerung gleichermaßen zutrifft. Darüber hinaus folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip ganz allgemein – und insbesondere gleichgültig, ob eine begünstigende oder eine belastende Entscheidung zu treffen ist – die Verpflichtung zur Verfahrensbeschleunigung durch die Behörde; denn dies dient der Schaffung von Rechtssicherheit. Gemeinsam mit dem Recht auf Gehör sichert das Gebot eines fairen, zügigen Verfahrens in rechtsstaatlich angemessener Weise den Grundrechtsschutz in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren156. Dabei ist nicht auszuschließen, dass einzelne Prinzipien miteinander kollidieren – das Recht auf Gehör und das Gebot eines fairen Verfahrens mögen mit der Pflicht zur Verfahrensbeschleunigung in Widerspruch geraten, doch ist eine derartige Kollision nicht nach Vorrangregeln, vielmehr im Einzelfall im Sinne der Herstellung praktischer Konkordanz aufzulösen157. Grundsätzlich finden die rechtsstaatlichen Verfahrensprinzipien nebeneinander Anwendung und gewährleisten damit einen weitgehend wirksamen Grundrechtsschutz, sie tragen wesentlich dazu bei, dass Verwaltungs- und Gerichtsverfahren nicht lediglich eine gemeinwohladäquate und aus staatlicher Sicht effiziente Entscheidungsfindung ermöglichen, sondern auch der Sicherung der Grundrechtsbeachtung dienen158.

155 Vgl. beispielsweise für das Widerspruchsverfahren vor einem Rechtsausschuss nach § 16 Abs. 1 Satz 1 des Saarländischen Ausführungsgesetzes zur Verwaltungsgerichtsordnung (AGVwGO) vom 5. Juli 1960 (Amtsbl. S. 558), zul. geänd. durch Gesetz vom 21. November 2007 (Amtsbl. 2008 S. 278) und für das förmliche Verwaltungsverfahren § 67 Abs. 1 Satz 1 VwVfG und die entsprechenden Vorschriften in den Landesverwaltungsverfahrensgesetzen. 156 Vgl. auch Brüning (Fn. 17), Art. 103, Rn. 118; Stern (Fn. 9), S. 1141. 157 Ähnlich Brüning (Fn. 17), Rn. 123. 158 So nahezu wörtlich die Forderung von Stern (Fn. 9), S. 1173, für das Verwaltungsverfahren.

Individualrechte und das Gebot konsistenter und kohärenter Rechtsetzung im deutschen und europäischen Recht Eine Untersuchung am Beispiel der Rechtfertigung von Lotterieveranstaltungsmonopolen Von Bernd Grzeszick I. Einleitung Die Prägung des Rechtsstaates durch Grundrechte und Grundfreiheiten ist zentraler Bestandteil der Forschungen von Klaus Stern. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, einer aktuellen dogmatischen Entwicklung des materiell-rechtlichen Individualrechtsschutzes nachzugehen: Dem Gebot konsistenter und kohärenter Rechtsetzung. Das Bundesverfassungsgericht hat in einigen jüngeren Entscheidungen zu staatlichen Grundrechtseingriffen diese und ähnliche Gebote entwickelt, um den grundrechtlichen Schutz der Individualfreiheit zu stärken, und damit eine umfassendere Debatte über diese Gebote ausgelöst.1 Aber nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern auch der Europäische Gerichtshof tendiert zunehmend zu einer Pflicht zu konsequenter und kohärenter Rechtsetzung. Dabei stellt Letzterer zum Teil sogar strengere Anforderungen. Besonders deutlich wird dies an drei Entscheidungen vom 8. September 2010,2 in denen der EuGH die unionsrechtlichen Anforderungen an nationale Glücksspielmonopole für das deutsche Glücksspielrecht konkretisiert und aus dem Gebot einer kohärenten Regelung für das deutsche Recht Nachbesserungsbedarf folgert. Die Frage, ob und wie sich dies auf die unionsrechtliche und die verfassungsrechtliche Bewertung des staatlichen Monopols für reguläre Lotterien auswirkt, 1 Dazu nur Waldhoff, in: Depenheuer/Heintzen/Jestaedt/Axer (Hrsg.), FS Josef Isensee, 2007, 325 ff.; Linder, ZG 22 (2007), 188 ff.; Michael, JZ 2008, 875 ff.; Bäcker, DVBl. 2008, 1180 ff.; Gröschner, ZG 23 (2008), 400 ff.; Kischel, in: Mellinghoff/Palm, Gleichheit im Verfassungsstaat, 2009, S. 175, 184 f.; Towfigh, Der Staat 48 (2009), 29 ff.; Müller-Franken, NJW 2009, 55; Drüen, ZG 24 (2009), 60 ff.; Meyer, ZG 24 (2009), 278 ff.; Lepsius, JZ 2009, 260 ff.; Drüen, JZ 2010, 91 ff.; Bumke, Der Staat 49 (2010), 77 ff.; Mehde/Hanke, ZG 2010, 381 ff.; Hebeler, DÖV 2010, 754 ff.; jew. m.w. N. 2 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07 – Stoß; Rs. C-46/08 – Carmen Media, Rs. C-409/06 – Winner Wetten.

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ist derzeit höchst umstritten.3 Dabei stellt sich vor allem die Frage nach den Voraussetzungen einer konsistenten und einer kohärenten Regelung des deutschen Glücksspielrechts. Die Klärung dieser Frage ist daher Gegenstand der folgenden Untersuchung. Ziel der Untersuchung ist aufzuzeigen, welche Vorgaben der Gesetzgeber bei der Neuregelung des Glücksspielrechts zu beachten hat, damit das deutsche Glücksspielrecht auch dem Europarecht genügt. Dazu wird zunächst das staatliche Lotteriemonopol in Deutschland skizziert (II.). Sodann werden die prinzipiellen Vorgaben der Berufsfreiheit (III.) und der Dienstleistungsfreiheit (IV.) für nationale Glücksspielmonopole dargestellt. Daraus werden Folgerungen für das deutsche Glücksspielrecht, insbesondere die Lotteriemonopole, gezogen (V.). Die Untersuchung schließt mit einem Fazit (VI.). II. Staatliches Monopol für die Veranstaltung nicht-einfacher Lotterien Glücksspiele werden in Deutschland grundsätzlich im Glücksspielstaatsvertrag reguliert. Ziel des GlüStV ist vor allem, das Entstehen von Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern und die Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen. Die Suchtbekämpfung ist nach der Begründung des GlüStV das zentrale Rechtfertigungselement der Glücksspielregulierung im GlüStV, und insbesondere die Monopole wie das Lotterieveranstaltungsmonopol werden derzeit vor allem mit der Bekämpfung der Spielsucht begründet.4 Ein Glücksspiel liegt nach § 3 Abs. 1 Satz 1 GlüStV vor, wenn im Rahmen eines Spiels für den Erwerb einer Gewinnchance ein Entgelt verlangt wird und die Entscheidung über den Gewinn ganz oder überwiegend vom Zufall abhängt. Die Zufallsabhängigkeit der Gewinnentscheidung ist gegeben, wenn die Gewinnentscheidung vom ungewissen Eintritt oder Ausgang zukünftiger Ereignisse abhängig ist. Auch Wetten auf den Ausgang oder Eintritt eines zukünftigen Ereignisses sind als Glücksspiel im Sinne des Staatsvertrags anzusehen. § 3 Abs. 3 Satz 1 GlüStV betrachtet Lotterien als Glücksspiele, bei denen einer Mehrzahl von Personen die Möglichkeit eröffnet wird, nach einem bestimmten Plan gegen ein bestimmtes Entgelt die Chance auf einen Geldgewinn zu erlangen. Für die Veranstaltung oder Vermittlung öffentlicher Glücksspiele besteht nach § 4 Abs. 1 Satz 1 GlüStV ein allgemeiner Erlaubnisvorbehalt. Bei der Zulassung von Lotterieveranstaltern unterscheidet der GlüStV danach, ob es sich um eine einfache Lotterie oder um eine sonstige Lotterie handelt. Für einfache Lotterien 3 Dazu nur Dietlein, ZfWG 2010, 159 ff.; Hilf/Ploeckl, EuZW 2010, 694 ff.; Jarass, Verfassungs- und europarechtliche Fragen des Lotteriemonopols, Gutachten, FOE 2010; Ohler, EuR 2010, 253 ff.; Dederer, NJW 2010, 198 ff.; ders., EuZW 2010, 771 ff.; Stein, ZfWG 2010, 353 ff.; Klöck/Klein, ZfWG 2010, 356 ff.; dies., NVwZ 2011, 22 ff.; Heidfeld, DVBl. 2010, 1547 ff.; Dhom, ZUM 2011, 98 ff.; Diesbach, ZUM 2011, 129 ff.; Schorkopf, DÖV 2011, 260 ff.; jew. m.w. N. 4 Erläuterungen zum GlüStV, BayLT-Drs. 15/8486, S. 9, 17.

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im Sinne von § 13 Abs. 2 GlüStV kann die erforderliche Erlaubnis zum einen Lotteriegesellschaften erteilt werden, die von den Ländern selbst oder durch von den Ländern beherrschte juristische Personen betrieben werden. Zum anderen kann eine Erlaubnis auch einem gemeinnützigen Veranstalter erteilt werden. Weitere Voraussetzungen für die Erteilung der Erlaubnis sind in §§ 12–17 GlüStV bestimmt. Für die Veranstaltung nicht-einfacher Lotterien darf die erforderliche Erlaubnis dagegen nach § 10 Abs. 5 GlüStV nur den Lotteriegesellschaften, die von den Ländern selbst oder durch von den Ländern beherrschte juristische Personen betrieben werden, erteilt werden. Weitere Voraussetzungen für die Erteilung der Erlaubnis einer nicht-einfachen Lotterie enthält der GlüStV nicht. Lediglich § 22 GlüStV bestimmt, dass nicht-einfache Lotterien mit einem planmäßigen Jackpot eine – nicht näher geregelte – Begrenzung des Jackpots erhalten müssen, und dass für nicht-einfache Lotterien mit mehr als zwei Veranstaltungen pro Woche ein Teilnahmeverbot für gesperrte Spieler und eine daraus folgende Identitätskontrolle möglich sein muss. III. Vorgaben der Berufsfreiheit für Glücksspielmonopole Maßstäbe für die grundrechtliche Zulässigkeit von Glücksspielmonopolen liefert vor allem die Berufsfreiheit. Das BVerfG hat die entsprechenden Vorgaben im Sportwetten-Urteil vom 28. März 2006 in Bezug auf Sportwetten konkretisiert.5 Die in diesem Urteil getroffenen Aussagen sind in zwei späteren Kammerbeschlüssen, in denen die Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden ausgesprochen wurde, nicht weiter in Frage gestellt worden. 1. Grundsätzliche Anforderungen der Berufsfreiheit an Glücksspielmonopole

Glücksspielmonopole sind wegen des vollständigen Ausschlusses privater Veranstalter grundsätzlich als objektive Berufswahlregelungen einzustufen.6 Objektive Berufswahlregelungen müssen grundsätzlich zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut zwingend geboten sein.7 Diese Grundsätze werden für den Bereich der Glücksspielregulierung durch einen spezifischen Einschätzungs- und Prognosespielraum des Gesetzgebers relativiert. Dem Gesetzgeber kommt in Bezug sowohl auf die Legitimität der verfolgten Ziele als auch auf die Geeignetheit und die Erforderlichkeit der eingreifenden Maßnahmen im Bereich des Glücksspiel5

BVerfGE 115, 276 ff. So Kolb, Die Veranstaltung von Glücksspielen, 2009, S. 100 f. In diese Richtung auch deutlich BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340. 7 BVerfGE 7, 377, 408; 11, 168, 183; 25, 1, 11; 40, 196, 218; 75, 284, 296; 84, 133, 151; 85, 360, 374; 97, 12, 32; 102, 197, 214 f. 6

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wesens ein Einschätzungs- und Prognosevorrang8 bzw. ein Beurteilungs- und Prognosespielraum9 zu. Diesen Spielraum überschreitet der Gesetzgeber erst, falls seine Erwägungen so offensichtlich fehlerhaft sind, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für die gesetzgeberische Maßnahme abgeben können.10 Ein Spielraum besteht auch in Bezug auf die Geeignetheit und die Erforderlichkeit der Maßnahmen: Maßnahmen, die der Gesetzgeber zum Schutz der Abwendung der Gefahren, die mit dem Veranstalten und dem Vermitteln von Glücksspielen verbunden sind, für erforderlich hält, sind nur dann verfassungswidrig, falls nach den dem Gesetzgeber bekannten Tatsachen und im Hinblick auf die bisher gemachten Erfahrungen feststellbar ist, dass Alternativen zur Verfügung stehen, die zwar die gleiche Wirksamkeit versprechen, aber die Betroffenen weniger belasten.11 Das Gebot der Regelungskonsistenz begrenzt nun den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Eine die Berufsfreiheit beschränkende Regelung kann nur verhältnismäßig sein, falls sie konsequent an dem mit ihr verfolgten Ziel ausgerichtet ist.12 Ein Glücksspielmonopol, das der Abwehr von Suchtgefahren dient, ist deshalb unverhältnismäßig, falls keine ausreichenden Regelungen getroffen werden, die sicherstellen, dass das Monopol auch tatsächlich diesem Ziel dient. Gefordert wird eine Konsistenz13 zwischen dem verfolgten Ziel, das den Eingriff der Monopolisierung rechtfertigen soll, und der tatsächlichen Ausrichtung des Monopols. Einschränkungen der Berufsfreiheit aus Gründen der Bekämpfung der Spielsucht sind deshalb nur verhältnismäßig, falls der Gesetzgeber durch entsprechende Vorgaben auch für eine konsequente Beschränkung der Angebote und Anreize zum Glücksspiel sorgt.14 Aus der Anforderung einer konsequenten bzw. konsistenten Zielausrichtung folgt aber nicht, dass alleine eine gleichmäßig intensive Beschränkung aller Glücksspiele verhältnismäßig ist. Denn dem Konsistenzgebot kann nicht nur durch ein Wettmonopol genüge getan werden, dessen Ausgestaltung sicherstellt, dass es wirklich der Suchtbekämpfung dient, sondern auch durch eine gesetzlich normierte und kontrollierte Zulassung privater Wettunternehmen.15 Dabei kommt es für die Vereinbarkeit eines staatlichen Wettmonopols mit Art. 12 Abs. 1 GG auf eine Kohärenz und Systematik des gesamten Glücksspielsektors einschließlich des gewerblich zugelassenen Automatenspiels grundsätzlich nicht an.16 Nö8

BVerfGE 115, 276, 308. BVerfGE 115, 276, 309; BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340, 1342 (Rn. 30, 44). 10 BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340 (Rn. 30) m. N. 11 BVerfGE 115, 276, 309; BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1342 (Rn. 44). 12 BVerfGE 115, 276, 310 f., 318. 13 BVerfGE 115, 276, 319. 14 BVerfGE 115, 276, 310. 15 BVerfGE 115, 276, 317. 16 BVerfG (K), NVwZ 2009, 1221, 1223 (Rn. 17). 9

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tig ist nur eine konsequente und konsistente Ausgestaltung des aus ordnungsrechtlichen Gründen beim Staat monopolisierten Angebots der jeweiligen Glücksspielform.17 2. Bestehende Glücksspielmonopole grundsätzlich gerechtfertigt

Auf der Grundlage der aufgezeigten Maßstäbe hat das BVerfG anerkannt, dass das Ziel der Bekämpfung der Spielsucht18 die Monopolisierung von Glücksspielen beim Staat grundsätzlich rechtfertigen kann. Dem steht prinzipiell auch nicht entgegen, dass die Suchtgefahren der monopolisierten Glücksspiele im Vergleich zu anderen Glücksspielen zum Teil deutlich geringer ausfallen. Zwar tragen insbesondere Lottospiele mit einer relativ niedrigen Ereignisfrequenz weniger zu einem problematischen oder pathologischen Spielverhalten bei als Geldspielautomaten und Kasinospiele.19 Allerdings steht dem Gesetzgeber im Bereich des Glücksspielwesens ein Einschätzungs- und Prognosevorrang20 bzw. ein Beurteilungs- und Prognosespielraum21 zu, weshalb alleine ein geringeres Suchtpotential der monopolisierten Glücksspiele die Legitimität der mit dem GlüStV verfolgten Ziele nicht in Frage stellt. Nach Ansicht des BVerfG konnte der Gesetzgeber bei der Implementierung des GlüStV im Jahr 2007 aufgrund von Studienergebnissen davon ausgehen, dass auch Lotterien in Abhängigkeit von den jeweiligen Veranstaltungsmerkmalen suchttypische Entwicklungsverläufe nehmen können, und dass eine Ausweitung des Glücksspielangebotes die bereits gegebene Suchtgefahr vergrößern wird. Die Länder waren deshalb nicht gehalten, Lotteriespiele wie z. B. das Zahlenlotto vom Geltungsbereich des GlüStV und der ihn umsetzenden und ergänzenden Landesgesetze auszunehmen.22 Entsprechendes gilt für das Gebot des mildesten Mittels. Zwar ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, der Folge- und Begleitkriminalität durch rechtliche Anforderungen an die Angebote privater Wettunternehmer entgegenzuwirken, deren Einhaltung durch Genehmigungsvorbehalte und behördliche Kontrollen sichergestellt werden kann.23 Das BVerfG nimmt allerdings auch in Bezug auf die Geeignetheit und die Erforderlichkeit der eingreifenden Maßnahmen einen Beurteilungs- und Prognosespielraum des Gesetzgebers an. Danach können Maßnahmen, die der Gesetzgeber zum Schutz der Abwendung der Gefahren, die mit dem Veranstalten und dem Vermitteln von Glücksspielen verbunden sind, für erforder17 18 19 20 21 22 23

BVerfG (K), NVwZ 2009, 1221, 1223 (Rn. 17). BVerfGE 115, 276, 304 f.; BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340. BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340 (Rn. 29). BVerfGE 115, 276, 308. BVerfGE 115, 276, 309; BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340, 1342 (Rn. 30, 44). BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340 (Rn. 30) m. N. BVerfGE 115, 276, 309.

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lich hält, nur beanstandet werden, falls feststellbar ist, dass Alternativen zur Verfügung stehen, die zwar die gleiche Wirksamkeit versprechen, aber die Betroffenen weniger belasten.24 Dies hat das BVerfG im Sportwettenurteil für ein auf Suchtgefahren gestütztes Glücksspielmonopol verneint und festgestellt, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Suchtgefahren angesichts seines Beurteilungsspielraums davon ausgehen durfte, dass diese Gefahren mit Hilfe eines auf die Bekämpfung von Sucht und problematischem Spielverhalten ausgerichteten Wettmonopols mit staatlich verantwortetem Wettangebot effektiver beherrscht werden können als im Wege der Kontrolle privater Wettunternehmer.25 Die Rechtfertigung des staatlichen Lotteriemonopols durch das Ziel der Bekämpfung der Spielsucht scheitert auch nicht daran, dass der Regelungsansatz des GlüStV insoweit nicht plausibel bzw. konsistent sein könnte, als er z. B. Lotterien, die ein relativ geringeres Suchtpotential haben, beim Staat monopolisiert, wohingegen der Gesetzgeber schon jetzt sonstige Glücksspiele wie Geldspielgeräte, die ein relativ höheres Suchtpotential haben, von Privaten betreiben lässt.26 Auch nach Ansicht des BVerfG ist zwar zu beachten, dass Einschränkungen der Berufsfreiheit aus Gründen der Bekämpfung der Spielsucht nur dann verhältnismäßig sind, wenn der Gesetzgeber durch Vorgaben für eine konsequente Beschränkung der Angebote und Anreize sorgt.27 Allerdings hat das BVerfG festgestellt, dass dem Konsistenzgebot sowohl durch eine konsequente Ausgestaltung des Wettmonopols Rechnung getragen werden kann, die sicherstellt, dass es wirklich der Suchtbekämpfung dient, als auch durch eine gesetzlich normierte und kontrollierte Zulassung gewerblicher Veranstaltung durch private Wettunternehmen.28 Dabei kommt es auf eine Kohärenz und Systematik des gesamten Glücksspielsektors einschließlich des gewerblich zugelassenen Automatenspiels für die Vereinbarkeit eines staatlichen Wettmonopols mit Art. 12 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht an.29 Verlangt wird nur eine konsequente und konsistente Ausgestaltung des aus ordnungsrechtlichen Gründen beim Staat monopolisierten Angebotes der jeweiligen Glücksspielform.30 Diese war nach Ansicht des BVerfG in den bisher gefällten Entscheidungen grundsätzlich gegeben.

24

BVerfGE 115, 276, 309; BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1342 (Rn. 44). BVerfGE 115, 276, 309. 26 Horn, in: Hermes/ders./Pieroth, Der Glücksspielstaatsvertag, 2007, S. 119 ff.; Fischer, Das Recht der Glücksspiele, 2009, S. 204 f.; Dietlein, ZfWG 2010, 159, 163 f. 27 BVerfGE 115, 276, 310. 28 BVerfGE 115, 276, 317. 29 BVerfG (K), NVwZ 2009, 1221, 1223 (Rn. 17). 30 BVerfG (K), NVwZ 2009, 1221, 1223 (Rn. 17). 25

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3. Neue tatsächliche Erkenntnisse über das Suchtpotential von Lottospielen

Allerdings könnte das Lottomonopol dadurch in Frage gestellt sein, dass aufgrund neuerer Erkenntnisse der Suchtforschung das Suchtpotential von Lotterien im Ergebnis so gering einzuschätzen ist, dass ein staatliches Monopol mit dem Grund der Suchtprävention nicht mehr zu rechtfertigen sein könnte. Das BVerfG hat ausgeführt, dass Lottospiele zwar wegen ihrer relativ niedrigen Ereignisfrequenz weniger zu einem problematischen oder gar pathologischen Spielverhalten beitragen als beispielsweise Geld- oder Glücksspielautomaten sowie Kasinospiele,31 aber dennoch einem Monopol unterstellt werden dürfen, da der Gesetzgeber im Bereich des Glücksspielwesens bei der Prognose und Einschätzung der Gefährdung über einen erheblichen Einschätzungs- und Prognosevorrang32 bzw. einen Beurteilungs- und Prognosespielraum33 verfügt, der erst überschritten ist, falls die Erwägungen des Gesetzgebers offensichtlich falsch sind und keine vernünftige Grundlage für die gesetzgeberische Maßnahme sein können.34 Dies war zwar nach Ansicht des BVerfG im Jahr 2008 in Bezug auf Lotteriespiele nicht der Fall, da die Erwägungen des Gesetzgebers durch eine Studie gestützt wurden, wonach auch Lotterien in Abhängigkeit von den jeweiligen Veranstaltungsmerkmalen suchttypische Entwicklungsverläufe nehmen können. Die Länder waren deshalb zum damaligen Zeitpunkt verfassungsrechtlich nicht gehalten, Lotteriespiele wie z. B. das Zahlenlotto vom Geltungsbereich des GlüStV und der ihn umsetzenden und ergänzenden Landesgesetze auszunehmen.35 Allerdings hat sich die Erkenntnislage hinsichtlich der Suchtgefahren von Lotteriespielen mittlerweile geändert. In einer Reihe von jüngeren Studien, die erst nach dem grundlegenden Sportwettenurteil des BVerfG und auch größtenteils erst nach den beiden Nichtannahmebeschlüssen des BVerfG publiziert worden sind, wird der Befund, dass Suchtgefahren und vergleichbare Probleme, die von Lotterien ausgehen, um ein vielfaches niedriger liegen als etwa bei Gewinnspielgeräten oder auch Roulettespielen in Spielbanken, weiter vertieft und quantifiziert.36 Die eindeutig zunehmende Erkenntnis, dass das Suchtpotential von Lotterien sehr gering ist, lässt es zweifelhaft erscheinen, ob in Zukunft ein Lotteriemo31

BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340 (Rn. 29). BVerfGE 115, 276, 308. 33 BVerfGE 115, 276, 309; BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340, 1342 (Rn. 30, 44). 34 BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340 (Rn. 30) m. N. 35 BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340 (Rn. 30) m. N. 36 Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung (Hrsg.), International vergleichende Analyse des Glücksspielwesens, 2009, insbes. S. 44, 209; Becker, Glücksspielsucht in Deutschland – Prävalenz bei verschiedenen Glücksspielformen, 2009, insbes. S. 57, 68; ders., ZfWG 2009, 1, 6; ders., Konzept für die Zukunft des Glücksspielwesens in Deutschland, 2010, S. 4. 32

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nopol auf den Grund der Suchtgefahr gestützt werden kann. Dem entsprechend wird in der aktuellen rechtswissenschaftlichen Literatur nahezu durchweg davon ausgegangen, dass die Begründung eines Lotterieveranstaltungsmonopols vor allem mit der Abwehr von Spielsucht bereits jetzt kaum noch oder nicht mehr möglich ist.37 Ob ein mit der Abwehr von Spielsucht begründetes Lotterieveranstaltungsmonopol aufgrund der inzwischen verfestigten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur nur äußerst geringen Suchtgefahr bei Lotterien einer intensiven verfassungsgerichtlichen Nachprüfung auch jetzt noch standhalten wird, ist daher zweifelhaft. IV. Vorgaben der Dienstleistungsfreiheit für Glücksspielmonopole Der EuGH hat bereits früher in einigen Entscheidungen die aus dem Unionsrecht folgenden Vorgaben für nationale Glücksspielregulierungen einschließlich nationaler Glücksspielmonopole abgeleitet.38 Diese Vorgaben sind nun in drei Urteilen vom 8. September 201039 auf die im GlüStV normierten Glücksspielmonopole angewendet worden. Die Urteile ergingen im Vorabentscheidungsverfahren und beruhen auf Vorlagen deutscher Verwaltungsgerichte. Diese hatten Zweifel an der Vereinbarkeit des deutschen Glücksspielrechts insbesondere mit der Garantie der Dienstleistungsfreiheit in Art. 49 EG, jetzt Art. 56 AEUV. In den Urteilen stellt der EuGH fest, dass die deutschen Gerichte angesichts der von ihnen in den vorliegenden Rechtssachen getroffenen Feststellungen berechtigten Anlass zu der Schlussfolgerung haben können, „dass ein solches Monopol nicht geeignet ist, die Erreichung des mit seiner Errichtung verfolgten Ziels, Anreize zu übermäßigen Ausgaben für das Spiel zu vermeiden und die Spielsucht zu bekämpfen, dadurch zu gewährleisten, dass es dazu beiträgt, die Gelegenheit zum Spiel zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen“,40 und dass sich deshalb das präventive Ziel des Monopols nicht mehr wirksam verfolgen lässt, so dass das Monopol so nicht mehr gerechtfertigt werden kann. 37 Dazu nur Nagel, DÖV 2010, 268 ff.; Hilf, EuZW 2010, 694, 695; Jarass, Verfassungs- und europarechtliche Fragen des Lotteriemonopols, Gutachten, FOE 2010, S. 29 f.; Bumke, Der Staat 49 (2010), 77, 83 f.; jew. m.w. N. 38 EuGH, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1039 – Schindler; Rs. C-124/97, Slg. 1999, I6067 – Läärä; Rs. C-67/98, Slg. 1999, I-7289 – Zenatti; Rs. C-6/01, Slg. 2003, I-8621 – Anomar; Rs. C-243/01, Slg. 2003, I-3076 – Gambelli; Rs. C-42/02, Slg. 2003, I-359 – Lindman; verb. Rs. C-338/04, C-359/04 und C-360/04, Slg. 2007, I-1932 – Placanica; Rs. C-42/07 – Liga Portuguesa; Rs. C-258/08 – Ladbrokes; Rs. C-203/08 – Sporting Exchange; verb. Rs. C-447/08 und C-448/08 – Sjöberg. 39 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07 – Stoß; Rs. C-46/08 – Carmen Media, Rs. C-409/06 – Winner Wetten. 40 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Rn. 117 unter 1.d) – Stoß; nahezu gleichlautend EuGH, Rs. C-46/08, Rn. 112 unter 2. – Carmen Media.

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Zur Begründung stellt der EuGH zunächst fest, dass die deutschen Regelungen über Sportwetten den freien Dienstleistungsverkehr und die Niederlassungsfreiheit beschränken. Beschränkungen können zwar aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses wie z. B. der Vermeidung von Anreizen zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen und der Bekämpfung der Spielsucht gerechtfertigt sein. Die nationalen Maßnahmen, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen, müssen aber zu ihrer Verwirklichung geeignet sein und dürfen nur solche Beschränkungen vorsehen, die dafür erforderlich sind. Dabei steht es den Mitgliedstaaten nach Ansicht des EuGH zwar frei, zur Lenkung der Spiellust und des Betriebs der Spiele in kontrollierte Bahnen staatliche Monopole zu schaffen, wenn die Mitgliedstaaten der Ansicht sind, dass in einem Monopol die mit Glücksspielen verbundenen Gefahren wirksamer beherrscht werden können als mit einem System, in dem privaten Veranstaltern die Veranstaltung von Wetten unter dem Vorbehalt der Einhaltung bestimmter Rechtsvorschriften erlaubt würde. Die Mitgliedstaaten müssen aber zum Beleg dafür, dass die innerstaatliche restriktive Maßnahme diesen Anforderungen genügt, alle Umstände darlegen, anhand derer die Gerichte feststellen können, dass diese Maßnahme dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt. Diese Möglichkeit der Rechtfertigung eines Monopols wird den Mitgliedstaaten allerdings nicht dadurch genommen, dass entsprechende Untersuchungen nicht schon bei Erlass der fraglichen Regelung vorlagen. Die Kohärenz der deutschen Glücksspielregulierung wird zwar nicht alleine dadurch in Frage gestellt, dass einige Glücksspielarten einem staatlichen Monopol unterliegen und für andere privaten Veranstaltern eine Erlaubnis erteilt wird, da diese Spiele unterschiedliche Merkmale aufweisen. Dennoch haben laut EuGH die deutschen Gerichte angesichts der von ihnen getroffenen Feststellungen Grund zu der Schlussfolgerung, dass die deutsche Regelung Glücksspiele nicht in kohärenter und systematischer Weise begrenzt. Zum einen führen die staatlichen Monopolinhaber intensive Werbekampagnen durch, um die Gewinne aus den Lotterien zu maximieren und entfernen sich damit selbst von den Zielen einer Begrenzung des Spielangebots und der Spielsuchtprävention, die das Bestehen dieser Monopole rechtfertigen. Zum anderen betreiben oder dulden die deutschen Behörden in Bezug auf Glücksspiele, die wie Kasino- oder Automatenspiele zwar nicht dem staatlichen Monopol unterliegen, aber ein höheres Suchtpotenzial aufweisen als die vom Monopol erfassten Glücksspiele, eine Politik, mit der zur Teilnahme an diesen Spielen ermuntert wird. Unter diesen Umständen können die deutschen Gerichte berechtigten Anlass zu der Schlussfolgerung haben, dass das derzeitige Glücksspielmonopol nicht geeignet ist, die Erreichung des mit seiner Errichtung verfolgten Ziels dadurch zu gewährleisten, dass es dazu beiträgt, die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in kohärenter und systematischer Weise zu

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begrenzen. Dass die Glücksspiele, die Gegenstand des genannten Monopols sind, in die Zuständigkeit der Länderbehörden fallen, während für die anderen Arten von Glücksspielen die Bundesbehörden zuständig sind, ist dabei unerheblich. V. Folgen für Regelungen eines Lotterieveranstaltungsmonopols 1. Anforderung einer übergreifend kohärenten Regelung

Die Vorgaben des EuGH verlangen erhebliche Änderungen des derzeitigen deutschen Glücksspielrechts. Der Gesetzgeber muss eine Glücksspielregulierung aufstellen, die der unionsrechtlichen Anforderung entspricht, das Schutzziel der Regelungen tatsächlich in hinreichend systematischer und kohärenter Weise zu erreichen. Das Kohärenzgebot ist dabei sowohl in Bezug auf das Ziel der Glücksspielregelung als auch auf das Schutzniveau der verschiedenen Glücksspielarten zu beachten. Dies schließt staatliche Glücksspielmonopole nicht prinzipiell aus. Nach Ansicht des EuGH können die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs und der Niederlassungsfreiheit durch die Glücksspielmonopole aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses wie der Vermeidung von Anreizen zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen und der Bekämpfung der Spielsucht gerechtfertigt sein.41 Auch können Monopole den Anforderungen der Geeignetheit und Erforderlichkeit zur Erreichung der mit ihnen bezweckten Ziele genügen. Nach Ansicht des EuGH können die Mitgliedstaaten im Rahmen ihres gesetzgeberischen Ermessens zu der Annahme kommen, mit einem solchen Monopol ließen sich die mit dem Glücksspielsektor verbundenen Gefahren wirksamer beherrschen als mit einem System, in dem privaten Veranstaltern die Veranstaltung von Wetten unter dem Vorbehalt der Einhaltung der in dem entsprechenden Bereich geltenden Rechtsvorschriften erlaubt würde.42 Insoweit steht es den Mitgliedstaaten frei, in dem Bestreben, die Spiellust und den Betrieb der Spiele in kontrollierte Bahnen zu lenken, staatliche Monopole zu schaffen, solange sie dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten.43 Allerdings verlangt der EuGH im Rahmen der Prüfung, ob ein solches Monopol geeignet ist, die Erreichung des mit seiner Errichtung verfolgten Ziels zu gewährleisten, als weitere Voraussetzung, dass das Monopol dazu beiträgt, die Gelegenheiten zum Spiel zu verringern und die Tätigkeiten in diesem Bereich in

41 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Rn. 74–76 – Stoß. 42 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Rn. 79–82 – Stoß. 43 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Rn. 82 – Stoß.

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kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen.44 Bei der entsprechenden Prüfung nimmt der EuGH – anders als das BVerfG – sämtliche zugelassenen Glücksspiele und deren Regelungen in den Blick. Das gegenteilige Vorbringen, wonach das Gemeinschaftsrecht das Erfordernis einer Gesamtkonsistenz aller Glücksspielregelungen nicht enthalte, wird vom EuGH explizit erwähnt45 und in der Sache deutlich zurückgewiesen.46 Für das Erfordernis der kohärenten und systematischen Regelung ist nach Ansicht des EuGH auch nicht relevant, ob die entsprechenden Regelungen Bundesrecht oder Landesrecht sind. Nach Ansicht des EuGH ist es unerheblich, dass die Glücksspiele, die Gegenstand des genannten Monopols sind, in die Zuständigkeit der Landesbehörden fallen, während für die anderen Arten von Glücksspielen die Bundesbehörden zuständig sind.47 2. Fortentwicklung eines auf Suchtgefahr beruhenden Lotteriemonopols

a) Einschränkung bisher gestatteter Glücksspieltätigkeiten Falls der Gesetzgeber am staatlichen Lotterieveranstaltungsmonopol festhalten und sich dazu weiterhin auf das Ziel der Suchtprävention stützen möchte, erfordert dies sowohl wegen der vom EuGH ausdrücklich erwähnten Unterschiede im Suchtpotential der verschiedenen Glücksspiele als auch wegen der im Vergleich zum BVerfG deutlich höheren Konsistenzanforderungen eine erhebliche Einschränkung der bisher privaten Betreibern gestatteten Glücksspieltätigkeiten. Falls der Gesetzgeber an den bestehenden Monopolen und deren Begründung aus den Suchtgefahren prinzipiell festhalten möchte, ist er aus Gründen der unionsrechtlich geforderten Kohärenz und Systematik dazu gezwungen, die weiteren Glücksspielarten gemäß ihrem jeweiligen Suchtpotential vergleichbar zu beschränken. Zudem sind auch die staatlichen Glücksspieltätigkeiten kohärent am Ziel der Suchtbekämpfung auszurichten, was auch für diesen Bereich des Glücksspiels erhebliche Einschränkungen erfordert. b) Einzelaspekte Diese grundsätzliche Konsequenz hat der EuGH in den Urteilen für einige Aspekte weiter konkretisiert. Als Antwort auf die Vorlagebeschlüsse und die entsprechenden Feststellungen der vorlegenden Gerichte hat der EuGH bestimmte Aspekte des Glücksspielwesens in Deutschland mit Blick auf die Anforderung 44 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Rn. 83, 88 ff. – Stoß. 45 EuGH, Rs. C-46/08, Rn. 26 – Carmen Media. 46 EuGH, Rs. C-46/08, Rn. 34, 68 f., 71 – Carmen Media. 47 EuGH, Rs. C-46/08, Rn. 69 f. – Carmen Media. So jetzt auch BVerwG, ZfGW 2011, 108 ff.

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einer kohärenten und systematischen Monopolregelung besonders kritisch gesehen: Die Werbung für Monopolspiele; die Freigabe anderer Glücksspiele für private Betreiber; und die Politik der Angebotsausweitung nicht monopolisierter Glücksspiele, die zudem ein höheres Suchtpotential haben als die dem Monopol unterliegenden Glücksspiele.48 aa) Restriktionen der Werbung der Monopolinhaber Aus diesen Passagen folgt zum einen die Notwendigkeit erheblicher Restriktionen im Bereich der Werbung des Monopolinhabers. Der Entscheidungssatz des Urteils ergibt gemeinsam mit der entsprechenden Passage der vorlaufenden Begründung49 im Umkehrschluss nicht nur, dass die Werbung nicht darauf abzielen darf, den Spieltrieb der Verbraucher zu fördern und sie zwecks Maximierung der aus den entsprechenden Tätigkeiten erwarteten Einnahmen zu aktiver Teilnahme am Spiel zu stimulieren. Vielmehr sind die Werbemaßnahmen des Inhabers eines solchen Monopols strikt auf das zu begrenzen, was erforderlich ist, um die Verbraucher zum Angebot des Monopolinhabers hinzulenken und sie damit von anderen, nicht genehmigten Zugangskanälen zu Spielen wegzuführen.50 Weiter folgt aus der entsprechenden Passage der Urteilsbegründung, dass der Ausschluss einer Anregung zu aktiver Teilnahme am Spiel sowohl Verharmlosungen des Spiels als auch das Verleihen eines positiven Images ausschließt, das daran anknüpft, dass die Einnahmen für Aktivitäten im Allgemeininteresse verwendet werden (z. B. zur finanziellen Unterstützung sozialer, kultureller und sportlicher Aktivitäten).51 Schließlich ist es problematisch, die Anziehungskraft des Spiels durch zugkräftige Werbebotschaften, die bedeutende Gewinne in Aussicht stellen, zu erhöhen. bb) Restriktionen der bisher Privaten gestatteten Glücksspieltätigkeiten Die Kritik des EuGH in Bezug darauf, dass andere Arten von Glücksspielen von privaten Veranstaltern, die über eine Erlaubnis verfügen, betrieben werden dürfen, spiegelt die oben bereits dargelegte prinzipielle Folge einer auf Spielsuchtgefahren begründeten Monopolregulierung wieder: Falls der Gesetzgeber an den bestehenden Monopolen und deren Begründung aus den Suchtgefahren grundsätzlich festhalten möchte, ist er aus Gründen der nötigen Kohärenz und

48 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Rn. 107 iv) – Stoß. 49 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Rn. 100 f., 103 f. – Stoß. 50 BVerwG, ZfGW 2011, 108 ff. 51 BVerwG, ZfGW 2011, 108 ff.

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Systematik dazu gezwungen, die weiteren Glücksspielformen und -arten gemäß ihrem Suchtpotential vergleichbar zu beschränken. Aus der Beibehaltung eines mit Suchtgefahr begründeten Lottomonopols resultiert deshalb ein hoher Regulierungsdruck auf sämtliche andere Glücksspieltätigkeiten, insbesondere auf die privat betriebenen Spielbanken und das gewerbliche Spiel, da unbestritten feststeht, dass von Lottospielen im Vergleich zu anderen Glücksspielen eine deutlich geringere Suchtgefahr ausgeht. Daneben verursacht aber auch die Beibehaltung eines mit Suchtgefahr begründeten Sportwettenmonopols erhebliche Anpassungszwänge insoweit, als Kasinospiele in privaten Spielbanken und Automatenspiele (gewerbliches Spiel) nach den Ausführungen des EuGH ein höheres Suchtpotential aufweisen als Sportwetten.52 Angesichts des sowohl größeren als auch relativ großen Suchtpotentials von Kasino- und Automatenspielen besteht demnach bei Beibehaltung der derzeit bestehenden Monopolbegründung und -ausgestaltung ein ganz erheblicher Anpassungsdruck dahin, diese Glücksspiele mindestens ebenfalls einem staatlichen Veranstaltungsmonopol oder einer ähnlich intensiven Regulierung zu unterwerfen. Soweit das Kohärenzproblem in diesem Bereich dadurch gelöst werden soll, dass die Angebote von Kasino- und Automatenspielen restriktiver reguliert und damit deren Suchtpotential gesenkt werden soll, ist zu beachten, dass bei Fortbestand eines auf Suchtgefahr gegründeten Lotterieveranstaltungsmonopols das Suchtpotential von Kasino- und Automatenspielen im Ergebnis so gering sein muss, dass es nach Möglichkeit kleiner als das der Lottospiele, keinesfalls aber größer ist. Vor allem hinsichtlich des Automatenspiels sind auf jeden Fall äußerst weitgehende Restriktionen erforderlich. Zudem folgt aus dem Kohärenzgebot, dass das im Ergebnis verbleibende private Automatenspiel auch mit den Schutzvorkehrungen versehen werden muss, die zum Teil bereits jetzt bei der staatlichen Sportwette und auch bei Kasinospielen einschließlich der dort aufgestellten Geldspielgeräte bestehen, also ein Spielen nur mit Kundenkarte und einem angeschlossenen Sperrsystem. Da insoweit keine nennenswerten suchtspezifischen Unterschiede bestehen, müssen die im Automatenbereich der staatlichen Spielbanken bestehenden Beschränkungen im Grundsatz auf das übrige Automatenspiel ausgedehnt werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass Spielsüchtige von den staatlichen Kasinos wegen der Zugangskontrollen und der Sperrdatei verstärkt in das private Automatenspiel abwandern, was die Erreichung des Ziels der Suchtbekämpfung ins Leere laufen ließe.

52 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Rn. 100 – Stoß. So auch BVerfGE 115, 276 ff. Rn. 100; BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340 (Rn. 29).

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Aus der entsprechenden Passage der Urteilsbegründung53 ergibt sich schließlich, dass die vorgenannten Grundsätze gleichfalls für die von privaten Veranstaltern betriebenen Pferdewetten gelten. Dass Sportwetten wegen ihres Suchtpotentials grundsätzlich einem staatlichen Veranstaltungsmonopol vorbehalten sind, aber Pferdewetten, die nur ein Unterfall der allgemeinen Sportwette sind, davon ausgenommen werden, steht prinzipiell im Widerspruch zum unionsrechtlichen Gebot einer kohärenten und systematischen Glücksspielregulierung. Da es hinsichtlich des Suchtpotentials keine hinreichenden Unterschiede zwischen Pferdewetten und anderen Sportwetten gibt,54 und da Pferdewetten im Vergleich zu anderen Sportwetten auf einzelne Sportarten auch kein zu vernachlässigendes Volumen haben,55 weshalb Pferdewetten als eine bedeutende Teilmenge der Sportwette anzusehen sind,56 ist auch hier eine Änderung nötig, um eine kohärente Regelung zu erreichen. Die Beibehaltung der auf Spielsucht gestützten Staatsmonopole begründet daher einen ganz erheblichen Anpassungsdruck dahin, auch Pferdewetten dem staatlichen Veranstaltungsmonopol zu unterwerfen. Zudem ist die Zulässigkeit des Internetvertriebs der Pferdewette bei gleichzeitigem Internetverbot der Sportwette unter Kohärenzgesichtspunkten nicht zu rechtfertigen. cc) Restriktionen aller Glücksspielangebote Soweit der EuGH seine Kritik daran anknüpft, dass die zuständigen Behörden in Bezug auf andere Arten von Glücksspielen, die nicht unter das Monopol fallen und zudem ein höheres Suchtpotential als die dem Monopol unterliegenden Spiele aufweisen, eine zur Entwicklung der Spieltätigkeit geeignete Politik der Angebotserweiterung betreiben oder dulden, um insbesondere die aus diesen Tätigkeiten fließenden Einnahmen zu maximieren, bestätigt dies die zuvor begründete Notwendigkeit weitgehender Änderungen des derzeitigen deutschen Glücksspielwesens. Soll das auf Suchtbekämpfung begründete Monopol für Lotterieveranstaltungen und Sportwetten beibehalten werden, sind deshalb insbesondere die Bedingungen für den Betrieb von Spielautomaten in Spielhallen, Schank- und Speisewirtschaften sowie Beherbergungsbetrieben ganz erheblich zu verschärfen und unterliegt die Regulierung dieser Spielangebote einem ganz erheblichen Druck in die Richtung, gleichfalls einem staatlichen Monopol oder einer ähnlich intensiven Regulierung unterstellt zu werden. 53 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Rn. 100 – Stoß. 54 Zum Suchtpotential der Pferdewetten nur Meyer/Hayer, Das Gefährdungspotenzial von Lotterien und Sportwetten, Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, 2005. 55 Dazu nur Schneider/Maurhart, Marktuntersuchung zum deutschen Markt für Pferderennwetten, 2010. 56 So ausdrücklich VG Dresden, Urteil vom 13.01.2010 – 6 K 2436/05 –, Seite 23.

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c) Nachweis eines tatsächlich bestehenden Rechtfertigungsgrundes nötig Unabhängig von den vorstehenden Gründen ist die Beibehaltung eines auf Suchtgefahr gestützten Monopols auch deshalb problematisch, weil – wie oben gezeigt – vor allem für das Lottospiel mittlerweile Erkenntnisse vorliegen, nach denen die Suchtgefahr tatsächlich als sehr gering einzuschätzen ist. Damit stellt sich auch aus der Sicht des Unionsrechts die Frage, ob angesichts der eindeutig zunehmenden Erkenntnisse, dass das Suchtpotential von Lotterien sehr gering ist, ein Lotteriemonopol künftig mit dieser Begründung gerechtfertigt werden kann. Denn auch im Unionsrecht sind die Gründe, die ein staatliches Monopol rechtfertigen, vom nationalen Gesetzgeber nachzuweisen; er trägt letztlich die Rechtfertigungslast für die im Monopol liegenden Beschränkungen der Grundfreiheiten. Etwas Gegenteiliges folgt auch nicht daraus, dass nach Ansicht des EuGH zum Beleg dafür, dass eine innerstaatliche restriktive Maßnahme den unionsrechtlichen Anforderungen an Glücksspielmonopole genügt, die Mitgliedstaaten nicht notwendigerweise Untersuchungen vorlegen müssen, die dem Erlass der fraglichen Regelung zugrunde lagen. Aus der entsprechenden Passage des Urteils ergibt sich eindeutig, dass der EuGH sich damit auf das Urteil Lindman bezieht und damit allein das Erfordernis des Zeitpunktes eines Nachweises durch Untersuchungen relativiert.57 Der EuGH stellt lediglich klar, dass entsprechende Untersuchungen nicht notwendigerweise bereits vor Erlass einer restriktiven Maßnahme vorliegen müssen. Hinreichend, aber eben auch notwendig ist, dass solche sachverständigen Untersuchungen später im Prozess vorgelegt werden können. Dabei gelten besonders hohe Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast, wenn das Ziel der Suchtprävention verfolgt, also die Abwehr von Gesundheitsgefahren bzw. die Vorsorge gegen Gesundheitsrisiken bezweckt wird.58 Insbesondere hat der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung betont, dass zwar nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Bekämpfung der Glücksspielabhängigkeit dem Schutz der öffentlichen Gesundheit zugeordnet werden kann; doch müssen die Mitgliedstaaten dazu nachweisen, dass diese Krankheit in ihrer Bevölkerung so weit verbreitet ist, dass sie als Gefahr für die öffentliche Gesundheit angesehen werden kann.59 Aus den vorstehenden Überlegungen kann schließlich ohne weiteres abgeleitet werden, dass die Mitgliedstaaten jedenfalls bereits vorhandene wissenschaftliche Untersuchungen insbesondere dann zur Kenntnis nehmen müssen, wenn diese Untersuchungen die Gründe, die dem Erlass der fraglichen Regelung zugrunde lagen, in Frage stellen. Daraus folgt, dass das Problem, dass nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen das Suchtpotential zumindest von Lotterien tatsächlich sehr gering und 57 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Rn. 70–72 – Stoß. 58 Dederer, EuZW 2010, 771, 773 f. m. N. 59 EuGH, Rs. C-153/08, Rn. 40 – Kommission/Spanien.

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möglicherweise so gering ist, dass es ein Monopol angesichts einer grundrechtlichen Rechtfertigungslast nicht zu rechtfertigen vermag, nicht nur für das deutsche Verfassungsrecht, sondern auch und in deutlich größerem Maß für das Unionsrecht und das Erfordernis der Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten relevant ist. 3. Alternative: Lotteriemonopol wegen Schutz vor Betrug und Manipulationen

Eine andere Möglichkeit auf die Vorgaben des EuGH zu reagieren, besteht darin, das Lotterieveranstaltungsmonopol beizubehalten, aber anders zu begründen. Möglicher Rechtfertigungsgrund einer entsprechenden staatlichen Regulierung ist der Schutz der Spielteilnehmer vor Betrug und Manipulationen durch die Glücksspielanbieter. Ein so begründetes Monopol kann dem unionsrechtlichen Kohärenzgebot entsprechen, falls Sportwetten für private Anbieter geöffnet werden. a) Anforderung einer kohärenten und systematischen Begrenzung von Glücksspielen Der EuGH verlangt, dass durch die Regulierung die Glücksspiele in kohärenter und systematischer Weise begrenzt werden, und sich das präventive Ziel des Monopols wirksam verfolgen lässt. Die entsprechenden restriktiven Maßnahmen müssen dazu geeignet sein, die Verwirklichung des Ziels dadurch zu gewährleisten, dass sie dazu beitragen, die Glücksspieltätigkeiten in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen. Diese Anforderungen sind erfüllt, denn bei Lottospielveranstaltungen sind die Intransparenzen und Manipulationsmöglichkeiten strukturell größer als bei einer Reihe anderer Glücksspiele, insbesondere auch größer als bei Sportwetten. Der Grund dafür ist vor allem die unterschiedliche Transparenz des Spielbetriebs.60 Lotterien sind aus einer Reihe von Gründen für die Teilnehmer deutlich weniger transparent als Sportwetten. Zum einen liegen bei Lotterien das Ereignis, auf das gewettet wird, und das Wettspiel auf das Ereignis in einer Hand, nämlich in der des Lottoveranstalters. Die Ermittlung des Ereignisses liegt allein im Organisationsbereich des Spielveranstalters. Dagegen wird bei Sportwetten auf ein von dritter Seite veranstaltetes Ereignis gewettet, das typischerweise nicht im Organisationsbereich des Wettunternehmers liegt. Bereits dieser Tatbestand bedingt, dass bei Lotterien die Intransparenzen und Manipulationsmöglichkeiten durch den Veranstalter grundsätzlich strukturell größer sind als bei Sportwetten. 60

BVerfG (K), NVwZ 2008, 1338, 1340 (Rn. 32).

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Zum anderen sind bei Lotterien die Gewinnwahrscheinlichkeiten sehr viel kleiner und derart gering, dass ein rationaler Umgang damit im Sinne einer ökonomischen Kalkulation im praktischen Alltag zumindest sehr schwierig, wenn nicht nahezu unmöglich ist. Daher können Veränderungen des Spielbetriebs bei Lotterien, die wie z. B. die Erhöhung der Zahl der Lose oder der Zahlen, aus denen die Gewinnzahlen ausgewählt werden, die Gewinnwahrscheinlichkeit erheblich reduzieren, von den Teilnehmern in ihrer Wirkung nur schwer eingeschätzt werden. Weiter ist das Risiko von Manipulationen des Glücksspielanbieters bei Lotterien für die Teilnehmer deshalb erhöht, weil der Markt von Lotterien ökonomische Besonderheiten aufweist.61 Ein großer Reiz von Lotterien liegt für Teilnehmer darin, bei geringem Einsatz einen extrem großen Höchstgewinn erzielen zu können. Dieser Anreiz fördert bei einem offenen Markt das Entstehen von wenigen Lotterien mit einer jeweils großen Teilnehmeranzahl, da solche Lotterien in besonderem Maße große Höchstgewinne bei geringen Einsätzen generieren können. Dem Lotteriewesen ist damit eine wettbewerbswirtschaftliche Tendenz zu immer größeren Lotterien und somit letztendlich zu einer einzigen Lotterie immanent. Lotterien unterscheiden sich darin deutlich von anderen Glücksspielen und insbesondere von Sportwetten, bei denen dieser Effekt nicht angelegt ist. Bei Lotterien werden deshalb auf Dauer die Marktzutrittsschranken ausgeprägter sein und sich deutlich weniger Veranstalter etablieren können als bei anderen Glücksspielen. Die so signifikant eingeschränkte Veranstalteranzahl erhöht aber zugleich für den Teilnehmer das Risiko, Opfer einer Manipulation oder eines Betrugs zu werden. Schließlich hängt die Gewinnhöhe bei Lotto und Toto von der Zahl der Teilnehmer und der richtigen Tipps ab. Diese Faktoren kann der Teilnehmer bei seiner Entscheidung über die Teilnahme weder kontrollieren noch kennen, wogegen bei Sportwetten diese Faktoren zumindest zum Teil bekannt sind und im Übrigen, wie bereits erwähnt, typischerweise nicht in der Hand des Wettveranstalters liegen, sondern regelmäßig außerhalb dessen regulären Einflussbereiches. Das BVerfG geht noch einen Schritt weiter und nimmt an, dass die Betrugsund Manipulationsmöglichkeiten im Bereich von Sportwetten generell geringer seien als bei Lotterien. Dazu verweist es darauf, dass bei Sportwetten Betrugsgefahren durch manipulierte Spielgeräte und Spielmittel oder durch Einflussnahme auf den Spielverlauf in geringerem Maße bestünden als bei anderen Glücksspielen, insbesondere als bei Lotto.62 Auch die Übervorteilung der Spieler durch Täuschung über die Gewinnchancen sei bei Sportwetten geringer, da Risiko und Gewinnchance aufgrund der offengelegten Gewinnquoten transparenter sind als 61 Zum Folgenden Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung (Hrsg.), International vergleichende Analyse des Glücksspielwesens, 2009, Teil II, S. 32. 62 BVerfGE 115, 276, 306.

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bei anderen Glücksspielen.63 Darüber hinaus sei das Kriminalitätsrisiko bei Lotteriespielen deshalb erhöht, weil im Lotteriebereich vom Veranstalter hohe Gewinne erzielt werden könnten. Wegen der mit Sportwetten erzielbaren Gewinne sei dieser Bereich zwar für den Einstieg des organisierten Verbrechens durchaus attraktiv.64 Da die für den Veranstalter erzielbaren Gewinne im Lotteriebereich aber deutlich höher ausfielen als im Sportwettenbereich, sei hier auch die Gefahr eines Einstiegs der organisierten Kriminalität gleichfalls höher. Im Ergebnis werden die Betrugs- und Manipulationsrisiken zwar nur schwer zu quantifizieren und zu vergleichen sein. Allerdings bedarf die Frage, ob die Annahmen des BVerfG über den tatsächlichen Umfang von Betrug und Manipulation zutreffen, hier keiner abschließenden Beantwortung. Denn die hier durchzuführende Prüfung fordert einen Vergleich zwischen Monopolen für die Veranstaltung von Glücksspielen. Für diesen Vergleich ist aber der oben dargelegte Unterschied maßgeblich, dass bei Lotto vom Veranstalter des Glücksspielereignisses glücksspielspezifisch ein strukturell erhöhtes Risiko von Betrug und Manipulation ausgeht, wogegen bei Sportwetten die Risiken von Betrug und Manipulation nicht vom Veranstalter der Wette, sondern von Dritten ausgehen. Daher können diese Risiken bei Lottospielen durch ein Monopol der Glücksspielveranstalter eingedämmt werden, nicht aber bei Sportwetten. Dass ein so begründetes Lotterieveranstaltungsmonopol unionsrechtlich zulässig ist, wird durch das Urteil des EuGH vom 8. September 2009 bestätigt.65 In diesem Fall war der Glücksspielbetrieb von Lotterien und Sportwetten in einem Mitgliedstaat bei einer Stelle monopolisiert, die zwar wohl privatrechtlicher Qualität war, aber einer außergewöhnlich engen staatlichen Führung und Überwachung unterlag; anderen Anbietern waren Veranstaltung und Vermittlung dieser Glückspiele verboten. Der Mitgliedstaat stützte dieses Monopol vor allem auf den Schutz der Glückspieler vor Betrug durch die Anbieter.66 Im Urteil ist der EuGH der Ansicht, dass eine derartige Regelung das unionsrechtliche Gebot der Konsistenz, wonach die Schutzmaßnahme tatsächlich dem Anliegen gerecht werden muss, das Schutzziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen, erfüllt.67 Dass diese Argumentation erst recht greift, falls der Lottoveranstalter der staatlichen Verwaltung organisatorisch untergeordnet oder gar eingegliedert ist, liegt auf der Hand. Damit zeigt sich, dass nach den Maßstäben der EuGH-Rechtsprechung eine Glücksspielregulierung, die staatliche Lotterieveranstaltungsmonopole vorsieht, um die Teilnehmer vor allem vor Manipulationen und betrügerischen Machenschaften der Glücksspielanbieter zu schützen, unionsrechtlich zulässig sein kann. 63 64 65 66 67

BVerfGE 115, 276, 306. BVerfGE 115, 276, 306. EuGH, Rs. C-42/07 – Liga Portuguesa. EuGH, Rs. C-42/07 Rn. 62 – Liga Portuguesa. EuGH, Rs. C-42/07 Rn. 61 ff. – Liga Portuguesa.

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Allerdings folgt daraus mit Rücksicht auf die Anforderung, dass die Schutzmaßnahme tatsächlich dem Anliegen gerecht werden muss, das Schutzziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen, die Konsequenz, dass Glücksspiele, die strukturell grundsätzlich weniger anfällig für Manipulationen und Betrug durch den Veranstalter sind als Lotterien, bei denen der Glücksspielanbieter grundsätzlich nur das Glücksspiel organisiert und auf das Gewinnereignis typischerweise keinen Einfluss hat, der Betätigung privater Betreiber geöffnet werden müssen; dies erfasst insbesondere auch Sportwetten. Eine Glücksspielregulierung, die staatliche Lotterieveranstaltungsmonopole vorsieht, um Bürger vor allem vor Manipulationen und betrügerischen Machenschaften durch die Glücksspielanbieter zu schützen, den Bereich der Sportwetten aber nicht für private Anbieter öffnet, obwohl in diesem Bereich das Risiko betrügerischer Machenschaften und irreführender Werbung, strukturell geringer ist, ist unionsrechtlich sehr zweifelhaft, da sie zur unionsrechtlichen Anforderung an eine kohärente und systematische Begrenzung der Glücksspieltätigkeiten in evidenter Spannung steht. Ein Monopol für die Veranstaltung von Sportwetten kann auch nicht mit dem Ziel des Schutzes der Integrität des Sports gerechtfertigt werden. Denn bei Sportwetten sind die typischen Betrugsgefahren dadurch gekennzeichnet, dass die betrügerischen Manipulationen nicht vom Veranstalter der Sportwette ausgehen, sondern von Dritten. Ein Staatsmonopol für die Veranstaltung der Wetten ist aber von vornherein nicht geeignet, dieser Gefahr entgegenzuwirken, da die Monopolrechtfertigung auf der besseren Kontrolle des und durch den Wettveranstalter beruht, nicht auf der Kontrolle bzw. dem Ausschluss von Einflussnahmen Dritter. Wie bereits ausgeführt, ist dies bei Lottoveranstaltungen anders: Bei diesen besteht strukturell eine erhöhte Gefahr betrügerischer Manipulationen durch den Veranstalter, weshalb ein Lottomonopol gerechtfertigt sein kann. Dies ist auch – wie gezeigt – der Grund dafür, dass eine Öffnung des Sportwettenwesens für private Wettanbieter der Beibehaltung eines Lotterieveranstaltungsmonopols, das mit Schutz der Teilnehmer vor Manipulationen und betrügerischen Machenschaften durch die Lotterieveranstalter begründet wird, nicht entgegensteht. Im Ergebnis zeigt sich somit, dass eine Glücksspielregulierung, die den Schutz der Teilnehmer vor Manipulationen und Machenschaften durch die Glücksspielanbieter bezweckt, unionsrechtlich kohärent und systematisch ausgestaltet ist, wenn sie staatliche Lotterieveranstaltungsmonopole vorsieht und Sportwetten privaten Anbietern öffnet. b) Erforderlichkeit eines Lotterieveranstaltungsmonopols Ein Lotterieveranstaltungsmonopol zur Vermeidung von Manipulationen und Betrug durch den Veranstalter genügt auch den Ansprüchen der unionsrechtlichen Erforderlichkeit. Der EuGH hält es für zulässig, wenn ein Mitgliedstaat im Rahmen seines Ermessens davon ausgeht, dass sich mit einem Monopol die mit

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dem Glücksspielsektor verbundenen Gefahren wirksamer beherrschen lassen als mit einem System, in dem privaten Veranstaltern die Veranstaltung von Glücksspielen unter dem Vorbehalt der Einhaltung der in dem entsprechenden Bereich geltenden Rechtsvorschriften erlaubt würde, soweit dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird.68 Ein Konzessionssystem mit entsprechenden Aufsichtserfordernissen ist danach zwar eine die Grundfreiheiten der privaten Glücksspielveranstalter weniger beschneidende Maßnahme als ein Monopol, aber zur Erreichung des Regelungsziels in diesem Fall nicht gleich gut geeignet. VI. Fazit Der Vergleich zwischen den Risiken und Problemen des Ansatzes der Suchtbekämpfung und des Ansatzes der Betrugs- und Manipulationsabwehr fällt deutlich aus: Während eine Fortführung des bisherigen Regulierungsansatzes ganz erhebliche Änderungen verlangt und zudem Risiken einer Verletzung des Unionsrechts sowie auch des Verfassungsrechts mit sich bringt, vermeidet eine Novellierung, die die Regulierung am Ziel der Betrugs- und Manipulationsabwehr orientiert und das staatliche Lotterieveranstaltungsmonopol beibehält, aber die Sportwetten für private Veranstalter öffnet, die Risiken solcher Rechtsverstöße. Soweit an einem staatlichen Monopol für Lotterieveranstaltungen festgehalten wird, kann dem aus den Grundrechten und Grundfreiheiten gefolgerten Gebot konsistenter und kohärenter Rechtsetzung am ehesten durch eine Reform entsprochen werden, die das Glücksspielrecht am Ziel der Betrugs- und Manipulationsabwehr ausrichtet.

68 EuGH, verb. Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07, Rn. 82 und Rn. 96 – Stoß.

Die Grundrechtsbindung der Verwaltung Von Hans-Detlef Horn I. Die Verwaltung im „verfassungsrechtlichen Koordinatensystem“ – das Problem Art. 1 Abs. 3 GG bildet, wie Klaus Stern sagt, im Verbund mit der Menschenwürdegarantie und dem Menschenrechtsbekenntnis in Art. 1 Abs. 1 und 2, der Verfassungsvorrangsregel des Art. 20 Abs. 3, der Wesensgehaltssperre des Art. 19 Abs. 2 und der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG das „Herzstück des grundgesetzlichen Verfassungswerks“.1 Alle Staatsgewalt wird an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht gebunden. Doch spricht die Norm, anders als Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG, nicht wörtlich von „aller Staatsgewalt“, sondern benennt diese in ihrer gewaltengegliederten Form: Grundrechtsverpflichtet sind „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“. Art. 1 Abs. 3 GG führt so zugleich das „tragende Organisations- und Funktionsprinzip des Grundgesetzes“ 2 in die Verfassungsordnung ein, verknüpft es mit und knüpft es an die grundrechtliche Werteordnung des Staates, noch bevor es in der Staatsorganisationsnorm des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG seinen Niederschlag findet.3 Damit liefert das Grundgesetz an der exponierten Stelle des Eingangsartikels den „entscheidenden Durchbruch zum modernen Verfassungsstaat: Die Synthese eines Grundrechtekatalogs mit der wesentlichen Organisationsordnung des Staates in einer geschriebenen Verfassungsurkunde, die höheren Rang besitzt als das Gesetz“.4 Die Verknüpfung bedeutet nicht, wie es den flüchtigen Anschein haben könnte, eine Überordnung der Grundrechte und eine Unterordnung der Organisationsnormen.5 Grundrechts- und Staatsorganisationsordnung des Grundgesetzes bilden vielmehr einen integralen Bestandteil der einen Verfassung, stehen in einem beziehungsvollen Miteinander zum Zwecke individueller und gesellschaft1

K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 1195. BVerfGE 34, 52 (59). 3 Die nicht von Anfang an gegebene Wortgleichheit des Gliederungsschemas wurde im Zuge der (zweiten) Wehrverfassungsnovelle mit dem 7. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19.3.1956 (BGBl. I S. 111) korrigiert. 4 Stern (Fn. 1), S. 83; vgl. auch ders., in: FS für K. Eichenberger, 1982, S. 197 ff., insbes. S. 203 f. 5 Vgl. Stern (Fn. 1), S. 190. 2

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licher Freiheit.6 Doch die konkrete Zuordnung leistet Art. 1 Abs. 3 GG selbst nicht. Die „Leitnorm“ 7 erschöpft sich in der Vorgabe des Prinzips. Das Zusammenspiel findet ihre volle Ausprägung und Entfaltung erst durch und mit den anderen materiell- und organisationsrechtlichen Vorschriften der Verfassung. Im Mittelpunkt der verfassungsrechtlichen Analysen stand und steht dabei das Verhältnis zwischen Gesetz(geber) und Grundrechten. Vor dem Hintergrund des früher gegenteiligen Verständnisses forderten Aufgabe und Funktion des „einfachen“ Gesetzgebers im Grundrechtsbereich einen grundlegenden Neuansatz, ebenso wie sie heute im Wandel der Anschauungen und Herausforderungen beständige Überprüfung verlangen. Neben der Begrenzung sind die Konkretisierung, Ausgestaltung oder Prägung der Grundrechte durch Gesetz die anleitenden Stichworte.8 Doch Art. 1 Abs. 3 GG bindet nicht nur die legislative, sondern auch die exekutive Gewalt unmittelbar an die Grundrechte, stellt auch sie in unmittelbare Grundrechtsverantwortung. Dem wurde in der Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit indes nur vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit zuteil. Es fehle, so schreibt der Jubilar 1988, an einer „tieferdringenden Betrachtung des Zusammenhangs von Grundrechten und Exekutive“, der Problembereich werde „im Rahmen des Art. 1 Abs. 3 GG meist nur lapidar abgehandelt und an das Verwaltungsrecht abgeschoben“.9 Der Befund ist ihm Anlass, selbst eine hundertseitige Auseinandersetzung in Bd. III/1 seines „Staatsrechts“ anzugehen. Eine eigene Studie des Verfassers dieser Zeilen stammt aus dem Jahre 1999.10 Eine umfangreiche, kaum überschaubare Literatur behandelt wohl die Frage, welche konkreten Handlungs- und Erscheinungsformen der Verwaltung der Grundrechtsbindung unterliegen. Doch eine andere, vorausliegende Frage ist es, wie sich diese Grundrechtsbindung zur Stellung der Verwaltung gegenüber dem 6 Vgl. Stern (Fn. 1), S. 181 ff.; ders., in: HStR 2V, 2000, § 108, Rn. 32 ff.; J. Isensee, in: HStR 2V, 2000, § 115, Rn. 102 ff.; E. Schmidt-Aßmann, in: HStR 3II, 2004, § 26, Rn. 46: „komplementäres Verhältnis beider Ordnungen“; anders noch die staatsausgrenzende Deutung des Verhältnisses von Grundrechts- und Staatsfunktionenordnung von C. Schmitt, Verfassungslehre (1928), 8. Aufl., 1993, S. 126 ff. 7 BVerfGE 31, 58 (72). 8 Vgl. (nur) aus dem jüngeren monographischen Schrifttum M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999; G. Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999; M. Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, 2000; M. Winkler, Kollisionen verfassungsrechtlicher Schutznormen, 2000; M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001; R. Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003; W. Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003; M. Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005; J. F. Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, 2005; M. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 2. Aufl., 2006; S. Lenz, Vorbehaltlose Grundrechte, 2006; C. Bumke, Ausgestaltung von Grundrechten, 2009. 9 Stern (Fn. 1), S. 1321, 1349. 10 H.-D. Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung. Zur Dogmatik des Verhältnisses zwischen Gesetz, Verwaltung und Individuum unter dem Grundgesetz, 1999.

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Gesetzgeber, mithin ihrer Gesetzes(vorbehalts)bindung aus Art. 20 Abs. 3 GG verhält. Während dort der Wirkungsbereich der Bindungsklausel angesprochen ist, geht es hier um dessen Wirkungsweise. Insofern ist die vollziehende Gewalt „in ein schwieriger zu erfassendes verfassungsrechtliches Koordinatensystem eingebunden, als gemeinhin angenommen wird“.11 Schon der Textbefund des Grundgesetzes deutet auf einen relativ zur grundrechtlichen Legislativbindung kaum geringeren Problemgehalt der grundrechtlichen Exekutivbindung hin. Hat die Rationalität der Verfassungsrechtsdogmatik dort eine so bezeichnete „Bindungsparadoxie“ 12 aufzulösen, in der der Gesetzgeber einerseits an die Grundrechte gebunden, andererseits durch die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte dazu ermächtigt ist, grundrechtsbegrenzend und grundrechtsausgestaltend zu wirken, so hat sie es hier mit einem latenten Bindungsdilemma zu tun.13 Die vollziehende Gewalt wird von der Verfassung zum einen an die Grundrechte, zum anderen und zugleich an das („einfache“) Gesetz – im (traditionellen) Sinne seines Vorrangs wie seines Vorbehalts14 – gebunden (Art. 20 Abs. 3 Hs. 2 GG, grundrechtliche Gesetzesvorbehalte). Das Dilemma entsteht im Konfliktfall:15 Die „zweite“ Gewalt wird zum Adressaten gegenläufiger Verfassungsbefehle. Das ist die Lage, in der die Zuordnung von staatlicher Funktionen- und subjektiver Grundrechtsordnung zu konkreter rechtlicher und praktischer Relevanz gelangt. Um dieses Zugleich von Gesetzes- und Grundrechtsbindung der Verwaltung auf- und abzuarbeiten, bedarf es eines systembildenden Zu- und Durchgriffs. Das bedeutet: Die Grundrechtsbindung der Verwaltung muss mit der Lehre von der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in der gewaltenteiligen Ordnung „harmonisiert“, beide müssen in den Vorgängen des Individualrechtsschutzes aufeinander abgestimmt werden. Andernfalls fehlt nicht nur der vielfältigen grundrechtlichen 11

Stern (Fn. 1), S. 1345. Begriff: Th. Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, 1981, S. 57; s. etwa auch schon H. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 296: „dialektische Spannungslage“; ders., Der Staat 24 (1985), S. 315 (365): möglicher „Zirkel“; F. Ossenbühl, Der Staat 10 (1971), S. 53 (73): „circulus vitiosus“; auch R. Herzog, in: FS für W. Zeidler, Bd. 2, 1987, S. 1415 (1420), spricht von einem verfassungsrechtlichen Zirkel; Jestaedt (Fn. 8), S. 30, jüngst von „Perplexitätsverdacht“. 13 Zur Möglichkeit eines solchen „Dilemmas“ auch J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 44; ders., in: HStR 2V, 2000, § 111, Rn. 161. 14 Dazu Horn (Fn. 10), S. 22 ff., 28 ff., 43 ff.; F. Ossenbühl, in: HStR 3V, 2007, § 101, Rn. 1 ff., 11 ff. 15 Von „Konflikt“ zwischen Gesetzes- und Verfassungsbindung spricht auch R. Herzog (1980), in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VI, Rn. 28; ähnlich K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 1169: „doppelte Gebundenheit“; E. Schmidt-Aßmann, in: FS für K. Stern, 1997, S. 745 (756); ders., Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., 2004, S. 53: „erhebliches Konfliktpotential“. 12

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Durchdringung, bisweilen „Überformung“ des Verwaltungsrechts16 der verfassungsdogmatische Unterbau, sondern ebenso der Lösung des Konfliktfalls, wenn die Anwendung oder die Abwartung eines Gesetzes nach dem Gesetzmäßigkeitsprinzip die Hinnahme oder die Herbeiführung grundrechtswidriger Zustände bedeutet. II. Zwei Fallbeispiele aus der Rechtsprechung Zwei Beispiele aus der Praxis mögen die „speziellen Bindungsprobleme“ 17 der Verwaltung – und deren Entscheidung in der Rechtsprechung – veranschaulichen. In dem berühmt gewordenen und breit diskutierten „Gentechnikanlagen-Beschluss“ 18 des Hessischen VGH aus dem Jahre 1989 ging es um eine dem Beigeladenen erteilte Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb von Anlagen, in denen unter Verwendung gentechnisch veränderter Mikroorganismen ein Zwischenprodukt für die Herstellung von Humaninsulin gewonnen werden sollte. Die Beschwerdeführer begehrten die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer gegen die Genehmigung erhobenen Klage. Das Gericht gab dem Aussetzungsbegehren statt, weil es die erteilte Genehmigung für rechtswidrig erachtete. Eine gesetzgeberische Entscheidung für oder gegen die rechtliche Zulassung eines Einsatzes der Gentechnologie lag damals noch nicht vor. Weder dem Bundesimmissionsschutzgesetz noch anderen Gesetzen konnte eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Genehmigung einer Gentechnikanlage entnommen werden; es existierte lediglich eine von der Bundesregierung erlassene „Richtlinie“ zum Schutz vor Gefahren. Daher begründete das Gericht seine Rechtsauffassung unter unmittelbarem Rückgriff auf die grundrechtliche Betroffenheit der Beschwerdeführer. Aus der Schutzpflicht für die in Art. 2 Abs. 2 GG bezeichneten Rechtsgüter folge, dass gentechnische Anlagen nur aufgrund einer ausdrücklichen Zulassungsentscheidung durch den Gesetzgeber genehmigt und betrieben werden dürften; insoweit wurde eine Parallele zum Atomrecht gezogen. Im so zu nennenden „Schwarzbau-Beschluss“ von 2009 hatte der Hessische VGH über den vorläufigen Rechtsschutz gegen eine bauaufsichtliche Beseitigungsverfügung hinsichtlich im Außenbereich ohne Baugenehmigung errichteter Gartenhütten zu entscheiden.19 Neben den Gartenhütten des Beschwerdeführers befanden sich in näherer Außenbereichsumgebung noch weitere Schwarzbauten,

16 So schon die Beobachtung von E. Schmidt-Aßmann, in: FS für K. Redeker, 1993, S. 225 ff. (Zitat: S. 226). 17 Stern (Fn. 1), S. 1194. 18 Hess. VGH, Beschluss vom 06.11.1989, NJW 1990, S. 336 ff. = JZ 1990, S. 88 ff. = NVwZ 1990, S. 276. 19 Hess. VGH, Beschluss vom 28.01.2009, LKRZ 2009, S. 260 ff. = ZfBR 2009, S. 486 ff. = BeckRS 2009, 35950.

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gegen die die Baubehörde aber nicht einzugreifen gedachte. Obgleich die Voraussetzungen für den Erlass der Beseitigungsanordnung vorlagen, befand das Gericht, dass die Behörde auch im Bereich der gebundenen Eingriffsverwaltung den Gleichbehandlungsgrundsatz anzuwenden habe. Ein Verwaltungshandeln, das einfaches Recht beachte, dabei Verfassungsrecht jedoch missachte, verletze den Adressaten in seinen Rechten. Das sei der Fall, wenn nur ihm gegenüber das Gesetz befolgt und die Maßnahme erlassen werde, während in anderen vergleichbaren Fällen ohne sachlich rechtfertigenden Grund ein behördliches Einschreiten unterbleibe. Demzufolge wurde die angegriffene Baubeseitigungsverfügung als rechtswidrig bewertet und die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederhergestellt. Bringt man das, was beiden Fällen gemein ist, auf den Punkt, so ist es die gerichtliche „Erinnerung“ daran, dass die gesetzesgebundene Verwaltung zugleich an die Grundrechte gebunden ist und dass sich diese Grundrechtsbindung im Einzelfall gegen die Gesetzes(vorbehalts)bindung durchsetzen kann. Doch findet dieser Rechtssatz keineswegs einhellige Zustimmung.20 Er reibt sich an den überkommenen Vorstellungen vom Vorrang der Gesetzesbindung und der Auffassung, dass die Grundrechte „der Verwaltung selbst nicht den Titel in die Hand geben dürfen . . ., sich ihrer gesetzlichen Bindungen“ zu entziehen.21 III. Die doppelte Rechtsbindung der Verwaltung Mit den Geboten der Gesetzmäßigkeit und der Grundrechtsmäßigkeit bestimmt das Grundgesetz – neben den europarechtlichen Bindungen – die beiden zentralen Maßstäbe des exekutivischen Rechtsbindungsprogramms. Über sie vollziehen sich die verfassungsstaatlichen Fundamentalanliegen wie rechtsstaatliche Ordnung, parlamentarische Steuerung, demokratische und grundrechtliche Legitimation staatlicher Gewaltausübung. Doch der Dualismus liefert mit der Doppelung der Bindungsmäßstäbe auch ein Potential an Bindungskonflikten. Der alltäglichen Verwaltungspraxis entsteht so die komplexe Aufgabe, die einschlägigen Bindungsfaktoren nicht nur zu ermitteln, sondern sie auch in ihrer relativen Bedeutung zu erkennen.22 „Normalerweise“ bereitet die doppelte Rechtsgebundenheit der vollziehenden Gewalt freilich keine Probleme. In der Praxis der massenhaften und weitgehend gesetzlich gesteuerten Verwaltung vollzieht sich die Verwirklichung der Grund-

20 Vgl. hierzu die Feststellungen von M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 5. Aufl., 2009, Art. 20, Rn. 97, 108: „nicht abschließend geklärt“, „noch keine Einigkeit“; s. a. Stern (Fn. 1), S. 1345 f.; ders. (Fn. 15), S. 1168: „ungeklärte Probleme“. 21 E. Schmidt-Aßmann, in: FS für K. Redeker, 1993, S. 240. 22 Vgl. dazu E. Schmidt-Aßmann, in: FS für K. Stern (Fn. 15), S. 750 ff.; ders., Das allgemeine Verwaltungsrecht (Fn. 15), S. 48 ff., 53 ff.

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rechte im Vollzug der (verfassungsmäßigen) Gesetze;23 über und durch die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ereignet sich das grundrechtlich Gewollte und Gebotene. In der Normalität des Alltags gelangt so zur Deckung, was die Normativität des Rechts unterscheidet: die Bindung an die Gesetze und die Bindung an die Grundrechte. Hier ereignet sich jener routinierte Ablauf des Verfassungslebens, den die verfassungsrechtliche Ordnung intendiert. Das Problem begegnet in der Ausnahme von der Regel, wenn sich die Doppelbindung zum Bindungskonflikt steigert. Der Fall ist zwar unerwünscht, aber doch möglich und keineswegs selten. Ihn eingehender zu betrachten, bedeutet nicht, der pathologischen Störung falsche Aufmerksamkeit zu widmen. Im Gegenteil, und wie es in der Wendung von der Ausnahme als Bestätigung der Regel zum Ausdruck gelangt: Der Ausnahme- oder Problemfall, der von der Regel abweicht, hält den Spiegel bereit, der die Regel reflektiert. Betrachtet man ihn, erfährt man über den Regelfall.24 So liefert gerade der Bindungskonflikt den Stoff, der Aufschluss gibt über das verfassungsrechtliche Verhältnis der Anwendungsgebote von Grundrechts- und Gesetzesrecht in der exekutivischen Rechtsbildung.25 Doch die herkömmliche Systembildung zur exekutiven Rechtsbindung weicht dem aus. Cum grano salis wird verbreitet davon ausgegangen, dass die Grundrechtsbindung durch die Gesetzesbindung „mediatisiert“ sei, wesentlich durch das Prinzip der Gesetzesbindung bestimmt und durch diese „realisiert“ werde.26 Die „zweite“ Gewalt wird als „gesetzesdirigierte“ 27, nicht (oder nur insoweit) als eine (auch) grundrechtsdirigierte Gewalt begriffen. Grundrechtliche Bindungen erfahre sie daher weniger unmittelbar aus der Verfassung, als vielmehr mittelbar aus dem Gesetz, das seinerseits der Verfassungsbindung aus Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 Hs. 1 GG unterliegt. Selbstredend wird nicht verkannt, dass auch die Grundrechte und das Gebot der Grundrechtsmäßigkeit zum Recht der Verwaltung gehören. Doch wird diese Bindung maßgebend im Vorgang der Gesetzesanwendung verortet. Sie kommt zum Tragen, wenn und soweit das Gesetz der Verwaltung Spielräume des Handelns überlässt bzw. überlassen darf. „Je freier

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Vgl. Stern (Fn. 15), S. 1168 f. Vgl. die freilich in dem ganz anderen Zusammenhang von Ausnahmezustand und Norm stehenden Bemerkungen C. Schmitts, Politische Theologie, 6. Aufl., 1993, S. 21: „Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme“. 25 Verwaltung als Rechtsfunktion ist die Erzeugung und Anwendung von Rechtsnormen: H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., 1960, S. 267. 26 Vgl. wiederum statt vieler: Stern (Fn. 1), S. 1266, 1344, 1348 m.w. N.; ders. (Fn. 15), S. 1168, 1811. 27 Terminus: E. Schmidt-Aßmann, VVDStRL 34 (1976), S. 231, 252; ders., in: HStR 3 II, 2004, § 26, Rn. 61; ders., in: W. Hoffmann-Riem/ders./G. F. Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 48; ders., in FS für K. Stern (Fn. 15), S. 747; ders., Das allgemeine Verwaltungsrecht (Fn. 15), S. 199. 24

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die Verwaltung vom Gesetz gestellt ist, um so stärker muss die unmittelbare Grundrechtsbindung greifen“, und diese ist bedingt durch die „unterschiedlichen Bindungsintensitäten der Exekutive . . ., die die Gesetzgebung für die Verwaltung schafft“ (gebundene Verwaltung, Ermessensverwaltung, gesetzesfreie Verwaltung).28 Für weitere grundrechtliche Wirkungen hingegen, die folglich nicht nur die Gesetzesanwendung determinieren, sondern von dieser möglicherweise auch zu dispensieren vermögen, ist in diesem „System“, das das Gesetz als den primären Bindungsfaktor erkennt und die Normierungsdichte des Gesetzes zur Ausgangsbedingung nimmt, konstruktiv kein Raum gegeben. Die spezielle Bindungssituation, in der sich die Verwaltung mit ihrer Doppelverpflichtung auf Grundrechts- wie auf Gesetzmäßigkeit befindet, tritt unter diesem Ansatz nicht eigentlich hervor. Vielmehr scheint hier die Grundrechtsbindung der Verwaltung weitgehend in der Gesetzesbindung der Exekutive und der Grundrechtsbindung der Legislative „aufgehoben“. Dementsprechend vertritt die Rechtslehre zur so genannten „Verwerfungskompetenz der Verwaltung“ eine eher ablehnende Haltung.29 Vorbehaltlich der Möglichkeit zur Remonstration bis zur Regierungsebene und zur Einleitung eines abstrakten Normenkontrollverfahrens beim Verfassungsgericht sei es der Verwaltung wegen ihrer Gesetzesbindung (und des Verwerfungsmonopols des Verfassungsgerichts) grundsätzlich verwehrt, unter Berufung auf ihre Grundrechtsbindung ein (Parlaments-)Gesetz außer Anwendung zu lassen, wenn sie dieses bzw. dessen Vollziehung für grundrechtswidrig erachtet.30 In dieser Sicht erweist sich die Bindung an das Gesetz mithin als so

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Wiederum stellvertretend für die allgemeine Auffassung Stern (Fn. 1), S. 1350. Vgl. zu der im Umfeld der Entscheidung des BVerfG vom 21.02.1961 (BVerfGE 12, 180, 186 f.) einsetzenden Diskussion etwa G. Hoffmann, JZ 1961, S. 193 ff.; O. Bachof (1962), in: Wege zum Rechtsstaat, S. 197 ff.; K.-H. Hall, Die Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit durch die Verwaltung, 1963; ders., DÖV 1965, S. 253 ff.; D. Kabisch, Prüfung formeller Gesetze im Bereich der Exekutive, 1967; F. Ossenbühl, Die Verwaltung 2 (1969), S. 393 ff., jeweils m. z. N. Aus jüngerer Zeit vgl. F. O. Kopp, DVBl. 1983, S. 821 ff.; Stern (Fn. 1), S. 1348 f.; E. Schmidt-Aßmann, in: FS für K. Stern (Fn. 15), S. 758 ff.; M. Wehr, Inzidente Normverwerfung durch die Exekutive, 1998, S. 107 ff., 180 ff.; ders., VBlBW 2001, S. 354 ff.; P. Gril, JuS 2000, S. 1080 ff.; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. 2, 2. Aufl., 2006, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 96 ff.; B. Grzeszick (2007), in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, IV, Rn. 49 ff.; F. Ossenbühl, in: HStR 3V, 2007, § 101, Rn. 5 ff.; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl., 2009, § 4, Rn. 55 ff. Zur administrativen Verwerfungskompetenz hinsichtlich untergesetzlicher Rechtsnormen J. Pietzcker, DVBl. 1986, S. 806 ff.; C. Nonnenmacher/A. Feickert, VBlBW 2007, S. 328 ff.; besonders zu Bebauungsplänen C. Engel, NVwZ 2000, S. 1258 ff. m.w. N. 30 Vgl. F. Ossenbühl, in: HStR 3V, 2007, § 101, Rn. 5 ff.; K.-P. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl., 2010, Art. 20 Abs. 3, Rn. 257; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, 2. Aufl., 2006, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 98; H. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 20, Rn. 36. Dezidiert a. A. M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG, 5. Aufl., 2009, Art. 20, Rn. 97, 108, und schon A. Arndt in zahlreichen Publikationen zu Ende der 1950er Jahre, insbes. DÖV 1959, S. 81 ff.; BB 1959, S. 533 ff.; BB 1960, S. 993 ff.: Nichtanwendung des fraglichen Gesetzes. 29

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etwas wie ein Schutzschirm der vollziehenden Gewalt, der ihre unmittelbare Verfassungsmäßigkeit von vornherein absorbiert („Schutzschirmdoktrin“).31 Doch in solcher Haltung wirkt ein Denken nach, das dem gesetzgebungsstaatlichen Programm des vorgrundgesetzlichen bürgerlichen Rechtsstaats entstammt. So hatte C. Schmitt die Bedenken gegen die prinzipielle Anerkennung des Vorrangs der Grundrechte punktgenau benannt: Ein solcher Vorrang würde eine Veränderung des „überlieferten gesetzgebungsstaatlichen Aufbaus“ bewirken, da die Gesetzesanwendungsbehörden nunmehr die „höhere Norm“ in die Hand bekämen und sich das bisherige Verhältnis von einfachem Gesetzgeber und Gesetzesanwendungsbehörden umkehren würde. Für Schmitt war es nämlich „keine Frage, dass die Gesetzesanwendungsbehörden, d. h. die Verwaltung und Justiz, aktuelle verfassungsgesetzliche Einzelbestimmungen anzuwenden und im Kollisionsfall ein ihnen widersprechendes einfaches Reichs- oder Landesgesetz nicht anzuwenden haben“.32 Für den Grundrechtsstaat des Grundgesetzes hingegen gilt es mit G. Dürig festzuhalten: Es ist „eine Unterschätzung der Legislativbindung im Gesamtsystem des öffentlichen Rechts, wenn man nicht erkennt, dass mit ihr der vollziehenden Gewalt in bisher unbekanntem Maße die Zwischenstufe des technischen Gesetzes, die dem Verwaltungsrecht früher das Deckungssuchen unmittelbar hinter der Verfassung ersparte, entzogen worden ist. Die vollziehende Gewalt steht unmittelbar den Grundrechten . . . gegenüber“.33 Grundrechtsrelevante Verwaltung ist vom Grundgesetz nicht im Schatten der Gesetzesbindung konzipiert, sondern als grundrechtsunmittelbare Verwaltung konstituiert. IV. Die Unmittelbarkeit der administrativen Grundrechtsbindung Als Norm „über“ Grundrechte34 enthält Art. 1 Abs. 3 GG die eindeutige Festlegung, dass die Grundrechtsbindung (auch) für die vollziehende Gewalt gilt. Damit besteht zweifellos der Tatbestand des Grundrechtsverpflichtetseins („dass“), indes weniger Klarheit herrscht über den Tatbestand der Grundrechtsverpflichtung („wie“). Obgleich an sich ebenso mühelos dem Wortlaut der Norm zu entnehmen, zögert die dogmatische Begriffsbildung, die vollziehende Gewalt als grundrechtsunmittelbare Gewalt zu fassen, mithin sub specie Art. 1 Abs. 3 GG gerade unabhängig und losgelöst von ihrer Gesetzesbindung nach Art. 20 Abs. 3 GG. 31

Horn (Fn. 10), S. 220 ff. C. Schmitt, in: G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 572 (598); vgl. auch ders. (1932), in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 3. Aufl., 1985, S. 263 (307 ff.). 33 G. Dürig (1958), in: Maunz/ders., GG, Art. 1 Abs. III, Rn. 104, 106 (Hervorhebungen i. O.); ebenso schon ders., JZ 1953, S. 193 (195). 34 Der materielle Inhalt, in diesem Sinne das „Wie“ der Bindung ergibt sich aus den Einzelgrundrechten. Vgl. Stern (Fn. 1), S. 1202; M. Sachs, in: ebd., S. 488; BVerfGE 61, 126 (137). 32

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Was die „umfassende Geltungs- und Bindungsnorm“ 35 des Art. 1 Abs. 3 GG zu erreichen sucht, ist geläufig. Sie will den Grundrechten des Grundgesetzes – in Abkehr zu früheren Verfassungsepochen und besonders in Fortentwicklung der Lage unter der Weimarer Verfassung36 – gesteigerte normative Kraft verleihen. Sie sollen nicht mehr nur als Direktiven oder Programmsätze, sondern als mit juristischem Vorrang ausgestattete Rechtssätze gelten und als solche alle Ausübung von Staatsgewalt direkt rechtlich verpflichten. Die in der geschichtlichen Dimension „umwälzendste Aussage“ 37 ist hierbei gewiss die unmittelbare Grundrechtsbindung auch und sogar der gesetzgebenden Staatsgewalt. In bewusster Abkehr von den Vorstellungen der Weimarer Zeit38 schließt sie die grundrechtliche Schutzlücke der gesetzgebungsstaatlichen Doktrin; nunmehr gilt programmatisch: „Gesetze nur im Rahmen der Grundrechte“.39 Hingegen gehöre, so die allgemeine Auffassung, der Rechtssatz von der Grundrechtsbindung der Exekutive zum „klassischen Befund“ 40 des Art. 1 Abs. 3 GG. Anders als die Legislativbindung bilde die Exekutivbindung „kein Novum“ 41 des Grundgesetzes. Sie rezipiere die traditionelle, schon vorgrundgesetzlich unstreitige Rechtsgebundenheit, sei daher schon im Herrenchiemseer Konvent wie im Parlamentarischen Rat zweifelsfrei gewesen und also auch heute selbstverständlich. Doch die Deutung übersieht die entscheidende Wendung der Dinge. Wohl „richteten“ sich auch die vorgrundgesetzlichen Freiheits- und Grundrechte gegen die Verwaltung und konnten, nachdem sie als subjektive Rechte anerkannt waren, vom einzelnen gegen sie erhoben werden. Doch der Rechtsgrund ihrer materiellen Wirksamkeit lag nicht in einem höherrangigen Verfassungs-, sondern im „einfachen“ Verwaltungsrecht, aufgehoben im Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Gerade hierüber erhebt sich das Grundgesetz. Art. 1 Abs. 3 GG bestimmt keine durch Gesetz und Gesetzesvorbehalt vermittelte, sondern eine spezifisch verfassungsrechtliche, unmittelbare, d.h. von der „auctoritatis interpositio“ des Gesetzgebers „befreite“ Bindung an die Grundrechte als vorrangige leges superiores. Das aus der Sicht einer allgemeinen Staatslehre denkmögliche Modell einer unmittelbaren Grundrechtsbindung der Gesetzgebung, aber einer nur mittelbaren, d.h. allein durch die Bindung an Gesetz und Gesetzmäßigkeit

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Stern (Fn. 1), S. 1194 f. Vgl. dazu nur M. Sachs, in: Stern (Fn. 1), S. 438 ff., 481 ff. 37 G. Dürig (1958), in: Maunz/ders., GG, Art. 1 III, Rn. 101. 38 Vgl. stellvertretend G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933, Art. 76 Anm. 1, S. 401: „Die Verfassung steht nicht über der Legislative, sondern zur Disposition derselben.“ 39 H. Krüger, DVBl. 1950, S. 625 (626); ders., Grundgesetz und Kartellgesetzgebung, 1950, S. 12. 40 Stern (Fn. 15), S. 1212, s. a. ebd., S. 1167, 1810 sowie ders. (Fn. 1), S. 1199, 1201, 1320. 41 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 2. Aufl., 2004, Art. 1 III, Rn. 59. 36

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bewirkten Grundrechtsbindung der vollziehenden Gewalt, ist nicht das Modell des grundgesetzlichen Staates. Auch für die vollziehende Gewalt sind die Grundrechte von Verfassungs wegen aktuell rechtswirksam, positiv verpflichtend, unmittelbar anwendbar. „Der frühere Grundsatz der ,Gesetzmäßigkeit der Verwaltung‘ ist zum Grundsatz der ,unmittelbaren Verfassungsmäßigkeit der Verwaltung‘ akzentuiert worden“.42 Just das ist das „Novum“ der grundgesetzlichen Grundrechtsordnung. Daraus folgt mit Notwendigkeit: Der Rechtssatz von der unmittelbaren Grundrechtsbindung43 ist als solcher in keiner Weise präjudiziert durch die Gesetzesbindung der Verwaltung, geschweige denn durch ihren Begriff als „vollziehende“ Gewalt. Indem der Art. 1 Abs. 3 GG die Grundrechtsbindung der Verwaltung anordnet, trifft er vielmehr eine Aussage über die Geltungskraft der Grundrechte im Verhältnis der Verwaltung zum Gesetzgeber. Dieses bestimmt sich im gewaltenteiligen Gefüge nicht allein nach dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit, sondern auch nach dem Prinzip der Grundrechtsmäßigkeit. Anders als im vormaligen Typus Gesetzgebungsstaat ist die Grundrechtsbindung der vollziehenden Gewalt nicht mehr prekäres Problem, sondern immanenter Faktor der verfassungsrechtlichen Ordnung von Gesetz und Gesetzesanwendung. Die Rede von der „höheren Norm“, die den gesetzesanwendenden Staatsorganen gegenüber der Gesetzgebung „in die Hand“ gegeben wird, erweist sich so wenig spektakulär. Ihre Voraussetzung, deren Fehlen ihr vormals die polemische Kraft verliehen hat, liegt heute unmissverständlich vor: der Vorrang der Grundrechte vor dem Gesetzesrecht. V. Art. 1 Abs. 3 GG als Derogationsnorm in der Rechtsanwendung Doch der Tatbestand der „eigenen“ Grundrechtsverpflichtung der Verwaltung enthält selbst noch nicht die Antwort auf die Frage, wie sich diese Bindung auf das Verhältnis zum Gesetz bzw. Gesetzgeber auswirkt, m. a. W. welchen Inhalt die 42 G. Dürig (1958), in: Maunz/ders., GG, Art. 1 Abs. III, Rn. 106 (Hervorhebungen i. O.). 43 Gegenüber der Formulierung des Art. 1 Abs. 3 GG ist insoweit ein Vorbehalt zu vermerken. Sie spricht von der Bindung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht. Die Geltung des Rechts als die „spezifische Existenz einer Norm“ (vgl. H. Kelsen [Fn. 25], S. 9 f.; ders., Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 2, 22 f., 136 f. u. ö.; ebenso T. Schilling, Rang und Geltung von Normen in gestuften Rechtsordnungen, 1994, S. 159, 241) ist aber entweder gegeben oder sie ist nicht gegeben. Ein Rechtssatz gilt oder er gilt nicht, ist verbindlich oder unverbindlich, erzeugt (Rechts-)Pflichten und Rechte oder eben nicht. Tertium non datur. Daher bestimmt Art. 1 Abs. 3 GG die Rechtsgeltung der Grundrechte nicht unmittelbar, sondern überhaupt, indes die intendierte Geltungskraft der Grundrechte aus der unmittelbaren Bindung erwächst. Eine präzisere Formulierung hätte mithin lauten müssen: Die nachfolgenden Grundrechte binden als geltendes Recht Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung unmittelbar. Zur Textgeschichte des Art. 1 Abs. 3 GG und ihren insoweit gerade korrekteren Vorläufern in den vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen vgl. Horn (Fn. 10), S. 114 ff.

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Aussage des Art. 1 Abs. 3 GG zur Geltungskraft der Grundrechte in diesem Verhältnis hat. Den Prüfstein bildet der Konfliktfall. An ihm zeigt sich die verfassungsrechtliche Ordnungsvorstellung zur administrativen Doppelbindung. Zwei Konstellationen kommen in Betracht. In der einen Variante liegt ein den aktuellen Lebenssachverhalt einschlägig regelndes Gesetz vor, das die vollziehende Gewalt für verfassungs- bzw. grundrechtswidrig hält und/oder dessen Anwendung eine den grundrechtlichen Maßgaben widersprechende Verwaltungsentscheidung zur Folge hätte. Dies mündet in die schon erwähnte Frage: gleichwohl Gesetzesanwendung oder stattdessen Nichtanwendung des Gesetzes (Gesetzes„verwerfung“)? In der zweiten Variante liegt kein Gesetz vor, das den (grundrechtsrelevanten) Entscheidungssachverhalt regelt. Hier sieht sich die handelnde Verwaltung vor die Alternative gestellt: Gesetzesabwartung oder, im Fall der in concreto erkannten Grundrechtswidrigkeit der aus den Lehrsätzen des Gesetzesvorbehalts abzuleitenden Rechtsfolgen, Nichtabwartung des Gesetzes (Gesetzes„ersetzung“)? In beiden Konstellationen geht es nicht um die Rechtmäßigkeit des gesetzgeberischen Handelns, sondern um die exekutive Rechtsanwendung. Eine Nichtbeachtung der Grundrechte in der eigenen Rechtsanwendungs- und Rechtserzeugungsentscheidung der Verwaltung bedeutet stets auch eine „eigene“ Grundrechtsverletzung. Anders gewendet: Art. 1 Abs. 3 GG enthält das Verbot der Verwaltung, insoweit auf die Fehlbarkeit oder Untätigkeit des Gesetzgebers zu verweisen. Im (Normen-)Konflikt zwischen Grundrechts- und Gesetzmäßigkeit ihres Handelns steht sie vor der unausweichlichen44 Situation, dass die Anwendung oder Befolgung der einen Norm die Verletzung der jeweils anderen mit sich bringt.45 Welche Norm im Fall von Normenkonflikten vorgeht, bestimmt die Rechtsordnung regelmäßig durch eine „dritte“ Norm, sei sie ausdrücklich oder stillschweigend geregelt. Die hier einschlägige Derogationsnorm ist ebenfalls in Art. 1 Abs. 3 GG enthalten, wie näheres Hinsehen zeigt. Die Norm bestimmt zunächst offenkundig den Vorrang der Grundrechte vor dem Gesetz (als dem Produkt von „Gesetzgebung“) und regelt so den Fall des grundrechtswidrigen Gesetzes. Zu klären aber bleibt, inwieweit diese Vorranganordnung nur die Geltung des nachrangigen Gesetzes oder auch dessen Anwendbarkeit für die gesetzesgebundene Gewalt beseitigt.46 An dieser Stelle erhebt sich die denkwürdige These: Wohl 44 Von der Rechtsordnung aufgegebene Konfliktvermeidungstrategien, wie die Pflicht zur verfassungs- bzw. grundrechtskonformen Auslegung eines Gesetzes, liegen insoweit zwar voraus, enden jedoch an den Grenzen ihrer Möglichkeiten. 45 Zur Kategorie des Normenkonflikts allgemein Kelsen (Fn. 25), S. 76 ff.; 209 f.; ders. (Fn. 43), S. 21, 100 f., 166 ff., 330 mit Fn. 155; E. Wiederin, Rechtstheorie 21 (1990), S. 311 (312 ff.). 46 Vgl. dazu Schilling (Fn. 43), S. 548 f., 557. Der Blick auf die Derogationsregeln der lex specialis und der lex posterior erhellt das Problem: Während die lex specialis in

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hätten die Grundrechte des Grundgesetzes Geltungsvorrang vor dem Gesetz, nicht aber Anwendungsvorrang; die unmittelbare Geltung und Bindung der Grundrechte umschließe nicht den unmittelbaren Zu- oder Durchgriff auf die Grundrechte.47 Doch die Ansicht ist unhaltbar. Bei genauer Betrachtung verneint sie überhaupt schon die unmittelbare Anwendbarkeit der Grundrechte und stellt sich damit in klaren Widerspruch zu Art. 1 Abs. 3 GG. Denn es bliebe so gesehen nichts als das Gebot zur Anwendung des Gesetzes, und zwar letztlich gleichviel ob dieses verfassungswidrig oder verfassungsgemäß ist. Und das wiederum bedeutete in der Konsequenz, dass die Möglichkeit eines Bindungskonflikts auf der Rechtsanwendungsebene der Verwaltung von vornherein ausgeschlossen, mithin als juristische Unmöglichkeit abgetan würde. Indessen ist ein Normenkonflikt immer ein Normanwendungskonflikt, und die ihn regelnde Derogationsnorm ist immer und zuerst eine Anwendungsvorrangregel,48 so auch der Art. 1 Abs. 3 GG. Die Anordnung der vorrangigen Geltung einer Norm, ohne dass dies auch die Bedeutung hätte, dass eben diese Norm anzuwenden ist, wäre sinnlos. Gerade darin, dass eine Norm befolgt und angewendet werden soll, liegt deren Geltung.49 Dass Art. 1 Abs. 3 GG die vorrangige Geltung der Grundrechte, mithin die Geltungsderogation widersprechenden Rechts normiert, impliziert also notwendig den Anwendungsvorrang der Grundrechte. Doch gilt es sogleich hinzuzufügen: Umgekehrtes gilt nicht. Der Anwendungsvorrang einer Norm setzt nicht ihren Geltungsvorrang voraus. Demgemäß hat auch der Anwendungsnachrang der derogierten Norm nicht notwendig deren Geltungsnachrang, also deren Geltungsbeendigung zur Folge. Die Frage, ob dies der Fall ist oder nicht, ist wiederum vom positiven Recht zu beantworten. Das Grundgesetz hält indes keinen Rechtssatz des Inhalts bereit, dass jede grundrechts(vorrang)bedingte Nichtanwendung eines Gesetzes seine Nichtgeltung verfügt. Eine solche Konfliktauflösung auf der Geltungsebene sieht es vielmehr nur im Fall der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung gegeben. Die übliche Rede von der „Normenkontrolle“ oder „Verwerfung“ des (grundrechtswidrigen) Gesetzes durch die rechtsanwendende Verwaltung „dramatisiert“ also die Din-

der Regel die Geltung der lex generalis unberührt lässt und nur vorrangig anzuwenden ist, beendet die lex posterior regelmäßig (auch) die Geltung der lex prior. – In der Reinen Rechtslehre steht der Begriff der Derogation für die Aufhebung der Geltung einer Norm (vgl. Kelsen [Fn. 43], S. 85). Für den Fall eines Normenkonflikts ist er jedoch nicht verwendbar, besteht dieser doch nicht darin, dass nur eine der beiden konfligierenden Normen gelten und daher nur durch alternativen Geltungsverlust gelöst werden kann, sondern darin, dass die Anwendung der einen die Verletzung der anderen Norm bedeutet und daher auch auf der Anwendungsebene entschieden werden kann. 47 So ausdrücklich F. Ossenbühl, DÖV 1971, S. 513 (521). 48 Vgl. Kelsen (Fn. 43), S. 168; zum Folgenden eingehend Horn (Fn. 10), S. 203 ff. m.w. N. 49 Vgl. Kelsen (Fn. 43), S. 3.

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ge.50 Es geht bei der Frage des Anwendungsvorrangs der Grundrechte nicht darum, dem nachrangigen Gesetz seine Geltung abzusprechen bzw. seine Nichtigkeit zu behaupten. Sondern in Betracht steht allein, dass eine Norm wegen des Vorrangs einer anderen in bestimmten Fällen nicht angewandt wird – nicht anders als in dem längst geläufigen Fall des Anwendungsvorrangs des unmittelbar anwendbaren europäischen Unionsrechts, den die Verwaltung gegenüber jedwedem widersprechenden, nationalen Recht zu beachten hat.51 Schließlich weist das Grundgesetz ebenso wenig einen Rechtssatz auf, der die vorrangige Anwendbarkeit der Grundrechte vor dem Gesetz insofern durch eine Kompetenzregelung sperrt, als sie die (nicht nur vorläufige) Nichtanwendung des grundrechtswidrigen Gesetzes von einer vorherigen Entscheidung des dazu berufenen Organs über dessen Nicht-Geltung oder auch nur dessen Erklärung als verfassungswidrig abhängig macht.52 Ein solcher Vorbehalt (zugunsten des BVerfG) kann weder Art. 100 Abs. 1 noch Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG entnommen werden.53 Ist demnach in der Anordnung der unmittelbaren Grundrechtsbindung der Verwaltung in Art. 1 Abs. 3 GG zugleich das Gebot der gegenüber dem widersprechenden Gesetz vorrangigen Grundrechtsanwendung enthalten, so gilt das Entsprechende gegenüber der „Gesetzgebung“ im Anwendungsbereich des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes bzw. der (grundrechtlichen) Gesetzesvorbehalte. Da bei Fehlen eines danach als Grundlage für die Verwaltung gebotenen Vorbehaltsgesetzes zugleich die Anwendung jedes anderen vorhandenen Gesetzes grundrechtswidrig wäre, wird auch hier ein allein durch die Grundrechte angeleitetes Verwaltungshandeln zur einzig rechtmäßigen Alternative. VI. Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung in der staatlichen Funktionenordnung Die Schlussfolgerungen, die aus alldem gezogen werden können, sind nicht mehr als, aber immerhin diese: Die Verwaltung steht immer unmittelbar „vor“ den Grundrechten und deren Geltungskraft, d.h. Anwendungsanspruch. Sie bilden einen eigenständigen Faktor im Rechtsbindungsprogramm der Verwaltung, werden ihr nicht durch das Gesetzmäßigkeitsgebot „aus der Hand“ genommen. Das Recht der Verwaltung ist vielmehr ebenso ursprünglich wie durchgängig auf zwei Beine gestellt: auf das Gesetz und auf die Grundrechte. In der Folge erweisen sich die vielbeobachteten Grundrechtswirkungen im Verwaltungsrecht als 50

Ebenso E. Schmidt-Aßmann, in: FS für K. Stern (Fn. 15), S. 759 mit Fn. 42. Dazu statt vieler J. Pietzcker, in: FS für U. Everling, Bd. 2, 1995, S. 1095 ff.; Wehr (Fn. 29), S. 101 ff. 52 So aber K.-P. Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl., 2010, Art. 20 Abs. 3, Rn. 257; s. a. H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 2, 2. Aufl., 2006, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 98; H. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 20, Rn. 36. 53 Dazu m.w. N. Horn (Fn. 10), S. 215 ff. 51

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ganz und gar „normaler“ Befund der doppelten Rechtsbindung. Indessen kann der „Bindungsmehrwert“ der Grundrechte auch zu „erheblichen Relativierungen der Gesetzesbindung führen“.54 Dass „Art. 20 Abs. 3 GG . . . solche Einbußen der gesetzlichen Steuerung der Verwaltung bewußt in Kauf“ nimmt,55 zeigt an, dass das Grundgesetz den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit als grundrechtlich gebundenen Grundsatz konzipiert hat, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes also nicht nur zu solchen des (materiell-)verfassungsmäßigen Gesetzes geworden sind,56 sondern immer einen (materiell-)verfassungsmäßigen Vorrang und Vorbehalt bedeuten. Demnach trifft zu: „Je sensibler sich eine Verwaltung den verfassungsrechtlichen Determinanten gegenüber erweist, desto freier werden ihre Bewegungen gegenüber dem Gesetz.“ 57 Fehl ginge jedoch die weitergehende Annahme, damit habe das Grundgesetz in der Tat den gesetzgebungsstaatlichen Aufbau in sein Gegenteil verkehrt, die Gesetzes(vorbehalts)bindung zur latenten Disposition einer grundrechtssensiblen Verwaltung gestellt. Zwar verwehrt Art. 1 Abs. 3 GG, wie dargelegt, jede Dogmenbildung, nach der die Grundrechtsgemäßheit des Verwaltungshandelns durch seine Gesetzmäßigkeit gewährleistet sei oder auch nur in Folge eines favor legis bzw. legislatoris vermutet werden müsse.58 Doch verwehrt die grundgesetzliche Ordnung ebenso einen umgekehrten Rechtssatz des Inhalts, dass der vollziehenden Gewalt mit der Dopplung ihrer Rechtmäßigkeitsmaßstäbe zugleich, d.h. uno actu auch die „Kompetenz“ zugeordnet ist, deren relative Bedeutung zueinander, mithin über Vorrang und Nachrang, im Vorgang der Rechtsanwendung nach eigener Einschätzung zu entscheiden. Wohl weist das Grundgesetz nirgends ausdrücklich eine derartige Kompetenzsperre der Verwaltung auf, wie sie Art. 100 GG für die gerichtliche Rechtsanwendung enthält, und schon gar nicht kann, aus der Konsequenz des Gesagten, der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit selbst als kategorische Verneinung einer Kompetenz der Verwaltung begriffen werden, im Doppel der Rechtsbindungen eine Anwendungsvorrangsentscheidung zu treffen. Worauf die Frage vielmehr verweist, das ist die „allgemeine Funktionenverteilung“.59 Betroffen ist das funktionell-rechtliche Verhältnis von Gesetzgeber und 54 Vgl. E. Schmidt-Aßmann, in: FS für K. Stern (Fn. 15), S. 752; ders., Das allgemeine Verwaltungsrecht (Fn. 15), S. 50, 183 f. 55 E. Schmidt-Aßmann, ebd. (Hervorhebung i. O.). 56 Vgl. B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 25. Aufl., 2009, Rn. 269 ff.; Stern (Fn. 15), S. 764, 787. 57 E. Schmidt-Aßmann, in: W. Hoffmann-Riem/ders./G. F. Schuppert (Hrsg.), Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993, S. 49. 58 So F. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, 1968, S. 298 ff.; ders., Die Verwaltung 2 (1969), S. 402 u. ö. 59 So schon O. Bachof (1962), in: Wege zum Rechtsstaat, 1979, S. 226 ff. (der dann allerdings die Lösung in der beamtenrechtlichen Verantwortung des Amtswalters auflöst, indes das Problem erst nachfolgend ein solches des Beamtenrechts ist bzw. wird);

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Verwaltung im Bereich der Grundrechte, anders: das Verhältnis zwischen der im Gesetzmäßigkeitsprinzip ausgedrückten Verteilung der rechtlichen Entscheidungsfunktionen und der in der Grundrechtsbindung ausgedrückten grundrechtlichen Entscheidungsverantwortung jeder Staatsgewalt. Dieses bildet das „verfassungsrechtliche Koordinatensystem“, in das die zugleich gesetzes- wie grundrechtsgebundene Verwaltung eingebunden ist und aus dem sich das Ausmaß ihrer „Bewegungsfreiheit“ in der Rechtsanwendung ergibt. Die Erkenntnis aber führt die Einsicht mit sich, dass in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes die demokratisch konstituierte und regulierte Funktionenordnung keinen abgeschlossenen (impermeablen) Komplex bildet, der letzten Endes in ganz und gar unverständlicher Weise der materiellen Bindungsanordnung des Art. 1 Abs. 3 GG gegenüber liegt, sondern dass beide „Ordnungsbereiche“ in ihrem Zusammenwirken die verfassungsmäßige Ordnung konstituieren und letztlich eine „kooperative Verwirklichung des Grundrechtsschutzes“ 60 durch Gesetzgeber und Verwaltung begründen. Obliegt es in dieser Ordnung der demokratischen Entscheidung des Gesetzgebers, die grundrechtskonkretisierenden und grundrechtsentfaltenden Funktionen des Gesetzes zur Geltung zu bringen, so ist es an der vollziehenden Gewalt, in ihrer Rechtsanwendungs- und Rechtserzeugungsentscheidung diesen parlamentarisch-demokratischen Steuerungsanspruch in institutioneller Vergewisserung mit der materiellen Grundrechtsbindung aller Staatsgewalt zu halten, um beiden Quellen verfassungsstaatlicher Legitimation61 nach Art eines stetigen Vermittlungsprozesses möglichst optimal zu entsprechen. In der Konsequenz dessen liegt es, dass nicht jedweder „Verdacht“ eines im Einzelfall aktuellen Anwendungsvorrangs der Grundrechte sogleich die funktionell-rechtliche „Kompetenz“ der Verwaltung zur Nichtanwendung („Verwerfung“) bzw. Nichtabwartung („Ersetzung“) des Gesetzes entbindet. Wo die Spielräume und Grenzen liegen, lässt sich nicht einheitlich beantworten. Einen allgemeinen Schwellenwert, der den Vorrang der Grundrechtsanwendung jedenfalls indiziert, mag die bekannte Formel „unerträglich und schwer“ 62 markieren.63 Sie

s. ferner auch Stern (Fn. 1), S. 1346. Auch die Untersuchung von Wehr (Fn. 29), S. 115 ff., setzt hier an, verkennt aber im weiteren Verlauf die Problemstellung, wenn sie unter Hinweis auf Art. 20 Abs. 3 GG die funktionell-rechtliche Verpflichtung der vollziehenden Gewalt konstatiert, das förmliche Gesetz als verbindliche Konkretisierung der Verfassung zu respektieren und daher unbedingt anzuwenden, ohne dies überhaupt mit der eigenständigen materiell-rechtlichen Grundrechts- bzw. Verfassungsbindung der Verwaltung zu konfrontieren. Eingehend dazu Horn (Fn. 10), S. 235 ff., 249 ff., 263 ff. 60 BVerfGE 33, 303 (357 f.). 61 Dazu J. Isensee, Der Staat 20 (1981), S. 161 ff. 62 Vgl. aus der früheren Rspr. des BVerwG zu Art. 14 GG: BVerwGE 32, 173 (179). 63 In diese Richtung auch B. Grzeszick (2007), in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI, Rn. 51; H. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 20, Rn. 36, sowie Stern (Fn. 1), S. 1347 ff.

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steht für den Punkt, an dem sich von Verfassung wegen die unmittelbare Grundrechtsbindung der vollziehenden Gewalt, genauer: der Anwendungsvorrang der Grundrechte vor dem Gesetz bzw. Gesetzesvorbehalt, gegenüber dem Bindungsanspruch des parlamentarischen Gesetzgebers durchsetzt und die exekutive Nichtanwendung bzw. die Nichtabwartung des Gesetzes nicht nur zulässt, sondern gebietet. Hier verwirft die Verwaltung nicht die Geltung eines vorliegenden Gesetzes, noch tritt sie an die Stelle des Gesetzgebers, sondern sie trifft eine aus ihrer eigenen Rechtsgebundenheit resultierende Entscheidung und hält damit den Rechtserzeugungs- und -konkretisierungsprozess im demokratisch konstituierten Staatsaufbau von „oben nach unten“ offen für die Durchsetzung grundrechtlich unverzichtbarer Einzelfallgerechtigkeit.

Grundrechte als Gewährleistungen von Handlungsmöglichkeiten Von Jörn Ipsen Mit Klaus Stern wird einer der bedeutendsten Staatsrechtslehrer der Gegenwart geehrt. Sein monumentales Werk „Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland“ findet sein Gegenstück allein in Paul Labands „Staatsrecht des Deutschen Reiches“1 und dürfte diesem an Wirkungsmacht gleichkommen. Drei der bisher erschienenen fünf Bände dieses wahrhaftigen magnum opus sind den Grundrechten gewidmet und lassen damit erkennen, welche Bedeutung dem Grundrechtsteil in unserer Verfassungsordnung zukommt. Gewiss bestand auch ein Nachholbedarf der deutschen Staatsrechtslehre im Hinblick auf die Grundrechtsdogmatik, weil Deutschland nicht nur zu den späten Nationen gehört, sondern auch die Grundrechte sich erst nach der Katastrophe von nationalsozialistischer Herrschaft und Weltkrieg endgültig Bahn gebrochen haben. Klaus Stern hat mit seinem „Staatsrecht“ hieran einen wesentlichen Anteil, sodass der Grundrechtsschutz als Rahmenthema der Festschrift sich geradezu aufdrängte. Im Folgenden soll versucht werden, Grundbegriffe und Grundlinien der Grundrechtsdogmatik auszudeuten, aber auch in Frage zu stellen. Wenn hierbei auch Positionen des Jubilars in Frage gestellt werden, so rechnet der Verfasser ebenso mit der allseits bekannten Toleranz Klaus Sterns, wie er hofft, zu weiterem Nachdenken Anlass zu geben. I. Grundrechte als subjektive Rechte Fast versteht sich diese Qualifikation von selbst, denn wenn die „nachfolgenden Grundrechte“ in Art. 1 Abs. 3 GG als „unmittelbar geltendes Recht“ bezeichnet werden, das Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung „bindet“, so wird damit ihre Rechtsqualität als subjektiv-öffentliche Rechte bestimmt. Der verfassungsgeschichtliche Fortschritt gegenüber dem zweiten Hauptteil der Weimarer Verfassung, dessen Grundrechte überwiegend als Programmsätze für

1 P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., 1911/14; zur Bedeutung Labands für die deutsche Staatsrechtslehre vgl. insbesondere M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Bd., 1992, S. 341 ff.

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den Gesetzgeber angesehen wurden, liegt auf der Hand und ist hinreichend oft berufen worden.2 Subjektive Rechte sind ihrer Struktur nach dreigliedrig, sie sind einem Rechtssubjekt zugeordnet, für das sich der Begriff des „Grundrechtsträgers“ eingebürgert hat, haben einen bestimmten Inhalt und richten sich gegen einen Adressaten. Wenn auch die Terminologie gelegentlich schwankt, so besteht hinsichtlich der Dreigliedrigkeit subjektiver Rechte weitgehende Übereinstimmung, die auch in der Gliederung neuerer Kommentierungen ihren Niederschlag findet.3 Grundrechtsträger und -adressat werfen normalerweise wenig Probleme auf, denn hier handelt es sich um das archetypische Gegenüber von „Bürger“ und „Staat“, möge auch im Einzelnen die Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung nicht zweifelsfrei sein. Als weitaus problematischer erweist sich stets die Ermittlung des Grundrechtsinhalts und damit des jeweiligen Gegenstands. Wirft man einen kurzen Seitenblick auf die klassische Formulierung des zivilrechtlichen Anspruchs, nämlich das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen (§ 194 Abs. 1 BGB), so stellt sich für Grundrechte ebenfalls die Frage, welches Tun oder Unterlassen der Grundrechtsträger vom Grundrechtsadressaten verlangen kann. Da Grundrechte überwiegend Abwehrrechte sind, kann der Grundrechtsträger vom Grundrechtsadressaten regelmäßig ein Unterlassen verlangen; nur in Einzelfällen kommt ein Tun – nämlich ein grundrechtlicher Anspruch auf Leistungen – in Betracht.4 Grundrechte sind folglich subjektiv-öffentliche Rechte, vermöge derer der Grundrechtsträger („Bürger“) vom Grundrechtsadressaten („Staat“) ein Tun oder Unterlassen verlangen kann. II. Grundrechte schützen (überwiegend) Handlungsmöglichkeiten Wenige Rechtsbegriffe sind von einem so unterschiedlichen Vorverständnis besetzt wie der Begriff der „Freiheit“. Zweifelsfrei kommt ihm ein positiver Zeichenwert zu, der nach dem Ende diktatorischer Regimes in Ost und West noch zugenommen hat. Gleichwohl soll der Begriff des Freiheitsrechts hier vorläufig vermieden werden, um historische, philosophische oder verfassungsrechtliche Vorverständnisse zu vermeiden. Nach einem – wenn man so will – anthropologischen Ansatz hat jeder Mensch mit zunehmendem Alter Handlungsmöglichkeiten, die späterhin auch wieder abnehmen. Diese können sich völlig unterschiedlich entfalten und sind von Alter, Anlagen, Begabung und – nicht zuletzt – von den Vermögensverhältnissen abhängig. Gleichwohl lässt sich nicht bestreiten, dass derartige Handlungsmöglichkeiten jedem Menschen eigen und damit auch 2 Vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 1177 ff. 3 Vgl. nur H. Dreier, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, vor B. Rn. 109 ff. 4 Vgl. K. Stern (Fn. 2), S. 690 ff.

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jeder Verfassung vorgegeben sind. Es bedarf deshalb keines Rückgriffs auf die ältere Naturrechtsdiskussion oder des Paradigmas einer „natürlichen Freiheit“, denn es ist als anthropologischer Befund evident, dass Menschen – wenn auch unterschiedlich ausgeprägte – Handlungsmöglichkeiten haben. Durch die Grundrechte – nämlich die Freiheitsrechte – werden derartige Handlungsmöglichkeiten benannt, segmentiert und – bei unterschiedlichen Einschränkungsmöglichkeiten – geschützt. Die Handlungsmöglichkeiten liegen also einerseits der Verfassung voraus, werden andererseits aber als Schutzgüter in die Verfassung aufgenommen und ihr Schutz gewährleistet. Die Benennung der Handlungsmöglichkeiten als „Freiheiten“ hat historische Gründe, weil die Freiheitsrechte der modernen Grundrechtskataloge in unterschiedlichen Phasen erkämpft worden sind und sich erst in jüngster Zeit zusammenfügen. Schwerlich bestreitbar ist aber, dass den herkömmlich als „Freiheitsrechte“ bezeichneten Grundrechten stets Handlungsmöglichkeiten zugrunde liegen. Evident ist dies bei der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ebenso wie bei der Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) und der Berufsfreiheit (Art. 12 GG). Dass die Freiheitsrechte nur einzelne Handlungsmöglichkeiten schützen und im Übrigen der Ergänzung durch eine allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) bedürfen, ist schon der Aufklärung bewusst gewesen und hat sowohl in der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung wie im allgemeinen preußischen Landrecht seinen Niederschlag gefunden.5 III. Grundrechte schützen (auch) „Zustände“ Eine Theorie, die als Schutzgüter der Freiheitsrechte lediglich Handlungsmöglichkeiten postuliert, sähe sich dem Einwand ausgesetzt, zu stark zu vereinfachen. Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) sind zwar Voraussetzungen für Handlungsmöglichkeiten, bezeichnen aber einen Zustand. Weitere Freiheitsrechte zu benennen, die nicht Handlungsmöglichkeiten schützen, fällt schon schwerer. Die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) könnte zwar im weiteren Sinne als Zustand – besser: „Sphäre“ – gedeutet werden; auch beim Eigentumsschutz (Art. 14 GG) läge eine solche Einordnung nahe. Beide Grundrechte lassen sich indes auch als handlungsschützend begreifen, denn die Unverletzlichkeit der Wohnung besteht – ebenso wie das Eigentum – 5 Art. 4 Satz 1 der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen vom 26. August 1789 lautet: „La liberté consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui.“ § 83 der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (1794) hatte folgenden Wortlaut: „Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freiheit, sein eigenes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines Anderen, suchen und befördern zu können.“

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nicht zuletzt in der Verfügungsmacht des Grundrechtsträgers. Es bleibt aber dabei, dass jedenfalls Leben und körperliche Unversehrtheit Zustände sind und nur um den Preis erneuter dogmatischer Kunstgriffe in die Kategorie der Handlungsmöglichkeiten eingeordnet werden könnten. Die eingangs aufgestellte These lässt sich also mühelos dahin ergänzen, dass Freiheitsrechte Handlungsmöglichkeiten und Zustände schützen. Mit einem Oberbegriff lassen sich Handlungsmöglichkeiten und Zustände als Rechtsgüter oder „Schutzgüter“ bezeichnen.6 IV. Gewährleistung, nicht Gewährung Schutzgüter werden durch die Freiheitsrechte nicht gewährt, sondern gewährleistet. Diese fast trivial anmutende Aussage bedarf gleichwohl der Akzentuierung, weil die Grundrechtsdogmatik gelegentlich ihre Herkunft aus dem Konstitutionalismus nicht völlig abgestreift hat. Solange die Ausübung von Staatsgewalt theoretisch mit der Fürstensouveränität begründet wurde, wurden Grundrechte – wie sie etwa in der Preußischen Verfassungsurkunde niedergelegt waren – vom Monarchen gewährt. Es waren also einzelne Rechtspositionen, auf die sich der Bürger gegenüber der monarchischen Gewalt berufen konnte. So waren auch im vorkonstitutionellen Zeitalter derartige Rechtspositionen durchaus anerkannt – mögen sie auch gegen eine besondere Rechtsperson des „Fiskus“ gerichtet gewesen sein.7 Die Gewährung von Bürgerrechten durch die Verfassung war als staatstheoretische Konstruktion aber nur so lange tragfähig, wie die Fürstensouveränität als Ursprung staatlichen Handelns anerkannt war. Mit dem Durchbruch der Volkssouveränität in der Weimarer Reichsverfassung8 verlor das Theorem der Gewährung von Grundrechten seine theoretische Basis. Wenn nämlich das Volk selbst sich eine Verfassung gibt und in diese Verfassung Grundrechte aufgenommen werden, so können diese schwerlich als eine Einschränkung der als umfassend gedachten Macht des Verfassungsgebers – nämlich des Volkes selber – gedacht werden. Zwar mag man einwenden, dass dieser Gedanke in der Weimarer Staatsrechtslehre kaum Anklang gefunden hat; indes stand Weimar noch so stark im Zeichen des Konstitutionalismus, dass dieser Umstand kaum verwundern kann. Für das Grundgesetz ist allemal festzuhalten, dass es aus dem Schatten konstitutionellen Staatsdenkens herausgetreten ist und es deshalb eine in sich widersprüchliche Vorstellung wäre, dass das Volk sich durch die Verfassung gewissermaßen selbst Grundrechte gewährt. Diese Konstruktion müsste schon deshalb als absurd erscheinen, weil für den Fall, dass es einzelne Grundrechte nicht gäbe, der insoweit nicht geschützte Bereich wieder an den Souverän – nämlich das Volk – zurückfallen müsste. Diese Vorstellung war im monarchischen Konstitutionalis6 Vgl. nur M. Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 6. Aufl., 2011, Vor Art. 1 Rn. 77 m.w. N. 7 Vgl. F. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 8. 8 Art. 1 WRV: „Das Deutsche Reich ist eine Republik“.

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mus durchaus folgerichtig, erwies sich aber nach seinem Untergang als nicht mehr haltbar. V. Grundrecht und grundrechtlich geschütztes Rechtsgut Neben die staatstheoretische Ableitung tritt ein Umstand, den man als „dogmatische Evidenz“ bezeichnen möchte. Die den Grundrechten vorgelagerten Handlungsmöglichkeiten und Zustände entziehen sich nämlich der Disposition des Staates und können schon deshalb nicht als von diesem „gewährt“ angesehen werden. Zwar ließe sich – in Verfolg konstitutionellen Staatsdenkens – immerhin vertreten, dass die Meinungsfreiheit gewährt wird, weil auch stärkere Einschränkungsmöglichkeiten denkbar sind. Für die Lebensgüter9 wäre diese Vorstellung allerdings grotesk: Das Leben als Schutzgut des Art. 2 Abs. 2 GG wird nicht vom Staat „gewährt“, sondern geschützt. Die körperliche Unversehrtheit ist ebenfalls ein normaler Zustand, dessen sich Menschen überwiegend erfreuen, und keine staatliche „Gewährung“. Auch die Freiheit der Person ließe sich als argumentum ad absurdum anführen, denn wenn erst der Staat sie gewährte, müsste es bei Fortfall dieser Gewährung immerhin als denkmöglich erscheinen, dass ein ganzes Volk hinter Schloss und Riegel sitzt. Damit ist die These von der grundrechtlichen Gewährleistung der Schutzgüter erhärtet und gleichzeitig die Notwendigkeit terminologischer Differenzierung begründet: Es muss strikt unterschieden werden, ob ein Grundrecht oder ein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut – ein „Schutzgut“ – in Rede steht. Diese Differenzierung wird sich als ebenso notwendig wie hilfreich erweisen, wenn wir zur Eingriffsproblematik übergehen. VI. Die Technik grundrechtlicher Gewährleistung Die Differenzierung zwischen Grundrecht und grundrechtlich geschütztem Rechtsgut führt zur weiteren Frage, wie nämlich der grundrechtliche Schutz von Rechtsgütern bewirkt wird. Die Frage scheint fast überflüssig und die Antwort selbstverständlich zu sein, weil bekanntlich Grundrechtseingriffe der Rechtfertigung bedürfen und in der Rechtfertigungsbedürftigkeit der Grundrechtsschutz besteht. Dies allerdings würde bedeuten, dass Grundrechte sich gewissermaßen selbst schützen, denn wenn ein Grundrechtseingriff aufgrund des Grundrechts und an seinem Maßstab rechtfertigungsbedürftig ist, so bliebe nur der Schluss, dass ein Grundrecht Grundrechtsschutz seiner selbst gewährleistet. Das fast pleonastisch anmutende Wortspiel löst sich indes rational auf, wenn man – wie hier geschehen – zwischen dem Grundrecht und dem grundrechtlich 9

Dieser Begriff schon in BHGZ 8, 243 (247).

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geschützten Rechtsgut unterscheidet. Die Grundrechte sind eben keine Ausschnitte aus der Lebenswirklichkeit, keine Sozialbereiche oder sonstige Entitäten, sondern – wie eingangs hervorgehoben – subjektiv-öffentliche Rechte. Als solchen ist ihnen in der Regel eine Abwehrfunktion zu eigen, mit anderen Worten können sie vom Grundrechtsträger dem Handeln des Grundrechtsadressaten entgegengesetzt werden.10 In der Begrifflichkeit des § 194 BGB kann also der Grundrechtsträger vom Grundrechtsadressaten ein Unterlassen verlangen. Dies allerdings setzt voraus, dass das Handeln des Grundrechtsadressaten nicht gerechtfertigt werden kann und damit eröffnet sich das weite Feld der Eingriffsproblematik. VII. Versuch einer Schrankendogmatik Zu dem grundrechtsdogmatischen Urgestein gehört die Trias von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung. Trotz der Fülle an Literatur, die in den vergangenen sechs Jahrzehnten den Grundrechten gewidmet war und in der die Werke Klaus Sterns einen hervorragenden Platz einnehmen, schien es doch einen Konsens darüber zu geben, dass „jedenfalls“ jedem Grundrecht ein Schutzbereich eigen ist, in den eingegriffen werden kann, was zur Folge hat, dass ein solcher „Grundrechtseingriff“ rechtfertigungsbedürftig ist. Vor diesem Hintergrund mag es erstaunen, dass auf der Staatsrechtslehrertagung in Osnabrück im Jahre 1997 „Der Grundrechtseingriff“ zum Beratungsgegenstand gewählt wurde und durchaus zu teilweise kontroversen Stellungnahmen Anlass gab. Wenn hier der Versuch gewagt werden soll, eine Schrankensystematik zu entwerfen, so kann von ihr immerhin eine terminologische Klärung erhofft werden. Wenn Grundrechte ihnen vorausliegende Rechtsgüter schützen, so sind diese „Schutzgüter“ doch von ganz unterschiedlicher Art. Insoweit sei an die eingangs vorgenommene Differenzierung zwischen Handlungsmöglichkeiten und Zuständen erinnert. Mit dem Leben, der körperlichen Unversehrtheit und der Freiheit der Person werden Individualrechtsgüter geschützt, die sich grundsätzlich der staatlichen Einwirkung entziehen. Beim Leben ist dies evident, denn eine Ermächtigung zum Eingriff in das Leben – was seine Beendigung bedeutet – findet sich nur in den Regelungen der Polizeigesetze über den „finalen Rettungsschuss“.11 In die körperliche Unversehrtheit kann aufgrund mehrerer Gesetze eingegriffen werden, doch sind auch solche Eingriffe die Ausnahme. Ebenso verhält es sich bei der Freiheit der Person. Hier stehen naturgemäß in erster Linie die Freiheitsstrafen in Rede; aber auch die strafgerichtliche Verurteilung oder sonstige freiheitsentziehende Maßnahmen haben aufs Ganze gesehen Ausnahmecha10 So für viele: G. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1998, passim. 11 Nachweise bei V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 14. Aufl., 2008, Rn. 412.

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rakter. Die durch Art. 2 Abs. 2 GG geschützten „Lebensgüter“ sind also nicht nur durch ihren hohen Rang, sondern auch dadurch gekennzeichnet, dass sie normalerweise unangetastet bleiben und der Staat nur unter außergewöhnlichen Umständen in sie eingreifen kann. Hier erweist sich der Begriff des Eingriffs als zutreffend, weil ihm eine räumliche Konnotation eigen ist. Es wird nämlich „in“ etwas eingegriffen und dieses „Etwas“ – nämlich Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person – ist durchaus als geschlossenes Ganzes vorstellbar, das sich normalerweise dem Eingriff entzieht und in das unter den gesetzlichen Voraussetzungen – punktuell – eingegriffen werden kann.12 Sofern Grundrechte Handlungsmöglichkeiten schützen, ist der Eingriffsbegriff – obwohl auch hier verbreitet – unangemessen. Handlungsmöglichkeiten stehen stets in einem sozialen Kontext und sind mit Handlungsmöglichkeiten anderer zu harmonisieren und deshalb notwendig einzuschränken. Die Schrankenmetapher wird – ebenso wie der Eingriffsbegriff – im Grundgesetz selbst verwandt (Art. 5 Abs. 2 GG), was hinreichenden Anlass gibt, sie auch als dogmatischen Begriff beizubehalten. Die grundrechtlich geschützten Handlungsmöglichkeiten sind nämlich – im Gegensatz zu den genannten „Zuständen“ – nicht als ein geschlossenes Ganzes vorstellbar, in das „eingegriffen“ werden könnte, sondern stehen stets im sozialen Kontext und haben die „Freiheit des Anderen“ zu berücksichtigen. Am deutlichsten wird dies bei der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG, die zugleich eine allgemeine Definition von Freiheit enthält und damit in der Tradition der Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 178913 und dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten14 steht. In prosaischer – der hier verfolgten Absicht entsprechender – Begriffswahl ließen sich die genannten Verfassungsbestimmungen in der Weise umformulieren, dass menschliche Handlungsmöglichkeiten nur insoweit verfassungsrechtlich – nämlich durch Grundrechte – geschützt sind, wie sie die Handlungsmöglichkeiten oder Zustände anderer, die ebenfalls verfassungsrechtlich geschützt sind, nicht beeinträchtigen. VIII. Gesetzliche Ausgestaltung von Rechtsgütern Weist man den Eingriffsbegriff allein den als unverletzlich gewährleisteten Rechtsgütern zu und bezieht die Schranken auf grundrechtlich geschützte Handlungsmöglichkeiten, so ist die Skala staatlicher Einwirkungen auf die Sphäre des Bürgers doch noch nicht erschöpft. Einzelne Grundrechte schützen Rechtsgüter, 12 Der punktuelle Eingriff gilt für die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person, weil nach dem Eingriff das Rechtsgut wieder unangetastet bleibt. Für einen Eingriff in das Leben gilt dies begreiflicherweise nicht, weil es in das Leben nur einen Eingriff geben kann. 13 Vgl. Fn. 5. 14 Vgl. Fn. 5.

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die zwar auch der Verfassung vorgelagert sind, indes der gesetzlichen Ausgestaltung bedürfen. Beispiele sind hierfür Ehe und Familie (Art. 6 GG) einerseits und das Eigentum (Art. 14 GG) andererseits. Auch hier haben wir es mit der Verfassung vorgelagerten Rechtsgütern zu tun. Das Zusammenleben von Mann und Frau in der Rechtsform der Ehe ist uns seit den frühen Hochkulturen bekannt. Die daraus entstandene Familie ist seit jeher rechtlich geordnet gewesen. Auch das Eigentum – in vorgeschichtlicher Zeit jedenfalls die Beziehung von Menschen zu Werkzeugen – ist kein Rechtsinstitut, das erst in jüngerer Zeit entwickelt worden wäre. Insofern steht das Grundgesetz – und standen seine Vorläufer – in einer vielhundertjährigen Rechtstradition. Zu übersehen ist indes nicht, dass es erst der gesetzlichen Ausgestaltung bedarf, damit der Grundrechtsschutz einsetzen kann. Art. 6 Abs. 1 GG schützt eben nicht jede beliebige Form des Zusammenlebens von Mann und Frau – oder gar von Paaren gleichen Geschlechts –, sondern allein die Ehe, nämlich eine von Mann und Frau in den entsprechenden Rechtsformen geschlossene, auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft.15 Beim Eigentum liegen die Dinge weniger deutlich, weil der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff alle vermögenswerten Rechte – und dazu einzelne subjektiv-öffentliche Rechte – umfasst.16 Allerdings muss es sich um solche Rechte auch handeln, weil Gewinnerwartungen oder -aussichten, die nicht zu Rechten kondensiert sind, bekanntlich nicht unter dem Schutz des Art. 14 GG stehen. Das Grundgesetz unterscheidet indes sehr genau zwischen der Inhaltsbestimmung des Eigentums und den Schranken. Entgegen einer verbreiteten Auffassung, hier handele es sich um ein und dieselbe Einwirkungsmöglichkeit, sei festgehalten, dass die Inhaltsbestimmung anderen Zwecken dient, als die Festlegung von Schranken. Gesetzliche Inhaltsbestimmungen dienen dem Rechtsverkehr, sollen also das Eigentum verkehrsfähig machen.17 Schranken dagegen setzen geschütztes Eigentum voraus und verfolgen das Ziel, den Gebrauch des Eigentums sozialfähig zu machen. Es ist eben doch ein Unterschied, ob für die Übertragung eines Grundstücks der notarielle Vertrag und die Eintragung ins Grundbuch erforderlich sind oder ob einem Grundeigentümer gesetzlich verboten wird, schädliche Stoffe zu emittieren. Bei strikter Logik fehlte es für die gesetzliche Ausgestaltung von Rechtsgütern am verfassungsrechtlichen Maßstab, weil diese ja erst durch den Akt des Gesetzgebers ihre Konturen erhalten. Indes ist der Gesetzgeber auch in diesem Bereich nicht frei, weil die entsprechenden Rechtsinstitute eine vielhundertjährige Tradition aufweisen. Bekanntlich zielte hierauf Martin Wolffs Lehre von der Instituts15 Vgl. hierzu J. Ipsen, Ehe und Familie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl., 2009, Rn. 8 ff. m.w. N. 16 Vgl. nur BVerfGE 83, 201 (209); std. Rspr. 17 Vgl. hierzu ausführlich J. Eschenbach, Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums, 1996, S. 558 ff.

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garantie, nach der Art. 153 WRV mit dem Begriff des Eigentums ein Institut gewährleistete, „das diesen Namen verdient“.18 IX. „Einwirkungen“ als Oberbegriff Eingriffe, Schranken und gesetzliche Ausgestaltung haben die Gemeinsamkeit, dass auf grundrechtliche Schutzgüter eingewirkt wird. Der Begriff „Einwirkung“ ist dem des – auch weit verstandenen – „Eingriffs“ vorzuziehen, weil der Eingriffsbegriff stets Konnotationen an einen Raum – einen „Schutzbereich“ – aufweist, der zwar bei geschützten Zuständen vorstellbar ist, bei Handlungsmöglichkeiten aber schon als Bild versagt. Allerdings ist ein Oberbegriff erforderlich, weil er die wichtige Funktion hat, rechtfertigungsbedürftige staatliche Maßnahmen von solchen abzugrenzen, die keiner Rechtfertigung bedürfen. Man könnte einwenden, letztlich sei es doch gleichgültig, ob man von „Eingriffen“ oder „Einwirkungen“ spricht, wo es doch in beiden Fällen um die Rechtfertigungsbedürftigkeit von Maßnahmen geht. Dem ist entgegenzuhalten, dass der Eingriffsbegriff ja keineswegs verabschiedet werden soll, sondern sich als Unterfall der Einwirkung darstellt. Hier nämlich lässt sich auch die „klassische“ Definition19 verwenden, die auf andere Einwirkungen bekanntlich nicht passt, was zu dem Dilemma der Grundrechtsdogmatik führte, einen weiten Eingriffsbegriff entwickeln zu müssen, dessen Konturen aber völlig undeutlich waren.20 Es ist eben nicht nur façon de parler, den einen oder anderen Begriff zu wählen. Die räumliche Konnotation des Eingriffsbegriffs wird stets die Frage aufwerfen, ob eine staatliche Maßnahme in den geschützten Raum eindringt oder außen vor bleibt. Hiermit ist ein dezisionistisches Element in die Grundrechtsdogmatik hineingetragen worden, das vermeidbar wäre. Der „Kruzifix-Beschluss“21 war ein anschauliches Beispiel dafür, dass der Eingriffsbegriff in seiner dogmatischen Leistungsfähigkeit überfordert war.22 Es bleibt deshalb bei dem Vorschlag, den Eingriff lediglich als Unterfall der Einwirkung auf grundrechtlich geschützte Rechtsgüter zu verstehen und ihm andere Einwirkungen – nämlich die Schranken und die gesetzliche Ausgestaltung – an die Seite zu stellen. Beim herkömmlichen Prüfungsschema würde der „Eingriff“ sinnvollerweise durch den der „Einwirkungsebene“ ersetzt.23

18 So M. Wolff, Reichsverfassung und Eigentum, in: Festgabe für W. Kahl, 1923, Teil IV, S. 6; umfassend zur Lehre von den Einrichtungsgarantien K. Stern (Fn. 2), S. 776 ff. 19 Vgl. hierzu H. Dreier (Fn. 3), Rn. 124. 20 Hierzu M. Sachs (Fn. 6), Rn. 78 ff. 21 BVerfGE 93, 1. 22 Vgl. hierzu J. Ipsen, Glaubensfreiheit als Beeinflussungsfreiheit?, in: Festschrift für M. Kriele, 1997, S. 301 ff. 23 So J. Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 14. Aufl., 2011, Rn. 136.

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X. Die Rechtfertigungsebene Wird eine Einwirkung auf grundrechtlich geschützte Rechtsgüter festgestellt, so bedarf sie der Rechtfertigung. Die Technik grundrechtlicher Gewährleistung besteht also in der Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlichen Handelns am Maßstab des Rechts.24 Die Vorstellung, individuelles Handeln sei „frei“, wohingegen staatliche Maßnahmen stets der Begründung bedürfen, war manchem Vertreter obrigkeitsstaatlichen Denkens durchaus befremdlich.25 Es geht indes hierbei um ein grundlegendes Prinzip unserer Verfassung: Nicht das Handeln des Einzelnen bedarf der Rechtfertigung (Erlaubnis, Genehmigung, Konzession), vielmehr ist der Einzelne in seinem Handeln grundsätzlich frei. Rechtfertigungsbedürftig sind hingegen Einwirkungen auf die Freiheitssphäre des Einzelnen, womit ein klares Verteilungsprinzip gefunden ist. Erlaubt ist, was nicht (ausdrücklich) verboten ist.26 XI. Grundrechtsdogmatische Folgerungen Mag man auch der begrifflichen Präzisierung – Einwirkung statt Eingriff, Differenzierung verschiedener Einwirkungskategorien – nur eine begriffsklärende Funktion zumessen, so lassen sich vor dem Hintergrund der Differenzierung zwischen Grundrecht und grundrechtlich geschütztem Rechtsgut eine Reihe grundrechtsdogmatischer Probleme, die nach wie vor umstritten sind, lösen. 1. Besinnt man sich auf die Struktur subjektiver Rechte, so sind diese stets auf ein Tun oder Unterlassen gerichtet.27 Grundrechte sind insofern auf ein Tun oder Unterlassen des Staates gerichtet. Wer ein Grundrecht ausübt oder „gebraucht“ – „verwirklicht“ –, tut dies durch Rechtsbehelfe vor Gerichten und schließlich durch die Verfassungsbeschwerde. Nicht aber übt jemand ein Grundrecht aus, wenn er seine Meinung sagt, an Versammlungen teilnimmt oder Vereinigungen gründet.28 Hier liegt eine verbreitete Begriffsvertauschung vor, dass nämlich die Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten, die jedem Menschen offenstehen, als „Grundrechtsgebrauch“ figuriert, womit ein Rückfall in konstitutionelles Denken verbunden ist; denn in der Epoche der Fürstensouveränität musste die Meinungs- und Versammlungsfreiheit als eine Gewährung des Monarchen erscheinen, von der der Bürger Gebrauch machte. 2. Viel Beachtung hat die Frage der Grundrechtskollisionen gefunden und zu unterschiedlichen Lösungsvorschlägen geführt.29 Indessen beruht sie häufig auf 24

Vgl. B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 26. Aufl., 2010, Rn. 263 ff. Vgl. nur H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 785. 26 So BVerfGE 84, 372 (380); hierzu auch G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 72 f. 27 Grundlegend R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 3. Aufl., 1996, S. 171 f. 28 Vgl. J. Ipsen (Fn. 23), Rn. 79. 25

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unzutreffenden Prämissen, nämlich der Vorstellung, dass Grundrechte kollidieren können. Die Differenzierung zwischen Recht und Rechtsgut legt vielmehr nahe, dass unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten – im Übrigen nicht: „Zustände“ – miteinander in Konflikt geraten können und im täglichen Leben auch geraten und das Recht entsprechende Modelle der Streitschlichtung zur Verfügung stellt. Wenn beispielsweise ein Journalist in einem kritischen Artikel einen Politiker angreift, so handelt es sich zunächst um zwei konfligierende Rechtsgüter, nämlich um eine Meinungsäußerung in der Presse auf der einen und das Persönlichkeitsrecht auf der anderen Seite. Eine grundrechtliche Dimension erfährt der Konflikt erst, wenn die Meinungs- oder Pressefreiheit eingeschränkt wird und der Journalist sich auf sein Grundrecht beruft. Zu einer Art „Grundrechtskollision“ könnte es erst kommen, wenn der gekränkte Politiker sich seinerseits auf sein grundrechtlich geschütztes Persönlichkeitsrecht beruft, um die einschränkende staatliche Maßnahme zu rechtfertigen. 3. Geläufig ist auch der Begriff des Grundrechtsverzichts. Nicht immer ist klar, was hiermit gemeint ist; häufig steht jedoch der „Grundrechtsverzicht“ für das bloße Unterlassen von Handlungsmöglichkeiten. Auch hier weist die Differenzierung zwischen Grundrecht und grundrechtlich geschütztem Rechtsgut einen anderen Weg: Wer keine Meinung äußert, nicht zu Versammlungen geht oder keiner Vereinigung angehört, leistet damit keinen Rechtsverzicht, sondern nimmt lediglich Handlungsmöglichkeiten nicht wahr, die jedem Grundrechtsträger offenstehen. Ein Verzicht auf Grundrechte kann nur im Einzelfall vorkommen, wenn sich der Einzelne gegen Eingriffe des Staates nicht zur Wehr setzt oder, nachdem er bereits entsprechende Rechtsbehelfe ergriffen hat, diese zurücknimmt. Ein genereller Verzicht auf Grundrechte, der gleichbedeutend mit der Gestattung eines jeden Eingriffs wäre, ist schwerlich denkbar und wäre überdies verfassungswidrig.30 4. Auch das schwierige Problem des Wesensgehalts kann mit der Differenzierung zwischen Grundrecht und grundrechtlich geschütztem Rechtsgut einer Lösung nahe gebracht werden. Weder die Theorie des absoluten noch die des relativen Wesensgehalts vermögen zu überzeugen. Der Theorie des absoluten Wesensgehalts müsste entgegengehalten werden, dass ein Eingriff in das Leben – wie beim „finalen Rettungsschuss“ – das Leben auch beendet. Auch bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe bzw. Sicherungsverwahrung bleibt von der Freiheit nichts mehr übrig. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Bezieht man den Wesensgehalt aber nicht auf das grundrechtlich geschützte Rechtsgut, sondern auf das subjektive Recht, so besteht dieser in der Möglichkeit, sich gegen Eingriffe und Einschränkungen der Grundrechte zur Wehr zu setzen. Der Wesensgehalt 29 Vgl. hierzu C. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., GG – Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl., 2010, Rn. 319 ff. 30 Vgl. J. Ipsen (Fn. 23), Rn. 82.

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eines Grundrechts ist also dann angetastet, wenn Grundrechte ihrer Funktion als subjektiv-öffentliche Rechte beraubt würden.31 5. Auch das Problem der Grundrechtsverwirkung lässt sich aufgrund der Differenzierung zwischen Recht und Rechtsgut lösen. Art. 18 GG hat in der Geschichte der Bundesrepublik keine Bedeutung erlangt. Die wenigen von der Bundesregierung eingeleiteten Verfahren sind eingestellt worden.32 Die Grundrechtsverwirkung ist deshalb – im Gegensatz zum Parteienverbot – auch in der Staatsrechtslehre weitgehend unbeachtet geblieben. Wenn hier gleichwohl die Frage aufgeworfen wird, was mit der Grundrechtsverwirkung verbunden wäre, so ist dies nichts anderes als die Nagelprobe auf die dogmatische Tragfähigkeit zwischen Grundrecht und Rechtsgut. Schwerlich vorstellbar wäre, dass ein Grundrechtsträger aufgrund eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts eine Meinung nicht mehr äußern dürfte, nicht mehr an Versammlungen teilnehmen oder keine Briefe mehr schreiben dürfte. Die Grundrechtsverwirkung würde vielmehr bedeuten, dass der betreffende Grundrechtsträger sich gegenüber Einschränkungen dieser Handlungsmöglichkeiten nicht mehr auf seine Grundrechte berufen könnte. Nimmt man als Beispiel Art. 10 GG als verwirktes Grundrecht, so würde dem Grundrechtsträger nicht verboten, Briefe zu schreiben, zu telefonieren oder E-Mails auszutauschen. Nur könnte er sich gegen die Überwachung seiner Kommunikation nicht mehr auf Art. 10 GG berufen. XII. Schlussbetrachtung Einem bekannten Diktum zufolge ist das Grundgesetz „ein großes Angebot“. Es bietet seit mehr als sechs Jahrzehnten eine stabile rechtliche Grundordnung für den Staat, der sich nach Krieg und Gewaltherrschaft neu konstituieren und den Weg zurück in die Völkergemeinschaft finden musste. Das Grundgesetz war – und ist – auch ein Angebot für die Staatsrechtswissenschaft gewesen, die in Klaus Sterns monumentalem Werk einen unwiederholbaren Höhepunkt erreicht hat. Über der Fülle der „Dimensionen“ der Grundrechte sollte allerdings nicht in Vergessenheit geraten, dass ihre Wirksamkeit in erster Linie ihrer Rechtsnatur als subjektive Rechte zu verdanken ist. Ohne die unmittelbare Geltung der Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG), der Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) und – vor allem – der Verfassungsbeschwerde wäre das Angebot unvollkommen geblieben. Deshalb darf aus Anlass des 80. Geburtstags Klaus Sterns daran erinnert werden, dass Grundrechte in erster Linie subjektive Rechte sind und diese Rechtsnatur für die Grundrechtsdogmatik leitend sein muss.

31 Vgl. zu diesem Ansatz bereits BVerfGE 61, 82 (113); zu den verschiedenen „Wesensgehaltstheorien“ vgl. M. Sachs (Fn. 6), Rn. 41 ff. 32 Vgl. BVerfGE 11, 282; 38, 23.

Problemi sui criteri di interpretazione delle norme che prevedono i diritti soggettivi Di Vittorio Italia I. Premessa Il tema di questo contributo è stato stimolato dagli studi, acuti ed approfonditi, dello Studioso che viene onorato in occasione del Suo genetliaco. Il contributo ha come oggetto i criteri di interpretazione delle norme che prevedono e tutelano i diritti soggettivi, e la tesi che viene sostenuta è che i criteri di interpretazione delle leggi sono dipendenti dal sistema normativo, e che le situazioni soggettive possono essere concretamente tutelate soltanto se sono previste nelle norme gerarchicamente superiori. Nell’attuale sistema, caratterizzato da un pluralismo delle norme, vi può essere una reale tutela dei diritti soggettivi, soltanto se le norme gerarchicamente superiori condizionano e vincolano le altre norme, e condizionano, con una formulazione precisa e non ambigua, la giurisprudenza. L’interpretazione, da sola, non garantisce questa tutela, ed anche l’interpretazione giurisprudenziale, se non è ancorata a norme gerarchicamente superiori e formulate in modo tecnicamente preciso, fornisce una tutela sbiadita e non determinante ai diritti soggettivi. L’indagine di questo contributo partirà da lontano, e si fermerà l’attenzione su periodi storici nei quali i diritti soggettivi non erano stati ancora così qualificati, ma dove le situazioni soggettive delle persone incidevano sulla loro capacità di agire. II. I precedenti criteri di interpretazione I precedenti criteri di interpretazione, oltre a generiche indicazioni rivolte a considerare la completezza della legge1 o la ratio2, si basavano sulle regole della 1 Celso, in Digesto Libro I, Titolo III: “Incivile est, nisi tota lege perspecta una aliqua particula eius iudicare vel respondere.” 2 Si veda ad esempio, alcuni passi del Libro I, Titolo III del Digesto, tra i quali il n. 14 (Paolo, Libro IV ad Edictum): “Quod vero contra rationem iuris receptum est, non est producendum ad consequentias.” N. 15 (Giuliano Libro XXVII Digesti): “In his quae contra rationem iuris constituta sunt, non possumus sequi regulam iuris.” N. 16 (Paolo nel Libro “Singulari de iure singulari.” “Ius singulare est, quod contra tenorem

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generalità e della specialità, espresse nella nota formula: lex specialis derogat legi generali, e lex posterior specialis non derogat priori generali. Le norme erano collocate sullo stesso piano, ma ciò faceva sorgere – proprio in riferimento ai diritti soggettivi – parecchi problemi, specie quando le situazioni soggettive erano previste in norme che appartenevano a sistemi diversi (ad esempio quello statale, o quelli locali), che disciplinavano queste situazioni soggettive in modo diverso. Si pensi, ad esempio, al termine “quis”, di cui al Libro 50 n. 1, dei Digesti, che si riferiva sia agli uomini che alle donne. Ma molte norme degli “statuti” dei Comuni italiani del 1200–1300 prevedevano che le donne non potevano ereditare “stantis masculis”, e sorgeva il problema dell’interpretazione di questo termine in relazione alle norme statutarie. La dottrina del 12003 aveva affrontato il problema in un modo lontano dalla nostra sensibilità giuridica. Bartolo Da Sassoferrato affermava infatti che “se l’esclusione delle donne dal testamento era stata causata da ‘odio ragionevole’ (rationabilis), allora il termine quis comprendeva anche il termine femminile. Se l’esclusione era stata determinata da ‘odio irragionevole’ (irrationabilis), esso non comprendeva il termine femminile”. Questa impostazione può sorprendere, ma per convincerci che il ragionamento giuridico dei giuristi del passato (anche di quelli molto stimati nel loro tempo) seguiva un itinerario diverso da quello che viene oggi utilizzato, lasciamo la parola allo stesso Bartolo, che argomentava nel modo seguente: “Io distinguo così. Quando ci si chiede se il termine maschile comprenda anche il termine femminile, rispondi in questo modo: se il termine maschile viene affermato (profferito) come termine proprio, e non consta che vi sia stata intenzione diversa da parte di colui che lo aveva affermato, allora esso non comprende il termine femminile. Se il termine maschile è stato proferito in modo congruente alla parte maschile e non congruente alla parte femminile, in questo caso il maschile non comprende il termine femminile. Se il termine maschile è stato profferito in una materia indifferente, allora il termine può essere congruente sia al significato maschile e femminile, e quindi è visto con favore anche per il termine femminile”. Oltre a ciò, si deve notare che la distinzione tra “odio” (e quindi con restrizione dei diritti) ragionevole ed irragionevole, inseriva nel sillogismo un elemento nuovo, che alterava il risultato del sillogismo stesso. Nel 1500, su questo stesso problema, altri giuristi (al tempo molto stimati) giungevano a conclusioni diverse. Ad esempio, Menochio4 affermava, in riferimento a varie ipotesi, che: “in appellatione filiorum in testamentis veniunt etiam foeminarum”, ed al contrario: rationis propter aliquan utilitatem auctoritate constituentium introductum est.” N. 20 (Giuliano Libro L Digesti): “Non omnium quae a maioribus constituta sunt, ratio reddi potest.” N. 39 Celso (Libro XXIII Digesti): “Quod non ratione introductum, sed errore primum, deinde consuetudine obtentum est, in aliis simibilibus non obtinet.” 3 Ad es. Bartolo Da Sassoferrato, Commentaria, Tomo VI, s. 231. L’edizione consultata è quella di Venezia 1602. 4 Nel citato volume dei Commentaria di Bartolo sono riportate le Additiones di Menochio a s. 231.

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“poena contra mulieres secundo nubentes non comprehendit virum”, ed anche che: “potestas legitimandi filios non comprehendit foeminas”. Il Carpano5 accentuava la regola della presenza degli eredi maschi (foemina exclusa ab intestato, stantibus masculis) e poneva il problema se tra le foeminae si dovessero “comprehendere moniales” (tesi che era esclusa dagli avvocati che difendevano in giudizio i monasteri femminili). Nel 1600, Marzio Medici 6, sul problema “quando mascolinum concipiat foemininum”, non argomentava sulla base del concetto di eguaglianza, ma partiva dal principio che le donne non potevano ereditare. L’A. fermava la sua attenzione sui problemi particolari, ad esempio che se si faceva riferimento ad un chierico o ad un presbitero, il “mascolinum” non comprendeva il “foemininum”. Nel 1700, il Constantino7, poneva anch’egli il problema: se “filia foemina dotata a patre ex statuto Urbis est exclusa ab illius successione favore filiorum masculorum”, e ragionava sulla “clausola” contenuta nel testamento paterno “prout de iure”. Secondo la tesi sostenuta dai fratelli maschi, “verba prout de iure intelliguntur de iure civili romanorum, non statutorum”. Il Constantino, invece, argomentava che “iuris appellatio”, quando si riferiva ai contratti (in contractibus), “venit ius statutarium”, ed in tal modo inseriva nel ragionamento giuridico un elemento nuovo, quello relativo ad una particolare interpretazione di un termine quando esso era inserito nei contratti. Le diversità di opinioni che si sono volute riportare e che incidevano su situazioni soggettive era determinata da uno scarso coordinamento tra le regole generali (in questo caso rappresentate da antiche formule del diritto romano) e le regole speciali (costituite dalle regole statutarie dei Comuni), che prevedevano delle deroghe che incidevano sulla stessa regola generale. III. I criteri attuali di interpretazione I criteri attuali di interpretazione delle norme che prevedono i diritti soggettivi si basano, nell’ordinamento italiano, sulla norma che stabilisce l’interpretazione della legge8. Ma questa norma era stata formulata per un sistema normativo di norme collocate sullo stesso piano, mentre le norme vigenti prevedono anche il criterio della gerarchia. Tutto ciò comporta, per i diritti soggettivi, nuovi pro5

Statutorum mediolanensium, Milano 1588, s. 283. Decisiones rotae et Fori ordinarii senensis, Firenze 1665, s. 260. 7 Vota decisiva, Bologna 1758. 8 Cfr. art. 12 delle Disposizioni sulla legge in generale, che recita: “Nell’applicare la legge non si può ad essa attribuire altro senso che quello fatto palese dal significato proprio delle parole, secondo la connessione di esse e dall’intenzione del legislatore. Se una controversia non può essere decisa con una precisa disposizione si ha riguardo alle disposizioni che regolano casi simili o materie analoghe; se il caso rimane ancora dubbio, si decide secondo i princìpi generali dell’ordinamento giuridico dello Stato.” Questa disposizione è stata pubblicata, assieme al Codice civile, nel 1942, ed essa deriva dalle identiche formule del Codice civile del Regno d’Italia del 1865. 6

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blemi. Infatti, attualmente, su molti problemi che coinvolgono i diritti soggettivi, non vi è soltanto una norma che stabilisce una regola per una singola fattispecie. Vi sono invece molte norme, collocate secondo una scala gerarchica, e tutte queste norme prendono in considerazione la stessa fattispecie. In altri termini, vi è come una “scalinata” di norme, che prendono in considerazione, anche con contenuti e sfumature diverse, la stessa fattispecie. Prendiamo, ad esempio, una fattispecie molto semplice; quella degli asili nido, che – per il numero limitato di posti – fanno sorgere dei problemi per il diritto soggettivo dei genitori a mandare i propri figli a questi asili. Le norme che disciplinano questa fattispecie sono numerose. Vi è: a) il regolamento del Comune sugli asili-nido; b) lo statuto del Comune che prevede delle disposizioni sulle famiglie e sui figli; c) la legge regionale sull’assistenza e gli asili nido; d) la legge statale sugli asili nido; e) la norma della Costituzione italiana sulla famiglia e l’educazione dei figli; f) a queste si devono aggiungere anche delle norme su base europea quali le Direttive. Di fronte a questo quadro normativo, i criteri interpretativi del citato articolo 12 delle Disposizioni sulla legge in generale sono insufficienti, ed è incompleto il criterio del passato per cui la legge doveva essere interpretata alla luce delle norme della Costituzione. IV. L’interpretazione giurisprudenziale delle recenti ordinanze dei Sindaci, che incidono sui diritti soggettivi Queste difficoltà sono confermate da altre regole normative che possno incidere sui diritti soggettivi, e cioè le ordinanze d’urgenza dei Sindaci in materia di “sicurezza urbana”, ed “incolumità pubblica”. Queste ordinanze, emanate sulla base di una norma del Testo unico degli Enti locali9 e di un decreto del Ministro dell’interno10, sono atti amministrativi che hanno un contenuto normativo, e sono intervenute a limitare o impedire vari comportamenti, quali ad esempio: 9 Cfr. art. 54, comma 4, del d.lgs. 267/2000 (Testo unico delle leggi sull’ordinamento degli Enti locali) che stabilisce: “Il Sindaco, quale ufficiale del Governo, adotta con atto motivato provvedimenti, anche contingibili ed urgenti nel rispetto dei princìpi generali dell’ordinamento, al fine di prevenire e di eliminare gravi pericoli che minacciano l’incolumità pubblica e la sicurezza urbana (. . .). 10 Cfr. art. 54, comma 4 bis: “Con decreto del Ministro dell’interno è disciplinato l’ambito di applicazione delle disposizioni di cui ai commi 1 e 4 anche in riferimento alle definizioni relative alla incolumità pubblica e alla sicurezza urbana.” Il decreto del Ministro dell’interno del 5 agosto 2008 ha definito l’ “incolumità pubblica” come l’ “integrità fisica dei cittadini”, e la “sicurezza urbana” come il “bene pubblico da tutelare attraverso attività poste a difesa, nell’ambito delle comunità locali, del rispetto delle norme che regolano la vita civile, per migliorare le condizioni di vivibilità nei centri urbani, la convivenza civile e la coesione sociale”, e sono indicati (articolo 2) i seguenti accadimenti che dovrebbero essere prevenuti e contrastati: a) le situazioni urbane di degrado o di isolamento che favoriscono l’insorgere di fenomeni criminosi, quali lo spaccio di stupefacenti, lo sfruttamento della prostituzione,

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– il divieto di indossare il burqa, ed anche il burqini, divieto – quest’ultimo; – basato su non specificate ragioni igienico sanitarie e sulla tutela della serenità dei bagnanti, specie dei più piccoli; – divieto di svolgere cerimonie religiose all’aperto; – divieto di mendicare, anche in modo non molesto; – divieto di vendita per asporto di bevande alcoliche, motivate con l’argomento che le bottigliette di vetro contenenti le bevande saranno frantumate e lasciate nella strada; – divieto di consumare bevande alcoliche di qualsiasi gradazione; – divieto di utilizzare le panchine dei giardini o dei parchi pubblici e lo “stazionamento” presso le stesse; – divieti per il contrasto alla prostituzione, che si traducono anche in divieti di comportamenti che sarebbero di per sé legittimi, quali ad esempio il parlare con una “prostituta”; – divieto di sedersi sui gradini dei monumenti; – divieto di rimuovere i crocefissi dalle aule scolastiche e dai locali pubblici; – divieto di portare merci nei “borsoni”; – divieto anti-kebab, motivate con l’argomento che gli avventori di questi esercizi sono numerosi e lasciano poi, sul terreno davanti all’esercizio, vetri e resti di cibo; – vi sono poi anche altre ordinanze che prevedono, ad esempio, l’autorizzazione ad abbattere i colombi con arma da fuoco, o che prevedono un censimento in occasione del Natale (Natale bianco), o che limitano in ampia misura le scuole islamiche, e le case sovraffollate.

b) c) d) e)

l’accattonaggio con impiego di minori e disabili, e i fenomeni di violenza legati anche all’abuso di alcool; le situazioni in cui si verificano comportamenti quali il danneggiamento al patrimonio pubblico e privato, che ne impediscono la fruibilità e determinano lo scadimento della qualità urbana; l’incuria, il degrado e l’occupazione abusiva di immobili, tali da favorire le situazioni già previste nelle precedenti lett. a) e b); le situazioni che costituiscono intralcio alla pubblica viabilità o che alterano il decoro urbano, in particolare quelle di abusivismo commerciale e di illecita occupazione di suolo pubblico; i comportamenti che, come la prostituzione su strada o l’accattonaggio molesto, possono offendere la pubblica decenza, anche per le modalità con cui si manifestano, ovvero turbano gravemente il libero utilizzo degli spazi pubblici o la fruizione cui sono destinati (i medesimi spazi) o che, ancora, rendono difficoltoso o pericoloso l’acceso ad essi.

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La giurisprudenza amministrativa su queste ordinanze, non è univoca11. È stata poi recentemente sollevata, da parte del Tar Veneto, III, 6 aprile 2010, n. 40, l’eccezione di incostituzionalità 12 del citato articolo 54, comma 4 del Testo unico degli Enti locali, per contrasto con numerosi articoli della Costituzione, e si è in attesa della sentenza della Corte costituzionale, che dovrebbe chiarire i dubbi su questo problema. Queste diversità di interpretazione delle norme e delle ordinanze che riguardano i diritti soggettivi dipendono dal fatto che nelle norme sono previste regole speciali, siano esse delle leggi regionali, o degli statuti e dei regolamenti dei Comuni e delle Province, che hanno un grado di specialità che contrasta con le regole, anche di livello costituzionale, che tutelano questi diritti soggettivi. La diversità di queste norme non è più una diversità compatibile, ma è una diversità che, in un determinato ambito territoriale, si pone come regola generale. Non si sono tenute nel debito conto, nel sistema delle norme, la loro gerarchia, ed anche la necessità che i “princìpi” (siano essi quelli “fondamentali” per le leggi regionali, siano quelli “fissati”, per gli statuti e regolamenti degli Enti locali) non sono stati esplicitati, e sono stati confusi con i princìpi generali dell’ordinamento.

11 Ad esempio, il Tribunale amministrativo regionale Lazio-Roma, sez. II, 22 dicembre 2008, n. 1222, ha considerato legittima l’ordinanza di un Sindaco che vietava “a chiunque sulla pubblica via e su tutte le aree soggette a pubblico passaggio del territorio del Comune di Roma, di contattare soggetti dediti alla prostituzione ovvero concordare con gli stessi prestazioni sessuali”, perché esse “non violano i princìpi di legalità e tipicità dei provvedimenti amministrativi”. Il Tar Veneto (sez. III, ordinanza 8 gennaio 2009, n. 22) ha sospeso l’efficacia di un’ordinanza del Sindaco di Verona (del 2 agosto 2008, n. 81) che vietava a chiunque, in tutto il territorio comunale, di “contattare ovvero concordare prestazioni sessuali a pagamento, oppure intrattenersi, anche dichiaratamente solo per chiedere informazioni, con soggetti che esercitino attività di meretricio su strada”, affermando che: “le condotte vietate sono descritte in modo approssimativo e generico, cosicché possono risultare in concreto vietate anche condotte non immediatamente lesive di interessi riconducibili alla sicurezza urbana”. Il Tar della Lombardia – Brescia (sez. II, 15 gennaio 2010, n. 19) ha annullato l’ordinanza del Sindaco del Comune di Trenzano che aveva ad oggetto la “disciplina delle riunioni pubbliche o in luoghi aperti al pubblico per i limiti che erano stati imposti a queste riunioni, tra i quali l’obbligo di utilizzare, nel corso della riunione, la sola lingua italiana”. Il Tar della Lombardia – Milano, sez. III 6 aprile, n. 98, ha annullato l’ordinanza del Sindaco del Comune di Gambolò, diretta ad allontanare dalla permanenza in un’area pubblica (a causa delle precarie condizioni igienico-sanitarie dei luoghi occupati) alcuni nuclei familiari di cittadini italiani di etnìa Sinti. 12 Il Tar Veneto, sez. III, 6 aprile 2010, n. 40 – nel corso di un giudizio diretto a vagliare la legittimità di un’ordinanza del Sindaco di Selvazzano Dentro, che vietava in tutto il territorio comunale la mendicità, anche se non molesta, invasiva, e posta in essere con lo sfruttamento di minori – ha ritenuto che l’articolo 54, comma 4, del Testo unico degli Enti locali presentava dei dubbi di costituzionalità con i seguenti articoli della Costituzione: 2, 3, 5, 6, 8, 13, 16, 18, 21, 23, 24, 41, 49, 70, 76, 77, 97, 113, 117 e 119.

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I diritti soggettivi sono previsti nelle norme costituzionali, ma manca, nella legislazione italiana, un vincolo gerarchico che imponga alle norme regionali o locali di rispettare questi diritti soggettivi. Molte leggi regionali e molte norme statutarie e regolamentari locali di Comuni e Province prevedono regole speciali derogatorie, ed esse sono state giustificate in nome della loro autonomia. Ma sotto lo scudo dell’autonomia sono sovente previste regole speciali in favore dei cittadini che sono nati in un determinato Comune o in una determinata Regione, ed a svantaggio degli altri cittadini comunitari o delle persone extracomunitarie. V. Conclusioni I criteri di interpretazione delle norme che prevedono i diritti soggettivi devono avere, come presupposto, che questi diritti siano previsti in norme gerarchicamente superiori ed abbiano una formulazione precisa, ed esse non dovrebbero essere disattese o contraddette dalle norme gerarchicamente inferiori, specie quelle emanate nell’ambito delle autonomie, regionali o locali. Se una norma gerarchicamente superiore, espressa in formula di principio, non prevede questa tutela, questi diritti non trovano una concreta tutela. La giurisprudenza, da sola, anche quella più qualificata e sensibile, non può pervenire a questo obiettivo13, ed anche le tesi più innovative della dottrina del passato14 devono essere recepite in norme giuridiche di livello gerarchicamente superiore, che vincolano le norme di livello inferiore, specie quelle autonome. Non si esprime con ciò sfiducia nei confronti della giurisprudenza, ma si ritiene che la vera tutela dei diritti soggettivi sia nella loro previsione in robuste

13 In passato, si ritrovano varie sentenze che accettavano la distinzione tra “nobili” e gli “ignobili”, con la conseguenza che la tortura poteva essere applicata soltanto agli “ignobili”, ed in generale i primi dovevano ricevere pene “mitiores” rispetto agli altri. 14 Si pensi ad esempio, alla distinzione tra “statuto personale” e “statuto reale”, tracciata da Bartolo da Sassoferrato, che stabiliva il principio: che la persona umana ha il proprio statuto, per tutto quanto riguarda il suo status giuridico e la sua capacità (statuto personale), e questo ha diritto di vederlo tutelato dovunque esso vada. Mentre obbedirà alla regola del luogo per quanto riguarda i beni (statuto reale). È importante rilevare che questa teoria di Bartolo (che tanta importanza ha avuto nei secoli successivi per quanto riguarda il diritto internazionale privato) è stata derivata da un passo delle Istituzioni di Giustiniano I, 2, 1: “Tutti i popoli che sono organizzati e retti mediante leggi e consuetudini si valgono, in parte di un complesso di norme esclusivamente proprie, e in parte di norme comuni a tutti i popoli”, che era estraneo al problema in questione. Oltre a ciò, si deve aggiungere che questa teoria, così lodata da alcuni studiosi, quali il Galasso, Medioevo del diritto, Milano, s. 576 ff., deve essere temperata. Infatti, la persona che portava con sé i propri diritti anche al di fuori del cerchio delle mura della città, portava con se anche tutti i limiti che erano allora stabiliti per la persona. Ad esempio, se era previsto che la madre era “inhabilis” nel redigere un testamento in danno dei figli perché superava la quota legittima, ciò valeva anche al di fuori del territorio del Comune. Lo “statuto personale” comprendeva quindi i diritti, ma anche i limiti degli stessi diritti, secondo le regole del tempo.

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norme gerarchicamente superiori. Sulla base di ciò, la loro interpretazione potrà essere condotta in modo tale da garantire, nelle singole situazioni specifiche, un’ampia tutela di questi diritti. Il problema di fondo è quindi nella gerarchia delle norme, che devono impedire un’interpretazione speciale o particolare, che renda opaca la tutela dei diritti soggettivi. La specialità può essere elemento di differenziazione e di innovazione, ma può essere elemento di conservazione ed anche di privilegio, e se le norme sono basate soltanto sul criterio della generalità e della specialità, si perviene in concreto a conclusioni contrarie alla tutela dei diritti soggettivi.

Die Grundrechtsgesamtlage Von Eckart Klein I. Einführung Jedenfalls in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend die Erkenntnis Bahn gebrochen, dass die nationalen Grundrechte nicht für sich allein, sozusagen in splendid isolation stehen, sondern im Kontext der sie umgebenden internationalen menschen- und grundrechtlichen Verbürgungen gesehen und verstanden werden müssen. An der Weckung dieses Verständnisses haben Autoren wie Klaus Stern wesentlichen Anteil gehabt. Er ist nicht müde geworden, der Phänomenologie der Grund- und Menschenrechte nachzuspüren, ihre gemeinsame Wurzel in der Würde und Freiheit des Einzelnen zu erfassen und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse zusammenzuführen.1 Kaum ein Lehrbuch blendet heute noch diese von außen auf die nationalen Grundrechte gerichtete Sicht völlig aus. In den großen Darstellungen wird dieser Perspektive sogar ein ausgesprochen breiter Raum eingeräumt.2 Gleichwohl sind in den meisten Fällen zwei Defizite festzustellen. Der erste Mangel besteht darin, dass die wissenschaftlichen Abhandlungen zwar regelmäßig den bestehenden Zusammenhang aufzeigen, aber doch bei einer Darstellung verharren, in der die nationalen Grundrechte und die internationalen Gewährleistungen eher einander gegenüber gestellt als miteinander zum Zwecke der Schaffung einer ganzheitlichen Garantie verwoben werden.3 Dies hängt wohl mit der Vorstellung von zwei oder mehr nebeneinander stehenden Rechtsordnungen zusammen, für die sich der auf eine fast beispiellose Karriere zurückblickende Be1 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, §§ 58 und 59 (S. 3 ff., 47 ff.); ders., Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 108 (S. 3 ff.); ders., Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 1 (S. 3 ff.); ders., Menschenrechte als universales Leitprinzip, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/2, 2009, § 185 (S. 673 ff.); ders./Florian Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar (2010). 2 Dies gilt in erster Linie für das von Josef Isensee/Paul Kirchhof herausgegebene Handbuch des Staatsrechts (seit 1987, 3. Aufl. seit 2003) und das von Detlef Merten/ Hans-Jürgen Papier herausgegebene Handbuch der Grundrechte (seit 2004). 3 Eine gewichtige Ausnahme insoweit ist der von Rainer Grote/Thilo Marauhn herausgegebene EMRK/GG Konkordanzkommentar, 2006.

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griff des Mehrebenensystems4 eingebürgert hat, der aber den Nachteil hat, doch eher auf Nebeneinander oder Abfolge als Vermischung oder gegenseitige Durchdringung hinzuweisen. Damit soll nicht einem Monismus, wohl aber einem „aufgeklärten Dualismus“ das Wort geredet werden. Das zweite Defizit besteht in der sehr häufig anzutreffenden Unvollständigkeit der Betrachtungsweise. Zwar werden heute in den einschlägigen Ausführungen regelmäßig die in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Garantien zur Kenntnis genommen, die vielen weiteren menschenrechtlichen Garantien, welche die Bundesrepublik Deutschland als völkergewohnheitsrechtliche oder vertragsrechtliche Normen binden, werden jedoch fast regelmäßig ausgeblendet.5 Nun ist zuzugeben, dass sowohl die große Zahl solcher Bestimmungen als auch – teils damit zusammenhängend – deren schlichte Unkenntnis zu solcher Vernachlässigung Anlass geben. Aber dies kann natürlich kein Grund sein, Vorschriften außer Betracht zu lassen, die – möglicherweise – zum normativ vollständigen Bild eines Grundrechts dazugehören. Mit den folgenden, Klaus Stern gewidmeten Ausführungen soll für eine solche Gesamtbetrachtung plädiert werden, aus der allein sich die Grundrechtsgesamtlage ergeben kann.6 II. Notwendigkeit der Gesamtschau Dass die nationalen Grundrechte in der Zusammenschau mit ihren internationalen Pendants erörtert werden müssen, ergibt sich aus einer philosophischen und einer positivrechtlichen Erwägung. 1. Gemeinsame Grundidee

Zunächst ist auf die gemeinsame Grundidee zu verweisen, die den deutschen und internationalen menschenrechtlichen Garantien zugrunde liegt.7 Die Präambel der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen angenommenen und am 10. Dezember 1948 in Paris verkündeten Allgemeinen Erklärung der 4 Näher zur Mehrebenenmetapher Franz C. Mayer, Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: A. v. Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 559 (592 ff.). 5 Eine vollständige Übersicht vertraglicher Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland bietet das jährlich aktualisierte BGBl. II, Fundstellenverzeichnis B. 6 Auch die Rechtsvergleichung sollte nicht vernachlässigt werden, ihr kommt aber doch nicht dieselbe unmittelbare Bedeutung zu wie den einen Staat bindenden völkerrechtlichen Normen. Vgl. Aura Maria Cárdenas Paulsen, Über die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009. 7 Klaus Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 108 Rn. 3 ff.; Georg Ress, Würde des Menschen – die gedankliche Herkunft der Menschenrechte und ihre gegenwärtige Funktion, in: M. Akyürek u. a. (Hrsg.), FS für H. Schäffer, 2006, S. 703 ff.; Eckart Klein, Human Dignity – Basis of Human Rights, in: Liber Amicorum R. Wolfrum, 2011.

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Menschenrechte beginnt so: „Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen [. . .], da es notwendig ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts zu schützen [. . .].“ 8 Die hier erfolgte Begründung für das völkerrechtliche Aufgreifen der Menschenrechte9 ist nicht nur zum Leitmotiv für die Institutionalisierung des Menschenrechtsschutzes auf der universellen Ebene,10 sondern auch zur gedanklichen Basis aller regionalen Menschenrechtsschutzsysteme geworden, die sich durchgehend auf die Allgemeine Erklärung berufen.11 Die zentrale Rolle der Menschenwürde im deutschen Rechtssystem seit 1949 ist bekannt; der Entwurf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte war den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates stets präsent und ist in den Debatten über die Schaffung des Grundgesetzes häufig als Referenztext herangezogen worden.12 Der Europäischen Union ist die Idee der Menschenwürde gleichfalls inhärent, wie sich aus den für sie maßgebenden Rechtsquellen unschwer belegen lässt.13 Die somit feststellbare Verwurzelung aller für die Bundesrepublik Deutschland maßgeblichen Grund- und Menschenrechtsgarantien in einem gemeinsamen gedanklichen Fundament ist ein wesentliches Argument, das für die Notwendigkeit ihrer zusammenhängenden Betrachtung spricht.14 2. Normative Verpflichtung

Die Zusammenschau der jeweils einschlägigen grund- und menschenrechtlichen Bestimmungen wird aber nicht nur durch die gemeinsame Grundidee ver8

UN Doc. GA RES 217A (III). Dazu Eckart Klein, Menschenrechte, 1997, S. 10 ff. 10 Die Präambeln aller nachfolgenden UN-Konventionen nehmen entsprechenden Bezug. 11 Vgl. die Präambeln der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950), der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (1969) und der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (1981). 12 Hermann v. Mangoldt, Die Grundrechte, DÖV 1949, S. 261. 13 Vgl. Art. 6 EU-Vertrag in der Fassung des Vertrags von Lissabon., EU ABl. Nr. C 290/1 v. 30.11.2009. Hierzu Markus Rau/Frank Schorkopf, Der EuGH und die Menschenwürde, NJW 2002, S. 2448 ff.; Günter Hirsch, Grundrechtspluralismus in der europäischen Union, in: Verfassungsrecht – Menschenrechte – Strafrecht, Kolloquium für W. Gollwitzer, 2004, S. 81 (86); Wolfram Höfling, in: P. J. Tettinger/K. Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 1 Rn. 4 ff. (S. 250 ff.). 14 Die immer wieder erhobene Behauptung, die Menschenrechte seien eine ausschließlich westliche Erfindung und könnten daher nicht überall ohne Weiteres akzeptiert werden, ist für die Bundesrepublik offenkundig nicht relevant und muss daher an dieser Stelle nicht widerlegt werden. 9

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anlasst. Darüber hinaus besteht hierzu eine normative Verpflichtung, die ihrerseits wieder doppelter Art ist. Es gibt zunächst die rechtspositive Bindung an die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands, die ihre Wirkungen, einschließlich Durchsetzung und Verantwortlichkeit, auf der Völkerrechtsebene entfalten. Die Wirkungen verbleiben indessen nicht im internationalen Bereich. Vielmehr öffnet sich ihnen auch der innerstaatliche Raum. Dies geschieht einmal dadurch, dass das Grundgesetz selbst die völkerrechtlichen Verpflichtungen im deutschen Rechtsraum wie ein Bundesgesetz (Verträge) oder sogar im Rang über den Bundesgesetzen (allgemeine Regeln des Völkerrechts) gelten lässt und sie damit grundsätzlich innerstaatlich anwendungsfähig macht (Art. 20 Abs. 3 GG).15 Die staatlichen Organe, nicht zuletzt die Gerichte, müssen diese Verpflichtungen daher bei der Entscheidung eines Falles, soweit sie inhaltlich zu dessen Lösung beitragen können, heranziehen und die originär nationalen Regelungen gegebenenfalls mit ihnen in Einklang bringen. Der im Grundgesetz enthaltene Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit,16 der für den Bereich der Menschenrechte durch Art. 1 Abs. 2 GG in besonderer Weise hervorgehoben ist,17 verhindert bei denkbaren Kollisionen die schlichte Berufung auf den Lex-posterior-Grundsatz zugunsten der originär nationalen Norm, verpflichtet vielmehr zur Suche nach Lösungen, die dem völkerrechtlichen Gebot möglichst Geltung verschaffen.18 III. Folgerungen 1. Auslegung

a) Grundlagen Die nächstliegende und vorstehend bereits angedeutete Konsequenz der obigen Überlegungen ist, dass die einschlägigen Menschenrechtsgarantien Einfluss auf die Auslegung der nationalen Grundrechtsbestimmungen haben müssen. Das Grundgesetz – und in unserem Zusammenhang vor allem die Grundrechte – dürfen „regelmäßig nicht so ausgelegt werden, dass ein Konflikt mit völkerrecht15 Vgl. dazu die Beiträge von Helmut Steinberger und Rudolf Bernhardt, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 173 (S. 525 ff.) und § 174 (S. 571 ff.). 16 BVerfGE 58, 1 (34), 64, 1 (20); 111, 307 (317 f.). Aus der Literatur Albert Bleckmann, Die Völkerrechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung, DÖV 1979, S. 309 ff.; Christian Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 172 (S. 483 ff.). Alexander Proelß, Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG, in: H. Rensen/S. Brink (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, S. 553 (563), macht zutreffend darauf aufmerksam, dass der genannte Grundsatz unabhängig vom innerstaatlich der Völkerrechtsnorm zugeteilten Rang gilt. 17 Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz – Kommentar, Art. 1 Abs. 2 Rn. 36 ff. (Stand: 2004). 18 Zu den Grenzen s. u. III. 1. b).

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lichen Verpflichtungen der Bundesrepublik entsteht“.19 Der verfassungsgerichtlichen Überprüfung dieses zunächst an die (einfachen) Rechtsanwender, also Behörden und Fachgerichte, gerichteten Verbots konnte im Wege stehen, dass das Bundesverfassungsgericht als Maßstab zur Beurteilung von Verfassungsbeschwerden nur die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte zur Verfügung hat20, nicht aber die entsprechenden Gewährleistungen völkerrechtlicher Herkunft. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht dieses Problem in zutreffender Weise dadurch gelöst, dass es die nationalen Grundrechte im Lichte der internationalen menschenrechtlichen Garantien auslegt21 und auf diese Weise über den ihm genuin von Verfassung und Gesetzgeber zugewiesenen Maßstab zur Überprüfung dieser das Völkerrecht respektierenden Auslegung berechtigt und – konsequenterweise – verpflichtet ist. Die Berechtigung zu dieser Erweiterung der Prüfungskompetenz konnte sich das Bundesverfassungsgericht nicht selbst schaffen, sie ergab sich aber aus dem Verfassungsgrundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit und Art. 1 Abs. 2 GG.22 Die daraus im Görgülü-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts gezogene Folgerung ist, dass die Missachtung der sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergebenden Gewährleistungen grundsätzlich als Verletzung der parallelen nationalen Grundrechte, notfalls des Auffanggrundrechts des Art. 2 Abs. 1 GG, zu qualifizieren ist.23 Dabei ist darauf hinzuweisen, dass diese Aussage nicht nur für die Europäische Menschenrechtskonvention gelten kann, sondern auch für sonstige internationale Menschenrechtsgarantien zutrifft.24 Dies bedeutet im Einzelnen, dass alle rechtsanwendenden Instanzen sich um eine inhaltliche Konkordanz der einschlägigen Gewährleistungen zu bemühen haben. Diese Aufgabe bezieht sich sowohl auf die richtige Erfassung des Grundrechtstatbestandes oder genauer der in Betracht kommenden Grund- und Menschenrechtstatbestände als auch auf die fallrelevanten Beschränkungsmöglichkeiten dieser Rechte; die Garantie kann nur zusammen mit ihren Schranken korrekt erfasst werden.25 19

BVerfG (Kammer), Beschluss v. 1.3.2004, DVBl. 2004, S. 1097 ff. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG. 21 Deutlich seit BVerfGE 74, 358 (370). 22 Zum Parallelproblem für Landesverfassungsgerichte vgl. Eckart Klein, Das Bekenntnis der Brandenburgischen Verfassung zu international garantierten Grundrechten, in: P. Macke (Hrsg.), Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit auf Landesebene (1998), S. 33 (36 ff.). 23 BVerfGE 111, 307 (329 f.). Der gleichzeitige Verweis des Gerichts auf das Rechtsstaatsprinzip (Bindung an Gesetz und Recht) ist zwar unschädlich, aber wegen des Aufgehobenseins der völkerrechtlichen Garantie im Grundrecht unnötig. 24 Sie haben völkerrechtlich und innerstaatlich dieselbe rechtliche Bedeutung wie die EMRK. 25 Dazu Detlef Merten, Grundrechtlicher Schutzbereich, in: ders./H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III (2009), § 56 Rn. 19 ff. 20

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Hierfür darf man allerdings nicht nur den Wortlaut zur Kenntnis nehmen. Notwendig ist vielmehr auch die Heranziehung des Verständnisses, das die jeweiligen zur verbindlichen Entscheidung berufenen Instanzen diesen Normen gegeben haben.26 Dies gilt auch dann, wenn – was übrigens die Regel ist – die Verbindlichkeit der Entscheidungen der maßgeblichen internationalen Gerichtsinstanzen sich nur auf den konkret entschiedenen Fall bezieht und nicht auch eine darüber hinaus gehende allgemeine Bindungswirkung hat.27 So hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend die nationalen Rechtsanwender verpflichtet (und ist nach oben Gesagtem selbst dazu verpflichtet), die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen, „weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention und ihrer Protokolle widerspiegelt“.28 Nichts anderes gilt für die Auslegung der in der Europäischen Union geltenden Grundrechte, die ja durchaus auch im nationalen Rechtsraum Bedeutung gewinnen können.29 Insoweit kommt der Interpretation des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg die entscheidende Rolle zu (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV). Dass für ihn dabei wieder die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von großer Bedeutung ist, ergibt sich sowohl aus Art. 6 Abs. 3 EUV und den Art. 52 Abs. 3 und 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh),30 welche die Europäische Menschenrechtskonvention zum EU-Recht unmittelbar in Verbindung setzen, als auch aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 4 GRCh), in denen sich die Europäische Menschenrechtskonvention in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs gleichfalls zur Geltung bringt.31 Aber auch für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gibt die Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs „a useful guidance“;32 dies kommt dann zum Tragen, wenn Unionsrecht als Vorfrage bei der Interpretation der Euro26 Dabei wird es sich grundsätzlich nicht um „authentische“ Auslegung handeln, denn die in Frage stehenden Instanzen sind nicht Urheber der Normen oder darüber verfügungsberechtigt, wohl aber um eine gegebenenfalls autoritative oder letztverbindliche Auslegung. 27 Wie es beim Bundesverfassungsgericht gemäß § 31 BVerfGG der Fall ist. 28 BVerfGE 111, 307 (319). 29 Clemens Ladenburger, in: P. J. Tettinger/K. Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 51 Rn. 6 ff. (S. 761 f.). 30 Vgl. hierzu auch die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents (Art. 52 Abs. 7 GRCh), abgedruckt bei Thomas von Danwitz/Clemens Ladenburger, in: P. J. Tettinger/ K. Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen GrundrechteCharta, 2006, S. 775 f. Speziell zur Bedeutung von Art. 52 Abs. 3 GRCh neuerdings Gero Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, 2009. 31 Der zu erwartende Beitritt der Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention wird zusätzlich eine unmittelbare völkerrechtliche Verbindlichkeit dieser Konvention für die Union bringen, was sich verstärkend auf die bereits bestehende Verbindung auswirken wird. 32 EGMR, ECHR 2002-VI, Appl. No. 28957/95 – Goodwin/UK, §§ 43 ff.; dazu Georg Ress, Konkordanz in der Interpretation von Kompetenzbegriffen durch EuGH und

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päischen Menschenrechtskonvention auftaucht oder auf unionsrechtliche Wertungen für die Auslegung von Konventionsrechten zurückzugreifen ist.33 Im Ergebnis verhält es sich nicht anders im Hinblick auf sonstige internationale menschenrechtliche Gewährleistungen, soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich sind. Auch für sie gilt, dass sich ihr „aktueller Entwicklungsstand“ in den konkreten Aussagen der zur Kontrolle ihrer Einhaltung errichteten Instanzen (Vertragsausschüsse) widerspiegelt. Dies gilt zunächst ganz unbeschadet der Tatsache, dass die Rechtsauffassungen dieser Ausschüsse die Vertragsparteien (etwa des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte – IPBPR) nicht unmittelbar rechtlich binden, allerdings auch keineswegs ohne rechtliche Wirkung sind.34 Selbst wenn die gegenseitigen Bezugnahmen in der Praxis nicht allzu häufig sind, kommen sie doch immerhin vor.35 Dass sie verstärkt in dem geschilderten Beziehungsgefüge vorgenommen werden, ist erforderlich, damit wirklich ein Bild von der Grundrechtsgesamtlage entstehen kann, auch wenn dies unvermeidlich zu einer weiteren Steigerung der Komplexität der Situation führt. b) Grenzen harmonisierender Auslegung Das sowohl völker- als auch verfassungsrechtlich notwendige Bemühen, eine vollständige Vorstellung vom Inhalt des anwendbaren (Grund-)Rechts zu erhalten, ist methodisch anspruchsvoll und darf nicht in eine von den allgemein akzeptierten Auslegungsmethoden nicht mehr getragene übertriebene Harmonisierung der einschlägigen Gewährleistungen münden. Sie könnte allzu leicht zu einer Nivellierung nach unten führen. Dass dies nicht in der Absicht der internationalen und unionsrechtlichen Regelungen liegt, wird von diesen durchgehend klar zum Ausdruck gebracht.36 Ebenso wenig kann das Grundgesetz dahin interpretiert werden, dass es von seinem möglicherweise höheren Standard zugunsten einer weniger weitreichenden internationalen Gewährleistung absehen wollte. Entsprechendes gilt, wenn internationale Normen (möglicherweise in der Auslegung der EGMR, in: G. Müller u. a. (Hrsg.), FS für G. Hirsch, 2008, S. 155 (157) mit Nachweisen. 33 Näher Eckart Klein, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 167 Rn. 19 ff. 34 Christian Tomuschat, Human Rights. Between Idealism and Realism, 2. Aufl. 2008, S. 133 ff. 35 Z. B. BVerfG, Beschl. v. 23.1.2008, 2 BvR 2491/07, LNR 2008, S. 10243 (EMRK); BVerfG, Beschl. v. 15.10.2007, NVwZ 2008, S. 71 f.; EuGH, Slg. 1989, 3283 (3350) und Slg. 1998, 621 Rn. 43 – Grant – nehmen auf den IPBPR Bezug, EGMR, Urteil vom 30.6.2005, ECHR 2005-VI – Bosphorus/Irland – auf die Grundrechtslage in der Union. Vgl. auch Art. 53 GRCh. 36 Vgl. etwa Art. 5 Abs. 2 IPBPR; Art, 53 EMRK; Art. 53 GRCh.

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maßgeblichen Instanz) mit den nationalen Grundrechtsbestimmungen unauflösbar kollidieren; hier würde sich bei der innerstaatlichen Rechtsanwendung der höhere Rang der Grundgesetzvorschriften durchsetzen.37 Eine solche Kollisionslage wird allerdings in der Praxis angesichts der identischen Wertungsgrundlage kaum vorkommen. Im Übrigen ist das Grundgesetz offen für interpretatorische Ergänzungen, die in vorhandene Grundrechtsnormen sinnhaft eingepasst werden können.38 Eine ganz andere und aus meiner Sicht zu verneinende Frage ist, ob das Bundesverfassungsgericht zu Recht den Maßstab der nationalen Grundrechte an Unionsrechtsakte anlegen und damit die Kompetenz des Europäischen Gerichtshof schmälern darf.39 Wenn etwa Art. 53 EMRK oder Art. 5 Abs. 2 IPBPR zu keinerlei Beeinträchtigung weitergehender (nationaler oder internationaler) Rechte führen wollen, da internationale Schutzinstrumente stets nur einen Mindeststandard garantieren möchten, wird im Einzelfall der Frage nicht ausgewichen werden können, welche der falleinschlägigen Grund– und Menschenrechtsbestimmungen weiterreichend sind. Allein auf den Grundrechtstatbestand wird dabei nicht abgestellt werden dürfen, da, wie schon erörtert, erst in der Zusammenschau mit den Schranken die Garantie sinnvoll interpretiert werden kann. Ein umfassender Schutzbereich mit weiten Einschränkungsmöglichkeiten kann im Einzelfall weniger Schutz bieten als ein eng definierter Tatbestand, in den nur unter engen Voraussetzungen eingegriffen werden darf.40 Entscheidend muss insofern der Einzelfall sein. Zu fragen ist also, wie sich die Situation des Grundrechtsträgers insgesamt in concreto darstellt, je nach dem ob die nationale oder internationale Garantie zum Zuge kommt. Bleibt Letztere nach eingehender, auch die Rechtsprechung berücksichtigender Prüfung in jeder auf den konkreten Fall bezogenen Hinsicht hinter der nationalen Grundrechtsgewährleistung zurück, kommt also letztlich nicht zur praktischen Anwendung, ist das nationale Recht ausschließlich maßgebend. Noch schwieriger wird es, wenn sich das Problem des weitergehenden Grundrechtsschutzes nicht in einem unmittelbaren Bürger-Staat-Verhältnis stellt, sondern zwei oder gar mehrere Grundrechtsträger beteiligt sind.41 Der weitere 37 Alexander Proelß, Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung im Lichte der Rechtsprechung des BVerfG, in: H. Rensen/S. Brink (Hrsg.), Leitlinien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 2009, S. 553 (570). An den Rechtsfolgen der Völkerrechtsverletzung würde dies allerdings nichts ändern. 38 Beispiele bilden die relativ umstandslose Übernahme der Unschuldsvermutung und des Grundsatzes des fairen Verfahrens in das Grundgesetz (Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. Rechtsstaatsprinzip) durch BVerfGE 74, 358 (370 ff.); BVerfG (Kammer), Beschluss vom 29.3.2007, NStZ 2007, S. 534. 39 Trotz des mit BVerfGE 73, 339 (Solange II) eingeleiteten Rückzugs hält das BVerfG diesen prinzipiellen Jurisdiktionsanspruch nach wie vor aufrecht. 40 Eckart Klein, Europäische Menschenrechtskonvention und deutsche Grundrechtsordnung: Zwei Seiten einer Medaille, in: C. A. Spenlé (Hrsg.), Die Europäische Menschenrechtskonvention und die nationale Grundrechtsordnung, 2007, S. 11 (20 f.).

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Grundrechtsschutz des einen (z. B. Pressefreiheit/Persönlichkeitsschutz) wird sich zu Lasten des anderen Grundrechtsberechtigten (z. B. Persönlichkeitsschutz/Pressefreiheit) auswirken. So wichtig es ist, dass keine abstrakten Grundrechtshierarchien konstruiert werden,42 um dem konkreten Fall Rechnung tragen zu können, wird sich doch in der konkreten Entscheidung die Waage zugunsten des einen oder anderen Beteiligten neigen müssen. Kommen hier die internationalen Instanzen für eine konkrete Konstellation43 zu einem anderen Ergebnis als die nationalen Gerichte (einschließlich Bundesverfassungsgericht), ist diese Wertung von diesen Gerichten zu akzeptieren und auch nachfolgenden Fällen zugrunde zu legen,44 soweit dabei nicht spezifische, zur Unterscheidung Anlass gebende Umstände auftreten. c) Beispiele Der Sinn der Gesamtbetrachtung kann hier nur an wenigen Beispielen demonstriert werden. Die immer wieder in Zweifel gezogene Absolutheit der Menschenwürdegarantie im Sinne ihrer Unabwägbarkeit mit anderen Rechtswerten, die das Bundesverfassungsgericht als einzige Ausnahme von der fehlenden Hierarchie im Grundrechtsbereich stark betont hat,45 wird durch konkrete völkerrechtliche Normen wie das Folterverbot und die dazugehörige Auslegung durch internationale Instanzen erheblich bekräftigt und gegen Umdeutung geschützt.46 Demgegenüber hat der Begriff der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) durch die internationale Rechtsprechung auf der Grundlage paralleler Vorschriften in verschiedenen Menschenrechtskonventionen insbesondere durch die Einbeziehung des nichtehelichen Vaters eine wichtige Erweiterung erfahren.47 41 Zum Problem mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse (aber nicht völlig überzeugend) BVerfGE 111, 307 (327 f.). 42 Detlef Merten, Grundrechtlicher Schutzbereich, in: ders./H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2009, § 56 Rn. 52. 43 Abstrakt kann dies auf der internationalen ebenso wenig wie auf der nationalen Ebene entschieden werden, da es auch im internationalen Bereich grundsätzlich eine Menschenrechtshierarchie nicht geben kann und Grundrechtskollisionen durch Abwägung fallgerecht aufgelöst werden müssen; dazu Eckart Klein, Establishing a Hierarchy of Human Rights: Ideal Solution or Fallacy?, Israel Law Review 41 (2008), S. 477 ff. 44 Dies ist nicht Folge einer (nicht bestehenden) allgemeinen Bindungswirkung der internationalen Entscheidungen, sondern Hinweis auf den aktuellen Entwicklungsstand der betreffenden Rechtsnormen, die zu beachten sind (Art. 20 Abs. 3 GG). 45 BVerfGE 75, 369 (380). 46 Vgl. etwa Art. 3 EMRK und EGMR (Große Kammer), Appl. No. 22978/05 – Gäfgen/Deutschland –, NJW 2010, S. 3145 einerseits, Art. 7 IPBPR, Art. 2 der UN Konvention gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe – CAT (1984) und Human Rights Committee, Views of 19 July 1994, CCPR/C/51/D/322/1988 – Rodriguez/Uruguay – andererseits. 47 Vgl. EGMR, Urteil vom 3.12.2009, Appl. No. 22028/04; BVerfG, Beschluss vom 21.7.2010 – 1 BvR 420/09.

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Hilfreich sollte sich die Heranziehung von internationalen Normen auch bei grundrechtlichen Problemen der Bekämpfung von Seepiraterie erweisen können. Werden Piraten auf Hoher See, z. B. vor dem Horn von Afrika, von der Bundesmarine festgesetzt, stellt sich die Frage, ob und in welcher Zeit sie einem Richter zur Aufrechterhaltung der Haft vorzuführen sind.48 Prinzipiell findet das Grundgesetz (Art. 104 GG) auf extraterritoriales hoheitliches Handeln deutscher Staatsorgane Anwendung, ebenso wie die sich aus Menschenrechtskonventionen ergebenden Rechte und Verpflichtungen.49 Die einschlägigen internationalen Bestimmungen (Art. 5 Abs. 3 EMRK, Art. 9 Abs. 3 IPBPR) sind etwas flexibler gefasst insoweit, als sie nicht von einer strikten Frist, wie sie in Art. 104 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 1 GG enthalten ist (spätestens Ende des Tages nach der Festnahme), ausgehen, sondern nur von dem Recht eines Häftlings, „unverzüglich“ (EMRK: „promptly“, „aussitot“; IPBPR: „promptly“, „dans le plus court délai“) einem Richter vorgeführt zu werden.50 Es läge nun nahe, die Heranziehung der internationalen Garantien unter Hinweis darauf abzulehnen, dass diese ja nur einen Mindeststandard etablieren wollen und darum neben einer weitergehenden Schutznorm nicht zur Anwendung kommen. Diese Argumentation würde aber übersehen, dass nach der zutreffenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die extraterritoriale Anwendung der Grundrechte von Bedingungen abhängt, die nicht in gleicher Weise bestimmt werden können wie innerhalb des Staatsgebiets, sie daher nicht zwingend so anzuwenden sind wie bei einem innerstaatlichen Sachverhalt.51 Es liegt deshalb nahe, soweit dies die faktische Lage verlangt, sich an dem Merkmal der „Unverzüglichkeit“ zu orientieren, das ja alles andere als eine Ermächtigung zur Beliebigkeit bedeutet,52 und nicht an der strikten Höchstfrist des Art. 104 Abs. 3 und 4 GG.53 48 Generell hierzu Doris König, Der Einsatz von Seestreitkräften zur Verhinderung von Terrorismus und Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie zur Bekämpfung der Piraterie: Mandat und Eingriffsmöglichkeiten, BerDGVR 44 (2010), S. 203 (234 ff.). 49 Dazu Dirk Lorenz, Der territoriale Anwendungsbereich der Grund- und Menschenrechte, 2005. 50 Jens Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention. Handkommentar, 2. Aufl. 2006, Art. 5 Rn. 38 ff.; Manfred Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights, CCPR Commentary, 2nd edition, 2005, Art. 9 Rn. 49 ff. Der EGMR (Große Kammer), Urteil vom 29.3.2010, Appl. No. 3394/03, Rn. 127 ff. – Medvedyev/Frankreich – hat bei Verhaftung auf Hoher See einen Zeitraum von 15 bis 16 Tagen bis zur Richtervorführung als gerade noch akzeptabel erachtet; zum Ganzen auch Stefanie Schmahl, in: B. Schmidt-Bleibtreu/H. Hofmann/A. Hopfauf, Kommentar zum Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 104 Rn. 18. 51 BVerfGE 100, 313 (362 f.). 52 BVerfGE 105, 239 (249); BVerfG (Kammer), Beschluss vom 25.9.2009, NJW 2010, S. 670 (671). 53 Robert Esser/Sebastian Fischer, Menschenrechtliche Implikationen der Festnahme von Piraterieverdächtigen – Die EU-Operation Atalanta im Spiegel von EMRK, IPBPR und GG –, JR 2010, S. 513 (525 f.).

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Erheblichem zusätzlichem Druck wird sich in Zukunft die nach deutschem Recht bestehende, vom Bundesverfassungsgericht immer wieder bestätigte Unzulässigkeit des Beamtenstreiks ausgesetzt sehen.54 Die nationale Rechtslage bleibt insoweit hinter dem inzwischen erreichten internationalen Standard deutlich zurück. Angesichts des nunmehr auf der internationalen Ebene umfassend anerkannten Streikrechts55 muss sich die Frage stellen, ob die Unzulässigkeit des Streiks für eine ganze Personengruppe, sei es durch pauschale Herausnahme aus dem Schutzbereich der maßgeblichen Garantie, also entweder die allgemeine Vereinigungsfreiheit oder eine konkrete Streikgarantie, sei es auf dem Weg der Einschränkung durch den Verweis auf die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums noch aufrechterhalten werden kann.56 Nach der neuesten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 11 EMRK wird an dem Streikverbot für alle Beamten nicht mehr festgehalten werden können; vielmehr wird es nur für bestimmte Beamtengruppen aufrechtzuerhalten sein.57 Insofern bietet sich eine Orientierung an der Personenkategorie an, für die nach Art. 45 Abs. 4 AEUV („Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“) eine Bereichsausnahme von den Bestimmungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit besteht.58 Es wird sehr streng zu prüfen sein, ob sich gegen eine solche Lösung im Lichte der allgemeinen Entwicklung tatsächlich verfassungsrechtlich zwingende Gründe (gute Gründe gesellschaftlicher und politischer Art gegen den Beamtenstreik gibt es gewiss) anführen lassen. Sollte dies gegenwärtig noch der Fall sein, läge eine Kollision mit einer völkerrechtlichen Verpflichtung vor, welche die Bundesrepublik Deutschland auf Dauer kaum würde aushalten können.59 2. Prozessuale Konsequenzen

Auch prozessual müssen die Weichen so gestellt sein, dass sich die Grundrechtsgesamtlage ohne erhebliche Schwierigkeiten ermitteln lässt. Hierzu gehört 54

BVerfGE 8, 1 (17); 119, 247 (264). Die Situation hat sich seit dem vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1978 organisierten Kolloquium erheblich verändert; vgl. Rudolf Dolzer, Die Streikfreiheit, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, Bd. 2 (1980), S. 1255 ff. 56 Dazu ausführlich Matthias Niedobitek, Denationalisierung des Streikrechts – auch für Beamte? Tendenzen im europäischen und im internationalen Recht, ZBR 2010, S. 361 ff. 57 EGMR, Urteil vom 21.4.2009, Appl. No. 68959/01, Enerji Yapi-Yol Sen/Türkei, Rn. 32. 58 Zur engen Auslegung durch den EuGH (seit Rs. 66/85, Slg. 1986, S. 2121, Rn. 27 – Lawrie Blum) vgl. Andreas Haratsch/Christian Koenig/Matthias Pechstein, Europarecht, 7. Aufl. 2010, Rn. 863 f. 59 Das Problem verschärft sich, wenn das beamtenrechtliche Streikverbot in Konflikt mit Unionsrecht gerät; dazu Matthias Niedobitek, Denationalisierung des Streikrechts – auch für Beamte?, ZBR 2010, S. 361 (363 ff.). 55

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zunächst die Achtung der Jurisdiktionskompetenz der für die Auslegung jeweils zuständigen Instanz. Die in dieser Hinsicht durchaus problematische Inanspruchnahme einer Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts, Sekundärrechtsakte der Gemeinschaft/Union am Maßstab deutscher Grundrechte zu überprüfen,60 ist durch prozessrechtliche Darlegungspflichten freilich so entschärft worden, dass Konflikte in der Praxis schwerlich auftreten werden.61 Diese Zurücknahme gilt im Wesentlichen auch im Verhältnis zu Rechtsakten anderer supranationaler Organisationen, die auf Personen in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbar durchgreifen. Insoweit verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass der Beschwerdeführer sich näher mit der organisationsinternen Rechtsschutzmöglichkeit und den diesbezüglichen verfahrensrechtlichen Vorschriften und der Spruchpraxis der maßgeblichen Instanzen der Organisation auseinandersetzt. Die bloße Darlegung, die angegriffene Entscheidung verstoße im konkreten Fall gegen einen grundgesetzadäquaten Standard, reicht jedenfalls dann nicht zur Annahme der Entscheidung aus, wenn bereits festgestellt wurde, dass das organisationsinterne Grundrechtsschutzsystem im Wesentlichen dem des Grundgesetzes entspricht.62 In diesen Zusammenhang gehört auch die Respektierung und Durchsetzung der Pflicht zur Vorlage an eine internationale Instanz, wie sie in Art. 267 AEUV vorgesehen ist. Dieses Vorlageverfahren dient dem Zweck, die rechtliche Auffassung des für die Auslegung des Unionsrechts – einschließlich der unionsrechtlichen Grundrechtsgarantien – letztlich maßgeblichen Europäischen Gerichtshofs bei der Entscheidung der nationalen Gerichte berücksichtigen zu können. Von daher ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu begrüßen, wonach die Verletzung der Vorlagepflicht durch ein Gericht gegen das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter verstoßen kann.63 Problematisch ist allerdings, dass das Bundesverfassungsgericht eine Grundrechtsverletzung dann nicht annehmen will, wenn das Fachgericht die – zur Vorlage Anlass gebende – (materielle) unionsrechtliche Frage nicht unvertretbar, also ohne Verstoß gegen das objektive Willkürverbot entschieden hat.64 Darauf kann es aber bei der Beurteilung der Vorlagepflicht unter grundrechtlichen Aspekten nicht ankommen. Das Bundesverfassungsgericht sollte sich daher bei der Entscheidung, ob gegen Art. 101 60

BVerfGE 89, 155 (174 f.). BVerfGE 102, 147 (147); dazu Hans-Jürgen Papier, Koordination des Grundrechtsschutzes in Europa – die Sicht des Bundesverfassungsgerichts, ZSR 124 (2005) II, S. 113 (117). 62 BVerfG (Kammer), Beschluss vom 27.1.2010, NVwZ 2010, S. 641 ff. – Europäisches Patentamt; die Kammer nimmt in dieser Entscheidung, ganz im Sinne des hier verfolgten Anliegens, auf das Urteil des EGMR vom 18.2.1999, Appl. No. 26083/94, Waite und Kennedy/Deutschland, NJW 1999, S. 1173 (1175) Bezug. 63 BVerfGE 73, 339 (369 f.); 82, 159 (192). 64 BVerfGE 75, 223 (245); 82, 159 (195); BVerfG (Kammer), NVwZ 2007, S. 197 (198). 61

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Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen wurde, strikt an den vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten prozessrechtlichen Voraussetzungen der Vorlagepflicht selbst orientieren.65 Im Übrigen sollte das Bundesverfassungsgericht sich klar und deutlich zur eigenen Vorlagepflicht bekennen.66 Vorlagemöglichkeiten bestehen im Verhältnis von deutschen Gerichten zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof oder anderen internationalen Schutzinstanzen nicht. Hier lässt sich die Koordination nur durch die bereits erörterte Berücksichtigung der internationalen Normen und der dazugehörigen Rechtsprechung bei der Auslegung und Anwendung der nationalen Grundrechtsnormen erreichen. Kein akzeptabler Weg wird durch den Vorschlag gewiesen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte solle sich nicht so sehr um Einzelfallgerechtigkeit bemühen, sondern nur da eingreifen, „wo Menschenrechte systematisch und schwerwiegend missachtet und verletzt werden“ 67 – eine solche Möglichkeit zur autonomen Zurücknahme des Prüfungsumfangs bieten weder die Europäische Menschenrechtskonvention dem Menschenrechtsgerichtshof noch die anderen Konventionen ihren jeweiligen Kontrollorganen. Umgekehrt kann sich das Bundesverfassungsgericht aber auch nicht selbst aus Gründen der Völkerrechtsfreundlichkeit von seiner Aufgabe des Grundrechtsschutzes prinzipiell dispensieren. Nicht Zurücknahme der Zuständigkeiten, sondern strikte Respektierung der Zuständigkeiten der anderen involvierten Instanzen und das Bemühen, zu inhaltlicher Übereinstimmung zu kommen, sind gefordert.68 3. Rechtssicherheit

Ein mit der beschriebenen Situation eng verbundenes Problem darf nicht verschwiegen werden: Es ist das der ständig zunehmenden Komplexität mit ihren denkbaren negativen Auswirkungen auf die Rechtssicherheit, die ihrerseits ein anerkanntes rechtsstaatliches Gut ist.69 Dabei handelt es sich nicht nur um mög65 So zutreffend Wolfgang Roth, Verfassungsgerichtliche Kontrolle der Vorlagepflicht an den EuGH, NVwZ 2009, S. 345 (349 ff.). 66 Diese Pflicht ist auch bislang nicht geleugnet worden; vgl. BVerfGE 37, 271 (282); 73, 339 (371); 125, 260 (308 f.). Doch ist bekannt, dass es im Gericht gleichwohl erheblichen Widerstand gibt, vgl. dazu Alexander Proelß, Grenzen staatlicher Rechtsschutzverantwortung. Das Bundesverfassungsgericht und die Pflicht zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, in: J. A. Kämmerer (Hrsg.), An den Grenzen des Staates, 2007, S. 145 (149), der im Übrigen zu dem Ergebnis kommt, dass die theoretisch bestehende Vorlagepflicht praktisch von nur geringer Relevanz sei. Ob dies wirklich zutrifft, kann hier nicht diskutiert werden. 67 So Hans-Jürgen Papier, Koordination des Grundrechtsschutzes in Europa – die Sicht des Bundesverfassungsgerichts, ZRS 124 (2005) II, S. 113 (126 f.). 68 Zu den Grenzen, freilich auch völkerrechtlichen Folgen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung s. o. 69 Bernd Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz – Kommentar, Art. 20 VII Rn. 50 ff. (Stand: 2006).

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licherweise recht zahlreiche internationale Normen auf der regionalen und universellen Ebene und die dazu ergangene Judikatur, die zur Herstellung des Gesamtbildes herangezogen werden müssen, kompliziert wird dies alles noch durch die Sprachenfrage. Zu den verbindlichen, also für die Auslegung aller universellen, regelmäßig auch der im Rahmen des Europarates entstandenen menschenrechtlichen Abkommen maßgeblichen Sprachen gehört Deutsch nicht; die deutsche Übersetzung kann nur einen „Einstieg“ vermitteln.70 Nur im Bereich der Europäischen Union ist auch Deutsch Vertragssprache.71 Die Mehrsprachigkeit völkerrechtlicher Verträge oder Rechtsakte wirft für sich schon eine Vielzahl von Schwierigkeiten auf, auf die hier nur generell aufmerksam gemacht werden kann.72 Es kommt zu alle dem hinzu, dass gerade die hier in Rede stehenden grundund menschenrechtlichen Normen – stärker als es für andere Rechtsvorschriften zutrifft73 – einer dynamischen Interpretation unterliegen, als „living instruments“ begriffen werden,74 um neu auftretenden Gefährdungen effektiv entgegentreten zu können, ohne den schwierigen, natürlich manchmal auch unvermeidlichen Weg der Vertragsergänzung gehen zu müssen. Schon dies verweist auf die Notwendigkeit der Einbeziehung auch der einschlägigen Rechtsprechung für die Herstellung des erforderlichen Gesamtbilds. Andererseits öffnet sich diese Rechtsprechung auch den jeweiligen nationalen Vorstellungen, wenn es nicht gelingt, etwa auf dem Gebiet der Sitten und Moral, eine gemeinsame Basis zu finden.75 Die schwierige Aufgabe, vor die die nationalen und internationalen Rechtsanwender gestellt sind, ist jedenfalls evident. Der Drang, die gegebene Komplexität durch Ausblendung internationaler Normen zu reduzieren, ist sicher vorhanden. Je deutlicher aber das Hineingestelltsein der deutschen (Grund-)Rechtsordnung in übergreifende Zusammenhänge bewusst wird, desto geringer ist die Gefahr, die Rechtsstellung der Grundrechtsträger zu verkürzen. 70 Vgl. Art. 33 Wiener Konvention über das Recht der Verträge von 1969, BGBl. 1985 II S. 926; näher dazu Meinhard Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1973, S. 199 ff. 71 Zu den Sprachproblemen der mehrsprachigen Grundrechte-Charta vgl. Isolde Burr, Die Grundrechte-Charta: Ein europäischer Text, in: P. J. Tettinger/K. Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschafts-Kommentar Europäische Grundrechte-Charta, 2006, S. 187 ff. 72 Meinhard Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, 1973, S. 48 ff. 73 Recht weitgehend zum Alterungsprozess von Gesetzen BVerfG (Kammer), Beschluss v. 29.7.2004, NJW 2004, S. 2662 f. 74 Vgl. EGMR, Urteil vom 25.4.1978, Ser. A No. 26, Ziff. 31, Appl. No. 5856/72 – Tyrer/UK. 75 Vgl. mit Nachweisen Eckart Klein, Der Schutz der Grund- und Menschenrechte durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/I, 2010, § 150 Rn. 48 ff. Zur Problematik des Margin-of-Appreciation-Arguments P. Paczolay, Consensus and Discretion: Evolution or Erosion of Human Rights Protection, in: Liber amicorum Antonio La Pergola, 2008, S. 232 (236 ff.).

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IV. Fazit Der materielle Gewinn der mehrseitigen Absicherung der Grundrechte kann sich nur einstellen, wenn alle Verantwortlichen sich nicht nur der gemeinsamen Grundidee verpflichtet wissen, sondern es auch als gemeinsames Ziel ansehen, ein möglichst konsolidiertes Corpus grund- und menschenrechtlicher Normen zu schaffen.76 Nur wenn nationale und internationale Akteure an dieser gemeinsamen Aufgabe mitwirken, können sie – je aus ihrer Warte heraus – die Rechtsentwicklung gestaltend mitprägen. So erheischt schon gesundes Eigeninteresse, sich an der Diskussion über die Grundrechtsgesamtlage zu beteiligen.

76 Zu Recht weist BVerfGE 111, 307 (329) auf die Bedeutung einer „gemeineuropäischen Grundrechtsentwicklung“ hin; ähnlich Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1 (8). Allerdings ist im Sinne der Gesamtlage der Blick auch über die Grenzen Europas hinaus zu richten.

Grundrechtskonzertierungen Zur Frage der parallelen und entsprechungsrechtlichen Ausübung von Grundrechten Von Michael Kloepfer* I. Allgemeines Die Anwendbarkeit mehrerer Grundrechte in einem einheitlichen grundrechtsrelevanten Sachverhalt ist keine Seltenheit in der verfassungsrechtlichen Praxis. Zur Lösung der in diesem Zusammenhang auftretenden dogmatischen Probleme wurden in der Rechtswissenschaft vor allem die Begriffe der Grundrechtskonkurrenz und Grundrechtskollision entwickelt. Hinzu kommt nun eine neue Figur – die Grundrechtskonzertierung –, die im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags stehen soll. Die Fälle der Grundrechtskonkurrenzen, Grundrechtskollisionen und Grundrechtskonzertierungen verbindet die Gemeinsamkeit, dass sie Konstellationen erfassen, in denen für einen bestimmten Lebenssachverhalt mehrere Grundrechte anwendbar sind.1 Unterschiede bestehen dabei aber hinsichtlich der jeweils beteiligten Grundrechtsträger, also derjenigen Personen, die ihre verfassungsabgeleiteten subjektiv-rechtlichen Rechtspositionen in Anspruch nehmen (könnten). Dabei sind mit dem Terminus der Grundrechtskonkurrenzen diejenigen Situationen gemeint, in denen die Grundrechte sich auf denselben Grundrechtsträger beziehen. Schreibt beispielsweise ein Journalist einen meinungsbildenden Artikel für eine Zeitung, macht er gleichzeitig von seinen Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 GG Gebrauch. Die genannten subjektivrechtlichen Rechtspositionen stehen in Konkurrenz zueinander. Sind Grundrechte verschiedener Grundrechtsträger betroffen, handelt es sich um eine der anderen beiden angesprochenen Kategorien, also um eine Grundrechtskollision oder um eine Grundrechtskonzertierung: Stehen sich die Grundrechtsträger mit entgegengesetzter Interessenlage gegenüber und gebrauchen sie ihre Grundrechte in widerstreitender Weise, ist die Kategorie der Grundrechtskollision einschlägig. Das ist z. B. bei (ohne entsprechende Zustimmung der Betroffenen erfolgten) Veröffentlichungen über Begebenheiten aus ihrem Privatleben der Fall. Dann kollidiert * Meinem Assisstenten James Bews danke ich sehr für seine Mitarbeit. 1 Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. 2, München 2010, § 52, Rn. 1.

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das in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Privatperson mit dem Grundrecht der Presse- oder Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG auf Seiten der Journalisten, Verleger etc. Liegt dagegen ein Fall vor, bei dem die Grundrechtsträger mehrere Grundrechte in gleichgerichteter, auf einen gemeinsamen Zweck zielender Form ausüben (wie z. B. die Teilnehmer einer Versammlung oder eines Gottesdienstes, bzw. die Parteien eines Kaufvertrags), ist von einer Grundrechtskonzertierung auszugehen. Aus der grundrechtlichen Beteiligung einer Personenmehrheit an einem Lebenssachverhalt oder der Anwendbarkeit mehrerer Grundrechte auf einen solchen Sachverhalt, ergeben sich mannigfaltige grundrechtsdogmatische Fragestellungen. Dabei ist die Thematik der Grundrechtskonkurrenzen und Grundrechtskollisionen – gerade auch wegen der umfassenden und grundlegenden Beiträge des Jubilars2 – wissenschaftlich weitgehend durchdrungen. Demgegenüber sind die mit den Grundrechtskonzertierungen zusammenhängenden Rechtsfragen bisher nur ganz vereinzelt erörtert worden.3 Gegenstand dieses Beitrags ist zunächst eine kurze Darstellung der von der Rechtswissenschaft gefundenen Ergebnisse zu den Fragen der Grundrechtskonkurrenzen und Grundrechtskollisionen (II.). Dem folgend soll die Kategorie der Grundrechtskonzertierungen näher umschrieben und ihre Erscheinungsformen und ihre Rechtsfolgen gekennzeichnet werden (III.). Abschließend ist auf die Entwicklungsperspektiven der Grundrechtskonzertierung einzugehen (IV.). II. Grundrechtskonkurrenzen und Grundrechtskollisionen 1. Grundrechtskonkurrenzen

Von Grundrechtskonkurrenzen spricht man, wenn in einem grundrechtsrelevanten Sachverhalt für eine Person mehrere Grundrechte anwendbar sind.4 Zu den Rechtsfragen der Grundrechtskonkurrenzen ist mittlerweile praktisch in jedem deutschen Verfassungsrechtslehrbuch ein Abschnitt enthalten.5 Ihre wissenschaftliche Fundierung hat die Lehre der Grundrechtskonkurrenzen durch zahl2 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, München 1994, § 82 (Grundrechtskollisionen), § 92 (Grundrechtskonkurrenzen). 3 Kloepfer (Fn. 1), § 52, Rn. 7; ders., Grundrechte als Entstehenssicherung und Bestandsschutz, München 1970, passim, S. 46 ff., 51 f., 91. 4 Vgl. Kloepfer (Fn. 1), § 52, Rn. 2. 5 Vgl. z. B. Bleckmann, Staatsrecht II – Die Grundrechte, 4. Aufl., Köln u. a. 1997, § 14; Epping, Grundrechte, 4. Aufl., Berlin 2010, Rn. 252 ff., 507 ff.; Hufen, Staatsrecht II – Grundrechte, 2. Aufl., München 2009, § 6, Rn. 45 ff.; Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 13. Aufl., München 2010; Michael/Morlok, Grundrechte, 2. Aufl., BadenBaden 2010, S. 57 ff.; v. Münch, Staatsrecht II, 5. Aufl., Stuttgart 2002, Rn. 221 ff.; Kloepfer (Fn. 1), § 52, Rn. 2 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, 26. Aufl., Heidelberg

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reiche Monografien,6 Zeitschriftenveröffentlichungen7 und Beiträge in Festschriften und Handbüchern8 erfahren. Vor dem Bundesverfassungsgericht, das die Frage der Grundrechtskonkurrenzen regelmäßig pragmatisch behandelt und lediglich das Grundrecht prüft, das im Vordergrund steht und gegen das sich der Schwerpunkt des Eingriffs richtet,9 scheint die kumulative Berufung auf verschiedene Grundrechte fast die Regel zu sein. Zwar erfolgt die Berufung auf mehrere Grundrechte im Prozess häufig eher aus prozesstaktischen Gründen, sodass das Gericht eine Mehrzahl der geltend gemachten Grundrechtspositionen schon vom Schutzbereich her für nicht einschlägig erachtet. In diesen Fällen kommt es somit nicht zur Frage des Verhältnisses mehrerer anwendbarer Grundrechte. Sind dagegen mehrere Grundrechte10 auf einen einheitlichen grundrechtlichen Sachverhalt anwendbar,11 kann es in verschiedenen Konstellationen zur Verdrängung eines oder mehrerer der an sich anwendbaren Grundrechte kommen: Zunächst lässt sich an den allgemeinen Grundsatz lex specialis derogat legi generali denken. Enthält eine Norm alle Tatbestandsmerkmale einer anderen Norm und darüber hinaus noch weitere spezielle Merkmale,12 wird dieses allgemeine Grundrecht verdrängt. Dies ist z. B. bei dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit gegenüber den anderen Freiheiten der Fall. Auch bei einigen (benannten) Freiheitsrechten wird ein Spezialitätsverhältnis angenommen.13 Ob daneben die aus dem Strafrecht bekannten Konkurrenzkategorien der Subsidiari2010, Rn. 327 ff.; Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, 2. Aufl., Berlin 2003, A 11; Wilms, Staatsrecht II – Grundrechte, Stuttgart 2010, S. 80 ff. 6 Berg, Konkurrenzen schrankendivergierender Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, Berlin 1968; Degen, Pressefreiheit, Berufsfreiheit, Eigentumsgarantie, Berlin 1981; Heß, Grundrechtskonkurrenzen, Berlin 2000; Meinke, In Verbindung mit – Die Verbindung von Grundrechten miteinander und mit anderen Bestimmungen des Grundgesetzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Berlin 2006. 7 Bleckmann/Wiethoff, DÖV 1991, 722; Fohmann, EuGrZ 1985, 49; Lepa, DVBl. 1972, 161; Rüfner, Der Staat 7 (1968), 41. 8 Berg, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, Heidelberg 2009, § 71; Lerche, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 2. Aufl., Heidelberg 2000, § 122, Rn. 46 ff.; Stern (Fn. 2), § 92. 9 Vgl. BVerfGE 65, 104 (112); 67, 186 (195); Schneider, Die Güterabwägung des Bundesverfassungsgerichts bei Grundrechtskonflikten, Baden-Baden 1979, S. 112, der von der „Meistbetroffenheitstheorie“ spricht. 10 Stern (Fn. 2) bezeichnet dies als „horizontale“ Konkurrenz von Grundrechten des Grundgesetzes (§ 92) im Gegensatz zu der „vertikalen“ Konkurrenz von Grundrechten auf Landes- und Bundesebene, bzw. nationaler und internationaler Ebene (§ 93). 11 Lepa, DVBl. 1972, 161 (164) warnt im Interesse einer extensiven Grundrechtsauslegung vor der „Zerreißung einheitlicher, nicht teilungsfähiger Lebenstatbestände“. 12 Vgl. Stern (Fn. 2), S. 1400. 13 Z. B. Art. 5 Abs. 1 S. 2 gegenüber Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG; Art. 5 Abs. 3 zu Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG (str.); Art. 9 Abs. 1 und Abs. 3 GG (str.); Art. 12 Abs. 1 gegenüber

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tät und Konsumtion auch im Verfassungsrecht gelten, ist umstritten,14 hat im Ergebnis aber wohl kaum praktische Auswirkungen. Die Verdrängung bewirkt, dass der verdrängten Grundrechtsnorm insoweit keine effektive Rechtswirkung mehr zukommt.15 Von der Rechtsfolge her betrachtet, sind die Fälle interessant, in denen mehrere Grundrechte parallel anwendbar bleiben (in der strafrechtlichen Terminologie spräche man hier von „echter Konkurrenz“).16 Es stellt sich dabei die Frage, welche Auswirkungen die Anwendung mehrerer Grundrechte auf die Rechtsposition des Individuums hat. Grundsätzlich wird man sagen können, dass diejenige Norm dominiert, die im konkreten Fall eine für den Grundrechtsträger weitergehende Rechtsfolge aufweist.17 Das kann in positiver Hinsicht auf der Ebene des Schutzbereichs und in negativer Hinsicht auf der Ebene der Schranken Bedeutung erlangen. Konkurrieren mehrere Schutzbereiche miteinander, erlangt – gewissermaßen im Sinne eines grundrechtlichen Günstigkeitsprinzips – derjenige Schutzbereich eine größere Bedeutung, der die Tätigkeit des betroffenen Grundrechtsträgers umfassender, bzw. stärker schützt als die Schutzbereiche der anderen anwendbaren Grundrechte. Das bedeutet freilich nicht, dass eine Verdrängung letzterer Rechtsposition erfolgt. Sie hat jedoch – faktisch betrachtet – keine Bedeutung mehr für den konkreten Einzelfall. Konkurrieren dagegen auf der negativen Seite die Schranken mehrerer anwendbarer Grundrechte miteinander,18 folgt aus dem Anwendungsvorrang des

Art. 11 GG im Fall „wirtschaftlicher Freizügigkeit“; Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 5 GG. 14 Vgl. Stern (Fn. 2), S. 1398. Gegen die Anwendbarkeit der strafrechtlichen Dogmatik sprechen sich aus: Berg (Fn. 8), § 71, Rn. 33; Meinke (Fn. 6), S. 33. Das Instrument der Konsumtion gewinnt insbesondere bei der Frage Bedeutung, ob die allgemeine Handlungsfreiheit in Fällen des Ausschlusses von Ausländern von dem subjektiven Anwendungsbereich eines speziellen Freiheitsrechts anwendbar ist. 15 Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (58) spricht von einer „Rückgriffssperre“. Nach allgemeinen Grundsätzen kann die verdrängende Wirkung aber nur soweit gehen, wie sich die Rechtsfolgen der Normen effektiv widersprechen (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., Berlin u. a. 1991, S. 266). 16 Hier muss eine Abgrenzung zur sog. „synthetisierenden“ Verbindung mehrerer Grundrechte zur Schaffung eines neuen Grundrechts erfolgen; vgl. Meinke (Fn. 6), S. 238 ff. In diesen Fällen umfasst ein einzelnes Grundrecht nicht den Anspruch des Bürgers, sodass eine Rechtsschutzlücke geschlossen werden muss. 17 Vgl. Fohmann, EuGRZ 1985, 49 (59). Andere Autoren sprechen von einer „verstärkenden“ (Hufen (Fn. 5), § 6, Rn. 46) oder „unterstützenden“ (Stern (Fn. 2), S. 1398) Wirkung oder bevorzugen eine „ganzheitliche Lösungsvariante des konkreten Wirkungsverbunds“ (Heß (Fn. 6), S. 82) ohne zu konkretisieren, was mit diesen Konzepten jeweils gemeint ist. Zur Grundrechtsverstärkung (eines Grundrechts durch ein anderes) vgl. BVerfGE 104, 337 (346); E. Hofmann, AöR 133 (2008), S. 537 ff.; Spielmann, JuS 2004, 371. 18 Stern (Fn. 2), S. 1404 spricht hier von einer „Konkurrenzlage auf der negativen Tatbestandsseite“.

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Grundrechts mit der für den Grundrechtsträger weitergehenden Rechtsfolge (s. o.), dass dasjenige Grundrecht für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Eingriffs entscheidend ist, das die höheren Schrankenanforderungen stellt.19 Der staatliche Eingriff in ein Verhalten des Bürgers, das sowohl dem Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG als auch dem der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG unterfällt, muss sich mithin an dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG messen lassen. Dies ergibt sich aus dem Gedanken, dass Grundrechte auch Anspruchsgrundlagen gegen den Staat sind und es dem Anspruchsinhaber nach allgemeinen Grundsätzen frei steht, die jeweilige Anspruchsgrundlage auszuwählen, die ihm die weitreichendsten Rechtsfolgen gewährt. Außerdem wäre es unsinnig, wenn die Stärke des Grundrechtsschutzes mit der Zahl der einschlägigen Grundrechte abnähme.20 2. Grundrechtskollisionen

Grundrechtskollisionen sind immer dann anzutreffen, wenn der grundrechtsrelevante Sachverhalt nicht lediglich zweipolig – d. h. zwischen Bürger und Staat – angelegt ist. Es handelt sich also um Fälle, in denen staatliche Stellen eine Entscheidung treffen, welche die widerstreitenden Grundrechte mindestens zweier Individuen mit unterschiedlichen rechtlichen Interessen im konkreten Fall berührt. Es geht – gegenüber dem Staat – um ein gegengerichtetes Widerspiel von Grundrechten verschiedener Personen.21 Auch diese Konstellation – die von deutlich höherer praktischer Relevanz als dogmatischer Komplexität geprägt ist – ist von der Literatur umfassend durchdrungen.22 Im Ergebnis erfolgt ein – am Prinzip der Einheit der Verfassung orientierter23 – wechselseitiger optimaler Ausgleich der betroffenen Güter und Interessen. Konrad Hesse prägte für diese Methodik den Begriff der „praktischen Konkor-

19 Berg (Fn. 6); ders. (Fn. 8), § 71, Rn. 47; Stern (Fn. 2), S. 1405. Vgl. dagegen Klein, in: v. Mangoldt/ders. (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl., München 1957, Vorbem. B XV, S. 125 f. und Würkner, DÖV 1992, 150 (151) mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des BVerwG zu Werken der Baukunst. 20 v. Münch (Fn. 5), Rn. 225. 21 Kloepfer (Fn. 1), § 52, Rn. 8. 22 Vgl. nur Bethge, Zur Problematik der Grundrechtskollisionen, München 1977; ders., in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, Heidelberg 2009, § 71; Blaesing, Grundrechtskollisionen, Bochum 1974; Fohmann, EuGrZ 1985, 49; Martins, Die Grundrechtskollision, Berlin 2001; Paulson, ARSP 66 (1980), 487; Rohrer, Die Beziehungen der Grundrechte untereinander, Zürich 1982; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, Berlin 1976; Schneider (Fn. 9); Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, Buxtehude 1977; Schwacke, Grundrechtliche Spannungslagen, Stuttgart 1975; Stern (Fn. 2), § 82; Wegmann, BayVBl. 1990, 673; Winkler, Kollisionen verfassungsrechtlicher Schutznormen, Berlin 2000. 23 Stern (Fn. 2), S. 604.

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danz“.24 Dieser Ausgleich erfolgt in zwei Schritten: Zunächst wird der Versuch unternommen, die Gegensätze schonend in Ausgleich zu bringen und zwar insbesondere durch eine wechselseitige Abschleifung widerstreitender Grundrechtspositionen.25 Ist ein Ausgleich nicht möglich, muss einem der betroffenen Grundrechte insoweit der Vorrang eingeräumt werden. Bei der Bestimmung des Vorrangs im konkreten Fall können abstrakte Anhaltspunkte eine Rolle spielen.26 Entscheidend kommt es aber auf eine umfassende Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls an, insbesondere auf die Intensität der durch die Gewährung des Vorrangs hervorgerufenen Folgen für den Träger des anderen Grundrechts. Ein solcher Ausgleich ist freilich nicht möglich in Fällen, in denen die Gewährleistung des einen Grundrechts notwendig eine völlige Verdrängung des anderen Grundrechts zur Folge hat.27 Hier ist das Verhältnis der beiden Grundrechte durch den kollisionslösenden Vorrang des einen gegenüber dem anderen geprägt. III. Grundrechtskonzertierungen Bei den hier im Mittelpunkt stehenden Grundrechtskonzertierungen handelt es sich um Fälle, in denen mehrere Grundrechtsträger an einem grundrechtsrelevanten Sachverhalt derart beteiligt sind, dass sie ihre Grundrechte in gleichgerichteter, nicht kollidierender Weise ausüben. Es handelt sich um grundrechtliche geschützte Interaktionen von Personen. Teilbereiche dieses Komplexes haben in der Verfassungsrechtspraxis Probleme bereitet, sodass zu Einzelaspekten Veröffentlichungen vorliegen.28 Eine umfassende Gesamtbetrachtung der Thematik, die diese Einzelbetrachtungen vor einen breiteren Hintergrund stellt, liegt dagegen 24 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1995, Rn. 317 ff. Maßgeblich ist hier die von Peter Lerche geprägte Figur des schonenden Ausgleichs s. Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Aufl., 1999, S. 153. 25 Grenze für den Ausgleich ist dabei Art. 19 Abs. 2 GG, der die Antastung des Wesensgehalts verbietet. 26 v. Münch (Fn. 5), Rn. 230 nennt bspw. folgende Anhaltspunkte: Menschenrecht – Deutschenrecht, Grundrecht ohne Schranken – Grundrecht mit Schranken, Nicht verwirkbares Grundrecht – verwirkbares Grundrecht, Bedeutung eines Grundrechts für den demokratischen und sozialen Rechtsstaat. 27 Als Beispiel sei der Schwangerschaftsabbruch genannt; vgl. BVerfGE 39, 1; 88, 203. 28 Vgl. zum Themenkreis der Grundrechtsnetze Greve, Access-Blocking – Grenzen staatlicher Gefahrenabwehr im Internet, Berlin 2012 (i. E.), 1. Kap., C. IV. 2; Kloepfer, Presse-Grosso unter dem Schutz von Verfassungsrecht und Europarecht, Baden-Baden 2000, S. 57 ff.; ders., Vielfaltsicherung und Ebenentrennung in der Massenkommunikation, Baden-Baden 2010, S. 50; ders., AfP 2010, 120 (122); ders./Kutzschbach, AfP 1999, 1 (4); Kutzschbach, Grundrechtsnetze, Frankfurt a. M. 2004 (insbes. S. 141 ff.); v. Lewinski, Rechtswissenschaft 2011, 70 (92 f.). Zusammenfassend zum Problem der parallelen Grundrechtswahrnehmung: Bleckmann (Fn. 5), § 9, Rn. 62 ff.

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bisher noch nicht vor.29 Zur Lösung des Problems der Grundrechtskonzertierungen werden hier zunächst einige allgemeine Bemerkungen zur Bedeutung der horizontalen Wirkungsweise der Grundrechte im Bürger-Bürger-Verhältnis vorausgeschickt (1.), bevor auf die Thematik der Grundrechtskonzertierungen selbst (2.) eingegangen wird. 1. Grundrechte im horizontalen Verhältnis der Bürger untereinander

Bei der inter-individuellen Ebene des Rechtsverhältnisses der Bürger untereinander sind insbesondere zwei Fallgestaltungen voneinander zu unterscheiden: Zunächst geht es allgemein darum, ob Beziehungen mehrerer Personen erforderlich sind, damit der Anwendungsbereich von Grundrechten überhaupt eröffnet ist [a)]. Sodann ist auf die Frage der Grundrechtsbindungen in dem Verhältnis der Bürger zueinander einzugehen [b)]. a) Zum horizontalen Verhältnis als Voraussetzung für die Anwendung von Grundrechten Der Frage der rechtlichen, bzw. sozial-ethischen Bindungswirkung der Grundrechte im horizontalen Rechtsverhältnis [dazu s. u. b)] vorgeschaltet ist die Frage, inwiefern das gesellschaftliche Verhältnis der Bürger zueinander selbst Voraussetzung für die Geltung von Grundrechten ist. Diese Frage ist – zumindest in der juristischen Literatur – bisher kaum erörtert worden. Carl Schmitt spricht in seiner Verfassungslehre30 zwar davon, dass „die Grundrechte nicht nur Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat, sondern auch Rechte des Einzelnen in Verbindung mit anderen Einzelnen“ 31 sind. Dies ist Ausdruck des – an sich selbstverständlichen – Gedankens, dass jede Rechtsordnung nur dann Bedeutung gewinnt, wenn eine Mehrzahl von Rechtsunterworfenen existiert. Nur dann kann nämlich die Rechtsordnung ihre regelnde Funktion wahrnehmen. Bezogen auf die grundrechtsspezifischen Fragestellungen geht der Gedanke des Bedürfnisses einer inter-agierenden Mehrzahl an Individuen jedoch weiter. Der Tatbestand einiger Grundrechte setzt nämlich voraus, dass neben die Handlung des jeweiligen Grundrechtsträgers eine Handlung oder zumindest die Exis29 Ansätze finden sich bei Kloepfer (Fn. 1), § 52, Rn. 7; ders. (Fn. 3), passim, S. 46 ff., 51 f., 91. 30 C. Schmitt, Verfassungslehre, München u. a. 1928, S. 165. 31 C. Schmitt unterscheidet dann aber zwischen liberal-individualistischen Garantien der individuellen Freiheitssphäre und Rechten, die eine soziale Betätigung enthalten. Diese beginnen – so Schmitt, S. 165 – wo der Einzelne „aus dem unpolitischen Zustand des bloß Gesellschaftlichen heraustritt.“ Hierunter fallen z. B. die heute in Art. 5 Abs. 1 GG zusammengefassten Kommunikationsgrundrechte und die Grundrechte auf Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit.

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tenz eines anderen Individuums tritt. Im Kern geht es also darum, dass ein grundrechtlicher Schutzbereich im Einzelfall nur dann eröffnet sein kann, wenn in tatsächlicher Hinsicht eine Interaktion mit anderen Personen hinzu tritt. Neben ihrer Abwehrfunktion sind die Grundrechte in ihrer Ausübungsdimension nämlich auch und gerade Kommunikationsgrundrechte.32 Dieter Suhr verwendet zur Belegung dieser These das bildhafte Beispiel, dass bei einem rein abwehrbezogenem Verständnis der Grundrechte „derjenige am freiesten [wäre], der sich ohne Beschränkungen anderer allein auf der Welt befände.“ 33 Auch Niklas Luhmann sieht diese Seite der Grundrechte wenn er davon ausgeht, dass „Individuum und Kollektivum keine Substanzen mit festliegenden gegensätzlichen Interessen“ 34 sind. Die Konstituierung einer sozialen Identität erfolge nämlich im Prozess sozialer Kommunikation und nicht in isolierter Form ohne Einfluss anderer Individuen.35 Dabei werde die ohnehin schon bestehende Interdependenz der Gesellschaftssubjekte durch die immer weiter fortschreitende Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene Untersysteme nur intensiviert.36 Als Paradebeispiel für diese tatsächliche Interdependenz der Individuen dient Suhr das Grundrecht der freien Persönlichkeitsentfaltung aus Art. 2 Abs. 1 GG. Zwar habe auch dieses Grundrecht einen nach innen gerichteten Bestandteil, der die Entfaltung durch sich selbst unter Ausschluss anderer betreffe.37 Dieser Teil wird durch den status negativus geschützt. Kern der Persönlichkeitsentfaltung – so Suhr – sei aber die Entfaltung des einen durch den anderen.38 Die Entfaltung der Persönlichkeit erstrecke sich in die soziale Umgebung hinein und erscheine in der Form von Verhalten im Verkehr mit anderen.39 Luhmann erklärt dieses Phänomen damit, dass Selbstdarstellungen nur im sozialen Kontakt, also nur auf Grundlage komplementärer Verhaltenserwartungen möglich sind.40 Auch das Verhältnis von nasciturus und Mutter ist von einer solchen tatsächlichen Interdependenz geprägt. Der nasciturus kann seine Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG nur wahrnehmen, wenn auch die Mutter in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 GG geschützt wird. Aufgrund der biologischen Verbindung der beiden Grundrechtsträger zu einer „Zweiheit in Einheit“ 41 ist der nasciturus in der Wahrnehmung seiner Grundrechte von der Existenz, vom Leben der Mutter abhängig. Wird diese durch 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, Berlin 1976, S. 83 f. Suhr (Fn. 32), S. 89. Luhmann, Grundrechte als Institution, 5. Aufl., Berlin 2009, S. 93. Luhmann (Fn. 34), S. 93. Vgl. Luhmann (Fn. 34), S. 19. Suhr (Fn. 32), S. 95 ff. Suhr (Fn. 32), S. 84. Suhr (Fn. 32), S. 80. Luhmann (Fn. 34), S. 85. BVerfGE 88, 203 (252 f.).

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Fremd- oder Selbsteinwirkung in ihrem Grundrecht auf Leben oder körperliche Unversehrtheit verletzt, trifft dies in aller Regel auch den nasciturus. b) Anwendung der Grundrechte im horizontalen Verhältnis Schon früh ist in der juristischen Diskussion die Frage nach der Anwendbarkeit der Grundrechte im horizontalen Bürger-Bürger-Verhältnis aufgeworfen worden.42 Nach traditionellem – auf den Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 GG abstellendem – Verständnis sind die Grundrechte Abwehrrechte des Bürgers gegen hoheitliche Maßnahmen. Eine (unmittelbare) horizontale Wirkung im Rechtsverhältnis der Bürger untereinander kommt ihnen grundsätzlich nicht zu. Die sogenannte „unmittelbare Drittwirkung“ der Grundrechte ist daher – mit Ausnahme des grundgesetzlich ausdrücklich vorgesehenen Falls des Art. 9 Abs. 3 GG – abzulehnen. Die fehlende unmittelbare Drittwirkung wird im Ergebnis freilich teilweise dadurch relativiert, dass die Grundrechte über die Anwendung und Auslegung privatrechtlicher Generalklauseln Ausstrahlungswirkung auf das horizontale Rechtsverhältnis der Bürger haben. Der grundsätzlichen Ablehnung einer unmittelbaren Rechtswirkung der Grundrechte zwischen den Bürgern steht diese (mittelbare) Drittwirkung aber nicht entgegen.43 2. Arten der Grundrechtskonzertierungen

Die Lehre von den Grundrechtskonzertierungen steht in engem Zusammenhang mit der oben dargestellten Erkenntnis, dass in tatsächlicher Hinsicht in vielen Fällen eine Mehrzahl von Individuen erforderlich ist, um eine Grundrechtsausübung tatsächlich zu ermöglichen. In den Fallgestaltungen der Grundrechtskonzertierungen geht die Interdependenz der Individuen aber weiter. Neben die rein tatsächliche Verwebung der Verhaltensweisen der Menschen tritt eine rechtliche Komponente. Die Grundrechtsausübung einer Person hängt nunmehr nicht lediglich von der tatsächlichen Existenz oder Handlung einer anderen Person ab, sondern davon, dass der andere ebenfalls von bestimmten Grundrechten Gebrauch macht. Es besteht somit ein rechtliches Abhängigkeitsverhältnis der Grundrechtstatbestände zueinander. Es kommt zu funktionalen Grundrechtsverschränkungen der Grundrechte mehrerer. Grundrechtskonzertierungen erfassen diejenigen Fälle, in denen die Grundrechte mehrerer Personen derart miteinander verknüpft sind, dass sie in einem inhaltlichen, grundrechtlichen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Die 42 Vgl. BVerfGE 7, 198 (204); 10, 173 (178); 24, 278 (282); 30, 173 (193 ff.); aus der Literatur s. nur: Hager, JZ 1994, 373; Schwabe (Fn. 22), § 14; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, München 1988, § 76. 43 Vgl. zu alledem Kloepfer (Fn. 1), § 50, Rn. 42 ff.

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Ausübung eines Grundrechts durch einen Grundrechtsträger ist Voraussetzung für die Ausübung eines Grundrechts durch einen anderen Grundrechtsträger. Die Grundrechte sind auf gleiche Interessen oder gemeinsame Ziele ausgerichtet. Hierbei sind zwei Gestaltungen zu unterscheiden: Sind die jeweils auszuübenden Grundrechte der Beteiligten inhaltsgleich, kann von paralleler Grundrechtsausübung gesprochen werden [dazu sogleich unter a)]. Haben die interdependenten Grundrechte der Beteiligten dagegen verschiedene Rechtspositionen zum Inhalt, soll von entsprechungsrechtlicher Grundrechtsausübung gesprochen werden [s. unten b)] a) Parallele Grundrechtsausübung Die erste Kategorie von Grundrechtskonzertierungen erfasst Fälle, in denen mehrere Personen von identischen Grundrechten parallel Gebrauch machen. Diese gleichgerichtete Grundrechtsausübung ist für die Eröffnung des grundrechtlichen Schutzbereichs erforderlich. Eine solche Konstellation ist bei dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) anzutreffen. Die Versammlungsfreiheit erfordert, dass nicht nur ein Grundrechtsträger alleine von seinem Grundrecht Gebrauch macht. Eine „Versammlung“ im Sinne des Grundgesetzes erfordert die Zusammenkunft mehrerer Menschen zum Zweck gemeinschaftlicher, auf Kommunikation angelegter Entfaltung.44 Durch das Erfordernis einer Mehrzahl45 von Personen wird deutlich, dass nur eine (parallele) Grundrechtsausübung durch mehrere Personen den Tatbestand des Art. 8 GG eröffnet. Somit kann von einer grundrechtlichen Absicherung eines interpersonalen Vorgangs durch inhaltsgleiche, parallele Grundrechtspositionen gesprochen werden.46 Auch bei der Teilnahme mehrerer Personen an einem Gottesdienst bzw. an einer Theateraufführung oder an einer Vorlesung geht es um parallele Grundrechtsausübungen, wobei allerdings entsprechungsrechtliche Grundrechtsausübungen der Akteure (Priester, Schauspieler, Professor) hinzukommen. In Fällen der parallelen Grundrechtskonzertierung geht es jedoch nicht um das Wechselspiel zweier unterschiedlicher, sich gegenseitig bedingender reziproker Verhaltensweisen wie bei der entsprechungsrechtlichen Grundrechtsausübung (s. u.), sondern vielmehr um die gemeinsame, parallele Wahrnehmung ihrer Grundrechtspositionen. Dennoch handelt es sich um einen Fall der Konzertierung mehrerer grundrechtlicher Rechtspositionen verschiedener Personen zum Schutz einer sozialen Interaktion von Menschen. 44

BVerfGE 69, 315 (343). Ob hierfür nun zwei, drei oder sieben Personen erforderlich sind (s. hierzu Kloepfer (Fn. 1), § 63, Rn. 5), ist für die hier interessierende Thematik ohne Belang. 46 Kloepfer (Fn. 3), S. 46. 45

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b) Entsprechungsrechtliche Grundrechtsausübung Bei einer entsprechungsrechtlichen Grundrechtsausübung geht es darum, dass mehrere Personen in – interessenmäßiger – gleichgerichteter Weise von unterschiedlichen Grundrechtspositionen Gebrauch machen und dabei in einem grundrechtlichen inhaltlichen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Dabei ist typischerweise die Rechtsposition des einen verfassungsrechtlich geschützt. Die Rechtsposition des anderen reziprok an dem einheitlichen Lebenssachverhalt Beteiligten ist dagegen vom Verfassungstext nicht ausdrücklich erfasst. Die jeweiligen Rechtspositionen stehen aber dergestalt in einem entsprechungsrechtlichen Zusammenhang, dass sie bei den einzelnen Personen jeweils unterschiedliche Gehalte bergen, wobei der Gebrauch von Grundrechten verschiedener Menschen aufeinander bezogen ist.47 Einzeln betrachtet erfassen die jeweiligen Entsprechungsrechte jeweils nur einen – notwendig ergänzungsbedürftigen – sachlichen Teilaspekt eines einheitlichen Vorgangs, z. B. sind beim Kauf – bezüglich des Käufers – der Vorgang des Kaufens und – beim Verkäufer – der Vorgang des Verkaufens erfasst.48 Zur Bewältigung der bei dieser Konstellation auftretenden rechtlichen Probleme hat der Grundgesetzgeber in sehr begrenztem Umfang selbst Regelungen getroffen. In der weit überwiegenden Zahl der Fälle hat er dies unterlassen, sodass auf die allgemeinen Grundsätze des entsprechungsrechtlichen Denkens zurückgegriffen werden muss. Im Fall der Kommunikationsfreiheiten hat der Verfassungsgesetzgeber eine eigenständige entsprechungsrechtliche Regelung getroffen. Der Normtext verknüpft die Vorgänge der Informationsdistribution und Informationsrezeption in einem Grundrechtsartikel, d.h. in Art. 5 Abs. 1 GG. Dabei unterscheidet das Grundgesetz zwischen der Informationsdistribution mit dem Grundfall der Meinungsäußerungs- und Meinungsverbreitungsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG sowie den speziellen Fällen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG, nämlich der meinungsbildenden Freiheiten (Pressefreiheit und Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film) auf der einen Seite und der Informationsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG als Freiheit der Informationsrezeption auf der anderen Seite. Obwohl es sich bei der Meinungsfreiheit und bei der Informationsfreiheit um zwei selbständige Grundrechte handelt, werden sie aufgrund ihrer inhaltlichen Interdependenzen miteinander verbunden.49 Die Verbindung findet ihre Rechtfertigung u. a. darin, dass die Informationsfreiheit Voraussetzung für die Meinungsbildung ist, die wiederum Voraussetzung für die Meinungsäußerung und Meinungsverbrei-

47 Kloepfer, Presse-Grosso unter dem Schutz von Verfassungsrecht und Europarecht, Baden-Baden 2000, S. 58. 48 Kloepfer (Fn. 3), S. 47. 49 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, München 2006, S. 1387.

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tung ist.50 Aber auch innerhalb der Tatbestände aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 und S. 2 GG sind Interdependenzen festzustellen. Die Person, die auf der distributiven Seite des grundrechtsrelevanten Sachverhalts involviert ist, bleibt in ihrer Grundrechtsausübung davon abhängig, dass der Informationsrezeptor seinerseits von seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG Gebrauch macht. Klaus Stern spricht hier treffend davon, dass es sich bei diesen Rechtspositionen um „Zwillingsgrundrechte“ handelt,51 wobei es freilich um zweieiige Zwillinge geht. Sind die Tatbestände von S. 1 und S. 2 Zwillingsgrundrechte, handelt es sich beim Vorgang der Informationsdistribution und -rezeption gewissermaßen um „siamesische Zwillinge“. Die Existenz des einen Grundrechts hängt zwingend von der Existenz des anderen ab. Ohne den Schutz des einen wäre das andere verloren. Abgesehen von der Regelung des Art. 5 Abs. 1 GG ist dem Verfassungstext aber keine weitere ausdrückliche Regelung zur Frage entsprechungsrechtlicher Grundrechtsgewährleistungen zu entnehmen. Diese Regelung des Grundgesetzes zu den entsprechungsrechtlichen Grundrechtskonzertierungen bleibt lückenhaft. Neben dem Komplex der Kommunikationsfreiheiten aus Art. 5 Abs. 1, 2 GG existiert nämlich eine Vielzahl von Fällen, in denen eine Grundrechtsposition zwingend von der Existenz einer anderen abhängt. In diesen Fällen muss durch entsprechungsrechtliches Denken der Tatbestand des jeweiligen Grundrechts erweiternd dahingehend ausgelegt werden, dass auch die reziproke Verhaltensweise und Funktionsverzahnung grundrechtlich unter Schutz gestellt wird. Die entsprechungsrechtliche Grundrechtsauslegung kommt hier als wichtiges Instrument der Grundrechtsvervollkommnung zur Anwendung.52 Zur Darlegung dieser Thematik sollen einige – nicht abschließend aufgezählte – Beispiele genannt werden: Art. 5 Abs. 3 Alt. 2 GG normiert die Wissenschaftsfreiheit. Diese schützt jede wissenschaftliche Betätigung, d.h. jeden „nach Inhalt und Form ernsthaften und planmäßigen Versuch zur Ermittlung der Wahrheit.“53 Als Teilaspekt hiervon wird auch die Lehrfreiheit im Sinne einer aktiven Vermittlung von eigenen und fremden Erkenntnissen durch Veranstaltung und Gestaltung von Lehrveranstaltungen geschützt.54 Mittlerweile ist auch anerkannt, dass die Studenten nicht „bloße Objekte der Wissensvermittlung [sind], sondern selbständig mitarbeitende, an den wissenschaftlichen Erörterungen beteiligte Mitglieder der Hochschule.“55 In dieser Position können sie sich in gewissem Umfang auch auf ihre 50 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl., München 2010, Art. 5 Abs. 1, 2, Rn. 5. 51 Stern (Fn. 49), S. 1387. 52 Kloepfer (Fn. 3), S. 47. 53 BVerfGE 35, 79 (113); s. hierzu Kloepfer (Fn. 1), § 62, Rn. 31 ff. 54 Kloepfer (Fn. 1), § 62, Rn. 38. Das hat vor allem im Bereich der sog. Studierendenstreiks Bedeutung erlangt, bei denen Studenten ihre Kommilitonen vom Besuch der Lehrveranstaltungen abhalten wollten; vgl. OVG Berlin, WissR 1969, 177 (179); OVG Hamburg, NJW 1978, 1395 (1395 f.).

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„Lern- oder Studienfreiheit“ berufen. Ob diese grundrechtliche Rechtsstellung als Korrelat zur Lehrfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG folgt oder sich aus dem Recht auf freie Wahl der Ausbildungsstätte ergibt, ist umstritten,56 im Ergebnis hier aber ohne Belang. Die Lehrfreiheit kann nur dann einen umfassenden Grundrechtsschutz erfahren, wenn im Gegenzug auch die Lernfreiheit der Studenten geschützt wird. Das eine Verhalten ist ohne das andere nicht denkbar und zwar sowohl in rein tatsächlicher Hinsicht als auch im Hinblick auf die rechtliche Eröffnung des Schutzbereichs der entsprechenden Grundrechtsposition. Bei der Lehrfreiheit handelt es sich mithin um einen notwendig ergänzungsbedürftigen Teilaspekt des Gesamtvorgangs der Wissensvermittlung an der Hochschule. Die oben entwickelten Grundsätze der entsprechungsrechtlichen Grundrechtsauslegung sind folglich anwendbar und führen zur Vervollkommnung des insoweit unvollständigen grundrechtlichen Schutzbereichs. Ein weiterer Anwendungsfall des Gedankens der Vervollkommnung grundrechtlicher Rechtspositionen durch entsprechungsrechtliche Auslegung findet sich in Art. 12 Abs. 1 GG. Nach dem Wortlaut dieser Norm wird nur „das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen“ geschützt. Dabei scheint es der verfassungsrechtlichen Formulierung des Art. 12 GG maßgeblich um den Schutz der Arbeitnehmer (bzw. der Selbständigen) zu gehen. Mittlerweile ist aber anerkannt, dass der Schutz des Arbeitnehmers ohne den reziproken Schutz des Arbeitgebers nur höchst unvollständig wäre. Der Arbeitnehmer ist in der Ausübung seines Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG von der Gewährleistung der Rechtsposition seines Arbeitgebers abhängig.57 Deshalb hat das BVerfG 58 schon frühzeitig anerkannt, dass die „Unternehmerfreiheit“ neben das Recht des Arbeitnehmers tritt und dabei die „freie Gründung und Führung von Unternehmen“ schützt. Die Unternehmensfreiheit erstreckt sich insbesondere auf die wirtschaftliche Planung, die Entscheidungen im Umgang mit Personal und Betriebs55

BVerfGE 35, 79 (125). Die wohl h. M. rekurriert auf Art. 12 Abs. 1 GG: OVG Hamburg, NJW 1978, 1395 (1395 f.); Geck, VVDStRL 27 (1969), 143 (156 ff.); Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl., Tübingen 2004, Art. 5 Abs. 3, Rn. 33; Pieroth, Störung, Streik und Aussperrung an der Hochschule, Berlin 1976, S. 140; Rupp, VVDStRL 27 (1969), 113 (135); Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, 59. EL, München 2010, Art. 5 Abs. 3, Rn. 113. Für einen Rückgriff auf Art. 5 Abs. 3 GG sprechen sich aus: Bethge, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl., München 2009, Art. 5, Rn. 203; Kloepfer (Fn. 3), S. 91; Küchenhoff-Lüthje, WissR 1969, 226 (234 ff.); Mallmann/ Strauch, in: Westdeutsche Rektorenkonferenz (Hrsg.), Dokumente zur Hochschulreform XIV/1970, S. 91; zitiert nach: Pieroth, ebd., S. 136; Starck (Fn. 50), Art. 5 Abs. 3, Rn. 379. BVerfGE 55, 37 (67 f.), OVG Hamburg, NJW 1977, 1254 lassen ausdrücklich offen, ob sich die „Studienfreiheit“ aus Art. 5 Abs. 3 GG oder Art. 12 Abs. 1 GG ergibt. 57 Im Fall der Berufswahl mag dieses Abhängigkeitsverhältnis nicht so stark ausgeprägt sein wie im Fall der Berufsausübung. Diese Teilaspekte von Art. 12 Abs. 1 GG werden aber ohnehin nicht strikt getrennt, sondern als „einheitliches Grundrecht“ behandelt; vgl. nur BVerfGE 7, 377 (401). 58 BVerfGE 50, 290 (363). 56

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mitteln, die freie Auswahl über die zu produzierenden Waren oder angebotenen Dienstleistungen sowie die Entscheidung über Investitionen und Unternehmensstrukturen. Insbesondere der Aspekt der Freiheit der Unternehmensführung in der Form der Dispositionsfreiheit59 im Verhältnis zwischen Unternehmer und Belegschaft zeigt die rechtliche Interdependenz dieser Rechtspositionen. Ohne Gewährleistung der Unternehmerfreiheit wäre die Arbeitnehmerfreiheit in hohem Maße gefährdet. Dies gilt allerdings auch umgekehrt. Auch im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer als grundrechtliches Verhältnis spielt also das entsprechungsrechtliche Denken bei der funktionsgerechten Bestimmung des Schutzbereichs des Art. 12 Abs. 1 GG eine beachtliche Rolle. Außerdem sei noch auf die von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gewährleisteten Grundrechte des Eigentums und des Erbrechts hingewiesen, die in besonders plastischer Weise die Notwendigkeit entsprechungsrechtlicher Grundrechtsauslegung aufzeigen. In Bezug auf das Eigentum ist eine Unterscheidung zwischen der Gewährleistung bereits erworbenen Eigentums und dem Vorgang des Erwerbens von Eigentum vorzunehmen. Von Art. 14 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG wird das bereits bestehende Eigentum durch Bestands-, Nutzungs- und Verfahrensgarantien geschützt.60 Der reziproke Vorgang des Erwerbens wird dagegen nach der h. M.61 nicht von Art. 14 Abs. 1 GG, sondern von Art. 12 Abs. 1 GG beim gewerblichen und Art. 2 Abs. 1 GG beim nicht-gewerblichen Erwerb erfasst.62 Art. 14 Abs. 1 GG soll demnach das Erworbene, Art. 12 Abs. 1, bzw. Art. 2 Abs. 1 GG den Vorgang des Erwerbens schützen.63 Diese Unterscheidung soll auf der Besonderheit des Art. 14 Abs. 1 Var. 1 GG beruhen, der nicht handlungs-, sondern objektbezogen sei64 und daher sowohl auf der Ebene des Schutzbereichs, als auch bei der Frage der Schranken für den zukunftsgerichteten Vorgang des Erwerbens nicht passen soll. Dies ändert aber nichts daran, dass auch in diesem Fall erst das entsprechungsrechtliche Denken zum umfassenden Schutz des einheitlichen Komplexes des Eigentumserwerbs und Eigentumsgebrauchs durch Kombination von Art. 12 und Art. 14 GG führt. Der Schutz des Vorgangs des Eigentumserwerbs ist dem Schutz des Bestands des Eigentums logisch vorgeschaltet. Nur was erworben wurde, kann in seinem Bestand geschützt werden. Wäre nur der Eigentumsbe59 Breuer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl., Heidelberg 2010, § 170, Rn. 89; Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl., München 2010, Art. 12, Rn. 68; Ossenbühl, AöR 115 (1990), 1 (18 f.); Wieland, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl., Tübingen 2004, Art. 12, Rn. 68. 60 Vgl. Kloepfer (Fn. 1), § 72, Rn. 56 ff. 61 BVerfGE 30, 292 (334 f.); 65, 237 (248); Wieland (Fn. 59), Art. 14 GG, Rn. 183; Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl., München 2010, Art. 14, Rn. 99. 62 Wieland (Fn. 59), Art. 14, Rn. 183 f. 63 BVerfGE 30, 292 (335). 64 BVerfGE 30, 292 (334).

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stand vom Grundrechtsschutz umfasst, wäre nur ein Teil des einheitlichen grundrechtsrelevanten Vorgangs geschützt.65 Folglich sichert Art. 14 GG entgegen der h. M. auch den Erwerb bestimmter Sachen,66 wobei es beim beruflichen Erwerb zu einer Grundrechtskonkurrenz kommen kann. Dabei ist die von Art. 14 GG geschützte Erwerbsfreiheit gegenstandsbezogen, die von der Berufsfreiheit geschützte Erwerbsfreiheit hingegen tätigkeitsbezogen. In Bezug auf das Erbrecht verläuft das Argumentationsmuster parallel. Nur was vererbt werden kann, kann geerbt werden. Auch hier besteht eine entsprechungsrechtliche Interdependenz zwischen dem Vorgang des Erwerbs und dem Vorgang der Entäußerung.67 Dementsprechend wird der Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 S. 1 Var. 2 GG erweiternd dahingehend ausgelegt, dass neben der Testierfreiheit des Erblassers – also dem Recht, die Erben seines Vermögens frei zu bestimmen und sonstige testamentarische Verfügungen vorzunehmen – das Recht des Erben, die Erbschaft anzunehmen oder auszuschlagen, tritt.68 Auch hier begründet das BVerfG die erweiternde Auslegung damit, dass andernfalls der „Grundrechtsschutz mit dem Tode des Erblassers erlöschen und damit weitgehend entwertet“ 69 würde. Eher im Verborgenen blüht der entsprechungsrechtliche Gehalt der Vertragsfreiheit, der nach h. M. durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt wird.70 Obwohl beide Vertragspartner bei Vertragsschluss das gleiche Grundrecht wahrnehmen, handelt es sich aber nicht um einen parallelen Grundrechtsgebrauch (wie z. B. bei einer Versammlung), sondern um einen entsprechungsrechtlichen Grundrechtsgebrauch. Käufer und Verkäufer wollen gerade nicht dasselbe, sondern haben unterschiedliche ökonomische Interessen, die sich zu einem gemeinsamen Zweck ergänzen, der durch ein Rechtsgeschäft erreicht werden soll. c) Zwischenergebnis Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass neben dem grundgesetzlich geregelten Fall des Art. 5 Abs. 1 GG zahlreiche nicht ausdrücklich vom Grundgesetz erwähnte Fälle existieren, in denen die Tatbestände mehrerer Grundrechte durch ein – paralleles oder entsprechungsrechtliches – Verhältnis der gegenseitigen Bedingung gekennzeichnet sind. Die Existenz des einen Tatbestands setzt zwingend 65

Vgl. Kloepfer (Fn. 3), S. 48. Vgl. Kloepfer (Fn. 1), § 72, Rn. 61; ders. (Fn. 3), S. 37 ff. 67 Kloepfer (Fn. 3), S. 47. 68 BVerfGE 91, 346 (360); vgl. auch Depenheuer (Fn. 61), Art. 14, Rn. 513; Kloepfer (Fn. 1), § 72, Rn. 168. 69 BVerfGE 91, 346 (360). 70 BVerfGE 8, 274 (328); 10, 89 (99); 12, 341 (347); 18, 315 (327); Kloepfer (Fn. 1), § 56, Rn. 20; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl., München 2010, Art. 2 Abs. 1, Rn. 145. 66

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die Existenz des anderen voraus. Diese gegenseitige Bedingung führt dazu, dass zur Gewährleistung des Schutzes des einen Grundrechts auch das andere Verhalten geschützt werden muss. Ob dieser Schutz ebenfalls unter den Tatbestand des ersten normierten Grundrechts fällt – also Schutz des Erbens auch durch den Schutz der Rechte des Erblassers, bzw. Schutz der Lernfreiheit der Studenten auch durch den Schutz der Lehrfreiheit des Professors – oder unter andere Grundrechtstatbestände subsumiert wird – wie nach (unzutreffender) h. M. bei dem Schutz des Eigentumserwerbs –, ist von der Weite des jeweiligen Grundrechtstatbestandes abhängig. 3. Rechtsfolgen bei Grundrechtskonzertierungen

a) Subjektiv-rechtliche Gewährleistungen Hinsichtlich der rechtlichen Konsequenzen der Rechtsfigur der Grundrechtskonzertierungen ist zunächst zu fragen, welche subjektiv-rechtlichen Rechtsfolgen die Konstruktion der Grundrechtskonzertierung hat. Sowohl im Falle der parallelen wie der entsprechungsrechtlichen Grundrechtsausübung bedeutet sie vor allem eine Ausdehnung des Grundrechtstatbestands auf die Grundrechtspositionen anderer. Die Eingriffe in diese Grundrechte anderer werden zu Eingriffen in die eigenen Grundrechte. Behindert der Staat z. B. den Kauf einer Zeitschrift, bzw. das Aufrufen einer Internet-Seite, bedeutet dies nicht nur einen Eingriff in die Grundrechte der Verleger und Redakteure bzw. der Betreiber von InternetSeiten, sondern auch einen Eingriff in die Grundrechte der (potentiellen) Informationsrezipienten, also insbesondere der Leser und der Internet-User. Verbietet der Staat Studierenden den Besuch einer Vorlesung, greift er auch in das Grundrecht des jeweiligen Hochschullehrers ein. Hindert der Staat potentielle Versammlungsteilnehmer daran, an einer Versammlung teilzunehmen, beeinträchtigt er zugleich das Grundrecht der anderen Versammlungsteilnehmer; dies jedenfalls dann, wenn dadurch die Versammlung überhaupt nicht zu Stande kommen kann. Entsprechendes gilt unter dem Aspekt von Art. 4 Abs. 1 GG für die Behinderung von Gottesdienstteilnehmern. Dadurch kann auch die Religionsausübungsfreiheit derer beeinträchtigt sein, die ungehindert in einen Gottesdienst gelangt sind. Dies bedeutet allgemein, dass eine Beeinträchtigung der Rechtsposition eines Menschen einen rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtseingriff bei einem anderen darstellen kann. Zwar liegt in der Beeinträchtigung des einen in der Regel mangels Finalität kein unmittelbarer Eingriff im klassischen Sinne71 in die Rechtsposition des anderen.72 Vielmehr stellt die Beeinträchtigung einen Eingriff im modernen, weiteren Sinne dar. Hierunter ist jedes staatliche Verhalten zu verstehen, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grund71 72

Vgl. dazu Kloepfer (Fn. 1), § 51, Rn. 24 ff. Kloepfer (Fn. 1), § 51, Rn. 31; Greve (Fn. 28), 1. Kap., C. IV. 2.

Grundrechtskonzertierungen

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rechts fällt, tatsächlich unmöglich macht oder doch erheblich erschwert.73 Es handelt sich in allen Fällen um eine horizontale Eingriffskumulation.74 Dies erlangt u.a auf der Ebene der Rechtfertigung des grundrechtlichen Eingriffs Bedeutung. Die Verklammerung verschiedener Grundrechtspositionen führt nämlich zu einem Grundrechtsverbund und damit zur Notwendigkeit einer schrankenbezogenen Konkurrenzlösung.75 Können die verklammerten Grundrechte aus derselben Norm hergeleitet werden, führt dies wegen ihrer Schrankenidentität zu keinen weiteren Problemen der Grundrechtsabgrenzung. Werden die grundrechtlichen Schutzgegenstände dagegen bei entsprechungsrechtlichen Grundrechtskonzertierungen aus unterschiedlichen Normen gewonnen, ist eine einheitliche schrankenbezogene Konkurrenzlösung erforderlich. Da die Einschränkung des einen Grundrechts nämlich zugleich die Begrenzung des reziproken Rechts bewirkt, führt dies notwendig zu einer sachlichen Schrankenidentität.76 Wie auch bei der Frage der Grundrechtskonkurrenzen kommen daher nach dem grundrechtlichen Günstigkeitsprinzip diejenigen Schranken zur Anwendung, die die höchsten Anforderungen an die Rechtfertigung stellen (s. o. II. 1.). Auf der anderen Seite hat eine begünstigende staatliche Maßnahme freilich auch positive Wirkungen auf die parallele bzw. reziproke Rechtsposition. Man kann an dieser Stelle von „grundrechtsverstärkenden Netzwerkeffekten“ 77 sprechen. b) Objektiv-rechtliche Gewährleistungen Neben diese subjektiv-rechtliche Komponente tritt in einigen Fällen der parallelen, sowie der entsprechungsrechtlichen Grundrechtskonzertierung in einem grundrechtsrelevanten Lebenssachverhalt auch eine objektiv-rechtliche Komponente in Form von Einrichtungsgarantien78 oder sonstigen objektiv-rechtlichen Gewährleistungen.

73

Kloepfer (Fn. 1), § 51, Rn. 31. Vgl. hierzu Kloepfer, VerwArch 74 (1983), 201 (214). Diese horizontale Eingriffskumulation ist von der vertikalen Eingriffskumulation (Eingriffsaddition beim einzelnen Grundrechtsträger) zu unterscheiden. 75 Kloepfer (Fn. 3), S. 47. 76 Kloepfer (Fn. 3), S. 47. 77 s. Greve (Fn. 28), 1. Kap., C. IV. 2.; vgl. auch Kloepfer, Presse-Grosso unter dem Schutz von Verfassungsrecht und Europarecht, Baden-Baden 2000, S. 57 ff.; ders., Vielfaltsicherung und Ebenentrennung in der Massenkommunikation, Baden-Baden 2010, S. 50; ders., AfP 2010, 120 (122); ders./Kutzschbach AfP 1999, 1 (4); Kutzschbach (Fn. 28) (insbes. S. 141 ff.). 78 Grundlegend zu diesem Begriff F. Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, Breslau 1934. 74

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Die Einrichtungsgarantien – die sich zwar nicht explizit dem Verfassungstext als solchem entnehmen lassen, aber heute weithin unumstritten sind – treten neben die primär subjektiv-rechtliche Wirkung der Grundrechte und haben vor allem eine bestandsschützende und grundrechtsverstärkende Wirkung.79 Sie verstärken den subjektiv-rechtlichen Rechtsgehalt, indem sie zugleich die betreffende Institution als solche schützen.80 Durch diese objektiv-rechtliche Gewährleistung wird die Voraussetzung für die individuelle subjektiv-rechtliche Grundrechtsausübung geschaffen. Als Einrichtung in diesem Sinne können juristischtatsächliche Gebilde verstanden werden, die als Eigenwerte künftig fortbestehen sollen und sowohl von rechtlichen als auch gesellschaftlichen Einflüssen durchdrungen sind.81 Wie oben dargelegt, zeichnen sich die Fälle der grundrechtlichen Verbindung mehrerer Personen in einem einheitlichen Lebenssachverhalt in Form der Grundrechtskonzertierung dadurch aus, dass diese in einem besonderen – sowohl auf der tatsächlichen, wie auch auf der rechtlichen Ebene bestehenden grundrechtlichen – inhaltlichen Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen. Dieses verfassungsrechtliche Abhängigkeitsverhältnis von Grundrechten verschiedener Personen bewirkt, dass die umfassende Gewährleistung der einen subjektiven Rechtsposition ohne die Gewährleistung der anderen nicht möglich ist. Der hieraus folgenden Schutzbedürftigkeit der an dem einheitlichen Vorgang beteiligten Personen trägt die Verfassung zum Teil dadurch Rechnung, dass ein breitflächiger objektiv-rechtlicher Grundrechtsschutz in Form von Einrichtungsgarantien neben den punktuellen rein subjektiv-rechtlichen Grundrechtsschutz tritt. Insbesondere in Bereichen, in denen die Gewährleistung der subjektiv-rechtlichen Ausübung der grundrechtlichen Schutzposition alleine nicht genügt, um den Zweck des jeweils verbürgten Grundrechtstatbestands zu gewährleisten, kommen die Einrichtungsgarantien mit ihren grundrechtsverstärkenden Wirkungen ins Spiel.82 Gerade in den Fällen der entsprechungsrechtlichen Grundrechtskonzertierungen besteht das Bedürfnis einer solchen objektiv-rechtlichen Schutzgewährleistung. Hier ist der Einzelne in seiner Grundrechtsausübung nämlich nicht unabhängig, sondern steht in einem inhaltlichen Abhängigkeitsverhältnis zu den anderen an dem Vorgang beteiligten Akteuren. Er muss deshalb vor Beeinträchtigungen dieses Verhältnisses geschützt werden, die sowohl von außen, als auch von den sonstigen an dem Vorgang Beteiligten ausgehen können. Aus dieser besonders stark ausgeprägten Grundrechtssensibilität ergibt sich, dass in den folgenden Fällen ein objektiv-rechtlicher Schutz durch Einrichtungsgarantien angenommen wird: 79 Kloepfer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, Heidelberg 2006, § 43, Rn. 21. 80 Hufen (Fn. 5), § 5, Rn. 17. 81 Kloepfer (Fn. 79), § 43, Rn. 28; vgl. die Aufzählung der diskutierten Einrichtungsgarantien unter, Rn. 45 ff. 82 Bleckmann (Fn. 5), § 11, Rn. 106.

Grundrechtskonzertierungen

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Im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG werden bspw. Presse und Rundfunk nicht lediglich in subjektiv-rechtlicher Hinsicht, sondern auch als objektiv-rechtliche Voraussetzung für die freie Meinungsbildung geschützt.83 Auch die Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG enthält solche objektiv-rechtlichen Schutzgewährleistungen.84 Ebenso werden von Art. 14 Abs. 1 GG Eigentum und Erbrecht nicht lediglich in subjektiv-rechtlicher Hinsicht, sondern auch objektivrechtlich als Einrichtungsgarantien dem verfassungsrechtlichen Schutz unterstellt.85 In allen Fällen können so die entsprechenden Interaktionen von Personen in bestimmten Lebensbereichen umfassend grundrechtlich geschützt werden. IV. Entwicklungsperspektiven der Grundrechtskonzertierungen Das Potential der Rechtsfigur der Grundrechtskonzertierung ist beträchtlich. Diese Figur ermöglicht die grundrechtliche Durchdringung, bzw. Bewältigung hochkomplexer Systeme wie z. B. großer Organisationen, Unternehmen und Konzerne, Verbände, aber auch technischer Großanlagen und Infrastruktureinrichtungen. Grundsätzlich betrachtet setzt die Funktion solcher Systeme eine eminente Fülle von grundrechtlich geschützten Interaktionen von Personen, d.h. von Grundrechtsausübungen durch parallele wie entsprechungsrechtliche Grundrechtsausübungen voraus. Parallele Grundrechtsausübungen sind dabei z. B. die Teilnahme an Versammlungen und Gottesdiensten, die Tätigkeiten der Beschäftigten eines Unternehmens oder die Aktivitäten von Verbandsmitgliedern; entsprechungsrechtliche Grundrechtskonzertierungen sind etwa die Arbeitgeber-/Arbeitnehmerbeziehungen in einem Unternehmen oder die Kunden-, bzw. Nutzerbeziehungen von Unternehmen bzw. technischen Großanlagen. Vor allem die Grundrechtsbetätigungen in Netzen,86 seien es Vertriebsnetze (wie z. B. Presse-Grosso bzw. andere Großhandelsnetze), Verkehrsnetze (z. B. Ei83 Kloepfer (Fn. 1), § 61, Rn. 65 ff.; ob dieser Schutz aber als Einrichtungsgarantie qualifiziert werden kann, ist wegen der fehlenden institutsbestimmenden Gestalt der „Presse“ mehr als fraglich (vgl. Rn. 73); das BVerfG (vgl. nur E 10, 118 (121); 12, 205 (260); 20, 162 (175)) spricht vom „Institut der Freien Presse“ ohne sich dogmatisch festzulegen. 84 Kloepfer (Fn. 1), § 62, Rn. 39 ff.; auch hier ist fraglich, ob eine Einrichtungsgarantie gegeben ist. 85 Kloepfer (Fn. 1), § 72, Rn. 72, 171. 86 s. zu diesem Begriff Kloepfer, Presse-Grosso unter dem Schutz von Verfassungsrecht und Europarecht, Baden-Baden 2000, S. 57 f.; ders., Vielfaltsicherung und Ebenentrennung in der Massenkommunikation, Baden-Baden 2010, S. 50; ders., AfP 2010, 120 (125); ders./Kutzschbach, AfP 1999, 1 (4); vgl. auch Kutzschbach (Fn. 28), S. 141 ff. Vgl. ferner Schmidt-Aßmann/Schoch, Bergwerkseigentum und Grundeigentum im Betriebsplanverfahren, Stuttgart u. a. 1994, S. 85 die von „vernetzten Grundrechtspositionen“ sprechen, dies aber auf Fälle beziehen, in denen eine Behörde bei ihrem Verwaltungshandeln nicht nur die Interessen eines Bergwerkseigentümers, sondern auch die Rechtspositionen anderer, von der Maßnahme (mittelbar oder faktisch)

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senbahn) oder Informationsnetze (Internet87), lassen sich mit der Figur der Grundrechtskonzertierung verfassungsrechtlich fassen. Das Internet ist durch hochkomplexe ineinander greifende Grundrechtsausübungen insbesondere der Netzbetreiber, der Provider, der Software- oder Speicheranbieter, der Inhalteanbieter (einschließlich Plattformbetreiber), sowie der User (als Inhalteabfrager wie Inhalteschaffende bei der Teilnahme an sozialen Netzwerken) geprägt. Die horizontale Breitenwirkung von Grundrechten im Netz ist hier ganz deutlich. Wird das Internet z. B. – wie bereits in Diktaturen geschehen – gänzlich abgeschaltet (Kill Switch), führt dies zu Grundrechtseingriffen aller genannten Netzbeteiligten. Wird eine Internetseite gesperrt, ist nicht nur der jeweilige Internetanbieter, sondern sind auch die (potentiellen) Nutzer betroffen. Der Grundrechtsgebrauch einzelner im Netz setzt eben typischerweise den Grundrechtsgebrauch anderer voraus. Es kommt mithin nicht lediglich zu einer Addition der beteiligten Grundrechtspositionen.88 Während die Grundrechtskollision Grundrechtsgebrauch trotz des Grundrechtsgebrauchs anderer ist, stellt die Grundrechtskonzertierung einen Grundrechtsgebrauch wegen des Grundrechtsgebrauchs anderer dar. Der Grundrechtsgebrauch anderer wirkt mit anderen Worten bei der Grundrechtskollision grundrechtsbegrenzend, bei der Grundrechtskonzertierung hingegen grundrechtsverstärkend. Diese Grundrechtskonzertierungen im Netz rechtfertigen es, vom Internet als Grundrechtsverwirklichungsnetz zu sprechen.89 Wegen der Bereitstellung der Grundrechtsvoraussetzungen muss das Netz selbst in den Status einer grundrechtsrelevanten Einrichtung erhoben werden.90 Der Rechtsfigur der Grundrechtskonzertierung stehen also noch große Aufgaben bevor. Sie erschließt eine neue verfassungsrechtliche Dimension im Zusammenspiel von Grundrechten beim Zusammenwirken von Menschen. Das Grundrecht der anderen wird für die eigenen Grundrechte essentiell. Die Gesellschaft wird so (auch) als Grundrechtsgemeinschaft deutbar und erfahrbar.

betroffener Grundeigentümer berücksichtigen muss. Dies weist Grundzüge der hier behandelten Problematik auf, betrifft im Ergebnis aber die grundsätzliche Frage der Ausstrahlungswirkung staatlicher Maßnahmen auf Nicht-Adressaten. Bergwerkseigentum und Grundeigentum stehen zwar in einem Sachzusammenhang der gegenseitigen Ausstrahlungswirkungen zueinander. Eine echte Interdependenz in der hier behandelten Form besteht aber nicht. 87 Vgl. Greve (Fn. 28), 1. Kap., C. IV. 2.; v. Lewinski, Rechtswissenschaft 2011, 70 (92 f.). Dabei ist freilich zu beachten, dass sein transnationaler Charakter die Bestimmung des jeweils anwendbaren Verfassungsrechts erschwert. 88 Kutzschbach (Fn. 28), S. 150; Kloepfer/ders., AfP 1999, 1 (4). 89 Kloepfer, AfP 2010, 121 (125). 90 Kloepfer, Presse-Grosso unter dem Schutz von Verfassungsrecht und Europarecht, Baden-Baden 2000, S. 58.

Die subjektiv-rechtliche Rekonstruktion der Schutzpflichten aus dem grundrechtlichen Freiheitsbegriff Von Günter Krings I. Einleitung Ein beeindruckendes Zeugnis dafür, wie Klaus Stern auch in seinem achtzigsten Lebensjahr die Entwicklung des Staatsrechts prägt und konzise beschreibt, ist sein jüngster grundrechtsdogmatischer Beitrag zur Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte.1 Schon in früheren Werken hatte der Jubilar die Entstehung und Entfaltung dieser Grundrechtsfigur wesentlich beeinflusst.2 Im Rahmen eines Vortrags an der Japanischen Akademie der Wissenschaften, deren Ehrenmitglied Klaus Stern seit 2006 ist, nimmt er eine kritische Bestandsaufnahme der grundrechtlichen Schutzpflichtenfunktion vor. Der Anlass des Beitrages unterstreicht zudem die internationale Bedeutung der deutschen Verfassungsdogmatik, an welcher Klaus Stern in den letzten Jahrzehnten nicht zuletzt dank zahlreicher Übersetzungen seiner Werke maßgeblichen Anteil hatte. Die grundrechtlichen Schutzpflichten sind für Stern eine „juristische Entdeckung“ im Sinne eines „schöpferischen Erkenntnisaktes“ 3. Wissenschaftliche Entdeckungsleistungen sind weder den Naturwissenschaften noch innerhalb der Jurisprudenz der – seit dem 19. Jahrhundert rechtsdogmatisch lange Zeit stärker ausdifferenzierten – Zivilrechtswissenschaft vorbehalten. Zu einem auch „schöpferischen“ Umgang mit dem Verfassungsrecht, hat in der Bundesrepublik Deutschland vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beigetragen – und dies naturgemäß oftmals nicht zum Gefallen des parlamentarischen Gesetzgebers.4 Die Staatsrechtslehre war dabei zum einen Vorreiter und Schrittmacher der schöpferischen Interpretation und der Verfassungsfortbildung durch 1

K. Stern, DÖV 2010, S. 241 ff. s. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 69, S. 69 ff.; ders., Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 1992, § 109 Rz. 50 ff. 3 Stern (Fn. 1), S. 241. 4 Vgl. aus parlamentarischer Sicht zur aktivistischen Verfassungsrechtsprechung auch als Impuls für Verfassungsänderungsgesetzgebung: G. Krings, Diskussionsbeitrag, 2

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das Bundesverfassungsgericht.5 Zum anderen hat sie manchem Vorstoß der Karlsruher Richter in verfassungsrechtliches Neuland aber auch erst im Nachhinein ein solides verfassungsdogmatisches Fundament gegeben. So war auch die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten nicht ohne Wurzeln in der staatsrechtlichen Literatur.6 Letztlich startete sie aber mit einem juristischen „Paukenschlag“ 7 in der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch im Jahre 1975.8 Die Selbstverständlichkeit, mit der die Figur der grundrechtlichen Schutzpflichten heute zum Kernbestand des Verfassungsrechts und der Grundrechtsdogmatik gehört, steht indes in einem merkwürdigen Gegensatz zum einen zu ihrer oftmals changierenden und wenig präzisen dogmatischen Begründung und zum anderen zu ihrem alles andere als scharf konturierten Anwendungsbereich. Der Stellenwert der Schutzpflichten lässt diese Mängel besonders unbefriedigend erscheinen und rechtfertigt es, einen (weiteren) Versuch zu ihrer präziseren Herleitung und Grenzziehung zu unternehmen. II. Grundrechtsdogmatik versus Staatslehre bei der Begründung der Schutzpflichten Im Sinne der Rationalisierung einer vorauseilenden Verfassungsrechtsprechung wurde bereits im Anschluss an das erste Schutzpflichtenjudikat in der Literatur der Versuch einer Herleitung und Begründung der Schutzpflichten aus dem „Staatszweck Sicherheit“ heraus unternommen.9 Mit einer zumindest anderen Akzentuierung als der Stern’sche Topos einer (schöpferischen) „Entdeckung“

in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Wie wir mit dem Werk des Parlamentarischen Rats umgehen – oder: Wie viele Änderungen verträgt das Grundgesetz?, 2010, S. 23 f. 5 Ausführlich zur Wechselwirkung zwischen der staatsrechtlicher Literatur und der Rechtsprechung des BVerfG F. Günther, Wer beeinflusst hier wen? Die westdeutsche Staatrechtslehre und das Bundesverfassungsgericht während der 1950er und 1960er Jahre, in: van Ooyen/Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, 2006, S. 130. 6 Zur Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten in Wissenschaft und Rechtsprechung Stern (Fn. 2), S. 897 ff.; so griff das BVerfG zunächst auf Rudolf Smend zurück, ist aufgrund der Kritik in der Staatsrechtslehre dann aber zu neutraleren Formulierungen übergegangen, vgl. BVerfGE 50, 290 (337); 57, 295 (329); 66, 116 (135); 74, 297 (323). 7 So J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit. Zu den Schutzpflichten des freiheitlichen Verfassungsstaates, 1983, S. 27. 8 BVerfGE 39, 1 (41 ff.). 9 So zunächst J. Isensee (Fn. 7), S. 3 ff. und 17 ff.; gefolgt von: Bleckmann, DVBl. 1988, S. 938 (941 f.); E. Klein, NJW 1989, S. 1633 (1635 f.), H. Klein, DVBl. 1994, S. 489 (492 f.); M. Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 154 ff.

Rekonstruktion der Schutzpflichten aus dem Freiheitsbegriff

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der Schutzpflichtenfunktion gehen die staatszweckorientierten Ansätze zur Herleitung der Schutzpflichten eher von ihrer „Wiederentdeckung“ aus. 1. Herrschaftsvertragstheorien und Sicherheit

Die Schutzpflichten werden bei ihrer Verankerung am Staatszweck „Sicherheit“ in der Regel zu den verschiedenen Herrschaftsvertragstheorien aus der politischen Philosophie der Neuzeit in Bezug gesetzt.10 Ein modernes Grundrecht auf Sicherheit fußt danach auf einem Gesellschaftsvertrag, in dem der einzelne sich aus einem ungebundenen Naturzustand heraus freiwillig zugunsten der Obrigkeit selbst beschränkt und auf diese Weise deren Herrschaft legitimiert. Im Gegenzug garantiert die Herrschaft ihm (zumindest) seine physische Integrität bzw. (weiter gefasst) auch sein Eigentum gegen innere und äußere Angriffe.11 Anders als der Begriff des Vertrages nahelegt, muss diese freiwillige Herrschaftsunterwerfung im Hobbes’schen Sinne aber nicht das Produkt einer rein rationalen Kosten-/Nutzen-Erwägung sein, sondern sie basiert letztlich auf der Furcht vor der Gewalt der anderen.12 Und ebenfalls im Gegensatz zur modernen Vertragsidee wird auch die Freiwilligkeit dieser Unterwerfung stark relativiert, denn nur wenn jedermann auf seine natürliche Freiheit verzichtet, wenn die Herrschaftsunterwerfung gleichsam institutionalisiert wird, kann der Sicherheitszweck erreicht werden,13 denn erst der mit absoluter Macht ausgestattete Staat kann nach Thomas Hobbes die Rechtssphären der Menschen voneinander wirksam abgrenzen und den Kriegszustand aller gegen alle beenden.14 Die Hobbes’sche Sicherheitsphilosophie ergänzte John Locke im Rahmen des Gesellschaftsvertragsmodells durch eine Philosophie der Freiheit: Die Unterordnung des Individuums unter eine staatliche Autorität verlangt nicht die gänzliche Aufgabe von Freiheit, sondern findet ihre Grenzen in ihrem auf den Einzelnen bezogenen Zweck, nämlich seiner Selbsterhaltung und Sicherheit.15 Das Vertragsmodell taugt für unsere Grundrechtsordnung indes allenfalls zur Veranschaulichung der ideengeschichtlichen Vorläufer moderner Grundrechtswirkungen. Grundrechtsdogmatische Schlussfolgerungen lassen sich daraus weder direkt noch indirekt ziehen.16 Das Vertragskonzept vermag bei einer kritischen 10 Vgl. hierzu und im Folgenden eingehender: G. Krings, Grund und Grenzen grundrechtlicher Schutzansprüche, 2003, S. 28 ff. 11 s. T. Hobbes, Naturrecht und Allgemeines Staatsrecht, Buch I Kap. XIV, dt. Ausgabe Darmstadt 1976, S. 99; vgl. hierzu W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 15. 12 Vgl. H. Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie, 1979, S. 199. 13 W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, 1994, S. 79 f. 14 T. Hobbes, De Cive, Kap. I, Abs. X–XIV, hrsg. v. H. Warrender, 1983, S. 47 ff. 15 J. Locke, Two Treatises of Government (hrsg. v. Pater Laslett, Cambridge 1960, Originalausg. 1690), Kap. II § 6. 16 Vgl. ausführlicher Krings (Fn. 10), S. 31 ff.

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historischen Betrachtung bereits nicht die Entstehung moderner Staatlichkeit abzubilden. Unter Historikern gilt die „Kontrakthypothese“ seit jeher als schlichtweg „absurd“.17 Insbesondere ist die angenommene Gleichzeitigkeit und gegenseitige Bedingtheit von Herrschaftsunterwerfung und der Institutionalisierung von Schutzrechten unhaltbar. Herrschaftsunterwerfung basierte jedenfalls in Mittelalter und Frühneuzeit auf militärischer Macht und Fürstenautorität ohne Ausprägung entsprechender Schutzrechte.18 Kennzeichnend für die Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet war anfangs auch keineswegs die Inkraftsetzung und Durchsetzung einer bestimmten Rechtsordnung oder die Garantie eines staatlichen Schutzes, sondern die Fähigkeit des Fürsten, aus einem bestimmten Gebiet Einkünfte zu erzielen.19 In der Analyse des mittelalterlichen Lehnsrechts glaubte die Forschung zwar gewisse Vertragselemente ausmachen zu können. Es handelt sich hier allerdings stets um Rechtsbeziehungen zwischen zwei Individuen, nicht um kollektive Verträge. Und auch im Verhältnis von Grundherr zu seinen Grundholden ging man von der Reziprozität der geschuldeten Leistungen von Schutz und Schirm auf der einen und Hilfe auf der anderen Seite aus.20 Neue Forschungen lassen aber selbst insoweit die Relevanz von vertragsähnlichen Gegenseitigkeitsversprechen von Schutz und Gehorsam zweifelhaft erscheinen. Schaut man sich die bäuerlichen Beschwerden und Forderungen dieser Zeit an, suchten die Grundholden nicht den Schutz bei ihren Grundherren, sondern vor ihnen.21 Sicherheit und Schutz standen historisch keineswegs in einem (quasi-)vertraglichen Austauschverhältnis zur Herrschaftsunterwerfung; sie wurden aber zu Leistungsmerkmalen des modernen Staates. Sicherheit blieb lange Zeit ein nicht-öffentliches Gut, das im Wettbewerb angeboten und nachgefragt wurde.22 Und bis in die Epoche der Entstehung moderner Staatlichkeit hinein war seine Bereitstellung nicht vertraglich geschuldet, allerdings wichtig, um die Kontrolle über ein Territorium und damit die Möglichkeit der diesbezüglichen Einkommenserzielung zu erhalten.23 Erst der konsolidierte moderne Staat monopolisiert das Si17 So betont etwa J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905, S. 44: „Noch kein Staat ist durch einen wahren, d.h. von allen Seiten freiwilligen Kontrakt . . . entstanden.“; vgl. auch die Auseinandersetzung mit der Kontrakthypothese bei V. Gerhardt, Das politische Defizit des Kontraktualismus, Merkur 2008, S. 1034 (1039). 18 O. Brunner, Land und Herrschaft, 5. Aufl., 1965, S. 113; E.-W. Böckenförde, in: ders. (Hrsg.), Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 f.; E. Schubert, Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter, 1996, S. 81. 19 Schubert (Fn. 18), S. 23. 20 Brunner (Fn. 18), S. 344; s. a. die Nachweise bei M. Stercken, Königtum und Territorialgewalten, 1989, S. 30, Fn. 11. 21 G. Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter, 1996, S. 64. 22 O. Volckart, Der Staat, Bd. 45 (2000), S. 227 (240); H. Spruyt, The Sovereign State and its Competitors, 1994, passim. 23 Vgl. Spruyt (Fn. 22), S. 37; Volckart (Fn. 22), S. 227, 237.

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cherheitsangebot und überwindet zugleich die personalen Beziehungen des Lehenswesens; der Personenverbandsstaat wird zum modernen Flächenstaat. Für unmittelbare, personalisierte Schutzrechte war in diesem „System sachlicher Ordnung“ 24 kein Raum mehr. Das Vertragskonzept ist daher allenfalls als eine „quasi-mythische Lehrfabel“ 25 der Staatsphilosophie zu verstehen. In der Demokratie ist sie aber auch als philosophische Legitimationsgrundlage der Staatsgewalt obsolet. An die Stelle eines einmaligen, mythischen Legitimationsaktes tritt in der Demokratie die kontinuierliche Legitimation, die v. a. durch die regelmäßig wiederkehrenden Wahlakte vermittelt wird.26 2. Die Differenz zwischen staatlichen Zwecken und Rechtspflichten

Unstreitig bildet die Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit einen zentralen Zweck moderner Staatlichkeit.27 Jenseits von Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit im Sinne vor allem der staatlichen Durchsetzung von Rechten gegenüber privaten Störern kann der Staat sich weiteren Zwecken – etwa sozialer, kultureller oder ökologischer Art – verschreiben.28 Diese Zielbestimmungen müssen auch keineswegs in Gänze oder gar im Detail konstitutionell vorgegeben sein. Hatten die Staatszwecke unter dem Leitgedanken des Naturrechts ursprünglich gerade auch eine staatsbegrenzende Funktion, so haben sie diese Bedeutung heute eingebüßt.29 Der souveräne Staat der Moderne lässt sich weder in seiner rechtlichen Existenz noch in der Verfolgung bestimmter Zwecke beschränken.30 Für Staatsziele und Staatsaufgaben existiert auch in der Bundesrepublik kein Verfassungsvorbehalt.31 Dementsprechend kann auch der Gesetzgeber freihändig staatliche Handlungszwecke definieren und ausgestalten.

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H. Mitteis, Der Staats des hohen Mittelalters, 5. Aufl., 1955, S. 424. M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, 1988, S. 323. 26 Vgl. in diesem Kontext zum Gedanken des „verstetigten“ statt eines „genetischen Inklusionsarguments“: U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 28 ff. 27 J. Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl., 2005, § 15 Rz. 83 ff. So betrachtet auch das Völkerrecht nach der Drei-Elemente-Lehre Georg Jellineks die Staatsgewalt als eine wesentliche Voraussetzung moderner Staatlichkeit, G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1914, S. 394 ff. 28 s. die ausführliche Darstellung bei K.-P. Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 223 ff. 29 C. Link, VVDStRL Bd. 48 (1990), S. 7 (11f.); H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 761; Krings (Fn. 10), S. 41 f. 30 Krüger (Fn. 29), S. 196; H. Nawiasky, Allgemeine Staatslehre III, 1956, S. 51. 31 J. Isensee, Staatsaufgaben, in: ders./Kirchhof, HStR IV, 3. Aufl., 2006, § 73 Rz. 44 f. 25

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Geht es um die Verwirklichung gesetzlicher wie verfassungsrechtlicher Staatsziele, so ist in erster Linie das einfache Gesetzesrecht von Bedeutung.32 Der Gesetzgeber kann dabei einen Abwägungs- und Ermessensspielraum – auch bei der Verfolgung der konstitutionellen Staatszwecke – für sich beanspruchen. In der unterschiedlichen Akzentsetzung zwischen diesen Zwecken manifestiert sich gerade der politische Meinungskampf und Richtungsstreit in der Demokratie. Es erschiene daher gefährlich, die Grundrechte mittels der Staatszwecke des Grundgesetzes anzureichern und darüber zu ihrer funktionellen Erweiterung zu gelangen. Dieser Weg ließe sich auch schwerlich auf den Staatszweck Sicherheit beschränken; der Mechanismus würde zumindest für alle verfassungsrechtlich verankerten Staatszwecke greifen und sie subjektiv-rechtlich transformieren. Der Staatszweck Sicherheit kann daher zwar einen Beitrag zur Erklärung der Schutzpflichtenfunktion und ihrer Entstehung leisten, er vermag sie aber nicht zu begründen. Die verfassungsrechtliche Geltung der grundrechtlichen Schutzpflichten muss auch aus den Grundrechten heraus begründet werden. Der Verfassungsstaat hat insoweit auf Anleihen an die Allgemeine Staatslehre zu verzichten.33 III. Die subjektiv-rechtliche Begründung der Schutzpflichten Zur Herleitung der Schutzpflichtenfunktion bleiben wir daher auf die Grundrechte und ihre Dogmatik verwiesen. Aber auch hier ist der verbreitete Argumentationstopos von der objektiven Grundrechtswirkung, der insbesondere vom Bundesverfassungsgericht verwendet wird34 (s. u. sub 1.), dogmatisch ebenso wenig überzeugend wie der in der Literatur vereinzelt unternommene Versuch einer Ausdehnung der Abwehrfunktion der Grundrechte auf Schutzverpflichtungen35 (s. u. sub 2.). Die Lösung muss demnach in der „Mitte“ dieser Ansätze gesucht werden (s. u. sub 3.): Zwar taugt die Abwehrfunktion für die Aufnahme der Schutzpflichten nicht, weil sie vom Staat Zurückhaltung, aber regelmäßig und typischerweise kein aktives Tun verlangt; indes gibt es keinen Grund, den Schutzaspekt der Grundrechte deswegen aus ihrem subjektiv-rechtlichen Gehalt zu verbannen. 1. Der schwankende Grund objektiver Grundrechtsgehalte

Die Grundrechte des Grundgesetzes sind zuvörderst subjektive und einklagbare Rechte ihrer jeweiligen Grundrechtsträger. Dass sie daneben dem Grunde 32

Vgl. ausführlich Krings (Fn. 10), S. 47 f. P. Häberle, AöR Bd. 111 (1986), S. 595 (600); vgl. auch C. Enders, in: Friauf/ Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar GG (Stand: 2011), vor Art. 1 Rz. 65. 34 BVerfGE 49, 89 (142); 53, 30 (57); 56, 54 (73). 35 So insbes. D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, Berlin 1985, S. 89 ff.; ders., WiVerw 1986, 179 (182); J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 236. 33

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nach eine objektive Dimension haben, ist schon deswegen unbestreitbar, weil jedem subjektiven Recht notwendigerweise eine objektive Pflicht zur Erfüllung des subjektiv Versprochenen korrespondiert; das gilt auch im Verhältnis des Einzelnen zum Staat, welches von den Grundrechten regiert wird. So verstanden ist die objektiv-rechtliche Seite aber nicht mehr als der Spiegel ihrer subjektiv-rechtlichen Seite: Erstere ist der Rechtsatz, welcher nach dem Abzug der Anspruchsseite eines Grundrechts verbleibt.36 Fruchtbar machen könnte man die objektiv-rechtliche Seite der Grundrechte für die Schutzpflichten nur, wenn man – dem Ansatz des Bundesverfassungsgerichts folgend – ihnen eine über die Spiegelung der subjektiven Seite hinausgehende Bedeutung beimisst und den einzelnen Grundrechten objektiv-rechtlichen Wertentscheidungen entnimmt, die sich schließlich zu einem Ordnungssystem, einer objektiven Wertordnung, zusammenfügen lassen.37 Die Idee einer „objektiven Wertordnung“, die dem Grundrechtsabschnitt der Verfassung zu entnehmen sei, weil das Grundgesetz eben keine „wertneutrale Ordnung“ statuieren wolle, geht auf das „Lüth“-Urteil zurück38 und ist somit deutlich älter als die Schutzpflichten-Judikatur. Doch auch gegenüber einer nunmehr seit Jahrzehnten eingeführten und stetig wiederholten Argumentationsfigur, die man gar schon als „Grundbestand des Grundrechtswissens“ 39 keiner Diskussion mehr für bedürftig erachtet, bleibt Skepsis angezeigt.40 Dass die Mütter und Väter des Grundgesetzes vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund keine wertneutrale Ordnung aufrichten wollten, ist eine zutreffende, aber wenig weiterführende Feststellung. Aus dem Untergang der Weimarer Republik und ihrer Ablösung durch die NS-Diktatur zogen sie die Lehre, dass auch eine freiheitliche Staatsordnung keine Liberalität gegenüber illiberalen Kräften obwalten lassen darf;41 sie begründeten daher eine wehrhafte Demokratie. Auch die Aufnahme von Grundrechten in das Grundgesetz, ihre prominente Stellung am Kopf des Verfassungsdokuments und ihre unmittelbare rechtliche Geltung waren ganz wesentlich durch die Erfahrung des Untergangs 36 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 478; J. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl., 1995, S. 56. 37 Erste Ansätze zu dieser Begründung finden sich bereits in BVerfGE 39, 1 (41 f.), obwohl als Quelle der Schutzpflicht hier noch unmittelbar das Freiheitsrecht aus Art. 2 II 1 GG herangezogen wurde. Der regelmäßige Rekurs auf „objektiv-rechtliche Wertentscheidungen“ bzw. „objektiv-rechtliche Gehalte“ dann seit BVerfGE 49, 89 (141 f.). 38 BVerfGE 7, 198 (204 f.). 39 Vgl. hierzu Stern (Fn. 1), S. 241 (243) m.w. N. und bereits E. Böckenförde, Der Staat Bd. 35 (1990), S. 1. 40 Kritisch zur Wertordnungsjudikatur des BVerfG bereits E. Forsthoff, in: FS C. Schmitt, 1959, S. 35 ff.; E.-W. Böckenförde, NJW 1974, S. 1529; ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders. (Hrsg.), Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 67 ff.; O. Depenheuer, ThürVBl. 1996, S. 270 (271). 41 R. Weber-Fas, Deutschlands Verfassung, 2. Aufl., 2001, S. 178 f.

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der ersten deutschen Republik beeinflusst.42 Die historischen Erfahrungen bestimmten den Grundsatzausschuss und schließlich den Parlamentarischen Rat insgesamt auch dazu, – zumindest außerhalb der besonderen Bereiche von Ehe, Familie, Schulwesen und Staatskirchenrecht – keine „Programmsätze“ zu schaffen, mit denen eine durchgreifende Gestaltung der Lebensordnung angestrebt werde.43 Der in bewusster Abkehr von totalitären Ansätzen geschaffene freiheitliche Staat des Grundgesetzes fußt auf subjektiv-rechtlichen, für die staatliche Gewalt (!) unmittelbar verbindlichen Grundrechten (Art. 1 III GG); dieses Konzept legt die Annahme einer objektiven Wertordnung aus den Grundrechten jedenfalls nicht nahe. Die Lehre von einer objektiven Wertordnung bleibt daher eine Grundrechtstheorie, die – wie alle Grundrechtstheorien – über eine Interpretation der Verfassung hinausgeht. Grundrechtstheorien leiden an einer erhöhten Anfälligkeit für politische Vorprägungen, wodurch letztlich auch der minderheitenschützende Wesenszug der Grundrechte gefährdet werden kann.44 Der freiheitliche Rechtsstaat droht im schlimmsten Fall in eine „Tyrannei der Werte“ 45 abzurutschen. Der entscheidende Kritikpunkt ist indes die Verwischung von Normen und Werten durch die Wertordnungslehre der Grundrechte. Es ist bezeichnend, dass der Hinweis auf diese an sich selbstverständliche Differenz am klarsten von außerhalb der Rechtswissenschaft vorgetragen wurde.46 Zurecht weist Habermas darauf hin, dass Werte die „Vorzugswürdigkeit von Gütern“ ausdrücken, während Normen „mit einem binären Geltungsanspruch“ auftreten und „entweder gültig oder ungültig“ sind,47 und er folgert daraus: „Wer die Verfassung in einer konkreten Wertordnung aufgehen lassen möchte, verkennt deren spezifisch rechtlichen Charakter“.48 Aber selbst wenn es gelänge, aus Grundrechtsnormen Werte zu abstrahieren, so helfe uns dies für die Schutzpflichtenfunktion noch nicht weiter. Denn auch dieser Funktion soll eine rechtsverbindliche, also normative Wirkung zukommen. Es müssten also aus Normen Werte gewonnen werden, um dies sodann wieder zu Normen zu verdichten. Und mehr noch: Da richtigerweise auch den Schutzpflichten als eine Funktion der Individualgrundrechte mittlerweile

42 Vgl. M. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat, 2008, S. 72 f.; R. Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Isensee/Kirchhof, HStR I, 3. Aufl., 2003, § 8 Rz. 55 f. 43 Vgl. Mußgnug (Fn. 42), § 8 Rz. 56 f. 44 Vgl. F. Ossenbühl, NJW 1976, S. 2100 (2106); Krings (Fn. 10), S. 168. 45 C. Schmitt, Tyrannei der Werte, in: Säkularisation und Utopie, 1967, S. 37 ff. Grundsätzlich kritisch zur Überhöhung der Wertediskussion und zu einem „Aufladen“ der Verfassungsordnung mit Werten auch E. Straub, Zur Tyrannei der Werte, 2010, S. 15 ff. und passim. 46 J. Habermas, Faktizität und Geltung, 2. Aufl., 1992, S. 309 ff. 47 Habermas (Fn. 46), S. 311. 48 Habermas (Fn. 46), S. 312.

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eine subjektiv-rechtliche Dimension nicht mehr abgesprochen wird,49 müsste dieses über diesen Umweg gewonnene objektive Recht dann auch wieder „re-subjektiviert“ werden.50 Wenn in diesem Zusammenhang in der Literatur von einem „,Umkippen‘ eines objektiven in ein subjektives Recht“ 51 gesprochen wird, so beleuchtet diese aus der Verlegenheit geborene Wortwahl die ganze dogmatische Hilflosigkeit solcher Konzeptionen. Die grundlegende Kritik an der Werteordnungstheorie als Begründungsbasis für die Schutzpflichten lässt sich schließlich nicht allein dadurch ausräumen, dass das Bundesverfassungsgericht in jüngeren Judikaten seine Semantik zurückgenommen hat und auf den Gebrauch des Begriffs „Werte“ verzichtet und stattdessen von den Grundrechten als Elementen einer objektiven Ordnung spricht.52 Auch ohne die explizite Verwendung des Wortes „Werte“, bleibt die Frage, wie sich die angenommene „objektive Ordnung“ konstituiert. Sind die Grundrechte nämlich Elemente einer übergreifenden Ordnung, so setzt dies wiederum die Konstruktion von – hinter ihnen stehenden – Wertungsentscheidungen voraus. In einer Reihe von Schutzpflichten-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts scheint das Unbehagen mit solchen expliziten oder impliziten Wertordnungsbegründungen auf, wenn das Gericht zumindest ergänzend auf die Menschenwürdegarantie und die ihr beigegebene Schutzverpflichtung aus Art. 1 I 2 GG abstellt.53 Diese ausdrückliche Anordnung einer grundrechtlichen Schutzpflicht ist allerdings nur bezogen auf die Menschenwürdegarantie. Zwar kann in der Verletzung eines speziellen Freiheitsrechtes zugleich auch ein Menschenwürdeverstoß liegen. Will man dieses Grundrecht aber nicht relativieren und die Menschenwürde nicht mit zu kleiner Münze ausgeben, so muss es auf schwere und tabuverletzende Beeinträchtigung der – auch anderweitig geschützten – Grundrechtsgüter beschränkt bleiben.54 Als Begründung für die Schutzpflichtenfunktion taugt Art. 1 I 2 GG deshalb auch nur insoweit, wie solche schwerwiegenden Beeinträchtigungen von Schutzgütern drohen. Wollte man diese Norm generell als Grundlage der Schutzpflichten heranziehen, so bedeutete dies entweder eine radikale Relativierung der Menschenwürdegarantie im Sinne eines Auffanggrundrechts nach dem Muster der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 I GG oder seine wertende Heranziehung im Sinne des allgemeinen Rechtsgedankens einer allgemeinen Schutzverpflichtung. Die zweite Variante unterschiede sich indessen nicht von der oben abgelehnten Wertordnungsbegründung, da nicht 49

s. bereits Stern (Fn. 2), S. 984 ff. Zur Problematik dieser Resubjektivierung vgl. auch Enders (Fn. 33), vor Art. 1 Rz. 83. 51 Vgl. T. Gostomzyk, JuS 2004, S. 949 (952). 52 Vgl. zu dieser Entwicklung eingehend R. Wahl, in: Merten/Papier, HGR I, 2004, § 19 Rz. 10. 53 s. BVerfGE 46, 160 (164); 49, 89 (142); 88, 203 (251); 90, 145 (195). 54 W. Höfling, in: Sachs, GG, 5. Aufl., 2009, Art 1 Rz. 65 f. 50

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eine Norm, sondern eine dahinter stehende Wertung das Fundament der Schutzpflichten bildete. 2. Die Untauglichkeit einer abwehrrechtlichen Herleitung

So sehr sich die objektiv-rechtliche bzw. (wert-)ordnungsbezogene Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten verbreitet hat und heute geradezu „kanonisiert“ erscheint, so wenig Gefolgschaft haben in Literatur und Rechtsprechung Ansätze gefunden, welche die Schutzpflichten als Unterfall der grundrechtlichen Abwehrfunktion zu begründen suchten.55 Voraussetzung dieser Begründung ist, dass dem Staat störendes privates Handeln als eigenes zugerechnet wird und sein Untätigbleiben gegenüber diesem Handeln als eigener Eingriff in die Grundrechte des gestörten Opfers zu werten ist. Zum Angelpunkt dieser Begründung gerät das staatliche Gewaltmonopol, das dem Opfer ein eigenes Schutzhandeln verwehrt und somit den Staat in die Handlungsverantwortung bringt. Die Vorteile einer abwehrrechtlichen Deduktion der Schutzpflichten liegen dabei auf der Hand: Sie würden von der im Verfassungstext verankerten und über jeden Zweifel erhabenen Grundfunktion der Grundrechte getragen und der Verfassungsinterpret wäre schlagartig der Schwierigkeit enthoben, aus objektivrechtlichen „Elementen“ doch wieder subjektiv-rechtliche Folgerungen abzuleiten. Dennoch erfolgte die breite Ablehnung56 dieser These von der Einheit zwischen Abwehr- und Schutzpflichtenfunktion zurecht. Der Staat ist weder Überwachergarant für den privaten Störer noch Beschützergarant oder – wollte man auf die polizeirechtliche Nomenklatur zurückgreifen – „Zweckveranlasser“ für die Opfer von Störer-Übergriffen.57 Denn die Freiheit der Grundrechtsträger ist ebenso wenig das Ergebnis einer staatlichen Freiheitszuteilung wie den Staat eine allgemeine, den Grundrechten und der Verfassung schon vorausgehende, umfassende Schutzverantwortung für seine Bürger trifft. Doch nur mit einem derart paternalistischen Staatsverständnis ließe sich alles private Tun dem „Garanten“ Staat zurechnen bzw. ihm einen universellen Schutzauftrag auferlegen. Nur dann, wenn der Staat quasi-hoheitliche Handlungsbefugnisse einem Privaten zuweist oder eine staatliche Förderung privaten Handelns so dominierend ist, dass sich der Private in der Rolle eines staatlichen Erfüllungsgehilfen wiederfindet, kann privates Handeln einem Hoheitsträger zugeordnet werden. Die bloße 55 Der Ansatz findet sich zunächst bei Schwabe (Fn. 35), S. 236. Sodann eingehender Murswiek (Fn. 35), S. 89 ff.; ders., WiVerw 1986, S. 179 (182). 56 E. Schmidt-Aßmann, AöR Bd. 106 (1981), S. 205 (215); A. Bleckmann, DVBl. 1988, S. 938 (940); D. Ehlers, in: Leßmann/Großfeld (Hrsg.), FS Lukes, 1989, S. 337 (339 f.); E. Klein, NJW 1989, S. 1633 (1639); Dietlein (Fn. 36), S. 38 f.; C. Brüning/M. Helios, Jura 2001, S. 155 (161). 57 s. ausführlich: Krings (Fn. 10), S. 107 ff.

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staatliche Genehmigung privaten Handelns reicht dazu nicht aus, denn eine Genehmigung führt im freiheitlichen Staat nicht dazu, dass der Bürger kraft eines Privilegs tätig wird, sondern er handelt nach wie vor „in Verwirklichung der ihm kraft seines Personseins zukommenden Handlungsfreiheit und in eigener Willensbetätigung“ 58. Für die Grundrechtsdogmatik und die unterschiedlichen Grundrechtsfunktionen bleibt daher die Differenz zwischen Tun und Unterlassen des Staates relevant. Die Abwehrfunktion hält ihn zu einem Unterlassen an, die Schutzpflichtenfunktion regelmäßig zu einem positiven Tun. 3. Der Freiheitsbegriff der Grundrechte als Schlüssel zu ihrer Schutzfunktion

Art. 1 III GG bindet die drei staatlichen Gewalten an die „nachfolgenden Grundrechte“. Mit dieser Formulierung wird der Adressatenkreis der Grundrechtsverpflichtungen benannt, nicht jedoch die Wirkrichtung der Grundrechte. Aus dieser Norm lässt sich lediglich ablesen, dass Private keine Adressaten einer Grundrechtsbindung sind.59 Sie hält damit aber keine Absage an eine Grundrechtsfunktion, die tatbestandlich an das Handeln privater Grundrechtsstörer anknüpft. Welche Funktionen die Freiheitsrechte60 des Grundgesetzes aufweisen, kann sich daher nur unmittelbar aus den einzelnen normativen Verbürgungen der Art. 2 ff. GG ergeben. In den einzelnen Grundrechtsartikeln findet sich explizit weder ein Hinweis auf eine Schutz- noch auf eine Abwehrrichtung der Grundrechte.61 Die Grundrechte konstituieren ein „Recht“ (Art. 2 I, 2 II 1, 8 I, 9 I u. III, 12 I, 17 GG), garantieren die Unverletzlichkeit bestimmter „Freiheiten“ (Art. 2 II 2, 4 I, 10 I, 13 I GG) bzw. „gewährleisten“ bestimmte Freiheiten und Tätigkeiten (Art. 5 I 2, 4 II, 14 I GG), bezeichnen Lebensbereiche schlicht als „frei“ (Art. 5 III GG), oder lassen den Bürger seine Freiheiten und Rechte „genießen“ (Art. 11, 16a GG). Lediglich Art. 16 I und 4 III GG formulieren – im Hinblick auf den Entzug der Staatsbürgerschaft und den Zwang zum Kriegsdienst – ein Verbot. Lässt man einmal die beiden letztgenannten Normen beiseite, die jedenfalls typischerweise staatliches Verhalten zum Gegenstand haben, so legt keine der vorgenannten Formulierungen bei unbefangener Betrachtung eine Beschränkung der Wirkung des jeweiligen Grundrechts auf die Abwehr staatlichen Handelns nahe. Umschrieben 58 P. Preu, Subjektivrechtliche Grundlagen des öffentlichrechtlichen Drittschutzes, 1992, S. 70. 59 Höfling (Fn. 54), Art. 1 Rz. 111. 60 Zur Frage, ob auch die Gleichheitsrechte des Art. 3 I GG eine Schutzpflichtendimension haben, vgl. C. Burkiczak, RdA 2007, S. 17 ff. 61 Vgl. Dietlein (Fn. 36), S. 53 f.; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 186; A. Bleckmann, DVBl. 1988, S. 938 (941); A. Enderlein, Der Begriff der Freiheit als Tatbestandsmerkmal der Grundrechte, 1995, S. 167; L. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2001, S. 33; eingehend: Krings (Fn. 10), S. 151 ff.

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werden lediglich sachliche Schutzbereiche, denen der Status eines Rechts verliehen bzw. deren Unverletzlichkeit garantiert wird. Dass (gem. Art. 1 III GG) der Staat das Recht sichern und die Unverletzlichkeit gewährleisten soll, besagt noch nicht, gegen wen er dies tun soll. Inhalt der Grundrechte ist ganz allgemein die Zuweisung von Rechten zur eigenen Freiheitsausübung.62 Und diese Freiheitsausübung wird bei nahezu allen Freiheitsgrundrechten nicht nur durch staatliches Handeln, sondern auch durch die Übergriffe Privater beeinträchtigt. Die Freiheitsrechte sind weder gegenüber staatlicher noch gegenüber privater Macht- und Gewaltausübung unempfindlich. Weil sie als absolute Rechte gefasst sind, sind sie „subjektiv beziehungslos“ und es steht ihrer inhaltlichen Anwendung auf das horizontale Verhältnis zwischen den Bürgern rechtslogisch nichts entgegen.63 Im Kontext der Abwehrdimension ist die räumliche Erklärung und Konstruktion des sachlichen Schutzbereichs der Grundrechte weithin aberkannt64; er wird als „Schutzzone“ 65, „Freiheitsraum“ 66, „Sphäre“ 67 oder „räumlicher Schutzkreis“ 68 apostrophiert. Dieses räumlichen Schutzbereichsverständnis impliziert einen mehrdimensionalen Freiheitsbegriff: Die Freiheit des Individuums wir darin nicht nur aus einer Richtung gefährdet und nicht nur gegen eine Seite verteidigt. Der Freiheitsraum muss daher nicht nur vor staatlichen Eingriffen abgeschirmt werden, sondern auch vor Übergriffen privater Grundrechtsträger. Gegen diese mehrdimensionale Deutung des Freiheitsbegriffs der Grundrechte sprechen auch nicht die Schrankenregelungen einzelner Grundrechte, die sich ausdrücklich auf Grundrechtseingriffe beziehen (s. nur Art. 2 II 3, 13 III GG ähnlich auch: Art. 8 II, 11 I, 12 I, 14 III GG). Dass bei der Abfassung der Grundrechte des Grundgesetzes deren Abwehrseite ganz im Fokus stand, ist unstreitig, eben weil die staatlichen Gefahren für die Freiheit für besonders gravierend angesehen wurden. Es ist auch heute noch folgerichtig, staatlichen Eingriffen mit besonderer Sensibilität zu begegnen und die Anforderungen an sie grundgesetz62 A. Scherzberg, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität“, 1989, S. 214. Scherzberg folgert daraus allerdings eine Ausweitung der Abwehrfunktion auf die Schutzpflichten. 63 So bereits explizit H. Huber, Die Bedeutung der Grundrechte für die sozialen Beziehungen unter den Rechtsgenossen (1955), abgedr. in: ders., Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, 1971, 139–165, 159 für das insoweit vergleichbare schweizerische Verfassungsrecht. 64 Kritisch allerdings: A. Scherzberg, DVBl. 1989, 1128 (1135); J. Ipsen, JZ 1997, 473 (475). 65 K. Stern, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 1992, § 109 Rz. 89. 66 K.-A. Schwarz, JZ 2000, S. 126 (128); ähnlich: W. Rüfner, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 1992 , § 117 Rz. 65. 67 Etwa P. Lerche, Grundrechtlicher Schutzbereich, Grundrechtsprägung und Grundrechtseingriff, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 1992, § 121 Rz. 13 f. 68 T. Gostomzyk, JuS 2004, S. 949.

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lich möglichst exakt zu umschreiben. Bei der Schutzpflichtenfunktion könnte sich eine Verfassung hingegen nicht auf die Formulierung von Handlungsvoraussetzungen beschränken, denn bei ihr ist grundsätzlich nicht das Nicht-Handeln, sondern das Handeln geschuldet. Wegen ihrer offeneren und ermessensgeprägten Rechtsfolge, entzieht sie sich einem vordefinierten Schrankenregime der Grundrechte, so dass aus dem Wortlaut solcher Schranken auch kein Argument gegen die Verortung der Schutzpflichtendimension im Freiheitstatbestand der Grundrechte gewonnen werden kann. Im Übrigen erlangen die Schranken der Freiheitsrechte auch dann Bedeutung, wenn der Staat in Wahrnehmung einer Schutzpflicht Grundrechte einschränkt.69 Auch in teleologischer Auslegungsperspektive gebietet der „umfassende Schutz menschlicher Handlungsfreiheit“ als eine „wertvolle Funktion der Freiheitssicherung“ 70 neben einer weiten Auslegung des sachlichen Schutzbereichs grundsätzlich aller Freiheitsrechte auch den mehrdimensionalen Schutz dieses Bereiches gegen staatliche und nicht-staatliche Ingerenzen. Diese Auslegung stellt die Schutzpflichten damit neben die „klassische“ Grundrechtsfunktion der Eingriffsabwehr. Sie bleibt aber bei einem negativen oder negatorischen Freiheitsbegriff, der die definierten Freiheitsräume des Bürgers vor Ein- und Übergriffen von außen schützt, und entgeht so dem Vorwurf, der gegen verschiedene Ausprägungen objektiv-rechtlicher Grundrechtswirkungen erhoben wird, sie würden mit Hilfe positiver Leitbilder von Freiheit weite Lebensbereiche verfassungsrechtlich determinieren.71 Die subjektiv-rechtliche Wirkung der Schutzpflichten, die inzwischen zwar allgemein anerkannt, aber meist nicht befriedigend begründet wird (s. o. sub III.1.), ergibt sich mit dem Wegfall des Begründungsumweges über objektiv-rechtliche Grundrechtswirkungen nach der hier vertretenen Begründung der Schutzpflichten von selbst. Konsequenterweise sollte dann aber nach Möglichkeit nicht von grundrechtlichen Schutzpflichten, sondern von Schutzrechten oder Schutzansprüchen gesprochen werden. IV. Die tatbestandlichen Grenzen der Schutzansprüche Im Rahmen dieses Beitrages können die tatbestandlichen Grenzen der grundrechtlichen Schutzansprüche nicht in Gänze ausgelotet werden. Aus der subjektiv-rechtlichen Begründung der Schutzfunktion ergeben sich indes eine Reihe von Maßgaben für ihre Begrenzung. Es sollen daher einige Aspekte der Tatbe-

69 s. insbesondere zur Geltung des Vorbehaltes des Gesetzes C. Burkiczak, in: Emmenegger/Wiedmann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des BVerfG, Bd. 2, 2011, i. E. 70 BVerfGE 80, 137 (150) zur allgemeinen Handlungsfreiheit. 71 Zu dem Konzept „negativer Freiheit“ vgl. I. Berlin, Two Concepts of Liberty, in: ders. (Hrsg.), Four Essays on Liberty, 1969, S. 118 (123 f.).

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standsgrenzen aufgezeigt werden, welche in unmittelbarer Beziehung zu der Begründung der Schutzansprüche stehen.72 1. Die notwendige Personenverschiedenheit von Störer und Opfer

Die Schutzfunktion der Freiheitsgrundrechte geht von einem Dreieck aus, das durch Störer, Opfer und Staat gebildet wird.73 Diese Konstellation entspringt als logische Folge der Natur der Grundrechte als subjektive Rechte. Verzichtet man auf eine objektivrechtliche bzw. wertbezogene Herleitung der „Schutzpflichten“, so wird die Notwendigkeit der Personenverschiedenheit von Störer einerseits und zu schützendem Opfer andererseits deutlich: Wenn der Staat den Störer vor sich selbst schützt, so dient er regelmäßig nicht seinem Freiheitsinteresse und erfüllt nicht ein ihm zustehendes subjektives Recht. Denn auch wenn der Störer sich selbst schädigt oder gefährdet, handelt er damit in Ausübung seiner grundrechtlichen Freiheit.74 Für ihn steht damit die Eingriffswirkung des staatlichen Handelns ganz im Vordergrund. Stellt man hingegen auf einen objektiven Wertgehalt der Grundrechte ab, so wächst die Gefahr einer Umkehrung von Rechten und Pflichten im Grundrechtsverhältnis.75 In einer Reihe von Fällen des Schutzes des Menschen vor sich selbst – etwa bei der Helmpflicht für Motorradfahrer oder dem Verbot des Cannabis-Konsums76 – ist die Rechtsprechung bemüht, Interessen Dritter zu definieren, die über den Selbstschutzes hinaus den staatlichen Eingriff rechtfertigen. Im Übrigen differenziert das Bundesverfassungsgericht zwischen grundsätzlich unzulässigen erzieherischen Maßnahmen und i. d. R. zulässigen Maßnahmen zum Schutz der körperlichen Integrität der Betroffenen.77 Aber selbst in der letztgenannten Fallgruppe akzeptiert es das Recht, auch objektiv unvernünftig gegen sich selbst zu handeln, solange dieses Handeln noch als Äußerung der freien Selbstbestimmung gewertet werden kann. Mit dieser Einschränkung scheint die Differenzierung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Charakter der Schutzfunktion als subjektives Schutzrecht vereinbar zu sein. Einer eingehenden Klärung bedürfte hier noch die Frage, ob der Staat in diesen Fällen einer fehlenden freien Selbstbestimmung nicht eher in Verfolgung einer sozialstaatlichen als einer grundrechtlichen Pflicht handelt. Jedenfalls fällt mit der subjektiv-rechtlichen Begründung der grund72 Vgl. zu den tatbestandlichen Grenzen der Schutzansprüche Krings (Fn. 10), S. 171 ff. 73 Stern (Fn. 1), S. 241 (246); A. Faber, DVBl. 1998, S. 745 (747). 74 BVerfG (Kammerbeschluss), DVBl. 1999, S. 1647 (1648). 75 G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, Heidelberg 1987, S. 229; Krings (Fn. 10), S. 209. 76 BVerfGE 59, 275 (278 f.); 90, 145 (172 ff.). 77 BVerfGE 22, 180 (219); 58, 208 (224 ff.); s. a. C. Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992, S. 65.

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rechtlichen Schutzfunktion die Abwägung tendenziell zugunsten einer staatlichen Zurückhaltung beim Handeln zum Schutz des Menschen vor sich selbst aus. Der Staat muss danach beispielsweise selbst Fälle des Suizids hinnehmen und kann nicht per se ausschließen, dass auch hierin eine autonome und freiverantwortliche Entscheidung zum Ausdruck kommen kann.78 2. Schutz vor dem Vertragspartner?

Im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hat die Schutzpflichtendogmatik mit dem Handelsvertreter-79 und dem Bürgschaftsbeschluss80 Einzug in das Privatrecht und dort sogleich in das Vertragsrecht gehalten. Die bis dahin scheinbar „ausdiskutierte“ und dogmatisch gefestigte Frage nach der Beziehung zwischen Grundrechten und Privatrecht wurde hierdurch wieder neu entfacht. Die These von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte war in Rechtsprechung und Literatur schon früh verworfen worden. Die sich durchsetzende Lehre von der mittelbaren Drittwirkung81 litt aber – vergleichbar der Schutzpflichtenlehre – an ihrer zumeist nur oberflächlichen und dogmatisch wenig überzeugenden Herleitung aus den objektiven Grundrechtsgehalten.82 Wiederum wird auf (objektive) Wertentscheidungen der Grundrechte rekurriert. Die grundrechtliche Argumentation wird dabei noch regelmäßig angereichert durch den Hinweis auf das Sozialstaatsprinzip,83 ohne letztlich genau zu klären, in welchem Verhältnis beide Normen zueinander stehen und welchen Anteil an der Drittwirkung sie jeweils für sich beanspruchen. Wenn heute die Schutzfunktion der Grundrechte schon überwiegend als Geltungsgrund auch der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht angesehen wird,84 so wäre damit im Hinblick auf die Überzeugungskraft der Begründung wenig gewonnen, wenn die Schutzpflichten ihrerseits nur aus objektiven Wertentscheidungen der Grundrechte resultierten. Erst ihre tragfähigere 78 Im Erg. auch Hillgruber (Fn. 77), S. 83 f.; a. A. VG Karlsruhe, JZ 1988, S. 208 (209); G. Dürig, in: Maunz/ders., GG, Art. 2 Abs. 2 Rz. 12 (1958). 79 BVerfGE 81, 242 ff. 80 BVerfGE 89, 214 ff. 81 s. eingehend W. Canaris, AcP Bd. 184 (1984), S. 201 (207 f.). 82 Vgl. K. Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: Benda u. a. (Hrsg.), HdbVerfR, 1994, § 5 Rz. 59 („Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen“); Hermes (Fn. 75), S. 107 (die objektive Pflicht der staatlichen Organe, den grundrechtlichen „Freiheitsbereich . . . möglichst zur Geltung zu bringen“). 83 s. hierzu W. Cremer, Freiheitsgrundrechte, 2003, S. 491 ff. 84 R. Novak, EuGRZ 1984, S. 133 (139); H. H. Klein, DVBl. 1994, S. 489 (492); Höfling (Fn. 54), Art. 1 Rz. 111; Ruffert (Fn. 9), S. 252 f.; C. Enders, in: Friauf/Höfling, GG (Stand: 2011), vor Art. 1 Rz. 70; zustimmend auch Stern (Fn. 2), S. 1575 f. Dieser Betrachtung der Drittwirkung als Konkretisierungsvariante der Schutzpflichten ist zuzustimmen, allerdings können sich zusätzliche grundrechtliche Drittwirkungen im Einzelfall auch außerhalb der Schutzfunktion ergeben, vgl. hierzu Krings (Fn. 10), S. 336 f.

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Herleitung aus dem Freiheitsbegriff der Grundrechte stellt auch die Drittwirkung auf eine dogmatisch solide Grundlage. Der Preis für diese Solidität ist allerdings auch hier eine tatbestandliche Begrenzung des Schutzanspruchs jedenfalls in vertragsrechtlichen Konstellationen. Ein elementarer Bestandteil jeder rechtsstaatlichen Ordnung ist die Fähigkeit des Individuums, Verträge abzuschließen, und die Bereitschaft des Staates, diese durchzusetzen. Bereits Wilhelm von Humboldt hatte es als „eine der wichtigsten Pflichten des Staates“ angesehen, „Willenserklärungen aufrecht zu erhalten“.85 Der Vertragspartner, den der Bürger sich in Betätigung seiner Privatautonomie ausgesucht hat, kann nicht wie ein beliebiger Störer im Schutzpflichten-Dreieck behandelt werden. Sucht der Bürger grundrechtlichen Schutz vor dem Inhalt des von ihm aus freien Stücken abgeschlossenen Vertrages, so begehrt er im Grunde staatlichen Schutz vor sich selbst.86 Die Grundrechte stehen Verpflichtungen grundsätzlich nicht entgegen, die Private freiwillig eingehen.87 Der Abschluss eines Vertrages ist eine Ausübung der in Art. 2 I GG (und gegebenenfalls in spezielleren Freiheitsrechten) garantierten Vertragsfreiheit und gerade nicht der (partielle) Verzicht auf dieses Grundrecht.88 Auch wenn daher große Zurückhaltung bei der Annahme von Schutzpflichten im Vertragsrecht angezeigt ist,89 kann es in besonderen Konstellationen auch hier Schutzansprüche geben. Anders als das Bundesverfassungsgericht wird man bei einem subjektiv-rechtlichen Schutzverständnis eine wirtschaftliche oder strukturelle Disparität zwischen den Vertragsparteien90 nicht als hinreichend erachten können, um eine Schutzpflicht bzw. einen Schutzanspruch zu aktivieren. Die Schlüsselfrage ist vielmehr, ob die Gefahren für den zu Schützenden durch seine (einvernehmliche) autonome Entscheidung oder durch ein zumutendes oder ingerentes Verhalten des anderen Vertragspartners geschaffen wurden.91 Nötig ist ein heteronomer Ursprung der Grundrechtsgefahr oder -störung. Dieser ist insbesondere anzunehmen, wenn ein Vertragspartner bei Vertragsschluss auf die Entschließungsfreiheit des anderen unzulässig einwirkt oder wenn dieser bei der Vertragsdurchführung deliktisch oder deliktsähnlich handelt. Ferner kann eine 85 W. v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792, Ausgabe von 1967, hrsg. v. R. Haerdter, S. 133. 86 Vgl. C. Becker, DZWiR 1994, S. 397 (403); O. Depenheuer, ThürVBl. 1996, S. 270 (272). 87 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1995, Rz. 356; vgl. auch C. Heinrich, Formale Freiheit und materielle Gerechtigkeit, 2000, S. 111 f. 88 s. nur Ruffert (Fn. 9), S. 245. 89 s. dazu auch C. Burkiczak, Grundgesetz und Deregulierung des Tarifvertragsrechts, 2006, S. 230 ff. m.w. N. 90 BVerfGE 89, 214 (232 f.). 91 Vgl. M. Oldiges, in: Wendt u. a. (Hrsg.), FS Friauf, 1996, S. 281 (305); Ruffert (Fn. 9), S. 247 f. m.w. N.

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schutzpflichtenauslösende Ingerenz angenommen werden, wenn ein Vertragspartner über ein bestimmtes Schutzgut in seinem Vertrag gerade nicht verfügen wollte und dessen Berührtheit auch nicht vorhersehen konnte. So wird ein Arbeitnehmer oder Werkunternehmer vertraglich in aller Regel weder über seine Religionsfreiheit noch seine Gesundheit disponieren wollen. Stellt sich während der Vertragsdurchführung heraus, dass diese Rechtsgüter doch berührt werden, so kann dies den grundrechtlichen Schutzanspruch auf den Plan rufen. 3. Der Schutz nur vor menschlichem Verhalten

Wenn Thomas Hobbes den Naturzustand, der mit einem Herrschaftsvertrag zu überwinden war, mit dem Bild „homo homini lupus“ beschrieb,92 so lehrt die menschliche Erfahrung zugleich, dass nicht nur „der Mensch dem Menschen ein Wolf“ ist, sondern – um die Wolf-Metapher aufzugreifen – auch „der Wolf dem Menschen Wolf“ bleibt, der Mensch also nicht nur von seinen Mitmenschen, sondern auch durch Naturgefahren geschädigt werden kann. Diese können sich in äußeren Naturgewalten, aber auch in den Unzulänglichkeiten des eigenen Körpers manifestieren. Eine größere Zahl von Autoren will die Grundrechte auch heranziehen, um den Bürger gegen schädigende Naturereignisse zu schützen.93 In die gleiche Richtung geht eine jüngere Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die eine staatliche Pflicht, einen bestimmten Behandlungsstandard bei lebensbedrohlichen Erkrankungen zur Verfügung zu stellen, auch mit einer grundrechtlichen Schutzpflicht aus Art. 2 II 1 GG begründet.94 Hervorzuheben ist allerdings, dass der Senat sich primär auf das Sozialstaatsprinzip stützte und seine zusätzliche grundrechtliche Begründung daran knüpfte, dass „der Staat mit dem System der gesetzlichen Krankenversicherung Verantwortung für Leben und körperliche Unversehrtheit der Versicherten“ übernommen habe.95 Richtigerweise sind Naturgefahren aber als Auslöser von grundrechtlichen Schutzansprüchen auszuschließen. Auch hier bleibt ein Eckpunkt des „Schutzpflichten“-Dreiecks unbesetzt: es fehlt an der Person eines Störers, gegen dessen Verhalten der Staat schützen soll. Der Staat als Anspruchsgegner des Schutzanspruchs ist nicht für alle denkbaren Gefahren für die in den Freiheitsrechten defi92 T. Hobbes, Vom Menschen, in: G. Gawlick (Hrsg.), Vom Menschen – Vom Bürger 1966, S. 59. 93 M. Sachs, in: K. Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 734 f.; Dietlein (Fn. 36), S. 103; P. Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 76; K.-E. Hain, ZG 1996, S. 75 (82); H.-J. Koch, Die Verwaltung Bd. 30 (1997), S. 1 (13); B. Holznagel, DVBl. 1997, S. 393 (396); Robbers (Fn. 61), S. 124 ff. u. 192; W. Sass, Art. 14 und das Entschädigungserfordernis, 1992, S. 403 ff. 94 BVerfGE 115, 25 (44 f.). 95 BVerfGE 115, 25 (44).

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nierten sachlichen Schutzbereich in der Verantwortung; der Freiheitsschutz ist mit der Abwehr- und der Schutzrichtung der Grundrechte mehrdimensional, aber nicht allumfassend. Staatliche Eingriffe und private Übergriffe in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts haben gemein, dass sie auf menschliche Entscheidungen oder Handlungen zurückgehen. Der Staat ist, vertreten durch seine Organe bzw. Organwalter, entweder selbst Täter des Grundrechtseingriffs oder – bei der Schutzfunktion – als „Koordinator der Freiheitssphären“ 96 gefragt. Der Staat soll im Rahmen der Freiheitsrechte den Grundrechtsgefahren begegnen, auf die er kraft seiner Rechtsmacht und seines Gewaltmonopols auch tatsächlich einwirken kann.97 Dazu zählen Naturereignisse ebenso wenig wie gesundheitliche Störungen des einzelnen, solange sie sich nicht auf menschliches Verhalten zurückführen lassen. Genau auf dieses Abgrenzungsmerkmal nach dem Ursprung der Schädigung kommt es aber an: So ist beispielsweise der Steinschlag, welcher von einem Grundstück ausgeht, ein Thema des grundrechtlichen Schutzanspruchs, wenn er auf durch Menschen vorgenommene Veränderungen an diesem Grundstück zurückzuführen ist.98 Schutzanspruchsrelevant sind ferner Gesundheitsstörungen in Folge von durch Dritte verursachten Unfällen, aber auch Gesundheitsgefahren, die von einer fahrlässig oder vorsätzlich herbeigeführten Infektion, dem Tabakrauchen oder einer bestimmten Lärmquelle ausgehen.99 V. Ausblick Klaus Stern hat in seinem eingangs zitierten Aufsatz zur Schutzpflichtenlehre betont, diese seien „unerlässlich, um dem Menschen . . . den Schutz seiner fundamentalen Rechte zu sichern“ und daher gemahnt: „Die Idee der grundrechtlichen Schutzpflichten darf nicht dem Gesetz der Morphologie unterliegen und nach ihrer Entdeckung und Blütezeit dem Verblühen entgegengehen.“ 100 Diese Bewertung und dieser Wunsch verdienen unbedingte Zustimmung, schon wegen der 96 J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: ders./Kirchhof, HStR V, 1992, § 115 Rz. 112. Ebenso für eine Beschränkung der Schutzpflichten auf anthropogene Gefahren: Hermes (Fn. 75), S. 231; T. Langner, Die Problematik der Geltung der Grundrechte zwischen Privaten, 1998, S. 111; s. a. Krings (Fn. 10), S. 218 f. m.w. N. 97 Zur Frage, ob auch ausländische Grundrechtsstörungen staatlicher oder privater Provenienz den grundrechtlichen Schutzanspruch aktivieren können: Krings (Fn. 10), S. 195 ff. Insoweit kann sich der Staat bei seinem Schutzhandeln im Ausland natürlich nicht auf eine Gewaltmonopol stützen, wohl aber auf seinen – auch völkerrechtlich abgesicherten – Auftrag zu diplomatischem Schutz und zur Landesverteidigung. 98 Vgl. zur privatrechtlichen Bewertung eines solchen Falles: BGH, MDR 1996, S. 580; B. Stickelbrock, AcP Bd. 197 (1997), S. 456 (489 ff.). 99 Krings (Fn. 10), S. 212 f. Zum Kontext des Tabakrauchens s.: A. Faber, DVBl. 1998, S. 745 ff.; zur Frage von Lärmemissionen durch einen Flughafen: BVerfGE 56, 54 (78). 100 Stern (Fn. 1), S. 241 (249).

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untrennbaren Verwobenheit von Freiheit und Sicherheit im modernen Verfassungsstaat. Auch wenn die Verfassungsordnung des Grundgesetzes zu allererst eine Freiheitsordnung ist, innerhalb derer der Sicherheit eine dienende Rolle zukommt, so wird aber gerade dadurch deutlich, dass die Gewährleistung von Sicherheit eine notwendige Bedingung der Freiheit ist. Um den Staat zur Gewährleistung von Sicherheit zu veranlassen, braucht es im Regelfall des grundrechtlichen Impulses nicht. Der grundrechtliche Schutzanspruch ist aber wichtig, um im Zuge einer stetigen Ausdehnung der Geltungsbereiche und der Geltungstiefe der Grundrechte die Balance zwischen Eingriffsabwehr und Schutzhandeln zu erhalten. Für eine vom Individuum her denkende Verfassungsordnung sollte staatliches Handeln einen engen Bezug zu den subjektiven Rechten der Bürger behalten. Und auch dies spricht für eine subjektivrechtliche Fundierung der Schutzpflichten als Schutzansprüche. Wenn die Schutzpflichten oder Schutzansprüche ein leistungsfähiges grundrechtliches Rechtsinstitut bleiben sollen, brauchen sie ein sicheres Fundament und klare Konturen. Je unkritischer versucht wird, im Zuge einer „Schutzpflichtenhypertrophie“ immer weitere Gefahren der sozialen Lebenswirklichkeit unter diese Grundrechtsfunktion zu subsumieren, desto berechtigter erscheint die Sorge vor ihrem „Verblühen“. Die grundrechtliche Schutzfunktion könnte am Ende nahezu universell anwendbar sein, ohne aber im konkreten Fall noch ein Entscheidungsergebnis zu beeinflussen. Ein solches Szenario sollte im Interesse von Freiheit und Sicherheit nach Möglichkeit abgewendet werden.

Die Geltung der Grundrechte im Verhältnis der evangelischen Pfarrer zu ihrer Kirche Von Hans-Werner Laubinger I. Einführung in die Problematik Schon vor mehr als 20 Jahren hat sich der Jubilar in seinem monumentalen „Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland“ eindringlich mit dem Thema auseinandergesetzt, das Gegenstand dieses Beitrages ist: der Grundrechtsbindung der Kirchen1. Dieses Thema sei – so schrieb er einleitend – ebenso eigenständig wie komplex und subtil. Daraus kann hier des beschränkten Platzes wegen nur ein Ausschnitt erörtert werden, nämlich die Frage, ob sich die evangelischen Pfarrer ihrer Kirche gegenüber auf staatliche2 Grundrechte berufen können. Dass es hinreichend Anlass gibt, sich diesem Problem zu widmen, ergibt sich aus Folgendem: Nicht viel anders als andere Dienstnehmer sind auch Pfarrer mit der Behandlung durch ihren (irdischen) Dienstherrn, ihre Kirche, nicht immer einverstanden, und auch sie verhalten sich ihrerseits nicht immer so, wie ihre Kirche es von ihnen erwartet. Nicht selten kommt es zum Streit, der vor den Gerichten landet, wenn eine gütliche Einigung misslingt. Zu diesem Zweck haben die evangeli-

1 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, München 1988, S. 1210–1224 (§ 72 IV). Die Ausführungen zur Grundrechtsbindung der Religionsgemeinschaften in Bd. IV/2, München 2011, S. 1259–1261 (§ 119 IV 5 e g) konnten nicht mehr berücksichtigt werden. 2 Ob es auch kirchliche Grundrechte gibt oder ob sie geschaffen werden sollten, ist umstritten. Darauf kann hier aus Raumgründen nicht eingegangen werden. s. dazu Wolfgang Huber, Grundrechte in der Kirche, in: Das Recht der Kirche, hrsg. von Rau/Reuter/Schlaich, Bd. 1, Gütersloh 1997, S. 518 ff.; Herbert Ehnes, Grundrechte in der Kirche, ebd., S. 545 ff.; Dietrich Pirson, Grundrechte in der Kirche, ZevKR 17 (1972), 358 ff.; ders., Kirchliches Verfassungsrecht – Eigenart und notwendiger Inhalt, ZevKR 45 (2000), 89 ff.; Winfried Stolz, Menschenrechte und Grundrechte im evangelischen Kirchenrecht, ZevKR 34 (1989), 238 ff.; Klaus Obermayer, Aufgabe einer evangelischen Kirchenverfassung in dieser Zeit, ZevKR 32 (1987), 599 ff.; Hermann Weber, Bindung der Kirchen an staatliche und innerkirchliche Grundrechte und das Verhältnis der Grundrechtsgewährleistungen zueinander, ZevKR 42 (1997), 282 ff.; Heinrich de Wall, in: ders./Muckel, Kirchenrecht, 2. Aufl., München 2010, S. 240 f.

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schen Kirchen3 eigene Gerichte eingerichtet, die unterschiedliche Bezeichnungen führen4. Teilweise kann die Partei, der die Entscheidung dieses Kirchengerichts nicht passt, diese mit der Revision angreifen, über die der Verwaltungsgerichtshof der Union Evangelischer Kirchen (VGH der UEK)5 oder das Verfassungsund Verwaltungsgericht der VELKD (VuVG der VELKD) zu befinden hat. Neben diesen Gerichten, die teils Verwaltungsgerichte, teils Verfassungs- und Verwaltungsgerichte sind, existieren von ihnen getrennte Disziplinargerichte6, vor denen sich Pfarrer gegen den Vorwurf von Dienstpflichtverletzungen verantworten müssen, die im kirchenrechtlichen Sprachgebrauch als „Amtspflichtverletzungen“ bezeichnet werden. Die Organisation und das Verfahren dieser kirchlichen Gerichte sind in einer Vielzahl kirchlicher Gesetze geregelt, die in einem erheblichen Umfang auf die entsprechenden staatlichen Gesetze (Verwaltungsgerichtsordnung, Disziplinargesetze) verweisen7. Das hat zur Folge, dass die kirchengerichtlichen Verfahren weitgehend – aber nicht völlig – denselben Regeln 3 Der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gehören 22 lutherische, reformierte und unierte Gliedkirchen (Landeskirchen) an. Unter dem Dach der EKD haben sich sieben der neun lutherischen Kirchen in der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), die zwei reformierten und die elf unierten Kirchen zur Union Evangelischer Kirchen (UEK) zusammengeschlossen, die im Jahre 2003 aus dem Zusammenschluss der Evangelischen Kirche der Union (EKU) mit der Arnoldshainer Konferenz hervorgegangen ist. Zur Reorganisation der evangelischen Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg s. Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, München 2009, 208 ff.; de Wall, in: ders./Muckel (Fn. 2), S. 348 ff. 4 Einen Überblick über die Gerichtsbarkeit der ev. Kirchen geben Ernst-Lüder Solte, Art. „Gerichtsbarkeit, kirchliche“, in: Ev. Staatslexikon, Neuausgabe, Stuttgart 2006, Sp. 748 ff.; Burkhard Guntau, Die Neuordnung der Rechtspflege in der Ev. Kirche in Deutschland, ZevKR 51 (2006), 327 ff., und Harald Schliemann, Die neue Ordnung der Kirchengerichtsbarkeit in der Ev. Kirche in Deutschland, NJW 2005, 392 ff. 5 Bis 2003 Verwaltungsgerichtshof der Evangelischen Kirche der Union (VGH der EKU). 6 Die wichtigste Normierung ist das Disziplinargesetz der EKD vom 28.10.2009 (ABl. EKD, S. 316). Sein § 1 umschreibt den Zweck kirchlicher Disziplinarverfahren wie folgt: „Kirchlicher Dienst ist durch den Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat bestimmt. Das Verhalten der in der Kirche mitarbeitenden Menschen kann die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung beeinträchtigen. Ein kirchliches Disziplinarverfahren soll auf ein solches Verhalten reagieren und dazu beitragen, das Ansehen der Kirche, die Funktionsfähigkeit ihres Dienstes und eine auftragsgemäße Amtsführung zu sichern.“ Gemäß § 2 Abs. 1 gilt das Gesetz für Amtspflichtverletzungen von Pfarrern, Kirchenbeamten und anderen Personen, die in einem öffentlichrechtlichen Dienst- und Treueverhältnis zu einem kirchlichen Dienstherrn stehen. 7 s. etwa das Kirchengesetz zur Errichtung eines Verfassungs- und Verwaltungsgerichts der VELKD i. d. F. vom 1.7.1978 (ABl. VELKD, Bd. V, S. 142) und das Kirchengesetz über die kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit (Verwaltungsgerichtsgesetz – VwGG) vom 16.6.1996 (ABl. EKD, S. 390) i. d. F. vom 15.2.2005 (ABl. EKD, S. 86). Am 1.1.2011 ist das Kirchengesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit der EKD (Verwaltungsgerichtsgesetz der EKD – VwGG.EKD) vom 10.11.2010 in Kraft getreten; es überführt die Verwaltungsgerichtsbarkeit der UEK auf die EKD. Darüber hinaus haben die einzelnen Landeskirchen ihre eigenen Kirchengerichtsgesetze.

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folgen, wie man sie aus der staatlichen Verwaltungs- und Disziplinargerichtsbarkeit kennt. Im Verlaufe derartiger Verfahren taucht gelegentlich die Frage auf, ob sich der gegen seine Kirche klagende oder von ihr disziplinierte Pfarrer auf Grundrechte berufen kann. Ein paar Beispiele aus der Praxis mögen die Problematik veranschaulichen: – Die kirchlichen Gesetze, die die Rechte und Pflichten der Pfarrer festlegen, verpflichten den Pfarrer, seine Wohnung am Dienstort zu nehmen und die Pfarrwohnung zu nutzen. Weigert er sich, droht ihm ein Disziplinarverfahren8. Kann er sich dagegen zur Wehr setzen mit dem Argument, die Residenzpflicht stehe mit dem Grundrecht der Freizügigkeit (Art. 11 GG)9 nicht in Einklang, das Pfarrergesetz sei kein „Gesetz“ im Sinne von Art. 11 Abs. 2 GG? – Ein verheirateter Pfarrer wird disziplinarisch gemaßregelt, weil er ein ehebrecherisches Verhältnis zu einer anderen, ebenfalls verheiraten Frau unterhält10. Er beruft sich auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG). – Ein Pfarrer wird disziplinarisch zur Rechenschaft gezogen, weil er im Talar an einer öffentlichen Demonstration teilgenommen hat. Er wendet ein, dies sei ihm durch die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit (Art. 8 und 5 GG) gestattet. – Ein Rechtsanwalt wird vom Kirchengericht als Prozessbevollmächtigter zurückgewiesen, weil er nicht Mitglied einer evangelischen Kirche ist, wie es die kirchengerichtliche Verfahrensordnung verlangt. Verstoß gegen Art. 12 GG?

In den genannten Beispielsfällen, die um zahlreiche weitere vermehrt werden könnten11, stellt sich die Frage, ob sich die betroffenen Pfarrer (im letzten Beispielsfall der zurückgewiesene Rechtsanwalt) auf die staatlichen Grundrechte berufen können und ob die Kirchengerichte sie bei ihrer Entscheidung berücksichtigen müssen. Dasselbe Problem ergibt sich, wenn sich der Pfarrer in den aufgeführten Fällen nach Erschöpfung des kirchengerichtlichen Rechtswegs oder ohne diesen zu beschreiten an ein staatliches Gerichte – etwa an ein Verwaltungsgericht oder mittels Verfassungsbeschwerde an das BVerfG – wendet, um die kirchlichen Maßnahmen überprüfen zu lassen. Sind die staatlichen Gerichte befugt, die kirchlichen Maßnahmen – seien es Gesetze, Rechtsverordnungen oder Verwal8 s. die Urteile der Disziplinarkammer der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsen vom 15.9.2005 (RsprB ABl. EKD 2006, 12) und vom 6.3.2008 (RsprB ABl. EKD 2009, 3 f.). 9 Zum Recht zur Wohnsitznahme s. Hermann-Josef Blanke, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, Köln 2010, Art. 11 Rn. 16; Christoph Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, 6. Aufl., München 2010, Bd. 1, Art. 11 Rn. 29. 10 Ein leider nicht selten vorkommender Fall. Z. B. Urteil des Disziplinarsenats der VELKD vom 18.9.2008 (RsprB ABl. EKD 2009, 17). 11 Weitere Beispiele unter der Überschrift „Felder möglicher Konflikte“ bei Wolfgang Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, Tübingen 1996, S. 31–42.

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tungsakte – auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Grundgesetzes zu überprüfen? Der Umstand, dass hier die kirchlichen und die staatlichen Gerichte vor der Frage stehen, ob die Kirchen an die staatlichen Grundrechte gebunden sind, verdeutlicht, dass das Problem der Grundrechtsbindung der Kirchen nicht identisch ist mit der vieldiskutierten Frage, ob die staatlichen Gerichte überhaupt befugt sind, kirchliche Maßnahmen zu prüfen; dazu s. meinen Beitrag „Der Rechtsschutz kirchlicher Bediensteter“ in der FS für Schenke (Berlin 2011, S. 975 ff.). Bisher hat die Grundrechtsbindung der Kirchen keine sehr große praktische Bedeutung gehabt, weil die „etablierten Großkirchen“ sich nachdrücklich darum bemüht haben, sich grundrechtskonform zu verhalten, obwohl sie eine Grundrechtsverpflichtung ablehnen. Die Gefahr von Grundrechtsverletzungen könnte jedoch von einigen der zahlreichen anderen Religionsgemeinschaften drohen, die zu einem nicht unerheblichen Teil den Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts besitzen oder danach trachten12. So existierten im Jahre 2010 allein in Berlin mehr als zwei Dutzend Religionsgemeinschaft mit Körperschaftsstatus13. Das Problem der Grundrechtsbindung würde sich weiter verschärfen, wenn muslimischen Vereinigungen der Körperschaftsstatus verliehen würde. Das Problem der Grundrechtsbindung der Religionsgemeinschaften dürfte deshalb an Aktualität künftig eher zu- als abnehmen. II. Die Rechtsstellung evangelischer Pfarrer Die Pfarrer sind weder staatliche noch kirchliche Beamte. Die Rechtsstellung der Pfarrer14 einerseits und der kirchlichen Beamten15 andererseits ist in verschiedenen kirchlichen Gesetzen geregelt. Die Pfarrergesetze (Pfarrdienstgesetze, 12 Ein erschreckendes Beispiel dafür, in welchem Maße eine inkorporierte Religionsgemeinschaft, nämlich die Heilsarmee, ihre Geistlichen rechtlos stellt (kein Arbeitsvertrag, kein Anspruch auf Vergütung der geleisteten Arbeit, Vorbehalt der jederzeitigen Versetzung und Entlassung, die klaglos hinzunehmen ist), bietet das Urteil des OLG Köln vom 23.7.2002 – 24 U 49/02 –, juris. 13 U.a. die Heilsarmee, die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, Jehovas Zeugen in Deutschland, die Neuapostolische Kirche Berlin-Brandenburg, die RussischOrthodoxe Kirche im Ausland, die Russisch-Orthodoxe Kirche – Moskauer Patriarchat – und die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage (Mormonen). Die vollständige Zusammenstellung findet sich auf der Homepage des Beauftragten für Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften der Stadt Berlin, Senatskanzlei/Kulturelle Angelegenheiten; http://www.berlin.de/sen/kultur/bkrw/index.html. Die Behörde schätzt die Zahl der in Berlin aktiven Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auf etwa 250. s. a. die Aufzählung korporierter Religionsgemeinschaften in der Zeugen Jehovas-Entscheidung vom 19.12.2000, BVerfGE 102, 370 ff., 372. 14 Zum ev. Pfarrerdienstverhältnis s. etwa Bock (Fn. 11), S. 23 ff.; de Wall, in: ders./ Muckel (Fn. 2), S. 275 ff. (§ 30); Albert Stein, Evangelisches Kirchenrecht, 3. Aufl., Neuwied/Kriftel/Berlin 1992, S. 103 ff.; Dietrich Pirson, Das kircheneigene Dienstrecht der Geistlichen und Kirchenbeamten, in: HdbStKirchR, 2. Aufl., Berlin 1994,

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Pfarrerdienstgesetze) der einzelnen Landeskirchen orientieren sich weitestgehend an den einschlägigen Gesetzen, die die beiden Kirchenverbände unter dem Dach der EKD erlassen haben, nämlich dem Pfarrergesetz (PfG) der VELKD16 oder dem Pfarrdienstgesetz (PfDG) der UEK17. Diese Gesetze lehnen sich in vielem an das staatliche Beamtenrecht an. So ist auch das Pfarrerdienstverhältnis ein gegenseitiges Dienst- und Treueverhältnis, das grundsätzlich auf Lebenszeit angelegt ist. Bei schuldhafter Verletzung seiner Dienstpflichten kann der Pfarrer wie der Beamte disziplinarisch gemaßregelt werden. Auch sonst finden sich im Pfarrerdienstrecht zahlreiche Institute des Beamtenrechts wieder18. Aber es sind auch eine Reihe bedeutsamer Abweichungen zu verzeichnen. Ohne Gegenstück im staatlichen Dienstrecht sind beispielsweise die Ordination19, die Visitation20 und das Lehrbeanstandungsverfahren21. Die im staatlichen Bd. 1, S. 845 ff.; Rainer Mainusch, Aktuelle kirchenrechtliche und kirchenpolitische Fragestellungen im Pfarrerdienstrecht, ZevKR 47 (2002), 1 ff. 15 Zur geschichtlichen Entwicklung des ev. Kirchenbeamtenrechts Markus Kapischke, Neuregelung des Kirchenbeamtenrechts in den ev. Kirchen, ZBR 2007, 235 ff. Zum kath. Kirchenbeamtenrecht Michael A. Ling, Kirchenamt und Kirchenbeamte in der kath. Kirche Deutschlands, ZBR 2006, 238 ff. 16 Kirchengesetz zur Regelung des Dienstes der Pfarrer und Pfarrerinnen in der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (Pfarrergesetz – PfG) vom 17.10.1995 (ABl. VELKD, Bd. VI, S. 274), zuletzt geändert durch Kirchengesetz vom 15.11.2007 (ABl. VELKD, Bd. VII, S. 376). 17 Kirchengesetz über die dienstrechtlichen Verhältnisse der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche der Union (Pfarrdienstgesetz – PfDG) vom 15.6.1996 (ABl. EKD, S. 470), zuletzt geändert durch Verordnung vom 2.12.2009 (ABl. EKD 2010, 12). Die Evangelische Kirche der Union (EKU) ist durch einen Vertrag der in ihr zusammengeschlossenen Landeskirchen vom 26.2.2003 (ABl. EKD, S. 315) in Union Evangelischer Kirchen (UEK) umbenannt worden. Das PfG und das PfDG werden ersetzt durch das Kirchengesetz zur Regelung der Dienstverhältnisse der Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche in Deutschland (Pfarrdienstgesetz der EKD – PfDG.EKD) vom 10.11.2010 (ABl. EKD, S. 307), das bereits am 1.1.2011 für die EKD in Kraft getreten ist (§ 120 Abs. 1), während es für ihre Gliedkirchen erst nach deren Zustimmung in Kraft treten wird (§ 120 Abs. 2). 18 Es gibt allerdings auch Pfarrer, die in einem privatrechtlichen Anstellungsverhältnis stehen; dazu Götz Klostermann, Pfarrdienst und ergänzende pastorale Dienste in privaten Rechtsformen . . ., ZevKR 55 (2010), 249 ff.; Hermann Weber, Die Rechtsstellung des Pfarrers, insbesondere des Gemeindepfarrers, ZevKR 28 (1983), 1 ff. 19 Durch die Ordination erteilt die Kirche den Auftrag zur öffentlichen Verkündigung des Wortes Gottes und zur Verwaltung der Sakramente (Präambel zum PfDG). Vorschriften zur Ordination enthalten §§ 3–10 PfDG und §§ 4–10 PfG. Eingehend Albert Stein, Ordination, in: Das Recht der Kirche, hrsg. von Rau/Reuter/Schlaich, Bd. III, Gütersloh 1994, S. 73–117. Ferner ders. (Fn. 14), S. 98 ff.; de Wall, in: ders./Muckel (Fn. 2), S. 231 (§ 24 Rn. 18), 270 f. (§ 28 Rn. 5) und S. 279 (§ 30 Rn. 8 f.). 20 § 61 Abs. 2 PfG: In der Visitation leistet die Kirche durch die Inhaber der geistlichen Leitungs- und Aufsichtsämter den Pfarrern und Pfarrerinnen und der Gemeinde einen besonderen Dienst. Die Visitation erstreckt sich auf Amtsführung und Verhalten der Pfarrer und das Leben der Gemeinde. Sie soll dazu helfen, das geistliche Leben der

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Recht längst abgeschafften Institute des Wartestandes (§§ 88–91 PfDG; §§ 101– 103 PfG) und der Residenzpflicht (§ 47 PfDG) gibt es im Pfarrerdienstrecht nach wie vor. Eigengeartet sind ferner die Vorschriften über die Lebensführung des Pfarrers sowie zu Ehe und Familie22, die dem Umstand Rechnung tragen, dass die Familie (insbesondere die Ehefrau des Pfarrers oder der Ehemann der Pfarrerin) stärker im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht und strengeren ethischen Anforderungen ausgesetzt ist als eine „normale“ Familie. Den staatlichen Beamten obliegt die Gehorsamspflicht. So erklärt § 35 Satz 2 BeamtStG, dass die Beamten verpflichtet sind, die dienstlichen Anordnungen ihrer Vorgesetzten auszuführen und deren allgemeine Richtlinien zu befolgen. Ähnliche Vorschriften, die allerdings zurückhaltender formuliert sind und den Ausdruck „Vorgesetzte“ vermeiden, enthalten die Pfarrergesetze. So bestimmt § 43 PfDG, dass die Pfarrer den dienstlichen Anordnungen nachzukommen haben, die die zur Leitung oder Aufsicht in der Kirche Berufenen im Rahmen ihres Auftrages erteilen. Das Pfarrergesetz der VELKD legt zunächst fest, dass die Pfarrer der Lehraufsicht und der Dienstaufsicht unterstehen (§ 3 Abs. 3 Satz 1 PfG), und erläutert später, Sinn und Zweck der Dienstaufsicht sei es, die Pfarrer bei der Erfüllung der ihnen obliegenden Aufgaben zu beraten, sie anzuleiten, zu ermahnen und notfalls zu rügen (§ 62 PfG23). besuchten Gemeinde zu fördern, die Pfarrer zu beraten und zu stärken, die kirchliche Ordnung zu sichern und die Einheit der Kirche zu festigen. Dazu de Wall, in: ders./ Muckel (Fn. 2), S. 286 f. (§ 30 Rn. 23 f.). 21 Dazu eingehend Wolfgang Huber, Lehrbeanstandung in der Kirche der Lehrfreiheit, in: Das Recht der Kirche, Bd. III (Fn. 19), S. 118–137; Gerhard Robbers, Lehrfreiheit und Lehrbeanstandung, ebd., S. 138–152; de Wall, in: ders./Muckel (Fn. 3), S. 285 f. (§ 30 Rn. 21). 22 Dazu Paul Koller, Lebensführung und Pfarrerdienstrecht aus der Sicht eines Theologen, in: Das Recht der Kirche, Bd. III (Fn. 19), S. 153–168; Roland Trompert, Lebensführung und Pfarrerdienstrecht aus der Sicht eines Juristen, daselbst S. 169–199. 23 Trompert (Fn. 22), S. 191 Fn. 58, merkt dazu an, es sei auffallend, dass ein Teil der gesetzlichen Umschreibungen der Dienstaufsicht (wie etwa § 62 PfG) das Mittel der Weisung nicht enthält. Daraus werde man jedoch nicht schließen können, dass in den entsprechenden Gliedkirchen dieses Mittel generell ausgeschlossen sein soll. Die Zurückhaltung habe ihren Grund darin, dass im Zentrum des Dienstes der Verkündigung und Seelsorge Weisungen kaum denkbar seien. Für den Bereich der Lebensführung bestehe jedoch kein Grund, sie auszuschließen. Mainusch (Fn. 14), ZevKR 47 (2002), 1 ff., 18, schreibt, die Wahrnehmung des Predigtamtes könne nicht durch Menschen beschränkt werden, weil es auf einer Stiftung des Herrn der Kirche beruhe. Die Unabhängigkeit des pfarramtlichen Dienstes könne freilich nicht mit der Unabhängigkeit des Pfarrers in Person gleichgesetzt werden. Der Pfarrer sei nur dort unabhängig, wo er tatsächlich in Ausübung seines Predigtamtes tätig wird, und die Unabhängigkeit betreffe auch nur den Inhalt der Predigt und der Lehre, nicht aber die äußere Form oder etwa die Gestaltung der bei der Predigt getragenen Amtstracht. Außerdem schließe die pfarramtliche Unabhängigkeit nur zwingende Einwirkungen rechtlicher oder faktischer Art, schließe aber nicht die Kritik an der Amtsführung aus. s. ferner die Ausführung Mainuschs zum Verhältnis von Dienstaufsicht und Lehrfreiheit sowie zu den dienstaufsichtlichen Mitteln, a. a. O., S. 30 ff.

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Die Aufgaben des Pfarrers lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: in seelsorgerliche und in sonstige. Den zuerst genannten Aspekt betont § 2 PfG: „Der Dienst der Pfarrer ist bestimmt und begrenzt durch den Auftrag, den die Kirche von ihrem Herrn erhalten hat. An diesem Auftrag sind ihre Rechte und Pflichten zu messen.“ Zu den seelsorgerlichen Aufgaben zählen insbesondere die Abhaltung von Gottesdiensten und Andachten, von Taufen, Trauungen und Beerdigungen, die Begleitung Sterbender. In derartigen Angelegenheiten dürfte die Erteilung von Weisungen durch den Vorgesetzten (den Superintendenten oder Dekan) grundsätzlich nicht statthaft sein24. Der Pfarrer ist zwar verpflichtet, regelmäßig Gottesdienste abzuhalten und sich dabei an die Agende (Gottesdienstordnung) zu halten. Aber er unterliegt keinen Weisungen hinsichtlich des Inhalts der Predigt. Insofern bestehen gewisse Parallelen zu den Pflichten und der Weisungsfreiheit des Hochschullehrers. Der zweite Aufgabenkomplex besteht vornehmlich in der administrativen Tätigkeit, der Verwaltung des Personals, des kirchlichen Vermögens und ähnlichen Vorgängen, die auch in der staatlichen Verwaltung anfallen. In diesem Bereich entfaltet sich die Weisungsbefugnis seiner Vorgesetzten25. Die beiden Aufgabenarten lassen sich allerdings nicht immer lupenrein von einander trennen. III. Stand der Diskussion zur Grundrechtsbindung der Kirchen Die Frage, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen die Kirchen an die Grundrechte gebunden sind, ist bis heute ungeklärt. Die Gerichte vermeiden eine Festlegung, die Literatur ist in sich gespalten, wie der folgende Überblick belegen wird. 1. Kirchliche Gerichte

Die Rechtsprechung der Kirchengerichte, die sich in zahlreichen Entscheidungen zu einzelnen Grundrechten geäußert haben, bietet ein diffuses Bild: Einerseits wird betont, die Grundrechte bänden die Kirchen nicht26, andererseits wer24 So wird auch Johann Frank, Dienst- und Arbeitsrecht, in: HdbStKirchR, 1. Aufl., Berlin 1974, Bd. I, S. 669 ff., 719, zu verstehen sein, wenn er schreibt, herausragendes Merkmal des Pfarrerdienstverhältnisses sei, dass der Pfarrer in der Erfüllung seiner Ordinationsverpflichtung (d.h. der öffentlichen Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung) von Weisungen unabhängig sei. Ebenso Bock (Fn. 11), S. 21 und 23: In der Erfüllung der aus der Ordination entspringenden Pflichten seien die Amtsträger nicht an Weisungen gebunden. 25 So auch de Wall, in: ders./Muckel (Fn. 2), S. 281 (§ 30 Rn. 12). 26 So etwa der VGH der UEK, Beschluss vom 24.5.2006, RsprB ABl. EKD 2007, 24 ff., 25 f.: Aus der Bindung an das für alle geltende Gesetz (Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV) und aus dem Status der evangelischen Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts (Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV) möge sich zwar auch die Verpflichtung ergeben,

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den sie umstandslos angewendet27. Gelegentlich vertreten kirchliche Gerichte die Ansicht, bestimmte staatliche Grundrechte gälten kraft kirchlichen Rechts auch im kirchlichen Bereich, ohne zu begründen, wie diese Transformation staatlichen Rechts in kirchliches Recht zustande kommt28. Eine Variante stellt die analoge Anwendung staatlicher Rechtsgrundsätze im kirchlichen Bereich dar29. Alles in allem wird man in der kirchengerichtlichen Judikatur eine Tendenz zur Ablehnung der Grundrechtsbindung konstatieren können. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung der kirchlichen Gerichte mit diesem Problem ist mir nicht bekannt30. 2. Bundesverfassungsgericht

Um die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage ist es nicht besser bestellt. Wirklich klar ist nur zweierlei, nämlich zum einen dass die Kirchen bei der Erhebung von Kirchensteuer31 an die Grundrechte gebunden sind, und zum anderen, dass die Kirchen bei der Ausgestaltung ihres Personalrechts die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) nicht grundlegende Verfassungsprinzipien zu achten. Nach herrschender Auffassung sei die Kirche jedoch bei der Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten den Vorschriften des Grundgesetzes nicht (unmittelbar) unterworfen. Stattdessen werde für den innerkirchlichen Rechtsbereich die Geltung eines ungeschriebenen kirchlichen Rechtssatzes angenommen, der seinem Inhalt nach dem staatlichen Rechtsstaatsprinzip entspreche. 27 VuVG der VELKD, Urteil vom 24.4.1996, ZevKR 41 (1996), 450 ff., 454: Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 2 und 3 gehöre zu den Grundrechten, die innerkirchlich, d.h. insbesondere im Verhältnis zwischen Landeskirche und Bediensteten, zu beachten seien. Zustimmend Jörg-René Hornig/Peter von Tiling in ihrer Anmerkung, a. a. O., S. 456 ff., 458. 28 VGH der UEK, Urteil vom 7.9.2007, RsprB ABl. EKD 2008, 32 ff., 34: „Der Grundsatz der Gleichbehandlung . . . gilt kraft kirchlichen Rechts auch im Bereich der Bekl.“ Das Gericht verweist auf sein Urteil vom 27.11.1992, RsprB ABl. EKD 1994, 16 ff., 18, das jedoch ebenfalls keine Begründung enthält. Ebenso das VuV der VELKD, Urteil vom 6.3.2006, RsprB ABl. EKD 2007, 13 ff., 14: „Der Grundsatz der Gleichbehandlung gilt auch im kirchlichen Recht.“ 29 VuV der VELKD, Urteil vom 18.9.2005, RsprB ABl. EKD 2006, 4 ff., Ls.: „Die hergebrachten Grundsätze des staatlichen Berufsbeamtentums im Sinne von Art. 33 Abs. 5 und darin eingeschlossen das Alimentationsprinzip sind für die Kirchen grundsätzlich nicht verbindlich, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV. Indes gebietet das kirchliche Gewohnheitsrecht, Pfarrer amts- und personenbezogen angemessen zu alimentieren . . .“ 30 In seinem Urteil vom 10.6.1997 (RsprB ABl. EKD 1998, 2 ff., 4 f.) erklärte das VuVG der VELKD, der Streitfall gebe keinen Anlass zu der abschließenden Entscheidung der Frage, in welchem Umfang eine Geltung der staatlichen Grundrechte im kirchlichen Bereich bejaht werden könne. Es sei jedoch darauf hinzuweisen, dass Adressat der Grundrechte ausschließlich der Staat sei. Auch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht (Art. 137 Abs. 3 WRK) schließe trotz Bindung an das für alle geltende Gesetz eine unmittelbare Grundrechtsgeltung jedenfalls im kirchlichen Innenbereich aus. 31 BVerfG, Beschlüsse vom 31.3.1971, BVerfGE 30, 415 ff., und vom 19.8.2002, DVBl. 2002, 1624 ff. = KirchE 41 (2002), 62 ff. = NVwZ 2002, 1496 ff.

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zu beachten brauchen. Im Übrigen äußert sich das Gericht überwiegend vage und weicht eindeutigen Stellungnahmen aus, wie der folgende Überblick zeigen wird: In seiner „Leitentscheidung“ vom 17.2.196532, erklärte der Erste Senat, kirchliche Gewalt sei zwar öffentliche, aber grundsätzlich keine staatliche Gewalt im Sinne von § 90 Abs. 1 BVerfGG. Nur soweit die Kirchen vom Staat verliehene Befugnisse ausübten oder soweit ihre Maßnahmen den kirchlichen Bereich überschritten oder in den staatlichen Bereich hineinreichten, betätigten die Kirchen mittelbar auch staatliche Gewalt mit der Folge, dass ihre Selbstbestimmung eine in der Sache begründete Einschränkung erfahre. „In diesem Zusammenhang kann die Frage dahingestellt bleiben, ob und inwieweit Grundrechte die Selbstbestimmung der Kirchen im Verhältnis zu dem einzelnen Gläubigen beeinflussen können.“ In seinem Beschluss vom 21.9.197633 führte der Zweite Senat aus, es bedürfe nicht der Entscheidung, ob es angängig sei, in die vom Grundgesetz rezipierte Formel des Art. 137 Abs. 3 WRV „innerhalb der Schranken des für alle geltendes Gesetzes“ auch Bestimmungen der Verfassung selbst einzubeziehen. Jedenfalls bedürfe es in jedem Einzelfall der Untersuchung, ob eine bestimmte Vorschrift des Grundgesetzes die verfassungsrechtliche Garantie des Art. 140 GG, dass die Religionsgesellschaften grundsätzlich ihre Angelegenheiten selbständig ordnen und verwalten, beschränkt. Das wurde vom Senat in Hinblick auf Art. 48 Abs. 2 GG verneint. Er stehe der vom Bremischen Staatsgerichtshof missbilligten kirchengesetzlichen Vorschrift nicht entgegen. In einem Beschluss vom 28.11.197834 ließ ein Vorprüfungssausschuss die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde insoweit dahinstehen, als es um die vermögensrechtlichen Folgen der Entfernung des Pfarrers aus dem Dienst ging, und fügte an, ein Verstoß gegen Art. 33 Abs. 5 GG scheide von vornherein aus, weil diese Vorschrift im Bereich des kirchlichen Dienstes keine Anwendung finde; eine Verletzung des Art. 14 GG liege nicht vor. Diese Ausführungen erwecken den Anschein, als halte die Kammer den Art. 14 GG für anwendbar; eindeutig ist das jedoch keineswegs. Ein Dreierausschuss äußerte in einem Beschluss vom 12.2.198135 , aus der Bindung der Kirchen an das „für alle geltende Gesetz“ ergebe sich auch dann nichts anderes, wenn entgegen der bisherigen Rechtsprechung (BVerfGE 18, 385 [387 f.]; BVerfGE 42, 312 [334]) davon ausgegangen werde, die Kirchen seien auch dort, wo es primär um ihre inneren Angelegenheiten geht, zumindest an einen Kernbestand der vom Grundgesetz normierten Grundprinzipien gebunden. Denn die vom Beschwerdeführer bean-

32 BVerfGE 18, 385 ff., 387 (Verfassungsbeschwerde einer Kirchengemeinde gegen den Beschluss der Kirchenleitung, die Kirchengemeinde zu teilen). 33 BVerfGE 42, 312 ff. (Verfassungsbeschwerde der Bremischen Ev. Kirche gegen die Entscheidung des Bremischen Staatsgerichtshofs, wonach eine kirchengesetzliche Regelung insoweit nach bremischem Verfassungsrecht im staatlichen Bereich nicht zulässig sei, als Pfarrer und Kirchenbeamte für die Dauer ihres Abgeordnetenmandats in der Bremischen Bürgerschaft als beurlaubt galten). 34 NJW 1980, 1041 (Verfassungsbeschwerde eines Pfarrers gegen seine Entfernung aus dem Dienst im Wege des Disziplinarverfahrens). 35 NJW 1983, 2570 (Verfassungsbeschwerde eines Rechtsanwalts, der vom Kirchengericht als Prozessbevollmächtigter eines in den Wartestand versetzten Pfarrers zurückgewiesen worden war, weil er keiner ev. Kirche angehörte).

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standete Vertretungsregelung halte sich unzweifelhaft im Rahmen „allgemeinrechtsstaatlicher Erfordernisse“. Durch Beschluss vom 5.6.198136 verweigerte ein Vorprüfungsausschuss die Annahme der Verfassungsbeschwerde einer früheren Mitarbeiterin eines Diözesan-Caritasverbandes, der gekündigt worden war, weil sie nach ihrer Scheidung eine neue Ehe eingegangen war. Weder das Grundrecht der Beschwerdeführerin, eine mit der katholischen Kirche nicht übereinstimmende Glaubensauffassung zu haben, noch der verfassungsverbürgte Schutz der Ehe hindere unter den gegebenen Umständen die Beendigung des Dienstverhältnisses, die die Kirche, ihrem Selbstverständnis entsprechend, um ihrer Glaubwürdigkeit willen und zur Wahrung ihrer Identität für geboten erachten könne. In seinem Beschluss vom 1.6.198337 ließ es ein Vorprüfungsausschuss dahinstehen, ob Art. 103 Abs. 1 GG und das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) in kirchlichen Verfahren Anwendung fänden. Begründung: für einen Verstoß gegen diese Vorschriften bestünden keine Anhaltspunkte. In seinem Beschluss vom 5.7.198338, der einen ähnlich gelagerten Fall betraf, erklärte ein Dreierausschuss, unbeschadet der Frage, ob und inwieweit Grundrechte oder diesen gleichgestellte Rechte auf das Verhältnis der Kirche zu ihren geistlichen Amtsträgern überhaupt einwirkten, bestünden gegen die vom Beschwerdeführer zur Überprüfung gestellte kirchenrechtliche versorgungsrechtliche Regelung jedenfalls keinerlei verfassungsrechtliche Einwände. Eine Verletzung des Art. 14 GG lasse sich nicht feststellen. Der Zweite Senat des BVerfG musste in seinem Beschluss vom 4.6.198539 u. a. über die Verfassungsbeschwerde der Trägerin eines katholischen Krankenhauses gegen das Urteil des BAG vom 21.10.198240 befinden, das die Kündigung eines Assistenzarztes durch das Krankenhaus aufgehoben hatte. Die Kündigung war ausgesprochen worden, weil der Arzt sich in einer Wochenzeitschrift und einem Rundfunkinterview kritisch zur Haltung der katholischen Kirche zum (legalen) Schwangerschaftsabbruch nach § 218 StGB geäußert hatte und damit gegen die von ihm arbeitsvertraglich übernommene Loyalitätspflicht gegenüber der Kirche verstoßen hatte. Der Kläger habe zwar einen verhaltensbedingten Kündigungsgrund im Sinne des § 1 KSchG gesetzt. Jedoch ergebe die Interessenabwägung, daß das Verhalten des Klägers nicht ausreiche, die Kündigung sozial zu rechtfertigen. Der Arzt hatte sich im arbeitsgerichtlichen Verfahren auf die Meinungsfreiheit berufen. Hierzu hatte das BAG eingehend Stellung genommen. Auf dessen Überlegungen ging das BVerfG mit keinem Wort ein. Eher beiläufig, heißt es gegen Ende der Ent36

NJW 1983, 2570 f. NJW 1983, 2569 (Verfassungsbeschwerde eines Pfarrers gegen das Urteil des BVerwG vom 25.11.1982 [BVerwGE 66, 242 ff.], das die Klage des Pfarrers gegen seine Beurlaubung, seine Versetzung aus seiner Pfarrstelle und seine Versetzung in den Wartestand sowie auf Zahlung des Differenzbetrages zwischen den Wartestands und den vollen Dienstbezügen abgewiesen hatte). Der Dreierausschuss nahm die Verfassungsbeschwerde mangels hinreichender Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung an. 38 NJW 1983, 2569 f. 39 BVerfGE 70, 138 ff. 40 Az.: 2 AZR 591/80, NJW 1984, 826 ff. 37

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scheidungsgründe (S. 171 f.), der Arzt könne sich – wie das BAG insoweit zutreffend dargelegt habe – nicht mit Erfolg auf grundrechtlichen Schutz, etwa aus Art. 5 GG, berufen, zumal seine Stellungnahme hier nicht als solche im „wechselseitigen Meinungskampf“ zur Beurteilung stehe. Der Kammerbeschluss vom 18.9.199841 wies die Verfassungsbeschwerde der Witwe und zweier Kinder eines Pfarrers ab, der auf seinen Antrag entlassen worden war. Nach seinem Tode begehrten die Beschwerdeführer von der Kirche Versorgung mit der Begründung, der Entlassungsantrag und die Entlassung selbst seien unwirksam gewesen. Nachdem dieses Begehren von der Kirche abgelehnt worden war, beschritten die Beschwerdeführer erfolglos den Verwaltungsrechtsweg. Das BVerfG befand, die Verfassungsbeschwerde der beiden Kinder sei unzulässig, soweit sie die Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG durch die Kirche und die Verwaltungsgerichte rügten. Denn sie hätten die Möglichkeit einer solchen Verletzung nicht hinreichend dargetan. Auf die Frage, ob sich die Beschwerdeführer der Kirche gegenüber überhaupt auf Art. 3 Abs. 1 GG berufen können, ging die Kammer nicht ein. Zwiespältig sind die Äußerungen des Zweiten Senats in seinem Zeugen Jehovas-Urteil vom 19.12.200042. Die korporierten Religionsgemeinschaften seien, soweit sie außerhalb des ihnen übertragenen Bereichs hoheitlicher Befugnisse handeln, an die einzelnen Grundrechte nicht unmittelbar gebunden. Die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts binde sie aber an die Achtung der fundamentalen Rechte der Person, die Teil der verfassungsmäßigen Ordnung sei. Korporierte Religionsgemeinschaften hätten einen öffentlich-rechtlichen Status und seien mit bestimmten hoheitlichen Befugnissen ausgestattet. Sie verfügen damit über besondere Machtmittel und einen erhöhten Einfluss in Staat und Gesellschaft. Ihnen lägen deshalb die besonderen Pflichten des Grundgesetzes zum Schutz der Rechte Dritter näher als anderen Religionsgemeinschaften. Diese Ausführungen lassen die Frage offen, was mit dem „ihnen übertragen Bereich hoheitlicher Befugnisse“ gemeint ist, nämlich ob dazu auch diejenigen Befugnisse gehören, die unmittelbar mit dem Körperschaftsstatus auf die Kirchen übergehen, wie z. B. die Dienstherrenbefugnisse. Mit Beschluss vom 31.1.200143 nahm die 1. Kammer des Ersten Senats die Verfassungsbeschwerde einer Lehrkraft für Kunsterziehung und -geschichte an einem kirchlichen Gymnasium, der gekündigt worden war, weil sie jahrelang ein Verhältnis zu einem zum Priester geweihten Mönch unterhalten und dies publik gemacht hatte, nicht zur Entscheidung an. Das mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Urteil des Landesarbeitsgerichts hatte die Kündigung für wirksam erklärt. Soweit die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 1, Art. 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 4, Art. 6 Abs. 1 sowie Art. 12 Abs. 1 GG rügte, wurde die Verfassungsbeschwerde wegen verspäteten Vorbringens oder ungenügender Begründung für unzulässig befunden. Auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin, sie sei auch in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt, ging die Kammer hingegen sachlich ein, lehnte eine Verletzung dieses Grundrechts jedoch ab, indem sie u. a. ausführte: „Eine Verletzung der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin scheidet auch dann aus, wenn – entsprechend ihrem Vortrag – die Offenlegung und Verteidigung ihres nichtehelichen Verhältnisses 41 42 43

NJW 1999, 349 f. = KirchE 36, 409 ff. BVerfGE 102, 370 ff., 392 f. KirchE 39 (2001), 13 ff. = DVBl. 2001, 723 f.

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ihre Familie vor einer verzerrenden Berichterstattung durch die Presse bewahren sollte. Zwar wäre in diesem Fall der Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eröffnet. Es läge auch ein Eingriff in den Schutzbereich vor, weil das Landesarbeitsgericht die Wirksamkeit der Kündigung auch auf die Äußerungen in der Pressekonferenz gestützt und insoweit eine (arbeits-)rechtliche Sanktion an diese Äußerungen geknüpft hat. Dieser Eingriff wäre jedoch gemäß Art. 5 Abs. 2 GG durch § 1 Kündigungsschutzgesetz als allgemeines Gesetz gerechtfertigt. Insoweit kollidiert die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin mit dem ebenfalls Verfassungsrang genießenden Recht der Kirchen, in den Schranken der für alle geltenden Gesetze den kirchlichen Dienst nach ihrem Selbstverständnis zu regeln und die spezifischen Obliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer verbindlich zu machen (. . .). Dass das Landesarbeitsgericht bei der hiernach gebotenen Güterabwägung der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin nicht den Vorrang eingeräumt hat, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.“ Auf diese Ausführungen verwies die 2. Kammer des Ersten Senats in ihrem Nichtannahmebeschluss vom 7.3.200244. Die Beschwerdeführerin in diesem Verfahren hatte geltend gemacht hatte, das BVerfG habe bisher den Fall einer Kollision des kirchlichen Selbstbestimmungsrecht mit Grundrechtspositionen noch nicht entschieden. Darauf erwiderte die Kammer: Es entspreche seit dem Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198 ff., 205 f.) gesicherter Erkenntnis, dass sich der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet beherrschenden Vorschriften entfaltet und für den Zivilrichter vor allem über die jeweiligen Generalklauseln realisierbar ist. Deshalb könne es nicht zweifelhaft sein, dass im Rahmen der Beurteilung, ob die Kündigung eines kirchlichen Arbeitnehmers gerechtfertigt ist, neben dem Selbstbestimmungsrecht der betreffenden Kirche als Arbeitgeber auch hiermit kollidierende Grundrechtspositionen des Arbeitnehmers einschließlich derjenigen aus Art. 4 Abs. 1, 2 GG zu berücksichtigen sind. Mit Beschluss vom 9.12.200845 lehnte die 2. Kammer des Zweiten Senats die Annahme der Verfassungsbeschwerde eines Pfarrers ab, der zunächst in den Wartestand und später in den Ruhestand versetzt worden war. Gleichwohl prüfte (und verneinte) das Gericht in Gestalt eines obiter dictum, ob das kirchenrechtliche System von Warteund Ruhestand gegen das Willkürverbot des Art. 3 Abs. 1 GG verstoße.

Die im Voraufgehenden vorgestellten Entscheidungen – die allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben können – erwecken den Eindruck, dass das BVerfG bemüht ist, einer klaren Entscheidung darüber auszuweichen, ob sich kirchliche Bedienstete gegenüber ihrer Kirche auf die Grundrechte berufen können. Eindeutig bejaht wird dies nur von den beiden Kammerbeschlüssen vom 31.1.2001 und 7.3.2002, die Kündigungsstreitigkeiten betrafen. 3. Bundesverwaltungsgericht

Auch dem BVerwG war bis dato keine eindeutige Stellungnahme zur Grundrechtsbindung der Kirchen zu entlocken: 44 45

KirchE 40 [2002], 164 ff. = NJW 2002, 2771. DVBl. 2009, 238 ff. = NJW 2009, 1195 ff. = ZevKR 54 (2009), 232 ff.

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In dem Urteil vom 8.2.196346 heißt es ohne Begründung, eine grenzenlose Autonomie sei den Religionsgesellschaften nicht eingeräumt; sie seien insoweit, „wie jede Einzelpersönlichkeit, an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden (Art. 2 Abs. 1 GG)“. Nach der grundgesetzlichen Ordnung dürfe der Staat die Wehrdienstpflicht als eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht einführen, damit sei unvereinbar, daß eine Religionsgemeinschaft dieses Recht verneinen könne. In seinem Urteil vom 15.12.196747 ließ das Gericht die Grundrechtsbindung offen, erklärte jedoch, es neige zu der Auffassung, dass die vom Staat als „staatsunabhängig“ anerkannte kirchliche öffentliche Gewalt „jedenfalls an staatsunabhängige Grundrechte gebunden ist, soweit diese jedem öffentlichen Recht vorgegeben, somit im Kernbereich von jeder weltlichen Regelung zu respektieren sind“. Im Anschluss daran führte der Senat aus, ein Verstoß gegen Art. 33 Abs. 5 GG scheide von vornherein aus, weil diese Vorschrift im Bereich des kirchlichen Dienstes keine Anwendung finde; die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen Art. 14 und Art. 3 Abs. 1 GG lägen nicht vor. Die Frage nach der Grundrechtsgeltung hielt das BVerwG auch in seinem Urteil vom 25.10.196848 offen. Als Prüfungsmaßstab komme als für alle geltendes Gesetz nur das Grundgesetz, insbesondere sein Grundrechtsteil in Betracht. Einer „Entscheidung der umstrittenen Frage, ob und inwieweit die Kirche bei der Gestaltung ihres Dienstund Versorgungsrechts an diese Normen gebunden ist“, bedürfe es nicht, weil eine Verletzung der in Frage kommenden Rechtsnormen (des Gleichbehandlungsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 1 GG, des Rechtsstaatsprinzips und des Art. 19 Abs. 4 GG49) nicht vorliege. In dem Urteil vom 25.11.198250 schreibt das BVerwG lapidar, der klagende Pfarrer könne sich auf Art. 14 GG nicht berufen, denn es liege auf der Hand, dass kein Verstoß gegen dieses Grundrecht daraus hergeleitet werden könne, dass ein zur Ruhe gesetzter Geistlicher nur Ruhegehalt bezieht. Mit Urteil vom 18.7.199651 entschied das Gericht, das kirchliche Selbstbestimmungsrecht finde seine Schranken nicht nur in den einfachgesetzlichen, für alle geltenden Regelungen, sondern auch in verfassungsrechtlichen Gewährleistungen, insbesondere in der Garantie der Wissenschaftsfreiheit mit den daraus herzuleitenden staatlichen Aufgaben.

46 NJW 1963, 1169 f., 1170 (Befreiung eines Geistlichen der Zeugen Jehovas vom Wehrdienst). 47 BVerwGE 28, 345 ff., 350. Der klagende Pfarrer wandte sich dagegen, dass die beklagte Landeskirche einen Teil der Dienstbezüge mit Rücksicht darauf einbehalten hatte, dass er Versorgungsbezüge als ehemaliger Wehrmachtspfarrer erhielt. 48 BVerwGE 30, 326 ff., 331. Der Kläger begehrte von der beklagten EKD Versorgung aufgrund seiner früheren Rechtsstellung als Oberlandeskirchenrat der Landeskirche Sachsen. 49 A. a. O. (Fn. 48), S. 332. Zugleich bekräftigte das Gericht seine Ansicht, Art. 33 Abs. 5 GG sei im Bereich des kirchlichen Dienstrechts nicht anwendbar. 50 BVerwGE 66, 241 ff., 250 (Klage eines zunächst zwangsbeurlaubten und dann seines Amtes enthobenen Pfarrers gegen diese Maßnahmen und auf Gehaltszahlung). 51 BVerwGE 101, 309 ff., Ls. 2 und S. 314 f. (Einrichtung eines Diplomstudiengangs Kath. Theologie an der Universität Frankfurt).

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In seinem Urteil vom 26.6.199752, das die Anerkennung der Zeugen Johovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts ablehnte und später vom BVerfG kassiert wurde, stellte das Gericht fest, die korporierten Religionsgemeinschaften seien „wie der Staat selbst“ an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG), insbesondere an die Grundrechte der betroffenen Bürger gebunden, soweit sie – wie beispielsweise bei der Erhebung von Steuern oder im Bereich des Friedhofwesens – vom Staat übertragene Hoheitsgewalt ausüben.

Der Grund dafür, dass das BVerwG bis heute keine eindeutige Meinung zu dem Problem der Bindung der Kirchen an die Grundrechte geäußert hat, dürfte darin bestehen, dass es den Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten weitgehend versperrt hat53. 4. Bundesarbeitsgericht

Das BAG hat sich in seinen Urteilen vom 25.4.197854, 4.3.198055, 14.10. 198056, 21.10.198257, 30.6.198358, 23.3.198459, 31.10.198460, 12.12.198461, 16.9.199962 und 16.9.200463 mit Kündigungsschutzklagen kirchlicher Mitarbei52

BVerwGE 105, 117 ff., 122. So schon Johann Frank (Fn. 24), S. 669 ff., 686. 54 BAGE 30, 247 ff. (Kündigung der kath. Leiterin eines kath. Pfarrkindergartens wegen Heirat eines geschiedenen Mannes). 55 1 AZR 1151/78 – BB 1980, 1639 ff. (Kündigung einer Fachlehrerin für Gymnastik und Textilgestaltung an einer kath. Privatschule in kirchlicher Trägerschaft wegen Austritts aus der Kirche) und 1 AZR 125/78, BAGE 30, 14 ff. (Kündigung der Leiterin des Pfarrkindergartens einer kath. Kirchengemeinde wegen Eheschließung mit einem nicht laisierten kath. Priester). 56 BAGE 34, 195 ff. (Kündigung einer katholischen Arbeitnehmerin, die in einer Caritas-Geschäftsstelle zu einem nicht unerheblichen Teil ihrer vertraglichen Tätigkeit unmittelbar karitative Aufgaben wahrnahm, wegen Wiederverheiratung nach Scheidung von ihrem ersten Ehemann). 57 2 AZR 591/80, NJW 1984, 826 ff. und 2 AZR 628/80, juris. Beide Entscheidungen betrafen die zwei auf einander folgenden Kündigungen eines Assistenzarztes durch den kath. Träger des Krankenhauses, an dem er tätig war, weil er sich in einer Wochenzeitschrift und einem Rundfunkinterview kritisch zur Haltung der kath. Kirche zum (legalen) Schwangerschaftsabbruch geäußert hatte. Beide Entscheidungen wurden vom BVerfG durch Beschluss vom 4.6.1985 – 2 BvR 1703/83 – aufgehoben, die Sache wurde an das BAG zurückverwiesen, das mit Urteil vom 15.1.1986, juris, den Schlusspunkt setzte. 58 NJW 1984, 1917 ff. (Kündigung eines im Dienste des Diakonischen Werks der ev. Kirche stehenden, in der Konfliktberatung eingesetzten Arbeitnehmers wegen homosexueller Betätigung). 59 BAGE 45, 250 ff. (Kündigung des Buchhalters eines kath. Jugendheims wegen Austritts aus der Kirche). 60 BAGE 47, 144 ff. (Kündigung einer bei einem katholischen Missionsgymnasium beschäftigten katholischen Lehrerin wegen Heirat eines geschiedenen Mannes). 61 BAGE 47, 292 ff. (Kündigung eines an einem kath. Krankenhaus tätigen Assistenzarztes wegen Austritts aus der Kirche). 53

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ter befassen müssen, die sich teilweise auch auf Grundrechte beriefen. Das Gericht geht davon aus, die Kirchen seien trotz ihrer Autonomie an das für alle geltende Arbeitsrecht gebunden, wenn sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben Personen in abhängiger Stellung als Arbeitnehmer beschäftigen. Das gelte auch dann, wenn die Tätigkeit in der Bindung an den übergeordneten Auftrag der Kirche ausgeübt wird. Ausgenommen hiervon seien allerdings die Personen, die in einem so engen Verhältnis zur Kirche stehen, dass sie mit der von ihnen gewählten Lebensform einen Stand der Kirche bilden (wie etwa Geistliche, Diakonissen und Ordensangehörige). Durch sie trete die Kirche in besonderer Weise als solche in ihrem verfassungsrechtlich gesicherten Wesen in Erscheinung. Die in dem Dienst der erzieherischen und der karitativen Einrichtungen der Kirche tätigen Arbeitnehmer hingegen erfüllten ihre Arbeitsleistung vor allem als Arbeitnehmer; das Arbeitsverhältnis sei für sie maßgeblich eine Existenzgrundlage. Demgemäß gälten für sie die arbeitsrechtlichen Kündigungsschutzvorschriften, und zwar bei der ordentlichen Kündigung der § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG, im Falle der außerordentlichen Kündigung der § 626 Abs. 1 BGB, die eine sozial ungerechtfertigte Kündigung verbieten. Bei der Prüfung, ob eine Kündigung sozial ungerechtfertigt ist, müssten die beiderseitigen Interessen an der Erhaltung bzw. der Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegeneinander abgewogen werden. In diese Abwägung einzustellen sei einerseits das vom Kläger geltend gemachte Grundrecht und andererseits das durch Art. 137 Abs. 3 WRV gewährleistete kirchliche Selbstbestimmungsrecht. Auf diese Weise ins Spiel gebracht wurden das Recht auf freie Gewissensentscheidung (Art. 4 Abs. 1 GG)64, der Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG)65, die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)66, die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG)67, die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)68 sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht, aus der die Freiheit, eine neue Ehe einzugehen, abgeleitet wurde69. Die Frage, ob die Grundrechte zu den „für alle geltenden Gesetzen“ im Sinne von Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV zählen, ließ das BAG in seinem Urteil vom 21.10.198270 offen, weil es darauf nicht ankomme. Denn sowohl bei Bejahung 62 KirchE 37, 300 (Kündigung eines Organisten und Chorleiters wegen einer außerehelichen Beziehung. 63 KirchE 46, 126 ff. (Kündigung eines kath. Kirchenmusikers während der Probezeit wegen Wiederverheiratung nach Scheidung seiner ersten Ehe – Prüfungsmaßstab § 242 BGB). 64 Urteile vom 25.4.1978 (Fn. 54) und 31.10.1984 (Fn. 60). 65 Urteile vom 25.4.1978 (Fn. 54), 4.3.1980 (Fn. 55) und 31.10.1984 (Fn. 60). 66 Urteil vom 25.4.1978 (Fn. 54). 67 Urteil vom 21.10.1982 (Fn. 57). 68 Urteil vom 31.10.1984 (Fn. 60). 69 Urteil vom 16.9.2004 (Fn. 63). 70 2 AZR 591/80 (Fn. 57). Die Entscheidung wurde aufgehoben durch Beschluss des BVerfG vom 4.6.1985 (s. o. im Text zu Fn. 39).

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als auch bei Verneinung der Frage müsse eine Güterabwägung stattfinden zwischen dem Grundrecht des Klägers auf öffentliche Äußerung seiner Meinung zum legalen Schwangerschaftsabbruch einerseits und dem ebenfalls verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht der Beklagten und ihrem daraus fließenden Recht, zur Wahrung ihrer Glaubwürdigkeit dem Kläger Zurückhaltung bei der Meinungsäußerung aufzuerlegen, andererseits. Dies führe zu dem Ergebnis, dass die dem Kläger angesonnene Grundrechtsbeschränkung erforderlich und angemessen sei. 5. Bundesgerichtshof

Der BGH bemerkte in seinem Urteil vom 24.7.200171 eher beiläufig, die korporierten Religionsgemeinschaften seien „insoweit an die einzelnen Grundrechte nicht unmittelbar gebunden“. Die Zuerkennung des Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts binde sie jedoch an die Achtung der fundamentalen Rechte der Person, die Teil der verfassungsmäßigen Ordnung ist“. Eine Begründung dafür gab das Gericht nicht. 6. Zusammenfassung der Judikatur

Mit Bedauern muss man feststellen, dass sich das BVerfG und die drei obersten Gerichtshöfe des Bundes bisher gescheut haben, eine klare Aussage darüber zu treffen, ob die Grundrechte (mit Ausnahme des Art. 9 Abs. 3 GG) für die Kirchen verbindlich sind. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob sich Pfarrer und Kirchenbeamte auf die Grundrechte berufen können, wenn sie sich durch kirchliche Maßnahme zu Unrecht beschwert fühlen. Die Gerichte sind einer eindeutigen dogmatischen Aussage oft dadurch aus dem Wege gegangen, dass sie in Gestalt von obiter dicta einen Eingriff in die als verletzt gerügten Grundrechte verneint haben. Das BVerfG und vor allem das BAG haben in Kündigungsschutzprozessen die von den entlassenen kirchlichen Angestellten geltend gemachten Grundrechte in die Abwägung mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht eingestellt. Insofern genießen die privatrechtlich angestellten Kirchenbediensteten tendenziell einen stärkeren Schutz ihrer Grundrechte als Pfarrer und Kirchenbeamte. In seiner oben referierten Entscheidung vom 4.6.198572 führte das BVerfG ohne Begründung drei neue Schranken des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts – Willkürverbot, gute Sitten und ordre public – ein, indem es dekretierte, soweit die kirchlichen Vorgaben den anerkannten Maßstäben der verfassten Kirchen 71 BGHZ 148, 307 ff., 311 (Klage gegen Äußerungen eines kirchlichen Sektenbeauftragten). 72 BVerfG, Beschluss vom 4.6.1985, BVerfGE 70, 138 ff., 168.

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Rechnung trügen, seien die Arbeitsgerichte an sie gebunden, „es sei denn, die Gerichte begäben sich dadurch in Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung, wie sie im allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie in dem Begriff der „guten Sitten“ (§ 138 Abs. 1 BGB) und des ordre public (Art. 30 EGBGB) ihren Niederschlag gefunden haben“73. Es bleibe in diesem Bereich somit Aufgabe der staatlichen Gerichtsbarkeit sicherzustellen, daß die kirchlichen Einrichtungen nicht in Einzelfällen unannehmbare Anforderungen – insoweit möglicherweise entgegen den Grundsätzen der eigenen Kirche und der daraus folgenden Fürsorgepflicht (vgl. § 1 Nr. 2 AVR) – an die Loyalität ihrer Arbeitnehmer stellen. Im Übrigen obliege es den Arbeitsgerichten, den Sachverhalt festzustellen und unter die kirchlicherseits vorgegebenen, arbeitsrechtlich abgesicherten Loyalitätsobliegenheiten zu subsumieren. Im Anschluss an das BVerfG führte auch das BAG in seinem Urteil vom 16.9.199974 aus, die Arbeitsgerichte seien bei der Anwendung des gesetzlichen Kündigungsrechts an die Vorgaben der Kirchen gebunden, soweit diese den anerkannten Maßstäben der verfassten Kirchen Rechnung trügen und sich die Gerichte durch die Anwendung der Vorgaben nicht in Widerspruch zu „den Grundprinzipien der Rechtsordnung, wie sie im allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG), dem Begriff der ,guten Sitten‘ (§ 138 Abs. 1 BGB) und des ordre public (Art. 6 EGBGB) ihren Niederschlag gefunden haben“, begäben75. Diesen Gedanken hat schließlich auch der BGH in seinem Urteil vom 28.3.200376 aufgegriffen, in dem es ausführte: Eine von der geistlichen Grundordnung und von dem Selbstverständnis der Kirche getragene Maßnahme nach autonomem Kirchen- oder Gemeinschaftsrecht könne durch staatliche Gerichte nicht auf ihre Rechtmäßigkeit, sondern nur auf ihre Wirksamkeit überprüft werden. Die Wirksamkeitskontrolle sei darauf beschränkt, ob die Maßnahme gegen Grundprinzipien der Rechtsordnung verstoße, wie sie in dem allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie in dem Begriff der guten Sitten (§ 138 BGB) und in dem des ordre public (Art. 6 EGBGB) ihren Niederschlag gefunden hätten. Art. 6 EGBGB, der an die Stelle des vom BVerfG zitierten Art. 30 EGBGB getreten ist, bestimmt in Satz 1, dass die Rechtsnorm eines anderen Staates dann nicht anzuwenden ist, wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit 73 Josef Isensee, Kirchliche Loyalität im Rahmen des staatlichen Arbeitsrechts, in: Festschrift für Obermayer, München 1986, S. 203 ff., 212, spricht von einer „staatskirchenrechtlichen Ordre-public-Klausel“, dank derer nicht jede staatliche Norm, auch nicht jede Verfassungsnorm als Kontrollmaßstab in Betracht komme. 74 Fn. 62. 75 Dazu Gregor Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, Tübingen 2006, S. 15 f. und 19 f. 76 BGHZ 154, 306 ff. (Rn. 17, 20). Das Gericht hatte über den Gehaltsanspruch zweier aus disziplinarischen Gründen aus dem Dienst entlassener Geistlicher der Heilsarmee zu befinden.

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wesentlichen Grundsätzen des deutschen öffentlichen Rechts offensichtlich unvereinbar ist. Die ausländische Rechtsnorm ist insbesondere dann nicht anzuwenden, wenn die Anwendung mit den Grundrechten unvereinbar ist (Satz 2). Jeder Verstoß gegen Grundrechte tangiert den ordre public77. Auf diese Weise werden die Grundrechte via ordre public gewissermaßen durch die Hintertür zu Schranken des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts befördert. 7. Die Literatur

Der weit überwiegende Teil der Literatur lehnt die unmittelbare Geltung der Grundrechte (mit Ausnahme des Art. 9 Abs. 3 GG) für die Kirchen grundsätzlich ab78. Begründet wird dies – wenn überhaupt79 – damit, aus Art. 1 Abs. 3 GG ergebe sich, dass sich die Grundrechte ausschließlich gegen die staatliche Gewalt richten; die Kirchen übten keine öffentliche Gewalt oder jedenfalls keine staatliche Gewalt aus; die Grundrechte seien „primär staatsgerichtet“; sie stellten keine „für alle geltenden Gesetze“ im Sinne von Art. 137 Abs. 3 WRV dar; eine 77 Juliana Mörsdorf-Schulte, in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB. 4. Aufl., Köln 2009, Art. 6 EGBGB Rn. 13 m.w. N. 78 Gunter Barwig, Die Geltung der Grundrechte im kirchlichen Bereich, Frankfurt a. M. 2004, insbes. S. 57–278, speziell zu den öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen S. 118–129; Reinhard Bergmann, in: Hömig, GG, 9. Aufl., Baden-Baden 2010, Art. 140 Rn. 18; Bock (Fn. 11), S. 290 ff.; Axel Frhr. von Campenhausen/Peter Unruh, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., München 2010, Bd. 3, Art. 137 WRV Rn. 47; Axel Frhr. von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl., München 2006, S. 114; Heinrich de Wall, in: ders./Muckel (Fn. 2), S. 240 f.; Dirk Ehlers, in: Sachs, GG, 5. Aufl., München 2009, Art. 140 Rn. 25; Herbert Ehnes, Die Bedeutung des Grundgesetzes für die Kirche, insbesondere Grundrechte in der Kirche, ZevKR 34 (1989), 382 ff., 385–388; Michael Germann, in: Epping/Hillgruber, GG, München 2009, Art. 140 Rn. 82; Martin Heckel, Die religionsrechtliche Parität, in: HdbStKirchR, 2. Aufl., Berlin 1994, Bd. I, S. 589 ff., 594–596; Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, München, Stand: 60. ErgLfg./Okt. 2010, Art. 1 Abs. 3 Rn. 103 (Stand: 2005); Konrad Hesse, Grundrechtsbindung der Kirchen?, in: FS für Werner Weber, Berlin 1974, S. 447 ff.; ders., Die Selbstbestimmung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR, 2. Aufl., Berlin 1994, Bd. I, S. 521 ff., 558; Christian Hillgruber, in: Epping/Hillgruber, GG, Art. 1 Rn. 68; Hans D. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., München 2011, Art. 1 Rn. 37; Karl-Hermann Kästner, Die Geltung von Grundrechten in kirchlichen Angelegenheiten, JuS 1977, 715 ff.; ders., in: Stern/Becker (Fn. 9), Art. 4 Rn. 154; Stefan Magen, Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, Tübingen 2004, S. 111–114, 294; Martin Morlok, in: Dreier, GG, 2. Aufl., Tübingen 2008, Bd. 3, Art. 137 WRV Rn. 85; Wolfgang Rüfner, Grundrechtsadressaten, in: HStR, hrsg. von Isensee/Kirchhof, Heidelberg 1992, Bd. V, S. 525 ff., 548 f.; Helge Sodan, in: ders., GG, München 2009, Art. 4 Rn. 13; Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., GG, 6. Aufl., München 2010, Art. 1 Abs. 3 Rn. 251; Peter von Tiling, Zur Dienstherrnfähigkeit der Kirchen, ZevKR 36 (1991), 276 ff., 284; Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, Baden-Baden 2009, S. 106 (Rn. 175); Jörg Winter, Staatskirchenrecht, 2. Aufl., Köln 2008, S. 194. 79 Nähere Begründungen für die Ablehnung der Grundrechtsbindung finden sich bei den in Fn. 78 genannten Autoren Barwig, Bock, Hesse (Weber-Festschrift), Kästner (JuS) und Magen.

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unmittelbare Grundrechtsbindung sei mit der Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften (Art. 137 Abs. 1 WRV) unvereinbar. Da die Kirchen Grundrechtsträger sind, könnten sie nicht zugleich Grundrechtsadressaten sein. Die Autoren, die eine Grundrechtsbindung der Kirchen prinzipiell ablehnen, machen durchweg eine Ausnahme für den Fall, dass die Kirchen „ihnen übertragene Hoheitsbefugnisse ausüben“, „besonders verliehene hoheitliche Aufgaben und Befugnisse“ oder „staatliche Aufgaben wahrnehmen“ oder wenn sie „mit hoheitlichen Aufgaben beliehen“ worden sind. Trotz abweichender Formulierungen dürfte stets das gleiche gemeint sein, wie die angeführten Beispiele (Kirchensteuererhebung, Friedhofsverwaltung, kirchliche Privatschulen) nahe legen. Im Dunkeln bleibt, ob dann, wenn von der Ausübung vom Staat verliehener hoheitlicher Befugnisse die Rede ist, auch die Dienstherrenbefugnisse eingeschlossen sind. Einige der Autoren befürworten die Bindung der Kirchen an das Grundrecht auf Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)80, ein anderer an „die fundamentalen Rechte der Person“81. Mehrere grundsätzliche Gegner der Grundrechtsbindung plädieren – ohne dies zu begründen und zu präzisieren – mit unterschiedlichen Formulierungen für eine Grundrechtsverpflichtung „im Bereich der Dienstherrenbefugnisse“82, „im weltlichen Bereich des Kirchenbeamtenrechts“ 83 oder in Bezug auf „die weltlichrechtliche Seite“ des Kirchenbeamtenverhältnisses84. Demgegenüber betonen andere, eine Grundrechtsbindung finde auch dann nicht statt, wenn die Kirchen zur Wahrnehmung ihrer Angelegenheiten von den öffentlich-rechtlichen Handlungsformen Gebrauch machen85, was im Pfarrerdienst- und im Kirchenbeamtenrecht der Fall ist. Bernd Jeand’Heur/Stefan Korioth86 lehnen eine Grundrechtsbindung der Kirchen zunächst ab mit der Begründung, die Grundrechte seien staatsgerichtet und der Begriff des „für alle geltenden Gesetzes“ in Art. 137 Abs. 3 WRV sei auf Freiheitsgewährleistungen bezogen, setze diese also voraus; die Schrankenformel könne nicht ihrerseits ohne weiteres als Anknüpfungspunkt für die Verortung subjektiver Rechtspositionen Dritter herangezogen werden87. Anders zu sehen sei die Grundrechtsbindung dort, wo 80 Barwig (Fn. 78), S. 244 ff.; Bock (Fn. 11), S. 292 und 314; Kästner (Fn. 78), JuS 1977, 715 ff., 720 und 721; ders. (Fn. 78), Art. 4 Rn. 154, Starck (Fn. 78). Letzterer und Ehlers (Fn. 78) wollen von den Kirchen auch den ordre public beachtet wissen. 81 Bergmann (Fn. 78). 82 Jarass (Fn. 78); Hillgruber (Fn. 78), Rn. 68.1. 83 Unruh (Fn. 78), S. 106 (Rn. 176). 84 von Campenhausen/Unruh (Fn. 78), Art. 137 WRV Rn. 48; von Campenhausen/de Wall (Fn. 78), S. 115; Starck (Fn. 78). 85 Germann (Fn. 78), Art. 140 Rn. 82. 86 Jeand’Heur/Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Stuttgart u. a. 2000. 87 A. a. O., S. 152 (Rn. 212).

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die Religionsgemeinschaften, die den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts haben, von den damit verbundenen öffentlich-rechtlichen Befugnissen Gebrauch machen. Sie träten ihren Mitgliedern in einem „Unter- und Überordnungsverhältnis“ gegenüber. Besonders deutlich sei dies im Bereich der Dienstherrnfähigkeit. Hier führe eine umfassende Grundrechtsbindung angesichts der staatskirchenrechtlichen Verfassungsvorgaben ebenso zu einer unbefriedigenden Lösung möglicher Konflikt wie eine die Interessen der Kirchenbeamten völlig unberücksichtigt lassende Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts88. Die Verfasser schlagen deshalb vor, einen Mittelweg zu beschreiten, der einen schonenden Ausgleich der beiderseitigen Rechtspositionen ermöglichen soll. Er besteht wohl in einer Einzelfallabwägung der kollidierenden Rechtsgüter, wobei zu unterscheiden sein soll, ob das geistliche Amtsverhältnis oder das weltlichrechtliche Dienstverhältnis betroffen ist.89 Claus Dieter Classen90 vertritt die Ansicht, die Grundrechte könnten wegen des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen allenfalls punktuell, und zwar insoweit, wie sie mit dieser Vorgabe nicht kollidieren, und nur im Rahmen ihrer Schutzfunktion zum Tragen kommen. An späterer Stelle91 führt er aus, eine unmittelbar Bindung an staatliche Vorgaben, etwa Art. 33 Abs. 5 GG oder die Grundrechte, bestehe nicht, wenn die öffentlich-rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis begründen. Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Befugnis zur autonomen Regelung des Dienstrechts sei jedoch, dass diese zumindest diejenigen Grundsätze des staatlichen Beamtenrechts achtet, die eine solche Freistellung vom staatlichen Recht sachlich rechtfertigen. Hierzu könne man zwar nicht alle herkömmlich aus der in Art. 33 Abs. 5 GG enthaltenen Garantie des Berufsbeamtentums abgeleiteten Grundsätze rechnen, wohl aber etwa das Leistungsprinzip, die Fürsorgepflicht des Dienstherrn und die Treuepflicht des Beamten, das Alimentations-, das Legalitäts- und das Lebenszeitprinzip.

Im Vergleich mit der breiten Ablehnungsphalanx ist die Zahl der – mehr oder weniger entschiedenen – Befürworter einer Grundrechtsbindung der Kirchen gering. Zu ihnen zählt Klaus Stern. In dem der Grundrechtsbindung der Kirchen gewidmeten Abschnitt seines „Staatsrecht“ 92 stellt er zu Recht fest, es lasse sich nicht leugnen, dass aus der Sicht derjenigen, gegen die „kirchliche Gewalt“ 93 ausgeübt wird, Grundrechtsverletzungen denkbar sind. Die Frage, ob die Kirchen an die Grundrechte gebunden sind, richte sich nicht nach Art. 1 Abs. 3 GG, der nur die staatliche, nicht auch die kirchliche Gewalt meine; maßgeblich sei vielmehr die Auslegung der Schrankenklausel des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV. Sie sei das „Einfallstor der Grundrechte in das kirchliche Wirken“94. Weil die Grund-

88

A. a. O., S. 154 f. (Rn. 215). A. a. O., S. 155 (Rn. 215). Inspiriert wurden diese Überlegungen vermutlich von Hermann Weber; dazu weiter unten. 90 Classen, Religionsrecht, Tübingen 2006, S. 133 (Rn. 321). 91 Classen (Fn. 90), S. 176 (Rn. 425). 92 Stern (Fn. 1). 93 Anführungszeichen auch im Original (S. 1211). 94 A. a. O. (Fn. 1), S. 1220. 89

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rechte nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar geltendes Recht sind, gehörten sie zu dem für alle geltenden Gesetz. Inwieweit sie aber gegenüber dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht Bindungswirkung entfalten, müsse in den Rahmen der staatskirchenrechtlichen Grundsatzaussagen eingeordnet werden. Dies erfordere Differenzierungen zum einen in Hinblick auf die Grundrechte selbst und zum anderen auf die Art der kirchlichen Tätigkeit. In Hinblick auf die Grundrechte selbst unterscheidet Stern95 zwei Arten: Bestimmte Grundrechte seien so sehr staatsbezogen, dass eine Bindung der Kirchen und anderer öffentlich-rechtlicher Religionsgesellschaften ihrem „Wesen nach“ (Art. 19 Abs. 3 GG) ausschieden. In Hinblick auf die Art der kirchlichen Tätigkeit differenziert der Jubilar96 zwischen drei Kategorien: Bei der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt (Steuerrecht, Bestattungswesen) seien die Kirchen zweifelsfrei an die Grundrechte gebunden. Bei der Betätigung im Bereich von Glaube und Dogma sei dies nicht der Fall. Bei der Betätigung in jenen Grenzbereichen, in denen das kirchliche Wirken das forum internum verlasse und in den weltlichen Raum übergreife, bedürfe es einer Abwägung zwischen dem umfassenden Geltungsanspruch der Grundrechte und der kirchlichen Eigenständigkeit. Kirchliches Selbstbestimmungsrecht und Grundrechte müssten zu optimaler Wirksamkeit gebracht werden. Wolle man eine Leitlinie aufstellen, lasse sich nur sagen, dass Grundrechtsbindung ausscheidet, wenn dadurch das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im Kern getroffen wird. Je weiter sich das kirchliche Wirken von diesem Kernbereich entferne und in die Grenzzonen weltlicher Beachtlichkeit bewege, desto stärker müsse die Einwirkung der Grundrechte ausfallen97. In diesem Grenzbereich angesiedelt seien vor allem die kirchlichen Beamten- und Arbeitsverhältnisse, das kirchliche Schul- und Hochschulwesen, die Tätigkeit der kirchlichen Einrichtungen und die „äußeren“ Belange der kirchlichen Mitgliedschaft. Für die Bindung der Kirchen an die Grundrechte im kirchlichen Dienstrecht hat sich schon sehr früh Eduard Wufka98 ausgesprochen. Bei öffentlich-rechtlicher Ausgestaltung der Dienstverhältnisse nähmen die Kirchen zwar eine eigene (und keine staatliche) Aufgabe wahr, verwendeten dabei aber Mittel, die an sich dem Staat vorbehalten seien, der sie in Art. 137 Abs. 5 WRV den Kirchen verfassungskonstitutiv zuerkannt habe. Der Staat, der selbst Grundrechtsadressat sei, könne einer nicht in seinen Organisationsbereich eingegliederten Körperschaft solche Privilegien, die sich für die Betroffenen als öffentliche Gewalt auswirkten, nicht ohne das Korrelat der Grundrechtsbindung überantworten. Die Grundrechtsgebundenheit sei jeder öffentlichen Gewalt immanent. Das folge aus Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG. Die Privilegien des Art. 137 Abs. 5 WRV seien daher in ihrem Wesen „grundrechtsbehaftet“. Diesen Ausführungen ist, wie sich später zeigen wird, weitgehend zuzustimmen. 95 96 97 98

201.

A. a. O. (Fn. 1), S. 1220 f. A. a. O. (Fn. 1), S. 1221 ff. A. a. O. (Fn. 1), S. 1223. Wufka, Art. 33 V GG und das kirchliche Dienstrecht, ZevKR 16 (1971), 190 ff.,

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Zugunsten einer Öffnung der Kirchen hin zu den Grundrechten hat ebenfalls schon sehr frühzeitig Johann Frank99 plädiert. Die kirchliche Rechtsordnung könne die Grundrechte jedenfalls nicht vollständig ignorieren. Ebenso wie die Grundrechte der staatlichen Beamten unterlägen auch die Grundrechte der Pfarrer und kirchlichen Beamten bestimmten Einschränkungen100. Das veranschaulicht der Autor anhand der Art. 3 Abs. 1 und 2, Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 4 GG. Unter Bezugnahme auf Frank schreibt Mainusch101, grundsätzlich blieben die Kirchen auch im Bereich des Pfarrerdienstrechts an die Schranken des für alle geltenden Gesetzes gebunden. Diese würden primär durch einfachgesetzliche Regelungen konkretisiert, die in der Regel zugleich auch den Schutz grundrechtlich gesicherter Rechtspositionen gewährleisteten. Soweit das nicht der Fall ist, werde man entgegen dem Zögern der höchstrichterlichen Rechtsprechung als ultima ratio auch die Grundrechte selbst als für alle geltende Gesetze im Sinne von Art. 137 Abs. 3 WRV ansehen müssen. Im Ergebnis würden jedoch nur ein Kernbestand von Grundrechten (Schutz der Menschenwürde, Willkürverbot, Anspruch auf rechtliches Gehör) sowie grundlegende rechts- und sozialstaatliche Erfordernisse das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen begrenzen können. Nach den dogmatisch wenig klaren Ausführungen Horst Säckers102 wird das kirchliche Selbstbestimmungsrecht durch „das für alle geltende, fundamentale Recht“ begrenzt, zu dem er wohl „nur bestimmte bedeutende Grundrechtsverbürgungen“, wie etwa Art. 1 Abs. 1 GG, zählt. Besonders eindringlich hat sich Hermann Weber103 dem Problem gewidmet. Ähnlich wie der Jubilar unterscheidet Weber mehrere Bereiche (Bereichslehre): (1) Im kircheninternen Bereich104 bestehe keine – auch keine eingeschränkte – Grundrechtsbindung kraft staatlichen Rechts105. (2) Soweit die Kirchen mit ihrer Tätigkeit in den durch das „für alle geltende Gesetz“ definierten Bereich hinausgriffen, seien sie wie jedes andere Rechtssubjekt an die Grundrechte gebunden; ein Rückgriff auf die Grundrechte selbst werde allerdings in der Regel kaum nötig sein, weil diese in den „für alle geltenden

99

Frank (Fn. 24), S. 686–696. Das betont auch Martin Pabst, Zum Rechtsschutz im kirchlichen Amtsrecht, ZevKR 17 (1972), 116 ff., 126. 101 Mainusch (Fn. 14), ZevKR 47 (2002), 1 ff., 22. 102 Horst Säcker, Die Grundrechtsbindung der kirchlichen Gewalt, DVBl. 1919, 5 ff., 10. 103 Hermann Weber, Die Grundrechtsbindung der Kirchen, ZevKR 17 (1972), 386 ff.; Grundrechtsbindung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, HdbStKirchR, 2. Aufl., Berlin 1994, Bd. I, S. 573 ff.; Bindung der Kirchen an staatliche und innerkirchliche Grundrechte und das Verhältnis der Grundrechtsgewährleistungen zueinander, ZevKR 42 (1997), 282 ff. Die folgende Darstellung orientiert sich an der zuletzt genannten Abhandlung, die frühere Äußerungen teilweise korrigiert. s. dort die Zusammenfassung, S. 314. 104 Was diesen Bereich ausmacht, stellt Weber auf S. 285 dar. 105 Auf einem anderen Blatt steht, dass die staatlichen Grundrechte nach Ansicht des Autors von den Kirchen rezipiert werden können, worauf hier leider nicht eingegangen werden kann. 100

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Gesetzen“ ihren Niederschlag gefunden hätten. (3) Soweit die Kirchen bei der Wahrnehmung eigener Angelegenheiten von den ihnen mit der Korporationsqualität angebotenen Hoheitsbefugnissen Gebrauch machten, seien sie in gleicher Weise wie der Staat an die Grundrechte gebunden. (4) Unproblematisch sei die Grundrechtsbindung schließlich dort, wo die Kirchen Staatsaufgaben mit hoheitlichen Mitteln wahrnähmen.

IV. Die Geltung von Grundrechten im Pfarrerdienstverhältnis Nach diesem Überblick über den Stand der Diskussion wenden wir uns der Frage zu, ob die Kirchen bei der Ausgestaltung des Pfarrerdienstverhältnisses an die Grundrechte gebunden sind und ob sich die Pfarrer kirchlichen Maßnahmen gegenüber auf Grundrechte berufen können. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es der Besinnung auf die verfassungsrechtlichen Fundamente der kirchlichen Existenz und des kirchlichen Wirkens in der Welt. Diese Fundamente sind neben Art. 4 GG der Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 WRV106. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Abs. 3 und 5 des Art. 137 WRV, also Selbstbestimmungsrecht und Korporationsstatus. 1. Pfarrerdienstverhältnis und kirchliches Selbstbestimmungsrecht (Art. 137 Abs. 3 WRV)

a) Kirchliches Selbstbestimmungsrecht und Ämterhoheit Art. 137 Abs. 3 WRV bestimmt, dass jede Religionsgesellschaft ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ordnet und verwaltet (Satz 1) und dass sie ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde verleiht (Satz 2). Diese Garantie kommt – das ist unstreitig – sowohl den korporierten als auch den privatrechtlich verfassten Religionsgemeinschaften zugute. Die Vorschrift gewährleistet den Religionsgemeinschaften das Recht, ihre Angelegenheiten zu ordnen und zu verwalten. Wie der Kreis der eigenen Angelegenheit abzugrenzen ist, ist streitig, bedarf hier aber keiner Erörterung. Denn der Satz 2 des Art. 137 Abs. 3 WRV stellt klar, dass dazu das Ämterwesen der Religionsgemeinschaften gehört. Inhaber von Ämtern der Religionsgemeinschaften sind sowohl deren Organwalter als auch deren Pfarrer, Kirchenbeamte und privatrechtlich beschäftigte Arbeitnehmer.

106 Im Folgenden wird darauf verzichtet, dem Art. 137 WRV jeweils den Art. 140 GG hinzuzufügen.

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b) Das Ordnen und Verwalten der kirchlichen Ämter Die Religionsgemeinschaften sind aufgrund des Selbstbestimmungsrechts befugt, ihre Ämter zu ordnen und zu verwalten107. Das Ordnen geschieht durch den Erlass abstrakt-genereller Regeln. So kann beispielsweise bestimmt werden, welche Organe und Ämter es geben soll, welche Anforderungen an die Amtsinhaber gestellt werden sollen, unter welchen Voraussetzungen sie eingestellt, versetzt und entlassen werden können, welche Vergütung sie für ihre Tätigkeit erhalten sollen und ob sie eine Altersversorgung bekommen sollen. Das Verwalten erfolgt durch konkret-individuelle Maßnahmen, und zwar in der Regel in Vollzug der zuvor gesetzten generell-abstrakten Regeln. So wird etwa entschieden, welcher Person ein bestimmtes Amt übertragen werden soll, ob ein bestimmter Amtswalter eingestellt, versetzt oder entlassen werden soll, ob ihm Urlaub gewährt werden soll usw. Darüber hinaus umfasst der Begriff des Verwaltens aber auch die Entscheidung von Streitigkeiten, die sich aus Maßnahmen des Ordnens oder Verwaltens ergeben, z. B. Streitigkeiten darüber, ob die im konkreten Fall getroffene Entscheidung über die Versetzung, Entlassung oder Verweigerung von Urlaub mit den abstrakt-generellen Regeln in Einklang steht. c) Die Instrumente für das Ordnen und Verwalten der Ämter aufgrund von Art. 137 Abs. 3 WRV Um ihre Ämter ordnen und verwalten zu können, bedürfen die Religionsgemeinschaften eines dafür geeigneten Instrumentariums, das ihnen die Rechtsordnungen zur Verfügung stellen muss. In dieser Hinsicht besteht ein sehr gewichtiger Unterschied zwischen den privatrechtlich verfassten Religionsgemeinschaften einerseits und den Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, andererseits: Während die korporierten Religionsgemeinschaft, also insbesondere die Kirchen, sich sowohl des privatrechtlichen als auch des öffentlich-rechtlichen Instrumentariums bedienen können (und dies auch tun), stehen den privatrechtlich verfassten Religionsgemeinschaften ausschließlich die Gestaltungsmittel des Privatrechts zu Gebote, die im Folgenden kurz dargestellt werden sollen108. Zur abstrakt-generellen Ordnung können beispielsweise Satzungen und sonstige Beschlüsse der Organe (Vorstand, Mitgliederversammlung) sowie normset107 Dazu eingehend Georg Neureither, Recht und Freiheit im Staatskirchenrecht, Berlin 2002, S. 166 ff. 108 Auf das öffentlich-rechtliche Instrumentarium wird unten sub 2. b) eingegangen werden.

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zende Vereinbarungen eingesetzt werden. In der Privatwirtschaft werden die für die Arbeitsverhältnisse maßgebenden Regelungen in der Regel durch Tarifverträge festgesetzt, die von den Arbeitgebern einerseits und den Gewerkschaften andererseits abgeschlossen werden. Die evangelischen Kirchen (ebenso die katholische Kirche) lehnen für sich (nicht auch für andere) den Abschluss von Tarifverträgen ab und haben stattdessen den sog. Dritten Weg109 beschritten. Nach ständiger Rechtsprechung der Gerichte für Arbeitssachen umfasst die den Religionsgemeinschaften zustehende Freiheit bei der Ordnung ihrer Angelegenheit auch die inhaltliche Ausgestaltung der kirchlichen Arbeitsverhältnisse durch die auf diesem Dritten Weg zustande gekommenen Arbeitsrechtsregelungen110. Die kirchlichen Regelungen, die Inhalt, Abschluss und Beendigung von Arbeitsverhältnissen betreffen, werden von Arbeitsrechtlichen Kommissionen beschlossen (§ 2 Abs. 2 ARRG-EKD), die sich aus Vertretern der Kirche und ihrer Beschäftigten zusammensetzen (§§ 4 und 5 ARRG-EKD). Es dürfen kraft innerkirchlichen Rechts nur solche Arbeitsverträge abgeschlossen werden, die den auf diesen Beschlüssen und Entscheidungen beruhenden Regelungen entsprechen (§ 3 Satz 2 ARRG-EKD)111. Diese abstrakt-generellen kirchlichen Regelungen der Arbeitsbedingungen sind – ebenso wie Tarifverträge – nicht aus sich heraus für die einzelnen Arbeitsverhältnisse maßgebend, sondern bedürfen der Inbezugnahme in den einzelnen Arbeitsverträgen112. Soweit die Religionsgemeinschaften nicht selbst Regelungen treffen, gilt für sie das Privatrecht bzw. für die arbeitsrechtlichen Beziehungen das Arbeitsrecht. Das Verwalten der kirchlichen Ämter kann ebenfalls ausschließlich mittels privatrechtlicher Instrument vorgenommen werden: durch Abschluss und (ordentliche oder außerordentliche) Kündigung des Arbeitsvertrages, Ausübung des Direktionsrechts des Arbeitgebers, Abmahnung bei Fehlverhalten usw.

109 Vgl. das Arbeitsrechtsregelungsgesetz der EKD (ARRG-EKD) vom 10.11.1988 (ABl. EKD, S. 366), geändert durch Kirchengesetz vom 6.11.2003 (ABl. EKD, S. 414). 110 BAG, Urteil vom 25.3.2009 – 7 AZR 710/07, juris Rn. 29. 111 Derartige Regelungen enthalten die Dienstvertragsordnung der EKD (DVO.EKD) vom 19.12.1989 (ABl. EKD 1990, 201) i. d. F. vom 25.8.2008 (ABl. EKD, S. 341), zuletzt geändert am 19.5.2010 (ABl. EKD, S. 263), und die Arbeitsvertragsrichtlinie für Einrichtungen, die dem Diakonischen Werk der EKD angeschlossen sind (AVR), Stand: 1.10.2010 (Beilage zum ABl. EKD Heft 11/2010). 112 BAG, Urteil vom 11.10.2006 – 4 AZR 354/05, juris Rn. 40: „Das säkulare Recht ordnet für kirchliche Arbeitsrechtsregelungen keine unmittelbare und zwingende Geltung an. Auch aus dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften (Art. 140 GG, Art. 137 Abs. 3 WRV) lässt sich eine normative Geltung kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen nicht herleiten . . . Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ermöglicht es, auf dem autonom ausgestalteten Dritten Weg Arbeitsrechtsregelungen zu schaffen. Das säkulare Recht enthält aber keine Bestimmung, welche die normative Wirkung so entstandener kirchlicher Arbeitsrechtsregelungen im weltlichen Raum anordnet.“ Das ist allerdings nicht unstreitig, vgl. Gregor Thüsing (Fn. 75), S. 119 ff. m.w. N.

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Auch für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten stehen den Religionsgemeinschaften ausschließlich die Instrumente zu Gebote, über die Private auch sonst verfügen, insbesondere die Einrichtung von Schiedsgerichten, denen sich die am Streite Beteiligten unterwerfen können, aber nicht müssen. Eine kirchliche Gerichtsbarkeit, wie sie die katholische und die evangelischen Kirchen eingerichtet haben, kann auf dieser Grundlage nicht geschaffen werden; dazu sind nur die korporierten Religionsgemeinschaften kraft der ihnen verliehenen Hoheitsgewalt in der Lage. Von diesem (abstrakt-generellen und konkret-individuellen) Instrumentarium können auch die korporierten Religionsgemeinschaften, insbesondere die Kirchen, Gebrauch machen, und sie tun das auch: Der weitaus größte Teil der kirchlichen Mitarbeiter steht in einem Arbeitsrechtsverhältnis und nur eine relativ kleine Minderheit in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis. Zu dieser Minderheit zählen die Pfarrer und Kirchenbeamten. d) Die Grundrechtsbindung der Kirche bei privatrechtlicher Ausgestaltung des Pfarrerdienstverhältnisses Soweit die Kirchen die Rechtsverhältnisse ihrer Bediensteten privatrechtlich ausgestaltet haben, müssen sie sich gemäß Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ halten. Damit stellt sich die Frage, ob die Grundrechte zu diesen Gesetzen zählen. aa) Der Begriff des für alle geltenden Gesetzes Was unter den „für alle geltenden Gesetzen“ im Sinne von Art. 137 Abs. 3 WRV zu verstehen ist, ist seit jeher umstritten113. Einverständnis besteht immerhin darüber, dass solche Rechtsvorschriften nicht dazu gehören, die den Religionsgemeinschaften Beschränkungen auferlegen, denen andere Rechtsgenossen nicht unterworfen sind. Unbestritten ist ferner, dass die Kirchen sich wie jedermann an das bürgerliche Kauf-, Miet- und Pachtrecht, an das öffentliche Bau- und Immissionsschutzrecht114 sowie an das Straßenverkehrsrecht zu halten haben. Nach unangefochte113 Stefan Korioth, in: Maunz/Dürig (Rn. 78), Art. 137 WRV Rn. 48 (Stand: Febr. 2003), konstatiert nach einem Überblick über die unterschiedlichen Meinungen, der gegenwärtige Stand der Diskussion lasse bei der Konkretisierung des „für alle geltenden Gesetzes“ weder eine einheitliche noch eine herrschende Meinung erkennen. 114 Vgl. BVerwG, Urteil vom 7.10.1983, BVerwGE 68, 62 ff., 66: § 22 Abs. 1 Satz 1 BImSchG ist eine für alle und demzufolge auch für die Kirchen geltende Vorschrift, die das durch das Selbstbestimmungsrecht (Art. 137 Abs. 3 WRV) gewährleistete Recht der Kirchen, die Glocken aus liturgischen Gründen zu läuten, beschränkt.

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ner ständiger Rechtsprechung des BAG115 gehören zu den für alle geltenden Gesetzen auch die zwingenden Vorschriften des staatlichen Arbeitsrechts, vor allem die Kündigungsschutzvorschriften (§ 1 KSchG, § 626 Abs. 1 BGB). bb) Die Grundrechte – für alle geltenden Gesetze? Der Jubilar vertritt in seinem „Staatsrecht“ die Ansicht, die Frage, ob die Kirchen an die Grundrechte gebunden sind, richte sich nicht nach Art.1 Abs. 3 GG, der nur die staatliche, nicht auch die kirchliche Gewalt meine; maßgeblich sei vielmehr die Auslegung der Schrankenklausel des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV. Sie sei das „Einfallstor der Grundrechte in das kirchliche Wirken“116. Weil die Grundrechte nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar geltendes Recht sind, gehörten sie zu dem für alle geltenden Gesetz. Inwieweit sie aber gegenüber dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht Bindungswirkung entfalten, müsse in den Rahmen der staatskirchenrechtlichen Grundsatzaussagen eingeordnet werden. Dies erfordere Differenzierungen in Hinblick auf die Grundrechte selbst und auf die Art der kirchlichen Tätigkeit. Demgegenüber hat Konrad Hesse117 bereits im Jahre 1974 die Auffassung vertreten, die Grundrechte seien keine „für alle geltenden Gesetze“. „Denn diese meinen nicht Rechte, sondern allgemeine Begrenzungen, also Pflichten; als solche können Grundrechte nicht verstanden werden, ohne in ihr Gegenteil verkehrt zu werden.“ Die Richtigkeit dieser Behauptung hängt von der Perspektive ab, aus der man die Grundrechte betrachtet. Sie begründen einerseits (Abwehr-)Rechte, andererseits aber damit korrespondierende (Unterlassungs-)Pflichten. Beruft sich die Kirche auf die Grundrechte, um sich gegen Eingriffe des Staates zur Wehr zu setzen, so begründen die Grundrechte aus dem Blickwinkel der Kirche Rechte, aus der Perspektive des Staates hingegen Pflichten. Hier geht es jedoch um eine andere „Schlachtordnung“, nämlich darum, dass sich ein Pfarrer auf Grundrechte beruft, um sich gegen eine Maßnahme seiner Kirche zu wehren. Bei dieser Konstellation begründen die Grundrechte für die Kirche nicht Rechte, sondern (Unterlassungs-)Pflichten und können deshalb sehr wohl die kirchliche Handlungsfreiheit beschränken. Die Argumentation Hesses geht deshalb fehl.

115

s. o. III 4. Stern (Fn. 1), S. 1220. 117 Hesse, Grundrechtsbindung der Kirchen? (Fn. 78), S. 447 ff., 456. Zustimmend Bock (Fn. 11), S. 291 f.; Barwig (Fn. 78), S. 227 f.: Die staatlichen Rechtsnormen, die unter die Schrankenklausel fallen, seien nicht Rechte, sondern Pflichten, also Beschränkungen. Im Gegensatz dazu stünden die Grundrechte. Da sie nicht als Begrenzungen, als Pflichten, sondern als Rechte zu begreifen seien, könnten sie nicht als Schranken im Sinne des Art. 137 Abs. 3 verstanden werden. 116

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Zweifelhaft ist indessen, ob sich die Grundrechte als für alle geltende Gesetze qualifizieren lassen. Das wird man verneinen müssen. Denn die Grundrechte wenden sich ausweislich des Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar ausschließlich an die Träger öffentlicher Gewalt. Sie sind daher keine „für alle geltenden Gesetze“ im Sinne von Art. 137 Abs. 3 WRV118. Daran vermag nichts der Umstand zu ändern, dass den Grundrechten über die Abwehrfunktion hinaus weitere Funktionen zugeschrieben werden, wie Klaus Stern erst kürzlich erneut eindrucksvoll dargestellt hat119. cc) Die Geltung der Grundrechte für privatrechtlich beschäftige Pfarrer Daraus folgt, dass sich privatrechtlich angestellte Pfarrer120 gegenüber Maßnahmen ihrer Kirche nicht unmittelbar auf die Grundrechte berufen können. Der Schutz ihrer Grundrechte wird durch das Arbeitsrecht, insbesondere durch die kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG; § 626 Abs. 1 BGB) bewirkt. 2. Pfarrerdienstverhältnis und Körperschaftsstatus

a) Der Körperschaftsstatus der evangelischen Kirchen Die der EKD angehörenden evangelischen Kirchen sind – wie die katholische Kirche und eine Reihe weiterer Religionsgemeinschaften – Körperschaften des öffentlichen Rechts (Art. 137 Abs. 5 WRV). Was es damit auf sich hat, war Gegenstand zahlreicher eingehender Untersuchungen121 und braucht hier nicht im Einzelnen erörtert zu werden. Der ganz herrschenden Meinung zufolge werden den Kirchen mit dem Körperschaftsstatus122 unmittelbar bestimmte hoheitliche Befugnisse übertragen, deren sie sich bedienen können, aber nicht müssen, nämlich das Besteuerungsrecht (das Recht, von den Mitgliedern Steuern zu erheben),

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So auch Germann (Fn. 78), Art. 140 Rn. 44; Unruh (Fn. 78), S. 106 (Rn. 176). Stern, in: ders./Becker (Fn. 9), Einleitung Rn. 38–81 (S. 20–36). 120 Zur Rechtsstellung der privatrechtlich angestellten Pfarrer s. Klostermann (Fn. 18), ZevKR 55 (2010), 249 ff., 258 ff. 121 s. etwa Magen (Fn. 78); Paul Kirchhof, Die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1994, S. 651 ff. 122 BVerfG, Urteil vom 19.12.2000, BVerfGE 102, 370 ff., 388 (Zeugen Jehovas). Grundlegend Weber (Fn. 103), ZevKR 42 (1997), 282 ff., insbes. 287 ff.; von Tiling (Fn. 78), ZevKR 36 (1991), 276 ff., 284. – Demgegenüber vertritt Bock (Fn. 11), S. 265, die Ansicht, verfassungsrechtlich sei die Dienstherrenfähigkeit in Art. 137 Abs. 3 WRV zu verankern. Das trifft nicht zu. Da diese Vorschrift auch für die privatrechtlich verfassten Religionsgemeinschaften gilt, hätte dies zur Folge, dass auch sie Beamte haben können; das wird jedoch zu Recht abgelehnt. 119

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die Organisationsgewalt (die Befugnis, öffentlich-rechtliche Untergliederungen und andere Institutionen mit Rechtsfähigkeit zu bilden), die Dienstherrenfähigkeit (das Recht, öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse zu begründen), die Rechtsetzungsbefugnis (die Berechtigung, eigenes Recht zu setzen), das Widmungsrecht (die Befugnis, durch Widmung kirchliche öffentliche Sachen zu kreieren) und das Parochialrecht (die Befugnis, die Zugehörigkeit eines Mitgliedes zu einer Gemeinde allein von der Wohnsitznahme abhängig zu machen)123. Von Bedeutung ist hier vor allem die Dienstherrenfähigkeit. Die Verleihung des Körperschaftsstatus hat keinen Einfluss auf den Aufgabenbereich der Kirchen. Dieser wird nicht durch den Abs. 5 des Art. 137 WRV, sondern durch dessen Abs. 3 umschrieben. Auch die korporierten Religionsgemeinschaften sind grundsätzlich darauf beschränkt, ihre eigenen Angelegenheiten zu ordnen und zu verwalten. Durch die Verleihung des Körperschaftsstatus werden den Kirchen keine staatlichen Aufgaben übertragen124; das unterscheidet die kirchlichen von den weltlichen Körperschaften des öffentlichen Rechts. Um das – häufig missverstandene – Verhältnis der Abs. 3 und 5 des Art. 137 WRV auf eine kurze Formel zu bringen: Abs. 3 besagt, was die Religionsgemeinschaften ordnen und verwalten dürfen, Abs. 5 bestimmt, wie sie das (auch) tun dürfen, nämlich unter Zuhilfenahme hoheitlicher Gestaltungsmittel. b) Die Instrumente für das Ordnen und Verwalten der kirchlichen Ämter aufgrund von Art. 137 Abs. 5 WRV Das bedeutet für die Ordnung des Ämterwesens, dass die korporierten Religionsgemeinschaften die Rechtsverhältnisse der Pfarrer und Kirchenbeamten in der gleichen Weise normieren können, wie das der Bund und die Länder für deren Beamte tun. Die entsprechenden abstrakt-generellen kirchlichen Regelungen (insbesondere die Pfarrer- und Kirchenbeamtengesetze) gestalten mit unmittelbarer Wirkung die einzelnen Dienstverhältnisse. Die öffentlich-rechtliche Ausgestaltung der Dienstverhältnisse hat zur Folge, dass das staatliche Arbeitsrecht und das Sozialversicherungsrecht verdrängt werden. Bei der Ämterverwaltung schlägt sich das Hoheitliche darin nieder, dass das Mitarbeiterverhältnis nicht durch Vertrag, sondern durch (allerdings zustimmungsbedürftigen) kirchlichen Verwaltungsakt zustande kommt und auf diese Weise auch verändert werden kann. An die Stelle der Kündigung und des Aufhebungsvertrages tritt die Entlassung. Die Pfarrer und Kirchenbeamten unterliegen 123 So das BVerfG in seinem Zeugen Jehovas-Urteil vom 19.12.2000, BVerfGE 102, 370 ff., 371. Ähnliche Kataloge bei Kirchhof (Fn. 121), S. 651 ff., 670 ff.; Magen (Fn. 78), S. 30 f.; von Campenhausen/Unruh, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Fn. 78), Art. 137 WRV Rn. 218 ff. 124 Das betont auch das BVerfG, a. a. O. (Fn. 123), S. 387.

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der Disziplinargewalt ihrer Kirchen in ganz ähnlicher Weise wie die Staats- und Kommunalbeamten. Auch hier umfasst die Befugnis zum Verwalten das Recht zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten. Da die korporierten Kirchen mit Hoheitsgewalt ausgestattet sind, können sie zu diesem Zweck kircheneigene Gerichte unterhalten, die in den kirchengesetzlich festlegten Streitfällen zur Streitentscheidung berufen sind, ohne dass sich die Streitbeteiligten im Einzelfall der Entscheidung unterwerfen müssten. c) Die Grundrechtsbindung der Kirchen bei öffentlich-rechtlicher Ausgestaltung des Pfarrerdienstverhältnisses aa) Die Nutzung der Dienstherrenbefugnisse als Ausübung öffentlicher Gewalt Bei der Nutzung der sich aus ihrer Dienstherrnfähigkeit ergebenden Befugnisse üben die Kirchen öffentliche Gewalt aus. Die Ausübung öffentlicher Gewalt besteht in der einseitigen Regelung, wie sie sich insbesondere im Gesetz und im Verwaltungsakt manifestiert. Von beiden Gestaltungsmitteln machen die Kirchen üppigen Gebrauch, wie ein Blick in die voluminösen Vorschriftensammlungen der EKD und ihrer Gliedkirchen belegt. Umfangreiche Teile sind darin den Rechtsverhältnissen der Pfarrer und Kirchenbeamten gewidmet. Beachtlich ist auch die Produktion kirchlicher Verwaltungsakte125. Geregelt ist das kirchliche Verwaltungsverfahren nunmehr durch das Verwaltungsverfahrens- und -zustellungsgesetz der EKD vom 28.10.2009126 in enger, großenteils wörtlicher Anlehnung an das Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes. bb) Die Dienstherrenbefugnisse als vom Staat verliehene öffentliche Gewalt Diese Hoheitsbefugnisse sind den Kirchen vom Staat verliehen worden. Das hat in besonders eindringlicher Weise Hermann Weber in seinen bereits früher erwähnten drei der Grundrechtsbindung der Kirchen gewidmeten Abhandlungen

125 Rainer Mainusch, Rechtsprobleme des kirchlichen Verwaltungsverfahrens, ZevKR 50 (2005), 16 ff., eröffnete vor wenigen Jahren einen Aufsatz mit den Worten, Tag für Tag erließen die ev. Landeskirchen und die ihrer Aufsicht unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen Hunderte von Verwaltungsakten. Bei der EKD, ihren gliedkirchlichen Zusammenschlüssen, den katholischen Diözesen und den anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts besitzen, sehe es nicht anders aus. 126 ABl. EKD, S. 334, berichtigt am 15.10.2010, ABl. EKD, S. 296.

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dargestellt127. Demgegenüber meint Konrad Hesse128, wenn den Kirchen durch Art. 137 Abs. 5 WRV der Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zuerkannt wird, bedeute das die – freilich nicht vorbehaltslose – Anerkennung kirchlicher öffentlicher Gewalt und der von ihr getroffenen Regelungen in und gegenüber dem staatlichen Recht, nicht aber Delegation staatlicher Hoheitsgewalt. Das überzeugt nicht. Unter der Herrschaft des Grundgesetzes besitzt ausschließlich der Staat originäre öffentliche Gewalt. Entgegen der in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vertretenen Koordinationslehre verfügen die Kirchen nicht über eine eigene Hoheitsgewalt129. Sie sind „von Hause aus“ Grundrechts-, nicht Hoheitsträger. Hoheitsrechtliche Befugnisse sind ihnen entweder unmittelbar durch Art. 137 Abs. 5 WRV i.V. m. Art. 140 GG, also durch staatliches Gesetz, verliehen worden oder werden ihnen durch Hoheitsakte der heute dafür zuständigen Länder übertragen. Unzutreffend ist auch die Behauptung Hesses, die Annahme, dass kirchliche Rechtsverhältnisse – wie die der Geistlichen und Kirchenbeamten – auf staatlich delegiertem Recht beruhen, komme einer partiellen Außerkraftsetzung des Art. 137 Abs. 3 WRV gleich. Das ist deshalb nicht richtig, weil den Kirchen durch die staatliche Verleihung von Hoheitsrechten nichts genommen, sondern etwas gegeben wird. Ihr Wirkungsbereich wird dadurch in keiner Weise eingeschränkt, sondern es wird ihnen – im Gegenteil – die Möglichkeit eröffnet, ihre selbst definierten Angelegenheiten wirksamer, nämlich mit hoheitlichen Mitteln, wahrzunehmen. Auf den Spuren Hesses ist in jüngerer Zeit vor allem Gunter Barwig130 gegen die Grundrechtsbindung der Kirchen zu Felde gezogen. Die Zuerkennung der Korporationsqualität bedeute keine Delegation staatlicher Hoheitsgewalt, sondern sie erkenne die originäre öffentliche Kirchengewalt und die von ihr erlassenen Regelungen und Maßnahmen lediglich an131. Eine Grundrechtsbindung sei auch mit dem Grundsatz der Trennung von Staat und Kirche (Art. 137 Abs. 1 WRV) nicht vereinbar; denn er lasse es nicht zu, dass die Kirchen eigene Angelegenheiten mit Befugnissen wahrnehmen, die als delegierte staatliche Gewalt angesehen werden132. Die Annahme, die körperschaftlichen Befugnisse seien als staatlich delegiert anzusehen, führe zur Aushöhlung und teilweisen Außerkraftsetzung der 127 Nachweise oben Fn. 103. Dort finden sich bereits fast alle die Argumente, die im Folgenden angeführt werden. Es fehlt allerdings der Brückenschlag zu Art. 1 Abs. 3 GG. 128 Hesse, FS für W. Weber (Fn. 78), S. 447 ff., 458 f. 129 Eingehend Georg Neureither (Fn. 107), S. 41 ff., insbes. S. 52 ff. (Koordinationssystem), und S. 300 ff.; Magen (Fn. 78), S. 45 ff., jeweils m.w. N. 130 Barwig (Fn. 78), S. 96 ff. 131 Barwig (Fn. 78), S. 102 f. 132 Barwig (Fn. 78), S. 105.

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Freiheitsgewährleistungen des Art. 137 Abs. 3 WRV133. Die öffentlich-rechtlichen Befugnisse des Art. 137 Abs. 5 WRV seien Ausdruck der vom Staat anerkannten öffentlichen Kirchengewalt134. Bei Anwendung dieser Annahmen auf die Dienstherrenfähigkeit135 gelangt der Autor zu dem Schluss, diese sei keine abgeleitete staatliche Hoheitsgewalt, sondern kirchliche öffentliche Gewalt, die von Seiten des Staates lediglich anerkannt werde136. Die Einwände Barwigs gegen die Grundrechtsbindung basieren überwiegend auf der bereits zurückgewiesenen These, die Kirchen verfügten über eine originäre „Kirchengewalt“, die ihnen ohne staatliche Ermächtigung die Ausübung von Hoheitsgewalt gestatte. Dass das Trennungsgebot des Art. 137 Abs. 1 WRV es den Kirchen verwehrt, ihre eigenen Aufgaben mit vom Staat übertragenen hoheitlichen Befugnissen zu erfüllen, ist nicht nachvollziehbar. Gleiches gilt für die Behauptung, die Annahme, die körperschaftlichen Befugnisse seien als staatlich delegiert anzusehen, führe zur Aushöhlung und teilweisen Außerkraftsetzung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts. Das Gegenteil ist der Fall, wie soeben bereits dargetan wurde. cc) Die Bindung der korporierten Kirchen an die Grundrechte bei der Ausübung ihrer Dienstherrenbefugnisse durch Art. 1 Abs. 3 GG Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG binden die Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung. Kraft der ihnen durch den Körperschaftsstatus verliehenen Hoheitsgewalt erlassen die korporierten Kirchen förmliche Gesetze und Rechtsverordnungen. Diese werden durch die kirchlichen Behörden durch Erlass von Verwaltungsakten und Vornahme von Realakten vollzogen, und im Falle von Rechtsstreitigkeiten können kirchliche Gerichte angerufen werden, um Rechtsschutz zu erlangen. Dennoch wird die unmittelbare Anwendung des Art. 1 Abs. 3 GG auf die Kirchen abgelehnt mit dem Argument, er meine nur die staatliche öffentliche Gewalt; die Kirchen übten bei Wahrnehmung ihrer Selbstbestimmungsaufgaben mit den Instrumenten des öffentlichen Rechts zwar öffentliche, aber keine staatliche Gewalt aus137. Das überzeugt nicht. Die Begriffstrias Gesetzgebung, vollziehende 133

Barwig (Fn. 78), S. 106 f. Barwig (Fn. 78), S. 110. 135 Barwig (Fn. 78), S. 118 ff. 136 Barwig (Fn. 78), S. 129. 137 BVerfG, Beschluss vom 17.2.1965, BVerfGE 18, 385 ff., 387; Urteil vom 19.12.2000, BVerfGE 102, 370 ff., 388; Beschluss vom 2.9.2008 – 2 BvR 717/08, juris Rn. 5; BVerwG. Urteil vom 27.10.1966, BVerwGE 25, 226 ff., 229; Urteil vom 25.11.1982, BVerwGE 66, 241 ff., 242; Urteil vom 30.10.2002, BVerwGE 117, 145 ff., 147; BAG, Urteil vom 16.9.2004, KirchE 46 (2004), 126 ff. 134

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Gewalt und Rechtsprechung ist nicht organisatorisch, sondern funktionell zu verstehen. Wäre es anders, gäbe es keine „Beliehenen“, also Private, die einzelne staatliche Aufgaben mit hoheitlichen Mitteln eigenverantwortlich wahrnehmen; auch sie üben nach einhelliger Ansicht vollziehende Gewalt im Sinne von Art. 1 Abs. 3 GG aus. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Beliehenen staatliche, die Kirchen bei der Betätigung ihrer Dienstherrenbefugnisse hingegen kirchliche Angelegenheiten wahrnehmen. Nun ist aber kaum plausibel, weshalb gleichartige hoheitliche Eingriffe in Rechte des Bürgers zur Erfüllung staatlicher Aufgaben durch einen Beliehenen grundrechtsgebunden sein sollen, Eingriffe in die Rechte von Pfarrern oder von anderen Personen durch Kirchen hingegen nicht. Ebenso wenig leuchtet es ein, dass sich ein staatlicher oder kommunaler Beamter gegen eine Maßnahme seines Dienstherrn (etwa eine Versetzung) auf Grundrechte berufen kann, einem kirchlichen Beamten oder Pfarrer dies aber verwehrt sein soll. Der Grundsatz nemo plus juris transferre potest quam ipse habet gilt auch hier. Da jede hoheitliche Tätigkeit des Staates ihre Grenzen an den Grundrechten findet, sind auch die Kirchen an die Grundrechte gebunden, wenn sie von den hoheitlichen Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch machen, die ihnen durch den Körperschaftsstatus vom Staat verliehen worden sind. Hinzu kommt: Die Verneinung der Grundrechtsbindung der Kirchen hat zur Konsequenz, dass die der kirchlichen Hoheitsgewalt unterliegenden Kirchenbeamten und Pfarrer gegen Eingriffe in ihre Grundrechte weniger geschützt sind als die privatrechtlich angestellten kirchlichen Bediensteten. Zwar können auch diese sich in der Regel nicht unmittelbar auf die Grundrechte berufen, da das Rechtsverhältnis zwischen ihnen und ihrer Kirche privatrechtlicher Natur ist. Aber sie genießen den Schutz des staatlichen Arbeitsrechts, das auch dem Schutz der Grundrechte der Arbeitnehmer zu dienen bestimmt ist, und sie können rügen, wenn dies ihrer Ansicht nach nicht der Fall ist. Wie oben (III 2, 4 und 6) dargestellt wurde, stellen BVerfG und BAG in Kündigungsschutzprozessen die von der angegriffenen Kündigung tangierten Grundrechte der kirchlichen Arbeitnehmer in die Abwägung mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ein. Der hier vorgeschlagenen Grundrechtsbindung der Kirchen in ihrem Verhältnis zu ihren Pfarrern und Kirchenbeamten kann nicht entgegen gehalten werden, dass die Kirchen selbst Grundrechtsträger sind, nämlich im Verhältnis zum Staat. Grundrechtsberechtigung und Grundrechtsverpflichtung können durchaus in einer Person zusammentreffen; Voraussetzung dafür ist freilich, dass die Grundrechtsberechtigung einer anderen Person gegenüber besteht als die Grundrechtsverpflichtung. So können sich die Universitäten im Verhältnis zur unmittelbaren Staatsverwaltung gegenüber Ingerenzen in Forschung und Lehre auf die Wissenschaftsfreiheit berufen, sind aber im Verhältnis zu den Forschenden selbst grundrechtsgebunden. Die Grundrechtsgeltung wird in derartigen Konstellationen ja-

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nusköpfig138. Ein anderes Beispiel bilden die Beliehenen, die einerseits staatliche Hoheitsgewalt gegen Bürger ausüben, sich andererseits aber dem Staat gegenüber auf Grundrechte berufen können, sofern es dabei um andere Angelegenheiten geht. Hinzuweisen ist ferner darauf, dass die unmittelbare Grundrechtsbindung eine Konsequenz der Entscheidung der Kirchen für die öffentlich-rechtliche Ausgestaltung der Dienstverhältnisse ist, zu der sie keineswegs gezwungen sind. Wenn sie aber die Vorteile des Dienstherrenstatus in Anspruch nehmen, müssen sie auch die damit verbundenen Nachteile in Kauf nehmen. Keine befriedigende Alternative zu der hier befürworteten unmittelbaren Anwendung der Grundrechte bietet Magen139, der stattdessen eine gesteigerte Schutzpflicht des Staates propagiert. Die den korporierten Kirchen verliehene Rechtsetzungsautonomie berechtige diese nicht zum Erlass von Normen, die mit den Schutzgeboten der Grundrechte nicht vereinbar sind. Solche grundrechtswidrigen Normen des eigenständigen Rechts erlangten keine Wirksamkeit im weltlichen Bereich, könnten aber als „geistliches“ Recht fortbestehen140. Mit einem solchen kassatorischen Grundrechtsschutz sei es allerdings dann nicht getan, wenn Normen zum Schutz oder zur Ausgestaltung der Grundrechte positiv notwendig seien. Um dies sicherzustellen, dürften hoheitliche Befugnisse nur dann übertragen werden, wenn der Schutz der Mitglieder und der Bediensteten sichergestellt sei141. Diese Konstruktion, die eine zunächst abgelehnte Grundrechtsbindung gewissermaßen durch die Hintertür dann doch einführt, vermag nicht zu überzeugen. Auch ist nicht ersichtlich, wie der Staat seiner Schutzpflicht nachkommen kann angesichts des Umstandes, dass die Religionsgemeinschaften nach einhelliger Meinung einer staatlichen Aufsicht nicht unterstehen und dem Staat daher keine Aufsichtsmittel zur Verfügung stehen, wenn man von der Möglichkeit des Entzugs des Körperschaftsstatus absieht.

Dies alles spricht dafür, Art. 1 Abs. 3 GG auf solche abstrakt-generellen und konkret-individuellen Maßnahmen anzuwenden, die die (korporierten) Kirchen in Nutzung ihrer Dienstherreneigenschaft vornehmen. Das gilt insbesondere für kirchliche Gesetze, die die Rechtsverhältnisse der Pfarrer und Kirchenbeamten ausgestalten, und für kirchliche Verwaltungsakte, die gegen diese Personen erlassen werden. Falls man eine unmittelbar Anwendung des Art. 1 Abs. 3 GG ablehnt, ist diese Vorschrift jedenfalls analog anzuwenden. Die Voraussetzung für eine Analogie liegen vor: Das System der Grundrechtsbindung weist eine vom Grundgesetzgeber nicht geplante Regelungslücke auf, und die Ausübung kirchlicher Hoheitsgewalt ist bei Berücksichtigung der jeweiligen Interessen, insbesondere aus der Sicht der Pfarrer, gleich zu bewerten. 138 139 140 141

Magen (Fn. Magen (Fn. Magen (Fn. Magen (Fn.

78), S. 134. 78), S. 111 ff., auch S. 245 f. 78), S. 113. 78), S. 114.

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d) Grenzen der Grundrechtsgeltung Die Vorstellung, dass sich die Pfarrer ihrer Kirche gegenüber auf Grundrechte berufen können, verliert seinen möglicherweise bei dem einen oder anderen verursachenden Schrecken, wenn er bedenkt, dass die Grundrechtsausübung in mehrfacher Hinsicht Einschränkungen unterliegt. aa) Ausschluss ausschließlich staatsgerichteter Grundrechte Klaus Stern142 und andere Autoren143 haben bereits darauf aufmerksam gemacht, dass einige Grundrechte derart auf den Staat zugeschnitten sind, dass eine Bindung der Kirchen „ihrem Wesen nach“ (Art. 19 Abs. 3 GG) ausscheidet. Dies gelte – so der Jubilar – zweifelsfrei für Art. 16 und 17 GG, die ihrem Inhalt nach nur den Staat verpflichten könnten. Das wirft keine grundsätzlichen Probleme auf und bedarf deshalb hier keiner weiteren Vertiefung. bb) Grundrechtseinschränkungen durch kirchengesetzliche Vorschriften Der Pfarrer steht in einem Sonderstatusverhältnis zu seiner Kirche – einem Rechtsverhältnis, das dem eines staatlichen oder kommunalen Beamten in vielfältiger Hinsicht gleicht, worauf bereits oben (II.) hingewiesen wurde. Das legt es nahe, bei der Erörterung der Frage, ob die Kirche die Grundrechte der Pfarrer einschränken darf, ähnliche Maßstäbe anzulegen. Nach der heute wohl einhelligen Ansicht ist der Sonderstatus144 des Beamten kein grundrechtsfreier Raum (mehr). Der Beamte kann sich grundsätzlich auch seinem Dienstherrn gegenüber auf Grundrechte berufen145. Einschränkungen sind nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes statthaft. Der Grundrechtsschutz ist abgestuft. Mit Stern146 kann man drei Rechtsebenen unterscheiden: den amtlichen, den dienstlichen und den Privatbereich. Handelt 142

Stern (Fn. 1), S. 1220 f. Weber (Fn. 103), ZevKR 42 (1997), 282 ff., 312 f. Im Anschluss an ihn Barwig (Fn. 78), S. 284 f. 144 Den Ausdruck „besonderes Gewaltverhältnis“, an dem Klaus Stern in seinem „Staatsrecht“ (Bd. III/1, § 74 III, S. 1376–1394: Die Grundrechtsbindung in besonderen Gewaltverhältnissen) noch festhielt, sollte man heute tunlichst vermeiden, weil er Assoziationen (keine Geltung des Gesetzesvorbehalts und der Grundrechte) weckt, die nach der Strafvollzugsentscheidung des BVerfG vom 14.3.1972 (BVerfGE 33, 1 ff.) nicht mehr der geltenden Rechtslage entsprechen. 145 BVerfG, Beschluss vom 22.5.1975, BVerfGE 39, 334 ff., 336: „Der Beamte genießt Grundrechtsschutz.“ Eingehende Darstellungen der Grundrechtsgeltung im öffentlichen Dienst bei Carl Hermann Ule, in: Die Grundrechte, hrsg. von Bettermann und Nipperdey, Bd. IV Halbbd. 2, Berlin 1962, S. 537 ff., 615–641, und bei Helmut Schnellenbach, Beamtenrecht in der Praxis, 6. Aufl., München 2005, S. 155–177. 146 Stern (Fn. 144), S. 1386 f. 143

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der Beamte im Amtsbereich, d.h. nimmt er seine Amtsaufgaben wahr, ist er nicht Grundrechtsberechtigter, sondern Grundrechtsverpflichteter147. Soweit die persönliche Rechtsstellung des Beamten aus dem Dienstverhältnis betroffen ist, ist er grundsätzlich grundrechtsberechtigt, muss sich jedoch Einschränkungen gefallen lassen, soweit sie erforderlich sind, um die Zwecksetzung und Funktionsfähigkeit des öffentlichen Dienstes zu gewährleisten148. Einschränkbar sind auch die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte, wie etwa die Glaubens- und Gewissensfreiheit; die Ermächtigungsgrundlage bildet alsdann der Art. 33 Abs. 5 GG. Der dritte Rechtsbereich im Sinne der von Stern149 vorgenommenen Abstufung liegt außerhalb des Amtes und des Dienstverhältnisses. Hier genießt der Beamte die Grundrechte ungeschmälert wie jede andere Privatperson auch. Für Pfarrer kann im Grundsatz nichts anderes gelten. Die Kirchen sind befugt, die Grundrechte der Pfarrer im Verhältnis zur Kirche einzuschränken150. Von dieser Möglichkeit haben sie seit Jahrzehnten unbeanstandet großzügigen Gebrauch gemacht. Die Pfarrer- und Kirchenbeamtengesetze enthalten eine Fülle von Vorschriften, die mehr oder weniger wörtlich mit den staatlichen Beamtengesetzen übereinstimmen und die Grundrechte der Geistlichen und Kirchenbeamten 147 Stern (Fn. 144), S. 1386; Ulrich Battis, in: Sachs (Fn. 78), Art. 33 Rn. 75 („Als Amtswalter ist der Beamte kein Grundrechtsträger.“); Stefan Werres, Der Beamte als Grundrechtsträger, ZBR 2006, 288 ff., 289. 148 BVerfG, Kammer-Beschluss vom 5.6.2002, ZBR 2002, 353 f. (Koalitionsfreiheit, Art. 9 Abs. 3 GG); Kammer-Beschluss vom 5.6.2002, ZBR 2002, 353 f.: (Trunkenheitsfahrt, Art. 2 Abs. 1 GG); Urteil vom 24.9.2003, BVerfGE 108, 282 ff. (Lehrerin, islamisches Kopftuch, Art. 4 Abs. 1 GG, Glaubensfreiheit); BVerwG, Urteil vom 11.6.1968, BVerwGE 30, 29 ff. (Werbung für Zeugen Jehovas durch Polizeibeamten, Art. 4 Abs. 1 GG); Beschluss vom 8.9.1978, BVerwGE 56, 227 ff., 228 f. (Ablehnung der Mitführung einer Dienstwaffe durch Kripobeamtin, Art. 4 I GG, Gewissensfreiheit); Urteil vom 26.6.1980, BVerwGE 60, 254 ff., 255 f. (Nebentätigkeit, Art. 2 I GG); Urteil vom 25.1.1990, BVerwGE 84, 287 ff. (Polizeibeamter, Ohrschmuck zur Dienstkleidung, Art. 2 Abs. 1 GG); Urteil vom 25.1.1990, BVerwGE 84, 292 ff. (Lehrer, AntiAtomkraft-Plakette, Art. 5 Abs. 1 GG); Urteil vom 29.6.1999, BVerwGE 113, 361 ff. (Weigerung eines Postbeamten, Postsendungen der Scientology Kirche zuzustellen, Art. 4 Abs. 1 GG, Gewissensfreiheit); Urteil vom 24.11.2005, BVerwGE 124, 347 ff. (Richter, Versagung der Nebentätigkeitsgenehmigung, Art. 2 Abs. 1 GG). 149 Stern (Fn. 144), S. 1387. 150 Schon vor gut 40 Jahren schrieb Hermann Weber, die Grundrechte des Pfarrers könnten durch sein Dienstverhältnis zumindest ebenso weit eingeschränkt werden, wie die des Beamten im weltlichen Beamtenverhältnis. Darüber hinaus könne die Kirche zusätzliche Grundrechtseinschränkungen vornehmen, die speziell durch den Charakter des kirchlichen Dienstverhältnisses gerechtfertigt sind. Sie könne etwa das Dienstverhältnis von der Aufrechterhaltung der Zugehörigkeit zur Kirche oder der Bekenntnisbindung abhängig machen und damit das Grundrecht aus Art. 4 einschränken (Weber, Auslegung und Rechtsgültigkeit der Versetzungsbefugnis nach § 71 I c Pfarrergesetz der VELKD, ZevKR 15 (1970), 20 ff., 43 Fn. 76). Weitgehend wörtlich übereinstimmend zwei Jahre darauf Pabst (Fn. 100), ZevKR 17 (1972), 116 ff., 126. In gleichem Sinne Frank (Fn. 24), S. 669 ff., 688, 691; Mainusch (Fn. 14), ZevKR 47 (2002), 1 ff., 23 f.

Die Geltung der Grundrechte

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ebenso stark, teilweise sogar stärker einschränken, als dies die staatlichen Beamtengesetze tun. Dass sich die kirchlichen Gesetzgeber dessen stets bewusst waren, erscheint äußerst fraglich. Es ist an der Zeit, sie dafür zu sensibilisieren. Die Ermächtigung für die Einschränkungen der Grundrechte bietet das ebenfalls mit Verfassungsrang ausgestattete kirchliche Selbstbestimmungsrecht (Art. 137 Abs. 3 WRV)151, dessen Inhalt durch den Körperschaftsstatus nicht angetastet wird, wie oben (IV 2 a) betont wurde. Wenn jene Vorschrift die Kirchen ermächtigt, ihr Ämterwesen eigenverantwortlich zu ordnen, so impliziert dies zwingend die Befugnis, die Grundrechte der Pfarrer und Kirchenbeamten einzuschränken. Alles andere wäre weltfremd. Die Einschränkungsbefugnis findet ihrerseits ihre Grenzen am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Dieser setzt ein legitimes Ziel voraus. Dieses wird man in der Aufrechterhaltung eines geordneten Dienstbetriebes der Kirchen und ihrer Glaubwürdigkeit zu sehen haben. Die Kirchen dürfen daher alle diejenigen Einschränkungen vornehmen, die sie im Interesse ihres Selbstverständnisses um ihrer Glaubwürdigkeit willen und zur Wahrung ihrer Identität für geboten erachten. Wer dies in Rechnung stellt, wird zu dem Schluss kommen, dass mit der Anerkennung der Grundrechtsgeltung für Pfarrer weder das Abendland noch die Kirche in Gefahr gerät. V. Ergebnis und Schlussbemerkung Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass sich die Pfarrer der korporierten evangelischen Kirchen gegenüber ihrer Kirche auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen können, wenn die Kirche von ihren Dienstherrenbefugnissen durch den Erlass von Rechtsvorschriften oder Verwaltungsakten Gebrauch macht. Die Kirchen sind jedoch berechtigt, die Ausübung der Grundrechte unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gesetzlich zu beschränken, um ihr proprium zu wahren. Ich gebe mich nicht der Erwartung hin, alle angeschnittenen Probleme gelöst zu haben. Vor allem die Überlegungen zu den Grundrechtsbeschränkungen bedürfen noch weiterer Vertiefung, für die hier der Raum fehlt.

151 Diese Bestimmung stellt gewissermaßen das Pendant zu Art. 33 Abs. 5 GG dar, der als Ermächtigung für Einschränkungen der Grundrechte der Beamten angesehen wird.

Art. 1 Abs. 3 GG als Schlüsselnorm des grundrechtsgeprägten Verfassungsstaates Von Detlef Merten I. Einleitung Den Herausgebern gebührt Dank für die Edition einer Festschrift zu Ehren des Doyens der deutschen Staatsrechtslehrer, dessen Lebenswerk, insbesondere dessen siebenbändiges Staatsrechts-Lehrbuch im In- und Ausland Ansehen und Anerkennung genießt. Respekt gebührt ihnen auch für die Wahl des Titels, der nicht nur die Fülle der Veröffentlichungen des Jubilars schirmt, sondern in nuce den Staat des Grundgesetzes erfasst. Dass der konstitutionelle Neuanfang im Jahre 1949 einen Rollenwandel der Grundrechte heischte, die nunmehr das Grundgesetz „regieren“ sollten, war schon dem Parlamentarischen Rat1 bewusst. Dennoch charakterisieren Periphrasen wie „Grundrechtsstaat“2, „Grundrechtsrepublik“3 oder „Grundrechtsdemokratie“4 die deutsche res publica nur unzureichend, weil sie deren Staatlichkeit entweder untergewichten, nur ausschnittsweise erfassen oder begrifflich die Verfassungsstaatlichkeit ausblenden, die in den Worten des Jubilars in der „inhaltliche[n] Synthese von Herrschafts- und Freiheitsordnung“5 besteht. Schon in der 1 Abg. Dr. Carlo Schmid (SPD) in der 2. Sitzung des Parlamentarischen Rates vom 8.9.1948, Sten. Ber. S. 8 (14 l.Sp.). 2 Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 88 Fn. 192; Isensee, Das Dilemma der Freiheit im Grundrechtsstaat, Festschrift für M. Heckel, 1999, S. 739; ders., in: Zur Regierbarkeit der parlamentarischen Demokratie, Cappenberger Gespräche, Bd. 14, 1979, S. 25 f.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band IX, 1997, § 202 Rn. 5, S. 9 unten; Jestaedt, in: Journal für Rechtspolitik, 2000, S. 99 (101). 3 So Hufen, in: Hans-Peter Schneider (Hrsg.), Das Grundgesetz in interdisziplinärer Betrachtung, 2001, S. 41; ders., NJW 1999, S. 1504. 4 Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. IV, 1977, S. 622, 655; Gerald Stourzh, Wege zur Grundrechtsdemokratie, 1989; Horst Dreier, Kontexte des Grundgesetzes, DVBl. 1999, S. 667 (669 sub II 1); O. Pfersmann, Rechtstheorie und Grundrechtsdemokratie, in: Geschichte und Recht, Festschrift für Stourzh, 1979, S. 145 ff. 5 Klaus Stern, Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modernen Verfassung, in: Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, Festschrift für Eichenberger, 1982, S. 197 (205); ders., Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, 1984, S. 20 ff.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2. Aufl., 1992, § 108 Rn. 52, 69 sowie 32 ff.; ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, § 72 I 1, S. 1178.

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Weimarer Zeit hatte Carl Schmitt festgestellt, „daß die Art eines Staatswesens durch die Art seiner Grund- und Fundamentalrechte bestimmt wird“6, und in der Tat gewinnt der Verfassungsstaat erst durch die freiheitliche Prägung seine Eigenart. Deren sedes materiae ist eine Grundgesetzbestimmung, die der Jubilar treffend als „Schlüsselnorm“7 und das Bundesverfassungsgericht als „Leitnorm“8 charakterisieren: Art. 1 Abs. 3 GG, der „Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung“ an die „nachfolgenden Grundrechte“ „als unmittelbar geltendes Recht“ bindet. II. Entstehungsgeschichte und Bedeutung des Art. 1 Abs. 3 GG Art. 1 Abs. 3 GG mangelt auf gesamtstaatlicher Ebene eine Vorgänger-Vorschrift, und diese Lücke spiegelt die Geschichte der Grundrechtstheorie und Verfassungslehre der letzten einhundert Jahre. Da die Stoßrichtung der Grundrechte ursprünglich auf die freiheitsbeschränkende (monarchische) Exekutive zielte9, reichte es zur Eindämmung deren „Selbstherrlichkeit“10 im Hinblick auf den rechtsstaatlichen Vorrang des Gesetzes, individuelle Freiheit durch Gesetz zu garantieren. Dabei galt das von den Bürgern gewählte Parlament als Hüter der Grundrechte und stand dafür gut, „daß es nicht allzuschlimm werde“11. Diese Exekutivgerichtetheit der Grundrechte erklärt neben der Rücksichtnahme auf die Einzelstaaten und deren Verfassungen auch das Fehlen eines Grundrechtskatalogs in der Reichsverfassung von 187112. Für die Rechtsstellung des Bürgers blieb die Grundrechtsabstinenz folgenlos, da individuelle Freiheit als Freizügigkeit, Gewerbefreiheit, Koalitionsfreiheit und Preßfreiheit sowie durch Schutz des Briefgeheimnisses und der Wohnung in einem „Reichssystem“ durch Reichsgesetze anerkannt wurde13. 6 Legalität und Legitimität, 3. Aufl., 1980, S. 60; ders., in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des deutschen Staatsrechts, Band II, 1932, S. 578 f. 7 Stern, Staatsrecht (Fn. 5), Band III/1, S. 1178; Horst Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 1 III Rn. 27. Vgl. auch Christoph Degenhart, Grundrechtsausgestaltung und Grundrechtsbeschränkung, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, § 61 Rn. 1: „. . . der für die Grundrechtskonzeption des Grundgesetzes zentralen Vorschrift . . .“ 8 BVerfGE 31, 58 (72). Ebenso Isensee, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: ders./Kirchhof, HStR V (Fn. 5), § 115 Rn. 60. 9 Vgl. Adolf Arndt, Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat, 4. Aufl., 1900, S. 32; s. a. BVerfGE 45, 297 (330). 10 Vgl. auch BVerfGE 10, 264 (267); 35, 263 (274); 51, 268 (284). 11 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. I, 3. Aufl., 1924, S. 70 Fn. 12. 12 Vgl. Detlef Merten, Begriff und Abgrenzung der Grundrechte, in: ders./Papier, Handbuch der Grundrechte (Fn. 7), Bd. II, 2006, § 35 Rn. 27. 13 Vgl. die Aufstellung bei Ernst Rudolf Huber, Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem, in: ders., Bewahrung und Wandlung, 1975, S. 133 (138 f.). Zum „Reichssystem“ ders. ebd. S. 136 sub III.

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Erst mit dem Aufkommen des Vorrangs der Verfassung14 hört diese auf, als Gesetz wie jedes andere15 zur Disposition der Legislative zu stehen16, sondern genießt nunmehr als lex fundamentalis erhöhte Bestandskraft, Bindungskraft und Derogationskraft. So wird der Vorrang des Gesetzes durch einen Vorrang des Verfassungsgesetzes und die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Rechtsprechung durch eine Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung ergänzt. Schon die Weimarer Grundrechte sind für den Gesetzgeber nicht mehr nur Ziel, sondern auch schon Zaum seines Handelns. Die Reichsverfassung kennt im Rahmen gestufter Garantieintensität 17 „reichsverfassungskräftige“ Grundrechte, die durch einfaches Parlamentsgesetz nicht (mehr) beschränkbar sind, worin sich der Vorrang des Verfassungsgesetzes offenbart, wenn er auch noch nicht allseits gesehen und nicht durch ein gerichtliches Prüfungsrecht gesichert wird. Jedenfalls ist es eine juristische Legende, dass die Grundrechte in der Weimarer Reichsverfassung nur Programmsätze waren18. Bereits zur Weimarer Zeit zeichnet sich der Weg in die Verfassungsstaatlichkeit durch zwei Landesverfassungen ab, die Grundrechte als „Richtschnur und Schranke für die Gesetzgebung, die Rechtspflege und die Verwaltung im Staat“19 verankern. 14 Im Einzelnen Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Der Staat 20, 1981, S. 485 ff.; ders., Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, S. 401 ff.; ders., Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, JuS 2001, S. 1041 (1043 ff.); Stern, Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, 1984, S. 20 f.; Christian Starck, Verfassung und Gesetz, in: ders., Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 29 ff.; Horst Dreier, Gerhard Anschütz (1867–1948): Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs, in: Peter Ulmer (Hrsg.), Geistes- und Sozialwissenschaften in den 20er Jahren: Heidelberger Impulse, 1998, S. 89 (107 ff.); ders., GG (Fn. 7), Art. 1 III Rn. 27; Christian Hermann Schmidt, Vorrang der Verfassung und konstitutionelle Monarchie, 2000; Friederike Valerie Lange, Grundrechtsbindung des Gesetzgebers. Eine rechtsvergleichende Studie zu Deutschland, Frankreich und den USA, 2010, S. 91. 15 So Adolf Arndt, DJZ 4 (1899), S. 445 (447 l.Sp.); zustimmend Gerhard Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, Bd. I, 1912, S. 66; ders., Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8.1919, 14. Aufl., 1933, ND 1960, Art. 70 Anm. 4, S. 371; Art. 76 Anm. 1, S. 401; Art. 102 Anm. 3, S. 476; Georg Meyer/Gerhard Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., 1919, S. 743; Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. II, 5. Aufl., 1911, S. 39 f.; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl., 1988, S. 665. 16 s. Anschütz, Verfassungs-Urkunde (Fn. 15), S. 66; ders., Die Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 15), Art. 76 Anm. 1, S. 401; Meyer/Anschütz (Fn. 15). 17 Hierzu grundlegend Richard Thoma, Grundrechte und Polizeigewalt, Festgabe zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des preußischen OVG, 1925, S. 183, insbes. S. 191 ff. 18 Hierzu Dreier (Fn. 14), S. 119; ders., Die Zwischenkriegszeit, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 4 Rn. 12 ff. 19 So Art. 71 der Verfassung der Freien Stadt Danzig i. d. F. vom 14. Juni 1922, abgedr. in: Otto Ruthenberg (Hrsg.), Verfassungsgesetze des Deutschen Reichs und der deutschen Länder nach dem Stande vom 1. Februar 1926, 1926, S. 235; nur geringfügig abweichend der Zweite Abschnitt der Verfassung von Mecklenburg-Schwerin vom 17. Mai 1920, abgedr. in: Ruthenberg, S. 144, wonach die Grundrechte „Richtschnur und

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Nach dem Zusammenbruch war das Vertrauen in eine freiheitsbewahrende Legislative geschwunden und hatte dem Wissen um deren freiheitsbedrohendes Potential Platz gemacht20. Die für den Konstitutionalismus bezeichnende „programmatisch-appellative“ Wirkung der Grundrechte für den Gesetzgeber21 wurde daher zur Bindungskraft gesteigert. So enthalten die vorgrundgesetzlichen Landesverfassungen Hessens, der Freien Hansestadt Bremen und des Saarlandes Bestimmungen, die eine „unmittelbar[e]“ Bindung auch des Gesetzgebers an die Grundrechte statuieren22. In den Verfassungen Mecklenburgs und Sachsens sowie in einem SED-Entwurf für die Verfassung einer „deutschen Republik“ waren nicht nur die Grundrechte, sondern alle Verfassungsbestimmungen als „unmittelbar geltendes Recht“ bezeichnet worden23. Im Anschluss an diese Entwicklung nahm der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee in Art. 21 Abs. 2 seines Entwurfs eine Vorschrift über die unmittelbare Bindungswirkung der Grundrechte für alle Staatsgewalten auf 24, von der sich auch der Parlamentarische Rat leiten ließ. Schon am Anfang seiner Beratungen bestand Einigkeit darüber, dass die Grundrechte „nicht nur die Verwaltung und Rechtsprechung, sondern auch den Gesetzgeber binden“ sollten25 und dass sie aufgrund einer entsprechenden Fassung „als unmittelbar geltendes Recht anerkannt werden“26. Die in Art. 1 Abs. 3 GG verankerte Parlamentsfestigkeit der Schranke für Verfassung, Gesetzgebung und Verwaltung“ bilden. Vgl. hierzu auch Häberle, Grundrechte und parlamentarische Gesetzgebung im Verfassungsstaat – Das Beispiel des deutschen Grundgesetzes, in: AöR 114 (1989), S. 361 (364). Die Formulierung von den Grundrechten als „Richtschnur und Schranke“ für alle drei Staatsgewalten findet sich auch in einem nichtamtlichen Verfassungsentwurf des Vereins Recht und Wirtschaft, der jedoch keinen Eingang in die Weimarer Reichsverfassung fand. Vgl. hierzu Hans Fenske, Nichtamtliche Verfassungsentwürfe, 1918/19, in: AöR 121 (1996), S. 24 (51). 20 Hierzu auch Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 25. 21 s. Wahl, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. I § 2 Rn. 61. 22 Vgl. Art. 26 Verfassung Hessen vom 11.12.1946 (GVBl. S. 929), auch abgedr. in: Wilhelm Wegener, Die neuen deutschen Verfassungen, 1947, S. 149; dazu auch Wiltraud von Brünneck, Die Verfassung des Landes Hessen vom 1.12.1946, in: JöR N.F. 3 (1954), S. 213 (241); Art. 1 Verfassung Bremen vom 21.10.1947 (GBl. S. 251); auch abgedr. in: Wilhelm Wegener, S. 75, 78; dazu Kulenkampff/Coenen, Die Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947, in: JöR N.F. 3 (1954), S. 179 (184 f.); Art. 21 Verfassung Saarland vom 15.12.1947 (ABl. S. 1077); vgl. in diesem Zusammenhang auch Art. 1 Abs. 4 Verfassung Rheinland-Pfalz vom 18.5.1947 (GVBl. S. 209), wonach die Organe der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung zur Wahrung bestimmter Grundsätze verpflichtet sind. 23 Abgedr. in: Wilhelm Wegener (Fn. 22), S. 209, 234, 313. 24 Vgl. hierzu den Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, Darstellender Teil, S. 20 ff. 25 Vorsitzender Dr. von Mangoldt (CDU) in der 3. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 21.9.1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Bd. 5/I: Ausschuß für Grundsatzfragen, S. 43. 26 Abgeordneter Dr. Bergsträsser (SPD) in der 4. Sitzung vom 23.9.1948, in: Der Parlamentarische Rat (Fn. 25), S. 63.

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Grundrechte schützt nicht nur vor einem „selbstherrlichen“27, sondern auch vor einem „willfährigen“28 Gesetzgeber, zumal die Durchsetzung der Grundrechtsbindung durch eine effektive Verfassungsgerichtsbarkeit gesichert ist. In Verbindung mit der Bindung auch des verfassungsändernden Gesetzgebers an föderative Prinzipien sowie die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze (Art. 79 Abs. 3 GG) wird die Demokratie rechtsstaatlich gezähmt29, eine Parlamentssouveränität ausgeschlossen30 und Deutschland in die Bahnen des Verfassungsstaates gelenkt31. III. Systematische Stellung der „Schlüsselnorm“ Die „Schlüsselnorm“ ist Teil der kaskadenartigen Einleitungsbestimmung des Art. 1 GG, der in Absatz 1 mit dem Schutz der menschlichen Würde den „Grund der Grundrechte“32 legt und in Absatz 2 die Menschenwürde mit dem Bekenntnis „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ verknüpft (arg. „darum“)33. Bei diesen handelt es sich um „vorverfassungsrechtliche“ Rechte, die nach einem Beschluss des Grundsatzausschusses34 zwar in das Grundgesetz aufgenommen, aber von den eigentlichen Grundrechten getrennt werden sollten. Durch die Differenzierung zwischen Menschenrechtspathos und Grundrechtspositivität hat das Grundgesetz die Spannung zwischen „juristischer Formulierung und moralisch-politischer Deklaration“35 gelöst. Auf das bloße „Bekennt27 Noch das Reichsgericht sprach dem parlamentarischen Gesetzgeber „Selbstherrlichkeit“ zu: RGZ 118, 325 (327); 139, 177 (189). 28 Vor ihm warnt der Abg. Dr. Carlo Schmid (SPD) im Parlamentarischen Rat (Fn. 1). 29 Vgl. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl., 2004, § 24 Rn. 92. 30 Wahl, Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, JuS 2001, S. 1041 (1043 sub V 3 a). Daher unterscheidet sich deutsche Rechtsstaatlichkeit von der „rule of law“; hierzu Merten, Die Rule of Law am Scheideweg von der nationalen zur internationalen Ebene, ZöR 58 (2003), S. 1 ff.; ferner Jutta Limbach, Vorrang der Verfassung oder Souveränität des Parlaments?, 2001. 31 Vgl. Stern, Staatsrecht (Fn. 5), Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 20 IV 1 b), S. 788. 32 Isensee, Würde des Menschen, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte (Fn. 7), Bd. IV, 2011, § 87 Rn. 111 ff.; ders. ebd. Bd. II, 2006, § 26 Rn. 50; ders., in: Der Staat 19 (1980), S. 371; vgl. auch BVerfGE 93, 266 (293): „Wurzel aller Grundrechte“. 33 In der früheren Fassung des Art. 1 Abs. 2 mit Stand vom 11.1.1949 war diese Verknüpfung durch den einleitenden Partizipialsatz „Bereit für die dauernde Achtung und Sicherung der Menschenwürde einzustehen“, noch deutlicher; vgl. Der Parlamentarische Rat (Fn. 24), Bd. 5/II, S. 954. 34 Der Parlamentarische Rat (Fn. 25), Bd. 5/I, S. 40; vgl. auch den Schriftlichen Bericht des Abg. Dr. v. Mangoldt über den Abschnitt I, Die Grundrechte, in: Parlamentarischer Rat, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, S. 5; dens., AöR 75 (1949), S. 273 (275 f.). 35 So der Abg. Dr. Heuss (FDP), 3. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 21.9. 1948, in: Der Parlamentarische Rat (Fn. 25), Bd. 5/I, S. 44.

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nis“ zu „Menschenrechten“ in Art. 1 Abs. 2 GG folgt die normative staatliche „Bindung“ an „Grundrechte“ in Absatz 3, womit sich naturrechtlich-vorstaatliche Ideen in positiv-rechtliche Verfassungsnormen wandeln36 und ein „grundrechtskonstituierter Verfassungsstaat“ geschaffen wird37. In ihm sind Grundrechte nicht nur Staatsziele, sondern Staatsrealität. Dabei stehen „Grundrechte“ in Art. 1 Abs. 3 GG als Kürzel für „Grundrechtsbestimmungen“38. Grundrechte im Sinne subjektiver Rechte des einzelnen „sind keine Normen, sondern sie beruhen auf Normen“39, werden in den Worten des Jubilars „erst durch Grundrechtsnormen geschaffen“40. Zwar macht die Wortwahl des Art. 1 Abs. 3 GG deutlich, dass die Verfassung subjektive Rechte gewährleisten will, worauf auch Klaus Stern hinweist41. Daher muss die „Schlüsselnorm“ über die subjektiven Grundrechte hinaus die Normen als ganze einschließlich ihrer Schranken und Schrankenvorbehalte sowie in ihrem objektivrechtlichen Gehalt42 erfassen, weshalb auch das Bundesverfassungsgericht43. Art. 1 Abs. 3 GG attestiert, dass er sich auf „Normen“ und auf „Bestimmungen des Grundrechtsteiles“ bezieht. Letzteres greift allerdings zu kurz, da sich Grundrechtsbestimmungen nicht nur im Grundrechtskatalog des Ersten Abschnitts, sondern auch an anderen Stellen des Grundgesetzes befinden und insbesondere die „grundrechtsgleichen Rechte“ umfassen44.

36 BVerfGE 2, 1 (12 f.) sprechen von „im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten“. In diesem Sinne auch Karl-Peter Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien nach der Verfassung von 1978, 1984, S. 129; ders., AöR 114 (1989), S. 391 (407 oben). 37 Stern, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts (Fn. 5), § 108 Rn. 52; ders., Staatsrecht (Fn. 5), Bd. III/1, S. 175. 38 Zum Begriff Merten, Begriff und Abgrenzung der Grundrechte, in: ders./Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte (Fn. 7), Bd. II, § 35 Rn. 57 ff. 39 Ernst Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, Verhandlungen des 50. Deutschen Juristentages, Bd. II, Teil F/G, 1974, S. G 1 (G 4). 40 Stern, Staatsrecht (Fn. 5), III/1, § 73 IV 3 d, S. 1302. 41 Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (Fn. 5), § 109 Rn. 36, S. 68; s. a. BVerfGE 6, 386 (387); 12, 45 (53); BVerwGE 47, 23 (27). 42 Vgl. BVerfGE 6, 309 (355); 20, 162 (175); 49, 89 (141 f.). 43 BVerfGE 6, 386 (387); ähnlich Herzog, Grundrechte aus der Hand des Gesetzgebers, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler, Bd. II, 1987, S. 1414 (1424): „Art. 1 Abs. 3 GG bindet die drei Staatsgewalten selbstverständlich an die Grundrechtsnormen“. 44 Stern, Das Grundgesetz im fünften Jahrzehnt seiner Geltung, in: ders., Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft, Ausgewählte Reden, 2002, S. 645 (654 sub VI 1); Dürig, in: Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, 3. Aufl., Art. 1 Abs. 3 Rn. 119; Art. 103 Abs. II Rn. 101 (Stand: Januar 1960); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. I, 6. Aufl., 2010, Art. 1 Abs. 3 Rn. 150; Kunig, in: v. Münch/ders., GG, Bd. I, 5. Aufl., 2000, Art. 1 Rn. 48. Merten, Begriff und Abgrenzung der Grundrechte (Fn. 38), Rn. 71 ff.

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Art. 1 Abs. 3 GG schafft für die Grundrechtsbestimmungen Verfassungspositivität als Verfassungstextlichkeit und Verfassungsnormativität als Verfassungsverbindlichkeit45. Gleichzeitig verleiht er den Grundrechtsbestimmungen Verfassungsaktualität, so dass diese ihre rechtsverbindliche Wirkung unmittelbar mit Inkrafttreten des Grundgesetzes und nicht erst infolge einer Umsetzung oder Ausführung durch den Gesetzgeber erhalten. Sie sind völkerrechtlichen Gesetzen vergleichbar, die „self-executing“ sind, weil sie keiner staatlichen Transformationen zur innerstaatlichen Durchsetzung bedürfen46. Grundrechte gelten als Maßgabe für Gesetze und nicht nach Maßgabe der Gesetze47. Schon im Parlamentarischen Rat hatte der Berichterstatter im Grundsatzausschuss, der Abg. Zinn (SPD), gefordert, die neuen Grundrechte „als aktuelles Recht und nicht als Rechtsgrundsätze“, die erst noch besonderer Durchführungsgesetze bedürfen, auszugestalten48. Damit unterscheiden sich Grundrechtsbestimmungen von Verfassungsdirektiven, die zu ihrer unmittelbaren Wirksamkeit im Staat-Bürger-Verhältnis eine Umsetzung, Ausführung oder Konkretisierung benötigen49, wie dies bei Staatsaufgaben und Staatszielen, Einrichtungsgarantien, Verfassungs- oder Gesetzgebungsaufträgen der Fall ist. Die Bindung aller Staatsgewalten an die Grundrechtsbestimmungen ist außer in Art. 1 Abs. 3 GG auch in Art. 20 Abs. 3 GG niedergelegt, da Grundrechte Teil der „verfassungsmäßigen Ordnung“ im Sinne dieser Bestimmung50, aber auch Teil des die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung bindenden (Verfassungs-)Gesetzes sind. Art. 1 Abs. 3 GG spricht diese Verfassungsbindung aller Staatsgewalten (Art. 20 Abs. 3 GG) für die Grundrechtsbestimmungen noch einmal gesondert aus. Sein Grundrechtsvorrang51 stellt gegenüber dem Verfassungsvorrang eine lex partialis dar, die die Grundrechtsbindung wegen der aktuellen Bedeutung noch einmal ausdrücklich und an herausragender Stelle betont. Dagegen handelt es sich nicht um eine lex specialis, die über die Merkmale der allgemeinen Norm hinaus zumindest ein zusätzliches Merkmal enthalten müsste52. 45 Vgl. hierzu auch Merten, Begriff und Abgrenzung der Grundrechte (Fn. 38), Rn. 81 ff. 46 Vgl. statt aller Wilhelm Wengler, Völkerrecht, Bd. I, 1964, S. 453, 460. 47 Vgl. auch Herbert Bethge, JZ 1991, S. 306 l.Sp. (Urteilsanmerkung). 48 3. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen vom 21.9.1948, in: Der Parlamentarische Rat (Fn. 25), Bd. 5/I, S. 35 oben. 49 Hierzu Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs (Fn. 15), S. 514; s. a. Hans-Peter Schneider, Grundrechte und Verfassungsdirektiven, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte (Fn. 7), Bd. I, § 18 Rn. 77 f. 50 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. II, 6. Aufl., 2010, Art. 20 Abs. 3 Rn. 250. 51 Zum „übergesetzlichen . . . Charakter“ der Grundrechte auch BGHZ 6, 270 (275); BGHSt 4, 375 (377). 52 Hierzu Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 267; Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl., 2006, § 7 c, S. 39.

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Weder stellt die – im Übrigen sorgfältig zu interpretierende53 – Bindung an Grundrechtsbestimmungen „als unmittelbar geltendes Recht“ ein Zusatzmerkmal dar, da auch sonstige hinreichend bestimmt gefasste Verfassungsvorschriften gemäß Art. 20 Abs. 3 GG alle Staatsgewalten binden, noch begründet die Bindung auch der Landesstaatsgewalten an Art. 1 Abs. 3 GG54 eine Spezialität, da nach überwiegender Meinung auch Art. 20 Abs. 3 GG diese Wirkung entfaltet55. IV. „Schlüsselnorm“ als Perfektionierungsnorm? Die beabsichtigte Signalfunktion des Art. 1 Abs. 3 GG hatte zur Folge, dass diese Vorschrift vielfach als Argumentationshilfe bei der Grundrechtsinterpretation herangezogen wurde. Allerdings kommt es gerade bei einer „Schlüsselnorm“ darauf an, sie richtig zu „entschlüsseln“, weil sie nur so den richtigen Zugang eröffnen kann. Die „klare Aussage“, die Art. 1 Abs. 3 GG attestiert wird56, „verdunkelt“57 sich bei näherem Zusehen, so dass die „Schlüsselnorm“, insbesondere bei Überstrapazierung unschlüssig wird. Auch der Jubilar wendet sich dagegen, mit Hilfe des Art. 1 Abs. 3 GG deutsches Grundrechtsverständnis „allen und überall auf(zu)drücken“58, weshalb deutscher Grundrechtsstandard nicht Weltrechtsprinzip werden muss59. 1. Der Kardinalfehler bei der Interpretation der „Schlüsselnorm“ besteht darin, sie als Perfektionierungsnorm aufzufassen, mit deren Hilfe sich eine lex imperfecta in eine lex perfecta verwandelt. Schon im Parlamentarischen Rat hatte man als Konsequenz der Bindungsklausel die Notwendigkeit gesehen, „die Artikel . . . so zu fassen, dass sie als unmittelbar geltendes Recht anerkannt werden können“60, und eine Aufnahme von „Deklamationen und Deklarationen in die Verfassung“61 abgelehnt. Nur wenn eine Grundrechtsvorschrift von vornherein hin53

Vgl. BVerfGE 6, 55 (76). BVerfGE 103, 332 (347); Starck, in: ders./v. Mangoldt/Klein, GG, Bd. I, 6. Aufl., 2010, Art. 1 Abs. 3 Rn. 221; Dreier, GG (Fn. 13), Art. 1 III Rn. 37. 55 Vgl. BVerfGE 103, 332 (347, 349, 353); Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 20 Rn. 32 und 29. 56 Baldus, Der Staat 36 (1997), S. 156 (157), Rezension. 57 Karl August Bettermann, Reichsgericht und richterliches Prüfungsrecht, in: ders., Staatsrecht, Verfahrensrecht, Zivilrecht. Schriften aus vier Jahrzehnten, 1988, S. 361 (380). 58 Stern, Staatsrecht (Fn. 5), Bd. III/1, § 71 V 6 c, S. 1241 unter Hinweis auf G. Kegel, Internationales Privatrecht, 6. Aufl., 1987, S. 333. 59 Vgl. Merten, Räumlicher Geltungsbereich von Grundrechtsbestimmungen, in: Dieter Dörr u. a. (Hrsg.), Die Macht des Geistes, FS Hartmut Schiedermair, 2001, S. 331 (337 ff.). 60 So der Abg. Dr. Bergsträsser (SPD) in der 4. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 23.9.1948, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/I (Fn. 26), S. 63. 61 So der Abg. Dr. Carlo Schmid (SPD) in der 2. Sitzung des Grundrechtsausschusses v. 16.9.1948, Der Parlamentarische Rat, Bd. 5/I (Fn. 25), S. 10; ähnlich ders. 54

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reichend bestimmt genug ist, kann sie auch aktuelle Bindungswirkung entfalten62. Die „Schlüsselnorm“ kann sie nicht verbindlicher machen, als sie dem Text gemäß ohnehin ist. Sozialen Glücksverheißungen im Grundrechtsmantel63 wächst nicht wegen Art. 1 Abs. 3 GG Normativität und Aktualität zu, wenn diese nicht in ihnen selbst angelegt sind64. Die Schlüsselnorm „spricht sich ausschließlich über das ,Ob‘“65, nicht über das „Wie“ der Bindung aus. Zutreffend weist Böckenförde66 darauf hin, dass die Neuerung des Art. 1 Abs. 3 GG bezogen auf die Grundrechte in dem „normativen Gehalt“ bestehe, ohne dass Grundrechte „aus der unmittelbaren Geltung und der Bindung des Gesetzgebers“ „einen anderen oder neuen Inhalt“ erhielten. Erst die Interpretation der einzelgrundrechtlichen Schutzbereiche ergibt, woran die drei Staatsgewalten gemäß Art. 1 Abs. 3 GG gebunden sind67. Art. 1 Abs. 3 GG enthält den Grundsatz68, dass Grundrechtsbestimmungen als unmittelbar geltendes Recht wirken. Entsprechend der qualitativen Unterscheidung von „Grundsatz und Norm“69 oder von Prinzip und Regel70 verlangen Grundsätze oder Prinzipien keine absolute, sondern eine bloß relative Realisierung, heischen sie nicht ein Maximum, sondern nur ein Optimum71. Grundsätze und Prinzipien schließen schon begrifflich Ausnahmeregelungen ein, die jedoch entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts72 im allgemeinen nicht „nach der Regel vom Vorrang der speziellen gegenüber der allgemeinen Norm“, sondern – wie z. B. Art. 143 Abs. 1 GG, Art. 117 und Art. 6 Abs. 5 GG73 – als leges aliae zu beachten sind. Grundrechtsverbindlichkeit und Grundrechtsaktualischon in der 2. Sitzung des Parlamentarischen Rates v. 8.9.1948, Sten. Ber. 1948/49, S. 14. 62 So BVerfGE 6, 55 (76). 63 Zur mangelnden Durchsetzbarkeit sozialer Grundrechte mit unbestimmter Normierung SaarlVerfGH v. 9.6.1995, NJW 1995, S. 383 (384 f.). 64 Vgl. BVerfGE 12, 45 (53). 65 BVerfGE 61, 126 (137); zustimmend Stern, Staatsrecht (Fn. 5), Bd. III/2, § 72 III 2, S. 1202. 66 Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1990, S. 22 f. 67 Merten, Grundrechtlicher Schutzbereich, in: ders./Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte (Fn. 7), § 56 Rn. 5. 68 BVerfGE 6, 386 (387 unten); Stern, Staatsrecht (Fn. 5), Bd. III/2, 1994, § 89 IV C c, S. 1118 m.w. N. 69 Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1990. 70 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl., 1994, S. 71 ff.; ders., Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, in: ders./Hans-Joachim Koch u. a., Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003, S. 217 ff.; Bernd Schilcher/Peter Koller/Bernd-Christian Funk (Hrsg.), Regeln, Prinzipien und Elemente im System des Rechts, 2000. 71 Vgl. Merten, Freiheit im Gefüge der Staatsfundamentalbestimmungen, in: ders./ Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte (Fn. 7), Bd. II, § 27 Rn. 43. 72 BVerfGE 3, 225 (232). 73 Hierzu BVerfGE 25, 167 (179 f.).

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tät sind wegen der Grundsatzregelung des Art. 1 Abs. 3 GG wahrscheinlicher als das Gegenteil. Daraus folgt jedoch keine Zweifelsregel74 „in dubio pro perfectione“75, wie die Grundrechtsdogmatik auch kein „in dubio pro libertate“76 und die Organisationsverfassung kein „in dubio pro competentia foederis“77 hergeben. 2. Wegen der durch Art. 1 Abs. 3 GG bewirkten Grundrechtsnormativität und Grundrechtsaktualität kann unter dem Grundgesetz nicht durch Rückgriff auf die Zwischenkriegszeit und das Schrifttum zur Weimarer Verfassung78 unter dem „Deckmantel der Grundrechtseffektivität“79 eine Freiheitsmaximierung mit der Forderung betrieben werden, von mehreren möglichen Auslegungen einer Grundrechtsnorm „derjenigen den Vorzug zu geben . . ., die die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet“80. Die Berufung auf Richard Thoma gerät dabei letztlich zu einer „Scheinbegründung für die Durchsetzbarkeit gewünschter Entwicklungen“81. Thoma82 hatte ohnehin in einer gänzlich anderen Verfassungssituation unter Anführung zahlreicher Interpretationsprobleme einzel74 Für eine Argumentationslast-Regel plädieren Christoph Gusy/Ingo J. Hueck, Fernmeldegebühren für Auslandsgespräche?, Neue Justiz, 1995, S. 461 (464 sub V): „Begründungsbedürftig ist nicht der Grundrechtsschutz, sondern [sind] dessen Ausnahmen.“ 75 Oppermann (Transnationale Ausstrahlungen deutscher Grundrechte, in: Im Dienste Deutschlands und des Rechtes, Festschrift für Grewe [hrsg. von Kroneck und Oppermann, 1981], S. 521 [528]) will den Jedermann-Rechten eine „im Zweifel“ extensive Deutung ihres Geltungsbereichs entnehmen. 76 Hierzu Merten, Freiheit im Gefüge der Staatsfundamentalbestimmungen (Fn. 71), § 27 Rn. 44 ff.; ders., Grundrechtlicher Schutzbereich, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte (Fn. 7), Bd. III, § 56 Rn. 53 ff. m.w. N. Vgl. jedoch auch BVerfGE 6, 386 (387 unten). 77 BVerfGE 12, 205 (228 f.). 78 BVerfGE 6, 55 (72); 43, 154 (167). 79 Bethge, Mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigungen, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte (Fn. 7), Bd. III, § 58 Rn. 46. 80 BVerfGE 6, 55 (72); 30, 149 (162); 32, 54 (71); 39, 1 (38); 43, 154 (167, 183); 51, 97 (110); 55, 274 (288); 103, 142 (153). 81 So Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte (Fn. 7), Bd. I, § 15 Rn. 20 ff.; zur Kritik ferner Lerche, Stil, Methode, Ansicht, DVBl. 1961, S. 690 (698 sub § III 2): „Vollständig unbewiesene[s] . . . Prinzip“; Friedrich Müller/Ralf Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 9. Aufl., 2007, Rn. 394, S. 375 unten: „Offenkundig mißverstanden“; ähnlich Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S. 87 f.; Pestalozza, Kritische Anmerkungen zur Grundrechtsauslegung, in: Der Staat 2 (1963), S. 443 f.; Scheuner, Die Funktion der Grundrechte im Sozialstaat, DÖV 1971, S. 505 (507 sub II 1); H. Dreier, GG (Fn. 14), Vorb. 121: „Fehlerhafte[n] Lesart eines in Weimar von Richard Thoma ganz anders gemeinten interpretatorischen Postulats“. 82 Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im Allgemeinen, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. I, 1929, S. 1 (13); hierzu auch Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 277.

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ner Weimarer Grundrechtsbestimmungen als Lösungsmöglichkeit „allein . . . Erwägungen des Wortlauts, der Dogmengeschichte und Ideengeschichte des Instituts, der Entstehungsgeschichte des fraglichen Artikels und seines Zusammenspiels mit anderen Artikeln der Verfassungsurkunde“ gesehen und es als „groben Irrtum“ bezeichnet, die von ihm vertretene Auslegungsregel „auf Streitigkeiten bei dem speziellen Inhalt einer bestimmten Grundrechtsnorm“ anzuwenden. Erst nach Ergründung des Inhalts der Vorschrift sollte diese „als scharfkantiger Rechtssatz mit unmittelbaren Rechtsfolgen und nicht bloß als vager ,Rechtsgrundsatz‘ gedeutet werden“83. Da die grundgesetzliche Schlüsselnorm dem Anliegen Thomas Rechnung trägt, kann dessen an die Weimarer Verfassungsumstände gebundene Theorie nicht dazu verwendet werden, „Geltungsvermutung“ in „Inhaltsvermutung“ zu verkehren84, zumal Art. 1 Abs. 3 GG den Rechtscharakter der Grundrechte nur generell, nicht aber den Inhalt einzelner Grundrechtsnormen verstärken soll. V. Bindungsklausel und Kompetenzverteilung Grundrechtsbindung setzt Kompetenzinnehabung voraus. Jedes Staatsorgan ist nur dann und nur soweit an Grundrechtsbestimmungen gebunden, als es unabhängig von Art. 1 Abs. 3 GG handlungsbefugt ist. Ebensowenig wie die „Schlüsselnorm“ den Inhalt einzelner Grundrechtsbestimmungen auszuweiten vermag, kann sie Kompetenzen begründen oder dehnen, sie ist kompetenzakzessorisch, nicht kompetenzkreierend. Nur wenn beispielsweise dem Bundespräsidenten bei der Ausfertigung von Bundesgesetzen gemäß Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG ein materielles Prüfungsrecht zustünde, was entgegen der Auffassung des Jubilars85 abzulehnen ist86, wäre er bei dessen Ausübung an die Grundrechtsbestimmungen (als Beurteilungsnormen87) gebunden. Die These, der Bundespräsident dürfe nicht „,sehenden Auges‘ an der Entstehung eines von ihm als verfassungswidrig erkannten Gesetzes mitwirken“88 und „nicht zu klaren Verfassungs-

83 Thoma (Fn. 17), S. 13 f.; hierauf weist auch Ehmke (Fn. 81), S. 87 hin; vgl. auch Merten, Grundrechtlicher Schutzbereich, in: ders./Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte (Fn. 7), § 56 Rn. 56 f. 84 Vgl. Walter Leisner, Effizienz als Rechtsprinzip, Recht und Staat, Heft 402/403, 1971, S. 12. 85 Stern, Staatsrecht (Fn. 5), Bd. II 1980, § 30 III 4, S. 233 ff.; ebenso Friedrich Schoch, Die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten im Gesetzgebungsverfahren, Jura 2007, S. 354 ff.; Wolfgang Kahl/Markus Benner, Jura 2005, S. 869 (876). 86 Zutreffend Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. III, 5. Aufl., 2003, Art. 82 Rn. 5 ff. m.w. N. 87 Hierzu unten VI. 3. 88 Johannes Rau, Vom Gesetzesprüfungsrecht des Bundespräsidenten, DVBl. 2004, S. 1 (2 sub II 2 a).

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verstößen gezwungen sein“89, ist tönende Verfassungsrhetorik, aber unschlüssige Verfassungsargumentation, weil sie die Tatbestandsvoraussetzung aus der Tatbestandsfolge herleitet. Fehlt dem Bundespräsidenten ein materielles Prüfungsrecht, kann er durch die Ausfertigung eines in inhaltlicher Hinsicht verfassungswidrigen Bundesgesetzes keine Verfassungsverstöße begehen. Zu Recht hat es das Bundesverfassungsgericht90 abgelehnt, in Art. 1 Abs. 3 „eine Kompetenznorm“ zu sehen und darauf hingewiesen, dass „Bund und Länder nach Maßgabe ihrer durch das Grundgesetz abgegrenzten Zuständigkeiten“ zur Wahrung der Grundrechte berufen sind, wobei sich allerdings bei grundrechtsbeschränkendem Bundesrecht und Landesrecht Bund und Länder im Interesse des Grundrechtsschutzes des Bürgers als Einheit behandeln lassen müssen91. Was für den Bund-Länder-Bereich gilt, ist auch für das Verhältnis der Staatsorgane zueinander maßgeblich. „Aliena noli curare“ gilt auch für allzu unbekümmertes Hantieren mit der Grundrechtsbindung, die Amtskompetenzen voraussetzt, ohne sie zu begründen. So verpflichtet auch der Gleichheitssatz nur den „nach der Kompetenzverteilung konkret zuständigen Träger öffentlicher Gewalt“92. Nur dieser hat im Rahmen seines Handelns die im „Gleichheitssatz niedergelegte Gerechtigkeitsvorstellung zu beachten“93. Dabei wirkt sich allerdings die Bindungsklausel nicht nur beim Gleichheitssatz auf die einzelnen Staatsgewalten unterschiedlich aus94, weil die Legislative die generell-abstrakten Leitentscheidungen unter Beachtung des Vorrangs der Grundrechte (sowie der übrigen Verfassungsnormen) trifft, die Exekutive das verfassungsmäßige Gesetz im Einzelfall in Bindung an die Grundrechte konkretisiert und die Judikative im Rahmen eigener Grundrechtsbindung die Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit behördlicher Entscheidungen überprüft. VI. Art. 1 Abs. 3 GG als Signum grundrechtsgeprägter Staatlichkeit, nicht Gesellschaft 1. Der Staat als Adressat der Bindungsklausel

Der eindeutige Verfassungswortlaut wird verbogen und der Sinn der Bindungsklausel missdeutet, wenn man sie in folgender Lesart wiedergibt: „Nach Art. 1 89 Pieroth, in: Jarass/ders., GG (Fn. 55), Art. 82 Rn. 3; Brenner, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG (Fn. 50), Art. 82 Rn. 25. 90 BVerfGE 12, 205 (249). 91 BVerfGE 7, 377 (443); 33, 303 (357 f.); 56, 298 (322). 92 BVerfGE 21, 54 (68); 76, 1 (73); ähnlich E 79, 125 (158); 122, 1 (25). S. in diesem Zusammenhang auch P. Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee/ders., Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (Fn. 5), § 124 Rn. 25. 93 BVerfGE 116, 135 (153). 94 Vgl. P. Kirchhof (Fn. 92).

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Abs. 3 gelten die Grundrechte ,als unmittelbar geltendes Recht‘. Folglich sind die Bürger an die Grundrechte ,als mittelbar geltendes Recht‘ gebunden . . .“95 In Wirklichkeit handelt Art. 1 Abs. 3 GG vom Bindungsadressaten der Grundrechtsbestimmungen und deren Bindungsintensität. Die Bestimmung will nur die (auch in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG aufgeführten) Staatsgewalten, insbesondere – im Rückblick auf die Weimarer Reichsverfassung – die Gesetzgebung auf die Grundrechte verpflichten, wie das Grundgesetz als Staatsverfassung, nicht als Gesellschaftsverfassung96 ohnehin zuvörderst das „staatliche“ und nur „spärlich“ auch das gesellschaftliche Leben97 ordnen98 und durch sein freiheitliches Prinzip vor der „staatlichen“ oder „öffentlichen“ Gewalt schützen will99. Spricht somit die Bindungsklausel gegen eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechtsbestimmungen, so wird dieses Ergebnis durch die systematische und genetische Interpretation bestätigt. Soll sich die grundrechtliche Bindungswirkung auch auf Private erstrecken, so ordnet das Grundgesetz diese Rechtsfolge wie im Falle des Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG100 ausdrücklich an, was einen Umkehrschluss rechtfertigt. Bei den Beratungen des Art. 1 GG im Ausschuss für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates ist zwar nicht im Rahmen des Absatzes 3, wohl aber für die in Absatz 1 statuierte Menschenwürde in zwei Sitzungen auf Vorschlag des Vorsitzenden Dr. von Mangoldt (CDU) die Einführung einer Achtungspflicht „für jeden Einzelnen“101 beziehungsweise eine Achtung und Schutzpflicht „für alle staatliche Gewalt, wie für jedermann“102 erörtert, im Ergebnis aber abgelehnt worden, woraus folgt, dass der Verfassungsgeber bewusst von einer unmittelbaren Grundrechtsbindung Dritter abgesehen hat. Der von Art. 1 Abs. 3 GG angeordnete Bindungsmodus der Grundrechte „als unmittelbar geltendes Recht“ verweist auf eine gesteigerte Bindungsintensität103, wodurch sich der Wortlaut der Schlüsselnorm von dem in Art. 20 Abs. 3 GG angeordneten Vorrang der Verfassung und des Gesetzes abhebt. Mit dieser neuen

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Gerd Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, 1999, S. 250. Zutreffend Karl-Heinz Ladeur, ZBR 1992, S. 39. 97 Vgl. die ursprüngliche Fassung der Präambel des Grundgesetzes: „. . . um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben . . .“; aufgehoben durch Art. 1 EinigungsvertragsG v. 23.9.1990 (BGBl. II S. 885) i.V. m. Art. 4 Nr. 1 EVertr. v. 31.8.1990 (BGBl. II S. 889). 98 Stern, Staatsrecht (Fn. 5), Bd. III/1, § 68 VII 2, S. 877. 99 Vgl. Art. 1 Abs. 1 Satz 2, Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG; s. in diesem Zusammenhang auch Karl August Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte, o. J., S. 6 sub B II 1. 100 Vgl. BVerfGE 57, 220 (245). 101 22. Sitzung v. 18.11.1948, in: Der Parlamentarische Rat (Fn. 25), Bd. 5/II 1993, S. 584 (589). 102 32. Sitzung v. 11.1.1949, in: Der Parlamentarische Rat (Fn. 25), Bd. 5/II, S. 911 f. 103 Vgl. auch Merten, Räumlicher Geltungsbereich von Grundrechtsbestimmungen (Fn. 59), S. 340. 96

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Formel sollte die „Schlüsselnorm“ den – vielfach überzeichneten – Fehler der Weimarer Reichsverfassung in Gestalt bloß programmatischer Grundrechte vermeiden, indem sie diese „als aktuelles Recht und nicht als Rechtsgrundsätze“, die noch besonderer Durchführungsgesetze bedürfen, qualifizierte104. Der in Art. 1 Abs. 3 GG ausgesprochenen Grundrechtsbindung der Staatsgewalten entspricht, sofern der Wortlaut der einzelnen Grundrechtsbestimmung dem nicht entgegensteht, die (unmittelbare) Grundrechtsberechtigung der Grundrechtsträger, wobei der Anspruchscharakter der Freiheiten unter dem Grundgesetz „Perfektion erreicht“ hat105. Subjektive Rechte einschließlich der Ansprüche folgen aus den einzelnen Grundrechtsbestimmungen unmittelbar und bedürfen keiner Vermittlung durch einfaches Recht, beispielsweise einer „Umschaltnorm“106. So kann der Bürger Abwehr-, Unterlassens- oder Leistungsansprüche ohne weiteres auf die Grundrechtsbestimmung selbst stützen107. 2. Relevanz der Grundrechtsbindung für die Herleitung einer Drittwirkung der Grundrechte

a) Grundsätzliches Einen klassischen Fehlschluss stellt der bis heute nicht aufgegebene Versuch dar, aus der Bindung aller Staatsgewalten an die Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 GG entgegen dessen eindeutigem Wortlaut auch eine Bindung Dritter (unmittelbare Drittwirkung) herzuleiten. Denn der Umstand der Grundrechtsbindung als solcher sagt über deren Ausmaß nichts aus. Vielmehr ist die Staatsgewalt nur so weit gebunden, wie der einzelne Grundrechtstatbestand reicht, so dass Art. 1 Abs. 3 GG eine tatbestandsakzessorische, keine tatbestandserweiternde Bindung begründet. Die Grundrechte verpflichten die deutsche öffentliche Gewalt eben nur „in ihrem sachlichen Geltungsumfang“, wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat108, so dass aus der „umfassenden Bindung“ der Staatsgewalt an 104 So der Abgeordnete Zinn (SPD) in der 3. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen v. 21.9.1948, in: Der Parlamentarische Rat (Fn. 101), Bd. 5/I, S. 35 oben. 105 Josef Isensee, Menschenrechte – Staatsordnung – Sittliche Autonomie, in: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube, 1981, S. 85. 106 Vgl. Laubinger, Der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch, VerwArch. 80 (1989), S. 261 (291); OVG Hamburg DVBl. 1986, S. 691 ff. 107 Vgl. Naumann, Vom vorbeugenden Rechtsschutz im Verwaltungsprozeß, in: Otto Bachof u. a. (Hrsg.), Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht, Gedächtnisschrift Walter Jellinek, 1955, S. 391 (403 ff.); Weyreuther, Empfiehlt es sich, die Folgen rechtswidrigen, hoheitlichen Verwaltungshandelns gesetzlich zu regeln?, Gutachten B, 47. DJT 1968, S. B 78 (83); Papier, Enteignungsgleiche und enteignende Eingriffe nach der Naßauskiesungs-Entscheidung, in: JuS 1985, S. 184 (188); OVG Münster DÖV 1983, S. 1020 ff.; OVG Koblenz NJW 1986, S. 953. 108 BVerfGE 57, 9 (23).

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die Grundrechte keine „abschließende Festlegung der räumlichen Geltungsbreite der Grundrechte“109, aber auch keine Aussage über deren personale oder materiale Reichweite zu entnehmen ist. b) Grundrechtsbindung des Gesetzgebers Die Feststellung, dass die Verfassungsbindung des Gesetzgebers stets die gleiche unabhängig davon ist, „ob der Erlass von Vorschriften des . . . öffentlichen Polizei- und Ordnungsrechts oder solchen des Privatrechts in Rede steht“110, ist ebenso zutreffend wie vordergründig. Denn gleiche Bindung bedeutet nicht gleiche Einflussnahme. Grundrechte konzentrieren sich historisch und teleologisch auf den „Schutz des Einzelnen gegen den als allmächtig und willkürlich gedachten Staat“111. Mit Hilfe der Grundrechte sollte der „Polizeistaat“ überwunden werden112, so dass grundrechtliche Schutzbereiche verständlicherweise für das Polizeirecht relevanter sind als für das von ihnen in der Regel nicht erfasste Zivilrecht. Wenn Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG statuiert, dass „die Polizei . . . aus eigener Machtvollkommenheit niemanden länger als bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen in eigenem Gewahrsam halten“ darf, so ist der Gesetzgeber sowohl beim Erlass öffentlich-rechtlicher als auch privatrechtlicher Normen hieran in gleicher Weise gebunden. Aber was will er mit diesem Grundrechtssatz wie mit vielen anderen im Zivilrecht anfangen? Die vom Grundgesetz verbürgte „Gewißheit der verfassungsmäßigen Freiheit“113 zielt auf eine Freiheit vom Staate im grundrechtlichen Staat-Bürger-Verhältnis, nicht auf eine Freiheit vom Mitbürger im zivilrechtlichen Bürger-Bürger-Verhältnis. Selbst in den Fällen, in denen staatsgerichtete Grundrechtsbestimmungen nach dem Alltagsverständnis auf Zivilrechtsverhältnisse anwendbar erscheinen, offenbart eine nähere Betrachtung die Inkompatibilität. So schließt das Verbot der Zensur (Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG) eine staatliche Vorzensur aus, ist aber auf Korrekturen des Chefredakteurs oder des Verlagslektors in Zivilrechtsverhältnissen nicht anwendbar. Das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG) eignet sich nicht für eine familienrecht109 110

BVerfGE 100, 313 (362). Anne Röthel, Verfassungsprivatrecht aus Richterhand, in: JuS 29001, S. 424

(425). 111

BVerfGE 1, 97 (104). „Es ist jetzt Alles erlaubt, was nicht verboten ist. Der Polizeistaat ist gewesen . . .“ So der Abg. Nauwerck in der 65. Sitzung der Frankfurter Nationalversammlung v. 23.8.1848, in: Franz Wigard (Hrsg.), Sten. Ber. über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. III, Frankfurt am Main 1848, S. 1692. 113 In Anlehnung an Wilhelm von Humboldt: „Gewißheit der gesetzmäßigen Freiheit“, s. dens., Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, IX, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, 1903, S. 179. 112

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liche Regelung des elterlichen Erziehungsrechts, zumal es von vornherein nur eine Bestrafung „aufgrund der allgemeinen Strafgesetze“ erfasst. Allerdings enthält das Grundgesetz Grundrechtsbestimmungen mit Fundamentalaussagen, die der Gesetzgeber in erster Linie wegen ihres Inhalts, nicht allein wegen der Schlüsselnorm auch bei der Zivilgesetzgebung zu beachten hat, wie dies etwa für die Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 GG), den Schutz von Ehe und Familie sowie der werdenden Mutter (Art. 6 Abs. 1 und Abs. 4 GG) oder das Eigentum (Art. 14) der Fall ist. Wegen des auch objektivrechtlichen Charakters der Grundrechtsbestimmungen114 hat die Legislative diesen Grundsatzaussagen, die das Bundesverfassungsgericht „Wertentscheidungen“ nennt, in allen Bereichen des Rechts Rechnung zu tragen. Aus dem Inhalt der einzelnen Grundrechtsbestimmungen können sich ferner staatliche Schutzpflichten ergeben. Entscheidend für eine derartige Schutzpflichtbewehrung ist es, ob das einzelne Grundrecht einen absoluten und allwirksamen oder nur einen relativen, auf das Verhältnis des einzelnen zum Staat beschränkten Schutz beabsichtigt. Hatte das Bundesverfassungsgericht Schutzpflichten des Staates zunächst nur für das Recht des (auch ungeborenen) Lebens bejaht115, so hat es diese Rechtsfigur später auf grundrechtliche Verbürgungen schlechthin ausgeweitet116. Steht dem Gesetzgeber hinsichtlich der Schutzmodalität und des Schutzumfangs regelmäßig ein weiter Gestaltungsspielraum zur Verfügung117, so kann sich dieser bei erheblicher Gefahr für existenzielle Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum) auf die Wahl eines bestimmten Mittels verengen (Gestaltungsschrumpfung)118. c) Die Grundrechtsbindung des Richters Immer wieder wird eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte mit dem Hinweis begründet, dass der Richter bei der Beurteilung zivilrechtlicher Streitigkeiten an die Grundrechte gebunden ist und diese deshalb auch seinem Richterspruch zugrunde legen müsse. Die These, bei Anerkennung von Verstößen Privater beispielsweise gegen Art. 3 Abs. 3 GG durch die Rechtsprechung würde diese selbst „gegen die Bestimmung verstoßen, an die sie nach Art. 1 Abs. 3 gebunden ist“119, enthält einen Zirkelschluss. Denn die Bindung der Rechtsprechung an die Grundrechte bewirkt noch nicht deren Geltung im Zivilrecht. Vielmehr setzt umgekehrt eine unmittelbare Anwendung (materieller) Grundrechte in der zivil114

Vgl. BVerfGE 7, 198 Ls. 1; 49, 89 (141 f.); 56, 54 (73); 73, 261 (269). BVerfGE 39, 1 (42). 116 BVerfGE 49, 89 (141 f.). 117 BVerfGE 56, 54 (81); 77, 381 (405). 118 BVerfGE 46, 160 (164 f.); 77, 170 (215); BVerfG (Kammer), NJW 1998, S. 3264 (3265). 119 So Hans Carl Nipperdey, RdA 1950, S. 125. 115

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rechtlichen Rechtsprechung voraus, dass diese Grundrechte gegen Private wirken. Nur nach Maßgabe der inhaltlichen Reichweite der Grundrechte sind die Staatsgewalten an sie gebunden, so dass allein aus der grundrechtlichen Bindungswirkung als solcher nicht auf den Grundrechtsinhalt rückgeschlossen werden kann120. Deshalb steht im Vordergrund nicht die Frage, „wer das Recht anzuwenden hat, sondern wie das Recht aussieht, das es anzuwenden gilt“121. Das Bundesverfassungsgericht122 lehnt es zu Recht ab, bei der richterlichen Beurteilung eines zivilrechtlichen Rechtsverhältnisses „diejenigen Erfordernisse, die von Verfassungs wegen im Verhältnis des Bürgers zum Staat bei Eingriffen in die Freiheitssphäre des Einzelnen zu beachten sind“, entsprechend heranzuziehen. Die Fehleinschätzung der richterlichen Grundrechtsbindung wird maßgeblich durch den interpretationsbedürftigen Begriff „binden“ in Art. 1 Abs. 3 GG bewirkt, der eine differenzierende Sicht auf die Grundrechte erfordert. Insbesondere für die rechtsprechende Gewalt ist nur ein Teil der Grundrechtsbestimmungen als Handlungs- oder Verhaltensnormen zu qualifizieren, während sich die übrigen als Beurteilungs- oder Kontrollnorm darstellen123. Handlungs- oder Verhaltensnormen enthalten Handlungsanweisungen, aber auch -verbote und ziehen Verhaltensgrenzen. Auf diese Weise wirken für den Richter vor allem die Prozessgrundrechte, denen zufolge er beispielsweise rechtliches (d.h. gerichtliches) Gehör zu gewähren oder Mehrfachbestrafungen zu unterlassen hat (Art. 103 Abs. 1 und 3 GG). Aber auch aus den materiellen Grundrechtsbestimmungen 120

Zutreffend Günter Dürig, in: Theodor Maunz (Hrsg.), Vom Bonner Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung, Festschrift für Hans Nawiasky, 1956, S. 157 f.; ebenso Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., GG (Fn. 43), Art. 1 Abs. 3 Rn. 240; Dreier, GG (Fn. 7), Art. 1 III Rn. 60; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 (Fn. 5), § 76 IV 7, S. 1582; Herbert Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 400; Hans Heinrich Rupp, in: Wettbewerb als Aufgabe, 1968, S. 198 ff.; Peter Lerche, Verfassungsrechtliche Aspekte der „inneren Pressefreiheit“, 1974, S. 26 Fn. 45; ders., AfP 1973, S. 496 (500); Hans-Uwe Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, 3. Aufl., 1982, S. 44; Ekkehard Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen, 1963, S. 214; a. A. Schwabe, NJW 1973, S. 230; ders. AöR 100 (1975), S. 446 Fn. 12. 121 Lerche, AfP 1973, S. 496 (500). 122 BVerfGE 30, 173 (199). 123 Vgl. hierzu Karl August Bettermann, Verwaltungsakt und Richterspruch, in: Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht, Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 361 (363 ff.); ders., Art. Rechtsprechung, in: Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl., 1987, Sp. 2774 (2777); ders., Die rechtsprechende Gewalt, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts (Fn. 2), Bd. III, 1988, § 73 Rn. 31 ff.; ders., Hypertrophie der Grundrechte (Fn. 99), S. 6 f. sub B II 2; ders., Reichsgericht und richterliches Prüfungsrecht (Fn. 57), S. 362; Konrad Hesse, in: Festschrift für Mahrenholz, 1994, S. 541 (557); ders., in: Recht als Prozeß und Gefüge, Festschrift für Hans Huber, 1981, S. 261 (269): Klaus Schlaich/Stefan Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl., 2010, Rn. 515 ff.; grundlegend James Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage, 1925, S. 227 (245 ff.); s. ferner Ernst Forsthoff, in: Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, S. 221 (232 f.), der zwischen „Funktionsnorm“ und „Kontrollnorm“ unterscheidet.

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können Handlungsanweisungen folgen, so dass der Richter nicht gegen den Gleichberechtigungssatz oder die Diskriminierungsverbote verstoßen darf (Art. 3 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 GG). Soweit sie keine (prozessualen) Verhaltensregeln enthalten, sind Grundrechtsbestimmungen für den Richter in öffentlich-rechtlichen wie in zivilrechtlichen Streitigkeiten Beurteilungsnormen. Sie binden den Richter, wenn und soweit sie für seinen Spruch relevant sind, das heißt die materielle Rechtslage beeinflussen. Demzufolge ist die Bindung des Richters „nur das Spiegelbild . . . der Normbindung der Parteien“124. Nur wenn die Parteien in dem zu entscheidenden Streit aus den Grundrechten berechtigt oder verpflichtet sind, sind die Grundrechte auch Urteilsmaßstab. Beurteilungsnormen für den Richter sind also nur diejenigen Grundrechtsbestimmungen, die für die Parteien Verhaltensnormen darstellen. Die „Schlüsselnorm“ des Art. 1 Abs. 3 GG enthält demnach keinen Zauberschlüssel, der die grundsätzliche Staatsgerichtetheit der Grundrechtsbestimmungen in statu litis in eine Verbindlichkeit auch für Private umwandelt. Da Grundrechtsbestimmungen dem Einzelnen eben nicht „mit zwingender Wirkung eine bestimmte Rechtsposition im Verkehr mit den Rechtsgenossen“125 gewähren, kann diese fehlende Position auch nicht durch Klageerhebung vermittelt werden. Überhaupt leidet die Theorie einer durch die richterliche Grundrechtsbindung vermittelten unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte an der absurden Konsequenz, dass sich die materielle Rechtslage im Augenblick der Klageerhebung von einer Grundrechtsgeltung ohne unmittelbare Drittwirkung in eine solche mit unmittelbarer Drittwirkung wandelt. Mangels unmittelbarer Drittwirkung der Grundrechte126, von der inzwischen auch das Bundesarbeitsgericht abgerückt ist127, entfaltet die „Schlüsselnorm“ (unmittelbar) keine grundrechtliche Verfassungskraft gegen den Bürger. Auf das Zivilrecht wirkt sich der objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte nur im Rahmen der interpretationsfähigen und interpretationsausfüllungsbedürftigen Normen des Zivilrechts (z. B. §§ 138, 242, 826 BGB) aus128. Nur an diese mittelbare Ausstrahlungswirkung129 der Grundrechte ist der Richter über Art. 1 Abs. 3 GG gebunden, und sie kann hinsichtlich der Grundrechtstatbestände nicht weiter reichen als die unmittelbare Bindungswirkung im Staat-Bürger-Verhältnis. 124

Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte (Fn. 99), S. 6 sub B II 2. So Nipperdey, Die Würde des Menschen, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 1 (20 oben). 126 Vgl. statt aller Papier, Drittwirkung der Grundrechte, in: Merten/ders. (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte (Fn. 7), Bd. II, 2006, § 55. 127 Vgl. BAGE 52, 88 (97 f.); 47, 363 (374); 48, 122 (138 f.); 62, 59 (67). 128 BVerfGE 81, 242(254). 129 BVerfGE 7, 198 (207); 73, 261 (269); Stern, Das Grundgesetz im europäischen Verfassungsvergleich, 2000, S. 14: „Ausstrahlungswirkung auf den Bereich des Privatrechts“. 125

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Wegen der nur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Zivilrecht können Bürger untereinander zivilrechtliche Vereinbarungen über ein Verhalten treffen, das im Staat-Bürger-Verhältnis durch Grundrechte geschützt ist. Zu Unrecht hat die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung unter Hinweis auf eine „gestörte Vertragsparität“130 sowie auf Privatautonomie und Sozialstaatsprinzip131 derartige Verträge einer „besonderen richterlichen Inhaltskontrolle“ unterzogen132, wobei der Hinweis auf „gleichrangige Grundrechtsträger“ im Zivilrechtsverkehr, die den „Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG“ genießen und in ihrem gegenseitigen Verhältnis „über grundrechtlich verbürgte Positionen“133 verfügen, grundrechtsdogmatisch nicht überzeugen kann. Die Handhabung der „Schlüsselnorm“ muss auch die von Wortlaut und Normzweck des Art. 1 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen achten, soll die Verfassungsbestimmung nicht zu einem beliebigen Passepartout werden, mit dessen Hilfe die Ausgewogenheit des grundrechtsgeprägten, aber nicht grundrechtsmonomanen Verfassungsstaates aufgebrochen wird.

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BVerfGE 89, 214 (233, 234); 103, 89 (101). BVerfGE 89, 214 (232). Vgl. BVerfGE 89, 214 (232); 98, 365 (395); 103, 89 (101). So BVerfGE 81, 242 (255).

Das Verhältnis zwischen der Dritten und der Vierten Gewalt Von Eva-Maria Michel* I. Einleitung Die Medien sind für die freiheitlich-demokratische Grundordnung von herausragender Bedeutung. Der Begriff der Medien als Vierte Gewalt1 verdeutlicht ihre Relevanz im staatsrechtlichen Gefüge: die der Medien als öffentliche Wächter bzw. „public watchdog“.2 Anders als bei den drei Staatsgewalten Exekutive, Legislative und Judikative, die verfassungsrechtlich in Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 GG verankert sind, nimmt das Grundgesetz für die Medien eine ausdrückliche Kompetenzübertragung nicht vor. Das Bundesverfassungsgericht hat den Medien allerdings bereits früh einen herausragenden Stellenwert im staatlichen und gesellschaftlichen Gefüge zugewiesen und ihre spezifischen Aufgaben definiert.3 Die Medien sollen – wie die unmittelbare Konnexität zur Meinungsfreiheit verdeutlicht – die Bildung und Vertretung von Meinungen ermöglichen und fördern.4 Sie sollen in ausreichendem Maß Informationen liefern, damit die Bürgerinnen und Bürger souverän ihr eigenes Urteil bilden können. Sie sollen zudem selbst Kritik am Staat üben5 und als Sprachrohr der Kritik der Bürger dienen. Die Bezeichnung der Medien als Vierte Gewalt im Staat ist auch im europäischen Ausland geläufig. In Großbritannien werden Presse und Rundfunk etwa als „Fourth Estate“ bezeichnet, in Frankreich spricht man von der „Quatriéme Pouvoir“. Wer den Begriff der Vierten Gewalt eingeführt hat, ist nicht geklärt. Jedenfalls hat schon Jean-Jacques Rousseau die Presse als die Vierte Säule des Staates bezeichnet.6 Gebräuchlich wurde der Begriff der Presse als „Vierte Gewalt“ je* Ich danke Frau Dr. Katrin Neukamm aus dem Justiziariat des WDR Köln für tatkräftige Unterstützung bei der Abfassung dieses Beitrags. 1 Zum Begriff der Vierten Gewalt s. von Graevenitz, Vierte Gewalt? Medien und Medienkontrolle, UVK-Medien, Konstanz 1999. 2 Sogar der EGMR spricht in seinem „Caroline-Urteil“ von der wesentlichen Rolle der Presse als „Wachhund“, s. EGMR NJW 2004, 2647 ff.; NJW 2006, 1645 (1648). 3 BVerfGE 20, 162 (174). 4 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 58. EGL 2010, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 119. 5 Das BVerfG tendiert dazu, die Kritik durch Presse-/Rundfunkorgane als Meinungsäußerung zu verstehen und nicht der Presse- bzw. Rundfunkfreiheit zuzuordnen, vgl. BVerfGE 85, 1 (11 ff.); 43, 130 (137) und 71, 162 (179 ff.). 6 Löffler, in: FS Dovifat, 1960, S. 197 ff.

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doch erst im 19. Jahrhundert, als die liberale Theorie der Presse ihre Blütezeit erlebte.7 Im Fokus dieses Beitrags steht das Verhältnis zwischen der Judikative als der Dritten und den Medien als der Vierten Gewalt im Staat. Dieses Thema ist hochaktuell. Zuletzt wurde im Zuge des „Kachelmann-Prozesses“ und der Sendung „Tatort Internet“ eine neue Diskussion darüber geführt, welchen Kompetenzbereich die jeweilige Gewalt für sich beanspruchen kann und ob die vorhandenen gesetzlichen Vorschriften zur Realisierung eines ausgewogenen Ausgleichs zwischen den jeweils betroffenen Grundrechtspositionen ausreichen. In einem ersten Teil werden Reichweite und Grenzen von Medienberichten über Strafverfahren aufgezeigt (II.). In einem zweiten Teil wird der mögliche Einfluss der Dritten auf die Vierte Gewalt näher beleuchtet (III.). Der dritte Teil beschäftigt sich dann mit der Frage, welchen Einfluss die Medien auf Verfahren und Verfahrensbeteiligte haben (IV.). II. Berichterstattung über Strafverfahren Verfehlung und Missstände aufzuzeigen, gehört zu den legitimen Aufgaben der Medien. Hierzu zählt auch, über begangene Straftaten zu berichten. Doch was gilt, wenn lediglich der Verdacht einer Straftat besteht? Als der Fernsehmoderator Jörg Kachelmann im März letzten Jahres verhaftet wurde, wurde in fast allen Medien über den Verdacht der Vergewaltigung gegen ihn berichtet, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen konnte, ob die Vorwürfe tatsächlich berechtigt sind.8 Dabei kann – wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend bemerkt hat – die besondere Schwere der Tat im Einzelfall nicht nur ein gesteigertes Informationsinteresse der Öffentlichkeit, sondern auch die Gefahr begründen, „dass der Angeklagte eine Stigmatisierung erfährt, die ein Freispruch möglicherweise nicht mehr zu beseitigen vermag“9. Des Weiteren stellt sich die Frage, welche Grundsätze hinsichtlich der Berichterstattung über die sonstigen am Strafverfahren Beteiligten gelten. Müssen sich Richter und Staatsanwälte beispielsweise öffentlich vorwerfen lassen, Verfahrensgrundsätze missachtet und das Verfahren voreingenommen betrieben zu haben?10 7

Kunczik/Zipfel, Publizistik. Ein Studienbuch, 2001, S. 73. Der Fall Kachelmann ist kein Einzelfall: In zahlreichen anderen Fällen, wie z. B. im Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Post Klaus Zumwinkel oder im Verfahren gegen die No Angels-Sängerin Nadja Benaissa, generierte sich die öffentliche Berichterstattung zu einer medialen Hetzjagd zulasten des Angeklagten. 9 BVerfG ZUM 2009, 216 (218). 10 Vgl. Focus online vom 02.08.2010 „Gefängnis weist Kachelmann-Kritik zurück“; Tagesspiegel vom 01.12.2010 „Fall Kachelmann: Angriff ist Verteidigung“; Spiegel online vom 07.12.2010 „Der Alptraum ist noch nicht zu Ende“; Zeit online vom 02.12.2010 „Die Nervensäge der Justiz“. 8

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1. In der Rechtsprechung entwickelte allgemeine Leitlinien

Rechtlicher Ausgangspunkt für die Beurteilung der Zulässigkeit von Medienberichten über Strafverfahren ist Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG. Vom Schutzbereich erfasst werden alle mit der Presse- bzw. Rundfunkarbeit wesensmäßig zusammenhängenden Arbeiten, von der Beschaffung der Information, der Produktion des Presseerzeugnisses bzw. der Sendung bis zur Verbreitung der Nachrichten und Meinungen.11 Geschützt werden auch die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit und das Vertrauensverhältnis zum Informanten.12 Für den Schutz spielt der Inhalt eines Druckerzeugnisses bzw. einer Sendung keine Rolle; auch als wenig wertvoll eingestufte Produkte der Sensationspresse werden geschützt.13 Das Selbstbestimmungsrecht der Medien umfasst – wie das Bundesverfassungsgericht jüngst erneut ausgeführt hat14 – auch die Befugnis, den Gegenstand der Berichterstattung frei zu wählen. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, zu entscheiden, ob ein bestimmtes Thema überhaupt berichtenswert ist oder nicht.15 Die Medienfreiheiten werden nicht vorbehaltlos geschützt. Eingriffe in die Medienfreiheiten können nach Maßgabe des Art. 5 Abs. 2 GG sowie aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts gerechtfertigt sein. Im Fall der Berichterstattung über Strafverfahren sind neben dem Rechtsstaatsprinzip vor allem das Persönlichkeitsrecht des von der Berichterstattung Betroffenen zu beachten; dieses ist im Einzelfall mit der Presse- und Rundfunkfreiheit im Wege der praktischen Konkordanz zu einem schonenden Ausgleich zu bringen.16 Hierbei hat die Rechtsprechung folgende Leitlinien entwickelt: Geschützt werden zunächst nur Meinungen und wahre Tatsachenbehauptungen; Berichte, die auf unwahren Tatsachenbehauptungen aufbauen, sind unzulässig.17 Wahre Tatsachenbehauptungen können unzulässig sein, wenn die Darstellung in das allgemeine Persönlichkeitsrecht eines Dritten eingreift.18 Das setzt wiederum voraus, dass die Person – jedenfalls von einem kleinen Leser- oder Zuschauerkreis – überhaupt identifiziert werden kann.19 11 Für die Pressefreiheit: BVerfGE 107, 299 (329); 91, 125 (134); für die Rundfunkfreiheit: BVerfGE 77, 65 (74); 91, 125 (135); BGHZ 110, 371 (395). 12 Für die Pressefreiheit: BVerfGE 66, 116 (133); 20, 162 (276); vgl. Jarass, in: ders./Pieroth, GG, Art. 5 Rn. 27. 13 BVerfGE 101, 361 (389); 34, 269 (283); vgl. Neukamm, Bildnisschutz in Europa, 2007, S. 95 f. 14 BVerfG NJW-RR 2010, 1195 (1196). 15 Vgl. BVerfGE 101, 361 (389 f.); 97, 125 (144). 16 Zur praktischen Konkordanz vgl. OVG Münster NVwZ-RR 2009, 923; BVerfG JuS 2005, 1031 (1033); BVerwGE 105, 73; Muckel, NJW 2000, 689 ff. 17 BVerfGE 94, 1 (8); 97, 391 (403); 99, 185 (196). 18 BVerfGE 97, 391 (403 f.); 99, 185 (196 f.). 19 Vgl. OLG München ZUM 2009, 777 (780).

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Eine Persönlichkeitsverletzung kann zu bejahen sein, wenn die Berichterstattung eine erhebliche Breitenwirkung entfaltet und eine Stigmatisierung des Betroffenen droht.20 Gleiches gilt, wenn der persönliche Lebensbereich von der Berichterstattung betroffen ist. Der Bereich der Sexualität zählt insoweit nicht zwangsläufig und in jedem Fall zu dem gegenüber einer Berichterstattung in den Medien absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung. Eine Sexualstraftat ist keinesfalls Ausdruck der geschützten freien Entfaltung der Persönlichkeit des Täters; auch die weiteren Umstände der Tat zählen nicht zu seiner Intimsphäre.21 Die Berichterstattung kann aufgrund eines überwiegenden öffentlichen Interesses gerechtfertigt sein. Straftaten gehören zum Zeitgeschehen, dessen Vermittlung zu den Aufgaben der Medien zählt. Ein Interesse an näheren Informationen über Tat und Täter ist daher anzuerkennen. Grundsätzlich gilt, dass derjenige, der den Rechtsfrieden bricht, sich nicht nur den strafrechtlichen Sanktionen beugen, sondern auch dulden muss, dass „das von ihm selbst erregte Informationsinteresse der Öffentlichkeit auf den dafür üblichen Wegen befriedigt wird“.22 Dieses Interesse ist umso stärker in der Abwägung zu berücksichtigen, je mehr sich die Tat in Begehungsweise und Schwere von der gewöhnlichen Kriminalität abhebt.23 Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass bei geringfügigen Straftaten das öffentliche Informationsinteresse grundsätzlich zu verneinen wäre.24 Schließlich ist zu beachten, dass der Persönlichkeitsschutz des Betroffenen mit der zeitlichen Distanz zur Straftat wieder an Gewicht gewinnen kann, mit der Folge, dass fortgesetzte und wiederholte Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht unter Berücksichtigung des Interesses des Täters an der Wiedereingliederung in die Gemeinschaft nicht ohne Weiteres gerechtfertigt sind.25 2. Besonderheiten bei der Berichterstattung über Beschuldigte

Es gehört auch zur Aufgabe der Medien, bereits über einen Sachverhalt zu berichten, wenn die Schuldfrage noch nicht geklärt ist; denn nur so können sie ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabe nachkommen, durch das Aufzeigen von 20

BVerfG ZUM 2009, 216 (218). BVerfG NJW 2009, 3357 (3359). 22 So schon BVerfGE 35, 202 (231); BVerfG NJW 2009, 3357 (3358). 23 BVerfGE 35, 202 (231); BVerfG NJW 2009, 3357 (3358). Dagegen hat das KG in einer Entscheidung aus dem Jahre 2009 betont, dass auch das Interesse, die Bevölkerung über den Gerichtsalltag zu informieren, anzuerkennen ist und es somit nicht auf besonders spektakuläre Prozesse ankommt (MMR 2009, 478). 24 BVerfG NJW-RR 2010, 1195 (1197) unter Hinweis auf die Leitbildfunktion des betroffenen Politikers und die öffentliche Debatte über die Strafbarkeit des Besitzes von Betäubungsmitteln. 25 So schon BVerfGE 35, 202 (231); BVerfG NJW 2009, 3357 (3358). 21

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Verfehlungen und Missständen an der öffentlichen Meinungsbildung mitzuwirken.26 Gleichzeitig muss aber auch der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren beachtet werden.27 Um der besonderen Konfliktlage gerecht zu werden, hat der Bundesgerichtshof die sog. „Grundsätze der Verdachtsberichterstattung“ entwickelt. Diese sind nicht auf strafrechtliche Ermittlungsverfahren beschränkt, sondern gelten bei allen Verfahren, die geeignet sind, das Ansehen des Betroffenen in der Öffentlichkeit herabzusetzen.28 Im Einzelnen müssen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs folgende Voraussetzungen erfüllt sein: Die identifizierende Berichterstattung über einen Verdacht ist nur zulässig, wenn er Gegenstand eines berechtigten öffentlichen Interesses ist.29 Hierunter fallen nicht nur Kapitalverbrechen; auch Straftaten mittlerer Kriminalität können durchaus ein berechtigtes Interesse erzeugen.30 Ein Informationsinteresse kann zudem auch aus der Person resultieren, über die berichtet wird.31 Insoweit berühren sich die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung mit der Rechtsfigur der absoluten und relativen Person der Zeitgeschichte. Diese hat die Rechtsprechung in Anlehnung an § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG entwickelt. Danach ist die Verbreitung von Bildnissen ohne die nach § 22 S. 1 KUG erforderliche Einwilligung des Abgebildeten ausnahmsweise zulässig, wenn es sich um Bildnisse aus dem Bereich der Zeitgeschichte handelt. Hierbei differenziert die Rechtsprechung zwischen absoluten und relativen Personen der Zeitgeschichte, ohne dass dies eine Abwägung im Einzelfall entbehrlich macht.32

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Vgl. OLG München ZUM 2009, 777 (778); Molle, ZUM 2010, 331 (332). Siehe hierzu BVerfG NJW 1991, 3140; NJW 2008, 2243. Zur Unschuldsvermutung, die auch in Art. 6 EMRK und in Art. 48 der EU-Grundrechtecharta garantiert wird, s. Graf, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl., 2008, Vorbem. Rn. 8; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 40. Aufl., 2009, Grundrechtsschutz und rechtsstaatliche Grundsätze Rn. 276. 28 So hat das OLG Hamburg in einem Verfahren, in dem es um die Unterlassung einer ehrenrührigen Äußerung nach §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB ging, entschieden, dass die Grundsätze auch in diesem Bereich Beachtung finden müssen, weil auch dort das Ansehen des Betroffenen beschädigt werden könne (ZUM-RD 2009, 326 (328)). 29 OLG Karlsruhe NJW-RR 2003, 688. 30 BGH NJW 2000, 1036 ff. 31 OLG Hamburg ZUM-RD 2009, 326 (328). 32 Vgl. BGH GRUR 2009, 150; BVerfG ZUM 2001, 578 (580). Seit dem CarolineUrteil des EGMR vom 24.06.2004 (NJW 2004, 2647 ff.), in dem das Gericht den durch die Rechtsprechung der deutschen Gerichte gewährten Schutz des Persönlichkeitsrechts als unzureichend deklariert hat, relativiert der BGH zwar die Person der Zeitgeschichte deutlich und stellt im Rahmen der Abwägung primär auf die Frage des Vorliegens eines Ereignisses der Zeitgeschichte ab (vgl. BGH GRUR 2007, 523). Gleichwohl geht er davon aus, dass weiterhin auf die bisherige Rechtsprechung des BVerfG und des BGH zurückgegriffen werden kann (BGH GRUR 2007, 523; GRUR 2007, 902; GRUR 2007, 899). 27

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Eine absolute Person der Zeitgeschichte ist ein Mensch, der aufgrund seiner hervorgehobenen Stellung in Staat und Gesellschaft oder durch außergewöhnliches Verhalten oder besondere Leistung aus der Masse der Mitmenschen herausragt.33 Hingegen handelt es sich um eine relative Person der Zeitgeschichte, wenn die Person erst im Zusammenhang mit einem bestimmten Geschehen der Zeitgeschichte derart in die Öffentlichkeit gelangt, dass ein Informationsinteresse der Allgemeinheit für beschränkte Zeit und im beschränkten Umfang gegeben ist.34 Bei absoluten Personen der Zeitgeschichte wird häufig ein Informationsbedürfnis zu bejahen sein, das auch die Berichterstattung über einen „bloßen“ Verdacht rechtfertigt. Diese Personen haben selbst zeitgeschichtliche Bedeutung, so dass ihre Darstellung einen erheblichen Öffentlichkeitswert hat, was in der Abwägung zugunsten des Berichterstattungsinteresses deutlich ins Gewicht fällt.35 Das gilt erst recht, wenn die mögliche Straftat mit der öffentlich ausgeübten Funktion der Person in Zusammenhang steht.36 Nach der Rechtsprechung müssen im Rahmen der Verdachtsberichterstattung bestimmte Sorgfaltspflichten beachtet werden.37 Medien dürfen nur über einen Verdacht berichten, wenn sie einen Mindestbestand an Beweistatsachen ermittelt haben, der für den Wahrheitsgehalt des Verdachts spricht und dem Verdacht damit einen Öffentlichkeitswert verleiht.38 Dabei sind die Anforderungen an die Sorgfaltspflichten umso höher, je schwerer und nachhaltiger das Ansehen des Betroffenen durch die Veröffentlichung beeinträchtigt wird.39 Zwar dürfen fremde Recherchearbeiten übernommen werden, wenn sie von einer zuverlässigen und anerkannten Quelle stammen.40 Sollte sich aber auch nur der kleinste Zweifel an der Zuverlässigkeit der Quelle aufdrängen, so gebietet es die journalistische Sorgfaltspflicht, den Sachverhalt vor Veröffentlichung weiter aufzuarbeiten.41 Der Bericht darf nicht den Eindruck erwecken, als sei der Beschuldigte der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt.42 Ein solcher Eindruck wird häu33 Vgl. BGH GRUR 2007, 523 (524); Götting, in: Schricker/Loewenheim (Hrsg.), Urheberrecht-Kommentar, 4. Aufl., 2010, § 23 KUG Rn. 21. 34 BGH GRUR 2007, 523 (524); Dreier, in: ders./Schulze, Urheberrechtsgesetz, 3. Aufl., 2008, § 23 Rn. 8. 35 Vgl. BGH GRUR 2007, 899 (900). 36 Vgl. BVerfGE 101, 361 (391 ff.). 37 Die Grundsätze sind nicht ohne weiteres auf Privatpersonen übertragbar; nach dem BVerfG dürfen sich Privatpersonen zur Erfüllung ihrer Darlegungslast auf Presseberichte beziehen und müssen nicht weitergehende Recherchen betreiben, vgl. BVerfGE 81, 1 (22). 38 BGH NJW 1977, 1288 (1289); NJW 1997, 1148 (1149); OLG München NJW-RR 2002, 186; OLG Dresden NJW 2004, 1181; OLG München ZUM 2009, 777. 39 BGHZ 143, 199 (203); OLG München ZUM 2009, 777. 40 KG MMR 2009, 482; Peters, NJW 1997, 1334 (1337). 41 BVerfG ZUM 2007, 468; OLG Hamburg ZUM-RD 2009, 326 (329); OLG München ZUM 2009, 777 (779).

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fig bei einer einseitigen oder bewusst verfälschten Darstellung vermittelt; deshalb ist es erforderlich, dass die zur Verteidigung des Betroffenen vorgetragenen Tatsachen und Argumente ebenfalls angemessen berücksichtigt werden.43 Schließlich sind die Medien vor der Veröffentlichung ihres Berichts dazu verpflichtet, sich ernsthaft um eine Stellungnahme des Beschuldigten zu bemühen, um den Standpunkt des Beschuldigten zu erfahren und möglichst auch zum Ausdruck zu bringen, zumindest aber zu berücksichtigen.44 Die Anforderungen an ein ernsthaftes Bemühen richten sich nach dem jeweiligen Einzelfall. 3. Besonderheiten bei der Berichterstattung über Organe der Rechtspflege

Auch bei der Berichterstattung über die Organe der Rechtspflege gibt es Besonderheiten, die zu beachten sind. Richter, Staatsanwälte, Strafverteidiger und Rechtsanwälte können zu den bereits erwähnten relativen Personen der Zeitgeschichte zählen.45 Der entscheidende Unterschied zur absoluten Person der Zeitgeschichte besteht darin, dass das Informationsinteresse der Öffentlichkeit nicht in der Person, sondern vorrangig in einem bestimmten zeitgeschichtlichen Geschehen begründet ist.46 Gerichtliche Verfahren können wegen ihres Streitgegenstandes oder den Verfahrensbeteiligten eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse sein und damit die Verfahrensbeteiligten zu relativen Personen der Zeitgeschichte machen. Tatverdächtige sind relative Personen der Zeitgeschichte, wenn ihre Tat in erheblichem Maße aus dem Rahmen des Alltäglichen heraussticht und daher als zeitgeschichtlich zu qualifizieren ist.47 Auch Richter48 oder Rechtsanwälte49 können im thematischen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Aufsehen erregenden Prozess das Interesse der Öffentlichkeit wecken. Die Rechtsprechung neigt bei der Berichterstattung über Organe der Rechtspflege dazu, dem öffentlichen Informationsinteresse gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen von vornherein ein größeres Gewicht beizumessen.50 Das Bundesverfassungsgericht betont in seinen Entscheidungen regel42

BGHZ 143, 199 (203). OLG Hamburg ZUM-RD 2005, 508. 44 BGH NJW 1996, 1131 (1134). 45 Für Straftäter und Angeklagte s. BVerfG AfP 2006, 354; BGH GRUR 2006, 257; OLG Celle NJW-RR 2001, 335; OLG Frankfurt AfP 2006, 591; OLG Hamburg ZUM 1995, 336; für die Organe der Rechtspflege s. BVerfG NJW 2000, 2890; OLG Hamburg AfP 1982, 177. 46 BVerfGE AfP 2001, 212 (214); BGH NJW 2006, 599 (560 f.). 47 BVerfGE 35, 202 (235); OLG Hamburg 1995, 336 (337). 48 Vgl. BVerfG NJW 2001, 1633 (1637). 49 Vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 17.03.2006, Az.: 14 U 134/05; Neukamm, Bildnisschutz in Europa, S. 111. 50 So z. B. KG MMR 2009, 478. 43

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mäßig, dass Richter und Staatsanwälte die Beeinträchtigungen ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts sogar durch Film- und Tonbandaufnahmen hinnehmen müssten, da sie „kraft des ihnen übertragenen Amtes anlässlich ihrer Teilnahme an öffentlichen Sitzungen im Blickfeld der Öffentlichkeit unter Einschluss der Medienöffentlichkeit“ stünden.51 Ein überwiegendes Interesse der Organe der Rechtspflege an der Wahrnehmung nur durch die in der Sitzung Anwesenden ist angesichts der Bedeutung einer möglichst authentischen Berichterstattung unter Einschluss der Bildberichterstattung über das Verfahren und ihre Beteiligten regelmäßig nicht anzunehmen.52 Allerdings berücksichtigt das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Interessenabwägung auch, dass im Einzelfall das Persönlichkeitsrecht eines Richters, Schöffen oder Staatsanwalts das Berichterstattungsinteresse überwiegen kann; dies ist regelmäßig der Fall wenn aufgrund besonderer Umstände konkrete Beeinträchtigungen für den Betroffenen zu befürchten sind, die kausal durch die Abbildung verursacht werden.53 III. Einfluss der Dritten auf die Vierte Gewalt Der Einfluss der Judikative auf die Medien wird besonders deutlich im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Dort kann im Einzelfall das staatliche Interesse an der Aufklärung von Straftaten mit der Presse- und Rundfunkfreiheit kollidieren. Nicht zuletzt die Durchsuchung von Redaktionsräumen und Beschlagnahme von Recherchematerial stellen wegen der damit verbundenen Störung der Redaktionstätigkeit und der möglichen einschüchternden Wirkung eine Beeinträchtigung der Presse- bzw. Rundfunkarbeit dar.54 Es stellt sich insbesondere die Frage, ob die Strafprozessordnung Journalisten bei strafprozessualen Maßnahmen einen hinreichenden Schutz gewährt. Das bekannte Cicero-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat indes nicht nur für Klarheit gesorgt, sondern auch gesetzgeberische Maßnahmen nach sich gezogen. 1. Rechtliche Regelungen zum Schutz von Journalisten vor strafprozessualen Zwangsmaßnahmen

Aufgrund der Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit für die Demokratie hat es der Gesetzgeber als unerlässlich erachtet, Journalisten durch spezielle Regelungen vor strafprozessualen Zwangsmaßnahmen zu schützen. Einschlägig sind insoweit vor allem das Zeugnisverweigerungsrecht gem. § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO und das Beschlagnahmeverbot gem. § 97 Abs. 5 StPO, das die Beschlagnahme 51

So z. B. BVerfG NJW 2000, 2890 (2891). BVerfG NJW 2000, 2890 (2891); ZUM 2007, 845, 846. 53 BVerfG NJW 2000, 2890 (2891). 54 Vgl. BVerfGE 117, 244 (259); BVerfG NJW 2005, 965; BGH NJW 1999, 2052 (2053). 52

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bestimmter Gegenstände, die sich im Gewahrsam der in § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO genannten zeugnisverweigerungsberechtigten Personen befinden, ausschließt. Zur Absicherung des Zeugnisverweigerungsrechts hat der Gesetzgeber mit Gesetz vom 21.12.200755 zudem den neuen § 160a StPO eingeführt, der Beschränkungen von Ermittlungsmaßnahmen bei den Personen vorsieht, die nach §§ 53, 53a StPO ihr Zeugnis verweigern dürfen. § 160a StPO bezweckt „ein harmonisiertes System zur Berücksichtigung der von den Zeugnisverweigerungsrechten der Berufsgeheimnisträger geschützten Interessen außerhalb der Vernehmungssituation“.56 Mit der Vorschrift soll verhindert werden, dass Strafverfolgungsbehörden an Erkenntnisse, über die Berufsträger ein Zeugnisverweigerungsrecht haben, auf andere zumeist verdeckte Ermittlungsmaßnahmen gelangen.57 Für die in § 53 Abs. 1 Nr. 5 StPO genannten Personen sieht § 160a Abs. 2 StPO ein relatives Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbot vor:58 Soweit durch eine Ermittlungsmaßnahme Erkenntnisse erlangt würden, über die das Zeugnis verweigert werden dürfte, ist dies bei der Verhältnismäßigkeit besonders zu berücksichtigen; ist keine Straftat von erheblicher Bedeutung betroffen, ist in der Regel nicht von einem Überwiegen des Strafverfolgungsinteresses auszugehen. Diese auf den ersten Blick weitreichenden Schutzvorschriften werden jedoch durch Ausnahmeregelungen stark eingeschränkt. So gilt das relative Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbot gemäß § 160a Abs. 2 StPO nicht, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass die zeugnisverweigerungsberechtigte Person an der Tat oder einer Begünstigung, Strafvereitelung oder Hehlerei beteiligt ist (Abs. 4). Auch in § 97 Abs. 5 StPO hat der Gesetzgeber die Ausnahme normiert, dass eine Beschlagnahme zulässig ist, wenn Tatsachen den Verdacht begründen, dass die zeugnisverweigerungsberechtigte Person selbst in die Straftat verstrickt ist, die Beschlagnahme verhältnismäßig ist und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes des Täters ohne die Beschlagnahme wesentlich erschwert werden würde. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der durch Tatsachen begründete Verstrickungsverdacht höheren Anforderungen als der bloße Anfangsverdacht unterliegt, und verlangt „konkrete und in gewissem Umfang verdichtete Umstände als Tatsachenbasis für den Verdacht“.59 Dennoch bleibt die Verdachtsschwelle vergleichsweise niedrig, so dass die journalistische Tätigkeit Gefahr läuft, schnell ihres Schutzes zu entbehren. Insbesondere das für die Presse- und Rundfunkfreiheit unverzichtbare Vertrauensverhältnis zwischen einem Journalis55

BGBl. I, S. 3198. BT-Drucks. 16/5846, S. 2. 57 Griesbaum, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl., 2008, § 160a Rn. 1. 58 s. hierzu Griesbaum, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl., 2008, § 160a Rn. 2. Zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Einzelnen s. ders., § 160a Rn. 14. 59 Vgl. BVerfGE 109, 279 (350). 56

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ten und seinem Informanten kann durch die Ausnahmeregelungen empfindlich gestört werden. 2. Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Fall Cicero

In seinem Cicero-Urteil 60 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Anordnung der Durchsuchung der Redaktionsräume und die Beschlagnahme der dort aufgefundenen Beweismittel einen verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigten Eingriff in die Pressefreiheit des Beschwerdeführers darstellten. Die Instanzgerichte hätten dem verfassungsrechtlich gebotenen Informantenschutz nicht hinreichend Rechnung getragen. Es sei nicht zulässig, die Räume von Presseangehörigen zu durchsuchen und Material zu beschlagnahmen, wenn die Beschlagnahme ausschließlich oder vorwiegend dem Zweck dient, die Person des Informanten zu ermitteln.61 Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Cicero-Urteil auch zu dem Verstrickungsverdacht geäußert, der den strafprozessualen Schutz der Journalisten nach den §§ 97 und 160a StPO62 entfallen lässt. Zunächst hat das Gericht klargestellt, dass die Durchsuchung und Beschlagnahme in besonderem Maße in die Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit eingreife und auch das Vertrauensverhältnis zu Informanten erheblich beeinträchtigen könne. An die Rechtmäßigkeit der Maßnahmen seien daher hohe Anforderungen zu stellen. So deute allein die Veröffentlichung eines Geheimnisses in der Presse nicht zwingend auf das Vorliegen einer Haupttat gem. § 353b StPO durch den Geheimnisträger hin. Der Tatbestand sei etwa nicht verwirklicht und eine Beihilfe daher nicht möglich, wenn Schriftstücke oder Dateien mit Dienstgeheimnissen versehentlich oder über eine nicht zur Geheimhaltung verpflichtete Mittelsperson nach außen gelangen. Die strafprozessualen Normen über die Durchsuchung und Beschlagnahme müssten daher dahingehend ausgelegt werden, dass die bloße Veröffentlichung des Dienstgeheimnisses durch einen Journalisten nicht ausreicht, um einen diesen Vorschriften genügenden Verdacht der Beihilfe des Journalisten zum Geheimnisverrat zu begründen. Erforderlich seien vielmehr spezifische tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer beihilfefähigen Haupttat.63 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gilt als richtungweisend,64 hat es damit doch einer Praxis mit verheerenden Folgen für den investigativen Journalis60

BVerfGE 117, 244 ff. BVerfGE 117, 244 (265); s. a. BVerfGE 20, 162 (191 f.; 217). 62 Im Zeitpunkt des Cicero-Urteils gab es § 160a StPO noch nicht. Die Rechtsprechung lässt sich aber auf die Auslegung des später eingeführten § 160a Abs. 4 StPO übertragen. 63 BVerfGE 117, 244 (266). 64 Vgl. Brüning, NStZ 2006, 253; Schmidt-De Caluwe, NVwZ 2007, 640; s. a. NJWSpezial 2007, 184. 61

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mus den Riegel vorgeschoben. Ermittlungsverfahren gegen Journalisten, allein mit dem Ziel, dadurch an die Identität des Informanten zu gelangen bzw. das Leck in den eigenen Reihen zu schließen, dürften danach in Zukunft nicht mehr zulässig sein. 3. Aktuelle gesetzgeberische Maßnahmen

Auch die Bundesregierung hat zwischenzeitlich reagiert und am 21. Oktober 2010 den „Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht“ eingebracht.65 Damit soll sichergestellt werden, dass Journalisten ihnen vertraulich zugeleitetes Material in Zukunft veröffentlichen können, ohne sich strafbar zu machen. Im Einzelnen sieht der Entwurf der Bundesregierung als wesentliche Änderungen eine Ergänzung von § 353b StGB um einen neuen Absatz 3a vor. Danach entfällt die Rechtswidrigkeit der Beihilfehandlung einer in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StPO genannten Person, wenn sie sich auf die Entgegennahme, Auswertung oder Veröffentlichung des Geheimnisses oder des Gegenstandes oder der Nachricht, zu deren Geheimhaltung eine besondere Verpflichtung besteht, beschränkt.66 Die Ausnahmen des § 97 Abs. 2 Satz 3 und § 160a Abs. 4 Satz 2 StPO sollen nach dem Entwurf zukünftig nur gelten, wenn bestimmte Tatsachen einen dringenden Verdacht der Beteiligung begründen und die Beschlagnahme gem. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verhältnismäßig ist.67 Am 30. November 2010 hat zudem die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen den „Entwurf eines Gesetzes zum Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozessrecht“ vorgelegt,68 der teilweise sogar über den Entwurf der Bundesregierung hinaus geht. Danach soll z. B. auch die Anstiftung zur Verletzung des Dienstgeheimnisses nach § 353b StGB für Medienangehörige straffrei bleiben. Des Weiteren sollen Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmen bei Journalisten nach § 97 Abs. 5 Satz 2 StPO nur noch von einem Richter angeordnet werden können und unter strikter Beachtung der Pressefreiheit begründet werden. Beide Gesetzesvorhaben sind sehr zu begrüßen: Der neue § 353b Abs. 3a StGB knüpft an die Argumentationslinie im Cicero-Urteil des Bundesverfassungsgerichts an, wonach die bloße Veröffentlichung des Dienstgeheimnisses nicht ausreicht, um den Verdacht der Beihilfe des Journalisten zum Geheimnisverrat zu begründen. Eine Fortentwicklung erfährt dieser Gedanken in der Voraussetzung des dringenden Tatverdachts in § 97 Abs. 5 StPO. Diese höhere Anforderung rechtfertigt sich für Journalisten mit dem Schutzbereich des Art. 5 65 66 67 68

BT-Drucks. 17/3355. Vgl. Art. 1 des Gesetzesentwurfs, BT-Drucks. 17/3355, S. 5. Vgl. Art. 2 des Gesetzesentwurfs, BT-Drucks. 17/3355, S. 5. BT-Drucks. 17/3989.

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Abs. 1 Satz 2 GG, der bei der Abwägung zwischen dem Grundrechtsschutz des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse hohe Hürden setzt. In diesem Kontext ist auch der Richtervorbehalt im Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen zu verstehen. Deutlicher Unterschied zwischen den beiden Entwürfen ist die Art der straffrei zu stellenden Teilnahmehandlung. Im Sinne eines möglichst umfassenden Schutzes von Journalisten vor Strafverfolgung im Zusammenhang mit dem Verrat eines Dienstgeheimnisses spricht vieles dafür, neben der Beihilfe auch die Anstiftung zum Geheimnisverrat von der Strafbarkeit auszunehmen. Das gilt auch deshalb, weil die Abgrenzung der Anstiftung zur Beihilfe bei § 353b StGB schwierig, teils sogar unmöglich ist. Die Staatsanwaltschaft weiß im Zeitpunkt des Antrags auf Durchsuchung und Beschlagnahme außer der Tatsache der Veröffentlichung häufig nicht mehr, als dass ein Journalist im Besitz des gesuchten Materials ist.69 In welcher Form der Journalist an der Tat beteiligt war, ist in diesem Stadium oft unklar. Bei einer Beschränkung des Schutzes der Journalisten auf Beihilfehandlungen könnte der gewollte strafprozessuale Schutz dann leerlaufen, wenn die Staatsanwaltschaft dazu überginge, verstärkt Anklage wegen des Verdachts auf Anstiftung zum Geheimnisverrat zu erheben. IV. Einfluss der Vierten auf die Dritte Gewalt Der Einfluss der Medien auf die Judikative wird häufig plakativ mit den Worten „Kontrolle der Justiz“ beschrieben.70 Bei laufenden Strafverfahren wird die Kontrolle vor allem durch die Berichterstattung aus dem Gerichtssaal ausgeübt.71 Neben der Kontrolle kann eine kritische Begleitung der Rechtsprechung in den Medien aber auch zu einer Fortentwicklung des Rechts beitragen und damit letztlich auch einen Beitrag zur Akzeptanz des Rechts leisten.72 Doch zu welchen Kosten? So stellt sich insbesondere die Frage, inwieweit die Berichterstattung das Verhalten der Prozessbeteiligten beeinflusst bzw. ob ein faires Strafverfahren gewährleistet werden kann. 1. Kontrolle der Rechtsprechung durch Gerichtsberichterstattung

Der in § 169 Satz 1 GVG geregelte Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung vor dem erkennenden Gericht, einschließlich der Verlesung der Urteile und 69

Vgl. BVerfGE 117, 244 (246). So äußerte sich z. B. Gisela Friedrichsen auf dem Deutschen Anwaltstag 2010 im Rahmen der Diskussion, ob die Medien die Justiz kontrollieren, vgl. Müller, in: faz.net vom 29.08.2010 und Jahn, in: faz.net vom 18.05.2010; vgl. auch Burkart, Kommunikationswissenschaft, 4. Aufl., 2002, S. 394 ff.; s. a. BGH GRUR 2009, 150 (152). 71 BVerfGE 119, 309 (320); vgl. BGH NJW 2006, 1220 (1221). 72 Eberle, in: ZDF-Jahrbuch 2009, S. 61. 70

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Beschlüsse, sollte es ursprünglich dem Bürger ermöglichen, die Gerichtsbarkeit durch seine Präsenz zu kontrollieren.73 Die Kontrolle durch den Bürger wurde in den letzten Jahren jedoch immer mehr von den Medien wahrgenommen.74 § 169 Satz 2 GVG besagt zwar explizit, dass Ton-, Fernsehrundfunk- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung unzulässig sind.75 Auch folgt weder aus §§ 169 ff. GG noch aus der Presse- und Rundfunkfreiheit eine Sonderstellung der Medienvertreter hinsichtlich des Zugangs zu öffentlichen Gerichtsverhandlungen.76 Den Journalisten bleibt es aber unbenommen, an einer Verhandlung wie jeder andere Bürger teilzunehmen und außerhalb der mündlichen Verhandlung sowie vor und nach dem Verfahren hierüber öffentlichkeitswirksam zu berichten. Daneben ist auch eine Berichterstattung aus dem Gerichtssaal möglich. Die Gerichtsberichterstattung stößt bei den Verfahrensbeteiligten regelmäßig nicht auf Gegenliebe; häufig wird unter Hinweis auf die Persönlichkeitsrechte der Beteiligten, den Anspruch auf ein faires Verfahren oder die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege der Versuch unternommen, vor allem Fernsehaufnahmen aus dem Gerichtssaal zu verhindern. Das Bundesverfassungsgericht hat sich hiermit bereits mehrfach auseinandergesetzt und dabei stets die Bedeutung der Gerichtsberichterstattung hervorgehoben und sie als grundrechtsgeschützte Position gegen die schützenswerten Interessen der Verfahrensbeteiligten abgewogen.77 Fernsehaufnahmen vor und nach der mündlichen Verhandlung sowie in den Verhandlungspausen im Strafverfahren gegen Erich Honecker hat es als zulässig erachtet.78 Ein Ausschluss jeglicher Fernsehaufnahmen stelle eine Verletzung der Rundfunkfreiheit dar. In der Abwägung zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und der äußeren Ordnung des Strafverfahrens sei dem Informationsinteresse mehr Gewicht beizumessen. Der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege aber auch der Würde des Angeklagten würde durch eine zahlenmäßige 73 Meissner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 19. EGL 2009, § 55 Ordnungsvorschriften des GVG, Rn. 18; Zimmermann, in: Münchener Kommentar ZPO, 3. Aufl., 2008, § 169 GVG Rn. 1. 74 Vgl. Zimmermann, in: Münchener Kommentar ZPO, 3. Aufl., 2008, § 169 GVG Rn. 41 ff. 75 Aus diesem Grunde entschied das BVerfG durch Beschluss vom 03.12.2008, dass Journalisten keine Notebooks im Sitzungssaal während einer Verhandlung benutzen dürfen, denn es sei kaum kontrollierbar, ob die in den Notebooks in der Regel integrierten Kameras und Mikrofone nicht benutzt würden. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Pressefreiheit sei nicht zu befürchten, da weder der Zugang der Medien zur Gerichtsverhandlung eingeschränkt noch die Berichterstattung inhaltlich oder substanziell davon abhänge, ob Notebooks zugelassen werden (NJW 2009, 352 (353)). 76 Dazu ausführlich Meissner, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 19. EGL 2009, § 55 Ordnungsvorschriften des GVG, Rn. 19 f.; BVerfG NStZ 2004, 161; Gostomzyk, JuS 2002, 228. 77 Vgl. z. B. BVerfGE 119, 309 ff. 78 BVerfGE 91, 125 ff.

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Beschränkung der Medienvertreter hinreichend Rechnung getragen.79 Auch für den Fall von Risiken für Leib oder Leben des Angeklagten hat das Bundesverfassungsgericht in einer späteren Entscheidung das Verbot von Fernsehaufnahmen im Gerichtssaal als unzulässig erachtet.80 In seinem Urteil vom 19. Dezember 2007 konkretisierte das Bundesverfassungsgericht, unter welchen Voraussetzungen Richter, Rechtsanwälte oder sonstige Verfahrensbeteiligte im Gerichtssaal gefilmt werden dürfen.81 In der sitzungspolizeilichen Verfügung war jegliche Ton- oder Bildberichterstattung in den Zeiträumen 15 Minuten vor der Verhandlung und 10 Minuten nach ihrer Beendigung verboten worden. Dies wurde mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten aber auch damit begründet, dass dies zur Sicherung einer sachgerechten, vom Druck der Berichterstattung unbeeinflussten Entscheidungsfindung der nicht als Berufsrichter tätigen Schöffen erforderlich sei. Dem ist das Gericht nicht gefolgt: So seien Filmaufnahmen von den Richtern und Schöffen hinzunehmen, da sie ohnedies im Blickpunkt der Öffentlichkeit stünden. Eine Ausnahme gelte nur, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung der Sicherheit dieser Personen vorlägen. Das Gericht hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Organe der Rechtspflege bei der Ausübung ihrer Funktion eine größere Beschränkung ihres persönlichkeitsrechtlichen Schutzes hinzunehmen haben als betroffene Privatpersonen.82 2. Einfluss der Vierten Gewalt auf Verfahren und Verfahrensbeteiligte

Die Kontrolle der Judikative durch die Medien führt in einigen Einzelfällen sicher dazu, dass im Lichtkegel der Öffentlichkeit effektivere und gründlichere Arbeit geleistet wird; denn die Richter und Staatsanwälte sind durch die Medienaufmerksamkeit dazu gezwungen, ihre Entscheidungen verständlich zu begründen und offensiv zu vertreten.83 Zugleich wird aber auch ein gewisser Druck auf die Verfahrensbeteiligten – insbesondere auf die entscheidenden Richter und Staatsanwälte – ausgeübt, der Einfluss auf den Entscheidungsprozess haben könnte. Anders als die Erste und Zweite Gewalt haben Richter und Staatsanwälte als Vertreter der Dritten Gewalt nur beschränkt Möglichkeiten, sich gegen diesen Druck zur Wehr zu setzen. Im Jahr 2006 kam eine Umfrage, die von einer Medienagentur unter Strafverteidigern durchgeführt wurde, zu dem Ergebnis, dass mehr als 70% der befragten 79

BVerfGE 91, 125 (138). Vgl. BVerfG JR 2002, 409 ff. mit Hinweis auf die Möglichkeit einer Anonymisierung des Gesichts. 81 BVerfGE 119, 309 ff. 82 BVerfGE 119, 309 (329). 83 So auch der frühere Justizminister des Landes Rheinland-Pfalz Herbert Mertin in einem Interview, ZRP 2005, 205. 80

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Rechtsanwälte glauben, dass Berufsrichter sich bei ihrer Urteilsfindung von den Medien beeinflussen lassen. Mehr als 80% meinten zudem, dass Staatsanwälte aufgrund des öffentlichen Drucks statt eines Strafbefehls Anklage erheben würden.84 Dieses Ergebnis wurde durch die Studie von Hans Mathias Kepplinger, Rudolf Gerhardt und Thomas Zerback mit dem Titel „Wir Richter sind auch nur Menschen“, die unter dem gleichen Namen am 11. Januar 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht wurde, jedoch relativiert.85 Zwar legt die Studie nahe, dass die Medien einen Einfluss auf die Justiz haben; es wird aber unterschiedlich beurteilt, in welchem Bereich und bei welchen Akteuren der Einfluss in Erscheinung tritt. Im Ergebnis sahen der Großteil der 447 befragten Richter und der 306 befragten Staatsanwälte einen Einfluss der Medienberichterstattung auf die Atmosphäre des Verfahrens und die Aussage der Zeugen sowie das Auftreten der Anwälte für gegeben; hier wurden insbesondere Effekthascherei, Eigenwerbung und eine betont positive Selbstdarstellung genannt. Allerdings verneint ein Großteil der Befragten zugleich Auswirkungen auch auf die Beweiswürdigung und die Schuldfrage.86 Diesem Ergebnis folgend scheint zwar die Unbefangenheit im Sinne eines natürlichen Umgangs der Verfahrensbeteiligten miteinander einer angespannten Atmosphäre zu weichen, sobald ein Prozess von den Medien in die Öffentlichkeit getragen wird. Es scheint jedoch weder die richterliche Unabhängigkeit und die freie Beweiswürdigung durch den Richter zu beeinflussen, wenn ein Verfahren in den Blickwinkel der Öffentlichkeit rückt. Mithin bedarf es auch keines Schutzes der Richter vor (kritischen) Berichterstattungen in den Medien, solange die Presse- und Rundfunkvertreter die entsprechenden Gesetze zur sorgfältigen Recherchearbeit und wahrheitsgetreuen Darstellung einhalten und das Persönlichkeitsrecht der Richter und Staatsanwälte achten. V. Schlussbemerkung Das einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft immanente Spannungsverhältnis zwischen der Judikative und den Medien kann und darf nicht vollständig aufgelöst werden. Erforderlich sind jedoch Regeln und Verhaltensweisen, die gleichermaßen individuelle Rechte wahren wie auch die unterschiedlichen rechts84 Wilmes, Krisen-PR im Strafprozess, in: Krisen-PR, alles eine Frage der Taktik 2006, S. 101 ff., zitiert in Gerhardt, ZRP 2009, 247 (248). 85 Nach Gerhardt, ZRP 2009, 247 ff. gab es insgesamt drei Befragungen über den Einfluss der Medien auf die Justiz: 1990 mit 36 Befragten, 2000 mit 66 Befragten und die hier dargestellte Befragung aus dem Jahre 2008, bei der 753 der knapp 3000 angeschriebenen Justizorgane antworteten. Nach Gerhardt stimmen die Ergebnisse der drei Untersuchungen weitgehend überein. Eine ausführliche Auswertung der letzten Befragung findet sich bei Bockemühl (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 4. Aufl., 2009. 86 Vgl. auch Gerhardt, ZRP 2009, 247 (249).

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staatlichen Funktionen der Justiz und der Medien gewährleisten. In zunehmendem Maße erfasst das öffentliche Interesse bereits das nicht-öffentliche polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlungsverfahren, ein für den Beschuldigten wie auch für die Medien besonders sensibles Stadium. Eine verantwortungslose Medienberichterstattung kann nicht nur zu einer nachhaltigen Stigmatisierung des Beschuldigten führen. Gefährdet sind auch die Grundfeste des demokratischen Rechtsstaats – nämlich der Anspruch auf ein faires Verfahren sowie die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege, insbesondere die ungestörte Wahrheits- und Rechtsfindung in einem anhängigen Verfahren. Erforderlich ist daher ein verantwortungsbewusstes Verhalten der Medien und Verfahrensbeteiligten, das für die Medien einschließt, sich auch im Kampf um die Aufmerksamkeit der Rezipienten durch die Verfahrensbeteiligten nicht für ihre parteilichen Interessen missbrauchen zu lassen. Die Wächterfunktion der Medien erfordert eine lebendige Presse- und Rundfunkfreiheit; geboten ist ein immer wieder neu zu justierender Schutz der Medien vor staatlicher Beeinträchtigung. Die aktuellen gesetzgeberischen Maßnahmen, die die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Fall Cicero einfach-gesetzlich in der Strafprozessordnung umsetzen, sind daher sehr zu begrüßen. Wünschenswert wäre, wenn es entsprechende Initiativen auch für die Gerichtsberichterstattung gebe. Kritikwürdig ist, dass die Entscheidung des mit der Prozessleitung beauftragten Gerichtsvorsitzenden, Ton- und Fernsehaufnahmen zu verbieten, vor den Fachgerichten nicht justiziabel ist, sondern letztlich „nur“ der Weg zum Bundesverfassungsgericht offensteht. Im Ergebnis geht es bei der Medienberichterstattung im Strafverfahren, worüber in welchem Umfang mit welchen Worten und Bildern berichtet wird und inwieweit dies das Verfahren beeinflusst um eines: nämlich um Werte. Wie der ehemalige Verfassungsrechtler Paul Kirchhof zutreffend festgestellt hat, braucht die Gesellschaft eine klare, „das allgemeine Bewusstsein prägende Wertordnung in der Bereitschaft und der Kraft zum Recht“. Diese Wertordnung wird alltäglich auch durch die Medien vermittelt. Jeder Journalist sollte sich bei der Ausübung seiner Arbeit bewusst sein, dass sein Wort und sein Bild in der Unmittelbarkeit und Breitenwirkung Ausübung von Macht bedeutet. Er leitet den Rezipienten, indem er nach seiner Beurteilung und Wertung eine Person und einen Vorgang in das Licht der Öffentlichkeit rückt und gleichzeitig andere Personen und Vorgänge im Dunkeln belässt.87 Werden diese Grundsätze berücksichtigt, finden die Dritte und Vierte Gewalt zu einem ausgewogenen Verhältnis.

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Vgl. Kirchhof, epd medien vom 18.02.2011, S. 32 (35 f.).

Vom Gesetzesstaat zum Überwachungsstaat Wandlungen und Zukunftsperspektiven des Rechtsstaats in der Republik Österreich Von Theo Öhlinger I. Der Rechtsstaat am Beginn der Republik 1. Rechtsstaat als Verfassungsbegriff

An der Spitze der österreichischen Bundesverfassung (B-VG) steht folgende Bestimmung (Art. 1 B-VG): „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“

Bemerkenswert ist die Formulierung des zweiten Satzes: Das Volk wird hier nicht wie üblich zum Urgrund der (Staats-)Gewalt, sondern zum Urgrund des Rechts erklärt. Das geht auf Hans Kelsen zurück, dessen häufige Bezeichnung als „Vater der österreichischen Bundesverfassung“ zwar nicht ganz korrekt ist, dessen Einfluss aber doch viele und tiefe Spuren im B-VG hinterlassen hat.1 Für Kelsen sind Staat und Recht identisch, „Staat“ ist die auf einem begrenzten Territorium geltende Rechtsordnung. Jeder staatliche Akt ist daher ein Rechtsakt, mag er sich faktisch noch so sehr auf bloße Gewaltanwendung, wie etwa den Vollzug einer Todesstrafe, reduzieren. Jeder Staat ist daher schon begrifflich ein Rechtsstaat.2 Bezeichnenderweise findet sich das Wort „Rechtsstaat“ im Text des B-VG nicht. Diesem theoretischen Verständnis des Rechtsstaats ist die österreichische Verfassungslehre und -rechtsprechung jedoch nicht gefolgt. Für sie ist Rechtsstaat nicht nur ein anderes Wort für Staat, sondern sie verwendet dieses Wort durchaus im herkömmlichen Sinn als Bezeichnung eines Staates, dessen Recht bestimmten Qualitätskriterien genügt. Zugleich wird angenommen, dass der so verstandene Rechtsstaat eines der Grundprinzipien („Baugesetze“) der Bundesverfassung bildet, dessen Gehalt aus dem Gesamtsystem des B-VG erschlossen wird.3 Die de1 Dazu näher Theo Öhlinger, Hans Kelsen – Vater der österreichischen Bundesverfassung?, Festschrift für Wilhelm Brauneder, 2008, S. 407 ff. 2 Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 47 ff., 91. 3 Zur Entwicklung dieser Lehre und Rechtsprechung näher Franz Merli, Rechtsstaatlichkeit in Österreich, in: Hofmann/Marko/Merli/Wiederin (Hrsg.), Rechtsstaatlichkeit in Europa, 1996, S. 83 ff.

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mokratische Republik, der im Art. 2 B-VG proklamierte Bundesstaat und eben der Rechtsstaat bilden als Grundprinzipien in ihrer Gesamtheit die verfassungsrechtliche Grundordnung, deren Änderung als „Gesamtänderung“ der Bundesverfassung nach Art. 44 Abs. 3 B-VG einer Volksabstimmung unterliegt. Die gerade für die positivistische österreichische Staatsrechtslehre schwierige Frage, wo den eigentlich das rechtsstaatliche Grundprinzip positivrechtlich verankert sei, lösen manche Autoren4 mit dem Verweis auf den zweiten Satz im Art. 1 B-VG, dem gemäß das Volk ein Handeln des Staates nur in der Form des Rechts legitimiert (wobei es hier auf das Wörtchen „nur“ ankommt, das – entgegen Kelsen – eben besagt, dass ein Staat theoretisch auch anders handeln könnte). 2. Das Legalitätsprinzip

Das B-VG ist am 1. Oktober 1920 von der konstituierenden Nationalversammlung beschlossen worden und trat am 10. November 1920 in Kraft. Es ist also eine vergleichsweise alte Verfassung, jedenfalls die älteste in Geltung stehende republikanische Verfassung Europas.5 (Dass nur Monarchien eine längere Verfassungstradition aufweisen, ist zwar kein Zufall, aber im hier gegebenen Zusammenhang nicht maßgeblich.) Zwar war seine Geltung zwischen 1934 und 1945 unterbrochen. Es wurde aber unmittelbar nach der Befreiung Österreichs durch die Alliierten am 1. Mai 1945 nach dem Stand vom 5. März 19336 wieder in Kraft gesetzt. Entscheidend dabei ist, dass mit dieser Rezeption des Verfassungstextes auch nahtlos an das Verfassungsverständnis der Zwischenkriegszeit angeknüpft wurde. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft machten 1945 dort weiter, wo sie 1934 bzw. 1938 aufhörten, nämlich auf dem Boden jenes Gesetzespositivismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der durch Hans Kelsen und Adolf Merkl theoretisch in einer Weise überhöht und verfeinert worden war, dass er auch noch nach 1945 gegenüber jeder Kritik immun blieb. Damit wurde auch der Rechtsstaatsbegriff jener Zeit übernommen, dessen klassische Definition von Otto Mayer7 stammt: „Der Rechtsstaat ist der Staat des 4 s. etwa Ewald Wiederin, Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts: Österreich, in: von Bogdandy/Villalón/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. I: Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts, 2007, S. 389 (419, 448). 5 Nur die Verfassungen Norwegens (1814) und Luxemburgs (1868) sind älter als das B-VG, sowie in formaler Hinsicht auch jene Belgiens (1831), die aber inzwischen radikal verändert und 1994 wiederverlautbart wurde. Dazu kommt noch die Jahrhunderte weiter zurückreichende Verfassungstradition Großbritanniens. 6 Der Tag vor der sog. „Selbstausschaltung“ des Nationalrats, die für die Regierung Dollfuß den Anlass zur Beendigung der parlamentarischen Demokratie bildete. 7 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Band, 2. Aufl., 1914, S. 60; 3. Aufl., 1924, S. 58.

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wohlgeordneten Verwaltungsrechts“, oder, wie es Adolf Merkl8 noch knapper (und im Sinne der Reinen Rechtslehre um den letzten Wertbezug gereinigt) formulierte: Rechtsstaat ist ein „Staat mit Verwaltungsrecht“. Den Gegenbegriff bildet der Polizeistaat, nach Merkl eben ein „Staat ohne Verwaltungsrecht“. Der positivrechtliche Widerhall dieses Rechtsstaatsverständnisses findet sich im Art. 18 B-VG: „Die gesamte staatliche Verwaltung darf nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden.“

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) versteht diese Bestimmung zum einen als Totalvorbehalt des Gesetzes, zum anderen auch als ein umfassendes, an die Gesetzgebung adressiertes Determinierungsgebot. In dieser Auslegung verschmilzt das traditionelle Rechtsstaatsverständnis mit einem der Bundesverfassung unterlegten Demokratiekonzept, das seinerseits auf Kelsens Demokratietheorie9 beruht: In der – in einem modernen Staat praktisch einzigen möglichen Form einer parlamentarischen – Demokratie ist das Gesetz Ausdruck des Volkswillens. Mittels des Gesetzes herrscht das Volk. Jedes staatliche Handeln, das nicht selbst in Gesetzesform ergeht, darf daher nur bloßer Gesetzesvollzug sein und ist, um als solcher qualifizierbar zu sein, gesetzlich genau zu determinieren. Sein „wesentlicher“ Gehalt muss bereits auf der Gesetzesstufe festgelegt werden.10 Aus dem liberalen wird so der demokratische Rechtsstaat. Es ist Kelsen selbst, der als Richter des Verfassungsgerichtshofs schon in den 1920er Jahren die Weichen zu dieser Auslegung gestellt hat.11 Aber erst nach 1945 kommt diese Rechtsprechung voll zur Entfaltung und verästelt sich in immer weiteren Verfeinerungen des Determinierungsgebots. Art. 18 B-VG wird in dieser Deutung zur „eigentlichen Zentralnorm“ der Bundesverfassung.12 Das Legalitätsprinzip bildete das Markenzeichen der österreichischen Staatsrechtslehre, wie viele Diskussionen der Staatsrechtslehrervereinigung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts belegen. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts konnte man dieses Konzept des demokratischen Rechtsstaats als fortschrittlich, ja avantgardistisch qualifizieren. In diesem Zusammenhang ist auch noch die durch das B-VG 1920 eingerich-

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Adolf Merkl, Allgemeines Verwaltungsrecht, 1927, S. 68. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl., 1929, insbes. S. 69 ff.; vgl. auch Merkl (Fn. 8), S. 334 ff. 10 Vgl. Heinz-Peter Rill, Art. 18 B-VG, in: Rill/Schäffer (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Kommentar, 1. Lfg. 2001, Rz. 51 ff. 11 Näher Öhlinger (Fn. 1), S. 409 ff. 12 Clemens Jabloner, Das Gesetz als Problem, JBl. 2006, S. 409 (410); grundlegend Hans R. Klecatsky, Der Rechtsstaat zwischen heute und morgen, 1967, S. 71 ff. 9

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tete (weltweit erste spezielle) Verfassungsgerichtsbarkeit13 sowie die vergleichsweise sehr früh erfolgte Ausgestaltung der „Justizförmigkeit der Verwaltung“ (auch das eine alte Forderung der Rechtsstaatstheorie!14) durch die europaweit erste Kodifikation des Verwaltungsverfahrens15 zu erwähnen. Im späten 20. Jahrhundert hinkte dieses Konzept der internationalen Entwicklung freilich mehr und mehr hinterher. 3. „Privatwirtschaftsverwaltung“

Anzumerken ist auch, dass dieses Rechtsstaatskonzept schon immer eine erhebliche Lücke aufwies: die sog. „Privatwirtschaftsverwaltung“. Sie wird in Lehre und Judikatur zum einen formal und zum anderen negativ definiert: Es kommt nicht auf den Inhalt der zu besorgenden Aufgabe, speziell ihren „öffentlichen“ Gehalt, an; Privatwirtschaftsverwaltung ist vielmehr jedes Verwaltungshandeln, das nicht in den typischen Formen der Hoheitsverwaltung – Verordnung, Bescheid oder sofortiger Polizeizwang – erfolgt. Dieser negativen Definition entspricht die Auslegungsregel des VfGH, dass im Zweifel Privatwirtschaftsverwaltung vorliege. Dieser Verwaltungsbereich geht also weit über das hinaus, was vielleicht ein unbefangener Leser mit diesem „Wortungetüm“ 16 assoziieren würde. Vor allem auf die Länder und die Gemeinden, in abgeschwächter Weise aber auch auf den Bund, trifft zu, dass heute ein Großteil der budgetrelevanten Aufgaben in einer in diesem Sinn privatrechtsförmigen Weise erfolgt. Für die Privatwirtschaftsverwaltung gelten weder das Legalitätsprinzip17 noch die bundesstaatliche Kompetenzverteilung noch nach einer älteren Auffassung die Grundrechte. Sie ist das große Ventil einer ansonsten zu Rigidität und Versteinerung tendierenden Verfassungsinterpretation. Der bis ins Detail gesetzlich zu regelnden Hoheitsverwaltung steht damit ein Bereich staatlichen Handelns gegenüber, für den Gesetze allenfalls einen Rahmen, nicht aber auch eine unverzichtbare Grundlage bilden. Sie galt denn auch und gilt in gewissem Sinn noch immer als die große rechtsstaatliche Lücke im österreichischen Verfassungssystem.18 13 Dazu näher Theo Öhlinger, Die Entstehung und Entfaltung des österreichischen Systems der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Festschrift für Ludwig Adamovich zum 70. Geburtstag, 2002, S. 581 ff. 14 s. Mayer (Fn. 7), S. 62. 15 Verwaltungsverfahrensgesetze von 1925. Zu ihrer rechtsstaatlichen Bedeutung jüngst Michael Thaler, Vom Wesen und Wert der Verwaltungsverfahrensgesetze, ZÖR 2009, S. 433 ff. 16 Richtig Ewald Wiederin, Staat, Verwaltung und Verwaltungsrecht: Österreich, in: von Bogdandy/Cassese/Huber, Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. III: Verwaltungsrecht in Europa: Grundlagen, 2010, S. 187 (208). 17 Vgl. Rill (Fn. 10), Rz. 34 ff.; kritisch Peter Pernthaler, Österreichisches Bundesstaatsrecht, 2004, S. 595 ff.; Robert Walter/Heinz Mayer/Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht, 10. Aufl., 2007, Rz. 565.

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4. Rechtsschutz im Gesetzesstaat

Schon in vereinzelten Erkenntnissen der 1950er Jahre findet sich auch die Formel, dass der Sinn des rechtsstaatlichen Prinzips darin gipfle, „dass alle Akte staatlicher Organe im Gesetz und mittelbar letzten Endes in der Verfassung begründet sein müssen und ein System von Rechtsschutzeinrichtungen die Gewähr dafür bietet, dass nur solche Akte in ihrer rechtlichen Existenz dauernd gesichert erscheinen, die in Übereinstimmung mit den sie bedingenden Akten höherer Stufe erlassen wurden.“19

Damit kommt neben der gesetzlichen Determinierung ein zweites Element eines traditionellen Rechtsstaatsbegriffs in den Blick: der Rechtsschutz. Aber dieser Rechtsschutz wird in der Phase der Hochblüte des Legalitätsprinzips nur als ein Derivat des Gesetzesstaates begriffen. Bezeichnenderweise wurde diese Formel zunächst auch nur in einem negativen Sinn gebraucht, nämlich als Argument gegen weiterreichende Folgerungen, die Antragsteller oder Beschwerdeführer aus einem angeblich verkannten Rechtsstaatsprinzip ableiteten. Die Wende brachte erst VfSlg 11.196/1986.20 Der VfGH beruft sich zwar dort bereits auf eine ständige Judikatur; sie ist dies aber erst seit Mitte der 1980er Jahre. Die richterliche Kontrolle reicht im Gesetzesstaat eben nur soweit, wie die gesetzlichen Regelungen reichen. Denn auch die Gerichte sind in dieser Konzeption streng an das Gesetz gebunden (im Sinn der bekannten Formel Montesquieu’s, ein Gericht sei nur la bouche qui prononce les paroles de la loi). Zwar war das Ideal der Gerichte als bloße Subsumtionsautomaten schon immer eine Schimäre. Aber es generierte ein richterliches Selbstverständnis, das sich in einem spezifischen Auslegungsstil konkretisierte: der engen Bindung an den Wortlaut und einen aus den Materialien ableitbaren fiktiven „Willen“ des Gesetzgebers sowie einem sehr zurückhaltenden Gebrauch „kreativer“ Argumente. 5. Das österreichische Verfassungsverständnis

Dieser Auslegungsstil prägte die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs (VwGH) von allem Anfang an und ließ sich durch das Telos des Verwaltungsrechts, den Bürger vor obrigkeitlicher Willkür zu schützen, auch materiell rechtfertigen.21 18

Vgl. Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer (Fn.17), Rz. 562 ff. VfSlg 2929/1955; ähnlich auch schon das für die Entfaltung der verfassungsrechtlichen Grundordnung zentrale Erk Slg 2455/1952; ferner Slg 8279/1978. s. aber auch schon die Betonung der Rechtsschutzeinrichtungen bei Ludwig Adamovich, Grundriss des österreichischen Verfassungsrechts, 4. Aufl., 1947, S. 70 ff. („Das rechtsstaatliche Prinzip“); dazu Merli (Fn. 3), S. 85 ff. 20 Aufhebung des § 254 BAO, der einen ausnahmslosen Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Berufung gegen abgabenbehördliche Bescheide anordnete. 21 Dazu Theo Öhlinger, Auslegung des öffentlichen Rechts, JBl. 1971, S. 284 (287). 19

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Aber auch das Verfassungsrecht wurde von dem 1920 geschaffenen VfGH in diesem Stil interpretiert. Das mag damit zusammenhängen, dass nach dem B-VG die verfassungsgerichtliche Kernkompetenz der Gesetzesprüfung (Art. 140 BVG) mit genuin verwaltungsgerichtlichen Aufgaben (s. insbes. Art. 137, 139, 144 B-VG) eng verquickt ist. Es entspricht dies aber auch einem typisch österreichischen Verständnis der Verfassung als „bloßes“ Gesetz: Verfassungsrecht ist die Summe der mit qualifizierter Mehrheit beschlossenen und als solche gekennzeichneten Gesetze – nicht weniger (und aus verfassungsgeschichtlicher Sicht ist das ja eine durchaus bedeutsame Errungenschaft), aber eben auch nicht mehr. Dass zwischen Verfassungsrecht und „einfachem“ Gesetzesrecht auch eine qualitative Differenz besteht, die unterschiedliche Interpretationsmethoden erfordert, war und ist zum Teil immer noch dem österreichischen Verfassungsverständnis fremd.22 Eine Konsequenz dieses Auslegungsstils war die geringe Bedeutung der Grundrechte als Maßstab der verfassungsgerichtlichen Gesetzesprüfung. Bis in die 1980er Jahre war die Aufhebung eines Gesetzes wegen Verletzung eines Grundrechtes ein äußerst seltener Fall. Eine Ausnahme bildete lediglich der Gleichheitsgrundsatz, allerdings nicht in seinem Gehalt als subjektives Recht des Einzelnen, sondern in seinem objektiv-rechtlichen Gehalt als Sachlichkeitsgebot.23 II. Die Gegenwart des Rechtsstaats 1. Der veränderte Stellenwert der Grundrechte

Das hat sich in der Zwischen grundlegend verändert. Heute bilden die Grundrechte einen, wenn nicht den zentralen und zugleich sehr effektiven Maßstab der Gesetzesprüfung. Dem liegt ein gewandeltes Grundrechtsverständnis zugrunde, das neben dem EU-Beitritt wohl die nachhaltigste Innovation im österreichischen Verfassungsrecht seit 1945 darstellt.24 Dabei stellte sich die Frage einer Gesamtänderung der Bundesverfassung und damit einer Volksabstimmung schon deshalb nicht, weil diese Neuerung nicht durch ein formelles Verfassungsgesetz erfolgte. Ob inhaltlich nicht doch so etwas wie eine Gesamtänderung vorliegt, darüber ließe sich durchaus streiten.25 Zwar wurde dadurch das rechtsstaatliche Grund22

Vgl. Magdalena Pöschl, Die Zukunft der Verfassung, 2010, S. 13 ff. Vgl. die Statistik bei Theo Öhlinger, Die Grundrechte in Österreich, EuGRZ 1982, S. 216 (244). 24 So richtig Michael Holoubek, Europäischer und nationaler Grundrechtsschutz, Festschrift für Heinz-Peter Rill, 2010, S. 245 (246). Zur Tragweite dieser Rechtsprechung eindringlich Peter Pernthaler, Sind Demokratie und Rechtsstaat wirklich „an der Wurzel eins“?, Festschrift für Ludwig Adamovich zum 70. Geburtstag, 2002, S. 631 (650 f.). 25 Nach Heinz-Peter Rill/Heinz Schäffer, Art. 44 B-VG, in: dies. (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht, Kommentar, 1. Lfg. 2001, Rz. 14, ist „eine Abschaffung oder wesentliche 23

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prinzip der Bundesverfassung ganz erheblich aufgewertet, aber diese unter dem Gesichtspunkt einer Gesamtänderung an sich problemlose „Verbesserung“ steht in einem Spannungsverhältnis zum parlamentarisch-demokratischen Prinzip. Die Differenz von damaligem und heutigem Verständnis des verfassungsgerichtlichen Grundrechtsschutzes gerade auch unter diesem Aspekt kann jede neuerliche Lektüre von Hans Kelsens berühmtem Referat auf der Wiener Staatsrechtslehrertagung von 192826 deutlich vor Augen führen.27 Der Anstoß zu dieser Judikatur kam von außen und lässt sich letztlich auf die Rechtsprechung des BVerfG zurückführen. Ihre Vermittlung erfolgte teils durch die Lehre28, teils durch den EGMR, der kraft des Verfassungsranges der EMRK und aller ihrer Zusatzprotokolle in der österreichischen Rechtsordnung auch ein österreichisches Verfassungsorgan ist. Es rechtfertigt dies die erstaunliche Bereitschaft des VfGH, der evolutiv-dynamischen Auslegung der Konvention durch den EGMR mit all ihren Kehrtwendungen zu folgen und gegebenenfalls auch seine eigene Rechtsprechung zu korrigieren, selbst dann, wenn er inhaltliche Bedenken hat.29 Anzumerken ist an dieser Stelle auch, dass heute die ordentlichen Gerichte, speziell der Oberste Gerichtshof, auch eine Fiskalgeltung der Grundrechte anerkennen und so auch die öffentliche Aufgaben erfüllende „Privatwirtschaftsverwaltung“30 an rechtsstaatliche Schranken gebunden haben.31

Veränderung von tragenden Grundprinzipien (,Baugesetzen‘), eventuell auch die Hinzufügung eines neuen Baugesetzes der Bundesverfassung“ eine Gesamtänderung; s. aber auch a. a. O., Rz. 16. Vgl ferner zu dieser Frage Andreas Janko, Gesamtänderung der Bundesverfassung, 2004, S. 157 ff.; Anna Gamper, Aktuelle Herausforderungen an ein „bewegliches System“ der österreichischen Bundesverfassung, 2008, S. 12 ff. 26 Hans Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1928) S. 30 ff., wieder abgedruckt in: Klecatsky/Marcic/Schambeck (Hrsg.), Die Wiener rechtstheoretische Schule, Bd. 2, 1968, S. 1813 ff.; s. dort insbes S. 1852 f. 27 Zur marginalen Bedeutung der Grundrechte bei Kelsen s. a. Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 145 f. (155: „überflüssig“); ders., Staatsgerichtsbarkeit, S. 1853; ders., Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 145 ff. 28 Paradigmatisch Karl Korinek, Gedanken zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt bei Grundrechten, Festschrift für Adolf Merkl, 1970, S. 171 ff. 29 s. etwa VfGH 3.12.2009, B 1008/07: Der VfGH „sieht sich – ungeachtet möglicher gewichtiger Einwände gegen diese Rechtsauffassung des EGMR – gehalten, dem EGMR in dessen Beurteilung des Anwendungsbereiches des Art 6 Abs 1 EMRK . . . zu folgen“. Allgemein dazu Theo Öhlinger, Die Offenheit der österreichischen Bundesverfassung gegenüber dem Völkerrecht und dem Europarecht, in: Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren. Anspruch und Wirklichkeit einer großen Errungenschaft, 2010, S. 367 (374 ff.). 30 s. I. 3. 31 Vgl. Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Die allgemeinen Strukturen der Grundrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und in Europa, Bd. VII/1: Grundrechte in Österreich, 2009, S. 72 f.

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Theo Öhlinger 2. Die neuere Judikatur zum Rechtsstaatsprinzip

Die veränderte Grundrechtsjudikatur ist nur eine Komponente eines gewandelten Rechtsstaatsverständnisses. Eine weitere Komponente ist die neuere Judikatur des VfGH zum bundesverfassungsgesetzlichen Rechtsstaatsprinzip selbst. Seit Mitte der 1980er Jahre hat der Gerichtshof das verfassungsgesetzliche Rechtsstaatsprinzip in einer weit über das Legalitätsprinzip hinausreichenden Weise inhaltlich angereichert. Rechtsstaat im Sinne eines verfassungsrechtlichen Grundprinzips bedeutet heute vor allem: Rechtsschutzstaat.32 Der VfGH leitet aus dem so verstandenen Rechtsstaatsprinzip eine Reihe von Subprinzipien als zusätzliche Anforderungen an die Gesetzgebung ab.33 Über deren Position im Stufenbau der Rechtsordnung besteht allerdings einige Unsicherheit. Man kann gewiss davon ausgehen, dass nicht jede vom VfGH unter Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip erkannte Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nur über den Weg einer Gesamtänderung der Bundesverfassung, also einer Volksabstimmung, „sanierbar“ wäre (um gewissermaßen fiktiv die Probe aufs Exempel ihrer Baugesetzqualität zu machen), sondern dass dazu regelmäßig bereits eine „einfache“ verfassungsgesetzliche Regelung ausreichen würde. Man hat, mit anderen Worten, nicht der gesamten auf das Rechtsstaatsprinzip gestützten Judikatur den Rang eines (auch den [einfachen] Verfassungsgesetzgeber bindenden) Baugesetzes der Bundesverfassung zuzuerkennen. Eine Zwischenschicht zwischen den Grundprinzipien und dem „einfachen“ Verfassungsrecht passt wiederum nicht in das System des österreichischen Verfassungsrechts. Systemimmanent lässt sich diese Problematik wohl nur dahingehend auflösen, dass man den Terminus „Rechtsstaat“ in den einschlägigen Argumentationen des VfGH als Kürzel für jene das Rechtsstaatsprinzip konkretisierenden verfassungsgesetzlichen Regelungen (z. B. Art. 129 ff. B-VG) versteht, an denen die jeweilige gesetzliche Regelung eigentlich zu messen gewesen wäre und die der „einfache“ Verfassungsgesetzgeber in den Schranken des rechtsstaatlichen Grundprinzips selbstverständlich auch modifizieren dürfte. Das deutet freilich auf ein gewisses Argumentationsdefizit dieser Judikatur hin.34 Aber wie immer man diese dogmatische Problematik auflöst: Fest steht, dass auch durch diese Rechtsprechung der Spielraum des parlamentarischen Gesetzge-

32

Zum Ursprung dieser Judikatur s. zuvor I. 4. Dazu ausführlich Martin Hiesel, Die Rechtsstaatsjudikatur des Verfassungsgerichtshofes, ÖJZ 1999, S. 522 ff.; ders., Die Entfaltung der Rechtsstaatsjudikatur des Verfassungsgerichtshofs, ÖJZ 2009, S. 111 ff. 34 Vgl. dazu die eingehende Analyse und Kritik von Claudia Fuchs, Rechtsschutz, Rechtsstaat, Rechtsschutzstaat – Reflexionen zur Verfassungsinterpretation, in: Holoubek/Martin/Schwarzer (Hrsg.), Die Zukunft der Verfassung – Die Verfassung der Zukunft?, Festschrift für Karl Korinek zum 70. Geburtstag, 2010, S. 83 ff. 33

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bers und teilweise sogar des parlamentarischen Verfassungsgesetzgebers erheblich eingeschränkt wird.35 3. Vom Gesetzes- und Verwaltungsstaat zum Justizstaat

Das alles sind Symptome eines tiefer greifenden Wandels: einer Verschiebung im Gefüge der Gewaltenteilung im Sinne einer Aufwertung der dritten Gewalt sowohl auf Kosten der Verwaltung als auch und vor allem auf Kosten der Gesetzgebung. Der den Gesetzesstaat charakterisierende Primat der Gesetzgebung ist dadurch in einer Weise zugunsten der Gerichtsbarkeit verändert worden, die dieses Etikett zur Kennzeichnung des österreichischen Verfassungssystems heute mehr als fraglich erscheinen lässt. Ob deshalb Österreich auch schon ein Richterstaat ist (wie ihn in Österreich schon vor Jahrzehnten René Marcic36 nicht nur als Zukunft des Rechtsstaates diagnostiziert, sondern auch propagiert hat), sei hier dahingestellt. Seit Jahren wird die Einführung einer zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit diskutiert. Damit sollen, auf das Wesentlichste zusammengefasst, die Unabhängigen Verwaltungssenate und andere weisungsfreie Verwaltungsbehörden als Berufungsbehörden gegen erstinstanzliche Bescheide durch Gerichte ersetzt werden.37 Sollte sie doch noch kommen (nachdem der Reformelan einigermaßen verbraucht erscheint), wird man Österreich wohl auch nicht mehr als einen „Verwaltungsstaat“ klassifizieren können, den es lange Zeit in geradezu exemplarischer Weise verkörperte. Die Justizförmigkeit der Verwaltung – wie schon gesagt, eine alte rechtsstaatliche Forderung – überholt sich gewissermaßen selbst dadurch, dass aus Verwaltung Justiz wird. In der Begrifflichkeit Merkls wäre Österreich dann ein Justizstaat. 4. Auswirkungen der EU-Mitgliedschaft

Eine Aufwertung der Gerichtsbarkeit in ihrem Verhältnis zu den beiden anderen Staatsfunktionen ist auch von der EU ausgegangen. Dazu nur einige Stichworte.38 35 Es geht dabei um das Spannungsverhältnis von Rechtsstaat und Demokratie; s. dazu die eingehende Analyse dieser Problematik von Pernthaler (Fn. 24), insbes. S. 647 ff. 36 René Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957. Dieses umfangreiche Werk hat allerdings in Österreich mehr Kritik als Zustimmung gefunden und ist hierzulande praktisch vergessen, während es anderswo immer noch Beachtung findet. 37 Dazu etwa Ewald Wiederin, Grundfragen der Neuorganisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Walter/Zeleny (Hrsg.), Reflexionen über das Recht, 2009, 33 ff. 38 Ausführlich Theo Öhlinger, Gesetz und Richter unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, Anmerkungen zu einem Prozess der „Amerikanisierung“ des europäischen Rechts, Festschrift für Thomas Fleiner, 2003, S. 719 ff.

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Der EuGH nimmt bekanntlich rechtsschöpferische Befugnisse in einem ungewöhnlich hohen Ausmaß in Anspruch. Im Text der EU-Gründungsverträge ist das nicht explizit vorgesehen; dass dies von den Verträgen vorausgesetzt wird, ist eine in Österreich gern vertretene These39, die es erspart, das eigene, am Gesetzesstaat orientierte Verständnis richterlicher Funktionen (s. zuvor I. 4.) zu hinterfragen. Die heutigen Strukturen der EU und ihres Rechts sind jedenfalls weitgehend eine Schöpfung des EuGH, die erst nachträglich, und das auch nur teilweise, von den Grundlagenverträgen rezipiert wurden.40 Aber auch in der Auslegung alltäglicher Verordnungen und Richtlinien nimmt sich der EuGH mehr Freiheiten, als das der österreichischen Tradition nicht nur der Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern auch der Verfassungsgerichtsbarkeit entspricht.41 Es hängt dies nicht zuletzt mit der sprachlichen Gestalt der EU-Rechtstexte zusammen: Wenn sich der gültige Normtext aus mehreren, inzwischen mehr als zwei Dutzend unterschiedlicher Sprachfassungen zusammensetzt, eröffnet schon diese Vielzahl der Fassungen eine Mehrzahl von Auslegungsmöglichkeiten und der Wortlaut des Gesetzes verliert dadurch zwangsläufig jenen Stellenwert, den er in der österreichischen Gerichtsbarkeit des öffentlichen Rechts hatte und im Prinzip immer noch hat. Dazu kommt der katastrophale Sprachstil der deutschen Fassungen; auch er trägt dazu bei, die Bindung des Rechtsanwenders an den Text der jeweiligen Norm zu lockern. Der vom EuGH geprägte Auslegungsstil wird den nationalen Gerichten nicht nur für die Anwendung des EU-Rechts selbst verbindlich vorgegeben, sondern auch für die Anwendung nationalen Rechts. Das folgt aus dem Gebot der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts. Nach einer ständigen Formel des EuGH ist zwar staatliches Recht nur „soweit wie möglich“ im Sinne unionsrechtlicher Vorgaben auszulegen. Dass damit spezifische nationale Grenzen richterlicher Interpretationsmethoden akzeptiert werden (wie die herrschende Lehre in Österreich annimmt), ist aber fraglich. Einiges deutet darauf hin, dass der EuGH dabei von einem europäischen Standard ausgeht, dem er seine eigene – wie gesagt, lockere – Bindung an den Wortlaut unterstellt.42 Das Gebot EUrechtskonformer Auslegung gilt zwar nur für jene staatlichen Rechtsakte, die Unionsrecht ausführen oder umsetzen, aber dieser Teil des staatlichen Rechts 39 s. etwa Jabloner, JBl. 2006, S. 412. Belegen lässt sich dies durch die Bemerkung Walter Hallsteins (Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl., 1979, S. 110), den Vätern der EWG habe ein Gericht vorgeschwebt, wie es der Supreme Court der USA „in seiner glänzenden Zeit unter dem Chief Justice John Marshall (war), unter dessen Führung die urkundlich kaum skizzierte Verfassung der Vereinigten Staaten in der Gerichtspraxis Inhalt und Festigkeit gewann“. 40 Zu dieser Rolle des EuGH Peter Pernthaler, Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat, JBl. 2000, S. 691 ff. 41 s. I. 5. 42 Näher Theo Öhlinger/Michael Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht, 3. Aufl., 2006, S. 91 ff.

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lässt sich von seinem Rest kaum scharf abgrenzen. Eine Duplizität ungleicher Auslegungsmethoden für verschiedene Rechtsbereiche, die von den gleichen Organen anzuwenden sind, lässt sich aber auf Dauer wohl nicht aufrechterhalten.43 Eine Aufwertung haben ferner alle staatlichen Gerichte auch durch die im Anwendungsvorrang des Unionsrechts inkludierte Normenkontrollbefugnis erfahren, mit der das Normenprüfungsmonopol des VfGH, wenn auch eingeschränkt auf den Maßstab des Unionsrechts, aufgehoben wurde. Heute sind alle Gerichte in allen EU-Staaten zur Gesetzesprüfung verpflichtet, und das hat in allen EU-Staaten, wenn auch nach der Ausgangslage verschieden, eine kleine juristische Revolution ausgelöst, sei es dass dadurch eine richterliche Befugnis zur Gesetzesprüfung überhaupt erst eingeführt wurde, sei es dass das Prüfungsmonopol eines Verfassungsgerichts aufgehoben wurde. III. Gefährdungen des Rechtsstaats 1. Normenflut und Überregulierung

Der Abwertung des Gesetzes steht eine beängstigende Hyperaktivität der gesetzgebenden Organe gegenüber. Das belegt der Umfang der Bundesgesetzblätter ebenso wie jener der Amtsblätter der EU (deren Richtlinien und Verordnungen sich nunmehr auch „Gesetzgebungsakte“ nennen44, auch wenn sie den demokratischen Standard verfassungsstaatlicher Gesetzgebung nach wie vor nicht voll erfüllen). Angesichts des regelmäßigen Umfangs des zur Publikation von Verordnungen bestimmten Bandes II des BGBl. stellt sich überdies die Frage, inwieweit nicht auch das Legalitätsprinzip im Sinn des Art. 18 B-VG selbst schon zur Fiktion geworden ist. Diese Normenflut wurde zu Recht als eine pathologische Entwicklung des Rechtsstaats diagnostiziert.45 Hier nur einige Schlagzeilen einer geläufigen Kritik: Für den Einzelnen ist das überladene Gefüge des Rechts kaum mehr durchschaubar. Rechtsvorschriften schützen weniger Freiheit und individuelle Selbstverantwortung, als dass sie sie beengen. Die übermäßige Verrechtlichung man43 Wie hier auch Clemens Jabloner, Rechtskultur und Verwaltungsgerichtsbarkeit, JBl. 2001, S. 137 (143). Eine „Zweiklassengesellschaft“ erwartet dagegen Wolfgang Pesendorfer, Der Verwaltungsgerichtshof und die EU, 2000, S. 20: „Soweit die EU in die österreichische Rechtsordnung hineinwirkt, könnte sich eine Art des Rechtsnormvollzuges entwickeln, der mehr dem Richterrecht anderer Rechtssysteme entspricht und wo Art. 18 B-VG, nämlich das Legalitätsprinzip, seine Funktion verloren hat, während weiterhin überall dort, wo nur österreichisches Recht gilt, Hans Kelsen und seine Reine Rechtslehre Bedeutung behalten.“ 44 Art. 289, 290, 297 AEUV. 45 Statt vieler Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl., 2004, Rz. 109 f.

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cher Lebensbereiche zerstört traditionelle soziale Strukturen (ein bekanntes Beispiel: das Arzt-Patienten-Verhältnis). Die Überhöhung des Rechtsstaats als sozialer Rechtsstaat hat Erwartungen erweckt, die der Staat nicht mehr zu erfüllen vermag und die daher zwangsläufig Enttäuschungen auslösen. In anderen Bereichen werden dagegen grundlegende Elemente der Rechtsstaatlichkeit abgebaut, wie etwa im Fremden- und Asylrecht. Ein besonderes Problem ist die Normenflut des EU-Rechts und seine Unübersichtlichkeit. Sie überbietet jene des nationalen, jedenfalls des österreichischen Rechts noch um einiges.46 2. Vollzugsdefizite

Mit der Gesetzesflut ging lange Zeit eine Aufblähung der Vollzugsapparate einher. Das ist inzwischen an finanzielle Grenzen gestoßen. Verwaltungsapparate werden wieder zurückgebaut, freilich ohne dass parallel dazu auch die gesetzlichen Aufgaben in gleichem Ausmaß zurückgenommen werden. Eine Folge sind wachsende Vollzugsdefizite. Gesetze werden allerdings vielfach von vornherein gar nicht mehr auf einen regelmäßigen Vollzug angelegt. Allgemeine Aufmerksamkeit hat in Österreich jüngst die gesetzliche Einführung eines „Führerscheins“ für „Kampfhunde“ in Wien erweckt47, dessen defizitärer Vollzug anscheinend ganz bewusst einkalkuliert wurde. Dramatisch ist die Situation schon seit langem im Straßenverkehrsrecht. Die Vollziehung vieler gesetzlicher Bestimmungen dieses Rechtsbereiches beruht auf Zufällen und kann nur durch Schwerpunktaktionen einigermaßen gesteuert werden. Damit übt aber die Verwaltung ein Ermessen nicht mehr nur „im Rahmen der Gesetze“ aus (wie dies Art. 130 Abs. 2 B-VG verlangt), sie disponiert vielmehr über die Anwendung dieses gesetzlichen Rahmens selbst nach eigenem Ermessen. Das Legalitätsprinzip wird damit auf den Kopf gestellt. 3. Willkür

Ermessen, negativ konnotiert, bedeutet Willkür. Verwaltungsorgane stehen unter einem Generalverdacht, „willkürlich“ zu handeln (auch wenn die juristische Terminologie mehr erfasst, als dieses Wort in der Alltagssprache bedeutet.48). Es hängt dies mit ihrem absolutistischen Ursprung zusammen. Weil aber in jedem Gesetz ein Mindestmaß an Vollzugsermessen steckt, nimmt mit der Gesetzesflut zwangsläufig auch diese Willkür zu. Der VfGH hat allerdings gelernt, sie in allen 46 Dazu anschaulich Franz Merli, Innere Sicherheit als eine europäische Aufgabe?, in: Iliopoulos-Strangas/Diggelmann/Bauer (Hrsg.), Rechtsstaat, Freiheit und Sicherheit in Europa, 2010, S. 367 (386 ff.). 47 Wiener Tierhaltegesetz idF. LGBl 2010/29. 48 Der VfGH kennt auch eine „objektive Willkür“, s. Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, 8. Aufl., 2009, Rz. 792.

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ihren Verästelungen und manchmal geradezu sublimen Verfeinerungen aufzuspüren. Ein weniger vertrautes und daher verstörendes Phänomen ist die anscheinend zunehmende Willkür der Justiz. Sie hat es freilich auch schon immer gegeben und muss als Kehrseite ihrer Unabhängigkeit in Kauf genommen werden. Sie ist nur heute stärker in das Zentrum medialer Aufmerksamkeit gerückt, und das ist aus rechtsstaatlicher Sicht durchaus zu begrüßen. Dazu kommt aber eine Überforderung der Gerichte durch wachsende und zugleich kompliziertere gesetzliche Aufgaben, mit denen ihre Personalausstattung weder quantitativ noch qualitativ Schritt hält. Auch das produziert Willkür. Der moderne Rechtsstaat scheitert offensichtlich an seinen eigenen Ansprüchen. Das mag seine jüngste Etikettierung als „hypermodern“49 rechtfertigen. IV. Der Überwachungsstaat Eine neue Herausforderung für den Rechtsstaat ist – wie überall in Europa, so auch in Österreich – aus einem Amalgam von Terrorismus, internationaler Kriminalität, daraus resultierender Unsicherheit und neuer Technologie entstanden: der Sicherheit verheißende Überwachungsstaat. 1. Rechtsstaatliche Problematik der Handlungsformen

Für das Instrumentarium des Überwachungsstaates ist charakteristisch, dass es sich nur schwer in das rechtsstaatliche System der Handlungsformen des Staates einordnen lässt.50 Überwachung erfolgt ohne Befehls- und Zwangsgewalt und damit ohne jenes „Imperium“, das das spezifische Kriterium der Hoheitsverwaltung, also der spezifisch staatlichen Verwaltung, ausmacht.51 Der Staat handelt, wenn er observiert, der Form nach nicht anders als ein Privater, der observiert. Nach den üblichen Definitionen des Allgemeinen Verwaltungsrechts würde er daher „privatwirtschaftlich“ handeln und somit nicht einmal dem Legalitätsprinzip unterliegen.52 Dieses geradezu absurde Ergebnis verdeckt der unscharfe und verniedlichende Begriff der „schlichten Hoheitsverwaltung“, ohne einen befriedigenden Ausweg aus diesem Dilemma weisen zu können. 49 s. dazu Sebatian Schmid/Veronika C. Tiefenthaler/Klaus Wallnöfer/Andreas Wimmer (Hrsg.), Auf dem Weg zum hypermodernen Rechtsstaat? Tagung der Österreichischen Assistentinnen und Assistenten Öffentliches Recht, Bd. 1 (2011). 50 Dazu eingehend Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 199 ff. 51 Zu diesem Begriff der österr. Verwaltungsrechtslehre s. etwa Ludwig K. Adamovich/Bernd-Christian Funk/Gerhart Holzinger/Stefan L. Frank, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 4: Allgemeine Lehren des Verwaltungsrechts, 2009, S. 120 f. 52 s. I. 3.

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Um diese Problematik am Beispiel der Videoüberwachung zu illustrieren: Videoüberwachung ist ein besonders intensives Überwachungsinstrument. Technisch sind ihr, wenn nicht schon heute, so doch in nächster Zukunft, keine Grenzen gesetzt: Sie funktioniert bei Tag und bei Nacht, sie kann jede Mauer durchdringen, sie funktioniert auch vom Weltraum aus mit hoher Präzision. Dass damit in einem alltagssprachlichen Sinn in ganz massiver Weise in die Privatsphäre eingegriffen wird, ist offensichtlich. Ob es sich um einen Eingriff im Rechtssinne handelt, ist jedoch keineswegs so eindeutig. Noch 199853 teilte der VfGH die in einem Bescheid eines Unabhängigen Verwaltungssenats vertretene These, dass die Videoaufzeichnung einer Demonstration durch Polizeiorgane keine Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt sei und daher (!) die Privatsphäre nicht verletze. (Es hängt dies auch mit dem auf bestimmte staatliche Handlungsformen abstellenden österreichischen Rechtsschutzsystem zusammen.54) In zwei neueren Entscheidungen55 distanziert er sich vorsichtig von dieser Position und deutet die Anwesenheit eines (privaten) Kamerateams zu einer gewerbebehördlichen Kontrolle als eine – zumindest den Eindruck erweckende – Pflicht zur Duldung und insofern als eine (vor dem UVS bekämpfbare) Ausübung behördlicher Befehlsund Zwangsgewalt. Eine solche Konstruktion kommt freilich nur bei gezielten, auf bestimmte Personen beschränkten Überwachungsmaßnahmen in Betracht. Die generelle Überwachung eines bestimmten Ortes wird davon nicht erfasst. 2. Das Recht auf Datenschutz und seine Grenzen

Eindeutiger ist die Eingriffsqualität aus der Sicht des Rechts auf Datenschutz, das in Österreich explizit verfassungsgesetzlich verankert ist.56 Dieses Grundrecht verlangt zwar für jede staatlich angeordnete Videoüberwachung eine gesetzliche Grundlage, die einem besonders strikt formulierten Verhältnismäßigkeitsprinzip sowie einem strengen Determinierungsgebot entsprechen muss. Die allgemeinen Regelungen des Datenschutzgesetzes reichen dazu nicht aus; der VfGH verlangt vielmehr eine spezialgesetzliche („materienspezifische“) Grundlage, die „mit hinreichender Klarheit das Ausmaß und die Art des behördlichen Ermessens erkennen lassen muss“.57 In seiner jüngeren Judikatur prüft der VfGH die Grenzen solcher gesetzlicher Ermächtigungen sehr penibel. So hob er Strafbescheide wegen Geschwindigkeitsübertretungen auf, wenn sie mit einem videogestützten Geschwindigkeits- und Abstandsmessgerät festgestellt wurden, weil die Straßenverkehrsordnung (ein Bundesgesetz!) nur den Einsatz automatischer Geschwindigkeitsmesssysteme vorsieht und daher die potenzielle, wenn auch im 53 54 55 56 57

VfSlg 15.109/1998. Dazu Wiederin (Fn. 4), S. 95 f. VfSlg 17.774/2006, 18.404/2008. s. die Verfassungsbestimmung des § 1 Datenschutzgesetz 2000. VfSlg 18.146/2007.

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konkreten Fall gar nicht erfolgte Abstandsmessung keine gesetzliche Grundlage hat.58 Diese Judikatur mag formalistisch erscheinen. Sie zwingt aber den Staat, jede geplante Videoüberwachung genau zu überlegen und in der Öffentlichkeit des Parlaments zur Diskussion zu stellen.59 Die Effektivität dieser grundrechtlich begründeten Schranken der Videoüberwachung ist dennoch begrenzt. Denn die gesetzgebenden Organe sind sehr rasch bereit, fehlende gesetzliche Grundlagen nachzuliefern.60 Die Volksvertreter können dabei der Zustimmung einer Volksmehrheit sicher sein. Am 31. August des vergangenen Jahres titelte die Wiener U-Bahn-Zeitung Heute: „Toller Erfolg: Videoüberwachung im Gemeindebau wird ausgebaut“. (Dass es sich dabei um eine formell „private“ Videoüberwachung handelt, verringert nicht, sondern erhöht eher noch ihre Problematik, weil sie als solche noch geringeren verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegt.) Die Mehrheit der Bürger empfindet ihre Überwachung offensichtlich nicht als Gefährdung von Freiheit, sondern als Schutz ihrer Sicherheit. Auch der gelegentliche Appell an Gerichte, die Verhältnismäßigkeit einschlägiger gesetzlicher Ermächtigungen eingehender zu prüfen61, stößt auf diese Grenze. Zwar gibt es genügend Hinweise dafür, dass die sicherheitserzeugende Wirkung von Videoüberwachungen faktisch sehr gering ist; Videoüberwachungen bedienen mehr das Gefühl von Sicherheit als diese selbst. Dem stehen aber einzelne spektakuläre Erfolge gegenüber, die viele Einwände aufwiegen.62 3. Der Verlust der Privatheit

Das eigentliche Problem der Videoüberwachung öffentlicher Orte ist allerdings gar nicht die einzelne Beobachtung und auch nicht die einzelne Kamera. Das 58

VfSlg 18.643/2008; VfGH 22.2.2010, B 218/09, u. a. So auch Walter Berka, Geheimnisschutz – Datenschutz – Informationsschutz im Lichte der Verfassung, in: Studiengesellschaft für Wirtschaft und Recht (Hrsg.), Geheimnisschutz – Datenschutz – Informationsschutz, 2008, S. 53 (57). 60 s. zu der in Fn. 58 zitierten Judikatur die 22. StVO-Novelle BGBl. I 2009/16 (§§ 98a ff. StVO). 61 So etwa Gerhard Kunnert, Das „Section Control“-Erkenntnis des VfGH vom 15. Juni 2007 und seine Bedeutung für die Auslegung des Datenschutzgrundrechts sowie des Grundsatzes der hinreichenden Bestimmtheit von Gesetzen, Jahrbuch öffentliches Recht 2008, S. 251 (257 ff.); ähnlich Berka, Geheimnisschutz (Fn. 59), S. 60; Franz Merli, Herausforderungen für den Rechtsstaat, in: Vranitzky (Hrsg.), Themen der Zeit II, 2009, S. 84 (88). 62 Ein Beispiel in Österreich aus jüngerer Zeit lieferte die rasche Aufklärung der Entführung eines Babys in einem Kaufhaus in Salzburg, die einer Überwachungskamera in der Tiefgarage des Kaufhauses zu verdanken war. Die Reaktion der Öffentlichkeit war eindeutig: Die Kritik daran, dass diese Kamera nicht gemeldet und insofern rechtswidrig war, war für die Medien „schlichter Nonsens“ und die konstatierte „Datenschutzhysterie“ „lebensfremd“ (so die österreichische Tageszeitung Kurier am 11. Juni 2010). 59

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gravierendere Problem bildet vielmehr die Menge der dabei ermittelten Daten und ihre potenzielle Kombination mit Daten, die durch andere Überwachungsmethoden gewonnen werden. Viele kleinere Schritte sind in diese Richtung schon gesetzt worden: Erweiterte Gefahrenforschung auch mittels Bild- und Tonaufzeichnungsgeräten und Auswertung privater Bild- und Tonaufzeichnungen, Abfragen von Telefondaten und IP-Adressen, Fingerabdrücke für Reisepässe usw.63 Auf nationaler wie europäischer Ebene wird an einem Überwachungssystem gearbeitet, das abnormes Verhalten entdecken, die Wahrscheinlichkeit eines Verbrechens prognostizieren und die Polizei zu entsprechenden Reaktionen ermächtigen soll. Das rechtsstaatliche Verteilungsprinzip, demgemäß ein Privater alles tun darf, was ihm nicht gesetzlich untersagt ist, wird dadurch auf den Kopf gestellt. Dazu kommt, dass derartige Beobachtungen vielfach ohne Kenntnis und sogar ohne nachträgliche Information der Betroffenen erfolgen und damit eine unverzichtbare Voraussetzung des Rechtsschutzes nicht erfüllen. Noch problematischer, weil rechtlich noch schwieriger einzugrenzen, erweisen sich die Möglichkeiten, die künftig jedermann offen stehen. Demnächst wird man die Kameralinse eines Handys auf jeden beliebigen Passanten richten und durch elektronischen Gesichtsabgleich die Identität des Menschen feststellen sowie sämtliche im Internet über ihn gespeicherte Daten (und das sind bekanntlich nicht wenige64) erfahren können.65 Damit stellt sich die Frage, ob es Privatheit, so wie wir sie heute noch verstehen, in Zukunft überhaupt noch geben wird. Es wird sie auf Grund technologischer Möglichkeiten vielleicht gar nicht mehr geben können, und die Gesellschaft scheint sich daran zu gewöhnen. Das zeigt die nahezu grenzenlose Bereitschaft in unserer Gesellschaft, sich in der Öffentlichkeit körperlich oder seelisch zu entblößen. Inwieweit damit eine unverzichtbare Voraussetzung des „modernen“, eben noch nicht „hypermodernen“66, Rechtsstaates preisgegeben wird, ist eine andere Frage. 4. Resümee

Es wird angesichts dieser Entwicklungen einiger Anstrengung bedürfen, den Standard an Rechtsstaatlichkeit, den wir im 20. Jhdt. in Europa erstmalig und einmalig in der Geschichte der Menschheit erreicht haben, auf Dauer aufrechtzuerhalten. Welchen Beitrag dazu die Staatsrechtslehre leisten kann, hat uns der Jubilar in einer eindrucksvollen, weit über nationale Grenzen hinaus wirkenden Weise beispielhaft vorgelebt. 63

Vgl. Pöschl, Zukunft (Fn. 22), S. 28 f. Dazu anschaulich Hannes Tretter, Der „digital bewegte Mensch“, Festschrift für Hans R. Klecatsky, 2010, S. 777 (778 f.). 65 Der Spiegel 34/2010, S. 146. 66 s. Fn. 49. 64

Die vergessene Grundrechtshaftung Von Fritz Ossenbühl Der an der deutschen Rechtsordnung geschulte Jurist wird schon bei der Lektüre der vorstehenden Überschrift fragend innehalten. Was soll der mehrdeutige Begriff der „Grundrechtshaftung“ besagen? Im deutschen Staats- und Verwaltungsrecht war er bislang ungebräuchlich.1 Allerdings findet man ihn als vertrauten Terminus in der Terminologie der Schweizerischen Staatsrechtslehre.2 Dort wird mit dem Begriff der Grundrechtshaftung zum Ausdruck gebracht, dass Staatshaftung und Grundrechte miteinander verbunden sind und die Staatshaftung in den Grundrechten ihre Wurzeln und ihr Fundament hat. Die Staatshaftung ist verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil eines effektiven Grundrechtsschutzes. Ohne Staatshaftung weist der Grundrechtsschutz „eine empfindliche Lücke“ auf.3 Erst die mit den Grundrechtsverbürgungen garantierte Staatshaftung macht den Grundrechtsschutz vollständig. Ohne Staatshaftung ist der verfassungsrechtliche Grundrechtskatalog – streng ausgedrückt – nur ein Torso. I. Zum Themenbereich Damit ist das Thema des nachstehenden Beitrags angeschlagen. Es geht um die Frage, welcher verfassungsrechtliche Stellenwert der Staatshaftung zukommt. Ist sie notwendiger Bestandteil einer freiheitlichen Verfassung und muss sie deshalb auch im Verfassungstext ihren Ausdruck finden? Oder ist sie wenigstens verfassungsrechtlich gefordert und Gegenstand eines für den (einfachen Gesetzgeber) bestehenden verbindlichen Verfassungsauftrages? Und wie wenn der Verfassungsgeber die Grundrechtshaftung vergessen hat, kann sie dann etwa von den 1 Soweit ersichtlich erstmals verwendet von Grzeszick, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl., 2006, S. 879; ders., Grundrechte und Staatshaftung, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. III, 2009, § 75 Rn. 108 ff.; der Sache nach auch Röder, Die Haftungsfunktion der Grundrechte, 2002. 2 Schweizer, Durchsetzung des Grundrechtsschutzes, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VII/2, 2007, § 229 Rn. 110; in dem gescheiterten Staatshaftungsgesetz von 1981 war eine „Grundrechtseingriffshaftung“ vorgesehen (vgl. Schäfer/Bonk, Staatshaftungsgesetz, 1982, § 2 Rn. 54 ff.). Der Begriff ist aber in der Diskussion nicht aufgenommen worden. 3 Schweizer (Fn. 2).

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Gerichten nachgeholt und auf das Podest der Verfassung gestellt, d. h. mit Verfassungsrang ausgestattet werden? Über die grundsätzliche Sicht der Dinge schien jedenfalls lange Zeit Konsens zu bestehen. Erst in der Gegenwart scheinen sich Diskrepanzen aufzutun, die aber bei genauem Zusehen weitgehend von Missverständnissen leben. Wenn im Folgenden von Staatshaftung die Rede ist, dann geht es um die Frage, ob der Bürger einen Anspruch darauf hat, dass ihm zugefügtes hoheitliches Unrecht beseitigt und, falls dies unmöglich sein sollte, Wiedergutmachung gewährt wird. Klaus Stern4 hat in seinem opus magnum bereits im Ersten Band ausgeführt: „Zumindest ein material verstandenes Rechtsstaatsprinzip fordert jedoch bei Rechtsverletzungen durch staatliche Amtswalter, die zugleich einen Schaden ausgelöst haben, und bei Eingriffen der Staatsgewalt in (verfassungsrechtlich) geschützte Rechtspositionen, „irgendwie“ Restitution (Schadensersatz) oder Kompensation (Entschädigung); denn in beiden Fällen drängt die dem Primat des Rechts innewohnende Gerechtigkeit zu einer Wiedergutmachung sowohl im Privat- wie im öffentlichen Recht. Dass System öffentlich-rechtlicher Ersatzleistungen wird jedenfalls als eine „ultima ratio des Rechtsstaates“ betrachtet. Staatliche Ersatzleistungen sind gewissermaßen die rechtsstaatlich notwendige Konsequenz und unentbehrliche Ergänzung der gerichtlichen Kontrolle des Staatshandelns und der Sicherung grundrechtlicher Rechtsgewährleistungen“. – Ebenso entschieden und pointiert hat Jochen Vogel als seinerzeit amtierender und zuständiger Bundesjustizminister den Entwurf eines Staatshaftungsgesetzes in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts vorgestellt und verfassungsrechtlich verankert. So schreibt Vogel: „Sind die Folgen rechtswidrigen Verhaltens der öffentlichen Gewalt im Wege der primären Kontrolle durch die Gerichte nicht mehr zu beseitigen, weil ein irreparabler Nachteil für den Bürger eingetreten ist, so fordert das Rechtsstaatsprinzip im sekundären Rechtsschutz die Wiederherstellung des gesetzmäßigen Zustandes, oder, falls dies nicht durchführbar sein sollte, die Herstellung eines möglichst gleichwertigen Zustandes. Das Wesen rechtsstaatlich verstandener Staatshaftung bedeutet demnach Heilung der verletzten Rechtsstaatlichkeit.“ Und weiter: „Sodann können die verschärften Haftungsfolgen einer verschuldensunabhängigen Staatshaftung nur in einem Kernbereich staatlicher Rechtsschutzgewährleistung, nämlich bei den Grundrechten, eingreifen. Hier trifft den Staat die höchste Verantwortung im Rahmen einer verfassungsmäßigen Ordnung. Das Grundgesetz begründet insoweit staatliche Schutzpflichten gegenüber den Staatsbürgern mit Verfassungsrang und garantiert dem Bürger einen Schutzbereich von besonderer Wertigkeit. Dem trägt auch der primäre Rechtsschutz durch die Gewährleistung der Verfassungsbeschwerde in der Verfassungs4 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 855; aufgenommen und entfaltet im letzten Band des Staatsrechts (Bd. IV/2, 2011, § 123 XI) von Johannes Dietlein.

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gerichtsbarkeit in besonderer Weise Rechnung. Der sekundäre Rechtsschutz der Staatshaftung hat diese verfassungsrechtliche Wertordnung ebenfalls zu beachten.“5 Die Charakterisierung der Staatshaftung als „letzte Vollendung des Rechtsstaates“6 ist in ihrer grundsätzlichen Aussage bis heute nicht bestritten. Doch wie so oft setzen die Meinungsverschiedenheiten bei der Umsetzung der Staatshaftung ein. Im rechtlichen Kern kulminieren diese Meinungsverschiedenheiten in der Frage nach dem Rang und der Verbindlichkeit der Staatshaftung in der Normenhierarchie des Rechtssystems. Hat die Staatshaftung Verfassungsrang? Falls nicht ausdrücklich, muss sie Verfassungsrang haben? Oder ist sie auf die Ebene des sog. einfachen Rechts verwiesen? Mit der Rangfrage ist sodann auch eine Kompetenzfrage verbunden. Wer ist nach unserer Verfassungsordnung berufen und befugt, die Staatshaftung rechtlich auszuformen, rechtsverbindlich ihren Inhalt und ihr Maß zu bestimmen? Nach dem gegenwärtigen Zustand teilen sich Gesetzgeber und Rechtsprechung diese Aufgabe; allerdings nicht in kooperativer Abstimmung, sondern in einem ungeordneten Nebeneinander.7 Klar ist lediglich, dass der Gesetzgeber mit seinen Regelungen den Vortritt, und natürlich auch den Vorrang vor der rechtsprechenden Gewalt hat. Aber wie ist die Lage, wenn der Gesetzgeber untätig bleibt? Kann dann die Rechtsprechung als Ersatzgesetzgeber einspringen? Falls ja, in welchem Umfang, wo liegen in diesem Fall die Grenzen? – Es ist ohne weiteres ersichtlich, dass die Beantwortung dieser Fragen entscheidend davon abhängt, ob die Staatshaftung verfassungsrechtlich verankert und wo und wie sie gegebenenfalls verfassungsrechtlich gegründet ist: als ausdrückliche Haftungsnorm, als Anspruchsinstitut oder als Gesetzgebungsauftrag? Blickt man mit dieser Fragestellung auf die Praxis, so zeigt sich ein schillerndes Bild: Der Gesetzgeber des im Jahre 1981 durch Nichtigerklärung des Bundesverfassungsgerichts8 gescheiterten Staatshaftungsgesetzes hat ebenso wie die Mitglieder der das Gesetz vorbereitenden Kommission9 das Gesetz als verfassungsnotwendiges Erfordernis des Rechtsstaatsprinzips10 und – mit der Statuierung einer Grundrechtseingriffshaftung11 – als Vollendung des Grundrechtsschut5 Vogel, Die Verwirklichung der Rechtsstaatsidee im Staatshaftungsrecht, DVBl. 1978, 657 (661 1. Sp., 662 1. Sp.). 6 Leisner, Gefährdungshaftung im öffentlichen Recht, VVDStRL 20 (1963), 185 (187). 7 Vgl. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 2 ff. 8 BVerfGE 61, 149 = DÖV 1982, 982 m. Anm. Ossenbühl; Ossenbühl (Fn. 7), S. 454. 9 Vgl. Schäfer/Bonk (Fn. 1), Einführung Rn. 78. Der Kommission gehörten an: Walter Reimers (Vizepräsident des Hamburgischen Oberlandesgerichts), Professor Dr. Otto Bachof (Tübingen), Professor Dr. Bender (Freiburg), Professor Dr. Bettermann (Hamburg), Staatsrat Dr. Dieter Haas (Hamburg), Bundesrichter am BGH Dr. Friedrich Kreft, Professor Dr. Weitnauer (Heidelberg), Bundesrichter am Bundesverwaltungsgericht Professor Dr. Felix Weyreuther. 10 Schäfer/Bonk (Fn. 1). 11 Schäfer/Bonk (Fn. 1).

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zes verstanden. Verfassungsrechtlich vorgegeben ist aus dieser Sicht die grundgesetzliche Verankerung der staatlichen Einstandspflicht für dem Bürger zugefügtes hoheitliches Unrecht. Die Ausgestaltung im Einzelnen ist Aufgabe und Pflicht des Gesetzgebers. Das Staatshaftungsgesetz hatte damit den Charakter eines verfassungsrechtlich gebotenen, das Grundgesetz ergänzenden (einfachen) Gesetzes, ähnlich wie beispielsweise ein Wahlgesetz. Die damit verbundene Zwei-StufenVorstellung lässt sich auf die Kurzformel bringen: das (Rechtsstaats-)Prinzip steht im Verfassungsrang, die anwendbare sanktionierte Haftungsnorm auf der Ebene des (einfachen) Gesetzesrechts. Diese Zwei-Stufen-Struktur der Staathaftung hat die Rechtsprechung dort übernommen, wo sie an Stelle des Gesetzgebers in Gestalt der richterlichen Rechtsschöpfung und Rechtsfortbildung das Staatshaftungsrecht weiterentwickelt hat. Dementsprechend hat der Bundesgerichtshof den Anspruch wegen rechtswidriger Eigentumsverletzung (sog. enteignungsgleicher Eingriff), der zunächst in Anlehnung an Art. 14 GG entwickelt, sodann nach dem Nassauskiesungsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Zusammenhang mit Art. 14 GG gelöst und auf den „Aufopferungsgedanken“ gestützt wurde, als eine Anspruchsgrundlage „auf der Ebene des einfachen Rechts“ charakterisiert.12 – Anders verfährt das Bundesverwaltungsgericht. Derjenige, der im Bewerbungsverfahren von seinem Dienstherrn zu Unrecht übergangen worden ist, hat nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einen aus dem „grundrechtsgleichen Recht“ des Art. 33 Abs. 2 GG „unmittelbar“ folgenden Anspruch auf Schadensersatz.13 Die Begründung wird selbst wiederum auf das Grundgesetz gestützt: „Art. 19 Abs. 4 GG gebietet es, die in diesem Bereich begründeten Defizite des Primärrechts durch einen entsprechend ausgebauten Sekundärrechtsschutz soweit möglich auszugleichen. Es entspricht daher ständiger Rechtsprechung des Senats, dass der zu Unrecht bei einer Beförderung übergangene Beamte einen unmittelbar aus dem beamtenrechtlichen Bewerbungsverfahren erwachsenden Anspruch darauf hat, im Wege des Schadensersatzes so gestellt zu werden, als sei er im maßgeblichen Zeitpunkt befördert worden. Die Notwendigkeit dieses Anspruchs ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass andernfalls schuldhafte Verletzungen des grundrechtsgleichen Bewerbungsverfahrensanspruchs sanktionslos blieben.“ – Die vom Bundesverwaltungsgericht betonte „Grundrechtsgleichheit“ des Rechts aus Art. 33 Abs. 2 GG ist ersichtlich dazu gedacht, die Argumentation zu stärken. In der Diskussion, ob die Grundrechte einen vergleichbaren „unmittelbaren“ Anspruch auf Schadensersatz für erlittenes Unrecht hergeben, wird jedoch eingewendet, dass die Grundrechte eine solche Sanktion gerade nicht vorsehen und ein Schadensersatzanspruch auch nicht kurzerhand, wie es das Bundesverwaltungs-

12 13

Vgl. Ossenbühl (Fn. 7), S. 224 f. m.w. N. BVerwG NJW 2010, 3592 (3593).

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gericht tut, als notwendiger Ausbau des Sekundärrechtsschutzes zur Ergänzung von Defiziten des Primärrechtsschutzes kreiert werden könne.14 Wieder andere, allerdings unklarere Ausführungen, findet man in einer Kammer-Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts.15 Diese Entscheidung wird immer wieder erwähnt, obwohl sie weder eine dem Bundesverfassungsgericht zuzurechnende zentrale Entscheidung darstellt, noch in sich für die hier gestellten Fragen weiterhilft. In dem Beschluss heißt es lapidar, dass eine „umfassende unmittelbare Staatshaftung von Verfassung wegen nicht gefordert“ sei. Die zu dieser Aussage zitierte Entscheidung des Ersten Senats trägt diese Feststellung jedoch nicht, wie bereits anderwärts überzeugend nachgewiesen worden ist.16 Damit ist das Spektrum denkbarer Optionen nahezu vollständig. Erstens: die Verfassung kann unmittelbare Ansprüche auf Schadensersatz wegen erlittenen hoheitlichen Unrechts bieten (BVerwG: Art. 33 Abs. 2 GG). Zweitens: das Grundgesetz enthält nur das (grundsätzliche) Haftungsprinzip in Gestalt des Rechtsstaatsprinzips resp. der Grundrechte, welches aber der Ausformung auf der Ebene des einfachen Rechts bedarf. Drittens: das Grundgesetz enthält überhaupt kein Erfordernis für eine unmittelbare Staatshaftung. Die folgenden Ausführungen wollen zwei Fragen aus dem aufgezeigten Problemfeld nachgehen. Zum einen der Frage nach der Relevanz der Verfassung für die Staatshaftung. Zum anderen der Frage, was in verfassungsrechtlich zulässiger Weise geschehen kann, wenn der Gesetzgeber einem Verfassungsgebot nach Regelung der Staatshaftung nicht nachkommt. II. Relevanz der Verfassung für das Staatshaftungsrecht Die Frage, inwieweit die Verfassung für das Staatshaftungsrecht relevant werden kann, hat viele unterschiedliche Facetten. Die Vielfalt der mit dieser Frage aufgeworfenen Aspekte ist schon durch die obigen Befunde der gegenwärtigen Rechtsprechung deutlich geworden. An erster Stelle soll es um nichts weiter gehen als um den positivistischen Befund, und zwar zunächst eingegrenzt auf die Grundrechte, also die Frage, ob der Grundrechtskatalog Aussagen und Inhalte für das Staatsunrecht liefert. Nimmt man den Begriff „Aussagen“ im strengen Sinne verbal, dann ergibt sich ein einfacher und eindeutiger Befund: im Grundrechtskatalog findet man keine verbalen Anhaltspunkte, die das Thema der Staatshaftung 14 Vgl. zuletzt Haack, Entschädigungspflichtige Grundrechtseingriffe außerhalb des Eigentumsschutzes, DVBl. 2010, 1475 (1479). 15 NVwZ 1998, 271 (272). 16 Vgl. Hermes, Der Grundsatz der Staatshaftung für Gemeinschaftsrechtsverletzungen, DV 31 (1998), S. 371 (386); Röder, Zur Haftungsfunktion der Grundrechte, 2002, S. 160 ff.

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im Sinne der Haftung für hoheitliches Unrecht ansprechen. Was aus dem „Inhalt“ der Grundrechte für die Formung des Staatshaftungsrechts gewonnen wird, ist das Produkt von Interpretationen und mit dezisionären Elementen angereicherten Rechtsfortbildungen. Da die Haftung des Staates für dem Bürger zugefügtes hoheitliches Unrecht zumindest im Grundsatz zu den rechtsstaatlichen Fundamenten gehört, wird man unbefangen die naheliegende Frage stellen müssen, wie dieser Umstand zu erklären ist. Wie kommt es, dass bei Verbürgung von Grundrechten, die den fundamentalen Status des Bürgers im Rechtsstaat begründen, die „Grundrechtshaftung“ als Wesenselement des Rechtsstaatsprinzips vergessen worden ist? Die erste Antwort auf diese Frage ist historischer Natur. Sie lautet schlicht: die Grundrechte sind älter als der Rechtsstaat. In der deutschen Verfassungsentwicklung sind die Grundrechte nicht gegen eine absolutistische Hoheitsgewalt revolutionär erkämpft worden. Vielmehr sind sie wie die Verfassungen selbst „Gewährungen“, die – selbstredend nicht ohne Druck – vom Staat dem Bürger gewährt und zugesichert wurden.17 Es versteht sich von selbst, dass bei dieser Konstellation Staatsunrecht von vornherein nicht Gegenstand von Grundrechtsverbürgungen sein konnte. Die Grundrechte waren im Vormärz weitgehend eingeengt auf den Schutz von Freiheit und Eigentum und haben sich erst später ausgeweitet. Das Thema Staatsunrecht hatte gedanklich hier keinen Platz. Und es kommt hinzu, dass Staatsunrecht auch als Rechtsbegriff und Rechtskategorie außerhalb der damaligen Vorstellungen lag. Dies wiederum hatte seinen Grund darin, dass der Stand der Entwicklung des öffentlichen Rechts und des Verfassungsrechts noch lange nicht so weit gediehen war, um Staatsunrecht als Rechtskategorie denken und einordnen zu können.18 Das aus dem absolutistischen Staat überkommene Gedankengut mit seinem eigengearteten Souveränitätsbegriff konnte Staatsakte nur als rechtmäßig erfassen.19 Dass der Staat auch Unrecht tun konnte, passte nicht ins System. Hinzu kommt, dass das Staatspersönlichkeitsdogma noch in den Windeln lag und damit auch rechtstechnisch der Staat als Zurechnungssubjekt hoheitlicher Deliktsfähigkeit noch nicht entwickelt war.20

17 Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band 1992, S. 115; Würtenberger, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 2 Rn. 24; Merten, ebd., Bd. II, 2006, S. 489 ff. 18 Vgl. Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, S. 29 ff.; Kohl, Die Lehre von der Unrechtsfähigkeit des Staates, 1977. 19 Vgl. Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1921; Nachdruck der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt 1959, S. 372. 20 Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates, I. Teil, Dogmengeschichtliche Darstellung, 1959. Aufschlussreich ist die kontroverse Auseinandersetzung im Schrifttum im 19. Jahrhundert über die Alternative Staatshaftung oder Beamtenhaftung (vgl. die Darstellung bei Heidenhain, Amtshaftung und Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff, 1965, S. 21 ff. (bes. S. 30), und Löwer, Staatshaftung für unterlassenes Verwaltungshandeln, 1979, S. 19 ff.), die offenbar bis zur Konzipierung des Grundgesetzes fortgewirkt hat (vgl. unten bei Fn. 25).

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Der Grundrechtskatalog war also schon im Ansatz für das Thema des Staatsunrechts nicht aufnahmebereit und er ist es in der Folgezeit geblieben. Mit der endgültigen Etablierung des Rechtsstaates auf deutschem Boden hätte mit dieser Tradition einer verengten Sicht der Grundrechte gebrochen werden können und müssen. Doch enthält der grundgesetzliche Grundrechtskatalog eine solche Neuorientierung nicht. Betrachtet man indessen die Entstehungsgeschichte des Grundrechtskataloges, so findet man bemerkenswerte Vorgänge. Sie zeigen, dass die „Grundrechtshaftung“ im hier verstandenen Sinne durchaus nicht „vergessen“ worden ist, sondern nur deshalb im Grundrechtskatalog keinen Platz gefunden hat, weil einige Abgeordnete nicht in der Lage waren, die Außenhaftung des Staates gegenüber dem Unrecht erleidenden Bürger zu unterscheiden und thematisch abzukoppeln von der Innenhaftung des Beamten. Erstaunlich erscheint allerdings sozusagen der Auftakt der Diskussion im Parlamentarischen Rat. Nach dem noch frisch in Erinnerung stehenden nationalsozialistischen Unrechtsstaat hätte bei den Beratungen über den Grundrechtsstatus des Bürgers vor allem das Problem im Vordergrund stehen müssen, wie man in Zukunft solches Staatsunrecht verhindern kann. Stattdessen aber wurde darauf hingewiesen, man befinde sich „in einer ähnlichen Situation der Gefährdung der menschlichen Freiheit wie zur Zeit des fürstlichen Absolutismus“.21 Bei dieser Einstellung kann es demzufolge niemanden wundern, dass im Parlamentarischen Rat von maßgeblichen Abgeordneten an die grundrechtlichen Traditionen des 19. Jahrhunderts und deren Kategorien angeknüpft wurde. Doch bereits der Herrenchiemseer Konvent hatte die Einbeziehung einer Haftungsvorschrift in das Grundgesetz damit begründet, dass ihr ein „grundrechtartiger Charakter“ zukomme.22 Der Abgeordnete Dr. Hoch (SPD) empfahl die Einordnung der Haftungsvorschrift in den Abschnitt „Die Grundrechte“. Seine Begründung ist bemerkenswert. Sie lautet: „Es wird allmählich immer klarer, dass das ganze Problem überhaupt kein beamtenrechtliches Problem ist, sondern dass es sich um ein Problem des Rechtsstaates handelt, um den Schutz des Staatsbürgers gegen die Allmacht der Staatsgewalt, das eigentlich in die Grundrechte hineingehört. (. . .) Das gilt auch für die Länder und Gemeinden.“23 – Zu den weiteren Beratungen heißt es zusammenfassend: „Der Zuständigkeitsausschuss gelangte zu der Auffassung, dass es sich bei der Frage der Amtshaftung um ein Grundrecht handelt, das einen Teil der Gewährleistung des Rechtsstaates darstellt und das in einem

21 Zur Entstehungsgeschichte vgl. JöR N. F., Bd. 1, 1951, S. 42; ferner Dagtoglou, in: Bonner Kommentar, Art. 34 GG, Zweitbearbeitung; Pfab, Staatshaftung in Deutschland, 1997, S. 15 ff. – Auf die „Erfahrungen aus der Nazizeit“ hat demgegenüber der Abg. Hoch (SPD) hingewiesen und gefolgert, „dieses Recht (scil. auf Wiedergutmachung des Unrechts) als ein Grundrecht zu betrachten, nicht mehr als ein Stück Beamtenrecht“ (vgl. den Nachweis bei Pfab, S. 18 Rn. 120). 22 JöR N. F., Bd. 1, S. 324. 23 JöR N. F., Bd. 1, S. 325; vgl. auch Fn. 21.

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Rechtssatz mit Bindung der Länder und Gemeinden Ausdruck finden muss.“ 24 Der Redaktionsausschuss schloss sich dieser Auffassung im Grundsatz an. Erst im Grundsatzausschuss ist die Diskussion wieder von der grundsätzlichen Seite, die der Abg. Dr. Hoch (SPD) klarsichtig aufgezeigt hatte, also von der staatsbürgerlichen Perspektive in die verengte beamtenrechtliche Perspektive abgeglitten und der heutige Art. 34 GG zustanden gekommen.25 Für den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes kann man also zunächst feststellen, dass die „Grundrechtshaftung“ nicht völlig „vergessen“ worden ist, sondern nur deshalb im Grundgesetz keinen Ausdruck gefunden hat, weil einige Abgeordnete nicht in der Lage waren, die in Art. 34 GG verbundene Thematik von Staatshaftung und Beamtenhaftung sachgerecht auseinanderzuhalten. Ungeachtet seiner Stellung außerhalb des Grundrechtskataloges wird Art. 34 S. 1 GG im Schrifttum als ein „grundrechtsähnliches Recht“ charakterisiert.26 Doch dies ist nur eine von mehreren Kategorisierungen, die der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Art. 34 GG und damit dem Staatshaftungsrecht zuteil geworden sind. Nach der überwiegenden, die Rechtsprechung bestimmenden Version, besteht die Hauptbedeutung des Art. 34 S. 1 GG darin, dass er die nach wie vor im Grundsatz als persönliche Beamtenhaftung zu verstehende Amtshaftung auf den Staat verlagert, also keine unmittelbare Staatshaftung begründet. Andererseits behauptet niemand, dass sich die verfassungsrechtliche Bedeutung des Art. 34 GG auch in dieser Funktion der Verlagerung der Verantwortlichkeit für die Ausübung hoheitlicher Gewalt auf den Staat erschöpft. Vielmehr werden dem Art. 34 S. 1 GG verschiedene verfassungsrechtliche Gehalte zugesprochen. Zum einen wird er als eine verfassungsrechtliche Einrichtungsgarantie (institutionelle Garantie) verstanden, die eine für alle Hoheitsträger bindende Haftungsmindestgarantie verbürgt27, die der Gesetzgeber noch weiterentwickeln kann und muss. Die Verpflichtung des Gesetzgebers, ein umfassendes Staatshaftungsrecht zu schaffen, wird auch als verpflichtender Inhalt eines speziellen Verfassungsauftrages angesehen, der dem Art. 34 S. 1 GG entnommen wird.28 Übereinstimmung scheint jedenfalls in der Auffassung zu bestehen, dass Art. 34 S. 1 GG eine Vorschrift darstellt, die sich als „unmittelbarer Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips“ erweist29, die also als „ultima ratio des Rechtsstaates“30 in einer rechtsstaatlichen 24

JöR N. F., Bd. 1, S. 327. Vgl. JöR N. F., Bd. 1, S. 328 f.; Dagtoglou, in: Bonner Kommentar GG, Art. 34 (1970), I S. 4 f. 26 Vgl. Stern, Staatsrecht III/1 S. 378, Dietlein (Fn. 4), § 123 XI 2, S. 2031, beide m.w. N. 27 von Danwitz, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG-Kommentar, 5. Aufl., 2005, Art. 34 Rn. 43; Dietlein (Fn. 4), § 123 XI 2, S. 2031, beide m.w. N. 28 Pfab, Staatshaftung in Deutschland, 1997, S. 89 ff. 29 von Danwitz (Fn. 27), Rn. 40; Dietlein (Fn. 4), § 123 XI 2, S. 2031, beide m.w. N. 30 Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 3. Aufl., 1931, S. 321. 25

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Verfassung nicht fehlen darf, also notwendiger Bestandteil einer rechtsstaatlichen Verfassung ist. Wieder aufgegriffen und konsequent fortgeführt wird schließlich auch die schon von Bettermann31 verfochtene Auffassung, dass Art. 34 S. 1 GG die verfassungsnormative Anordnung einer unmittelbaren Staatshaftung darstellt, also das historisch überkommene Prinzip der persönlichen Beamtenhaftung ablöst. In Anknüpfung an diese Deutung sieht Bonk in einer ebenso sympathischen wie argumentativ gut gefestigten Darstellung in Art. 34 S. 1 GG die „für die Staatshaftung maßgebliche Anspruchsnorm“.32 Art 34 S. 1 GG begründe bei verfassungskonformer Auslegung und Anwendung auch ohne Ausführungsgesetzgebung als wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips im Sinne einer grundrechtsähnlichen Gewährleistung eine tatbestandlich im Kern bereits hinreichend konkret beschriebene grundsätzliche Staatshaftungsgarantie.33 Art. 34 S. 1 GG übernehme im Sinne eines verfassungskonformen Verständnisses „wegen seiner Funktion als sekundärer Rechtsschutz und Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips keine anderweitig einfachgesetzlich begründete Haftung, sondern begründe selbst und unmittelbar die Verantwortlichkeit der jeweiligen Träger öffentlicher Gewalt“.34 Bonk distanziert sich ausdrücklich von der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Dies allerdings mit Recht, denn die Diskussion der Abgeordneten zu Art. 34 GG zeigt eine durchgehende sachliche Verwirrung über das Verhältnis von Staatshaftung und Beamtenhaftung und vor allem eine falsche Vorstellung von dem Verhältnis des BGB zur Verfassung.35 Wenn man hinzudenkt, welche expansive Grundrechtsjudikatur das Bundesverfassungsgericht bisher praktiziert hat, so lässt sich schlecht einwenden, Bonk überschreite das Maß zulässiger Verfassungsinterpretation. Bleibt man auf dem Boden des herrschenden Meinungsstandes, so ist doch eine Feststellung offenbar unbestritten, dass nämlich Art. 34 S. 1 GG sich als „unmittelbarer Ausdruck“ 36 resp. als „wesentlicher Bestandteil“ 37 des Rechtsstaatsprinzips erweist. Mit anderen Worten: eine Aussage darüber, dass die Träger von Hoheitsgewalt für dem Bürger zugefügtes (hoheitliches) Unrecht einzustehen haben, darf jedenfalls als Grundsatz in einer rechtsstaatlichen Verfassung nicht fehlen. Dass diese Staatsunrechtshaftung als verfassungsrechtliche Garantie 31 Bettermann, Rechtsgrund und Rechtsnatur der Staatshaftung, DÖV 1954, 299 ff.; ders., in: Die Grundrechte III/2, 1959, S. 831; ders., Vom Sinn der Amtshaftung, JZ 1961, 482 f. 32 Bonk, in: Sachs (Hrsg.), GG, 3. Aufl., 2009, Art. 34 Rn. 53. 33 Bonk (Fn. 32), Rn. 2a. 34 Bonk (Fn. 32), Rn. 53; vgl. auch Röder, Zur Haftungsfunktion der Grundrechte, 2002, S. 171. 35 Vgl. oben bei Fn. 25. 36 von Danwitz (Fn. 27), Rn. 40; Dietlein (Fn. 4), § 123 XI 2, S. 2031. 37 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 6.

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nicht ausgefeilt sein kann, versteht sich von selbst. Doch muss die Verfassung zumindest die Eckpunkte für ein Staatshaftungsrecht liefern. Dazu gehören etwa die Unmittelbarkeit der Staatshaftung und die Verschuldensunabhängigkeit der staatlichen Einstandspflicht für dem Bürger zugefügtes Unrecht. Verschulden sieht Art. 34 S. 1 GG für die Staatshaftung dem Wortlaut nach nicht vor. Ist Art. 34 S. 1 GG Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips, so muss die Staatshaftung – wie im gescheiterten StHG geschehen – verschuldensunabhängig ausgestaltet werden.38 Der Auffassung, aus dem Rechtsstaatsprinzip könne eine allgemeine Unrechtshaftung des Staates nicht begründet werden39, kann nicht gefolgt werden. Warum der gegenwärtige, an der persönlichen Beamtenhaftung orientierte und auf sie ausgerichtete Rechtsschutzstandard als Mindestgarantie dem Rechtsstaatsprinzip genügen soll40, ist nicht verständlich. Auch der Einwand, dass der Staat nicht für „jegliches rechtswidriges Handeln“41 einstehen könne, ist gegenstandslos. Denn dies hat niemand behauptet. Es geht zunächst lediglich um die verfassungsrechtliche Verankerung des Grundsatzes der verschuldensunabhängigen Unrechtshaftung. Ausnahmen kann der Gesetzgeber von diesem Grundsatz dekretieren, aber sie unterliegen einem verschärften Rechtsfertigungs- und Begründungszwang.42 Das Rechtsstaatsprinzip gibt demzufolge nicht mehr und nicht weniger an verfassungsrechtlicher Substanz für das Staatshaftungsrecht her als die Aussage, dass der Staat für dem Bürger zugefügtes Unrecht grundsätzlich einzustehen hat, und zwar ohne Rücksicht auf Verschulden. Diese Aussage allerdings ist keines weiteren Beweises bedürftig. Sie ist schlicht eine der wenigen Aussagen, die man als evident bezeichnen kann. Und diese Evidenz ist auch vielfach zu bezeugen, nicht zuletzt durch die einmütige Motivation, mit der von allen Seiten die Staatshaftungsreform der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts betrieben worden ist.43 Wer Gegenteiliges behauptet, möge die Plausibilität des Satzes dartun, dass der Rechtsstaat grundsätzlich nicht verpflichtet ist, dem Bürger geschehenes Unrecht wiedergutzumachen. Sind die Eckpunkte eines Staatshaftungsrechts wie aufgezeigt dem Rechtsstaatsprinzip zu entnehmen, so müsste sich hieran auch die Ausgestaltung und Fortentwicklung des Staatshaftungsrechts orientieren. In der Judikatur ist das je-

38 Bonk (Fn. 32), Rn. 83; Röder, Zur Haftungsfunktion der Grundrechte, 2002, S. 175. 39 So Haack, Entschädigungspflichtige Grundrechtseingriffe außerhalb des Eigentums, DVBl. 2010, 1475 (1480); vgl. auch die Nachweise und Literaturübersicht bei Löwer, Staatshaftung für unterlassenes Verwaltungshandeln, 1979, S. 61 ff. 40 So Haack (Fn. 39). 41 So Haack (Fn. 39). 42 Pfab (Fn. 28). 43 Vgl. oben bei Fn. 4.

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doch nur partiell geschehen44 und im Schrifttum werden die Konzepte einer Fortentwicklung des Staatshaftungsrechts nicht dem Rechtsstaatsprinzip, sondern unmittelbar den Grundrechtsverbürgungen entnommen.45 Diese Diskrepanz erscheint zumindest erklärungsbedürftig. Der Rückgriff auf die Grundrechte hat zunächst und vor allem damit zu tun, dass die Ableitungsergebnisse bei einem Rückgriff auf das Rechtsstaatsprinzip weniger griffig und konsensfähig erscheinen. Werden als Ausgangspunkt der Fortentwicklung des Staatshaftungsrechts die Grundrechtsverbürgungen gewählt, so lassen sich die Ansprüche des Staatshaftungsrechts ziemlich plausibel und überzeugend als Ausformungen eines Sekundärrechtsschutzes darstellen, der den anerkannten und in der Verfassung ausgebauten Primärrechtsschutz der Grundrechte notwendig ergänzt, um Rechtsschutzlücken und Ungleichheiten im Grundrechtsschutz zu vermeiden.46 Rechtslogisch erfassen lässt sich bei diesem Ausgangspunkt allerdings nur das „Grundrechts-Unrecht“. Solange die Grundrechte sich anfangs auf einige Lebensbereiche beschränkten, konnten deshalb die Grundrechte als Grundlage für eine umfassende Staatsunrechtshaftung nicht dienen. Dies ist erst möglich in einem System, in dem die Grundrechte den Lebensund Freiheitsbereich des Bürgers lückenlos abdecken. In einem solchen System können die Grundrechte wertvolle Orientierungen bieten, um die Tatbestände einer Unrechtshaftung auszuformen.47 Festzuhalten ist aber, dass die Wiedergutmachung von Staatsunrecht ihren Ursprung im Rechtsstaatsprinzip hat und mit den Grundrechtsverbürgungen ursprünglich thematisch nicht verbunden war. Die Ausgangsfrage nach der Relevanz des Verfassungsrechts für das Staatshaftungsrecht lässt sich nach allem wie folgt beantworten. – Das Staatshaftungsrecht ist mit zwei fundamentalen Bestandteilen der Verfassung thematisch verknüpft: mit dem Rechtsstaatsprinzip und mit den Grundrechtsverbürgungen.48 Diese Verknüpfung sieht unterschiedlich aus. Zum einen ist die Staatshaftung „unmittelbarer Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips“. Zum Rechtsstaat gehört wesensnotwendig, dass der Staat für dem Bürger zugefügtes Unrecht grundsätzlich einsteht. Ein Staat, dessen Rechtsordnung insoweit wesentliche Lücken lässt, ist 44

So für den Folgenbeseitigungsanspruch; dazu Ossenbühl (Fn. 37), S. 296. Vgl. Grzeszick, Rechte und Ansprüche, 2002; Daniel Röder, die Haftungsfunktion der Grundrechte, 2002; differenzierend und die einfache Gesetzeslage einbeziehend: Gromitsaris, Die staatshaftungsrechtliche Dimension der Grundrechte, DÖV 2006, 288. 46 Vgl. Bonk (Fn. 32), Rn. 53: Wolfgang Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, 1994, S. 857. 47 Vgl. Grzeszick, Rechte und Ansprüche, 2002; Röder, die Haftungsfunktion der Grundrechte, 2002; Klement, Entschädigung für rechtswidrige Eingriffe und rechtswidrige Maßnahmen, DV 37 (2004), S. 73 ff. (76). 48 Vgl. Dietlein (Fn. 4), § 123 XI 2, S. 2031; Rüfner, in: Friauf/Höfling, GG, Art. 34 (2007), Rn. 185. 45

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kein oder zumindest ein defizitärer Rechtsstaat. – Zum anderen ist die Staatshaftung notwendiger Sekundärrechtsschutz im Rahmen der Grundrechtsgewährleistungen. Im Primärrechtsschutz kann der Bürger unter Berufung auf die Grundrechte rechtswidrige staatliche Eingriffe in seinen Rechtskreis abwehren. Wenn solche Eingriffe geschehen sind und nicht mehr abgewendet werden können, muss der Staat den durch den rechtswidrigen Eingriff dem Bürger entstandenen Schaden grundsätzlich ersetzen. Rechtsstaatsprinzip und Grundrechtsgewährleistungen haben sich historisch unterschiedlich entwickelt und in unterschiedlichen Schüben vervollständigt. Im Rechtsstaat der Gegenwart mit einem lückenlosen Grundrechtsschutz verbinden sich beide Grundlagen der Staatshaftung zu einer gemeinsamen Verfassungsgrundlage der Staatshaftung. Die Staatshaftung hat ihre Wurzeln, ihren Genotyp, im Rechtsstaatsprinzip; in den Grundrechten gewinnt sie anwendbare Gestalt, ihren Phänotyp. Aber dieser Phänotyp bedarf auf dem Grundriss der Schutzgüter und Prinzipien der Verfassung der konkret anwendbaren Form. Dieser Verfassungsauftrag zur anwendbaren Ausgestaltung des Staatshaftungsrechts ist in einem Rechtsstaat eine der vornehmsten Aufgaben. Und selbstredend ist der parlamentarische Gesetzgeber jene Instanz im demokratischen Rechtsstaat, der die Bewältigung dieser Aufgabe verfassungsrechtlich aufgegeben ist. III. Staatshaftungsrecht durch Gesetz und Richterspruch Regelungsthema des Staatshaftungsrechts ist die Wiedergutmachung von hoheitlichem Unrecht. Es geht nicht um den Ausgleich sich gegenüberstehender Interessen oder um die Gerechtigkeit bei der Verteilung von staatlichen Mitteln. Sich dies zu vergegenwärtigen, ist namentlich bei der Frage, welche Instanz für die Normierung auf dem Gebiet des Staatshaftungsrechts prädestiniert und berufen ist, von erkenntnisleitender Bedeutung. Die Ausformung des Staatshaftungsrechts in anwendbare Tatbestände ist primär ein Problem einer am Wiedergutmachungsgedanken orientierten Konkretisierung des Verfassungsrechts, des Zuendedenkens des Rechtsstaatsprinzips und der Grundrechtsgewährleistungen. Dies ist selbstredend eine zuvörderst dem parlamentarischen Gesetzgeber zugewiesene verfassungsrechtlich geforderte Aufgabe. Die dominante Orientierung dieser Gesetzgebungsaufgabe an der Verfassung und die eingeengte Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch vorgegebene Verfassungsdirektiven mag schon die bekannte notorische Unlust des Parlamentes für dieses Mandat vermuten und erklären. Das parlamentsbeschlossene förmliche Gesetz ist gleichwohl die nach der Verfassungsordnung erforderliche Grundlage des Staatshaftungsrechts. Aber sie wird niemals ohne ergänzendes Richterrecht auskommen können. Dies ist eine unvermeidbare Folge der gestellten Regelungsaufgabe. Denn mehr als anderswo zeigen sich im Staatshaftungsrecht neue Konflikts- und Schadenslagen, auf die angemessen reagiert werden muss und die entweder nicht voraussehbar sind oder sich

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einer detaillierten Tatbestandsumreißung entziehen und auf ausfüllungsbedürftige Begriffe angewiesen sind.49 Die Rechtsprechung zur Amtshaftung (Stichworte: „Amtspflichten“, „Drittbezogenheit“) liefert hierfür reiches Anschauungsmaterial. Deshalb wird das Staatshaftungsrecht stets zu einem beträchtlichen Teil Richterrecht bleiben, auch wenn sich der Gesetzgeber zu einem Staatshaftungsgesetz aufraffen sollte. Das Staatshaftungsrecht ist jedoch seit Inkrafttreten des Grundgesetztes nicht durch den verfassungsrechtlichen Normalfall gekennzeichnet, sondern durch den Ausnahmezustand. Das Staatshaftungsrecht ist geprägt durch richterrechtliche Korrekturen der überkommenen allgemeinen gesetzlichen Grundlage des § 839 BGB und durch im Wege der Rechtsfortbildung entwickelte neue Haftungsinstitute, die die vorhandenen Gesetzeslücken mehr oder weniger notdürftig ausfüllen. Die letzte gut vorbereitete und große Anstrengung zum Erlass eines Staatshaftungsgesetzes endete 1982 nicht wegen materieller Einwände, sondern schlicht aus Kompetenzgründen. Seit 1994 steht dem Bund nunmehr auch die seinerzeit fehlende Kompetenz für das Staatshaftungsrecht zu (Art. 75 Nr. 25 GG). Doch ist in den letzten 16 Jahren von Bundesseite nichts geschehen. Die Unfähigkeit des parlamentarischen Gesetzgebers zum Erlass eines Staatshaftungsgesetzes ist im Schrifttum vielfach und immer wieder beklagt worden.50 Diese Unfähigkeit ist offenkundig und dauerhaft und durch mehrere Defekte und Defizite des grundgesetzlichen Entscheidungssystems bedingt. Unrechtsopfer haben keine Lobby, die im Bereich der Gesetzgebung etwas bewegen, geschweige denn bewirken könnte. Die geborene Lobby müsste der Justizminister sein. Aber auch er ist den Regeln und Hindernissen parlamentarischer Gesetzgebungsarbeit unterworfen. Ein Staatshaftungsgesetz hat keine nennenswerte Wahlrelevanz. Es ist deshalb für den Abgeordneten im Regelfalle politisch uninteressant. Widerstand gegen Ausweitungen der Staatshaftung geht vor allem von den Finanzministern in Bund und Ländern aus. Sie waren es auch, die letztlich eine Staatshaftungsreform in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts verhindert51 und damit den Bund auf einen Kompetenzweg gedrängt haben, auf dem er vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern musste. Dabei genügte der undifferenzierte Hinweis auf vermutete Mehrkosten. Empirische Befunde hatten Mehrbelastungen auf allen drei Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden) ausgemacht, die einen zweistelligen Millionenbetrag nicht einmal überschritten.52 Was soll man von einer Regierung 49 Vgl. Ossenbühl, Öffentlich-rechtliche Entschädigung in Verfassung, Gesetz und Richterrecht, DVBl. 1994, 977 (980). 50 Vgl. etwa von Danwitz (Fn. 27), Rn. 24; Grzeszick (Fn. 47), S. 405; Schoch, Effektuierung und Sekundärrechtsschutz, DV 34 (2001), S. 261 ff. (287); Ehlers, VVDStRL 51 (1992), S. 211 (243); Ossenbühl (Fn. 49), S. 978 f. 51 Vgl. Ossenbühl, Der Regierungsentwurf eines Staatshaftungsgesetzes – Beginn oder Ende einer Reform, JuS 1978, 720 ff. 52 Ossenbühl (Fn. 51); Grzeszick (Fn. 47), S. 409. Das Argument der Überlastung des Haushalts wird ausführlich widerlegt von Röder, Die Haftungsfunktion der Grund-

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halten, die geneigt ist, mehrstellige Milliardenbeträge für Subventionen und die Rettung von abgewirtschafteten Banken auszugeben, aber Unrechtsopfer – gemessen an diesen Beträgen – wegen eines Taschengeldes unentschädigt zu lassen. Kurz und knapp festgehalten: der verfassungsmäßig berufene Vertreter für den Gesetzgebungsauftrag zum Erlass eines Staatshaftungsgesetzes, der parlamentarische Gesetzgeber, ist nicht willens und offenbar auch nicht fähig, diesen Auftrag zu erfüllen. Wenn im verfassungsrechtlichen Gewaltengefüge eine Instanz für die ihr zugewiesene Aufgabe völlig ausfällt, bleibt jedoch kein Vakuum. Vielmehr tritt dann eine andere Instanz ergänzend und helfend ein, fraglich ist nur, mit welchem Impetus sie diese, ihr aufgedrängte Rolle wahrnimmt. Bisher schon hat die höchstrichterliche Rechtsprechung das überkommene Staatshaftungsrecht weiterentwickelt und ausgebaut und zwar so gut, dass wesentliche Teile dieser Rechtsprechung im Gesetzentwurf eines Staatshaftungsgesetzes ihren Niederschlag gefunden haben. Die verfassungsrechtliche Befugnis der Gerichte zur Rechtsfortbildung ist im Grundsatz unbestritten.53 Das Eintreten der Gerichte für einen unfähigen oder untätigen Gesetzgeber ist auch in einem Rechtsstaat keine fremde oder gar systemwidrige Erscheinung, jedoch letztlich eine Frage des Maßes. Wie weit darf der Richter bei seiner Ersetzungsfunktion gehen? Wo sind die Grenzen des Richterrechts? Das Maß der Rechtsfortbildung muss, wenn der Rechtsstaat sich nicht selbst aufgeben will, dem Maß der „Pflichtvergessenheit“54 des Gesetzgebers korrespondieren. Deshalb ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass die legislative Abstinenz auf dem Gebiet der Staatshaftung mit einer „Kompetenzeinweisung der Justiz“ verbunden ist. Die Unfähigkeit des Gesetzgebers zur Kodifikation des „Rechts der Staatsunrechtshaftung“ erweist sich demnach als „Kompetenztitel“ für die Gerichte.55 Die den Gerichten zugewiesene Kompetenz bleibt jedoch jederzeit dem Gesetz untergeordnet. Der Gesetzgeber kann Rechtsfortbildungen, die er für zu weitgehend hält, jederzeit korrigieren56, wie er es beispielsweise bei der Bankenhaftung getan hat.57 Die Rechtsfortbildung steht demnach sozusagen stets unter der „Aufsicht“ des Gesetzgebers, der ohne weiteres korrigierend eingreifen kann.

rechte, 2002, S. 51 ff. Nach diesen Ausführungen kann das Argument ad acta gelegt werden. 53 Vgl. Ossenbühl, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. V, § 100, Rn. 50 ff. 54 von Danwitz (Fn. 27), Rn. 24. 55 Höfling, Primär- und Sekundärrechtsschutz im Öffentlichen Recht, VVDStRL 61 (2002), S. 260 ff. (281); von Danwitz (Fn. 27), Rn. 24. 56 Ossenbühl, DVBl. 1994, 978 f.; Schoch (Fn. 50). 57 Vgl. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl., 1998, S. 63.

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IV. Ausblick Die Rechtsfortbildung der Gerichte im Staatshaftungsrecht kann nicht gewaltenteilungswidrig ausufern. Dies verhindert schon die von der Justiz stets geübte Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber. Im gegenwärtigen Stadium geht es eher darum, die Justiz dazu zu bewegen, diese Zurückhaltung weiter zurückzudrängen. Schoch hat vor zehn Jahren bemerkt, „der Schutz (grund-)rechtlicher Integrität der Bürger“ sei „auf dem Weg zu einem allgemeinen Wiedergutmachungsanspruch“58, aber gleichzeitig hat er einen „augenblicklichen Stillstand bei der Fortentwicklung des Staatshaftungsrechts“ konstatiert.59 Die Gerichte stehen bei den befürworteten Ausweitungen der Staatshaftung nicht vor einem Qualitätssprung. Deshalb sollten die Gerichte trotz professioneller Zurückhaltung sich nicht scheuen, weitere Schritte zu gehen, wie beispielsweise den zu einem Folgenentschädigungsanspruch als Konsequenz des Sekundärrechtsschutzes.60 Der Einwand systematischer Widersprüchlichkeit zählt solange nicht, als das Staatshaftungsrecht notgedrungen von mehreren Gerichtsbarkeiten fortgebildet wird, so dass Einheitlichkeit schwer zu erreichen ist und systematische Widersprüche kompetenz- und damit systembedingt sind. Insoweit könnte der Gesetzgeber allerdings, um eine einheitliche Fortentwicklung zu gewährleisten, wenigstens die justizielle Kompetenzvielfalt beseitigen. Was den Impetus der Gerichte zur Überwindung des Stillstandes bei der Fortentwicklung des Staatshaftungsrechts anbetrifft, so würde eine verfassungsrechtlich verankerte Staatshaftungsnorm, die als objektive Unrechtshaftung formuliert wäre, die nötige Schubkraft geben. Die „vergessene Grundrechtshaftung“ wird deshalb ein bleibendes wesentliches Defizit der Rechtsordnung bleiben.

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Schoch (Fn. 50), S. 290. Schoch (Fn. 50), S. 289. 60 Vgl. VGH München, NVwZ 1999, 1237; Erbguth, JuS 2000, 336; Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 224 f.; Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hrsg.), VwGO, Vorb. § 113 Rn. 9 f. 59

Grundgesetz und Werteordnung Von Hans-Jürgen Papier I. Urteil und Werturteil Rechtsordnung und Werteordnung, Urteil und Werturteil, das sind Begrifflichkeiten, die in den Augen mancher nicht zueinander passen, sie scheinen zwei unterschiedlichen Begriffswelten zu entstammen. Auf der einen Seite steht der Bereich des Juristischen. Er ist geprägt von der Formenstrenge und Formenklarheit der Rechtswissenschaft, von dem ihr eigenen Bedürfnis nach Rationalität, nach Begründung und nach verbindlichen Prüfmustern. Der Begriff des Urteils steht als Synonym für das Ergebnis dieses rationalen Prüfprozesses. Das Urteil ist mit anderen Worten der Schlusspunkt in einer ganzen Reihe vorher genau festgelegter Schritte, deren Abfolge einen steten Erkenntnisgewinn sicherstellen soll. Die zum Urteil führende Schrittfolge ist dabei nach rationalen Kriterien festgelegt, sie soll in gleichsam institutionalisierter Weise das Finden jedenfalls der forensischen Wahrheit garantieren. Auf dieser rationalen Berechenbarkeit beruht die innere Akzeptanz eines jeden Urteils. Hinzu tritt seine äußere Verbindlichkeit, die auf der staatlichen Autorität beruht, mit der das Urteil gefällt wurde. Auf der anderen Seite haben wir den Begriff der Werte. Werte sind ihrem Wesen nach irrational. Sie beruhen letztlich auf Setzungen, auf rational nicht überprüfbaren Grundüberzeugungen, die sich nicht selten aus einem diffusen Gemisch von Herkunft und Erziehung, Gefühlen und Glauben, persönlichen Enttäuschungen und persönlichen Hoffnungen speisen. Der Einzelne wird die Frage nach seinen Werten vielfach für sich ganz unterschiedlich beantworten, je nach seinem religiösen, philosophischen und gesellschaftlichen Hintergrund. Und diese Antworten unterliegen ja zum Glück auch keinem Begründungszwang. Werte sind daher von höchst subjektiver, nicht immer rational erklärbarer Natur. Gleichwohl kann, ja wird das Rechtssubjekt oftmals Werte als für sich verbindlich ansehen, kann diese Verbindlichkeit sogar intensiver empfunden werden als die eines nach rationalen Kriterien ergangenen Urteils. Fügt man die beiden Begriffe nun „zum Werturteil“ zusammen, so entsteht ein Wortpaar, das einen gewissen Widerspruch bereits in sich trägt. Sind beide Worte in der deutschen Sprache für sich genommen noch neutral – Urteil – oder sogar positiv besetzt – Werte –, so sind sie in der Kombination des Wortes „Werturteil“ vielfach eher negativ belegt; steht doch das „Werturteil“ gemeinhin für Voreingenommenheit des Richters.

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Die höchst subjektive Setzung eines Wertes scheint sich nach alledem nicht mit der rationalen Allgemeinverbindlichkeit des Rechts kombinieren zu lassen. Und doch hat das Grundgesetz genau dies getan. Es beginnt in Art. 1 Abs. 1 mit dem Satz, der für das Verständnis unserer Verfassung von fundamentaler Bedeutung ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Auf diesem einfachen Satz gründet das Verständnis unserer Verfassung als einer dem Menschen zugewandten freiheitlich-demokratischen Grundordnung; er sichert – auch im Zusammenhang mit dem in Art. 1 Abs. 2 GG ausgesprochenen Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten – das personale Element der Grundrechte und ist auf diese Weise der präzise Ausdruck der Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, die eben um des Menschen willen, nicht um ihrer selbst willen existent ist. II. Grundrechte als objektive Werteordnung Aufbauend auf der Menschenwürdegarantie und den nachfolgenden Grundrechtsbestimmungen hat das Bundesverfassungsgericht sehr frühzeitig in seiner für die Verfassungswirklichkeit Deutschlands grundlegenden Lüth-Entscheidung aus dem Jahre 1958 folgendes festgehalten: „Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der Öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat . . . Ebenso richtig ist aber, dass das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will . . . in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und dass gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt . . . Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muss als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten . . .“1

Das in der Lüth-Entscheidung zum Ausdruck kommende Verständnis des Grundgesetzes als eine objektive Wertordnung hat den Widerspruch zwischen der Objektivität und Rationalität des Rechts und der Subjektivität und Relativität von Werten damit jedenfalls gedanklich zunächst einmal überwunden. Indem es die objektive Wertordnung auf das Subjekt und dessen Personsein zurückführt, nimmt es einen Teil der Objektivität der Wertordnung wieder zurück. Der Rückbezug auf die Person scheint die subjektiven Werte des Einzelnen und den objektiven Geltungsanspruch der Rechtsordnung miteinander zu versöhnen. Dieser Rückzug auf die Person funktioniert in der Rechtspraxis uneingeschränkt allerdings nur, soweit lediglich die Interessen einer einzelnen Person zu berücksichtigen sind. Die Lebenswirklichkeit im dicht bevölkerten Verfassungsstaat des 20. und des 21. Jahrhunderts sieht allerdings anders aus. Unsere Zeit ist 1

BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth.

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von einer Vielzahl von konfligierenden Interessen und Werten geprägt, die nicht alle gleichermaßen Verwirklichung finden können, die mitunter sogar diametral zueinander verlaufen und einander nachgerade ausschließen. In diesem Konfliktfall ist der Rechtsordnung der neutrale Rückzug auf die Person des jeweils Betroffenen versperrt. Die Rechtsordnung muss jetzt „Farbe bekennen“. Sie muss die subjektiven Werte des Einzelnen und ihre Anerkennungswürdigkeit durch die Gemeinschaft prüfen und ihrerseits „be-werten“. Die unterschiedlichen Werte der verschiedenen Teilnehmer am Rechtsverkehr müssen gegeneinander abgewogen und ins rechte Verhältnis gesetzt werden. Das Recht darf auch in diesen schwierigen Fragen nicht weichen. Die Abwägung unterschiedlicher Werte ist notwendig, auch wenn sie die auf ihr beruhenden Rechts- bzw. Gerichtsentscheidungen manchmal als angreifbar erscheinen lässt. Es ist der Anspruch des Grundgesetzes, auch in solch fundamentalen Wertefragen Position zu beziehen. Als Kompass mag dem Rechtsanwender dabei jeweils die Garantie der Menschenwürde und der objektiv-rechtliche Gehalt der Freiheits- und Gleichheitsrechte der Verfassung dienen. Nun kann dieser kurze Beitrag sicherlich nicht dazu dienen, auf die jeweiligen Konfliktfelder im Einzelnen einzugehen. Die großen gesellschaftlichen Wertedebatten unserer Zeit sind bekannt, sie reichen von den Auseinandersetzungen um den Abtreibungsparagraphen, das Kruzifix im Klassenzimmer, die Lehrerin mit Kopftuch bis hin zu Fragen der Sterbehilfe und der Humangenetik. Im Ergebnis kann man aber durchaus davon ausgehen, dass die Wertentscheidungen des Grundgesetzes überwiegend geteilt werden. Anders wäre dass affektive Verhältnis der Deutschen zu Ihrer Verfassung wohl kaum zu erklären, das Dolf Sternberger einmal als „Verfassungspatriotismus“ bezeichnet hat.2 Neben die Befriedungsfunktion des Rechts tritt auf diese Weise seine integrierende Funktion. Die Rechtsordnung verteidigt und setzt Werte, sie vermittelt sie aber auch. Mögliche Konflikte bestehen nicht in Bezug auf die Werteordnung an sich, sondern wegen der jeweils gültigen Aussagen und Inhalte im Einzelfall. Allerdings ist einem Missverständnis vorzubeugen: Die Bürger sind nicht ohne weiteres rechtlich gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen. Zwar baut das Grundgesetz auf die Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptieren und zu verwirklichen suchen, das Grundgesetz erzwingt aber die Werteloyalität seiner Bürger nicht. Daher sind etwa von der Meinungsfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 1 GG auch Meinungen erfasst, die auf eine grundlegende Änderung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung zielen, und zwar unabhängig davon, ob und wie

2 Vgl. Sternberger, Verfassungspatriotismus, in: ders., Schriften, Bd. X: Verfassungspatriotismus, 1990, S. 3 ff. (erstmals abgedruckt in der FAZ vom 23.5.1979). Verwendet hatte Sternberger den Ausdruck bereits in einem Beitrag in der FAZ vom 27.1.1970, der die Öffentlichkeit jedoch nicht in demselben Maße erreicht hatte.

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weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar sind. Die Verfassung vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien. Den hierin begründeten Gefahren entgegen zu treten, weist die freiheitliche Ordnung des Grundgesetzes primär dem bürgerschaftlichen Engagement in einem freien politischen Diskurs, aber auch der staatlichen Aufklärung und Erziehung in den Schulen auf der Grundlage des Art. 7 GG zu.3 III. Europäische Werteordnung Bislang ist allein die nationale Warte eingenommen worden. Man sollte dabei jedoch nicht stehen bleiben. Im sechsten Jahrzehnt der europäischen Einigung ist der Blick nach Europa zwingend geboten. Die Rechtsordnung wird zunehmend entgrenzt; und Werte kannten ohnehin noch niemals Grenzen. In allen unseren Nachbarstaaten werden ähnliche Wertedebatten geführt wie bei uns. Der Europarat kennt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Wertordnung ersten Ranges; und die Europäische Union ist dabei, diesbezüglich nachzuziehen. Die vor Jahren verabschiedete Charta der Grundrechte ist gerade kürzlich durch den Lissabon-Vertrag in den Rang einer verbindlichen Grundrechteordnung im Range von primärem Unionsrecht erhoben worden.4 Nun muss man sich freilich der besonderen Schwierigkeiten einer europäischen Werteordnung bewusst sein. Die im Vergleich zum nationalen Staat deutlich höhere Inhomogenität der Bevölkerung macht es ungleich schwieriger, gemeinsame Werte zu formulieren. Die Debatten um den Gottesbezug in der Präambel des Europäischen Verfassungsvertrags hat das gezeigt. Gleichwohl ist die Verständigung auf einen europäischen Wertekanon dringend notwendig. Die verbreitete Europaskepsis der Bevölkerung macht deutlich, dass der europäischen Rechtsordnung jene emotional-integrierende Wirkung noch weitgehend abgeht, die dem Grundgesetz so erfolgreich zu Eigen ist. Wir brauchen die Werte aber auch zur Sicherung der Befriedungsfunktion des europäischen Rechts. Die Zeiten, in denen in Europa nur über Milchquoten und um den Krümmungsgrad der grünen Gurken gestritten wurde, sind lange vorbei. Auch das Unionsrecht muss zunehmend Stellung beziehen in Wertefragen; Fragen zur Stammzellforschung und zu Ähnlichem waren hier nur erste Vorläufer. Man wird Wertekonflikte in Zukunft nicht verhindern können, indem man dem Bekenntnis zu Werten ausweicht. Täte man dies, verspielte man nicht nur die Möglichkeit der Integration durch Recht. Auf Dauer würde man darüber hinaus auch die Befriedungsfunktion des Rechts aufs Spiel setzen.

3 4

Vgl. BVerfG, 1 BvR 2150/08, Beschluss vom 4.11.2009, Rn. 50 – Wunsiedel. Vgl. Art. 6 Abs. 1 EU n. F.

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Die Werte der europäischen Ebene können letztlich nur den gemeinsamen Rechts- und Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten entnommen werden. Das nationale Recht der Mitgliedstaaten ist der Humus, aus dem sich die europäische Rechtsordnung speist. Sicherlich ist es nicht einfach, einen europäischen Wertekanon zu formulieren. Man kann diese Aufgaben nicht länger vor sich herschieben. Man kann aber auch durchaus zuversichtlich sein, dass wir sie mit dem Kompass der Menschenwürdegarantie und dem Fokus auf das Personsein des Einzelnen und seiner Freiheit und Gleichheit auch auf europäischer Ebene lösen werden. Voraussetzung dafür bleibt allerdings, dass in den Kreis der sich entwickelnden Wertegemeinschaft der Union nur Staaten Aufnahme finden, die einem Mindeststandard an Homogenität der Werte genügen, genügen können und genügen wollen. Immerhin ist kürzlich mit dem In-Kraft-Treten des Lissabon-Vertrages die Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtlich wirksam geworden, an deren Spitze der Art. 1 – insoweit durchaus vergleichbar mit dem deutschen Grundgesetz – die Unantastbarkeit der Würde des Menschen stellt. In diesem normativen Wertekanon ist auch auf EU-Ebene ein Anfang gemacht, der nun der Realisation und Durchsetzung auf der Rechtsanwendungsebene bedarf. IV. „Globalisierung“ und „Europäisierung“ Damit sind zwei Herausforderungen angesprochen worden, welche die Verfassungsrechtsordnung, einschließlich ihrer Grundrechtsordnung, sowie das gesamte staatliche und gesellschaftliche Leben betreffen werden, nämlich die Globalisierung und Europäisierung, um einmal der Kürze wegen diese weitspannenden Schlagworte zu benutzen. Seit den 1950er Jahren hat sich in Deutschland die Verfassungsrechtsordnung, insbesondere die Grundrechtsordnung, nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in einer Weise entwickelt, dass sie nicht nur zu einem ganz entscheidenden Integrationsfaktor dieses Gemeinwesens, sondern in gewissem Grade auch zu einer „weltweit beachteten Referenzordnung“ geworden ist, wie immer wieder von berufener Seite betont wird.5 Die Grundrechtsgewährleistungen in Verbindung mit der verfahrensmäßigen Durchsetzbarkeit im Wege der Individualverfassungsbeschwerde erlangten blühende Vitalität und unübersehbare Realität in Staat und Gesellschaft. Normativität und Justiziabilität der Grundrechte ersetzten geschichtlich gewohnte Programmhaftigkeit und romantische oder verfassungslyrische Verheißungen. Verantwortlich dafür waren sehr verschiedene Entwicklungen, von denen hier nur einige wenige kurz angerissen werden sollen. Zu erwähnen ist einmal die 5 Vgl. Nolte, Das Verfassungsrecht vor den Herausforderungen der Globalisierung, in: VVDStRL 67 (2008), 129 (147).

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richterrechtliche Fortbildung und Konkretisierung allgemeiner Grundrechtsverbürgungen hin zu speziellen Schutzbastionen angesichts veränderter technologischer und gesellschaftlicher Gegebenheiten. Man denke hier in allererster Linie an die Entwicklung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung6 und auf den Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.7 In dem Zusammenhang zu erwähnen ist aber vor allem die bereits angedeutete Erweiterung der Schutzfunktionen der Grundrechte, etwa hin zu staatlichen Schutzpflichten8 und ihr Verständnis als objektive, werteorientierte Grundentscheidungen mit den bekannten hoch bedeutsamen Ausstrahlungen auf das gesamte gesellschaftliche Leben, insbesondere auch auf den Privatrechtsverkehr.9 Vieles von dem taucht in der Spruchpraxis ausländischer Gerichte wieder auf,10 auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geht etwa fast selbstverständlich von der Geltungskraft der Konventionsrechte in so genannten multipolaren Rechtsbeziehungen aus, wie insbesondere seine Rechtsprechung zum Schutz der Privatsphäre gegenüber der Presse11 oder zum Umgang von Vätern mit ihren nichtehelichen Kindern12 und sogar eines Sorgerechts beweisen. Immer liegen die gedanklichen Wurzeln dieser Entwicklung – wenn vielfach auch unausgesprochen – letztlich in dem Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 1958,13 auch wenn etwa die vom EGMR getroffenen Abwägungen zwischen den kollidierenden Grundrechten nicht immer unseren Vorstellungen entsprochen haben mögen. Man hüte sich allerdings davor, die Rolle des Bundesverfassungsgerichts in diesem nationalen und internationalen Prozess zu überschätzen. Die wechselseitigen Befruchtungen im Verhältnis zu den Verfassungsgerichten des Auslands und den internationalen Gerichten und deren Einflüsse sind unverkennbar. Es geht aber zu weit, wenn man angesichts der Globalisierung und Europäisierung neuerdings davon spricht, dass es jetzt zuvörderst darum gehen werde, si6

BVerfGE 65, 1 (41 ff.) – Volkszählung. BVerfGE 120, 274 (302 ff.) – Online-Durchsuchung. 8 BVerfGE 39, 1 (42 ff.) – Schwangerschaftsabbruch. 9 BVerfGE 7, 198 (204 ff.) – Lüth. Vgl. dazu auch Papier, in: Merten/ders. (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 2, 2006, § 55, S. 1331 ff. 10 Vgl. etwa die zahlreichen Beispiele bei Häberle, Wechselwirkungen zwischen deutschen und ausländischen Verfassungen, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. 1, 2004, § 7, S. 327 ff. 11 Vgl. EGMR, Az 59320/00, Urteil vom 24.6.2006, Rn. 56 ff. – Caroline von Hannover. 12 Vgl. EGMR, Az 74969/01, Urteil vom 26.2.2004, Rn. 41 ff. – Görgülü. Vgl. zur Umsetzung (auch) dieser Entscheidung im deutschen Recht Papier, Umsetzung und Wirkung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus der Perspektive der nationalen deutschen Gerichte, in: EuGRZ 2006, 1 ff. 13 BVerfGE 7, 198 (204 ff.) – Lüth. 7

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cherzustellen, dass die verfassungsmäßigen Rechte des Grundgesetzes überhaupt noch relevant bleiben. Das Bundesverfassungsgericht hat einer solchen äußerst pessimistischen Folgenabschätzung von Globalisierung und Europäisierung immer entgegengewirkt. Ich erwähne nur die „Solange-Rechtsprechung“14 und die vornehmlich im Urteil zum Vertragswerk von Lissabon15 und zur Vorratsdatenspeicherung16 hervorgehobenen Identitätsvorbehalte. So heißt es im Urteil zur Vorratsdatenspeicherung etwa, „dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland . . . Durch eine vorsorgliche Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten wird der Spielraum für weitere anlasslose Datensammlungen auch über den Weg der Europäischen Union erheblich geringer.“17 Eine Abdankung des nationalen Grundrechtsschutzes insgesamt steht m. E. nicht zu befürchten. Es wird allerdings darum gehen, einen koordinierten, kooperativen und komplementären Grundrechtsschutz in Deutschland und Europa zu entwickeln, zu praktizieren und zu festigen. Von diesem Ziel sind wir nach meiner Einschätzung im Verhältnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention und ihres Rechtsschutzsystems noch relativ weit entfernt. Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kommt die historisch einmalige Aufgabe zu, in einem Europa von etwa 800 Millionen Bürgern einen konventionsgemäßen Standard des Menschenrechtsschutzes zu gewährleisten. Es ist kein Geheimnis, wenn man darauf hinweist, dass diesem Standard zwar viele Mitgliedstaaten des Europarates kraft eigener verfassungsrechtlicher Verbürgungen in vollem Umfange entsprechen, dass aber andere Mitgliedstaaten des Europarates sich noch immer im Stadium des Aufbaus ihrer Rechtssysteme und der Bewährung und Entwicklung eines effizienten Systems des Menschenrechtsschutzes befinden. Konventionsrecht und Konventionsgericht haben in diesen letzteren Fällen den notwendigen und unverzichtbaren Mindeststandard des Menschenrechtsschutzes zu sichern. Ist auf der anderen Seite ein Fall von den Organen des nationalen Rechtsschutzes unter menschenrechtlichen Aspekten hinreichend geprüft und beurteilt worden, bedarf es keiner erneuten Detailprüfung durch die internationale Gerichtsbarkeit. Ist eine solche im Mitgliedstaat hingegen gar nicht vorgesehen, ist sie dort systematisch unterentwickelt und defizitär oder gibt es im konkreten Fall Anhaltspunkte dafür, dass der Menschenrechtsschutz auf nationaler Ebene in unvertretbarer oder willkürlicher Art und Weise verwehrt wurde, dann hat die sub-

14 Zuletzt BVerfGE 73, 339 (374 ff.) – Solange II. Vgl. zuvor BVerfGE 37, 271 (277 ff.) – Solange I; 52, 187 (202 f.) – „Vielleicht“-Beschluss. 15 BVerfGE 123, 267 (353 f.) – Lissabon-Vertrag. 16 BVerfG, 1 BvR 256/08, Urteil vom 2.3.2010, Rn. 218 – Vorratsdatenspeicherung. 17 Ebd.

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sidiäre Schutzfunktion des Konventionsrechts einzugreifen, ihre Ausfallfunktion ist dann unverzichtbar.18 Nur wenn diesem Gedanken der materiellen Subsidiarität gefolgt wird, bleibt der Grundrechtsschutz in Europa dem Gedanken der Koordination und der Komplimentarität, den Erfordernissen der Funktionsfähigkeit und Effizienz sowie dem Ziel einer Vermeidung von Widersprüchlichkeit, Rechtsunsicherheit und Vergeudung knapper Ressourcen der Rechtsgewähr verpflichtet. Schießt man über das Ziel eines europaweiten Mindeststandards des Menschenrechtsschutzes hinaus, wofür es in der Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes immer wieder deutliche Anzeichen gibt, werden überdies die kulturelle und religiöse Vielfalt, die unterschiedlichen Verwurzelungen und Traditionen ignoriert, was dauerhaft zu bedrohlichen Erschütterungen der Akzeptanz und der Befolgungsbereitschaft führen wird. V. Werteorientierte Entscheidung zur Sonntags- und Feiertagsordnung Zum Schluss soll noch ein Streitfall der jüngeren Praxis zur Sprache kommen, der durch eine eindeutig werteorientierte Grundgesetzinterpretation entschieden worden ist. Dieses Urteil ist gleichwohl auf ein hohes Maß an Zustimmung über alle gesellschafts- und parteipolitischen Lagerbildungen hinweg gestoßen. Es geht um die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 1. Dezember 2009 zu den Berliner Ladenöffnungszeiten an Sonn- und Feiertagen.19 Das Grundrecht der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, auf das sich auch die beschwerdeführenden Kirchen berufen konnten, erfährt nach dieser Entscheidung eine Konkretisierung durch die Sonn- und Feiertagsgarantie nach Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV. Diese Verfassungsbestimmungen besagen, dass der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage als Tage der „Arbeitsruhe“ und der „seelischen Erhebung“ geschützt sind. Diese Sonn- und Feiertagsgarantie wirkt ihrerseits als in der Verfassung getroffene Wertung auf die Auslegung und Bestimmung des Schutzgehalts von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG ein und ist deshalb auch als Konkretisierung der grundrechtlichen Schutzpflicht durch den Gesetzgeber zu beachten. Art. 139 WRV enthält einen Schutzauftrag an den Gesetzgeber, der im Sinne der Gewährleistung eines Mindestschutzniveaus dem Grundrechtsschutz aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG insoweit Gehalt gibt.

18 Vgl. dazu Papier, Koordination des Grundrechtsschutzes in Europa – die Sicht des Bundesverfassungsgerichts, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 124 (2005), 113 (126 f.). Ähnlich sehen dies auch Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, in: EuGRZ 2005, 193 (202 f.); Wildhaber, Eine verfassungsrechtliche Zukunft für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte?, in: EuGRZ 2002, 569 (572 f.). 19 BVerfG, 1 BvR 2857/07, Urteil vom 1.12.2009 – Ladenöffnungsgesetz Berlin.

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In Art. 139 WRV, der über die Grundgesetzbestimmung des Art. 140 GG zum Bestandteil des geltenden Verfassungsrechts geworden ist, manifestiert sich die motivische Allianz zwischen religions- und arbeitsverfassungspolitischen Bestrebungen, die schon das Zustandekommen des Art. 139 WRV bestimmt hatte und die auch für den Bedeutungsgehalt dieser Norm im Regelungszusammenhang des Grundgesetzes von Bedeutung ist. Art 139 WRV wird damit nach wie vor ein religiöser, in der christlichen Tradition wurzelnder Gehalt als Eigen zugebilligt, der mit einer dezidiert sozialen, weltlich-neutral ausgerichteten Zwecksetzung einhergeht. Daher wirkt er nicht nur auf die Auslegung der Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG ein, er hat auch weitergehende grundrechtliche Bezüge. Die Sonn- und Feiertagsgarantie fördert und schützt nicht nur die Ausübung der Religionsfreiheit. Die Arbeitsruhe dient darüber hinaus der physischen und psychischen Regeneration und damit der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG). Die Statuierung gemeinsamer Ruhetage dient überdies dem Schutz von Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG). Dem Sonn- und Feiertagsschutz kann schließlich ein besonderer Bezug zur Menschenwürde beigemessen werden, weil sie dem ökonomischen Nutzendenken eine Grenze zieht und dem Menschen um seiner selbst willen dient. Nach dem dem Art. 139 WRV zugrunde liegenden Verständnis ist der „Rhythmus von Arbeit und Ruhe“ ein zentraler Rhythmus der christlich-jüdischen Kultur, zugleich aber hat der Sonn- und Feiertagsschutz eine erhebliche soziale Bedeutung auf Grund der Gewährleistung einer synchronen Taktung des sozialen Lebens. Der These, dass durch Art. 139 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG auch und vor allem der Schutzgehalt des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG konkretisiert werde, wird immer wieder die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität entgegengehalten. Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass die Verfassung selbst den Sonntag und die Feiertage, soweit sie staatlich anerkannt sind, einem besonderen staatlichen Schutzauftrag unterstellt und damit eine Wertung vornimmt, die auch in der christlich-abendländischen Tradition wurzelt und kalendarisch an diese anknüpft. Anders ausgedrückt, wenn dies den christlichen Religionsgemeinschaften einen grundrechtsverankerten Mindestschutz der Sonntage und ihrer staatlich anerkannten Feiertage vermittelt, so ist dies in der Wertentscheidung des Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV angelegt. Es ist aber auch ganz wichtig, dass sich im Übrigen auf diesen Schutz auch andere Grundrechtsträger im Rahmen ihrer Grundrechtsverbürgungen berufen können. VI. Menschenwürde – Gegenstand der Abwägung? Als die Mitglieder des Parlamentarischen Rates den Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ mit dem Pathos derer niederschrieben, die aus den – gerade auch ethischen – Trümmern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft traten und an der Schwelle zu einer neuen Zeit standen, konnten sie nicht ahnen,

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dass dieser Satz in den folgenden etwa 60 Jahren mit gesellschaftlichen Realitäten wie Peep-Shows20 und Zwergenweitwurf21, mit Swinger-Clubs22 und HaarErlass23, mit der medialen Selbstentblößung im „Big-Brother-Container“24 und der militärischen Grußpflicht25, mit Fahrtenbuchauflagen26 und plastinierten Leichen27 konfrontiert würde.28 Zur juristischen Bewertung all dieser Problembereiche wurde und wird vor deutschen Gerichten mit der Würde des Menschen argumentiert, und es stellt sich schon die Frage, ob die vordergründig zu begrüßende Ausweitung des Grundsatzes der Menschenwürde auch bei näherem Hinsehen der guten Sache dient. Wer nämlich einen Grundsatz, einen obersten Wert allzu freigiebig auf Randbereiche des Alltags ausdehnt und in der juristischen Falllösung verwendet, der entkleidet seinen Grundsatz der Aura des Besonderen, des Unumstößlichen. Wer in die Breite geht, muss aufpassen, dass er die Tiefe nicht verliert. Die Ausweitung der absoluten Garantie der Menschenwürde birgt die Gefahr, sie zu relativieren; mit anderen Worten: wer Trivialitäten und relative Kleinigkeiten mit dem großen Schein der Menschenwürde bezahlt, darf sich nicht wundern, wenn ihm in kleiner Münze herausgegeben wird. Gerade in der jüngeren Vergangenheit sind vermehrt Anzeichen dafür auszumachen, dass die Menschenwürde zur „kleinen Münze des Verfassungsrechts“ degeneriert; und es scheinen sich Tendenzen sogar zu verstärken, die Menschenwürde einer Abwägung – und zum Teil im Ergebnis einer „Weg-Wägung“ – zugänglich machen zu wollen. Es ist daher an der Zeit, sich auf den absoluten Gehalt, auf den Kerngehalt der Menschenwürdegarantie zurückzubesinnen.29 Der fundamentale Charakter der Menschenwürdegarantie ist kein bloßes Relikt aus der Gründerzeit der Bundesrepublik Deutschland, das heute angesichts des Siegeszuges der einzelnen Grundrechte weitgehend überflüssig geworden wäre. Aber es besteht heute mitunter die Tendenz, diese Garantie durch einen zu ausufernden Gebrauch einer relativen Beliebigkeit zu überantworten. Dadurch beraubt man die Garantie der Menschenwürde ihres Nimbus und legt – gleich wie 20

BVerwGE 64, 274 (277 ff.); 84, 314 (317). VG Neustadt NVwZ 1993, 98 ff. 22 VGH München NVwZ 2002, 1393 ff. 23 BVerwGE 43, 353 (355); 46, 1. 24 Vgl. dazu Dörr/Cole, „Big Brother“ – oder: Menschenwürde als Grenze der Programmfreiheit, in: K&R 2000, 369 ff. 25 BVerwGE 43, 185 (186); 43, 312 (314). 26 BVerwGE 18, 107 (109); BVerfG (Vorprüfungsausschuss) NJW 1982, 568. 27 Vgl. VGH München NJW 2003, 1618 ff. 28 Vgl. dazu und zum Folgenden Papier, Die Würde des Menschen ist unantastbar, in: Grote u. a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit, Festschrift zum siebzigsten Geburtstag von Christian Starck, 2007, S. 371 ff. 29 Papier, Die Würde des Menschen ist unantastbar, in: Grote u. a. (Hrsg.), Die Ordnung der Freiheit, Festschrift zum siebzigsten Geburtstag von Christian Starck, 2007, S. 372. 21

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gut die dahinter stehende Absicht im Einzelfall auch sein mag – letztlich die Axt an die Wurzel ihrer absoluten Unbeschränkbarkeit. Wie so oft dürfte hier weniger mehr sein. Beachtet man dies, ist die Garantie der Menschenwürde auch heute noch so aktuell wie grundsätzlich, und nur sie gibt uns – bei allen Schwierigkeiten im Einzelfall – den rechtsstaatlichen Kompass an die Hand, um die fundamentalen Aufgaben der Gegenwart und Zukunft zu lösen und auf die anstehenden Fragen des Lebensschutzes, der Freiheit, der Sicherheit und auch der sozialen Gerechtigkeit30 die richtigen Antworten zu finden.

30 Vgl. in diesem Zusammenhang BVerfG, 1 BvL 1/09, Urteil vom 9.2.2010, Rn. 133 ff. – Hartz IV.

Grundrechtsschutz für juristische Personen des öffentlichen Rechts – widersinnig? Von Günter Püttner I. Die Ausgangslage In den frühen Zeiten des Grundgesetzes ist unter Beteiligung des Jubilars1 darüber diskutiert worden, ob im Rahmen des Art. 19 Abs. 3 GG auch juristische Personen des öffentlichen Rechts Grundrechtsschutz in Anspruch nehmen können. Im Falle der Sparkassen, bekanntlich Anstalten des öffentlichen Rechts, hatte das Bundesverwaltungsgericht2 einen Schutz nach Art. 12 GG bezüglich der Filialgründung für möglich erachtet. Verbreitet war die Ansicht, dass auch juristische Personen des öffentlichen Rechts wie solche des privaten Rechts zugunsten der hinter ihnen stehenden natürlichen Personen Grundrechtsschutz müssten in Anspruch nehmen können. Aber die Gegenansicht (heute vorherrschend) war auch vorhanden3. Dann aber kam 1967 bekanntlich der Paukenschlag: Das Bundesverfassungsgericht4 betonte in einer Entscheidung den grundsätzlichen Unterschied zwischen den beiden Gruppen juristische Personen des privaten bzw. des öffentlichen Rechts und erklärte ziemlich apodiktisch, dass Letzteren zumindest im Rahmen der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben kein Grundrechtsschutz zustehen könne. Mit dem „Wesen“ des Staates sei es nicht vereinbar, den Staat selbst zum Teilhaber oder Nutznießer der Grundrechte zu machen; er könne nicht gleichzeitig Adressat und Berechtigter der Grundrechte sein5. Innerhalb des hoheitlichen Gesamtaufbaus des Staates könne es keine Grundrechte als subjektive öffentliche Rechte geben; dort herrsche die Kompetenzordnung. Auch aus der Qualität der Grundrechte als Wertordnung ergebe sich nichts anderes. Roma locuta, causa finita. Vereinzelte kritische Stimmen (meist mündliche) konnten daran nichts ändern. Und das Bundesverfassungsgericht hat bekanntlich seinen Standpunkt immer wieder bekräftigt, insbesondere in der Sasbach-Ent1 Vgl. Stern, Bonner Kommentar zum GG, Zweitbearbeitung zu Art. 28, 1964, Rn. 71 m.w. N. 2 In: Sparkasse 1953, S. 87. 3 Ihr ist der Jubilar im Staatsrecht, Bd. III/1, S. 1159 gefolgt. 4 BVerfGE 21, S. 362 ff. 5 A. a. O., S. 369.

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scheidung bezüglich der Gemeinden6. Die Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung einschließlich der Kommentare dazu ist vom Jubilar 1989 so ausführlich dargestellt worden7, dass sich eine erneute Schilderung geradezu verbietet. Seitdem hat sich nicht viel verändert, wie die neueste Behandlung des Stoffes von Barbara Remmert belegen kann8. II. Zur Kritik an der Auffassung des BVerfG In der genannten Darstellung hat der Jubilar durchaus Kritik an der Auffassung des BVerfG anklingen lassen9, wenn auch etwas verhalten. Er beanstandete die „Rigidität“10 des BVerfG und setzte sich nach wie vor für eine differenzierte Betrachtungsweise ein. Aber damals war offenbar die Zeit für einen Sturmangriff auf die Thesen des BVerfG noch nicht reif; die Verhärtung des Gerichts lag erst einige Zeit zurück. Nunmehr, rund zwanzig Jahre später, stellt sich die Lage anders dar. Das BVerfG hat zwar seinen Standpunkt nicht redigiert, ihn aber auch nur gelegentlich bekräftigt11. So ist die Zeit gekommen, über die Argumente für und gegen einen Grundrechts-Schutz auch für juristische Personen des öffentlichen Rechts, wie ansatzsweise vom Jubilar schon damals geliefert, neu nachzudenken. Der Verfasser hätte diese Aufgabe eigenständig übernehmen müssen, wäre ihm nicht Friedrich E. Schnapp kürzlich zuvorgekommen12. Auf dessen Kritik wird zurückzukommen sein, zuvor aber verdienen die kritischen Bemerkungen des Jubilars eine Würdigung. Sie mahnen zu einer differenzierten Betrachtung unter dem Gesichtspunkt der „Schutzwürdigkeit“13. Dieses Stichwort liefert sicherlich den richtigen Einstieg in die Problematik, weil in der Tat gefragt werden muss, ob nicht in vielen Fällen juristische Personen des öffentlichen Rechts gleichermaßen grundrechtlich schutzwürdig sind wie juristische Personen des Privatrechts. Aber diese Prüfung muss im Einzelnen stattfinden, denn die Vokabel „Schutzwürdigkeit“ kann zu einer recht subjektiven Betrachtungsweise verleiten, wonach schutzwürdig ist, was der Betrachter für schutzwürdig hält. Einem solchen Belie6

BVerfGE 61, S. 82 ff. Im Staatsrecht Bd. III/1, S. 1149 ff.; ausführlich auch Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 GG, 1985, S. 61 ff. 8 In: Maunz/Dürig, GG, Rn. 45 ff. zu Art. 19 Abs. 3 GG; die herrschende Auffassung findet sich z. B. auch bei Krüger/Sachs, in: Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl., 2003 (hrsg. v. Sachs), Rn. 89 ff. zu Art. 19 und im wesentlichen auch bei Brünning, in: Stern/Becker, Grundrechtskommentar, 2010, Rn. 62 ff. zu Art. 19. 9 A. a. O. (Fn. 3), S. 1158 ff. 10 So Stern, a. a. O., S. 1157. 11 Vgl. z. B. die kurze Bemerkung in BVerfGE 113, S. 167 (227). 12 In: Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, hrsg. v. Merten/Papier, Bd. II, 2006, S. 1235 ff. 13 A. a. O., S. 1158. 7

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ben wollte der Jubilar sicher nicht das Wort reden. Also gilt es, an die Arbeit zu gehen und im Einzelnen nach sachlichen Gesichtspunkten zu prüfen, in welchen Fällen die Schutzwürdigkeit zu bejahen ist und in welchen Fällen nicht. Dazu soll nachfolgend ein kleiner Beitrag geleistet werden. Zuvor ist aber auf die Stellungnahme von Schnapp einzugehen14. Er wendet sich zunächst gegen das Durchgriffs- (= Sachwalter-)Argument und hebt die eigenständige Stellung der juristischen Personen hervor. Sodann fordert er, dass unter dem Stichwort „Wesen“ eine differenzierte Betrachtungsweise stattfinden müsse, statt der pauschalen Verweigerung des Grundrechtsschutzes durch das BVerfG. Sodann beschäftigt er sich, Stern folgend, kritisch mit dem Konfusionsargument. Dem BVerfG habe, so Schnapp, die Grundlage dieser Konstruktion (Einheit der Staatsgewalt) „nicht mit der wünschenswerten Deutlichkeit vor Augen gestanden“. Auch juristische Personen des öffentlichen Rechts könnten einer anderen öffentlichen Gewalt unterworfen sein. Dem Argument des BVerfG, bei Anerkennung von Grundrechtsschutz für juristische Personen des öffentlichen Rechts könne es Erstarrungs- und Lähmungs-Erscheinungen geben, hält er entgegen, dass es im öffentlichen Recht genügend Anpassungsfähigkeit gebe, die solches verhindere. Auch die Betrachtung der „Ausnahmen“ stößt bei Schnapp auf Kritik; es müssten die verschiedenen Lebensbereiche angemessen erfasst werden. Ein Hinweis auf Stimmen aus dem Schrifttum, insbesondere von Stern, rundet die Darstellung ab. Auf die verschiedenen Punkte ist zurückzukommen. Schnapp belässt es indessen bei dieser Kritik. Wie richtigerweise verfahren werden soll, lässt er offen. Aber dazu muss einiges gesagt werden, wenn das BVerfG veranlasst werden soll, seinen Kurs zu ändern. Doch zunächst ist der Kritik einiges hinzuzufügen, um den Einstieg in die Neuorientierung vorzubereiten. III. Insbesondere: Das Konfusionsargument Das BVerfG stützt sich hauptsächlich auf das Argument, der „Staat“ könne nicht gleichzeitig Adressat und Berechtigter der Grundrechte sein. Dagegen wendet wie dargelegt Schnapp15 ein, dieses Argument sei untauglich, da auch juristische Personen des öffentlichen Rechts gewaltunterworfen sein können. Aber auch unabhängig davon erscheint die Denkfigur der „Konfusion“ fragwürdig. Der Verfasser, der in der Assistenten-Zeit Zivilrechtler war, möchte eine Parallele aus dieser Disziplin anführen16. Wenn jemand eine größere Wohnung vom 14

A. a. O., Rn. 25 ff. A. a. O., Rn. 27 f. 16 Interessanterweise rekurriert auch Karl August Bebermann, früher Zivilrechtler, in der Festschrift für Ernst E. Hirsch auf zivilrechtliche Vorstellungen, allerdings aus dem Kaufrecht; darauf weist mit Recht Bethge (a. a. O., S. 70) hin. 15

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Hauseigentümer mietet, dann aber ein Zimmer an einen Studenten untervermietet, dann ist er bezüglich dieses Zimmers gleichzeitig Mieter und Vermieter, und dies ohne Problem. Sicher lässt sich dieser Befund nicht 1:1 ins öffentliche Recht übertragen, aber fragt man sich, warum denn nicht auch hier eine Person gleichzeitig grundrechtsverpflichtet (gegenüber ihrem Gewaltunterworfenen) und grundrechtsberechtigt (gegenüber einem übergeordneten Gesetzgeber) sein könnte. Man sieht: Das Konfusionsargument ist nur scheinbar plausibel und hält einer kritischen Überprüfung nicht stand. Entscheidend ist, um an Schnapp anzuknüpfen, der Gesichtspunkt der Gewaltunterworfenheit, der dann in die vom Jubilar ins Spiel gebrachte Schutzwürdigkeit mündet. Man darf nicht vergessen, dass sich die Grundrechte heute in erster Linie gegen die vom Gesetzgeber ausgehende Staatsgewalt richten. Und da die juristischen Personen das öffentliche Recht ebenso wie die des Privatrechts der gesetzgebenden Gewalt unterworfen sind, besteht für sie ein gleiches Schutzbedürfnis, dem es Rechnung zu tragen gilt. IV. Die vielen „Ausnahmen“ Von der These der Nichtanwendbarkeit der Grundrechte auf juristische Personen des öffentlichen Rechts hat selbst das BVerfG notgedrungen verschiedene Ausnahmen anerkennen müssen, insbesondere für Kirchen, Universitäten und Rundfunkanstalten („Ausnahme-Trias“)17. Es kommt aber noch die Annahme der prozessualen Grundrechte hinzu, die um der Waffengleichheit willen auch juristischen Personen des öffentlichen Rechts zugute kommen sollen18. Weiter beansprucht der Gleichbehandlungsanspruch als allgemeines Rechtsprinzip Beachtung19, womit man zumindest in die Nähe von Art. 3 GG gelangt. Wenn es so viele „Ausnahmen“ gibt, fragt man sich, ob es sich wirklich um „Ausnahmen“ handelt oder ob nicht in Wahrheit der Grundrechtsteil des Grundgesetzes einen differenzierten vielgestaltigen Regelungsbereich bildet, in dem dann ganz natürlich auch Rechte von juristischen Personen des öffentlichen Rechts ihren Platz finden können. Der Grundrechtsteil des GG enthält, was man nicht vergessen soll, zwar überwiegend individuelle Abwehrrechte gegen die Staatsgewalt, aber eben auch institutionelle Regelungen für bestimmte Lebensbereiche. In Art. 6 und 7 GG, aber auch in Art. 8 GG wird dies besonders deutlich. Zwar gibt es im Grundgesetz, anders als in der Weimarer Reichsverfassung, keine besonderen Kapitel über Religion und Religionsgemeinschaften, über Bil-

17

Vgl. Stern, a. a. O. (Fn. 3), S. 1151. Vgl. Stern, a. a. O., S. 1155 f. im Anschluss an BVerfGE 6, S. 45 (49) und BVerfGE 13, S. 132 (139). 19 Vgl. Stern, a. a. O., S. 1156 f. 18

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dung und Schule und über das Wirtschaftsleben mehr, aber bei der Ausgestaltung besonderer Lebensbereiche ist es der Sache nach geblieben. Man sollte also, wenn es um Universitäten oder den Rundfunk geht, von besonders geregelten Lebensbereichen, nicht von Ausnahmen sprechen. Dann fügen sich im Falle der Schutzwürdigkeit bestimmte auf juristische Personen des öffentlichen Rechts gemünzte Grundrechte nahtlos in die Grundrechtsordnung ein. V. Vorschläge für die Neuorientierung Für die Neuorientierung ist, wie gesagt, davon auszugehen, dass auch juristische Personen des öffentlichen Rechts der gesetzgebenden Gewalt unterworfen sind und sich daraus deren Schutzwürdigkeit ergeben kann, wobei aber eine differenzierende und nicht eine pauschale Betrachtungsweise Platz greifen muss. Zu unterscheiden sind zunächst die verschiedenen Arten der juristischen Personen des öffentlichen Rechts. Erst dann kann sinnvoll geprüft werden, welche Grundrechte ihrem Wesen nach auf die jeweilige Gruppe (oder auf einzelne juristische Personen) anwendbar sind. Zuerst sind die Gebietskörperschaften zu nennen. An ihrer Spitze steht der Bund, dem, weil er das Gesetzgebungsrecht ausübt, gegen sich selbst kein Grundrechtsschutz zustehen kann. Aber der Bund ist in manchen Regelungsbereichen den Landesgesetzgebern unterworfen, so dass insoweit die Schutzwürdigkeit nicht a limine ausscheidet. Man denke etwa an den Fall, dass ein Bundesland strenge Denkmalschutzvorschriften erlässt und danach ein Behördengebäude des Bundes, das dieser gerade abreißen will, unter Denkmalschutz steht20. Hier lässt sich im Streitfall durchaus an Grundrechtsschutz aus Art. 14 GG denken, und dieser entfällt im Rechtsstaat nicht deshalb, weil sich der Bund möglicherweise mit anderen Mitteln (Sperrung von Finanzhilfen usw.) wehren kann. Für die Länder kommt wegen deren Unterworfenheit unter den Bundesgesetzgeber ebenfalls in einschlägigen Fällen Grundrechtsschutz in Frage, z. B. wenn den Ländern in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber unangemessene Restriktionen auferlegt werden oder es um die Besteuerung der Länder(-verwaltungen) geht. Man mag einwenden, dass die Schutzbedürftigkeit selten zu bejahen sein wird, aber ganz ausschließen kann man sie nach der hier vertretenen Auffassung nicht. Vor allem aber kann es bei den Kommunen (Städten, sonstigen Gemeinden, Landkreisen) entgegen der dezidierten Aussage des BVerfG ein Bedürfnis für 20 Der Fall ist nicht aus der Luft gegriffen; beispielsweise wollte vor Jahren die zuständige nordrhein-westfälische Behörde einen Lok-Schuppen der (damals noch Bundes-)Bahn unter Denkmalschutz stellen.

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Grundrechtsschutz geben. Die Kommunen sind dem Bundes- und dem Landesgesetzgeber unterworfen und insoweit schutzbedürftig. Wie sich gezeigt hat, vermag die Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 GG und Landesgarantien) nicht immer genügenden Schutz zu bieten; es sei nur an den Fall der kostenlosen Benutzung der Gemeindestraßen durch die Telekommunikationsunternehmen erinnert (§ 50 TKG). Im Übrigen muss hier die (oben bei Bund und Ländern ausgesparte) Frage gestellt werden, welche Grundrechte denn gegebenenfalls für den Schutz der Kommunen in Betracht kommen. Auszuscheiden sind zunächst alle Grundrechte, die wegen ihrer Menschenbezogenheit auch auf juristische Personen des Privatrechts nicht anwendbar sind. Darüber hinaus können sich die Kommunen wegen ihrer Einordnung in das staatliche Kompetenzgefüge nicht auf Grundrechte berufen, die Betätigungsfreiheit zum Gegenstand haben wie etwa die freie Wahl des Berufs nach Art. 12 Abs. 1 GG21. Im Übrigen bleibt aber viel Raum für die Anwendbarkeit von Grundrechten unter dem Leitgesichtspunkt der Schutzwürdigkeit. Zu denken ist etwa an den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG), über den man ein ganzes Buch schreiben könnte. Auch nicht zu vergessen ist das Recht der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), denkt man an die Hindernisse, die z. B. die bayerische Regierung der Bildung des Deutschen Städtetages 1905 in den Weg zu legen suchte. Besonders wichtig erscheint das Koalitionsrecht nach Art. 9 Abs. 3, das schon aus Gründen der Waffengleichheit mit den Arbeitnehmern auch den öffentlichen Arbeitgebern zustehen sollte. Auch das Brief- und das Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) könnte je nach Lage des Falles einschlägig sein. Von ganz besonderer Bedeutung ist das Eigentumsrecht (Art. 14 Abs. 1 GG), auf das bereits hingewiesen wurde. Sicherlich gilt vorrangig die besondere Finanz- und Eigentumsordnung der öffentlichen Hand, die z. B. das Prinzip der Funktionsnachfolge (vgl. Art. 134 Abs. 2 GG) einschließt22; insoweit greift Grundrechtsschutz nicht ein. Aber man denke etwa an das Eigentum an Kunstschätzen in städtischen Museen, das gegen staatliche Zugriffe Schutz genießen muss, insbesondere wenn von Kunstliebhabern in der Stadt eigens für das städtische Museum gestiftet worden ist. Hier liegt ein weites Feld, das vielleicht einmal ein Doktorand beackern sollte. Zu den juristischen Personen des öffentlichen Rechts gehören weiter die berufsständischen Kammern und verwandte Einrichtungen. Diese sind als Körperschaften verfasst und leisten ihren Mitgliedern die vorgesehenen Dienste. Bei ihnen kann deshalb der Gedanke des Handelns als Sachwalter für ihre Mitglieder 21 In diesem Punkt ist mit dem Jubilar der Auffassung von Bettermann (a. a. O., Fn. 16) zu widersprechen, welche der öffentlichen Hand die Gewerbefreiheit zuerkennen wollte. 22 Dieses Prinzip rechtfertigt beispielsweise den unentgeltlichen Eigentumsübergang bei der Hochstufung von Straßen nach den Straßengesetzen, vgl. § 6 Abs. 1 BFernStrG.

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(die für sich allein den Grundrechtsschutz nicht bewirken kann, vgl. oben) doch eine gewisse Rolle spielen. Jedenfalls kann die nötige Schutzwürdigkeit für die Anwendung solcher Grundrechte gegeben sein, die das Eigenleben der Kammern und ihrer Mitglieder berühren. Zustehen kann ihnen beispielsweise u. a. das Petitionsrecht (Art. 17 GG). In einer ähnlichen Position befinden sich die als juristische Personen des öffentlichen Rechts gestalteten Sozialversicherungsträger (vgl. Art. 87 Abs. 2 GG). Auch bei ihnen wird der Sachwaltergedanke bei der näheren Prüfung eine Rolle spielen. Die Prüfung im Einzelnen muss allerdings den Spezialisten überlassen bleiben. Immerhin ist anzumerken, dass diesen Einrichtungen nur ein gewisses Maß an Selbstverwaltung eingeräumt ist, es aber eine Selbstverwaltungsgarantie und eine diesbezügliche Verfassungsbeschwerde für sie nicht gibt. Der Grundrechtsschutz könnte dieses Defizit möglicherweise ausgleichen. Ähnliches gilt für weitere Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens, deren Stellung im Einzelnen ausgeleuchtet werden müsste. Eine weitere Gruppe der juristischen Personen des öffentlichen Rechts bilden diejenigen, die den Charakter öffentlicher Unternehmen aufweisen, also insbesondere die Sparkassen und Landesbanken, weitere Kreditinstitute und viele Anstalten bis hin zu den Rundfunkanstalten. Diese Einrichtungen befinden sich heute weitgehend im Wettbewerb mit privaten Unternehmen, so dass die Vorenthaltung von Grundrechtsschutz für sie einen Wettbewerbsnachteil darstellt. Das wird insbesondere am Gleichbehandlungsgrundsatz erkennbar, denn es mutet schon etwas merkwürdig an, wenn die privaten Konkurrenten eine Verletzung dieses Grundsatzes durch ein Vorzugsrecht für die öffentlich-rechtlichen Unternehmen vor dem BVerfG angreifen können23, die Letzteren aber im umgekehrten Fall nicht. – Bei den Unternehmen spielt inzwischen der Einfluss des Europarechts eine wichtige Rolle, und es gibt früher unbekannte Rückwirkungen auf das nationale Recht. Insbesondere sollen alle Unternehmen in Europa, auch die öffentlichen, gleiche Wettbewerbschancen haben. Damit können Benachteiligungen öffentlicher Unternehmen ins Zwielicht geraten, obwohl bekanntlich die Inländerdiskriminierung nicht verboten ist. Die Problematik wird voraussichtlich in den nächsten Jahren noch viel Diskussion auslösen, der hier nicht vorgegriffen werden soll. – Im Übrigen dürfte für die Unternehmen das Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG (Koalitionsfreiheit) und die Eigentumsgarantie von Wichtigkeit sein. Zu den Unternehmen gehören auch die Rundfunkanstalten und andere dem Kulturbereich angehörende juristische Personen des öffentlichen Rechts, soweit sie am geschäftlichen Verkehr teilnehmen. Häufig handelt es sich bei Letzteren um Stiftungen des öffentlichen Rechts. Damit fällt der Blick auf die in den letz23 Wie geschehen im Falle des erleichterten Grundbucheinsichtsrechts für die Sparkassen, die zu Fall gebracht wurde, vgl. BVerfGE 64, S. 229 ff.

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ten Jahren zahlreich entstandenen Stiftungen. Sie haben die Aufgabe, die Erträge des ihnen anvertrauten Vermögens bestimmten Destinatären zugute kommen zu lassen. Es stellt sich die Frage, wie sich Stiftungen gegen (gesetzliche) Eingriffe in ihre Tätigkeit wehren können. An Grundrechtsschutz ist zu denken, aber man fragt sich, welches Grundrecht z. B. bei Veränderung der Destinatäre einschlägig sein soll. Wenn in den Vermögensbestand von Stiftungen eingegriffen wird, ist die Frage leichter zu beantworten; Art. 14 GG greift ein. Aber das gilt zunächst einmal nur für private Stiftungen. Bei Stiftungen des öffentlichen Rechts muss geprüft werden, ob bei ihnen die gleiche Schutzwürdigkeit besteht wie bei privaten Stiftungen. Das wird im Zweifel der Fall sein, wenn das Stiftungsvermögen aus nichtstaatlichen Quellen aufgebracht wurde, aber in Zweifel zu ziehen sein, wenn dieses Vermögen aus öffentlichen Mitteln stammt. Und dann gibt es noch die vom Bund errichteten Stiftungen des privaten Rechts (wie die Stiftung Umwelt), die eher den Stiftungen des öffentlichen Rechts gleichzustellen sind. Das Thema Stiftungen und Grundrechte bedarf noch intensiver Bearbeitung. Zu den juristischen Personen des öffentlichen Rechts gehören schließlich die Universitäten und anderen Hochschulen. Ihnen kommt auch nach der Rechtsprechung, wie erwähnt, die Wissenschaftsfreiheit zugute. Die Frage ist allerdings, welcher Schutz damit angesichts der vielen Eingriffe des Staates in Aufgaben, Organisation und Betätigung wirklich gegeben ist. Dazu wäre viel zu sagen, doch die nähere Erörterung würde den Rahmen dieses kurzen Beitrags sprengen. Erwähnt werden soll nur die Frage, ob es für Universitäten jenseits der Wissenschaftsfreiheit noch anderen Grundrechtsschutz geben kann. Zu denken ist z. B. an die Eigentumsgarantie bezüglich gestifteten Vermögens, wie es viele Traditions-Universitäten besitzen. Zu überlegen ist auch, welchen Schutz die freie Wahl von Partnern für die wissenschaftliche und praktische Zusammenarbeit genießen kann. Es fragt sich auch, ob beispielsweise Art. 3 GG die Nachprüfung ermöglicht, ob die Maßstäbe für die Auswahl der Exzellenz-Universitäten den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. Wie man sieht, mangelt es an Fragen nicht. Im Wissenschaftsbereich gibt es noch zahlreiche Einrichtungen, die gesondert gewürdigt werden müssten. Gemeint sind zunächst Forschungseinrichtungen wie die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft und einzelne Forschungsinstitute; sie müssten unter den Schutz der Forschungsfreiheit fallen. Welchen Schutz aber beispielsweise die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) oder der Deutsche Akademische Austausch-Dienst (DAAD) beanspruchen können, wäre gesondert auszuloten. Im Umkreis der Hochschulen gibt es noch manche Einrichtungen wie z. B. die als Anstalten des öffentlichen Rechts ausgebildeten Studentenwerke und natürlich viele Stiftungen, deren Schutzwürdigkeit je gesondert zu prüfen wäre.

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VI. Schlussbemerkung Der kurze Durchgang durch die Vielzahl der sehr unterschiedlichen juristischen Personen des öffentlichen Rechts kann belegen, dass es bei der Beurteilung von deren Schutzwürdigkeit bezüglich des Grundrechtsschutzes viele offene Fragen gibt, jedenfalls mehr Fragen als Antworten. Eine differenzierte Überprüfung ist, wie gesagt, geboten. Um das BVerfG von seinem rigiden Standpunkt abzubringen, wird man nach einem Fall eklatanter Grundrechtsverletzung suchen müssen, den auch das Gericht nicht einfach übergehen kann. Ein solcher Fall ist jedenfalls dem Verfasser bei der Durchsicht nicht ins Auge gesprungen, aber das kann ja am Verfasser liegen. Vielleicht begegnet der Jubilar bei seiner Arbeit einem signifikanten Fall, der das BVerfG zum Einlenken bringt. Dies wäre eine Krönung der Arbeit am Staatsrecht.

Modernisierung des Staatskirchenrechts durch Vergrundrechtlichung? Von Wolfgang Rüfner Seit mehr als dreißig Jahren und verstärkt etwa seit der Jahrtausendwende wird in Deutschland der überkommene Begriff des Staatskirchenrechts in Frage gestellt1. Hingewiesen wird auf die veränderte Lage in den Kirchen, die Pluralisierung der Religionen und Weltanschauungen und schließlich auf europäische Herausforderungen2. Eine passendere Bezeichnung der verfassungsrechtlichen Grundlagen des Verhältnisses von Staat und Religion soll die Sache besser treffen. Gewöhnlich wird Religionsverfassungsrecht vorgeschlagen3. Auf den ersten Blick scheint die Frage der Benennung eines Wissenschaftsgebiets relativ unwichtig zu sein, inhaltliche Hintergründe dürfen aber nicht vernachlässigt werden. Zuzugeben ist, dass Religionsverfassungsrecht als Bezeichnung für den Inbegriff der Regelungen zur Religion im staatlichen Verfassungsrecht die Materie sprachlich genauer umschreibt als Staatskirchenrecht. Auch ist Religionsverfassungsrecht im europäischen Kontext besser verständlich zu machen4. Aber es geht den Verfechtern der neuen Benennung auch um inhaltliche Veränderungen, die sich nicht zuletzt mit der „Vergrundrechtlichung“ des Staatskirchenrechts verbinden5. Sie stellt die Religionsfreiheit und damit das subjektive Recht in den Vordergrund und drängt die Bedeutung der institutionellen Regelungen zurück6. 1 Dazu kritisch abwägend Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, 2011, S. 1169 ff. Zur Geschichte des Begriffs „Staatskirchenrecht“ Ansgar Hense, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht: mehr als ein Streit um Begriffe?, in: Andreas Haratsch u. a. (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001, S. 9 (12–36). 2 Hense (Fn. 1), S. 37 f. 3 Hense (Fn. 1), S. 39 ff. 4 Axel von Campenhausen/Heinrich de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl., 2006, S. 40, sagen mit Recht, das Verständnis des deutschen Rechts sollte nicht durch die Terminologie erschwert werden. 5 Christian Walter, Religionsverfassungsrecht, 2006, S. 3, 200 f.; Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 2009, S. 22, sagt mit Recht, mit der Bezeichnung Religionsverfassungsrecht werde die grundrechtszentrierte Sichtweise auf das Verhältnis von Staat und Religion verbunden, welche den veränderten Rahmenbedingungen, darunter der konsequent individualrechtlichen Fundierung und Ausrichtung des Grundgesetzes, der fortschreitenden Individualisierung, Säkularisierung und Pluralisierung Rechnung tragen solle. Ähnlich Axel von Campenhausen/Peter Unruh, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG III, 6. Aufl., 2010, Art. 140, Rn. 12 ff.; Martin Morlok, Die korporative Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG/Art. 137 Abs. 3 WRV ein-

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I. Möglichkeiten und Grenzen der Vergrundrechtlichung des Staatskirchenrechts 1. Grundsätzliches zum Verhältnis von Religionsfreiheit und Art. 140 GG

Das Grundgesetz hat in Art. 4 die Religionsfreiheit mit neuen Formulierungen garantiert und in Art. 140 die meisten anderen religionsrechtlichen Artikel der Weimarer Reichsverfassung rezipiert, darunter die grundlegenden Bestimmungen über das Verhältnis von Staat und Kirche. Diese wurden vollgültiges und dem übrigen Text des Grundgesetzes gleichwertiges Verfassungsrecht7. Das Bundesverfassungsgericht hat dies immer wieder betont8, wenn es auch nicht verkannte, dass die Verfassung als Einheit betrachtet und ausgelegt werden muss, so dass die rezipierten Artikel der Weimarer Verfassung im neuen Kontext des Grundgesetzes zu sehen sind 9. Der gestiegenen Bedeutung der Grundrechte im Allgemeinen und der Religionsfreiheit im Besonderen ist Rechnung zu tragen. Die rezipierten Bestimmungen bilden mit dem Grundgesetz „ein organisches Ganzes und sind daher nach dem Sinn und Geist der grundgesetzlichen Wertordnung auszulegen“ 10. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 140 GG beeinflussen sich gegenseitig: Die Auslegung der Religionsfreiheit muss im Lichte des Art. 140 GG gesehen werden, Art. 140 kann die Religionsfreiheit verstärken, aber auch begrenzen11. Zwischen Art. 4 GG und Art. 140 GG besteht eine „interpretatorische Wechselwirkung“ 12. Diese nicht sehr genaue Beschreibung des Verhältnisses von Art. 4 und Art. 140 GG entspricht der Praxis. Sie folgt jedenfalls nicht einfach dem naheliegenden Prinzip, dass die rezipierten Bestimmungen der Weimarer Verfassung, soweit sie sich mit der Religionsfreiheit überschneiden, als vorgehende Spezialregelungen zu betrachten seien13. Vielmehr wird der Religionsfreiheit häufig ein schließlich ihrer Schranken, in: Hans Michael Heinig/Christian Walter (Hrsg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht? 2007, S. 185 (187 f.). 6 Vgl. Stefan Korioth, Vom institutionellen Staatskirchenrecht zum grundrechtlichen Religionsverfassungsrecht? Chancen und Gefahren eines Bedeutungswandels des Art. 140 GG, in: Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität im Wandel, FS Peter Badura, 2004, S. 727 (729). 7 v. Campenhausen/Unruh (Fn. 5), Art. 140, Rn. 8; Stern (Fn. 1), S. 1175; Karl-Hermann Kästner, BK, Art. 140, Rn. 145. 8 BVerfGE 125, 39 (79 m.w. N.). 9 In diesem Sinne Stern (Fn. 1), S. 1182 f.; Stefan Magen, Körperschaftsstatus und Religionsfreiheit, 2004, S. 4 f. 10 BVerfGE 19, 226 (236); dazu Stern (Fn. 1), S. 1101. 11 So Stern (Fn. 1), S. 1101. 12 Martin Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 295; Stern (Fn. 1), S. 1167. 13 So aber Dirk Ehlers, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl., 2009, Art. 140, Rn. 2.

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Gewicht gegeben, das die Bedeutung des Art. 140 GG allzu sehr zurücktreten lässt14. Art. 140 GG enthält Ergänzungen der Religionsfreiheit15. Der Schwerpunkt liegt bei Art. 4 GG in der subjektiven Berechtigung von Individuen, Gruppen und auch Korporationen, während in den rezipierten Bestimmungen der Weimarer Verfassung die Regelung des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften überwiegt, welche die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen schafft16. Der in Art. 140 GG geregelte verfassungsrechtliche Grundstatus der Religionsgemeinschaften ist in erster Linie institutionell, nicht grundrechtlich geprägt17. Nicht unbeachtet kann dabei bleiben, dass unter den rezipierten Bestimmungen auch solche sind, die subjektive Berechtigungen gewähren18. Andererseits enthält Art. 4 GG nicht nur ein individuelles Grundrecht mit vorwiegend abwehrrechtlichem Gehalt, sondern auch objektive wertentscheidende Gehalte, aber keine institutionelle Gewährleistung19. Es gilt, die einzelnen Tatbestände zu betrachten20. 2. Art. 140 GG: Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde

Das Bundesverfassungsgericht hat sich früh auf die Ansicht festgelegt, Art. 140 GG gewähre keine mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbaren Grundrechte21. Es hat diese sehr allgemein gehaltene These nie begründet, später zunächst nicht wiederholt22, aber vor kurzem eher beiläufig erwähnt und bestätigt23. Das Gericht hat also seine Auffassung aufrechterhalten, die rezipierten Bestimmungen der Weimarer Verfassung gewährten keine Grundrechte. Diese sehr formelle Sicht, die unter Grundrechten nur die Rechte aus dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes versteht24, überzeugt nicht unbedingt.

14 Stern (Fn. 1), S. 946, weist z. B. darauf hin, dass Art. 136 Abs. 1 WRV durch die Rechtsprechung minimiert worden sei. 15 Stern (Fn. 1), S. 1166 f. 16 Stern (Fn. 1), S. 1165 ff. 17 Stern (Fn. 1), S. 1173. 18 Borowski (Fn. 12), S. 300. 19 Stern (Fn. 1), S. 1171. 20 Borowski (Fn. 12), S. 303. 21 BVerfGE 19, 129, 135. 22 Stern (Fn. 1), S. 1174. 23 BVerfGE 125, 39 (74) mit Hinweis auf die Kammerentscheidung BVerfG vom 18.9.1995, NJW 1995, S. 3378, wonach Art. 139 WRV lediglich eine objektivrechtliche Institutsgarantie ohne subjektive Berechtigung enthält. 24 Kästner (Fn. 7), Rn. 150–153, hält aus diesem formellen Grund trotz Bedenken daran fest, Art. 140 GG begründe keine Grundrechte.

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Mit Recht hat Stern darauf hingewiesen, dass subjektiv-rechtliche Berechtigungen den rezipierten Bestimmungen nicht fremd sind25. Sie stehen im Grundrechtsteil der Weimarer Verfassung26, und aus heutiger Sicht würde bei deren Fortgeltung nichts dagegen sprechen, überall, wo subjektive Rechte gewährt werden, Grundrechte zu sehen27. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, wo nur Grundrechte und insoweit abschließend Rechte aus einigen anderen Artikeln des GG als mögliche Grundlage für eine Verfassungsbeschwerde genannt sind, müsste kein Hindernis sein, sich auf Grundrechte aus der Weimarer Verfassung zu stützen, die im Grundgesetz rezipiert sind28. Alle einschlägigen Verfassungsbeschwerden, insbesondere solche, welche die Verletzung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts rügten, mussten nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf Art. 4 GG gestützt werden. In der Verknüpfung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, um das es meist ging, mit der Religionsfreiheit war das Gericht außerordentlich großzügig. Es begnügte sich damit, eine Verletzung von Art. 4 GG für möglich und auf dieser Grundlage die Verfassungsbeschwerde für zulässig zu erklären, ohne in der Prüfung der Begründetheit nochmals auf die Religionsfreiheit zurückzukommen. Regelmäßig führte das Gericht aus, bei der Prüfung einer zulässigen Verfassungsbeschwerde sei es nicht darauf beschränkt, zu untersuchen, ob die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 BVerfGG aufgeführten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte verletzt seien. Die angegriffenen Entscheidungen könnten vielmehr unter jedem in Betracht kommenden Gesichtspunkt auf ihre verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit hin geprüft werden29. Mit dieser Wendung verschaffte sich das Bundesverfassungsgericht (2. Senat30) die Möglichkeit, alle Verstöße gegen die rezipierten Bestimmungen der Weimarer Verfassung zu über25

Stern (Fn. 1), S. 1174 f. Darauf weist Stern (Fn. 1), S. 965 hin. 27 So Ehlers (Fn. 13), Art. 140, Rn. 3, der die Rechte aus den rezipiertem Artikeln im Überschneidungsbereich als speziell ansieht (s. o. Fn. 13). Ähnlich ders., Die Rechtmäßigkeit des Verbots kirchlicher Voraustrauungen, in: Verfassung – Philosophie – Kirche, FS Alexander Hollerbach, 2001, S. 811 (829) zu Art. 137 Abs. 3 WRV mit Hinweis auf Alexander Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR, 2. Aufl., § 138, Rn. 145, und Josef Isensee, Karitative Betätigung der Kirchen und Verfassungsstaat, in: HdbStKirchR § 59, S. 665 (725); desgl. für Grundrechtscharakter Stefan Magen, in: Dieter C. Umbach/Thomas Clemens (Hrsg.), Grundgesetz – Mitarbeiterkommentar und Handbuch, Bd. II, 2002, Art. 140, Rn. 22. Richtig ist allerdings auch, dass der Hinweis auf den Grundrechtsteil der WRV wegen der unterschiedlichen Bedeutung des Grundrechtsteils in GG und WRV nicht ganz überzeugt, Stefan Korioth, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum GG, Art. 140, Rn. 14. 28 Stern (Fn. 1), S. 1175 schlägt vor, wenigstens den grundrechtsähnlichen Charakter anzuerkennen. 29 So noch BVerfGE 99, 100 (119) mit Hinweis auf BVerfGE 70, 138 (162) und die dort zitierte st. Rspr.; BVerfGE 102, 370 (384). 30 Kästner (Fn. 7), Rn. 158 ff. weist darauf hin, dass sich diese Rechtsprechung nur beim 2. Senat des BVerfG findet. 26

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prüfen. Gedanklich ganz sauber war das nie31. Eine Verfassungsbeschwerde kann streng genommen nur begründet sein, wenn ein Grundrecht tatsächlich verletzt ist. Nur unter dieser Voraussetzung kann das Bundesverfassungsgericht legitimer Weise weitere Verfassungsverstöße prüfen32. Anderenfalls verschafft es sich mit dem Hinweis auf die diffuse Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung Zugang zur Beurteilung vieler verfassungsrechtlicher Fragen, die von Grundrechtsverletzungen unabhängig sind. Näher liegt es, wenn schon Rechte aus den rezipierten Weimarer Kirchenartikel nicht offen als Grundrechte anerkannt werden sollen, sie wenigstens als Konkretisierung der Religionsfreiheit zu verstehen33. Auf dieser Grundlage ist nicht nur der Zugang zur Verfassungsbeschwerde zu eröffnen, sondern auch ein Verstoß gegen Art. 4 GG festzustellen. Schon seit längerer Zeit sagt das Bundesverfassungsgericht, die in Art. 140 GG rezipierten Regelungen seien auf die Inanspruchnahme des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt34. Konstruktiv ermöglicht diese Sicht ohne große Probleme eine Verfassungsbeschwerde, die auf die Religionsfreiheit gestützt wird. Die einschlägigen Weimarer Kirchenartikel sind Konkretisierungen, Ergänzungen, zum Teil auch Erweiterungen der Religionsfreiheit35. Im Ergebnis waren die Rechtspositionen aus der Weimarer Verfassung damit schon seit Jahrzehnten verfassungsbeschwerdefähig36, auch wenn die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts manchmal nicht voll zu überzeugen vermochte. In der jüngsten Sonntagsentscheidung sieht das Bundesverfassungsgericht (1. Senat) ausdrücklich im Tenor die Religionsfreiheit als verletzt an. Ihr Schutzbereich werde durch Art. 139 WRV konkretisiert37. 31 Dazu kritisch am Beispiel von BVerfGE 102, 370 Christian Hillgruber, Der Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften, in: NVwZ 2001, S. 1347 (1348 f.); ders., Über Sinn und Zweck des staatskirchenrechtlichen Körperschaftsstatus, in: Christoph Grabenwarter/Norbert Lüdicke (Hrsg.), Standpunkte im Kirchen- und Staatskirchenrecht, 2002, S. 79 (81 ff.). 32 Dazu die ausführliche Kritik bei Borowski (Fn. 12), S. 334 ff. 33 Stern (Fn. 1), S. 1174 mit Hinweis auf BVerfGE 99, 100 (119); auch BVerfGE 42, 312 (322); 53, 366 (386); 83, 341 (34); 102, 370 (387) und BVerfGE DVBl. 2010, 108 (= BVerfGE 125, 39) zu Art. 139 WRV. 34 So noch vorsichtig BVerfGE 42, 312 (322); deutlich und verallgemeinert in BVerfGE 102, 370 (387) und 125, 39 (80). In BVerfGE 83, 341 (353) ist von der Bedeutung des in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG i.V. m. Art. 140 GG/137 Abs. 2 und 4 gewährleisteten Grundrechts der religiösen Vereinigungsfreiheit die Rede. Im Tenor (S. 342) wird eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG festgestellt, während in BVerfGE 102, 370 eine Verletzung des Rechts aus Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV festgestellt wird. 35 Martin Heckel, Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen „Staatskirchenrechts“ oder „Religionsverfassungsrechts“, in: AöR 134 (2009), S. 309 (326 f.), der diesen Gedanken nicht neu nennt. 36 Stern (Fn. 1), S. 1102, 1174. 37 BVerfGE 125, 39 (40, 77, 84).

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Wolfgang Rüfner 3. Grundrechte aus rezipierten Kirchenartikeln

Deutlicher als früher hat das Bundesverfassungsgericht in neuerer Zeit mit den Entscheidungen zu den Zeugen Jehovas38 und zum Sonntagsschutz39 grundrechtliche Rechte aus Art. 140 GG anerkannt, freilich immer unter dem Blickwinkel der Religionsfreiheit. In der Entscheidung zum Sonntagsschutz heißt es ausdrücklich, bei der Sonn- und Feiertagsgarantie handele es sich zwar nicht um ein Grundrecht oder grundrechtsgleiches Recht40. Die Gewährleistungen der so genannten Weimarer Kirchenartikel seien aber funktional auch auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt41. Die inkorporierten Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung, die mit dem Grundgesetz ein organisches Ganzes bildeten42, regelten das Grundverhältnis zwischen Staat und Kirche. Es sei anerkannt, dass zumindest Teilaspekte dieses Grundverhältnisses auch von Art. 4 GG erfasst würden. Im Kontext des Grundgesetzes seien die Kirchenartikel auch ein Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit der korporierten Religionsgemeinschaften. Die funktionale Ausrichtung der so genannten Weimarer Kirchenartikel auf die Inanspruchnahme des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gelte auch für die Gewährleistung der Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung in Art. 139 WRV. Die rezipierten Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung sind danach zumindest partiell Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit43. Das Grundgesetz habe, so das Bundesverfassungsgericht, das Grundrecht der Religionsfreiheit ohne Gesetzesvorbehalt in den Katalog der unmittelbar geltenden Grundrechte eingefügt und es damit gegenüber der Weimarer Reichsverfassung erheblich verstärkt44. Das bedeutet, dass die rezipierten Gewährleistungen der Weimarer Verfassung, soweit sie schon nach ihrem Wortlaut subjektive Rechte gewähren, über Art. 4 38 BVerfGE 102, 370 (384 ff.); das Gericht spricht im Tenor nicht von einer Verletzung der Religionsfreiheit, sondern nur von einer Verletzung der Rechte aus Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV, nennt aber (S. 387) den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts ein Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit. 39 BVerfGE 125, 39 (80). 40 Hier Hinweis auf BVerfGE 19, 206 (218) und 10, 129 (135). 41 Hinweis auf BVerfGE 102, 370 (387) und BVerfGE 42, 312 (322), wo es heißt: „Es genügt hier festzuhalten, daß es Tatbestände innerhalb des Bereichs der Kirche gibt – dazu gehört das kirchliche Amt –, die zugleich als wesentlicher Bestandteil der Kirchenverfassung zur staatskirchenrechtlichen Ordnung (Art. 140 GG) rechnen und in ihrer funktionalen Bedeutung auf Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der kollektiven kirchlichen Bekenntnis- und Kultfreiheit (Art. 4 GG) angelegt sind.“ 42 Hier Hinweis auf BVerfGE 66, 1 (22); 70, 138 (167). 43 Korioth (Fn. 27), Art. 140, Rn. 15, nennt diesen Interpretationsansatz unhistorisch, meint aber, er trage der Zurechnung von Religion und Religionsgemeinschaften zur gesellschaftlichen Sphäre Rechnung. 44 BVerfGE 102, 370, 387 mit Hinweis auf BVerfGE 33, 23 (30 f.).

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GG wie Grundrechte für die Zulässigkeit und Begründetheit von Verfassungsbeschwerden wirken. Außerdem bestehen keine Bedenken dagegen, aus objektiv formulierten Bestimmungen in ähnlicher Weise wie aus entsprechenden Bestimmungen im Grundrechtsteil des Grundgesetzes und den in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten Regelungen subjektive Rechte zu entwickeln, die als Konkretisierungen der Religionsfreiheit mit Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können45. Ob sich das Bundesverfassungsgericht besser von seiner These gelöst hätte, Art. 140 GG gewähre keine Grundrechte, kann dahinstehen. Mit seiner jüngsten Rechtsprechung erreicht es über Art. 4 GG einen umfassenden Schutz aller in den rezipierten Bestimmungen der Weimarer Verfassung gewährten und der aus ihnen abgeleiteten oder noch abzuleitenden subjektiven Rechte. So gesehen ist die Vergrundrechtlichung des Staatskirchenrechts bereits Realität und vom Bundesverfassungsgericht praktiziertes Recht. Das Gericht wird künftig wahrscheinlich noch mehr grundrechtliche Berechtigungen aus Art. 140 GG ableiten, die es als Konkretisierungen der Religionsfreiheit betrachtet, so dass die auf sie gestützte Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet ist. 4. Verbleibende materielle Bedeutung der Weimarer Kirchenartikel

Die Weimarer Kirchenartikel verlieren ihre Funktion nicht. Sie bringen nicht nur Klärungen und Konkretisierungen, sie sind teilweise konstitutiv, nicht nur deklaratorisch. a) Grundrechtliche Berechtigungen Soweit aus den rezipierten Artikeln grundrechtliche Berechtigungen abzuleiten sind, gibt es Überschneidungen mit der Religionsfreiheit46 nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Das Verhältnis dieser „neuen Grundrechte“ zur Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist nicht hinreichend geklärt. Soweit Rechte aus den rezipierten Regelungen über die gemeineuropäisch allgemein anerkannte Religionsfreiheit hinausgehen, handelt es sich um zusätzliche, speziell in Deutschland geltende und als Inhalt der Religionsfreiheit zu begreifende Rechte, die jedenfalls innerstaatlich keine besonderen Probleme aufwerfen. Diese immer noch nicht ganz glatte Konstruktion bleibt erforderlich, wenn die Rechte nicht offen als Grundrechte anerkannt werden. 45 Morlok (Fn. 5), S. 197, weist in diesem Zusammenhang mit Recht darauf hin, dass der Grundrechtstheorie weder die Entwicklung von subjektiven Rechte aus objektivrechtlich gefassten Bestimmungen noch die von institutionellen Gewährleistungen aus Grundrechten fremd sind. 46 So Ehlers (Fn. 13).

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Schwieriger ist der Überschneidungsbereich. Hier sollten die Rechte aus den rezipierten Artikeln grundsätzlich als gegenüber der Religionsfreiheit spezieller und damit vorrangig angesehen werden47, wie immer das Ergebnis im Einzelnen wegen des nach dem Grundgesetz verstärkten Gewichts der Religionsfreiheit korrigiert werden muss48. Art. 136 Abs. 1 und 2 WRV überschneiden sich mit Art. 33 Abs. 2 und 3 GG sowie mit Art. 3 Abs. 2 GG. Die daraus fließenden Rechte könnten auch allein aus der Religionsfreiheit abgeleitet werden49. Probleme der Schrankendivergenz gibt es vor allem bei Art. 136 Abs. 1 WRV50. Art. 136 Abs. 3 WRV (keine Verpflichtung zur Offenbarung der religiösen Überzeugung) ist grundsätzlich schon von der Religionsfreiheit gedeckt51. Die Bestimmung ist aber wichtig, weil sie eine Pflicht zur Offenbarung der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft unter bestimmten Bedingungen zulässt. Insoweit ist sie gegenüber der Religionsfreiheit speziell, begrenzt sie und geht ihr vor52. Die Freiheit vom Zwang zu religiösen Handlungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform (Art. 136 Abs. 4 WRV) sind in der Religionsfreiheit enthalten53. 47 In diesem Sinne zu Art. 136 Abs. 3 S. 1 und Abs. 4 WRV Diana Zacharias, Schutz vor religiösen Symbolen durch Art. 4 GG? in: Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat, FS Wolfgang Rüfner, 2003, S. 987 (1000 ff., 1006 f.). 48 Eine solche Korrektur ist die Nichtanwendung von Art. 136 Abs. 1 WRV, dazu folgende Fn. 50, auch die Befreiung vom nichtreligiösen Eid (Fn. 54) mag als eine solche Korrektur verstanden werden. 49 Borowski (Fn. 12), S. 303 f. 50 BVerfGE 33, 23 (30 f.) lehnt eine Anwendung der Schranke wegen der unbedingten Garantie der Religionsfreiheit im GG ab. Anders mit ausführlicher Begründung Stefan Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 224 ff.; ders., in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 4, Rn. 52; Friedrich Schoch, Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft, in: FS Alexander Hollerbach (Fn. 27), S. 149 (163 ff.); Magen (Fn. 27), Art. 140, Rn. 42 ff.; BVerwGE 112, 227 (231 ff.); Stern (Fn. 1), S. 962, 1060 f. (m.w. N.) spricht sich gegen die Anwendbarkeit von Art. 136 Abs. 1 WRV aus, meint aber, die Anwendung mit Wechselwirkung gelange zu ähnlichen Ergebnissen wie sie durch die Güterabwägung des BVerfG erzielt würden; ähnlich Kästner (Fn. 7), Rn. 222, der sich aber für die Anwendung der Schranke des Art. 136 Abs. 1 ausspricht. Borowski (Fn. 12), S. 487 ff., insbes. S. 540 ff., bevorzugt nach Verwerfung der Ansicht des BVerfG und Ablehnung eines besonderen Gesetzesvorbehalts aus Art. 136 Abs. 1 WRV einen ungeschriebenen allgemeinen oder einfachen Gesetzesvorbehalt. 51 Borowski (Fn. 12), S. 304. 52 BVerfGE 49, 375 (376 f.) zur Eintragung der Religionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte; dazu jetzt auch EGMR vom 17.2.2011 – 12884/03; Stern (Fn. 1), S. 1063 mit zusätzlichen Hinweisen auf BVerfGE 30, 415 (426) und 46, 266 (266 f. zur Frage nach der Konfession im Krankenhaus). 53 Borowski (Fn. 12), S. 3034; Hermann Kästner, in: Klaus Stern/Florian Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 4 GG, Rn. 243; EGMR vom 18.2.1999 – 24645/

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Die Rechte aus Art. 137 Abs. 2 und Abs. 4 sind mit der Vereins- und der Religionsfreiheit ohnehin gewährleistet54. Das Bundesverfassungsgericht nimmt in der Bahá’í-Entscheidung im Tenor einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 GG an55. In der Begründung wird von der umfassenden Religionsfreiheit gesprochen56, aber auch davon, dass Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sich für die Gewährleistung der religiösen Vereinigungsfreiheit auf Art. 140 GG/137 Abs. 2 WRV beziehe und sie in dessen normativem Gehalt mit umfasse57. Das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 WRV, der lex regia des Staatskirchenrechts, ist weitgehend, aber nach wohl überwiegender richtiger Auffassung nicht in dem vollen Umfang, wie es in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entfaltet wurde, in Art. 4 GG enthalten58. Notwendiger Teil der Religionsfreiheit ist die inhaltliche religiöse Ausrichtung, dazu die Selbstorganisation der Religionsgemeinschaft samt der Auswahl des zugehörigen Personals. Das darüber hinausgehende Ordnen und Verwalten betrifft eher Verwaltungsangelegenheiten, welche eine Religionsgemeinschaft als Rechtsgemeinschaft in der Welt erledigen muss, die aber nicht im strengen Sinne religiösen Charakter haben. Dazu gehören z. B. Vermögensverwaltung, Beiträge, Grundstücksverwaltung. Es handelt sich um Tätigkeiten, die weit mehr als die Bestimmung über religiöse Inhalte im weltlichen Recht wirksam werden. Für sie gewährt 137 Abs. 3 WRV den Religionsgemeinschaften besondere Rechte, die über 94, NJW 1999, 2957. BVerfGE 33, 23 (30 ff.) entnimmt Art. 4 Abs. 1 GG sogar ein Recht auf Verweigerung eines nichtreligiösen Eides und lehnt einen Gegenschluss aus Art. 136 Abs. 4 WRV wegen der Verstärkung er Glaubens-und Gewissensfreiheit im Grundgesetz ab; anders Ehlers (Fn. 13), Art. 140 GG/136 WRV, Rn. 9. 54 Borowski (Fn. 12), S.304 f. mit dem zutreffenden Hinweis, dass die religiöse Vereinigungsfreiheit nicht auf Deutsche beschränkt sei. 55 BVerfGE 83, 341 (342). 56 BVerfGE 83, 341 (354). 57 BVerfGE 83, 341 (355). Bedenken dagegen bei Ehlers (Fn. 13), Art. 140 GG/137 WRV, Rn. 3, konsequent aus der Auffassung, die Rechte aus den rezipierten Artikeln seien speziell. 58 v. Campenhausen/Unruh (Fn. 5), Art. 137 WRV, Rn. 27 ff.; Stern (Fn. 1), S. 1242 f.; Heckel (Fn. 35), S. 334 f.; Peter M. Huber, Die korporative Religionsfreiheit, in: Heinig/Walter (Fn. 5), S. 155 (170 ff.); Stefan Mückl, Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HStR VII, § 159, Rn. 80; Magen (Fn. 27), Art. 140, Rn. 69 ff. Anders hier Joseph Listl, Das Grundrecht der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung der Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, 1971, S. 368 ff., insbes. 372 ff.; später allerdings abgeschwächt, ders., § 14 Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: HdbStKirchR, S. 439 (444 f.), worauf Heckel hinweist. Ferner für Identität: Borowski (Fn. 12), S. 305 ff., der zur Ergänzung auf das Auffanggrundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit verweist und nur für die Frage der Einschränkbarkeit einen Vorbehalt macht; Morlok (Fn. 5), S. 202; ders., in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 2. Aufl., Bd. III, 2008, Art. 137 WRV, Rn. 45; Hans Michael Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften, 2003, S. 150 ff.; Walter (Fn. 5), S. 447, 541, der aber unter europarechtlichen Aspekten zu einer erheblichen Einschränkung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (für das Arbeitsrecht) kommt.

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die allgemein zur Verfügung stehenden Möglichkeiten hinausgehen59, allerdings mit dem Vorbehalt „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ 60. Diese zusätzliche Gewährleistung ist nicht ohne weiteres Teil der gemeineuropäisch verstandenen Religionsfreiheit. Dies gilt etwa für das in Deutschland praktizierte kirchliche Arbeitsrecht, das – ungeachtet eines mit der Religionsfreiheit gewährleisteten Tendenzschutzes – nicht notwendig Teil der Religionsfreiheit ist61. Ein Recht auf die Verleihung der Körperschaftsqualität (Art. 137 Abs. 3 S. 2 WRV) samt dem daraus fließenden Recht auf die Erhebung von Kirchensteuern (Art. 137 Abs. 6 WRV) ist allein aus der Religionsfreiheit nicht abzuleiten62. Aus der Religionsfreiheit fließt zwar ein Recht zur Selbstorganisation in einer geeigneten Rechtsform, aber nicht die Besonderheit der Körperschaft des öffentlichen Rechts. Die Kirchensteuer (Art. 137 Abs. 6) gehört zu den Vorteilen, welche die Körperschaft des öffentlichen Rechts bietet. Aus der Religionsfreiheit könnte folgen, dass Religionsgesellschaften zu ihrer Finanzierung Beiträge erheben dürfen. Die Kirchensteuer in der in Deutschland üblichen Form bedarf dagegen einer besonderen Grundlage im staatlichen Recht63. Der spezielle Schutz des kirchlichen Eigentums ist angesichts des umfassenden Eigentumsschutzes nach Art. 14 GG nur von geringer praktischer Bedeutung. Ob er als Konkretisierung der Religionsfreiheit verstanden werden kann, ist zweifelhaft64, immerhin stärkt er den Schutz des spezifischen Kirchenvermögens. Art. 138 Abs. 1 WRV enthält eine besondere Garantie der Staatsleistungen, die von der Religionsfreiheit allein kaum gedeckt wird. Art. 141 WRV bringt zumindest eine wesentliche Klarstellung: Aus der Religionsfreiheit der Betroffenen lässt sich ableiten, dass ihnen die Religionsausübung nicht verwehrt werden darf. Der Inhalt des (nicht im Grundgesetz rezipierten) Art. 140 WRV ist also in der Religionsfreiheit enthalten. Ein Recht der Religionsgesellschaften auf Zugang wäre konstruierbar, bedürfte aber einiger argumentativer Anstrengungen. 59 v. Campenhausen/de Wall (Fn. 4), S. 100 ff.; Muckel, Rel. Freiheit (Fn. 50), S. 83; Kästner (Fn. 7), 140, Rn. 156, auch 290 zur Rechtssetzung; Stern (Fn. 1), S. 1243. 60 Huber (Fn. 58), S. 166, entnimmt diesem Vorbehalt mit Recht, dass das Selbstbestimmungsrecht über die Religionsfreiheit hinausgeht. 61 Insoweit mit Recht kritisch zum BVerfG Borowski (Fn. 12), S. 306. 62 Hermann Weber, Der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften nach Art. 137 Abs. 5 WRR, in: Heinig/Walter (Fn. 5), S. 229 (235 f.). 63 Gegen eine grundrechtliche Sicht der Kirchensteuer dezidiert Reiner Tillmanns, Kirchensteuer kein Mittel zur Entfaltung grundrechtlicher Religionsfreiheit, in: FS Rüfner (Fn. 47), S. 919 ff. 64 Bejahend BVerfG (Kammer) vom 28.2.192, DVBl. 1992, DVBl. 1992, 1020 = KirchE 30, 104, 108; BVerfGE 99, 100 (120); dagegen kritisch Dietrich Pirson, Kirchengut – Religionsfreiheit – Selbstbestimmung, in: Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist, FS Joseph Listl 1999, S. 611 (613).

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Ein verfassungsrechtlicher Sonntagsschutz, wie er in Art. 139 WRV enthalten ist und vom Bundesverfassungsgericht (auch) grundrechtlich gedeutet wird, ist nicht aus der Religionsfreiheit abzuleiten65. Würde er heute kraft einfachen Gesetzes eingeführt, ergäben sich sogar beträchtliche Probleme der Gleichbehandlung verschiedener Religionen. Die Kirchenartikel behalten also, auch soweit sie grundrechtliche Rechte gewähren, ihre Bedeutung, erweitern die Religionsfreiheit um Bestandteile, die üblicherweise nicht in ihr enthalten sind, und werden insoweit, weil grundrechtlich fundiert, mögliche Grundlage für Verfassungsbeschwerden. b) Institutionelle Gewährleistungen Nicht alle Bestimmungen der Weimarer Verfassung lassen sich grundrechtlich deuten, ohne dass ihnen Gewalt angetan und ihre Geltung verneint oder in unvertretbarer Weise vermindert wird. Zwar bilden Religionsfreiheit und die in Art. 140 GG rezipierten Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung einen einheitlich zu verstehenden Regelungszusammenhang66. Die historische Differenz zwischen der Religionsfreiheit mit individualistischem, menschenrechtlichem und universalistischem Charakter und der in Art. 140 GG bewahrten spezifisch deutschen Tradition des Staatskirchenrechts bleibt aber zu beachten67. In Art. 140 GG werden die Beziehungen zwischen dem Staat und den im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Institutionen hervorgehobenen Kirchen und Religionsgemeinschaften geordnet. Die gilt nicht für alle rezipierten Artikel der Weimarer Verfassung. Manche haben eindeutig grundrechtlichen Charakter. Andere, und zwar die wesentlichen, regeln die Beziehungen von Staat und Kirchen (Religionsgesellschaften) als Institutionen. Auch insoweit gibt es allerdings Überschneidungen: Die Grundrechtstheorie kennt seit langem die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte68. Viele Grundsätze, u. a. für Organisation und Verfahren bezüglich der Religionsgemeinschaften sind schon aus der Religionsfreiheit abzuleiten und in ihr enthalten69, so dass sich das Problem der Konkurrenz von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und rezipier65

So ausdrücklich und zutreffend BVerfGE 125, 39 (79). Muckel, Religiöse Freiheit (Fn. 50), S. 228. 67 Korioth (Fn. 27), Art. 140, Rn. 14. 68 Dazu grundsätzlich Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 888 ff. und speziell S. 953 ff. zur Grundrechtswirkung für Organisation und Verfahren. 69 Stern (Fn. 1), S. 1020 ff. und S. 1002 ff. nennt noch andere Prinzipien, u. a. das Prinzip der Nichtidentifikation, der staatlichen Neutralität und den Öffentlichkeitsauftrag. Jedoch ist es fraglich, sich in dieser Hinsicht nur auf die Religionsfreiheit zu stützen: Religionsfreiheit, jedenfalls im gemeineuropäischen Verständnis ist sogar mit Staatskirchentum vereinbar, dazu Korioth (Fn. 6), S. 740. 66

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ten Bestimmungen der Weimarer Verfassung auch im Bereich des Institutionellen stellt70. Art. 137 Abs. 1 WRV sagt etwas für die heutigen Verhältnisse in Deutschland Selbstverständliches aus. An Staatskirche denkt niemand. Die Bestimmung scheint rückwärts gerichtet zu sein, selbst in der Endzeit der Monarchie in Deutschland gab es keine Staatskirche mehr71. Dennoch ist Art. 137 Abs. 1 WRV auch heute noch wichtig. Er ist Grundlage der institutionellen Trennung von Staat und Kirche und der Neutralität des Staates72, nicht zuletzt des Identifikationsverbotes73. Im Hinblick auf denkbare Konstellationen im Rahmen der Integration des Islam in Deutschland erlangt die Bestimmung neue aktuelle Bedeutung74. Aus der Religionsfreiheit allein wäre das Verbot der Staatskirche jedenfalls nicht abzuleiten. Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, soweit es über die Religionsfreiheit hinausreicht, ist nicht nur grundrechtlich zu verstehen. Art. 137 Abs. 3 WRV enthält institutionelle Sicherungen der Religionsgemeinschaften, auch eine Garantie des Selbststandes gegenüber ihren Mitgliedern, der nicht allein grundrechtlich und schon gar nicht allein in den Grundrechten der Mitglieder zu fundieren ist75. Mehr noch gilt das für den Körperschaftsstatus. Man mag ein Recht auf die Verleihung des Körperschaftsstatus anerkennen. Der Inhalt dieses Körperschaftsstatus ist aber rein grundrechtlich als Ausfluss der Religionsfreiheit nicht voll zu erfassen, seine institutionelle Bedeutung ist nicht zu verkennen76. Er hebt die Kirchen, sonstige Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, welche die Voraussetzungen des Art. 137 Abs. 5 WRV erfüllen und die Möglichkeit der Korporierung nutzen, aus den gesellschaftlichen Gruppierungen heraus und verleiht ihnen einen besonderen Status77. Ihm liegt „die Überzeugung des Staates von der besonderen Wirksamkeit dieser Kirchen, von ihrer gewichtigen Stellung in der Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Gewähr der Dauer zugrunde“ 78. 70

Richtig gesehen bei Magen (Fn. 9), S. 11. Dietrich Pirson, Die zeitlose Qualität der Weimarer Kirchenartikel, in: Staat – Kirche – Verwaltung, FS Hartmut Maurer, 2001, S. 409 (414); Heinig (Fn. 58), S. 176. 72 Korioth (Fn. 6), S. 740, der sich mit Recht dagegen wendet, die religiöse Neutralität des Staates allein auf die Religionsfreiheit zu gründen. 73 Zur heutigen Bedeutung Heinig (Fn. 58), S. 176 ff., ausführlich Stern (Fn. 1), S. 1210 ff. 74 Dazu u. bei Fn. 121 f. 75 Bernd Grzeszick, Verfassungstheoretische Grundlagen des Verhältnisses von Staat und Religion, in: Heinig/Walter (Fn. 5), S. 131 (149). 76 Stern (Fn. 1), S. 1282. 77 Korioth (Fn. 6), S. 743 spricht von einem spezifisch staatskirchenrechtlichen Überhang; gegen eine rein grundrechtliche Sicht Ralf Röger, Die Aberkennung des Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften, in: FS Rüfner (Fn. 47), S. 749 (751 ff.). 78 BVerfGE 66, 1 (20). 71

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Das gilt auch dann, wenn man diesen Status mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Zeugen Jehovas geringer einschätzt, als dies vorher üblich war. Immer noch handelt es sich um eine besondere Rechtsform, die der Staat den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zur Verfügung stellt. Immer noch hat der Staat Erwartungen an die korporierten Religionsgemeinschaften. Der Körperschaftsstatus wird zwar als ein Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit bezeichnet, auch stehen die Religionsgemeinschaften trotz ihres Körperschaftsstatus dem Staat als Teile der Gesellschaft gegenüber79. Der Körperschaftsstatus ist mehr als eine leere Form, weil er den korporierten Religionsgemeinschaften eine besondere Rechtsstellung vermittelt, die über diejenige privatrechtlich verfasster Religionsgemeinschaften hinausgeht. Das öffentlichrechtliche Kleid verschafft in der Wahrnehmung der Gesellschaft eine besondere Stellung und gibt erhöhte Einflussmöglichkeiten80. Die Religionsgemeinschaften sind Institutionen, die politisch und gesellschaftlich bedeutsam sind und deren Verhältnis zum Staat regelungsbedürftig ist. Es geht um ihren verfassungsrechtlichen Grundstatus, der in erster Linie institutionell, nicht grundrechtlich geprägt ist81. Es bleibt ein institutioneller Überhang82. Eine undifferenziert grundrechtliche Rekonstruktion der inkorporierten Normen greift zu kurz, denn sie wird ihrem institutionellen Eigengehalt nicht gerecht, der über Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinausgeht83. Die Kirchen beanspruchen und erfüllen einen Gemeinwohlauftrag und sind schon deshalb in einem Näheverhältnis zum Staat84, obwohl die Übernahme von Gemeinwohlaufgaben aus staatlicher Sicht freiwillig ist85. II. Veränderungen des Staatskirchenrechts durch die Vergrundrechtlichung 1. Anpassung der Denkstrukturen und Rechtsschutz

Das institutionelle deutsche Staatskirchenrecht findet im europäischen und außereuropäischen Ausland wenig Verständnis. Religionsfreiheit wird in der EU überall gewährt, besondere institutionelle Formen für die Kirchen finden sich nur partiell. Internationale Verträge zum Schutz der Grund- und Menschenrechte ent79

Heinig (Fn. 58), S 499. BVerfGE 102, 370 (387 f.); dazu Stefan Huster, Die Bedeutung des Neutralitätsgebotes für die verfassungstheoretische und verfassungsrechtliche Erneuerung des Religionsrechts, in: Heinig/Walter (Fn. 5), S. 107 (129); Hillgruber (Fn. 31). 81 In diesem Sinne Stern (Fn. 1), S. 1173; Huber (Fn. 58) S. 176 ff. 82 Huster (Fn. 80), S. 128 mit Hinweis auf Josef Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche 25 (1991), S. 104 (113); Kästner (Fn. 53), Rn. 245. 83 Kästner (Fn. 53), Rn. 237. 84 Stern (Fn. 1), S. 1283. 85 Magen (Fn. 9), S. 153 ff. stellt die Freiwilligkeit mit Recht heraus. 80

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halten zwar ausführliche Bestimmungen über die Religionsfreiheit, aber anders als in Deutschland nichts über eine besondere Stellung der Kirchen, welche sie über den Rang anderer gesellschaftlicher Gruppen erhebt. Das gilt auch für die EU nach dem Vertrag von Lissabon. Eine besondere institutionelle Stellung der Kirchen ist gemeineuropäisch nicht anerkannt. Art. 17 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU i. d. F. des Vertrages von Lissabon erkennt die Kirchen zwar als wichtige Faktoren an, behandelt sie aber wie gesellschaftliche Kräfte ohne Sonderstellung. In diese Denkweise passt ein Religionsverfassungsrecht, das grundrechtliche Sicherungen der Kirchen betont. Es ist schon vom Denkansatz her „anschlussfähig“, d.h. es wird außerhalb Deutschlands leichter verstanden und ist besser zugänglich. Die rezipierten Bestimmungen der Weimarer Verfassung haben danach den Sinn, die Religionsfreiheit zu stärken und zusätzliche grundrechtliche Rechte zu vermitteln, die Teil der Religionsfreiheit sind. Konstruktiv sind diese zusätzlichen Rechte Konkretisierungen bzw. Erweiterungen der Religionsfreiheit, gewissermaßen Grundrechte, die über die allgemeinen Grenzen der Religionsfreiheit hinausgehen und nur in Deutschland gelten. Das ist besonders deutlich am Sonntagsschutz (Art. 139 WRV), den es, soweit ersichtlich, nur in Deutschland gibt. Materiell muss sich durch die bisherige oder auch durch eine noch weitergehende Vergrundrechtlichung des Staatskirchenrechts nichts ändern86. So betrachtet wäre die Veränderung vor allem eine Erweiterung der Möglichkeiten, auf subjektive Rechte gestützt Rechtsschutz zu erlangen, nicht zuletzt Verfassungsbeschwerde zu erheben. Das mag wegen der oft geäußerten Bedenken, in Deutschland sei der Rechtsschutz ohnehin hypertroph, von manchen bedauert werden. Individueller Rechtsschutz ist aber nicht selten die einzige Möglichkeit, groben Rechtsbrüchen entgegenzutreten. Dies haben insbesondere die Auseinandersetzungen um den Sonntagsschutz durch Ladenschluss in Mecklenburg-Vorpommern gezeigt. Frühere Hinweise auf offensichtliche Rechtswidrigkeit der Regelungen hatten keinerlei Erfolg87. 2. Inhaltliche Modernisierung durch Vergrundrechtlichung

Ob die Vergrundrechtlichung der rezipierten Bestimmungen aus der Weimarer Verfassung auch wesentliche inhaltliche Veränderungen bringt, hängt davon ab, wie radikal die Verknüpfung von Religionsfreiheit und rezipierten Bestimmungen gesehen wird. Es gibt, wie dargelegt, weitgehende Überschneidungen zwi86 Korioth (Fn. 6), S. 746 meint mit Recht, soweit die Verschiedenheiten von Art. 4 und Art. 140 GG bewusst blieben, bestehe kein Grund, die Annäherung von Art. 4 und Art. 140 GG zu kritisieren. 87 Dazu die Entscheidungen: OVG Mecklenburg-Vorpommern NVwZ 2000, 945 = KirchE 38, 51 und NordÖR 2010, 321.

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schen Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und den übernommenen Regelungen der Weimarer Verfassung, aber auch Bestimmungen, die deutlich über die allgemein anerkannte Religionsfreiheit hinausreichen. Sie lassen sich zum Teil als Konkretisierungen, Erweiterungen oder Zusätze zur Religionsfreiheit deuten, es bleibt allerdings ein institutioneller Rest. Auch dieser institutionelle Rest soll – so eine Grundthese der neueren und vom Bundesverfassungsgericht aufgenommenen Lehre der Entfaltung der Religionsfreiheit dienen. Tendenziell kann schon diese Vergrundrechtlichung an sich Veränderungen bewirken: Wenn und soweit aus den rezipierten Bestimmungen der Weimarer Verfassung in Verbindung mit der Religionsfreiheit grundrechtliche Berechtigungen abgeleitet werden bzw. die Bestimmungen der Weimarer Verfassung grundrechtlich als Konkretisierung oder Erweiterungen des Grundrechts der Religionsfreiheit gedeutet werden, stellt sich die Frage der Gleichbehandlung aller Religionen schärfer und fühlbarer als bei nur institutioneller Deutung. Das Staatskirchenrecht der Weimarer Reichsverfassung ist zwar nach unbestrittener Auffassung allen Religionen und Religionsgemeinschaften zugänglich, aber prinzipiell nur unter den in der Weimarer Reichsverfassung geregelten Bedingungen. Die Vergrundrechtlichung fördert Tendenzen, diese Bedingungen zu erleichtern. Konflikte in der pluralisierten Gesellschaft sind rechtlich vielleicht einfacher zu bewältigen, wenn widerstreitende Positionen in die Form subjektiver Rechte gebracht werden. Subjektive Rechte eröffnen und begrenzen Freiheitssphären. Sie sind insbesondere Ansatzpunkte für Problemlösungen, die dem Verhältnismäßigkeitsprinzip verpflichtet sind und damit flexible und einzelfallbezogene Antworten erlauben88. Anders gewendet: Die grundrechtliche Deutung verlangt und fördert Abwägungsprozesse. Trotzdem ändert das Programm der Vergrundrechtlichung, verstanden als grundrechtliche Deutung aller subjektiv-rechtlich gefassten Bestimmungen der rezipierten Artikel und Ableitung weiterer Grundrechtspositionen aus den noch als solchen anerkannten institutionellen Regelungen nur relativ wenig an der Substanz des Staatskirchenrechts. Die Vergrundrechtlichung kann aber auch darüber hinausgehende Ziele verfolgen, um das Staatskirchenrecht gemeineuropäischen Standards anzugleichen. Ziel ist dann nicht nur, das Staatskirchenrecht aus grundrechtlicher Sicht zu verstehen, sondern in eben diesem Verständnis auf das Grundrecht der Religionsfreiheit zu reduzieren89. Religion ist in diesem Verständnis eine Sache des Einzelnen

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So Korioth (Fn. 6), S. 732. Tendenziell in diese Richtung geht Walter (Fn. 5), S. 3, wenn er die Ablösung des institutionell geprägten Staatskirchenrechts durch ein grundrechtsorientiertes Religionsverfassungsrecht fordert. Gegen diese Tendenzen deutlich Christian Hillgruber, Der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus nach Art. 137 Abs. 3 WRV, in: Heinig/Walter (Fn. 5), S. 213 ff., bes. S. 226 f. 89

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und daher in der Obhut der Religionsfreiheit gut aufgehoben. Religionsgemeinschaften sind in dieses Freiheitskonzept einzufügen, denn auch sie sind Sache der Individuen90. Wenn das deutsche Staatskirchenrecht voll anschlussfähig an gemeineuropäische (in Wirklichkeit oft: französische) Standards werden soll, müssen tunlichst alle Elemente aus ihm entfernt oder wenigstens durch Interpretation minimiert werden, welche über die Religionsfreiheit hinausgehen91. Was dann vom deutschen Staatskirchenrecht bliebe, lässt sich etwa aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erkennen, der allein auf Grund der Religionsfreiheit in Art. 9 EMRK zu judizieren hat. Auch danach besteht ein Selbstorganisationsrecht92 und ein Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, aber nur in dem Maße wie es zum Schutz der gemeineuropäisch konzipierten Religionsfreiheit erforderlich ist93. Die Religionsfreiheit wird ihrerseits primär als individuelles und kollektives Grundrecht betrachtet, Rechte der Korporation als solcher, die sich nicht als gebündelte Rechte der Gläubigen verstehen lassen, werden möglichst hintangestellt. Dies entspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der zwar korporative Grundrechte anerkennt94, aber sie aus der Repräsentation der Mitglieder durch die Religionsgemeinschaft und damit letztlich aus der individuellen oder allenfalls kollektiven Religionsfreiheit ableitet95. Organisationsrechtliche Garantien werden von dieser grundrechtsorientierten Sichtweise nicht abgelehnt, sie werden aber „in einen Organisationszusammenhang mit der individuellen Religionsfreiheit gestellt“ 96, haben also dieser gegenüber dienenden Charakter. Das Selbstbestim90 Diese zutreffende, scharf akzentuierte Deutung findet sich bei Stern (Fn. 1), S. 1172; ähnlich Grzeszick (Fn. 75), S. 134 f. 91 Das Institutionelle zurückzudrängen ist ein Anliegen der Verfechter des Religionsverfassungsrechts, vgl. etwa Walter (Fn. 5), S. 200 f.; Morlok (Fn. 5), S. 188, auch S. 197 f. 92 Die Organisation der Religionsgemeinschaft ist eine Voraussetzung des individuellen Glaubens, Grzeszick (Fn. 75), S. 137 f. Das verkennt auch Morlok (Fn. 5), S. 197 f., nicht, meint aber, den organisationsrechtlichen Garantien sei ihre Selbstzweckhaftigkeit zu nehmen; ähnlich Walter (Fn. 5), S. 380, nach dem der korporative Schutz niemals institutioneller Selbstzweck sei, sondern seine Legitimation allein aus der Rückbindung an das einzelne Individuum erfahre; Grzeszick (S. 146) akzentuiert anders und hebt den Selbststand der Religionsgemeinschaft hervor. 93 Walter (Fn. 5), S. 544 ff., 605, kommt auf dieser Basis zu einer schärferen Kontrolldichte im kirchlichen Arbeitsrecht, das sich dem allgemeinen Tendenzschutz annähern soll. 94 Dazu Christoph Grabenwarter, Die korporative Religionsfreiheit nach der Menschenrechtskonvention, in: FS Rüfner (Fn. 47), S. 147 ff., insbes. S. 153 ff. zum Selbstbestimmungsrecht. 95 Zutreffend Walter (Fn. 5), S. 381; vgl. auch dens., in: Rainer Grote/Thilo Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 17, Rn. 97 ff. 96 So Morlok (Fn. 5), S. 197 f.

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mungsrecht der Religionsgemeinschaften hat auch in einer solchen Betrachtungsweise seinen Platz, es bleibt aber hinter dem vom Bundesverfassungsgericht anerkannten Selbstbestimmungsrecht der deutschen Kirchen zurück. Das kann nicht verwundern, da die Europäische Menschenrechtskonvention nicht konkrete staatskirchenrechtliche Modelle stützen kann, sondern nur die in Art. 9 EMRK garantierte Religionsfreiheit als Grundlage hat97. Aus der Religionsfreiheit allein lässt sich nicht das gesamte Staatskirchenrecht der Bundesrepublik entwickeln98. Aber genau das könnte im Sinne einer Reduzierung des Staatskirchenrechts auf die Religionsfreiheit intendiert sein. Ein so reduziertes „Staatskirchenrecht“ wäre international voll anschlussfähig, weil es nur noch die allgemein anerkannten Prinzipien enthielte. Religionsfreiheit als individuelles, kollektives und darüber hinaus auch als Recht der Religionsgemeinschaften (korporatives Grundrecht) selbst sind der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht fremd99. Eine besondere institutionelle Stellung der Kirchen ist aber in der nur auf der Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention beruhenden und zudem eher von französischem Rechtsdenken geprägten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht anerkannt100. Eine Anpassung des nationalen Rechts wird indes weder vom Recht der EU noch vom Recht des Europarats gefordert, auch wenn europäische Gerichte, insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus den für sie maßgebenden Vorschriften keine Sonderstellung, sondern allenfalls korporative Rechte ableiten können. Daraus folgt aber nicht, dass den Religionsgesellschaften in den Mitgliedstaaten nur korporative Rechte, aber keine staatsrechtliche Sonderstellung zuerkannt werden dürfte. Wäre es anders, wäre eine staatsrechtliche Sonderstellung verboten, wären die staatskirchlichen Systeme in England und Skandinavien schlechthin konventionswidrig. Wenn das Grundgesetz bei aller Verpflichtung zur Neutralität auf eine im Prinzip allen Religionsgemeinschaften offene Kooperation von Staat und Kirche zugeschnitten ist, wie sie die christlichen Kirchen pflegen101, bleibt es weit hinter einem Staatskirchentum zurück und ist jedenfalls europarechtlich nicht anstößig. 97 Hermann Weber, Neuralgische Punkte in den Grundsatzfragen des Staatskirchenrechts, in: FS Maurer (Fn. 71), S. 469 (487) unter Hinweis auf Nikolaus Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1990, S. 177 f. Dazu schon die Diskussionsbemerkung von Jochen Abr. Frowein, in: Essener Gespräche Bd. 27, S. 78. 98 Stern (Fn. 1), S. 1100. 99 Luisa Crones, Grundrechtlicher Schutz von juristischen Personen im europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S. 97; Wolfgang Rüfner, Religion und Kirchen vor der Europäischen Verfassung, in: Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, FS Georg Ress, 2005, S. 757 (760) m.w. N. 100 Deutlich Frowein (Fn. 97). 101 Dazu Stern (Fn. 1), S. 966.

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Europarechtlich ist keine unbedingte staatliche Neutralität und Äquidistanz zu allen Religionsgemeinschaften gefordert102, auch nicht in dem Maße, wie sie nach dem Grundgesetz in Deutschland gesichert sind. Europa begnügt sich mit einer weit ausgelegten Religionsfreiheit, darüber hinaus enthält das Europarecht für das Verhältnis von Staat und Kirche nichts103. Das deutsche Staatskirchenrecht lässt sich weder anderen europäischen Völkern aufzwingen noch muss es aus europarechtlichen Gründen grundsaniert werden. Auf ein Problem des Zusammenspiels von europäischen und nationalen Grundrechten ist allerdings hinzuweisen: Das Europarecht, insbesondere die Europäische Menschenrechtskonvention steht weitergehenden Grundrechten in den Einzelstaaten nicht entgegen (Art. 53 EMRK). Insoweit gilt Ähnliches wie im Verhältnis von Grundrechten aus dem Grundgesetz und aus den Länderverfassungen. Problematisch können zusätzliche oder weitergehende Grundrechte aber dann werden, wenn sie für verschiedene Grundrechtsträger relevant werden, sich also nicht in der Beziehung von Staat und Bürger erschöpfen. Die Abwägung verschiedener Belange kann dann nach der Europäischen Menschenrechtskonvention anders ausfallen als nach dem Grundgesetz. So können Diskrepanzen zwischen der Rechtsprechung nach deutschem Verfassungsrecht und nach der Europäischen Menschenrechtskonvention entstehen104, die ihren Grund nicht nur in unterschiedlichen Bewertungen im Prinzip sehr ähnlicher Vorschriften (so der Fall der Prinzessin Caroline von Hannover105), sondern auch in unterschiedlichen Rechtsgrundlagen (so der Fall Schüth106) haben. Im Allgemeinen sind die Grundrechte und die Einschränkungsmöglichkeiten in der Europäischen Menschenrechtskonvention jedoch so gefasst, dass schwerwiegende Eingriffe in die Verfassungsstruktur demokratischer Staaten nicht zu befürchten sind. Zu solchen Eingriffen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte grundsätzlich kein Mandat. 102 Jochen Abr. Frowein, Religionsfreiheit und internationaler Menschenrechtsschutz, in: Rainer Grote/Thilo Marauhn (Hrsg.), Religionsfreiheit zwischen Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht – Völker- und verfassungsrechtliche Perspektiven, 2001, S. 73 (78 ff.) auch zur Zulassung der Staatskirchen, allerdings nur unter der Voraussetzung individueller Religionsfreiheit und Nichtdiskriminierung Einzelner. EGMR vom 18.3.2011 – 3084/06 (Lautsi) Nr. 60 ff., insbes. Nr. 70 f. zum Kreuz in der Schule. 103 Mit Recht weist Walter (Fn. 5), S. 334 f., allerdings mit Betonung von Paritätsund Gleichbehandlungsgeboten darauf hin, dass unterschiedliche staatskirchenrechtliche Modelle in Europa toleriert werden. 104 Frowein (Fn. 97) hat auf dieses Problem hingewiesen. 105 BVerfG vom 15. Dezember 1999, BVerfGE 101, 361; EGMR vom 24.6.2004 – 59320/00, NJW 2004, 2647. 106 Im Fall Schüth, EGMR vom 23.9.2010, EuGRZ 2010, 560, hatte der EGMR das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nach Art. 137 Abs. 3 WRV nicht so berücksichtigen können, wie es im GG nach der Rechtsprechung des BVerfG enthalten ist. Der EGMR musste aber die kirchliche Freiheit beachten („Art. 8 Abs. 2 EMRK „Rechte und Freiheiten anderer“).

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3. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Zeugen Jehovas und zum Sonntagsschutz

Das Bundesverfassungsgericht, das schon früher Verbindungen zwischen der Religionsfreiheit und den Weimarer Kirchenartikeln gesehen hatte107, hat sich mit den Problemen der Vergrundrechtlichung in seinen Entscheidungen zum Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas und zum Sonntagsschutz näher befasst. a) Körperschaftsstatus der Zeugen Jehovas In der Entscheidung zu den Zeugen Jehovas hat das Bundesverfassungsgericht Vorstellungen zum Abbau institutioneller Regelungen etwas Raum gegeben. Es hat die Sonderstellung der Körperschaften des öffentlichen Rechts, insbesondere ihre Staatsnähe gegenüber der bisherigen Lehre deutlich abgebaut. Wenn nur noch Rechtstreue und eine minimale Verfassungstreue – Bindung an die unveränderbaren Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG – verlangt werden, ist die Forderung nach einer für ein Kooperationssystem zwischen Staat und Kirche vorausgesetzte Kooperationsbereitschaft und nach positiver Einstellung zur Verfassung erheblich reduziert108. Das Bundesverfassungsgericht schließt folgerichtig Ausführungen an, die belegen, dass die Körperschaften des öffentlichen Rechts nach Art. 137 Abs. 5 WRV sich grundlegend von anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts unterschieden. Da die korporierten Religionsgemeinschaften über besondere Machtmittel verfügten, bedürften sie einer etwas schärferen Kontrolle als private Körperschaften, eine besondere Staatsloyalität sei aber nicht zu verlangen109. Die Entscheidung zu den Zeugen Jehovas kann zeigen, was tendenziell von der Vergrundrechtlichung des Staatskirchenrechts zu erwarten ist: eine Reduktion des bisherigen Staatskirchenrechts auf eine weit und kirchenfreundlich konzipierte Religionsfreiheit. Wenn das Bundesverfassungsgericht Anforderungen an den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts verringert und damit die korporierten Religionsgemeinschaften den nicht korporierten annähert, geht es einen (vorerst kleinen) Schritt auf diesem Wege.

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Dazu die Nachweise o. Fn. 33. Die Frage, ob nicht das Verbot, sich an Wahlen zu beteiligen, ein frontaler Angriff auf das Prinzip der Demokratie ist tut das BVerfG etwas leichthin mit der Bemerkung ab, die Zeugen Jehovas seien nur eine kleine Gruppe (BVerfGE 102, 370 (398). Sie hatte das BVerwG dazu veranlasst, den Anspruch auf die Körperschaftsqualität zu verneinen (BVerwGE 105, 117 (126 f.). Andere Wertung bei Gerhard Robbers, Sinn und Zweck des Körperschaftsstatus im Staatskirchenrecht, in: FS Martin Heckel, 1999, S. 411 (421 ff.) und kritisch zur Entscheidung des BVerfG aus diesem Grund Joachim Lang, Staatsloyalität kirchensteuerberechtigter Religionsgemeinschaften, in: FS Rüfner (Fn. 47), S. 497 ff. 109 BVerfGE 102, 370 (392 ff.). 108

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b) Sonntagsschutz Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Sonntagsschutz bekräftigt in allgemeiner Form die These, die Kirchenartikel der Weimarer Verfassung seien funktional auf die Inanspruchnahme und Verwirklichung des Grundrechts der Religionsfreiheit angelegt110. Sie bejaht dies auch für den Schutz des Sonntags, der jedenfalls auch eine religiöse Zielsetzung habe. Art. 139 WRV sei ein religiöser, in der christlichen Tradition wurzelnder Gehalt eigen, der mit einer dezidiert sozialen, weltlich-neutral ausgerichteten Zwecksetzung einhergehe111. Der Sonntagsschutz ist daher zumindest auch auf den Schutz der Religionsfreiheit ausgerichtet, wird er vernachlässigt, wird die Religionsfreiheit verletzt. Das Bundesverfassungsgericht sieht dann trotz Vergrundrechtlichung auch des Sonntagschutzes das Problem der Gleichheit, wehrt aber Gleichheitsforderungen, die schnell zu drei arbeitsfreien Tagen in der Woche führen könnten, mit Hinweis auf den Text des in das Grundgesetz rezipierten Art. 139 WRV ab. Art. 139 WRV ist ein religiöser, in der christlichen Tradition wurzelnder Gehalt eigen112. Die Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität steht einer solchen Konkretisierung des Schutzgehalts des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch Art. 139 WRV nicht entgegen. Die Verfassung selbst hat die Wertung getroffen und mit dem Schutz des Sonntags an die christlich-abendländische Tradition angeknüpft113. Mit anderen Worten: Die Verfassung weicht an dieser Stelle selbst von der Gleichbehandlung aller Religionen ab. Das ist hinzunehmen. Unter diesen Aspekten bestehen auch keine Bedenken dagegen, dass manche organisatorischen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung zwar allen Religionen offenstehen, aber ersichtlich auf die christlichen Kirchen zugeschnitten sind und etwa für den Islam nicht ohne weiteres passen. Dies ist wie der Sonntagsschutz als Verfassungsinhalt hinzunehmen und auch politisch sinnvoll als Ausdruck einer christlich geprägten Rechtstradition. Es gibt also auch die Möglichkeit, die Bestimmungen nach Art. 140 GG ungeachtet eines grundrechtlichen Verständnisses inhaltlich zu erhalten. Damit bleiben deutsche Besonderheiten, die Vergrundrechtlichung ist nicht notwendig der Weg zu einem einheitlichen europäischen Religions- oder Religionsverfassungsrecht und auch nicht zu einer voraussetzungslosen Öffnung für alle Religionen ohne Rücksicht auf Inhalt und Organisationsform.

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BVerfGE 125, 39 (80). BVerfGE 125, 39 (81). BVerfGE 125, 39 (81). BVerfGE 125, 39 (84).

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III. Einfügung des Islam in das deutsche Staatskirchenrecht 1. Das Problem

Die aufgeworfenen Fragen haben besondere Bedeutung für die Einfügung des Islam in das deutsche Staatskirchenrecht. Muslimen und ihren Organisationen steht die Religionsfreiheit uneingeschränkt zu. Sie können auch die Möglichkeiten des Staatskirchenrechts vom Religionsunterricht bis zur Körperschaft des öffentlichen Rechts, zur Kirchensteuer und zu den Staatskirchenverträgen nutzen114, wenn sie die verfassungsrechtlich vorgegebenen Voraussetzungen erfüllen. Das deutsche Staatskirchenrecht hat sich zwar als Recht der christlichen Religion entwickelt, mindestens seit der Weimarer Verfassung steht es jedoch als ein für alle Religionen geltendes Rahmenrecht offen auch für nichtchristliche Religionen115, selbst für Weltanschauungsverbände116 aller Art. Grundsätzlich wären die Muslime als Religionsgemeinschaft(en) in der Lage, die Vorteile des Staatskirchenrechts vom Religionsunterricht über die Körperschaft des öffentlichen Rechts bis zur Kirchensteuer zu nutzen. Die große Schwierigkeit liegt für sie in Deutschland darin, dass sie nicht als Religionsgemeinschaft(en) organisiert sind. 2. Muslimische Religionsgemeinschaften

Das Grundgesetz öffnet sein Religionsrecht allen Religionen unter paritätischen Bedingungen. Dabei ist auf das Selbstverständnis der Religionen Rücksicht zu nehmen. Anforderungen dürfen sich nicht auf eine religionsfeindliche (auch nicht einer bestimmten Religion gegenüber feindliche) Formalparität richten, die auf die Eigenheiten einer Religion keine Rücksicht nimmt. Formalparitätische Verschleierung einer Ungleichbehandlung liegt nicht im Sinne der Verfassung117. 114 Stern (Fn. 1), S. 1231; Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 2009, § 33, Rn. 28; Heckel (Fn. 35), S. 347 ff.; Josef Isensee, Integration mit Migrationshintergrund, JZ 2010, S. 317 (319 ff.), weist mit Recht auf die religiösen und kulturellen Differenzen hin. Es liegt indes an den Muslimen selbst, die zumutbaren Vorleistungen zu erbringen. Zu Verträgen mit Muslimen grundsätzlich Ansgar Hense, Staatsverträge mit Muslimen – eine juristische Unmöglichkeit?, in: Stefan Mückl (Hrsg.), Das Recht der Staatskirchenverträge, 2007, 115 ff., speziell zu der organisatorischen Grundvoraussetzung des Bestehens einer Religionsgemeinschaft, S. 164 ff. 115 Heckel (Fn. 35), S. 328, 343 ff. 116 In Bayern gibt es Humanistische Verbände, welche den Korporationsstatus erlangt haben, z. B.: Der Bund für Geistesfreiheit Bayern K. d. ö. R. (Kurzbezeichnung bfg Bayern) ist eine freigeistig orientierte Körperschaft des öffentlichen Rechts in Bayern. 117 Heckel (Fn. 35), S. 362 f.; an dieser Stelle dürften die Bedenken von Weber (Fn. 62), S. 246 f., greifen, der bei Verweigerung einen Weg in den Laizismus fürchtet; ähnlich ders. (Fn. 97), S. 474, 477 f.

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Andererseits dürfen die Anforderungen an eine Religionsgemeinschaft auch nicht so weit gesenkt werden, dass von der Religionsgemeinschaft im herkömmlichen Sinne nicht mehr die Rede sein könnte118. Mit Schwierigkeiten wäre es wahrscheinlich möglich, manche der bestehenden muslimischen Verbände als Religionsgemeinschaften zu qualifizieren119. Ansätze zu einer solchen Qualifizierung zeigen sich bereits in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts120. Ausgeschlossen ist allerdings durch das Verbot der Staatskirche, dass die Bundesrepublik oder deutsche Länder die Organisation in ähnlicher Weise übernehmen wie muslimische Staaten121. Auch darf die islamische Religionsgemeinschaft keine Organisation eines ausländischen Staates sein122. Die drängenden Sachprobleme lassen sich aber mit der Verleihung des Körperschaftsstatus an einige oder auch viele muslimische Organisationen nur sehr bedingt lösen. Sie würden wahrscheinlich die Anerkennung als Körperschaften des öffentlichen Rechts als großen Sieg begreifen, müssten dann aber feststellen, dass sie nur wenig gewonnen hätten, es sei denn es gelänge, alle oder wenigstens sehr viele der in Deutschland lebenden Muslime in einer oder mehreren größeren Religionsgemeinschaften zu erfassen123. Gelingt das nicht, gibt es nur einzelne oder auch zahlreiche muslimische Gemeinschaften mit insgesamt geringer Mitgliederzahl (gering im Verhältnis zur Zahl der im Lande lebenden Muslime) könnten diese sich mit oder ohne Korporationsstatus dem Staat als Partner anbieten. Sie könnten aber jeweils nur für ihre Mitglieder sprechen, nicht für nahestehende Gläubige, die sich ihnen organisatorisch nicht angeschlossen haben, und wären dann – nach heutigem Stand – sehr kleine Verbände, viel zu klein, um Aufgaben ähnlicher Art etwa im sozialen Be-

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Gegen eine solche Absenkung der Anforderungen Isensee (Fn. 114), S. 321. Für eine solche weniger strenge Sicht Claus Dieter Classen, Religionsrecht, 2006, Nr. 373 ff. 120 BVerwGE 123, 49 (57 ff.), wo es für möglich gehalten wird, einen Dachverband als Religionsgemeinschaft anzusehen; BVerwGE 110, 326, wo der Begriff der Religionsgemeinschaft für den Berliner Religionsunterricht anders definiert wird als für Art. 7 Abs. 3 GG; dazu Classen (Fn. 119), Nr. 379; Uhle (Fn. 3), 318 f.; differenzierend Stefan Muckel, Wann ist eine Gemeinschaft Religionsgemeinschaft?, in: Recht in Kirche und Staat, FS Joseph Listl 2004, S. 715 (736 ff.). 121 Huber (Fn. 58), S. 182, betont, dass der Staat auch nicht auf die Verstetigung muslimischer Organisationen hinwirken dürfe. 122 Martin Heckel, Religionsunterricht für Muslime? JZ 1999, S. 742 (753 f.). Daran dürfte die Anerkennung von DITIB als Religionsgemeinschaft scheitern. Gegen DITIB als Religionsgemeinschaft mit Recht Isensee (Fn. 114), S. 321. 123 Eine Religionsgemeinschaft muss nicht alle Angehörigen einer bestimmten religiösen Überzeugung erfassen und kann andererseits eine innere religiöse Pluralität dulden. Die Anforderungen an die bekenntnismäßige Homogenität sind nicht zu überspannen, Heinig (Fn. 58), S. 70. 119

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reich zu übernehmen wie die großen Kirchen. Auch die Kirchensteuererhebung wäre ohne eine breite Mitgliedschaft praktisch unmöglich. Muslimische Religionsgemeinschaften könnten grundsätzlich Religionsunterricht nach ihren Vorgaben verlangen, denn auf den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts kommt es nach h. M. für den Anspruch auf Religionsunterricht nicht an124. Praktisch wäre aber damit nicht viel gewonnen. Die einzelnen islamischen Verbände könnten auch hier nur für ihre Mitglieder sprechen125, nur ihre Mitglieder wären verpflichtet an dem für sie angebotenen Religionsunterricht teilzunehmen126. Die Schülerzahlen würden, abgesehen von Fällen der Konzentration von „Religionsgemeinschaften“ in einzelnen Orten für einen Religionsunterricht nicht ausreichen. Würde Religionsunterricht nach den Vorgaben einer muslimischen Vereinigung unter vielen angeboten, könnten zwar alle (muslimischen) Kinder teilnehmen127. Die deutschen staatlichen Stellen wären aber gezwungen, selbst zu entscheiden, mit welchen muslimischen Gemeinschaften sie engere Kontakte pflegen und für sie Religionsunterricht anbieten wollen128. Sie würden den Inhalt des Religionsunterrichts zwar nicht selbst bestimmen, müssten aber auswählen, welche Programme sie übernähmen. Das Ganze liefe auf eine staatliche Bestimmung von Religionsinhalten, insbesondere von Inhalten des Religionsunterrichts hinaus129. Dies wäre genau das Gegenteil dessen, was ein religionsneutraler Staat leisten kann und soll130. Es entspräche im Übrigen ziemlich genau dem, was derzeit im Fach Islamkunde (oder einem anderen Versuch eines isla-

124 BVerwGE 123, 49 (70); anders Stefan Korioth, Islamischer Religionsunterricht und Art. 7 Abs. 3 GG, in: Wolfgang Bock (Hrsg.), Islamischer Religionsunterricht 2006, S. 33 (48). 125 Josef Isensee, Die Zukunftsfähigkeit des deutschen Staatskirchenrechts, in: Dem Staate was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist, FS Listl, 1999, S. 67 (87). 126 Dazu weist Classen (Fn. 119), Nr. 492, darauf hin, dass es eine echte Teilnahmepflicht am Religionsunterricht nicht gebe. Das ist wegen der Abmeldemöglichkeit richtig, ein Anspruch auf Religionsunterricht kann aber nur einer hinreichend großen Gemeinschaft zustehen. 127 Nach BVerfGE 74, 244 (253 ff.) steht die Entscheidung über die Zulassung konfessionsfremder Kinder der Religionsgemeinschaft zu; ebenso schon BVerwGE 68, 16 (20). 128 Das hält Heckel (Fn. 122), S. 752, mit Recht für unmöglich; ausführlich zu diesen Problemen ders., Vom Religionskonflikt zur Ausgleichsordnung, 2007, S. 106 ff., dort auch zu inhaltlichen Fragen eine3s islamischen Religionsunterrichts. 129 Dieser Gesichtspunkt wird bei Classen (Fn. 119), Nr. 485 ff. zu wenig berücksichtigt, obwohl er an anderer Stelle (Nr. 500) selbst sagt, der Religionsunterricht dürfe nicht staatlich bestimmt sein. Das ist aber die notwendige Konsequenz, wenn die Konzeption des Unterrichts von Vertretern des nicht organisierten Islam entwickelt und vom Staat übernommen wird. 130 Dazu Isensee (Fn. 125), S. 87.

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mischen Religionsunterrichts, der aber so nicht genannt werden darf) praktiziert wird131. Dies alles zeigt: Die bisherige diffuse Organisation des Islam in Deutschland kann in das deutsche Verfassungsrecht nicht eingeordnet werden, jedenfalls nicht in einer Weise, die den Muslimen die Vorteile des Staatskirchenrechts sichert. Ohne mitgliedschaftliche Organisation, die alle Muslime oder wenigstens einen Großteil von ihnen in Deutschland in einer oder mehreren größeren Religionsgemeinschaften zusammenfasst, sind erhebliche Teile des deutschen Staatskirchenrechts auf den Islam nicht anwendbar. Das kann allerdings kein Grund sein, die einschlägigen Vorschriften aufzuheben oder – was näher läge – durch Interpretation so umzubiegen, dass sie ihren wesentlichen Inhalt verlieren und dann auch für Muslime passen. Auf längere Sicht wäre das wahrscheinlich weder der Achtung von Muslimen gegenüber deutschen kulturellen Überlieferungen noch der Verständigung zwischen Christen und Muslimen dienlich132. *** Eine stärker grundrechtliche Sicht der aus der Weimarer Reichsverfassung rezipierten Bestimmungen des Staatskirchenrechts lag von Anfang an in der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das Gericht hat das Grundrecht der Religionsfreiheit gestärkt und das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften aus Art. 137 Abs. 3 WRV praktisch wie ein Grundrecht behandelt. Tendenzen, die rezipierten Artikel aus der Weimarer Verfassung in der Religionsfreiheit des Art. 4 GG aufgehen zu lassen, hat das Gericht – vielleicht abgesehen von der Entscheidung zu den Zeugen Jehovas – nicht erkennen lassen. Das Bundesverfassungsgericht verdient in seiner Rechtsprechung zum Staatskirchenrecht nach wie vor Zustimmung. Das Staatskirchenrecht zugunsten einer Reduktion auf eine im Ansatz individualistisch verstandene Religionsfreiheit aufzugeben, besteht kein Anlass. Weder die große Zahl noch die Eigenart von in Europa neuen Religionen noch Grundsätze des Europarechts fordern den Verzicht auf wesentliche Teile der deutschen kulturellen und religiösen Tradition. Wird diese nicht in Frage gestellt, mag man über die bessere Bezeichnung der verfassungsrechtlichen Bestimmungen zum Verhältnis von Staat und Religion streiten.

131 Dazu Nina Coumont, Islam und Schule, in: Stefan Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (566 ff.), die aber die an sich verfassungswidrige islamische Unterweisung übergangsweise hinnehmen will. 132 Stern (Fn. 1), S. 891, meint, dass das Christentum gegenüber dem Islam zu zurückhaltend agiere. Isensee (Fn. 114), S. 321, weist gegenüber Forderungen auf Entgegenkommen in Deutschland auf die Verfolgung der Christen in islamischen Ländern hin. Die Interpretationshoheit über das deutsche Recht und sein Geltungsanspruch sind dabei kein Verhandlungsgegenstand (dazu Isensee, Fn. 114, S. 326).

Grundrechtsschutz der Staatlichkeit und der Staatsstrukturprinzipien? Von Michael Sachs I. Einleitung Der „Grundrechtsprägung des Verfassungsstaates“ hat Klaus Stern in seinem „Staatsrecht“ einen eigenen Paragraphen gewidmet,1 der auf verfassungsgeschichtlicher und verfassungsvergleichender Grundlage die Verbindungslinien von Verfassungsidee und Grundrechtsidee2 aufzeigt.3 Er hat vor diesem Hintergrund im Lichte der Einheit der Verfassung für ein „verfassungsstaatliches Grundrechtsverständnis“ (auch) im Rahmen des Grundgesetzes plädiert.4 Das Lissabon-Urteil scheint dies nun zu einem „grundrechtlichen Verfassungsverständnis“ umgekehrt zu haben. Mit der Annahme, dass einzelne Bürger „auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG eine Verletzung des Demokratieprinzips, den Verlust der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips“ als Verletzung ihres in dieser Bestimmung garantierten grundrechtsgleichen Rechts mit der Verfassungsbeschwerde rügen können,5 hat es nämlich die angesprochenen Verfassungsgrundsätze zu „einklagbaren“ Bestandteilen der individuellen Grundrechtssphäre erklärt. Die folgenden Überlegungen wollen der grundsätzlichen Berechtigung dieses Ansatzes (II.) und einigen mit seiner Durchführung verbundenen Einzelfragen nachgehen (III.).

1 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 173 ff. 2 Vgl. schon Klaus Stern, Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modernen Verfassung, FS Eichenberger, 1982, S. 197 ff. 3 Dazu auch Klaus Stern, § 108 Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HStR V, 1992, § 108 Rn. 30 ff. 4 Stern (Fn. 1), S. 202, 206 ff. 5 BVerfGE 123, 267 (328 und ff.). Das Urteil des Zweiten Senats vom 7. September 2011, – 2 BvR 987/10 u. a., Rn. 96 ff., 101, zit. nach www.bverfg.de, das diesen Ansatz für die nationale Haushaltsautonomie weiterführt, konnte nicht mehr berücksichtigt werden.

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II. Zur grundsätzlichen Problematik Die Verfassungsbeschwerde ist im Ausgangspunkt keine Popularklage, kein Rechtsbehelf, um die Einhaltung objektiver Verfassungsgrundsätze als solcher sicherzustellen; sie dient vielmehr jedenfalls primär der Durchsetzung individueller Grundrechtsberechtigungen, durchaus auch mittelbar durch einen Edukationseffekt für vergleichbare Fälle. Weiter gehend wird die Verfassungsbeschwerde seit langem auch als ein Mittel des Schutzes der Verfassung durch den Bürger selbst verstanden,6 wird ihr die Funktion zugesprochen, auch das objektive Verfassungsrecht zu wahren.7 Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts8 ist in diesem Zusammenhang ausweislich der Vielzahl erhobener Verfassungsbeschwerden in hohem Maße geglückt. Doch wird der Schutz des (auch: nur) objektiven Verfassungsrechts grundsätzlich9 im Rahmen der Prüfung individueller Grundrechtsverletzungen verwirklicht, für den zentral bedeutsamen abwehrrechtlichen Kontext schon dadurch, dass normative Grundrechtsbeeinträchtigungen des einzelnen Beschwerdeführers nur gerechtfertigt werden können, wenn sie in jeder Hinsicht verfassungsgemäß sind.10 Ob Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG im Kontext des status activus eine ähnliche Rolle spielen kann, wie sie das Elfes-Urteil für Art. 2 Abs. 1 GG bei den Abwehrrechten begründet hat, ist fraglich. Zwar eröffnet das Lissabon-Urteil an das Maastricht-Urteil anknüpfend über das grundrechtsgleiche Wahlrecht die Rüge der Verletzung einiger Verfassungsprinzipien; deren Rückkopplung zu Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ist aber jedenfalls jenseits des „grundlegenden demokratischen Gehalt(s) dieses Rechts“11 nicht mit der Selbstverständlichkeit möglich, wie es bei der Einhaltung aller verfassungsmäßigen Bedingungen für die Rechtfertigung einer normativen Einschränkung von Abwehrrechten der Fall ist. Denn diese knüpft ja stets daran an, dass ein in seinem Umfang vorgegebener grundrechtli6 Klaus Stern, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 93 (1982) Rn. 412; auch ders. (Fn. 1), Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 191 f., Bd. II, S. 1022. 7 Stern (Fn. 1), Bd. III/2, 1994, S. 1290 f. 8 So der Titel der Schrift von Johannes Masing, 1996, die insbes. auf europarechtliche Impulse zum Verständnis des subjektiven öffentlichen Rechts Bezug nimmt. 9 Für eine unabhängig davon von Amts wegen vorgenommene Prüfung anderer Verfassungsverletzungen schon BVerfGE 1, 267 (271); Stern (Fn. 6), BK, Art. 93 Rn. 709 ff. 10 So in der Rechtsprechung zuerst das Elfes-Urteil, BVerfGE 6, 32 (36 ff.), für die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung nach Art. 2 Abs. 1 GG. Zur Geltung für alle Grundrechte s. nur Michael Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl., 2011, vor Art. 1 Rn. 135 m.w. N.; Stern (Fn. 1), Bd. IV/1, 2006, S. 922, bevorzugt (wie bereits bei seiner mündlichen Prüfung des Verf. in dessen erstem Staatsexamen 1973) im Hinblick auf andere Verfassungsverstöße die Anwendung von Art. 2 Abs. 1 GG neben dem berührten Spezialfreiheitsrecht – dieser Dissens mit dem Jubilar besteht seitdem fort. 11 So BVerfGE 89, 155 (171 f.); dem folgend BVerfGE 123, 267 (330); in der „Tradition des Elfes-Urteils“ sieht diese Entscheidungen zustimmend Holger Grefrath, AöR 135 (2010), 221 (245).

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cher Schutzgegenstand, insbes. eine Freiheit, ganz bestimmter Grundrechtsträger durch einen Akt der öffentlichen Gewalt beeinträchtigt wird; diese Beeinträchtigung der individuellen abwehrrechtlichen Grundrechtssphäre des jeweiligen Beschwerdeführers bietet die Grundlage für den damit in seiner Reichweite feststehenden subjektiven Grundrechtsschutz. Demgegenüber muss die Frage, ob der „individualisierte Gewährleistungsinhalt“ 12 des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG weitere verfassungsrechtliche Gebote zusätzlich verbürgt und welche dies ggf. sind, ohne Bezug auf eine spezifische, individuelle Betroffenheit unterschiedslos für alle überhaupt zum Bundestag Wahlberechtigten beantwortet werden. Zudem fehlt es an dem Eingriffsakt der öffentlichen Gewalt als dem Objekt weiterer verfassungsrechtlicher Anforderungen; diese können allenfalls auf die Wirksamkeit des aus der Bundestagswahl, an der der einzelne Wahlberechtigte nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG teilnehmen kann, hervorgehenden Verfassungsorgans, des Deutschen Bundestags, bezogen werden. Die damit notwendige Subjektivierung objektiver Verfassungsgrundsätze13 korrespondiert in bemerkenswerter Weise mit der terminologisch problematischen Figur objektivrechtlicher Grundrechtsgehalte;14 wo diese aber problemlos ihre Basis in den jeder subjektiven Berechtigung zugrunde liegenden objektiven Verfassungsrechtssätzen finden,15 müssten umgekehrt die Voraussetzungen für die Begründung auch subjektiver Rechte aus einer Verfassungsnorm erfüllt sein, die mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der sog. Schutznormlehre zu entnehmen sind: Neben der objektiv begünstigenden Wirkung für einen Normadressaten ist danach erforderlich, dass die Norm auf diese Begünstigungswirkung abzielt und auch die Möglichkeit intendiert, sie durchzusetzen.16 Das Lissabon-Urteil versäumt es, seine subjektiv-rechtlichen Erweiterungen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG an diesen Kriterien zu messen, es stellt auch keine alternativ oder kumulativ anzuwendenden sonstigen Maßstäbe auf, sondern begnügt sich weitgehend damit, seine Ergebnisse zu behaupten. Dies befriedigt umso weniger, als sich die Bedeutung der postulierten subjektiv-grundrechtlichen Verfassungsgehalte praktisch darin erschöpft, erweiterte Entscheidungsbefugnisse für das Bundesverfassungsgericht selbst zu begründen.17 12

BVerfGE 123, 267 (330). Vgl. für Art. 140 GG/Art. 139 WRV im Kontext mit Art. 4 Abs. 1, 2 GG ähnlich, aber mit deutlich stärkerem Bemühen um dogmatische Rechtfertigung das Adventsurteil BVerfGE 125, 39 (77 ff.), und dazu Stern (Fn. 1), Bd. IV/2, 2011, S. 1337 ff. 14 Zu diesen nur Stern (Fn. 1), Bd. III/1, S. 888 ff. 15 s. nur Stern (Fn. 1), Bd. III/1, S. 908 ff. 16 Vgl. im grundrechtlichen Kontext näher Sachs, in: Stern (Fn. 1), Bd. III/1, S. 508 ff., 543 ff.; ders. (Fn. 10), vor Art. 1 Rn. 39 ff. 17 Kritisch dazu etwa Claus Dieter Classen, JZ 2009, 881; Kathrin Dingemann, ZEuS 2009, 491 (498 f.); Martin Nettesheim, NJW 2009, 2867 (2869) („gänzlich ver13

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III. Einzelfragen Das Unbehagen im Grundsätzlichen wird durch die Behandlung der Einzelfragen im Lissabon-Urteil nicht ausgeräumt. Die Annahme eines „grundlegenden demokratischen Gehalt(s)“ des Art. 38 GG18 ist zwar im Ausgangspunkt noch zu akzeptieren, nicht aber in den näheren Schlussfolgerungen (unten 1.); die Erweiterung auf den Erhalt der Eigenstaatlichkeit (unten 2.) kann überhaupt nicht überzeugen. Immerhin scheint es zutreffend, Art. 20 Abs. 4 GG nicht zu einem subjektiven Individualgrundrecht auf Bewahrung der verfassungsmäßigen Ordnung umzufunktionieren (unten 3.). 1. Kein Grundrecht auf Bewahrung der Demokratie aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG

a) Keine Subjektivierung des Demokratieprinzips Der Ausgangspunkt des Maastricht-Urteils wird zwar recht verworren präsentiert,19 ist aber in der Sache ebenso zutreffend wie lapidar. Es wird festgestellt, wunderlich“); ders., EuR 2010 Beih. 1, S. 101 (122); Christoph Schönberger, Der Staat 48 (2009), 535 (539 ff.) („uferlose Entgrenzung“); ders., JZ 2010, 1160 ff.; Jürgen Schwarze, EuR 2010, 108 (114) („Popularklage“); Martin Selmayr, ZEuS 2009, 637 (668 ff.); Jörg Philipp Terhechte, EuZW 2009, 724 (726); nach Matthias Jestaedt, Der Staat 48 (2009), 497 (503 f. m. Fn. 32), geht das Bundesverfassungsgericht „bis zur Grenze der Selbstpersiflage“, weil es den „Fall partout in der Sache entscheiden“ wollte; Matthias Ruffert, DVBl. 2009, 1197 (1206), sieht die „verfassungsrechtliche Vertretbarkeitsgrenze . . . überschritten“; Oliver Suhr, ZEuS 2009, 687 (714), die Grenzen der Verfassungsbeschwerde „pulverisiert“; ablehnend auch Herbert Bethge, in: Maunz u. a., Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Stand August 2010, § 90 (2009), Rn. 45, 112; skeptisch ferner Christian Callies, ZEuS 2009, 559 (573); ders., Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, 2010, S. 238 ff.; Vera Fiebelkorn/Norbert Janz, NWVBl. 2009, 449 (454); Roland Lhotta/Jörn Ketelhut, ZParl 2009, 864 (877 f.); Eckhard Pache, EuGRZ 2009, 285 (296); Christian Tomuschat, GLJ 10 (2009), 1259; Albrecht Weber, JZ 2010, 157 (158); zustimmend etwa Dieter Grimm, Der Staat 48 (2009), 475 (480 f.); Dietrich Murswiek, JZ 2010, 702 ff.; Klaus Ferdinand Gärditz/ Christian Hillgruber JZ 2009, 872, die allerdings einen „Kunstgriff“ feststellen; im Ergebnis auch Josef Isensee, ZRP 2010, 33 f., wonach die Praxis alles für zulässig erklärt, „was die Richter zur Sachentscheidung verlockt“, auch wenn es „Verfassungsdogmatiker . . . verstört“. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, dass BVerfGE 123, 267 (354 f.), für die beanspruchte Ultra-vires- und Identitätskontrolle nicht nur das Arsenal verfügbarer Verfahrensarten als tauglich reklamiert, sondern zusätzlich die Schaffung eines neuen Verfahrens durch den Gesetzgeber in Betracht zieht. 18 BVerfGE 89, 155 (171 f.); 97, 350 (368 f.); 123, 267 (330); zustimmend etwa Johannes Dietlein, in: Stern (Fn. 1), Bd. IV/2, S. 180. 19 Zunächst soll Art. 38 Abs. 1 und 2 GG „das subjektive Recht, an der Wahl der Abgeordneten . . . teilzunehmen“, gewährleisten, dann „nicht nur“ verbürgen, „daß dem Bürger das Wahlrecht zum deutschen Bundestag zusteht . . .“, sondern sich „auch auf den grundlegenden demokratischen Gehalt dieses Rechts“ erstrecken, womit wiederum „das subjektive Recht, an der Wahl des Deutschen Bundestags teilzunehmen“ gewährleistet sein soll (BVerfGE 89, 155 [171]); erst nach diesen zirkulären Wendungen

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dass der Bürger das Recht hat, durch die Teilnahme an der Bundestagswahl „an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluß zu nehmen.“20 Nicht mehr so selbstverständlich knüpft daran die Annahme an, dass es „den Sachbereich, auf den der demokratische Gehalt des Art. 38 GG sich bezieht,“ berühre, wenn der Deutsche Bundestag „Aufgaben und Befugnisse . . ., insbesondere zur Gesetzgebung und zur Wahl und Kontrolle anderer Träger von Staatsgewalt“ verliert.21 In der Tat ist nicht zu leugnen, dass das Wahlrecht zum Bundestag an Bedeutung verliert, wenn das Parlament Aufgaben und Befugnisse einbüßt, dass es dementsprechend im Extremfall des völligen Kompetenzverlusts des Bundestags zu einem nudum ius werden würde. Eine derartige Entwicklung (oder eine Annäherung daran) mag bei unverändertem Fortbestand des Art. 38 GG als verfassungswidrig erscheinen; dass daraus aber ein subjektives Recht des Wahlberechtigten folgt, dass eine solche Entwicklung unterbleibt, wäre zu begründen gewesen.22 Dies gilt erst recht dann, wenn die Möglichkeit von Verfassungsänderungen mitberücksichtigt wird; auch wenn eine Änderung des Grundgesetzes zur Abschaffung des Bundestagswahlrechts Grundsätze des Art. 20 GG berührt und damit gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstößt,23 bedeutet dies doch schon objektivrechtlich nicht, dass die an die verfassungsunterworfene Staatsgewalt adressierte grundrechtsgleiche Bestimmung des Art. 38 GG zum Maßstab für Verfassungs-

kommt der Ausgriff auf Weiterungen, dazu im Text. Für Kritik an der Konstruktion des Maastricht-Urteils etwa schon Christian Tomuschat, EuGRZ 1993, 489 f.; ausführlich Ulrich M. Gassner, Der Staat, Bd. 34 (1995), 429 ff.; auch Juliane Kokott, DVBl. 1996, 937 (946); ferner etwa Elmar Brok/Martin Selmayr, EuZW 2008, 487 (488 f.) („Kunstgriff ,Demokratierüge‘ “); Kathrin Dingemann, ZEuS 2009, 491 (497 f.); HansHeinrich Trute, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 4./5. Aufl., 2001, Art. 38, Rn. 17; Siegfried Magiera, in: Sachs (Fn. 10), Art. 38, Rn. 104; i. E. allerdings zustimmend Hans-Joachim Cremer, NJ 1005, 5 ff. 20 BVerfGE 89, 155 (171 f.). BVerfGE 97, 350 (368), übernimmt dies sachlich unverändert; BVerfGE 123, 267 (330), erhebt den Einfluss noch zum „dirigierende(n)“ und begründet das damit, dass bei der Wahl „zwischen konkurrierenden Kandidaten und Parteien . . . mit unterschiedlichen politischen Vorschlägen und Konzepten“ ausgewählt werden könne. 21 BVerfGE 89, 155 (172), spricht insoweit davon, dass der Bundestag Befugnisse pp. „aufgebe“, als wäre er zur Disposition über dieselben befugt; tatsächlich ging es um Art. 23 GG und damit um die Übertragung von Hoheitsrechten des Bundes durch Zustimmungsgesetz. 22 Vgl. demgegenüber vorsichtig BVerfGE 13, 46 (53), nur für die Möglichkeit, aus Art. 38 GG ein „subjektives Recht (zu folgern), daß fällige Wahlen auch durchgeführt werden.“ Ausdrücklich gegen ein Recht des Bürgers insbes. aus Art. 38 GG darauf, dass der Bundestag nicht unzulässigerweise vorzeitig aufgelöst wird, BVerfGE 62, 397 (399). 23 Vgl. zur Ewigkeitsgarantie im Hinblick auf das Bundestagswahlrecht nur Sachs (Fn. 10), Art. 79 Rn. 69 f.

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änderungen geworden wäre, geschweige denn, dass dem auch noch ein auf dieser Ebene angesiedelter Unterlassungsanspruch entspräche. Demgegenüber formuliert das Bundesverfassungsgericht seit dem MaastrichtUrteil so: „Art. 38 GG schließt es im Anwendungsbereich des Art. 23 GG aus, die durch die Wahl bewirkte Legitimation von Staatsgewalt und Einflußnahme auf deren Ausübung durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip, soweit es Art. 79 Abs. 3 i.V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt, verletzt wird.“ 24 Danach drängt sich die Frage auf, wieso der hier zunächst als objektive Regel postulierte Ausschluss der „Entleerung der Legitimation“ aus Art. 38 GG folgen soll, obwohl sich der Maßstab doch ersichtlich aus „Art. 79 Abs. 3 i.V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG“ ergibt;25 Art. 38 GG kann dem auf dieser Ebene nichts hinzufügen, damit auch schon objektivrechtlich keine Grundlage für eine subjektive Berechtigung bieten, die – wenn überhaupt – aus Art. 79 Abs. 3, Art. 20 Abs. 2, 3 und hier Art. 23 GG selbst hergeleitet werden müsste. Auf dieser Ebene aber kennt das Grundgesetz, vorbehaltlich des Art. 20 Abs. 4 GG (unten 4.), keine individuellen Berechtigungen; Art. 38 GG kann, so handlich er zur Eröffnung der Verfassungsbeschwerde auch daherkommt,26 dieses offenbar so empfundene Defizit von vornherein nicht ausgleichen. Die gegenteilige Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts überrascht umso mehr, als im Hinblick auf den Vertrag von Lissabon zugleich mit den Verfassungsbeschwerden auch Organstreitverfahren zu entscheiden waren,27 insbesondere eines, mit dem sich die antragstellende Fraktion in Prozessstandschaft für

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BVerfGE 89, 155 (172); fast genau übereinstimmend BVerfGE 97, 350 (368 f.). In BVerfGE 123, 267 (330), wird dies verundeutlicht, indem „das Demokratieprinzip“ in dem sonst sachlich unveränderten Satz pauschal angesprochen wird, ohne Hinweis auf die allerdings vorher durchaus erwähnte Bestimmung seiner Reichweite durch Art. 79 Abs. 3 und Art. 20 GG. 26 Insoweit sei an BVerfGE 108, 251 (266 ff.), erinnert, wo das freie Mandat des Abgeordneten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG (i.V. m. Art. 47 GG) trotz der organschaftlichen Qualität des damit begründeten Status als Grundlage einer Verfassungsbeschwerde herhalten musste, weil Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG von u. a. in Art. 38 enthaltenen Rechten spricht; eine solche Verfremdung der Verfassungsbeschwerde, die im nicht auf Lückenlosigkeit angelegten System des Verfassungsrechtsschutzes auch nicht zur Lückenschließung zulässig sein kann, wäre bei übereinstimmender Betroffenheit eines Landtagsabgeordneten, auf den Art. 38 GG nicht passt, sicher (zu recht) nicht in Erwägung gezogen worden. 27 Daneben war über den Antrag eines Abgeordneten zu entscheiden, der insbesondere darauf gestützt war, er werde durch die demokratiewidrige Verkürzung der Befugnisse des Bundestages in seinen organschaftlichen Rechten verletzt (BVerfGE 123, 267 [316 f.]); insoweit sah das Bundesverfassungsgericht wegen der Möglichkeit, mit der Verfassungsbeschwerde „alle aus Art. 38 Abs. 1 GG abzuleitenden Rechte geltend zu machen, auf deren Verletzung der Antrag im Organstreitverfahren gestützt wird“ (dazu allgemein Fn. 26), daneben für einen Organstreit „kein eigenständiges statusspezifisches Rechtsschutzinteresse“ (BVerfGE 123, 167 [337]). 25

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den Deutschen Bundestag dagegen wehren wollte, dass Letzterem zu Gunsten der EU zu viele demokratische Entscheidungsbefugnisse entzogen würden. Das damit zur Diskussion gestellte Recht des Parlaments an seinen eigenen, durch das Demokratieprinzip verfassungsänderungsfest gestellten Aufgaben und Befugnissen, wird durchaus zutreffend mit größter Selbstverständlichkeit negiert: „Das in Art. 20 Abs. 1 und 2 GG gewährleistete Demokratieprinzip ist, auch soweit es durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärt wird, kein Recht des Bundestages.“ 28 Dies hätte Anlass geben müssen zu überlegen, warum dies im Hinblick auf ein Recht der Wahlberechtigten darauf, dass die Kompetenzen eben dieses Bundestags nicht dem Demokratieprinzip zuwider verkürzt werden dürfen, anders sein sollte. Die wahre Bedeutung der Konstruktion eines weitreichenden „grundlegenden demokratischen Gehalts“ von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG spricht das Lissabon-Urteil in aller wünschenswerten Deutlichkeit aus. Hält es im Hinblick auf die Rüge der Aushöhlung der Bundestagskompetenzen noch an dem überkommenen Ansatz fest, wählt es für die – allerdings auch schon früher maßgeblich berücksichtigte29 – Frage der mangelnden demokratischen Legitimation der Europäischen Union, auf die sich der für die Bundestagswahl geltende Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nun wirklich nicht bezieht, jetzt die ganz offene Formulierung „des über Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG als subjektives öffentliches30 Recht rügefähig gemachten Demokratieprinzips.“ Die Entscheidung über Existenz und Reichweite grundgesetzlicher subjektiver Rechte liegt indes beim gegebenenfalls entsprechend zu ändernden Grundgesetz, nicht aber bei rechtsanwendenden Staatsorganen, zu denen als Gericht auch das Bundesverfassungsgericht zählt. b) Kein Grundrecht auf Erhalt bestimmter Gesetzgebungskompetenzen Eng oder gar untrennbar mit dem Postulat des Demokratie-Grundrechts verbunden ist der jedenfalls in den Konsequenzen dann doch dezidiert weitergehende Gedanke, dass der an Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG angehängte Grundrechtsschutz sich auch darauf erstrecken soll, dass dem Bundestag bestimmte Gesetzgebungsmaterien nicht entzogen werden dürften. Schon die allerdings trotz Föderalismusreform bislang wenig praktische Möglichkeit, dass Gesetzgebungsmaterien auf die Länder zur Wahrnehmung durch deren Volksvertretungen (zurück-)verlagert werden können, ohne dass dies in irgendeiner Weise das Demokratieprinzip berühren würde, zeigt, dass das Grundgesetz keine demokratischen Reservatkompetenzen gerade des Parlaments der Bundesebene kennt. Wenn 28 BVerfGE 123, 267 (339). Claus Dieter Classen, JZ 2009, 881, ist über den Kontrast zur Zulassung der Verfassungsbeschwerde mit Recht „erstaunt“. 29 BVerfGE 89, 155 (182 ff.). 30 Zu ergänzen wäre im Kontext der Verfassungsbeschwerde: grundrechtsgleiches.

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Kompetenzverluste in Richtung Europäische Union demgegenüber demokratiebezogenen Einwänden begegnen, können diese nur in demokratischen Defiziten der europäischen Ebene [unten c)] begründet sein oder aus der Verknüpfung von Demokratie mit Sicherung der souveränen Einzelstaatlichkeit hergeleitet werden (unten 2.). Dementsprechend ist die Abgrenzung der nationalstaatlich demokratischen Heiligtümer, die das Lissabon-Urteil „als besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit“ qualifiziert,31 nicht mehr von entscheidender Bedeutung. Leuchtet das Postulat ausreichender Spielräume bei Einnahmen und Ausgaben noch unmittelbar ein,32 mag man fragen, ob es jenseits eines in der gesamten Europäischen Union nachvollziehbaren strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes wirklich die Notwendigkeit gibt, auf nationaler Ebene demokratisch entwickelte Schrullen (wie etwa die Strafbarkeit des Geschwisterinzests)33 zu pflegen oder europaweit für sinnvoll gehaltene Erweiterungen dem deutschen Gesetzgebungsverfahren vorzubehalten.34 Die Angst vor dem fremden Recht, die schon im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehl so augenfällig hervortrat,35 ist hier als Hintergrund nur zu deutlich. Dass der aus dem Grundgesetz nur überaus fragil zu begründende „Parlamentsvorbehalt“ für den Einsatz der deutschen Streitkräfte36 eine „ähnlich ausgeprägte Grenze“ begründen soll, wird darauf gestützt, dass das „Friedens- und Demokratiegebot(s)“ der Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG insoweit vorgehe – ein Vorrang, der seinerseits ohne Begründung bleibt.37 Das geforderte nationale Reservat für kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen schließlich zeigt in aller Deutlichkeit die Unhaltbarkeit des Rückgriffs auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG auf; denn mit Ausnahme des hier einbezogenen Familienrechts sind mit Schule, Bildung, Medien, Religion Themen angesprochen, die im Kern in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen, so dass sie kein Gegenstand der demokratischen Selbstbestimmung des Bundestages sein können.

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BVerfGE 123, 267 (359 und ff.). Zur subjektiv-rechtlich besonders zugeordneten sozialstaatlichen Gestaltung s. im nachfolgenden Text. 33 BVerfGE 120, 224 ff.; freilich zeigt der Rechtsvergleich sogar hier auf, dass die Strafbarkeit keineswegs etwas für die deutsche Demokratie Spezifisches ist. 34 Speziell zur Reservatkompetenz für das Strafrecht skeptisch Frank Meyer, NStZ 2009, 657 ff.; Martin Böse, ZIS 2010, 76 (85 ff.); anders wohl Bernd Schünemann, ZIS 2009, 393 ff. 35 BVerfGE 113, 273 (293), wo der Schutz vor Entfernung „aus der . . . vertrauten Rechtsordnung“, vor „Aburteilung unter einem . . . fremden Rechtssystem“ bei „schwer durchschaubaren fremden Verhältnissen“ angesprochen sind. 36 Vgl. BVerfGE 90, 286 (381 ff.), unter maßgeblichem Rückgriff auf den kurzlebigen und längst nicht mehr geltenden Art. 59a GG; näher dazu insbes. mit Rücksicht auf die Behandlung des Bundesrates Michael Sachs, Festschrift Schenke, 2011. 37 BVerfGE 123, 267 (360 f.). 32

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Obwohl nach dem Lissabon-Urteil eine Verfassungsbeschwerde „im Hinblick auf die behauptete Verletzung des Sozialstaatsprinzips zulässig“ sein soll, spielt dieses Staatsstrukturprinzip beim Versuch der grundrechtlichen Subjektivierung von Staatsstrukturprinzipien38 nicht wirklich eine eigenständige Rolle. In der Sache ändert sich nichts, weil die Verletzung des Sozialstaatsprinzips nur „auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG“ gerügt werden kann; damit bleibt es bei der Subjektivierung (nur) des Demokratieprinzips, hier bezogen auf Entscheidungen im Anwendungsbereich des Sozialstaatsprinzips. Dementsprechend ist in diesem Zusammenhang explizit vom „unmittelbar rügefähigen“ Demokratieprinzip die Rede; dass dem Sozialstaatsprinzip insoweit keine selbständige Bedeutung zukommt, wird in der Begründetheit bestätigt, wo „die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen“ als vierter der fünf, im Übrigen im Hinblick auf die Zulässigkeit der Beschwerden nicht angesprochenen demokratie-sensiblen Bereiche aufgeführt wird.39 c) Kein Grundrecht auf hinreichende demokratische Legitimation der EU Das Lissabon-Urteil40 lässt die Verfassungsbeschwerden auch zu, soweit sie geltend machen, dass die Europäische Union nicht hinreichend demokratisch legitimiert sei; damit wird ein möglicherweise verletztes Grundrecht entsprechenden Inhalts anerkannt. Tatsächlich enthält das Grundgesetz in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die Vorgabe, das die in der Entwicklung befindliche Europäische Union u. a. „demokratischen . . . Grundsätzen“ verpflichtet sein muss. Den Versuch, diesen objektiven Rechtssatz als Grundlage eines korrespondierenden subjektiven (sowie grundrechtlichen bzw. grundrechtsgleichen) Rechts der Bürger zu qualifizieren, unternimmt das Bundesverfassungsgericht gar nicht erst. Stattdessen soll auch insoweit Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG die subjektivrechtliche Basis der Beschwerden bilden. Die Verknüpfung bleibt unklar: Die durch die europäische Integration schrittweise erweiterte Wechselbezüglichkeit zwischen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 und Art. 20 Abs. 1 und 2 GG bleibt ein Rätsel. Plausibel ist zwar, dass es „vor dem Hintergrund des . . . Demokratieprinzips . . . nicht ohne Bedeutung sein kann, ob die auf europäischer Ebene ausgeübte Hoheitsgewalt auch demokratisch legitimiert ist.“ Dass diese Bedeutsamkeit zu einem individuellen Grundrecht führen soll, ist damit aber keinesfalls belegt. Konkreter heißt es dazu, dass mit Rücksicht auf Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG „gerade auch ein legitimatorischer Zu38 BVerfGE 123, 267 (332 f.), nennt daneben das Rechtsstaatsprinzip und das Gewaltenteilungsprinzip, für die es keinen vergleichbaren Zusammenhang zu Art. 38 Abs. 1 GG aufgezeigt sieht; eine Einbeziehung auch dieser Prinzipien ist damit nicht schlechthin ausgeschlossen, sondern wird nur von einem entsprechenden, hinreichend bestimmten Vortrag abhängig gemacht. 39 BVerfGE 123, 267 (359, 362 f.). 40 Zu den folgenden Zitaten s. BVerfGE 123, 267 (331).

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sammenhang zwischen den Wahlberechtigten und der europäischen Hoheitsgewalt bestehen“ müsse, auf den der Bürger nach der Konzeption der Art. 38 Abs. 1, 2 i.V. mit Art. 20 Abs. 1, 2 GG „einen Anspruch“ hat. Damit wird in der Tat die Subjektivierung der Verpflichtung aus Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG behauptet; eine Begründung dafür ist indes nicht erkennbar.41 2. Kein Grundrecht auf den Erhalt der souveränen deutschen Eigenstaatlichkeit

Mit der Annahme der Beschwerdebefugnis gegen den durch das Zustimmungsgesetz möglicherweise bewirkten „Verlust der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland“ postuliert das Bundesverfassungsgericht ein grundgesetzliches Individualrecht auf den Erhalt der souveränen deutschen Eigenstaatlichkeit.42 Auch wenn die Verfassungsbeschwerde letztlich wieder auf den probaten Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zurückgreift, wird das subjektive Recht an sich doch zunächst unabhängig hiervon begründet. Als Anknüpfungspunkt dient Art. 146 GG, in dem das Urteil das „vorverfassungsrechtliche Recht, sich eine Verfassung zu geben, . . . bestätigt“ sieht; daneben findet sich die Aussage, dass Art. 146 GG „ein Teilhaberecht des wahlberechtigten Bürgers . . . schafft . . .“ Auch sollen die Wahlberechtigten „nach dem Grundgesetz das Recht (besitzen), über den Identitätswechsel der Bundesrepublik . . . durch Umbildung zu einem Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates . . . und die damit einhergehende Ablösung des Grundgesetzes ,in freier Entscheidung‘ zu befinden.“ Auch damit wird auf Art. 146 GG Bezug genommen, der von einer „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung“ beschlossenen neuen Verfassung spricht. Angesichts des maßgeblichen Rückgriffs des Bundesverfassungsgerichts auf Art. 146 GG und die „verfassunggebende Gewalt“ ist es überaus bedauerlich, dass nicht mit einem Wort darauf eingegangen wird, ob diese Vorschrift in ihrer durch den Einigungsvertrag gestalteten Neufassung überhaupt noch geeignet ist, die Ablösung des Grundgesetzes verfassungsrechtlich zu legalisieren.43 Während der ursprüngliche, im Rahmen der Verfassunggebung geschaffene Art. 146 GG jedenfalls mit Blick auf die angestrebte Wiedervereinigung Deutschlands die Geltung des Grundgesetzes zur Disposition der freien Entscheidung des deutschen Volkes gestellt hatte, muss bezweifelt werden, dass diese Möglichkeit 1949 auch für andere Konstellationen legal eröffnet worden war. War das aber ur41

Skeptisch insoweit auch Ulrich Everling, EuR 2010, 91 (102). Die Frage, inwieweit diese objektiv durch Art. 79 Abs. 3 GG ewigkeitsgarantiert ist, soll hier nicht diskutiert werden; dazu vorsichtig etwa Sachs (Fn. 10), Art. 79, Rn. 60 m.w. N. zum Streitstand. 43 s. zu dieser Streitfrage nur Peter Michael Huber, in: Sachs (Fn. 10), Art. 146, Rn. 3 ff. m.w. N. 42

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sprünglich nicht der Fall, konnte auch der Verfassungsänderungsgesetzgeber im Jahre 1990 dem Art. 146 GG keinen solchen Inhalt geben; denn es liegt jenseits der Wirkungsmöglichkeiten der pouvoirs constitués, die von der verfassunggebenden Gewalt aufgerichtete Verfassungsordnung als solche zur Disposition zu stellen.44 „Es ist allein die verfassunggebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt.“ Dies formuliert das Lissabon-Urteil in aller Klarheit, versäumt es aber, diese Einsicht auf die Frage zu beziehen, ob Art. 146 GG im Jahre 1990 ein neuer, von der Wiedervereinigungssituation unabhängiger Anwendungsbereich zugemessen werden konnte. Geht man davon aus, dass Art. 146 GG seine legalisierende Wirksamkeit verloren hat, nachdem er im Kontext der Wiedervereinigung Deutschlands nicht zu neuer Verfassunggebung genutzt worden ist, ist nunmehr neue Verfassunggebung im Rahmen des Grundgesetzes legal nicht mehr möglich. Damit würden auch die im Lissabon-Urteil postulierten Teilhaberechte der Wahlberechtigten aus Art. 146 GG ihre Grundlage verlieren; sie könnten auch nicht mehr gegen die Abschaffung der souveränen Staatlichkeit durch zu weitgehende Übertragung von Hoheitsgewalt auf europäische Instanzen herangezogen werden. Warum allerdings der Wegfall jeder Möglichkeit zur legalen Verfassungsablösung, der dem bestehenden Grundgesetz verfassungsrechtlich größere Stabilität verleiht, die Konsequenz haben sollte, den Schutz gegen eben diese nunmehr ausgeschlossene Abschaffung auszuschließen, ist nicht einsichtig. Aus dieser Perspektive erweist sich dann auch, dass ein etwaiges Recht auf Erhalt der Verfassungsordnung seine Basis jedenfalls nicht in dem Recht auf Teilhabe an einer etwa möglichen Abschaffungsentscheidung haben kann. Wie aus Art. 146 GG (unterstellt, dass er [weiterhin] eine Verfassungsablösung aus beliebigem Anlass grundgesetzlich legalisieren kann) ein subjektives Teilhaberecht des wahlberechtigten Bürgers folgen soll, erklärt das Lissabon-Urteil nicht.45 Es begnügt sich damit, die Absage an ein verfassungsbeschwerdefähiges Individualrecht aus dem Maastricht-Urteil46 zu bestätigen, um dann in Verbindung mit der Passepartout-Norm des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG doch eine Beschwerdebefugnis zu behaupten.47 Wie diese Verbindung geartet ist, warum der ganz dem verfassungsrechtlich konstituierten Bundestag gewidmete Art. 38 44 Vgl. etwa Alexis von Komorowski, Demokratieprinzip und Europäische Union, 2010, S. 1232, der mit Recht die Möglichkeit zu einer diesbezüglichen Verfassungsänderung verneint, allerdings den ursprünglichen Art. 146 GG vom Wiedervereinigungsbezug abkoppeln will. 45 Dazu kritisch auch Wolfram Cremer, Jura 2010, 296 (301); Daniel Halberstam/ Christoph Möllers, GLJ 10 (2009), 1241 (1256): „conceptually . . . absurd“. 46 Dort (BVerfGE 89, 155 [180 unten]) findet sich nur der Satz: „Auch Art. 146 GG begründet kein verfassungsbeschwerdefähiges Individualrecht (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG).“ 47 Hierzu BVerfGE 123, 267 (331 f.).

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Abs. 1 Satz 1 GG die Rügefähigkeit vorverfassungsrechtlicher Mitwirkungsbefugnisse, die Art. 146 GG allenfalls bestätigen, nicht aber schaffen kann, sollte begründen können, bleibt dunkel, zumal es nicht einmal um eine allenfalls vage für eine Analogie (zur Bundestagswahl) in Frage kommende Volksabstimmung ging.48 Die Ausführungen der Begründetheit zum Prüfungsmaßstab helfen nicht weiter: Dort wird allein das Wahlrecht des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG genannt; diesem wird dann die Eigenschaft zugesprochen, einen Anspruch u. a. „auf die Einhaltung des Demokratiegebots einschließlich der Achtung der verfassunggebenden Gewalt des Volkes“ zu begründen, was „in der hier gegebenen prozessualen Konstellation“ auch zu einer Prüfung von Eingriffen in die nach Art. 79 Abs. 3 GG unberührbaren Grundsätze führen soll. Das Lissabon-Urteil bleibt schließlich auch eine Begründung für seine die Argumentation mit dem Teilhaberecht an der verfassunggebenden Gewalt eröffnende Annahme schuldig, dass mit der Umbildung zu einem Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates eine Ablösung des Grundgesetzes nach Art. 146 einhergehen müsste49. Das damit verbundene Postulat, Art. 146 GG trete als (offenbar formell-kompetenzielle) äußerste Grenze der Mitwirkung Deutschlands an der europäischen Integration neben die materiellen Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG, genügt jedenfalls nicht. Die Argumentation zur Begründetheit der Verfassungsbeschwerde macht dann deutlich, dass das Urteil einen Verstoß gegen die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, insbesondere durch Aufgabe der als dort garantiert angesehenen souveränen Staatlichkeit Deutschlands, als einen Akt originärer Verfassunggebung, wie ihn Art. 146 GG anspricht, qualifiziert. Wörtlich heißt es: „Die Verletzung der in Art. 79 Abs. 3 GG festgelegten Verfassungsidentität ist aus der Sicht des Demokratieprinzips . . . zugleich ein Übergriff in die verfassunggebende Gewalt des Volkes.“ 50 Dies ist gleich in zweifacher Hinsicht unhaltbar: Zum einen ist die verfassunggebende Gewalt dem Grundgesetz wie jeder Verfassung vorgegeben; ihre Ausübung mag, wie es Art. 146 GG unternommen hat, im Rahmen einer bestehenden Verfassung legalisiert werden können, sie ist aber von derlei Begleiterscheinungen in ihrem originären Geltungsanspruch nicht abhängig. Zum andern und vor allem aber bleibt eine Änderung des Grundgesetzes – ob sie nun in den ausdrücklichen Formen des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG erfolgt oder nur inhaltlich nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG – bei einem Verstoß gegen materielle 48 Wie eine neue Verfassung „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen werden“ sollte, legt Art. 146 GG nicht weiter fest; er lässt damit Raum für alle Gestaltungsformen, die noch als freie Entscheidung des deutschen Volkes anerkannt werden können. Das dazu notwendig eine Volksabstimmung gehören müsste, ist nicht ersichtlich; dafür aber etwa Peter Michael Huber, in: Sachs (Fn. 10), Art. 146, Rn. 16a, allerdings nur für eine vorbereitende Stufe. 49 BVerfGE 123, 267 (331 f.). 50 BVerfGE 123, 267 (344, 340 ff.).

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Begrenzungen der Verfassungsänderung durch Art. 79 Abs. 3 doch nur eine verfassungswidrige Verfassungsänderung, mutiert nicht unter der Hand zur Verfassunggebung. Verfassunggebung ist vielmehr nur ein Akt mit originärem Geltungsanspruch, der losgelöst von allen Vorgaben einer noch bestehenden Verfassung aus sich eine neue Verfassung hervorbringt. Das Verhältnis zwischen gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoßenden verfassungsändernden Gesetzen und neuer Verfassunggebung ähnelt dem zwischen verfassungswidriger Bundesgesetzgebung und Verfassungsänderung. Es handelt sich jeweils um Vorgänge auf unterschiedlichen Geltungsebenen, wobei sich die Zugehörigkeit nach dem jeweils erhobenen Geltungsanspruch bestimmt. Wie nur ein auf Verfassungsänderung abzielendes Gesetz überhaupt Verfassungsrecht hervorbringt, nicht aber ein noch so verfassungswidriges Bundesgesetz, so ist kein noch so sehr gegen die Anforderungen des Art. 79 Abs. 3 GG verstoßendes, bloß verfassungsänderndes Gesetz Verfassunggebung, sondern nur ein Vorgang mit dem Ziel, originär eine neue Verfassung zu begründen. Der verfassungstheoretische Aufwand eines Rückgriffs auf die verfassunggebende Gewalt, die verstanden als eine solche des Volkes die Beziehung zum Demokratieprinzip und zum die Verfassungsbeschwerde eröffnenden Wahlrecht nach Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG suggerieren sollte, erweist sich damit als untauglich, um das angestrebte Ergebnis zu begründen, das auch das Lissabon-Urteil nicht unmittelbar ansteuern mochte, nämlich: ein mit der Verfassungsbeschwerde rügefähiges Individualrecht auf Beachtung des Art. 79 Abs. 3 GG durch die pouvoirs constitués, hier: den Bundestag und den Bundesrat. Es ist in der Tat schon nicht erkennbar, wie – vorbehaltlich des (unten 3.) noch zu behandelnden Art. 20 Abs. 4 GG – ein subjektives Individualrecht auf Einhaltung des Art. 79 Abs. 3 GG begründet werden sollte; auch wenn man auf höchster Abstraktionsstufe einen Individualbegünstigungszweck der Ewigkeitsgarantie zugunsten aller Deutschen annehmen wollte, fehlt doch jedenfalls die Intendiertheit als für den Einzelnen durchsetzbare Rechtsposition. Die Rügefähigkeit mit der Verfassungsbeschwerde scheidet ohnehin aus, wenn die abschließende Bedeutung des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG nicht vernachlässigt wird. 3. Kein Grundrecht auf die Bewahrung der verfassungsmäßigen Ordnung aus Art. 20 Abs. 4 GG

Anders als bei den bisher behandelten Ansätzen ist für Art. 20 Abs. 4 GG nicht anzuzweifeln, dass die Verfassungsbestimmung subjektive grundrechtsgleiche Rechte für alle Deutschen begründet, die nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG auch mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden können. Die Frage ist hier allerdings, worauf sich dieses subjektive Recht richtet. Primärer Inhalt des Rechts ist jedenfalls die Berechtigung zu sonst verbotenen Widerstandshandlungen, also ein durch die Zielrichtung des Widerstands bestimmter Ausschnitt der

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von andernfalls eingreifenden gesetzlichen Verboten insoweit freigestellten Verhaltensfreiheit. Verletzungen dieses Rechts sind möglich durch unabhängig vom Vorliegen der Widerstandssituation durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes angeordnete Verkürzungen der Widerstandsberechtigung einerseits, durch Sanktionierung durch das Widerstandsrecht gerechtfertigter Widerstandshandlungen andererseits; gegen solche Akte der öffentlichen Gewalt könnte Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung von Art. 20 Abs. 4 GG erhoben werden. a) Die Behandlung durch das Bundesverfassungsgericht Als weitergehender Inhalt wurde schon im Maastricht-Verfahren51 wie jetzt wieder im Lissabon-Verfahren52 von Beschwerdeführern postuliert, dass sich aus Art. 20 Abs. 4 GG bei Vorliegen der (sonstigen) Voraussetzungen für die Betätigung des Widerstandsrechts ein Anspruch auf „andere Abhilfe“ ergeben müsse, damit die andernfalls drohende Gefahr gewaltsamer Auseinandersetzungen abgewendet werden könne. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage, ob sich ein solches Rechts aus Art. 20 Abs. 4 GG herleiten lässt, nicht allgemein entschieden, sondern – bei Anerkennung jedenfalls partieller Möglichkeiten, die Verletzung von Art. 79 Abs. 3 GG über Art. 38 GG zu rügen – nur für das jeweilige Verfahren festgestellt, dass im Hinblick auf die Subsidiaritätsklausel, die durch das Verfassungsbeschwerdeverfahren selbst ausgefüllt werde, jedenfalls die Voraussetzungen des Widerstandsrechts nicht gegeben seien.53 Im Ergebnis spielt aus dieser Warte die Frage, ob (auch) Art. 20 Abs. 4 GG entsprechende Rügemöglichkeiten eröffnen könnte, keine entscheidende Rolle.54 b) Der Achtungsanspruch (Dietrich Murswiek) Die Begründbarkeit eines Rechts auf Bewahrung der verfassungsmäßigen Ordnung aus Art. 20 Abs. 4 GG erlangt allerdings eigenständige Bedeutung, wenn wie oben dargelegt entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts eine anderweitige Begründung eines solchen Rechts ausscheidet. Namentlich Dietrich Murswiek spricht sich dafür aus, dass in Art. 20 Abs. 4 GG ein subjektives „Recht (des Bürgers) auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns . . . stillschweigend mit normiert“ ist; er hält es für widersinnig, wenn der Bürger „von 51

BVerfGE 89, 155 (167 ff.). BVerfGE 123, 267 (313 f.). 53 BVerfGE 89, 155 (180); 123, 267 (333); insoweit zustimmend Kathrin Dingemann, ZEuS 2009, 491 (499). 54 Immerhin könnte die Reichweite des Rechts umfassender sein, namentlich mit Blick auf demokratieferne Elemente der Ewigkeitsgarantie, etwa solche der Bundesstaatlichkeit, aber auch der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung, für welche BVerfGE 123, 267 (333) allerdings nur annimmt, dass der Zusammenhang zu Art. 38 GG in concreto nicht hinreichend aufgezeigt sei. 52

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den Staatsorganen nicht verlangen könnte, wozu er sie mit Gewalt zwingen darf.“ Bei abweichendem Verständnis, meint er im Sinne eines argumentum ad absurdum, müsse Art. 20 Abs. 4 GG „als gewaltprovozierende Regelung im Widerspruch zur Staatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland“ qualifiziert werden. Er sieht diese „systematische Interpretation“ dadurch bestätigt, dass Art. 20 Abs. 4 GG mit der Verfassungsbeschwerde bewehrt ist, die aus seiner Sicht mit dem Ziel erhoben werden kann, den unabänderlichen Verfassungskern vor dem Bundesverfassungsgericht zu verteidigen.55 c) Kein Recht auf Bewahrung der verfassungsmäßigen Ordnung Die vorgestellten Thesen können nicht überzeugen.56 Zweifel richten sich schon gegen die Selbsteinstufung als systematische Auslegung, die am Ehesten auf das Verhältnis von Widerstandsrecht und rechtsstaatlichem Gewaltmonopol oder aber die Bewehrung mit der Verfassungsbeschwerde bezogen sein mag; im Rahmen einer Auslegung wären aber systematische Gesichtspunkte mit anderen, zumal Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Teleologie, in Beziehung zu setzen. Tatsächlich geht es bei dem Postulat eines anderen, in Art. 20 Abs. 4 GG nicht ausdrücklich angesprochenen Rechts wohl eher um das Füllen einer Regelungslücke jenseits der Möglichkeiten zur Auslegung des Wortlauts der Bestimmung, und zwar wohl im Sinne eines argumentum a maiore ad minus: Wenn der Bürger die Befugnis zur Gewalttätigkeit zur Bewahrung der verfassungsmäßigen Ordnung erhält, muss er als mindere Befugnis auch die Befugnis haben, das dazu notwendige Verhalten von denjenigen zu verlangen, die diese Ordnung beseitigen wollen. Dieser Schluss geht deshalb fehl, weil die Befugnis zum Widerstand nur für die Situation der nicht mehr anders abzuwendenden Gefährdung der Verfassungsordnung ausgesprochen wird, während der „Achtungsanspruch“ schon vorher durchgreifen soll – obwohl hier noch die unterschiedlichsten Vorkehrungen, die das Grundgesetz zum Schutz der Verfassung trifft, wirksam werden können, um die Gefahr zu bannen. Aus der Sonderbefugnis bei Versagen der regulären Selbstschutzmechanismen der Verfassungsordnung kann kein Schluss auf Berechtigungen gezogen werden, die im Normalzustand bestehen. Systematisch gesehen spricht die differenzierte Vielzahl von Regelungen, die das Grundgesetz zum Verfassungsschutz enthält oder zulässt, dagegen, ein ungeschriebenes subjektives Deutschenrecht auf Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung zu postulieren, das umfassend neben die besonders geregelten Befugnisse treten würde.

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Festschrift Fiedler, 2011, S. 251 (253, 254, 260). Abl. schon Christian Tomuschat, EuGRZ 1993, 489 (491); auch Kathrin Dingemann, ZEuS 2009, 491 (499). 56

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Bestünde ein Anspruch jedes Deutschen auf Achtung der Verfassungsordnung gegen alle Staatsorgane, wäre er nicht allein mit der Verfassungsbeschwerde bewehrt, sondern wäre als subjektives Recht gegen die öffentliche Gewalt nach Art. 19 Abs. 4 GG im Rechtsweg vor den zuständigen Fachgerichten geltend zu machen. Soweit sich der Anspruch gegen die von Murswiek zwar ausdrücklich, aber doch nur sehr am Rande berücksichtigten „Dritten“, also zumal natürliche oder juristische Privatpersonen, richtete, würde die rechtsstaatliche Justizgewährungspflicht Klagemöglichkeiten vor den ordentlichen Gerichten eröffnen. Um auch in diesen Fällen die öffentliche Gewalt einzubeziehen, wäre es konsequent, parallel zur Schutzpflichtendimension der Grundrechte auch hier neben der Pflicht der Staatsorgane zur Achtung der Verfassungsordnung die weitere zur Bewahrung derselben vor Angriffen Dritter anzuerkennen, womit auch insoweit der Rechtsweg und ggf. die Verfassungsbeschwerde wegen Untätigkeit eröffnet würde. Die prozessualen Konsequenzen der Annahme eines subjektiven Achtungsund Bewahrungsanspruchs können hier nur angedeutet werden: Die Möglichkeit, gegen ein die Verfassungsordnung gefährdendes Gesetz die Verfassungsbeschwerde zu erheben, würde die Begrenzung der Antragsteller im abstrakten Normenkontrollverfahren insoweit obsolet machen. Würden für die Verfassungsordnung zentrale Befugnisse von Bund oder Ländern bzw. oberster Bundesorgane in Frage gestellt, träte der Bürger mit seiner Verfassungsbeschwerde in Konkurrenz zu den Rechtsinhabern oder zugelassenen Prozessstandschaftern eröffneten Streitverfahren. Würden politische Parteien die Beseitigung der Verfassungsordnung betreiben, hätte der Bürger die Wahl, diese vor den ordentlichen Gerichten auf Unterlassung zu verklagen (wenn nicht das Parteienprivileg noch durchgreift) oder mit der Verfassungsbeschwerde gegen das Versäumen von Verbotsanträgen vorzugehen; bei sonstigen Vereinigungen müsste gegen diese selbst sowie gegen die untätig bleibenden Verbotsbehörden geklagt werden können. Untätigkeitsklagen gegen Verfassungsschutzbehörden, vielleicht auch Klageerzwingungsverfahren bei Verstößen gegen das politische Strafrecht würden ermöglicht. Derartige Konsequenzen sprechen wohl für sich. Das Grundgesetz will mit Art. 20 Abs. 4 GG nicht für alle Deutschen subjektive Rechte auf Achtung und Bewahrung der Verfassungsordnung mit allen dazugehörigen Verfahrensmöglichkeiten schaffen und damit das differenzierte Gefüge von dem Schutz der Verfassung dienenden Vorkehrungen unterschiedlichster Art aus den Angeln heben. Es vertraut vielmehr darauf, dass die vorhandenen Instrumente von den zuständigen Stellen genutzt werden, einschließlich der Möglichkeiten der Individuen, ihre Rechte und Grundrechte gegen mit dem Angriff auf die Verfassungsordnung verbundene Verletzungen zu verteidigen. Art. 20 Abs. 4 GG beschränkt sich demgegenüber, wie es der Wortlaut auch ausspricht, darauf, das subjektive Recht zum Widerstand zu begründen, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.

Zur ökonomischen Relevanz der Grundrechte in einer offenen Wirtschaftsverfassung Von Rolf Stober I. Zur Vernachlässigung der wirtschaftlichen Grundrechtskomponenten Klaus Stern hat sich vielfach mit grundrechtlichen Fragen auseinandergesetzt und dazu zahlreiche Publikationen vorgelegt. Erinnert sei nur an die jüngst erschienenen beiden Großbände über einzelne Grundrechte im Rahmen des vom Jubilar konzipierten Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland1 oder an den Aufsatz zur Schutzpflichtfunktion der Grundrechte2. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass auch die Klaus Stern zum 80. Geburtstag gewidmete Festschrift den grundrechtlichen Faden aufnimmt und unter dem Generaltitel „Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat“ steht. Aus dieser Perspektive befasst sich der nachfolgende Beitrag mit einem wirtschaftsverfassungsrechtlichen Ausschnitt: der ökonomischen Relevanz der Grundrechte in einer offenen Wirtschaftsverfassung. Die wirtschaftliche Bedeutung der Grundreche für den Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital liegt auf der Hand. Sie muss seit den bahnbrechenden Erkenntnissen von Adam Smith3 und David Ricardo4 nicht mehr begründet werden. Ihre Schlüsselfunktion spiegelt sich in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die von den Grundfreiheiten des Binnenmarktes flankiert wird. Insbesondere die EU-Charta ist eine Fundgrube klassischer und moderner Ausprägungen wirtschaftlicher Freiheiten und ihrer Schranken. Man denke nur an das in Art. 3 Abs. 2 lit. c EU-Charta niedergeschriebene Verbot, den menschlichen Körper und Teile davon als solche zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen oder an das in Art. 5 Abs. 3 EU-Charta enthaltene Verbot des Menschenhandels. Betrachtet man jedoch die staatsrechtliche und die wirtschaftsverfassungsrechtliche Literatur, dann fällt auf, dass spezielle grundrechtliche Betrach-

1 Stern unter Mitwirkung von Sachs und Dietlein, Die einzelnen Grundrechte, Bd. IV 1 und 2, 2011. 2 DÖV 2010, 241 ff. 3 Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations, 1776. 4 Ricardo, The Principles of Political Economy and Taxation, 1817; s. aus jüngerer Zeit Stober, Globales Wirtschaftsverwaltungsercht, 2001; Vollmöller, Die Globalisierung des öffentlichen Wirtschaftsrechts, 2001.

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tungen vor konzeptionellen Entwürfen und detaillierte Interpretationen zu einzelnen Ausformungen vor systematischen Grundlegungen im Sinne einer grundrechtlichen Zusammenschau stehen. So behandelt Band VIII des Handbuchs des Staatsrechts unter der Überschrift „Wirtschaft“ lediglich das Erwerbsstreben, die Freiheit des Berufs, die staatliche Berufsregelung und Wirtschaftslenkung, die berufliche Ausbildung, das Eigentum, das Erbrecht und die Koalitionsfreiheit. 5 Ähnlich verhält es sich mit dem wirtschaftsverfassungsrechtlichen Schrifttum6, das generell nur selektive Punkte aufgreift. II. Die Schlüsselfunktion ökonomischer Grundrechtsgehalte und das Schweigen des Grundgesetzes Diese reduzierte Sicht ist schon deshalb erstaunlich, weil es insbesondere bei offenen Wirtschaftsverfassungen und allgemeingehaltenen wirtschaftsrelevanten Aussagen des Unions- und Staatsrechts auf die Herausarbeitung der wirtschaftlichen Grundrechtspositionen und Grundrechtsschranken ankommt, die dem einzelnen Wirtschaftssubjekt in marktwirtschaftlich angelegten Rechtsordnungen subjektive Rechte einräumen und Grenzen aufzeigen. Denn das Grundgesetz widmet der Wirtschaftsordnung kein eigenes Kapitel. Die Bundesverfassung hat ferner kein bestimmtes Wirtschaftssystem ausdrücklich in Form eines Verfassungsprinzips oder Staatszieles festgeschrieben. Insofern stimmt das Grundgesetz etwa mit der Verfassungslage in der Schweiz und Österreich überein.7 Es unterscheidet sich hingegen von einigen jüngeren europäischen Verfassungen, die entweder ein Bekenntnis zum Staatsziel Marktwirtschaft ablegen oder die Grundsätze der Wirtschaftsordnung bestimmen (Art. 38 spanische Verfassung; Art. 80 ff. Portugiesische Verfassung). Jedenfalls in diesem Sinne ist die Bundesrepublik kein Wirtschaftsstaat8 und die Wirtschaftsverfassung keine Staatszielbestimmung. Zwar enthalten mehrere vor In-Kraft-Treten des Grundgesetzes ergangene Landesverfassungen der Weimarer Reichsverfassung weitgehend nachgebildete Abschnitte über das Wirtschaftsleben (s. etwa Art. 151 ff. BayVerf.; Art. 27 ff. HessVerf.; Art. 24 ff. NWVerf.) und mehrere Bundesländer haben das Konzept

5 s. Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts (HdBStR), 3. Aufl., Bd. VIII, §§ 169–175, 2010. 6 Badura, Wirtschaftsverfassungs und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 3. Aufl., 2008, S. 20 ff.; Frotscher/Kramer, Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht, 5. Aufl., 2008, §§ 4 ff. 7 s. näher Vallender/Richli/Griller, in: Stober (Hrsg.), Wirtschaftsverwaltungsrecht in Europa, 1993, S. 3 ff.; Vallender/Hettich/Lehne, Wirtschaftsfreiheit und begrenzte Staatsverantwortung, 4. Aufl., § 4; Gygi, Wirtschaftsverfassungsrecht, 2. Aufl., 1997; Raschauer, in: ders. (Hrsg.), Grundriss des österreichischen Wirtschaftsrechts, 1998, S. 46 ff. 8 s. zu diesem Begriff Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht I, 2. Aufl., Vorwort und S. 7.

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der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft in ihre Verfassung aufgenommen (Art. 42 Abs. 2 BbgVerf.; Art. 51 RPVerf.; Art. 38 ThürVerf.). Diese und ähnliche Bestimmungen sind jedoch wegen der in Art. 72 ff. GG festgelegten Kompetenzordnung im Hinblick auf Art. 31 GG weitgehend ohne praktische Bedeutung. Auf Grund dieser grammatikalischen, verfassungssystematischen und rechtsvergleichenden Verfassungslage ist zweifelhaft, ob das Grundgesetz überhaupt eine bzw. eine bestimmte Wirtschaftsverfassung enthält bzw. nach welchen rechtlichen Grundsätzen das Wirtschaftsleben zu gestalten ist. Diese Frage wird seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland unter dem Stichwort „Streit um die Wirtschaftsverfassung“ kontrovers diskutiert. III. Zur Offenheit der deutschen Wirtschaftsverfassung 1. Verfassungsrechtlicher und verfassungsgerichtlicher Befund

Verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt der Befunderhebung ist die Feststellung, an welchen Stellen im Grundgesetz der Begriff und der Sachbereich Wirtschaft vorkommen. Neben der zentralen Kompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG für das Recht der Wirtschaft sind in diesem Zuständigkeits- und Aufgabenverteilungszusammenhang ferner u. a. folgende Vorschriften zu nennen: Überführung von Grund und Boden und Produktionsmittel in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG), Verhütung des Missbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 16 GG), Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung sowie die Sicherung der Ernährung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 17 GG), Lebens- und Futtermittelrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG), Abfallwirtschaftsrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 GG), Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur (Art. 91a Abs. 1 Nr. 1 GG) und gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht (Art. 109 Abs. 2 GG). Hingegen finden sich in dem Abschnitt „Die Grundrechte“ nur rudimentäre Hinweise auf ökonomische Freiheiten und Schranken.9 Art. 9 Abs. 3 GG spricht von Wirtschaftsbedingungen und Art. 15 GG gestattet die Überführung von Produktionsmitteln in Formen der Gemeinwirtschaft, eine Bestimmung die im Rahmen der Finanzkrise plötzlich Aktualität erlangte. Das Bundesverfassungsgericht argumentiert, das Grundgesetz sei in der Frage der Wirtschaftsordnung sehr zurückhaltend. Es lasse die Frage der Wirtschaftsverfassung bewusst offen, um freier Auseinandersetzung, Entscheidung und Gestaltung Raum zu lassen. Das Grundgesetz binde den Gesetzgeber nicht an eine bestimmte wirtschaftspolitische Auffassung. Vor allem garantiere es nicht die soziale Marktwirtschaft oder die Beibehaltung einer bestimmten anderen Wirtschaftspolitik. Die gegenwärtige Wirtschaftsordnung sei lediglich eine nach dem 9

s. näher Badura, in: Merten/Papier (Hrsg.), HdBGR II, § 29 A.

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Grundgesetz mögliche, nicht aber die allein mögliche. Sie beruhe auf einer vom Willen des Gesetzgebers getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden könne. Das in der Verfassungsurkunde zu Tage tretende Element relativer Offenheit trage dem geschichtlichen Wandel Rechnung, der in besonderem Maße das wirtschaftliche Leben kennzeichne.10 2. Staatliche Gestaltungsfreiheit und Verantwortung für die Wirtschaft

Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts entspricht der vorgenommenen verfassungsrechtlichen Analyse und den allgemeinen Maßstäben der Verfassungsinterpretation. Markt und Wettbewerb sind nicht als solche grundrechtlich institutionell abgesichert. Die Verfassung legt allenfalls das Gerüst für die Voraussetzungen eines Marktes. Die Grundrechte verhindern zwar die völlige Aufhebung eines Marktes. Der Staat ist jedoch nicht auf marktkonforme Steuerung beschränkt.11.Einerseits bedeutet die wirtschaftsverfassungsrechtliche Offenheit des Grundgesetzes, dass die Grenzen zwischen Eigen-, Mit- und Staatsverantwortung im Wirtschaftsbereich nicht klar gezogen sind. Andererseits darf die oft fälschlicherweise so bezeichnete „Neutralität“ der Wirtschaftsverfassung nicht im Sinne von Nichteinmischung in die Wirtschaft oder als Staatsfreiheit der Wirtschaft missverstanden werden. Präzise Grenzen lassen sich allerdings nicht ziehen. Wirtschaftspolitisch war und ist die Offenheit des Grundgesetzes im wirtschaftlichen Bereich eine große Chance. Angesichts der Dynamik, Differenziertheit, Komplexität und Kompliziertheit des Wirtschaftslebens, des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts gestattet sie es, flexibel auf neue Aufgabenstellungen, wechselnde Anforderungen und gesellschaftlichen Wandel zu reagieren. Beispielhaft sei nur auf das im Rahmen der Finanzkrise 2008 erlassene Enteignungsgesetz für systemrelevante Banken zur Sicherung der Finanzmarktstabilität verwiesen.12 IV. Grundgesetzliche und unionsrechtliche Wirtschaftsverfassung 1. Strukturen der EU-Wirtschaftsverfassung

Die Frage nach der Wirtschaftsverfassung hat ferner die u. a. in Art. 23 GG verankerte ökonomische Einbindung Deutschlands in die Europäische Union zu berücksichtigen. Das folgt bereits aus dem Anwendungsvorrang des Wirtschaftsverfassungsrechts der Union. Aus dieser Perspektive könnte der Streit um die 10 BVerfGE 4, 7, 18; BVerfGE 50, 290; BVerwGE 71, 183, 195; Papier, in: FS für Selmer, 2004, S. 459 ff. 11 Schmidt, in: HdbStR IV, 3. Aufl., § 92 Rn. 27 ff.; Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., § 35 I 1; BVerfGE 4, 7, 17. 12 Gesetz v. 7.4.2009, BGBl. I S. 729 ff.

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deutsche Wirtschaftsverfassung partiell überholt und das Konzept der relativen Offenheit weitgehend obsolet sein. Ob diese Wertung zutrifft, ist anhand einer Textanalyse des europäischen Primärrechts, der Unionsverträge, zu prüfen, die sich aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und dem Vertrag über die Europäische Union (EUV) zusammensetzen. Zunächst ist festzuhalten, dass der Gründungsvertrag, der sog. EWG-Vertrag, in seiner Zielrichtung, seiner ursprünglichen Beschränkung auf das Wirtschaftsleben und seiner späteren Ausrichtung auf einen Binnenmarkt eine Rechtsordnung war, die in der Summe ihrer Normen eine bis ins einzelne gehende Wirtschaftsverfassung aufwies. Diesen auf die zentralen Tätigkeitsfelder der EG gestützten Charakter als Wirtschaftsgemeinschaft behielt die bisherige EG nach Ansicht des BVerfG13 auch nach dem In-Kraft-Treten des politisch weitergehenden Unionsvertrages und trotz des Wegfalls des prägenden Wortes Wirtschaft14 im bislang so bezeichneten EG-Vertrag bei, der durch die Unionsverträge abgelöst wurde. Lediglich in Titel II zu Art. 8 des bisher geltenden EU-Vertrages findet sich noch ein Hinweis auf den Begriff. Wirtschaftsgemeinschaft, welche die Basis für die heutige Ausgestaltung bildet.15 Die früheren EG- und die neuen Unionsverträge von Lissabon stehen damit in klarem Gegensatz zum Grundgesetz. Die Strukturen der unionalen Wirtschaftsverfassung ergeben sich aus zahlreichen Bestimmungen der Unionsverträge, denen unterschiedliche und teilweise gegenläufige ökonomische Aufgaben, Ziele, Prinzipien und Politiken zugrundeliegen. Im Mittelpunkt steht der Binnenmarkt, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist (Art. 16 AEUV). Diese sog. Verkehrsfreiheiten bilden den Rahmen einer Ordnung, für die der Grundsatz der Liberalisierung und der Wettbewerbsfähigkeit gilt (Art. 3 AEUV). Deshalb werden diese Grundfreiheiten durch ein prinzipielles Kartellverbot, ein Verbot des Missbrauchs marktbeherrschender Stellungen, das Institut der Fusionskontrolle sowie ein Dumping- und Subventionsverbot flankiert und durch ein allgemeines Diskriminierungsverbot ergänzt (Art. 101 ff. AEUV). Allerdings sind die Unionsverträge insofern ein Rückschritt, als die bisherige in Art. 3 lit.g EG enthaltene Klausel über die Schaffung eines Systems unverfälschten Wettbewerbs ersatzlos gestrichen wurde und in das Protokoll Nr. 6 verbannt worden ist, dem aber über Art. 51 EUV Verfassungsrang zukommt. Die Verkehrsfreiheiten beschränken sich nicht auf den klassischen Markt zwischen privaten Anbietern und Abnehmern. Sie erstrecken sich nach Art. 179 Abs. 2 AEUV gleichzeitig auf den Markt des sog. öffentlichen Beschaffungs13

E 89, 155, 181, 190; ebenso Streinz, WuV 1996, 129 ff. m.w. N. Ebenso Kirchhof, JZ 1998, 965, 971; Mussler, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft im Wandel, 1998, S. 91 ff. 15 s. a. Ziekow, Öffentliches Wirtschaftsrecht, 2007, § 3 I. 14

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wesens (Go Public), der von der öffentlichen Hand und ihren Unternehmen beherrscht wird. Formulierung und Stellung der Verkehrsfreiheiten einerseits und die Einräumung subjektiver Rechte andererseits etwa in Art. 21 und 157 AEUV lassen erkennen, dass Verkehrsfreiheiten nicht mit Grundrechten im Sinne ökonomischer Gewährleistungen für einzelne Wirtschaftssubjekte identisch sind. Allerdings achtet die Union über Art. 6 Abs. 1 EUV die Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts, die in der EU GR Charta kodifiziert sind, die sich nach Art. 51 an die Organe und Einrichtungen der Union und die Mitgliedstaaten für die Durchführung des Rechts der Union richtet. Die Charta erfährt durch die Unionsverträge insofern eine juristische Aufwertung, als sie denselben Rang wie die Unionsverträge besitzt (Art. 6 Abs. 1 EUV). Daneben genießen die öffentliche Hand und ihre Unternehmen über Art. 14 und 106 AEUV sowie Art. 36 EU GR Charta besonderen Schutz, damit sie ihre Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erbringen und ihren Daseinsvorsorgeaufgaben nachkommen können. Unabhängig davon unterliegen bestimmte Wirtschaftsbereiche lenkungsrechtlichen Marktordnungen. Erinnert sei nur an den Landwirtschafts- und Verkehrssektor und an die Industriepolitik (Art. 38 ff., 90 ff., 173 AEUV). Hinzu tritt die Konjunktur-, Wirtschafts- und Währungspolitik, die eine Globalsteuerung mit dem Ziel eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts in einer Wirtschaftssowie Währungsunion anstrebt. Ferner haben mehrere Vertragsänderungen die umweltrechtliche sowie die verbraucherrechtliche Komponente angesprochen (Art. 4 Abs. 2, 11 f., 169 und 191 AEUV). 2. Grundsatz der offenen Marktwirtschaft im Binnenmarkt

Angesichts dieser Gemengelage ist es deshalb juristisch sachgerecht, auch für die Union von einer relativ offenen Wirtschaftsverfassung auszugehen.16 Diese Bewertung stimmt auch mit der Selbstqualifizierung des EG-Vertrages in der Maastrichter Fassung überein, der erstmals in mehreren Vorschriften den „Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ betonte. Diese zentrale Vertragsaussage behält der Lissabon-Vertrag (s. Art. 119 f.; 127, 173 AEUV) auch dann bei, wenn er neben der Verfolgung anderer Binnenmarktziele u. a. auf eine „wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft“ hinwirken will (Art. 3 Abs. 3 EUV) und damit das soziale Element zusätzlich gewichtet.17 Diese relativ parallele wirtschaftsverfassungsrechtliche Ausgangslage in der EU und Deutschland bedeutet zwar einerseits, dass es kaum zu wirtschaftspolitischen Konflikten kommt. Andererseits zeigt sich die bereits erwähnte Notwendigkeit, sich verstärkt den Grundpfeilern der Wirtschaftsverfassung, den Grundrechten zuzuwen16 Ebenso Frotscher/Kramer, Wirtschaftsverfassungs- und Wirtschaftsverwaltungsrecht 5. Aufl., 2008; § 2 II 4; Rittner/Dreher, Europäisches und deutsches Wirtschaftsrecht, 3. Aufl., § 2 B III. 17 s. näher Frenz, GewArch. 2010, 329 ff.

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den: Denn im Kern sind die Ausprägungen und Garantien ökonomisch relevanter Grundrechte die eigentliche Basis der Wirtschaftsverfassung und Beleg für ihre Leistungsfähigkeit.18 Das bekräftigt auch die wirtschaftswissenschaftliche Analyse, die Grundrechte als Positionen begreift, die staatlichen Steuerungsansprüchen gegenüberstehen.19 Einen zusätzlichen Bedeutungsmaßstab erhalten die Wirtschaftsgrundrechte durch die EU GR Charta, deren Rolle durch die Anerkennung als rechtlich gleichrangig mit dem EU-Primärrecht (Art. 6 Abs. 1 EUV) mehrmals gestärkt wurde. Zusätzlich ist zu bedenken, dass die EU auch wegen der Aufrichtung zahlreicher Gemeinwohlanforderungen die ökonomischen Freiheiten im Binnenmarkt tangiert und die einschlägigen Regeln als Ausgleichsund Abwägungsinstrument fungieren. Ökonomische Grundrechte entscheiden über das Ob und das Ausmaß wirtschaftlicher Eigenverantwortung und insbesondere darüber, ob und inwieweit das wirtschaftliche Geschehen durch den Markt oder wirtschaftsrechtliche Vorgaben beeinflusst wird. Da der Staat nicht für alle Entscheidungen zuständig ist, sind wirtschaftliche Grundrechte prägnanter Ausdruck privater Verantwortung im Sinne einer wirtschaftlichen Arbeitsteilung zwischen Staat, EU und privaten Wirtschaftsteilnehmern.20 Die ökonomischen Grundrechte sind als status oeconomicus gleichzeitig Grenze privater Entfaltungsfreiheit, weil sie die Aufrichtung sozialer, ökologischer, gesamtwirtschaftlicher und anderer Schranken bei Marktmissbrauch und Marktversagen gestatten.21 V. Zur Wirtschaftsrelevanz der Einzelgrundrechte Angesichts der aufgezeigten fundamentalen Bedeutung der ökonomischen Grundrechte für das Wirtschaftsgeschehen, die Volkswirtschaft, den Binnenmarkt und die Entfaltung des einzelnen Wirtschaftssubjekts sind insbesondere die Art. 2, 3, 5, 9, 12, 13 und 14 GG von herausragender Bedeutung, auf die sich die meisten Darstellungen beschränken. Diese Auswahl darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass prinzipiell jedes Grundrecht potenziell wirtschaftsrelevant ist. Die Verfassungs-, Rechtsprechungs- und Wirtschaftspraxis bekräftigt diese Aussage. Mittlerweile liegen wirtschaftsverwaltungsrechtliche Entscheidungen zu fast allen Grundrechten vor, die hier nur exemplarisch gestreift werden können: – Religionsfreiheit und Wirtschaftstätigkeit sowie religiöse Wirtschaftswerbung, – Kunstfreiheit und Veranstaltung kommerzieller Musicals oder Showtänze, – Versammlungsfreiheit und Veranstaltung kommerzieller Love Parades. 18

s. a. Schünemann, in: FS Stober 2008, S. 147, 162. Erlei/Leschke/Sauerland, Neue Institutionenökonomik, 2. Aufl., 2007, S. 458. 20 Zustimmend H. M. Meyer, Vorrang der privaten Wirtschafts- und Sozialgestaltung als Rechtsprinzip, 2006, S. 119. 21 BVerfG, NJW 1994, 2749. 19

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VI. Die kommerzielle Bedeutung der Menschenwürde Eine herausragende Rolle im Gefüge der ökonomischen Grundrechte nimmt das in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundrecht der Menschenwürde ein, auf dem jede freiheitlich konzipierte Wirtschaftsordnung beruht. Da die Menschenwürde, auf die sich die weiteren einzelgrundrechtlichen Ausführungen konzentrieren, die wirtschaftliche Existenz voraussetzt, ist auch die wirtschaftliche Entfaltung in Art. 1 Abs. 1 GG angelegt.22 Dementsprechend muss – wie es in Art. 151 Abs. 1 BayLV heißt – die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit „insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“ dienen. Diese Formulierung lehnt sich an Art. 151 Abs. 1 WRV an, wonach die Ordnung des Wirtschaftslebens ebenfalls „dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen“ muss. Folglich setzt die Menschenwürde der wirtschaftlichen Entfaltung deutliche Grenzen, um ihre Kernsubstanz zu erhalten. Das haben nicht nur die zitierten Bestimmungen der EU-Charta über das Verbot des Menschenhandels sowie das Verbot des Verkaufs menschlicher Organe gezeigt. Inzwischen sind auch einzelne Gerichtsentscheidungen ergangen, die sich intensiv mit dem Schutz vor Kommerzialisierung der Menschenwürde auseinandersetzen.23 Dazu zählen etwa das Verbot der Patentierbarkeit des menschlichen Körpers24 und der Schutz vor erniedrigender Werbung25. Unklar ist, ob Laserdromespiele oder Paintballspiele zulässig sind.26 Hierzu hat das OVG Lüneburg festgestellt, eine Baugenehmigung für eine Paintball-Anlage, die nur für Erwachsene zugänglich ist, dürfe nicht mit der Begründung versagt werden, mit dem Spielbetrieb werde die Würde des Menschen im Sinne des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG missachtet.27 Das Urteil bekräftigt in seltener Klarheit und Deutlichkeit die hier aufgestellte These, dass es bei der ökonomischen Aufarbeitung der Menschenwürde dogmatische Defizite gibt, weil sich das Schrifttum zu wenig mit diesem Aspekt auseinandersetzt und eine interdisziplinäre Zusammenschau etwa in Gestalt empirischer Untersuchungen fehlt. Das Gericht moniert zu Recht, angesichts der vorhandenen Definitionsansätze für die Menschenwürde könne von „klaren Konturen . . . nicht die Rede sein.“ Und es weist an anderer Stelle zutreffend darauf hin, es sei bislang schon nicht gelungen, etwa für die rechtliche Beurteilung von Peep-Shows „deutlichere Konturen zu entwickeln“.

22

s. näher Stober, Handbuch des Wirtschaftsverwaltungs und Umweltrechts, 1989,

§ 30. 23

s. zum Zwergenweitwurf VG Neustadt, NVwZ 1993, 98. EuGH, EuZW 2001, 691, 695; s. a. G v. 21.1.2005, BGBl. I, S. 146. 25 BVerfGE 107, 275 ff. (Benetton-Werbung II). 26 BVerwG (Vorlagebeschluss an den EuGH), GewArch. 2002, 154 ff. und BVerwG, GewArch. 2007, 247; VGH Mannheim, GewArch. 2004, 327 (Paintballspiel); Gröpl/ Brandt, VerwArch. 95 [2004], 223, 234. 27 OVG Lüneburg GewAch 2010, 499 ff. 24

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Vor allem fehle es an einer tragfähigen und gesicherten empirischen Grundlage, um die sich die Wirkungsforschung bislang vergeblich bemühe.28 Deshalb möchte dieser Beitrag die Staatsrechtslehre und die Wirtschaftsverfassungsinterpreten ermuntern, sich stärker präventiv mit den wirtschaftlich bedeutsamen Kerngehalten der Menschenwürde zu beschäftigen. Denn es ist die Aufgabe der Bereitstellung von Recht, dass vorbeugend plausible und umsetzbare Argumente erarbeitet werden, denen sich die Verwaltungs- und Gerichtspraxis im Ernstfall bedienen kann. VII. Zur Wirtschaftsrelevanz allgemeiner subjektiv-rechtlicher Grundrechtsausübungen Neben der vernachlässigten ökonomischen Betrachtung der Menschenwürde erfährt auch die wirtschaftliche Betrachtung der allgemeinen Grundrechtsausübungen eine stiefmütterliche systematische Behandlung. Dieser Aspekt soll deshalb abschließend aus der subjektivrechtlichen Sicht betrachtet werden. 1. Geltung der wirtschaftlichen Grundrechte für juristische Personen und für Personengesellschaften

Insgesamt liegt dem Grundgesetz und dem Unionsrecht die Überlegung zu Grunde, dass auch das wirtschaftliche Handeln von Personengemeinschaften schutzwürdig ist. Insbesondere sind sie, ebenso wie natürliche Personen, grundrechtstypischen Gefährdungslagen ausgesetzt, die umfassenden Grundrechtsschutz verlangen. Man verdeutliche sich nur den notwendigen Schutz der Unternehmenskommunikation durch Art. 10 GG.29 Ob und inwieweit juristische Personen Grundrechtsschutz genießen, hängt von der Eigenart des beanspruchten Grundrechtes ab.30 Teilweise kennt die Verfassung sog. Kollektivgrundrechte, die nur in Gemeinschaft ausgeübt werden können. Deshalb sind auch Personengesellschaften grundrechtsfähig.31 Im Übrigen ist unter den Bedingungen der Wirtschaft seit der Industrialisierung eine unternehmerische Betätigung ohne die überindividuelle Kapitalansammlung nicht möglich.32 Zu Recht stellt das BVerfG33 fest, Großunternehmen und Konzerne seien wesentliche Elemente einer hoch entwickelten und leistungsfähigen Volkswirtschaft. Das gilt erst recht für eine interregional und global ausgerichtete

28 29 30 31 32 33

s. a. Kahl, VerwArch. 2008, 451, 476 f. BVerfG, DVBl. 2003, 131, 134. BVerfG, NJW 1997, 386; Tettinger, in: HdBGR, § 51. BVerfGE 10, 89 und BVerfG, DVBl. 2003, 130 für BGB-Gesellschaft. s. a. BVerfGE 21, 266; BVerwGE 75, 109, 114. BVerfGE 50, 290, 364; HessStGH, DVBl. 2001, 802 für GmbH.

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Wirtschaft, die von multinationalen Unternehmen geprägt ist. Allerdings darf das personale Element nicht bis zur Bedeutungslosigkeit zurücktreten.34 Aus dieser Perspektive ist die Frage zu beantworten, ob und inwieweit juristische Personen des öffentlichen Rechts, die sich im Eigentum der öffentlichen Hand befinden35 und Mischunternehmen grundrechtsfähig sind. Insoweit ist daran zu erinnern, dass die öffentliche Hand öffentliche Aufgaben erledigt und in dieser Funktion von Hoheitsakten getroffen ist, während ein „Durchgriff“ auf die dahinter stehenden Amtsträger oder Geschäftsführer wegen der Aufgabenqualifizierung nicht in Betracht kommt. Das gilt auch für gemischtwirtschaftliche Unternehmen, solange die öffentliche Hand auf sie einen beherrschenden Einfluss ausübt, weil dann immer noch die öffentliche Aufgabe als Hauptfunktion im Vordergrund steht.36 2. Wirtschaftliche Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat

Die Stellung der wirtschaftlichen Grundrechte als Abwehrrechte hinsichtlich einer Beeinflussung der Wirtschaft wird als status libertatis bezeichnet. Er kennzeichnet die Distanz zwischen Staat, Unternehmern und Verbrauchern in wirtschaftlichen Angelegenheiten, die das Grundrechtsverständnis traditionell prägt. 3. Bindung der privatrechtlich handelnden öffentlichen Verwaltung an die Grundrechte

Hier geht es darum, ob und inwieweit die Verwaltung in ihrer Rolle als Auftraggeber und Verbraucher von Gütern und Leistungen, als Unternehmer und Produzent von Gütern und Leistungen und als Verwaltungsträger im Rahmen privatrechtlicher Aufgabenerfüllung die Grundrechte beachten muss. Die Frage ist umstritten37 und lässt sich nicht einheitlich beantworten. Der Lösungsansatz ist aus Art. 1 Abs. 3 GG zu entnehmen. Danach binden die Grundrechte unter anderem die vollziehende Gewalt als unmittelbar geltendes Recht. Dieser Wortlaut ist scheinbar umfassend zu verstehen, da die vollziehende Gewalt ohne Rücksicht auf die Form des Tätigwerdens gebunden sein soll. Vergegenwärtigt man sich hingegen den Zweck von Art. 1 Abs. 3 GG, dann gelangt man zu einer differenzierenden Betrachtungsweise.

34

BVerfGE 50, 290. s. für Handwerksinnung BVerwGE 90, 88 ff.; für Sparkassen BVerfG, NJW 1995, 582; für Landwirtschaftskammern BVerwG GewArch. 1996, 465 f. 36 Für Juristische Personen des öffentlichen Rechts und Mischunternehmen allgemein Schnapp/Selmer, HdBGR, § 52 f und BVerfG, NVwZ 2009, 1282. 37 s. näher Wolff/Bachof/Stober/Kluth, VerwR I, § 23 V m.w. N.; Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl., Art. 1 Rn. 94 ff.; BGH, NJW 2006, 1054 f. 35

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Art. 1 Abs. 3 GG liegt auch der Gedanke zu Grunde, dass sich der Staat nicht von der Grundrechtsbindung befreien kann, indem er seine öffentlichen und staatlichen Aufgaben in privatrechtlichen Formen durchführt. Andernfalls könnte durch die Verwendung privatrechtlicher Institute der Grundsatz des Art. 1 Abs. 3 GG umgangen werden (sog. Flucht ins Privatrecht38). Daraus erhellt, dass sich die Wirtschaftsverwaltungsbehörden dann den grundrechtlichen Bindungen nicht entziehen können, wenn sie sich bei der Erfüllung von Wirtschaftsverwaltungsaufgaben an Stelle öffentlich-rechtlicher privatrechtlicher Formen und Mittel bedienen (sog. Verwaltungsprivatrecht). In diesem Bereich gelten die Grundrechte in vollem Umfang.39 Durch Ausweichen in Privatrechtsformen kann sich die Wirtschaftsverwaltung wegen des Anwendungsvorrangs auch nicht unionsrechtlichen Verpflichtungen entziehen. Das gilt etwa für die Erledigung von Subventionsaufgaben durch eine Kapitalgesellschaft der öffentlichen Hand40, die Kreditversorgung der lokalen Wirtschaft durch öffentlich-rechtliche Sparkassen41 oder ein Hausverbot durch ein gemischtwirtschaftliches Flughafenunternehmen42. Zweifelhaft ist, inwieweit die öffentliche Hand an die Grundrechte gebunden ist, wenn sie Privatpersonen im Bereich des Beschaffungs-, Vergabe- und Investitionswesens gegenübertritt (fiskalische Hilfsgeschäfte). Einerseits bestehen Bedenken gegen die Anwendung der Grundrechte, weil sich die Verwaltung hier nur so wie jede Privatperson verhält, die Sachgüter und Dienstleistungen beschafft. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass die Beschaffung quantitativ von erheblicher Bedeutung ist und die Wirtschaft qualitativ vom Staat und der mittelbaren Staatsverwaltung in erheblichem Umfange gesteuert werden kann. Es besteht stets die Gefahr, dass etwa bei Vertragsabschlüssen der Gleichheitssatz missachtet oder willkürlich verfahren wird. Das widerspräche aber der Zielsetzung des Art. 1 Abs. 3 GG, den Grundrechtsschutz möglichst wirksam zu gewährleisten.43 Der verfassungsrechtliche Streit ist allerdings durch vergaberechtliche Vorgaben des Unionsrechts sowie durch spezialgesetzliche Normierungen in §§ 97 ff. GWB und in der Vergabeverordnung entschärft, die eine Beachtung des Gleichheitssatzes verlangen und Rechtsschutz garantieren.44 Diese Vorschriften finden jedoch keine Anwendung, soweit bestimmte Schwellenwerte

38

Vgl. Fleiner, Institutionen des Verwaltungsrechts, 8. Aufl., 1928, S. 326. BGH, NJW 1992, 171, 173; OGV Münster, NVwZ 2003, 1520, 1522; Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar 2, 2. Aufl., 2004, Art. 1 III Rn. 68. 40 BGH, EuZW 2003, 444, 446 und BGH, NJW 2003, 2451. 41 BGH, DVBl. 2003, 942. 42 BGH, NJW 2006, 1054. 43 Huber, JZ 2000, 877; Pünder, VerwArch. 95 [2004], 38 ff.; BGH, NJW 2004, 1031. 44 Klein, in: HdBGR, § 6 Rn. 48; Dörr, DÖV 2001, 1014 ff.; BVerfG, DÖV 2007, 248. 39

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nicht erreicht werden. Es sind jedoch die Grundregeln des Unionsrechts zu beachten.45 Die Bindung der erwerbswirtschaftlichen Betätigung der öffentlichen Hand an die Grundrechte hängt zunächst von der verfassungsrechtlichen Frage ab, ob Staat und Gemeinden überhaupt erwerbswirtschaftlich tätig werden und damit wie jedermann am Markt teilnehmen und Gewinne erzielen dürfen.46 Unterstellt man die prinzipielle Zulässigkeit der erwerbswirtschaftlichen Betätigung, dann ist zunächst darauf hinzuweisen, dass eine Meinung eine Bindung an die Grundrechte in diesem Bereich ablehnt. Dagegen sind einerseits angesichts der Machtstellung des Staates und der Gemeinden Bedenken anzumelden. Andererseits unterliegt die öffentliche Hand bei der erwerbswirtschaftlichen Betätigung einem Sonderrecht, das die uferlose Ausdehnung auf diesem Sektor allerdings nicht wirksam einschränkt und deshalb einen Rückgriff auf die Grundrechte nicht entbehrlich macht. Dementsprechend wird teilweise eine unmittelbare und teilweise eine mittelbare Grundrechtsbindung in dem Sinne angenommen, dass nicht willkürlich entschieden werden darf.47 4. Drittwirkung von Grundrechten

Die unmittelbare Wirkung von Grundrechten gegenüber privaten Wirtschaftssubjekten wird nur in Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG und in Art. 101 f. AEUV48 angeordnet. Darüber hinaus ist sie wegen der Geltung des Art. 1 Abs. 3 GG zweifelhaft, weil Verfassungsrecht und Privatrecht unterschiedliche Ebenen sind und deshalb das Verfassungsrecht nicht gleichzeitig höchste Stufe des Privatrechts sein kann. Ihre Anerkennung würde die Staatsverfassung zur Gesellschaftsverfassung umfunktionieren und zu einer gegenseitigen Aufhebung wirtschaftlicher Freiheit führen. Deshalb kann man nur über eine mittelbare Drittwirkung diskutieren, die über Gesetze und Generalklauseln vermittelt wird. Dabei steht der Diskriminierungsschutz im Vordergrund.49 Diese Lösung betont ferner die staatlichen Schutzpflichten zur Freiheitsrealisierung50 und führt zu folgenden Konsequenzen: Gastwirte dürfen Ausländer nicht willkürlich nur aus rein rassistischen Gründen abweisen.51 Trägt eine Verkäuferin ein „islamisches Kopftuch“, dann sind die betroffenen Grundrechte zwischen Arbeitnehmerin und Arbeitgeber zum Ausgleich zu bringen.52 45

EuGH, NJW 2008, 633, 636. s. dazu Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, 17. Aufl., 2011, § 24 V. 47 BGH, NJW 2004, 1031 m.w. N. auch der Gegenmeinung; VerfGH Berlin, DÖV 2005, 515. 48 s. näher Steindorff, in: FS für Lerche, 1993, S. 575 ff. 49 Jestaedt/Britz, VVDStRL 64 [2005], 298 ff. und 355 ff. 50 BVerfGE 99, 185, 194 f.; BGH, NJW 1999, 1326. 51 s. näher Lohse, NJW 1985, 1677 ff.; Moltekin, GewArch. 1989, 86. 46

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5. Grundrechtsgefährdung durch private Wirtschaftssubjekte

Die Rechtsfigur der mittelbaren Drittwirkung hat durch den Rückzug des Staates, die Privatisierung staatlicher und kommunaler Leistungsverwaltung und das Fortschreiten der Informations- und Kommunikationstechnik eine neue Dimension erhalten, weil sich Zugangsrechte und Schutzgewährleistungen verstärkt gegen Private richten und der schlanke Staat nicht zu einer Aushöhlung der Grundrechte führen darf. Dementsprechend müssen etwa private Telekommunikationsunternehmen das Post- und Fernmeldegeheimnis im Sinne von §§ 88 ff. TKG beachten.53 6. Weitere subjektivrechtliche ökonomische Grundrechtsausprägungen

Lediglich als Merkposten sollen weitere Grundrechtsausprägungen angeführt werden, deren wirtschaftliche Relevanz sich ohne nähere Erläuterung erschließt: – Wirtschaftliche Grundrechte als Teilhaberechte an staatlichen Leistungen. Das ist die Frage, ob und inwieweit verfassungsrechtliche Leistungsrechte erforderliche Voraussetzung sind, um wirtschaftliche Grundrechte verwirklichen zu können. Dieser Status steht jedoch dem Abwehrstatus prinzipiell entgegen, sofern er sich nicht lediglich auf die Teilhabe an der wirtschaftlichen Infrastruktur bezieht, die jedem Wirtschaftsteilnehmer zur Verfügung stehen soll. Diesen Ausnahmecharakter betont auch die Rechtsprechung, die aus der Gewährleistung des Rechts auf Errichtung privater Schulen einen Anspruch auf finanzielle staatliche Hilfe ableitet.54 – Wirtschaftliche Grundrechte als Teilnahmerechte an staatlich organisierter wirtschaftlicher Selbstverwaltung. Diese Thematik betrifft die Einräumung des aktiven und passiven Wahlrechts für Mitglieder öffentlich-rechtlicher Kammern zur Legitimation der Selbstverwaltungsorgane. – Wirtschaftlicher Grundrechtsschutz durch effektive Verfahrensgestaltung. Die Existenz und Wahrung wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Verfahren ist die Zwillingsschwester ökonomischer Freiheit und rechtlicher Gleichheit. Deshalb ist wirtschaftlicher Grundrechtsschutz auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken. Verfahrensrechte sind Voraussetzung für die Verfolgung und Durchsetzung wirtschaftlicher Grundrechte. Beispiele für diese Grundrechtsausprägung sind: die Verfahrensgestaltung bei berufsbezogenen Prüfungen55; der zügige Ablauf von Genehmigungsverfahren; Informationsansprüche im 52

BAG, NJW 2003, 1685; BVerfG, NJW 2003, 2815. BVerfG, DVBl. 2003, 131 f.; Lücke, JZ 1999, 377 ff.; Schnapp/Kaltenborn, JuS 2000, 937, 940. 54 BVerwGE 27, 360; 52, 344. 55 BVerfGE 84, 34, 45. 53

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Vorfeld eines Verwaltungsverfahrens56 sowie angemessene Auswahl eines Insolvenzverwalters57. – Wirtschaftlicher Grundrechtsschutz als Sicherung gegen bundesstaatlich wirkende Freiheitsbeschränkungen.58 Diese Ausformung erfasst grundrechtliche Wirkungen, die auf staatsorganisatorischen Vorgaben beruhen und bekanntermaßen vor allem berufliche Mobilitätsschranken aufrichten können. VIII. Fazit Die Ausführungen haben gezeigt, dass Staatsrechtslehre und Wirtschaftsverfassungsinterpreten in der Vergangenheit den Grundrechten viel Aufmerksamkeit geschenkt haben, während die ökonomischen Aspekte bislang nicht im Zentrum des Erkenntnisinteresses standen. Hier ist noch immer viel Forschungsarbeit zu leisten, um ein grundrechtsökonomisches Gebäude zu entwerfen, das auch den konstitutionellen Verfassungswerten Rechnung trägt.

56 57 58

BVerwG, GewArch. 2003, 373. BVerfG, NJW 2004, 2725 ff. Möstl, in: FS Stober, 2008, 163, 175.

Horizontal Application of Fundamental Rights Rethinking the Structures of Constitutional Democracy By Johan van der Walt* “Entscheidend ging es jedoch sowohl der Déclaration als auch der deutschen Grundrechtsdoktrin darum, daß es der Staat, vor allem der Gesetzgeber, war, der die Freiheitssphäre auch im privaten Recht zu sichern hatte.” Klaus Stern (Staatsrecht III/1, 1516)

I. Introduction Volume III/1 of Klaus Stern’s Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland introduced me to German Drittwirkung or horizontal application jurisprudence. It is in this volume of Stern’s monumental work on German public law that I read in 1999, as a Humboldt Scholar under Klaus Stern’s hospitable Betreuung, that the horizontal application of fundamental rights or Drittwirkung der Grundrechte always confronts the judiciary with the problem of two competing or conflicting fundamental rights. When one party in a private legal conflict deems it fit to articulate a legal claim in terms of a fundamental right, the other party will invariably be able to do the same. Stern puts the matter as follows: “Die Besonderheit dieser Konstellation liegt darin, daß hier die Privatrechtssubjekte prinzipiell beide Grundrechtsberechtigte sind; entfalten in diesem Verhältnis die Grundrechte Wirkungen derart, daß hierdurch der eine gegenüber dem anderen Beteiligten geschützt wird, so kann dies zugleich eine Beeinträchtigung der grundrechtlichen Freiheit des anderen beteiligten Privatrechtssubjekts bedeuten. Die Grundrechte würden daher ‘in diesen Verhältnissen für alle Beteiligten gleichzeitigt zu Rechten und zu Pflichten führen.”1

The conflict of fundamental rights that Stern describes here portrays a structural complexity at the heart of horizontal application jurisprudence. One of the dexterous ways by which legal theory has all along sought to sidestep this complexity was to deny that horizontal application involves a clash of fundamental rights in the way Stern describes it in this passage. In German literature it was especially Jürgen Schwabe who insisted persuasively on the “so-called” or “so* Professor of Law, University of Glasgow. 1 Stern, Staatsrecht III/1, München 1988, 1513.

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genannte” status of horizontal application. Horizontal application, according to Schwabe, was a non-issue or pseudo-problem; in the final analysis it is always the state and not the private individual that is the real object of constitutional review.2 Schwabe’s view can be said to have triumphed in the jurisprudence of the German Federal Constitutional Court (Bundesverfassungsgericht, hereafter referred to as the GFCC) when the GFCC commenced to emphasise the duty of the state to protect and guarantee the fundamental rights of citizens as the heart of its “horizontal application” jurisprudence.3And strictly speaking, the view that it is always the state and never the individual that figures as the object of constitutional review, was all along quite evidently already embodied in the epochal Lüth case which precipitated the GFCC’s horizontal application jurisprudence in 1957. Already in Lüth does one encounter the crucial formula that the GFCC would use almost invariably in its later judgments. It is not the individual that abridged the right of the constitutional plaintiff (Verfassungsbeschwerde), but the trial court that failed to interpret and assess his fundamental rights correctly. This is the way the GFCC phrased the matter in Lüth: “Das Bundesverfassungsgericht ist auf Grund dieser Erwägungen zu der Überzeugung gelangt, daß das Landgericht bei seiner Beurteilung des Verhaltens des Beschwerdeführers die besondere Bedeutung verkannt hat, die dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung auch dort zukommt, wo es mit privaten Interessen anderer in Konflikt tritt. Das Urteil des Landgerichts beruht auf diesem Verfehlen grundrechtlicher Maßstäbe und verletzt so das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.”4

Considering the Schutzpflicht jurisprudence of the GFCC and this formula that it coined in Lüth, Schwabe would appear to be correct. Ultimately it is always the state, some state action or ommission, that constitutes the object of constitutional review, also when the conflict that necessitated the review has its origins in private legal relationships. This concession to Schwabe does nevertheless not mean that Stern’s asessment of Drittwirkung in terms of a conflict between fundamental rights is incorrect. One of the points that I will be stressing in this essay is that Stern is in fact correct, but at a much more fundamental and somewhat different way than is apparent at first glance. The special nature (Besonderheit) of Drittwirkung, I shall argue, consists in the way it reminds us that all constitutional 2 Schwabe, Die sogennante Drittwirkung der Grundrechte. Zur Einwirkung der Grundrechte auf den Privatrechtsverkehr, München 1971, 9–25. 3 39 BVerfGE 1; 46 BVerfGE 116; 49 BVerfGE 89; 77 BVerfGE 381; 88 BVerfGE 205; 96 BVerfGE 56. 4 7 BVerfGE 198, 230 emphasis added. The court relied on this wording again and again in subsequent judgments. See 24 BVerfGE 278; 25 BVerfGE 256; 30 BVerfGE 173; 34 BVerfGE 35 BVerfGE 202; 42 BVerfGE 142; 46 BVerfGE 325; 54 BVerfGE 129; 54 BVerfGE 148; 60 BVerfGE 234; 61 BVerfGE 1; 62 BVerfGE 230; 66 BVerfGE 116; 73 BVerfGE 261.

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review concerns a conflict between two fundamental rights. And this reminder, I shall argue further, is a crucial point of entry for a much needed rethinking of the fundamental structure of constitutional democracy in the era of increasing supra-statal governance evident in contemporary Europe and elsewhere in the globalised world. And Stern’s view regarding a conflict of fundamental rights, we shall see, goes to the heart of the structure that is at issue here. My argument will proceed in four steps. Section II will briefly expound an analysis of American state action jurisprudence. The point of this exposition will be to point out the close correspondence between Schwabe’s state oriented approach to Drittwrikung and the state action jurisprudence of both the United States Supreme Court and prominent American legal theorists. Section III will contrast the state oriented understanding of constitutional review evident in the state action doctrine with the significantly different understanding of “constitutional review” prevalent in France, in terms of which the state is the subject and not the object of constitutional review. This contrasting comparison between American and French constitutional theory and practice will serve as a hermeneutic background for an engagement with a crucial point that Walter Leisner made in his epochal contribution to the German Drittwirkung debate.5 As will become clear towards the end of Section III, Leisner espoused a typically French understanding of “constitutional review” in terms of which the state is not the primary suspect of constitutional transgressions, but quite to the contrary, the primary guarantor of the constitution and constitutional rights. Leisner forwarded this view to make a crucial point in his theoretical analysis of the Drittwirkung problematic: Constitutional review is primarily concerned with the review of private power, and not just anomalously, secondarily or indirectly so, as Drittwirkung jurisprudence has pervasively come to maintain in the wake of Jellinek’s emphasis of the Staatsrichtung of constitutional review. Leisner, we shall see, quite evidently viewed private power, not public power, as the primary threat to constitutional rights. The view of the state as the primary guarantor of constitutional rights instead of the primary suspect of constitutional violations can be argued to have gained new significance in the wake of the GFCC’s Lisbon judgment in 2009. That private power and the subversion of public power by supra-statal governance have come to constitute more significant threats to constitutional rights than state conduct in the era of globalisation, has been observed by many European legal theorists in the wake of the Viking, Laval, Luxembourg and Rüffert judgements of the European Court of Justice (ECJ) in recent years. Section IV engages with the positions taken by the GFCC and ECJ in these cases against the background of the arguments developed in Sections I to III.

5

Leisner, Grundrechte und Privatrecht, München 1960.

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Section V concludes this essay with a number of reflections on how one might reconceive constitutional democracy in view of insights gained from Sections I to IV. What this essay as a whole hopes to convey with the thoughts developed in Sections I to V can provisionally be summarised as follows: The Drittwirkung question invites legal theory to return to and rethink the original raison d’être of the constitutional state in a time that has largely come to forget and suppress this raison d’être. The result of this suppression and forgetfulness is unsurprising. We live in a time of rampant private freedoms, glaring inequalities, and indistinct private/public modes of governance that threaten to displace public spheres and democratic accountability in just about all walks of life. The banking industry has in recent months and years come to demand entitlement to unimaginable sums of public money simply because they are “to big too fall”. This is a startling example, but just one of many that reveal the extent to which the power of contemporary constitutional democracies have come to be displaced by conglomerates of power that increasingly render the public-private distinction meaningless. This development may well be signalling the emergence of forms of power akin to pre-modern feudal powers that united the capacities of dominium and imperium. This is a point that legal theorists must ponder incisively today. A radical reflection on Drittwirkung, the state action doctrine or the horizontal application of constitutional rights provides legal theory with a crucial opportunity to do so. II. The American State Action Doctrine The American State Action doctrine has its origin in a dictum of Justice Bradley in the majority opinion of the court in the Civil Rights Cases. This is how Justice Bradley put the matter: “In this connection, it is proper to state that civil rights, such as are guaranteed by the Constitution against State aggression, cannot be impaired by the wrongful acts of individuals, unsupported by the State authority in the shape of laws, customs, or judicial or executive proceedings. The wrongful act of an individual, unsupported by any such authority, is simply a private wrong, or a crime of that individual; an invasion of the rights of the injured party, it is true, whether they affect his person, his property, or his reputation; but if not sanctioned in some way by the State, or not done under the State authority, his rights remain in full force, and may presumably be vindicated by resort to the laws of the State for redress. [. . .] Hence, in all those cases where the Constitution seeks to protect the rights of the citizen against discriminative and unjust laws of the State by prohibiting such laws, it is not individual offences, but abrogation and denial of rights, which it denounces and for which it clothes the Congress with power to provide a remedy. This abrogation and denial of rights for which the States alone were or could be responsible was the great seminal and fundamental wrong which was intended to be remedied. And the remedy to be provided must necessarily be predicated upon that wrong. It must assume that, in the cases provided for, the evil or wrong actually committed rests upon some State law or State authority for its excuse and perpetration.” 6

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The reasoning embodied in this dictum enabled the United States Supreme Court to develop an extensive jurisprudence according to which it was constitutionally unobjectionable for private individuals to discriminate against others on the basis of race; hence Charles Black’s famous description of the state action doctrine as “the last unexpunged clause of [America’s] long settled gentleman’s agreement about racism”.7 This gentleman’s agreement, however, no longer seemed so gentlemanly when the Supreme Court had to decide the epochal case of Shelley v Kraemer in 1948, and the court did its best to break out of it. The disputes in Shelley turned on the question whether the judicial enforcement of restrictive covenants between private individuals constituted Missouri state action that was subject to review in terms of the 14th Amendment of the United States Constitution. The Court decided that it did, thereby exploding the state action doctrine. If judicial enforcement constitutes state action, the existence or nonexistence of state action can no longer be an interesting or significant question for the judiciary to consider, for this very consideration would as such already constitute state action. Had Shelley remained good law in all respects, it surely would have terminated the state action doctrine, but the Supreme Court subsequently restricted Shelley’s applicability severely enough to keep or restore America’s “gentleman’s agreement”, irrespective of how unsavoury this agreement had become for many. The explosion of the state action doctrine in Shelley could have been a watershed moment in American law, but it turned out to be nothing but a momentary hiccup, as will soon become clear. Shelley was not the only case that can be said to have exploded, albeit again only momentarily, the state action doctrine. Two other Supreme Court cases are also noteworthy in this respect, the most prominent of which is the 1963 case of New York Times v Sullivan.8 In Sullivan, Justice Brennan accepted without much ado that defamation law embodied in the common law of the state of Alabama constitutes state action for purposes of the 14th Amendment. And Justice Frankfurter already decided in the 1941 case of Labour v Swing that common law rules regarding unlawful picketing constituted state action under the 14th Amendment.9 Sullivan and Swing are very similar as far as their acceptance of common law as a form of state action is concerned, but Sullivan would come to strike American legal theory as the pivotal case. State action should have been duly considered to be “out of business” after New York Times v Sullivan, Frank Michelman observes. If the constitution tolerates neither executive state administration, nor state legislation, nor state common law that falls foul of its guarantees, there is simply no basis left on which any judicial decision can escape state action review in terms 6

109 U.S. 3 (1883) at 17. Black Jr., ‘State Action’, Equal Protection, and California’s Proposition 14 (1967), 81 Harvard Law Review 79, 109. 8 376 US 254 (1963). 9 312 US 321 (1941). 7

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of the 14th Amendment. Yet, anyone who knows something about American law, also knows, contends Michelman further, “something persists in [American] jurisprudence that walks and talks like a state action doctrine with teeth.”10 How did this persistence of the state action doctrine come about? The answer is simple. The American judiciary simply chose to ignore the irrefutable logic of Shelley, Swing and Sullivan. This logic was eminently clear to former Chief Justice Rehnquist in Flagg Brothers, Inc. v Brooks,11 but “he insisted that American constitutional legal doctrine must pretend not to notice it, as Michelman explains elsewhere.12 Rehnquist simply stated dead pan that “[i]t would intolerably broaden [. . .] the notion of state action under the Fourteenth Amendment to hold that the mere existence of a body of property law in a state, whether decisional or statutory, itself amounted to state action. [. . .]” 13 Canaris can be said to have rallied to a “Rehnquist call” in Germany,14 but a significant contingent of American legal theorists have all along refused to entertain the kind of pretence for which Justice Rehnquist (as he was at the time) called in 1978 and they continued to do so thereafter. They all basically endorsed the Schwabian point that no lawful individual action can be claimed not to involve some or other form of state involvement.15 In the United States this point is usually made with reference to Hohfeldian analysis in terms of which all lawful social relations, which for reason of their lawfulness attract no legal sanction or remedy, constitute a relation between liberties and non-rights. These relations constitute legal relationships as much as relations between rights and duties do, Hohfeld claimed.16 They are therefore as subject to constitutional review as relations between rights and duties are. The upshot of this is that no existing legal 10 Michelman, The Bill of Rights, The Common Law, and the Freedom-Friendly State (2003), 58 University of Miami Law Review 401, at 404. 11 436 U.S. 149 (1978), hereafter cited as Flagg Brothers. 12 Michelman, W(h)ither the Constitution?, 2000 (21), Cardozo LR, 1063, 1076. 13 Flagg Brothers at 160 n. 10. 14 Canaris, Grundrechte und Privatrecht (1984), 184, Archiv für die Zivilistische Praxis 201, 219: “Es bleibt allenfalls noch das Argument, im Zwangsvollstreckungsverfahren greife der Staat selbst ein. Auch das überzeugt jedoch nicht. Denn die Vollstreckung eines auf verfassungsgemäßen Normen beruhenden Zivilurteils stellt als solche keine eigenständige Grundrechtseinschränkung dar. [. . .]” The reworked essay of 1999, Grundrechte und Privatrecht: Eine Zwischenbilanz (Berlin/New York) does not make this point as expressly. 15 Cf. for instance Black Jr. (note 7 supra); Alexander, The Public/Private Distinction and Constitutional Limits on Private Power (1993), 10 Constitutional Commentary 361, 371–372; Baker, Private Power, The Press, And the Constitution, 10 Constitutional Commentary (1993), 421; Gardbaum, The Horizontal Effect of Constitutional Rights (2003), 102, Michigan LR 387, 414–415. 16 Cf. Hohfeld, Some fundamental legal conceptions as applied in legal reasoning (1913), 23, Yale Law Journal 28; for an epochal discussion of Hohfeld’s views in this regard, see Singer, The Legal Rights Debate in Analytical Jurisprudence from Bentham to Hohfeld (1982), Wisconsin Law Review, 975–1058.

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rule and no absence of a legal rule can be exempted from constitutional review. As Michelman again put the matter, it is “child’s play to make the simple Hohfeldian point” that the state, as the sovereign author of all law, is responsible for every legislative and executive failure to protect the fundamental rights of citizens against other citizens.17 It may be indeed be a matter of child’s play,18 but this Hohfeldian approach to Drittwirkung jurisprudence, which German theorists may well want to call a Schwabian approach, is a crucial move in the argument regarding horizontal application that I wish to develop in this essay. As already indicated above, I wish to rehabilitate with this essay Leisner’s historical and conceptual point that constitutional review concerns in the first instance the review of all private relations. The Hohfeldian/Schwabian argument allows one to do just that because it makes it clear that legally significant private relations are always mediated by state action and thus always potentially subject to constitutional review. However, this essay also seeks to move beyond this Hohfeldian/Schwabian focus on the state as incircumventible object of constitutional review for the sake of rehabilitating an understanding of the state as the subject of constitutional review and the guarantor of the constitution. In terms of this move beyond Hohfeld and Schwabe, the state only becomes the object of constitutional review once executive or legislative action becomes evidently unworthy of proper state conduct, that is, when the state begins to act like a cohort of or accomplice in private action. But in order to make this argument we need to turn to French constitutional theory and history. American constitutional review has been influenced so fundamentally by the epochal judgment of Justice Marshall in Marbury v Madison19 that it does not afford us much of a window for distinguishing between infelicitous legislative or executive conduct, on the one hand, and felicitous or proper state conduct, on the other. The judgment in Marbury, focusing as it did on unconstitutional legislation, induced American constitutional jurisprudence to consider state conduct as such to be the primary target of constitutional review. This jurisprudential mindset has from the beginning no doubt also been informed by the principle of federalism in terms of which federal law (and thus also the constitution) only applies to states

17

Michelman, W(h)ither the Constitution (note 12 supra), 1067. It nevertheless took me a while to get quite on top of this child’s play. For a whole series of engagements with the significance of Hohfeld for horizontal application jurisprudence, cf. van der Walt, Perspectives on Horizontal Application. Revisiting Du Plessis v De Klerk (1997), South African Public Law, 1–31; id., Progressive Horizontal Application of the Bill of Rights: Towards a Co-operative Relation between Common-Law and Constitutional Jurisprudence (2001), 17 South African Journal on Human Rights, 341–363; id., Horizontal Application of Fundamental Rights and the Threshold of the Law in view of the Carmichele Saga (2003), 19 South African Journal on Human Rights, 517–540. 19 5 US 137 (1803). 18

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and not directly to individuals.20 But the combination of the Marbury conception of constitutional review and the principle of federalism came to induce a quasinaturalistic blind spot as regards the insight and conviction that all conduct that appears to be irreconcilable with the principles of the constitution, of which state conduct could be an example but not the only and not necessarily the primary example, should be subject to constitutionality tests. This quasi-naturalistic assumption that it is just in the nature of things that states and not private individuals are subject to constitutional review also precludes a clear regard for the insight that it is not state action as such but action unworthy of the state that is to be targeted by constitutional review. At stake here, in addressing this blind spot, is the need to rehabilitate a clear regard for the principle that true or worthy state action is in fact action defined and required by the constitution and not just limited by and subordinate to the constitution, as if states by their nature act at variance with or in tension with constitutions. Again, at issue here is the point that states become the target of constitutional review when it acts in ways which are unworthy of the state, given the way the idea of the state, or at least the postrevolutionary state (the absolutist and centralised state in pre-revolutionary France, no longer simply a matter of feudal principalities and their concomitant hierarchies but also by far not yet an embodiment of significant equality may be an exception which cannot be explored here) is historically fundamentally linked to the idea of constitutionalism. At issue here then, to labour the point somewhat, is to restore the historical and conceptual link between stateness and constitutionalism and thus to highlight the definitional proximities between the constitutional, the public, equality, horizontality, liberty and the state. This move will of course also bring to attention the irreducible tension between the private and the constitutional, given the definitional inclination of the private towards inequality, hierarchy and verticality. For too long has imprecise legal theory duped common convictions into the belief that constitutionalism concerns the protection of private liberties. To be sure, not all inequalities and not all the privatisations that underlie them are unconstitutional. In fact, some inequalities and privacies may well claim constitutional support, but the question then is also whether these “privacies” are not better named by the personal liberty and integrity that Enlightenment thinking and the revolutionary tradition retained from the Thomistic notion of the inalienable elements of human personality, vita, membra and libertas, as Grotius still called it.21

20 Cf. Tribe American Constitutional Law (2nd ed, Mineola 1988), 1691; Burke/Reber, State action, Congressional Power and Creditors’ Rights: An Essay on the Fourteenth Amendment (1973), 46 So.C L Rev. 1003, 1011-7. 21 Grotius, De iure belli ac pacis (1919, A. W. Sijthoff Lugduni Batavarum), I II I 5. For a discussion of the difference between these inalienable elements of personality and private property, cf. van der Walt, Law and Sacrifice (2005), 84–94.

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III. Constitutional “Review” in France The judicial format of constitutional review has up to very recently been a Fremdkörper in France. Constitutional review of state conduct has by and large always been restricted to the non-judicial review of administrative action by the Conseil d’État in terms of the rules of administrative law. The French Conseil Constitutionelle (Constitutional Council), the closest parallel institution to constitutional courts in other states, has up to 1971 never subjected legislation to substantive constitutional review. It viewed its task to consist in guarding the boundary between legislative and administrative law-making and not in checking legislative compliance with the Constitution. Up to March 2010 when the question prioritaire de constitutionalité came into force with the 2009 amendment of article 61(1) of the Constitution, the Conseil Constitutionelle also never functioned as a forum to which individuals could appeal against the constitutionality of laws that affected them. Such individual constitutional appeals are now possible and depending on whether the appeal derives from an administrative court or another court, they are referred to the Conseil Constitutionelle by either the Conseil d’État or the Cour de Cassation. Before March 2010 legislation could only be referred to the Conseil Constitutionelle between acceptance by parliament and promulgation by the President of the Republic. Constitutional review was for this reason until very recently little more than a phase of the legislative process itself that ensured the constitutionality of legislation before promulgation. The decision of the Conseil Constitutionelle in 1971 which, on referral by the President of the Senate, declared unconstitutional proposed amendments to a 1910 statute regarding the registration of non-profit organisations nevertheless already then introduced an element of substantive review, if not quite of legislation, at least of the legislative procedure before its conclusion by promulgation.22 The decision evinced sufficient elements of substantive review to elicit invocations of the importation of Marbury v Madison into France.23 It must nevertheless be kept in mind that the Conseil Constitutionelle is a non-judicial body that has not broken significantly with the French predisposition towards non-judicial review that can be traced all the way back to the Sénat conservateur introduced by the Constitution of 1799 along the lines of the jurie constitutionnaire proposed by Sieyès in 1795. The French revolutionary spirit could contemplate the notion that the revolutionary government had to reflect on its own constitu22 Constitutional Council, Decision of 16 July 1971, J.O. 7114; [1971] Semaine Juridique II 16832. Cf. Beardsley, Constitutional Review in France (1975), 189 The Supreme Court Review, 190. 23 Morton, Judicial Review in France: A Comparative Analysis (1988), 36 The American Journal of Comparative Law, 90; Beardsley (note 22 supra), 190; Haimbaugh, Was it France’s Marbury v Madison? (1974), 35 Ohio St. L.J., 910; Davis, The Law/Politics Distinction, the French Conseil Constitutionnel, and the U.S. Supreme Court 1986 (34), American Journal of Comparative Law, 45 ff.

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tionality. Robespierre’s proposal for a “national grand jury” which could vindicate the rights of citizens against the legislature is a case in point.24 But the rejection of and resistance to substantive review of legislation by a judicial body has always been a key characteristic of post-revolutionary French politics that dates back to the Law of 16–24 August 1790 as well as articles 3 of the Constitution of 1791 and 203 of the Constitution of 1795, all of which sought to eradicate and prevent restoration of the powers of review of the courts of the ancien régime. These courts, called parlements (to be distinguished from parliaments) could uphold the fundamental law against royal decrees through their remonstrances and could even lay down general regulatory rules or arrêts de règlements unconnected to litigation. The revolutionary governments and constitutions sought to eradicate these legislative and review powers of the old courts so as to ensure the sovereignty of la loi (which included executive decrees and parliamentary legislation) and already in 1779 did the Court de Cassation have its first occasion to deny the competence of judiciaries to consider the constitutionality of legislation;25 hence the strong resistance to a veritable stare decisis doctrine in the French legal system ever since. French judges are strictly speaking required to judge the case at hand, not to lay down general and enduring rules of law as English and American common law judges are understood to do.26 The point of this summary exposition of relatively well-known elements of French legal history is not to endorse old anti-juristocracy arguments like those of Lambert27 and Carré de Malberg28 in France or more recent ones like those of Ran Hirschl29 in America. Nor is it thus aimed at simplistically choosing for the French and against the American system. The point of engaging with this history is simply to take into account and refresh an understanding of constitutionality that the American legal system does not offer one readily, namely, the understanding of the state as an embodiment of constitutionality and not a democratic counter-force at loggerheads with constitutionality. This is exactly the point that Walter Leisner stressed in his contribution to the German Drittwirkung debate. Leisner’s whole narrative of German constitutional history sought to rectify Jellinek’s notion that constitutional review is fundamentally aimed against state viola24

Beardsley (note 22 supra), 208–209. Beardsley (note 22 supra), 191–192. 26 Cf. Davis (note 23 supra), 49–51. 27 Lambert, Le Gouvernement des Juges et la Lutte Contre La Législation Sociale Aux États-Unis, Paris 2005, 220–236; Cf. also Beardsley (note 22 supra), 204 with reference to the 1921 Giard edition. 28 Carré de Malberg La Loi Expression de la Volonté Générale, Economica, Paris, 1984 reproduction of the original 1931 Receuil Sirey Edition), 103-39; Cf. also Beardsley (note 22 supra), 203 referring (inadvertently?) to a 1930 edition. 29 Hirschl, The Political Origins of Judicial Empowerment through Constitutionalization: Lessons from Four Constitutional Revolutions (2000), 25 Law & Social Inquiry 91–152. 25

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tions of the constitution.30 In startling contrast with Jellinek, Leisner emphasised the historical reality of an opposite understanding of constitutionalism among the French revolutionaries. In a passage on which Stern’s Staatsrecht III/1 comments at length,31 Leisner contended that the principles of equality of the Constitution and the fundamental rights embodied in the Déclaration des Droits d’Homme et de Citoyen were not primarily aimed at curtailing or limiting the power of the state, but in fact at terminating the private law conceptions of arbitrary power with which the monarchy and feudal rulers reigned over people. These monarchical and feudal powers were essentially private powers and privi-leges that exempted some individuals from the fundamental equality before the law which the revolutionary constitutions came to stress. And the state was considered to be the essential vehicle for realising the revolutionary principle of equality before the law by programmatically terminating the private privileges afforded by the ancien régime. The state was generally perceived to do just this, even when it acted forcefully and sharply. That the state could itself violate the constitution was a secondary consideration that the revolutionary generation hardly took seriously. When state action itself indeed sometimes occasioned the need for constitutional scrutiny, it was considered to be the result of state powers having been appropriated or misappropriated in a privatising fashion unworthy of the state. Leisner articulated these points as follows: “Die französische Déclaration war nicht primär eine Reaktion gegen ‘den Staat’: sie richtet sich gegen gewisse Übergriffe der königlichen Exekutive, nicht gegen den Staat an sich, wie die gleichzeitige Verstärkung der staatsgesetzlichen Allmacht beweist. Ausgangspunkt war deshalb weniger die Infragestellung eines staatlichen Machtsanspruchs als solchen, sondern vielmehr die Reaktion gegen die Ausübung der Gewalt über Menschen in einer privatrechtsähnlichen, willkürlichen Weise . . . dessen sich das niedergehende Königtum mit manchen Polizeimethoden schuldig machte. Auch die antistaatliche Reaktion war rechtlich nur ein ‘drittgerichter’, ‘privatrechtlicher’ Kampf. [. . .] Die ‘Gleichheit’ stand so sehr im Vordergrund, dass immer wieder mit Verwunderung festgestellt worden ist, dass die Eingriffe staatlicherseits später oft weit schärfer waren, aber ertragen wurden in der Erkenntnis, dass hier Staatsgewalt in staatswürdiger Weise ausgeübt wurde.” 32

What emanates from this passage is a conception or idea of the state as the embodiment of freedom and equality, not the threat and obstacle to such freedom and equality. And with this inversion of Jellinek’s conception that constitutional review is primarily or exclusively aimed at reviewing state conduct, comes an inversion of another notion that we also find at the core of Jellinek’s scheme of law and in standard dogmatic taxonomies of law. Jellinek defined public law relations in terms of the vertical relations between public authorities and subordi30 Leisner (note 5 supra), 4, referring to Jellinek Die Erklärung der Menschen und Bürgerrechte, 1919, 1 ff. 31 See the opening quote above. 32 Leisner (note 5 supra), 22.

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nated subjects (Unterworfene). Private law relations, on the other hand, consisted for him in terms of the horizontal relations between private individuals (Nebengeordnete).33 Leisner communicates exactly the opposite view in the passage above: public law relations are equal and horizontal, private law relations are hierarchical and vertical. Considered against this background, the invocation of the notion of horizontal application of fundamental rights to describe the impact of fundamental rights in the private sphere may thus well be fundamentally wrong and miscued, unless we actually mean by horizontal application the horizontalising application of fundamental rights in the private sphere.34 IV. The State and Contemporary European Constitutionalism Again, the points expounded above do not seek to prompt a response here to the question whether American judicial review or French non-judicial review constitutes the better approach to constitutionally questionable conduct. Empirical and historical examples of constitutionally questionable executive and legislative conduct unworthy of state action abound and surely raise the question whether an independent judiciary does not provide a superior channel through which the state can scrutinise the compatibility of empirical executive and legislative conduct with the idea of the constitutional state and thus with conduct worthy of the state. That this question has all along enjoyed cogent purchase also in France is attested by formidable legal theorists such as Thaller, Jalabert, Duguit and Hauriou.35 In fact, it is a poignant question whether the task of upholding the constitutional sovereignty of European states and thus of safeguarding the constitutional duties of these states to guarantee the constitutional rights of their citizens has not indeed fallen today to state constitutional judiciaries. This question is posed here against the background of three remarkable recent European cases, the Viking and Rüffert cases decided by the European Court of Justice (ECJ) in 200736 and 200837 and the Lisbon decision of the GFCC in 2009.38 The Viking and Rüffert cases are two of the quartet of cases (the other two being the Laval 39 and Luxembourg40 cases) in which the ECJ has made its neoliberal jurisprudence conclusively clear. Viking is a typical “horizontal application” case that turned on the conflict between the fundamental rights concerns of 33

Jellinek Allgemeine Staatslehre, Berlin 1922), 384. van der Walt (note 21 supra), 55–77. 35 For the views of Duguit, Hauriou, Thaller and Jalabert, cf. the references in Beardsley (note 22 supra), 199. 36 EU: Case C-438/05 (hereafter Viking). 37 EU: Case C-346/06 (hereafter Rüffert). 38 BVerfGE 2 BvE 2/08 of 30.6.2009 (hereafter Lisbon). 39 EU: Case C-341/05 (hereafter Laval). 40 EU: Case C-319/06 (hereafter Luxembourg). 34

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private parties. At stake on the one hand were the rights of Finnish fisherman established by a collective bargaining agreement secured by the Finnish Seaman’s Union in terms of Finnish Labour Law and the fundamental rights to collective bargaining warranted by the Finnish Constitution and the European Charter of Rights. At stake on the other hand was the Charter liberty in terms of Art 43 (freedom of movement/establishment) of the owner of a fishing vessel to reregister the vessel in Estonia so as to benefit from less burdensome Estonian labour agreements and regulations, on the other. Rüffert is a typical or classical “vertical application” case in which the ECJ reviewed the compatibility of legislation of Niedersachsen with Art. 49 (freedom to provide services) of the European Charter and Art. 3(1) of Directive 96/71 of the European Council. The ECJ decided the conflict in Viking in favour of Viking, the owner of the fishing vessel. The ECJ nevertheless stressed that this subordination was not a matter of simply disregarding social considerations and objectives but of recognising that economic and social objectives are “co-original” in European law. In other words, at stake in the case was the proper “balancing” of social and economic concerns in the dispute and “harmonising” them, as Advocat General Kokott put the matter with regard to the Laval decision of the ECJ, the second in the quartet of cases that followed the reasoning and judgment in Viking.41 Some credulous commentators actually believe this rhetoric of “balancing” and “harmonising” without much ado,42 but many have others have pointed out the privileging of economic liberties (and the economic constitution of Europe) over fundamental social rights that is evident in this and related decisions of the ECJ.43

41 Kokott, The ECJ’s Interpretation of the Posting Directive in the Laval and Rüffert Judgements, http://www.bmas.de/portal/27236/property=pdf/2008__07__16__symposi um__eugh__kokott__englisch.pdf. To be fair to Kokott, she insists that this was a case specific instance of “balancing” and not a “compulsive” line of reasoning that will bind all future cases. This may be assuming too much, but she in fact seems to be vaguely in favour of a different line of reasoning (such as the one presented by Advocat General Bot and rejected by the Court) in future cases. 42 Sabel/Gerstenberg, Constitutionalising an Overlapping Consensus: The ECJ and the Emergence of a Coordinate Constitutional Order, 2010, 16 European Law Journal, 551. 43 Barnard, Employment Rights, Free Movement Under the EC Treaty and the Services Directive, Europa Institute Mitchell Working Paper Series 5/2008 http://www. law.ed.ac.uk/file_download/series/44_employmentrightsfreemovementundertheectreaty andtheservicesdirective.pdf; Barnard, Social Dumping or Dumping Socialism? Case note on Laval and Rüffert (2008), 67 Cambridge Law Journal, 262; Joerges/Rödl, Informal Politics, Formalised Law and the ‘Social Deficit’ of European Integration: Reflections after the Judgments of the ECJ in Viking and Laval (2009), 15(1) European Law Journal, 1 ff.; Rebhahn, Grundrechte und Grundfreiheiten im Kollektiven Arbeitsrecht vor dem Hintergrund der neuen EuGH Rechtsprechung, http://www.etui.org/en/Headline-issues/Viking-Laval-Rueffert-Luxembourg/2-Articles-in-academic-literature-on-thejudgments/(offset)/45; Scharpf, The Only Solution is to Refuse to Comply with the ECJ Rulings, http://www.boeckler.de/164_92433.html. Cf. also, poignantly, Christodoulidis,

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And one can surely imagine that the owner of the fishing vessel and the Finnish fishermen that worked for him also entertained entirely different and contradictory views regarding this “balancing” and “harmonising” invoked here. What is new, one might well ask. Winners and losers of court cases do not feel the same about the outcome of these cases and there is no reason for being overly precious about this, one might continue. Law is a matter of sacrifice, some stress,44 but few deny. This cavalier response, however, becomes somewhat problematic under circumstances where the losers in a conflict become typical (the same concerns always lose out) and, moreover, no longer have any significant say as regards the law in terms of which they always lose. And it has become a pervasive observation that this is exactly what is afoot in Europe today. Not only has Viking in a short time been affirmed by not less than three other similar cases. A general perception is spreading that European Community law is depriving citizens of the member states their democratic participation in making the law, given the way law-making in the intransparent corridors of bureaucracy has come to subvert and displace the participation of citizens in sovereign domestic law-making.45 When one loses in the game of democratic law-making, one can at least to some debatable extent argue that one has taken part in it. When one constantly loses in a game constructed and played by unknown players, the context turns rather Kafkaesque. In Rüffert this Kafkaesque scenario evident in Viking turned towards consuming the last rests of accountable “democratic reality” that one may have hoped for in the regulatory affairs of contemporary Europe. Dirk Rüffert, liquidator of the assets of the company Objekt und Bauregie, pursued a claim of Objekt und Bauregie against Niedersachsen for services rendered in the building of the Göttingen Rosdorf prison. The Hannover Landgericht (Regional Court) offset the claim with a penalty incurred by Objekt und Bauregie for contravening Niedersachsen legislation. The legislation at issue, the Landesvergabegesetz, required contractors and subcontractors to comply with Niedersachsen social security regulation and collective bargaining agreements whenever they tender for building and pubA Default Constitutionalism? Some Cautionary Remarks on the Many Constitutions of Europe, in: Tuori/Sankari (eds), The Many Constitutions of Europe, Farnham, 2010. 44 van der Walt (note 21 supra), 1 ff. 45 Cf. Siedentop in the Wall Street Journal, 17 June 2005: “Democratic political cultures are being weakened in the Member States, without being replaced”; for this reference, cf. Piris, The Constitution of Europe – A legal analysis (2006), 18. For a more specific discussion of the way domestic bureaucracies increasingly passes contentious policy decisions that they would struggle to get passed in domestic legislatures onto the European level where democratic controls will not interfere, cf. Oeter, Federalism and Democracy, in: von Bogdandy/Bast (eds.), Principles of European Constitutional Law (2007), 78. For a further analysis of how the intergovernmental composition of the Council, for all its claims to democratic representation, only strengthens the hand of the Commission, cf. 68.

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lic transport service contracts with Niedersachsen authorities. The preamble of the legislation stated expressly that the aim of the legislation was to avoid “distortions of competition which arise in the field of construction and local public transport services resulting from the use of cheap labour” and to alleviate “burdens on social security schemes”.46 On appeal to the Celle Oberlandesgericht (Higher Regional Court), the latter Court referred the case to the ECJ for purposes of testing the compatibility of the legislation at issue with European law, notably Art 49 EC and Council Directive 96/71, Art 3(1). The ECJ decided that the restriction of the legislative requirements to building and transport service agreements with Niedersachsen public authorities made it clear that the regulations did not apply “universally” to “all similar undertakings in the geographical area and in the profession or industry concerned” as defined by Art. 3 par 8 of Directive 96/71. As such the legislation fell foul of Art 3 par 4 of the Directive which requires Member States to guarantee workers from other Member States posted to their territories the terms and conditions of employment that are “universally applicable within the meaning of Art. 3 par 8”. Thus did the Niedersachsen legislator lose its right to determine the working and social security conditions of employees involved in contracts (or subcontracts) with Niedersachsen public authorities and thus did Dirk Rüffert vindicate the right of Objekt und Bauregie to sub-contract 53 Polish workers to build the Göttingen Rosdorf prison in Niedersachsen at 46.7% of the minimum wage laid down by the “Building and Public Works Collective Agreement” in Niedersachsen. In the time of globalisation and the increasing displacement of national public authorities by supra-national authorities with ever more indirect, ever vaguer and ever thinner public accountbility, non-recognition of the horizontal application of constitutional rights cannot but contribute to the general withering away of national Constitutions and national Constitutional rights, Frank Michelman argues.47 This is so, goes his argument, because vertical application of fundamental rights will become the less significant the more legislative and executive powers of the state get marginalised by supra-statal governance. The Rüffert case shows us in the clearest terms what Michelman is getting at. Whether horizontal application might still act as a panacea in this regard, that is, act as a last resort for national Constitutions and the rights embodied in them, as Michelman’s argument implies (and as everyone concerned with the proscription of unconstitutional exercises of private power have argued for some years now48) has never46

Rüffert, par 15. Michelman (note 12 supra), 1081–1083. 48 Consider the exemplary statement of this position by the South African Constitutional Justice Madala in Du Plessis v De Klerk (1996), 5 BCLR 658 (CC), para 154/ 727H-J: “I agree that our Constitution has vertical operation and deal with this aspect no further. However, I do not subscribe to the view that its operation is limited to verticality only. In my view, some of the rights entrenched in Chapter 3 [of the South Afri47

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theless become debatable if not downright doubtful in view of the Viking and Laval cases. These cases were horizontal application cases, but they too contributed to the circumvention of national constitutional rights. It is against this background that one begins to appreciate the significance of the judgement of the GFCC in its Lisbon decision. The GFCC stated clearly in Lisbon that it would generally defer to European Community law on the basis of trust that the ECJ would generally safeguard the fundamental rights embodied in the German Constitution sufficiently. The GFCC nevertheless reserved for itself the right not to comply with European law in exceptional cases when this is the only way of averting violations of German Constitutional rights. This is a remarkable development that attests to a judiciary acting in the interests of state sovereignty and not against it. As such it introduces a new phenomenon (already anticipated by the GFCC’s Solange judgements49) that conforms neither to the American limitation of state sovereignty by a constitutional judiciary, nor the traditional French rejection of the judicial review of democratic sovereignty. At issue in this development is nothing less than a judicial endorsement, through judicial review at that, of state sovereignty, but a state sovereignty aspiring to be worthy of the concept and idea of constitutional state sovereignty. As the GFCC put the matter in a number of key observations: “Die europäischen Vereinigung auf der Grundlagung einer Vertragsunion souveränen Staaten darf allerdings nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gilt inbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privatem Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politische Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten.” 50

The GFCC articulated a ringing promise with this statement, a promise that it would see to it, at least as far as its own jurisdiction is concerned, that the state remains a last resort for the constitutional review of all power, irrespective whether this power is wielded by private or public actors. In the same breath it left much doubt as to whether it is actually going to live up to this promise. Referring amongst others also specifically to the Laval and Viking cases, it commended the jurisprudence of the ECJ to be fundamentally in keeping with the can Constitution of 1993] also operate directly in the area of relations between private individuals. Those who would widen the scope of the operation of the Bill of rights hold the view that the verticality approach is unmindful of the modern day reality – that in many instances the abuse in the exercise of power is perpetrated less by the State and more by private individuals against other private individuals.” 49 37 BVerfGE 271 (Solange I); 73 BVerfGE 339 (Solange II). 50 Lisbon par 249 (also highlighted as Leitsatz 3).

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social state principle of the German constitution,51 notwithstanding having taken due notice of the academic criticism of these cases by Rebhan, Joerges and Rödl, amongst others.52 The ECJ’s Rüffert judgement (delivered 3 April 2008) may have come too late to be taken into account in the Lisbon decision (delivered 30 June 2009). If not, one would have to assume that Lisbon just turned a blind eye to Rüffert for the time being. For it is hardly conceivable that the decision in Rüffert does not at least warrant incisive scrutiny in view of the sovereignty-protecting role the GFCC assumed in Lisbon. V. Conclusion The reading of the Lisbon case expounded above affords us a remarkable opportunity to rehabilitate and rethink the idea of the state as the embodiment of the constitutional idea of public freedom and equality. This idea requires rehabilitation today as a result of the negative understanding of the state as the principal threat to constitutionalism that became dominant in the course of the twentieth century as a result of so many totalitarian and fascist abductions of the state. These abductions, however, should indeed be understood as abductions and not as instantiations or instances of the state. They should especially not be understood as excessively powerful instantiations of the state that were prone to abuse because of their excessive power. Chris Thornhill argues cogently that all the histories of twentieth century fascism can be analysed in terms of states that were too weak to uphold and safeguard a proper public sphere vis-à-vis the private sphere and for this reason were far too exposed to the designs and pursuits of private interests.53 Against this background the pervasive substitution today of public authorities informed by the idea or concept of democratic accountability by semi-private modes of governance the public accountability of which becomes increasingly vague and thin, begins to attain a somewhat ominous dimension as far the idea and ideal of constitutional and democratic government is concerned.54 The argument that I have developed here surely evinces echoes of the Hegelian idea of the state as the embodiment of the ideals of the French revolution, of Kantian moral autonomy and thus of the Idea of universality or Allgemeinheit 51

Lisbon par 398. For the references, cf. 43 above. 53 Cf. Thornhill, Towards a historical sociology of constitutional legitimacy (2008), 37 Theory and Society, 161, 188–195. In making this point I am also indebted to Thornhill for access to unpublished papers and the manuscript of his forthcoming book A Sociology of Constitutions, Cambridge. 54 Cf. the poignant responses to this development in the contributions to Cafaggi (ed), The Institutional Framework of European Private Law, Oxford 2006; Cafaggi/ Muir-Watt (eds.), Making European Private Law, 2008. 52

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that keeps the all devouring conflict of particular and private interests in civil society at bay.55 Some may also discern in this Hegelian or quasi-Hegelian argument an echo of Carl Schmitt’s concern with neutral commissionary dictatorial institutions (the imperial president, the Beamtentum or offices of civil service, the judiciary, the reserve or national bank and the national railway company) that safeguard the constitution and prevent the state from falling prey to the factional interests of society.56 Both Hegel and Schmitt have for good and bad reasons been linked to totalitarian conceptions of the state, but the elements of their thought that I have invoked here also evince a remarkable anticipation of key concepts that Claude Lefort would bring to bear on the concern with (post-politico-theological) democratic constitutionalism. For Hegel the universal (Allgemeinheit) was the negative concept that had no positive content but existed only in and through its negation of all factional particularity and determination.57 Schmitt, citing Constant, described the power of the imperial president charged with safeguarding the state as a pouvoir neutre. The imperial president reigned and did not govern. He simply kept the state intact and did not pursue particular or personal political interests.58 Empirically the idea of the imperial president turned out to be disaster for it culminated historically in the absolute abduction of the state when Hitler took over the presidency from Hindenburg, united it with the chancellorship, and began to govern and reign simultaneously. Remarkably, Schmitt still seemed to endorse his earlier distinction between reigning and governing (auctoritas and potestas) in his 1933 analyses of the National Socialist State, but here he evidently was more intent on neutralising the imperial president so as to clear the field of government for the autocratic rule of the Führer and not on retaining the neutral power of the president as guarantor of the constitution.59 The Hegelian idea of the state as the embodiment of universality was not an empirical success either. On the one hand, it never got far until 1848 and soon after gave way to the restoration and renewed hegemony of the ancien régime of Prussia in Germany. And the short-lived moment of the Paulskirche constitution was as such more a reflection of the desire for German unification than it was with constitutionalism. On the other hand, it soon became increasingly accused of merely being a vehicle for the protection of class interests. Yet, the ideas of state Allgemeinheit and the socially neutral power of the state embodied in commissionary dictatorial institutions can also be read as early intimations of the 55 Cf. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke in zwanzig Bänden, 7, Frankfurt a. M. 1970, 407–408. 56 Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Berlin 1996, 149–159. 57 Hegel, Logik II, Werke in zwanzig Bänden, 6, Frankfurt a. M. 1969, 274–275. 58 Schmitt (note 56 supra), 132–140. 59 Schmitt, Staat, Bewegung, Volk, Hamburg 1933, 9–10.

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empty space (lieu vide) of power that Lefort identified as the defining element of democracy.60 Schmitt’s Verfassungslehre would of course take leave of this empty or emptied concept of the state and of constitutionalism and replace it with the existential concreteness of the pouvoir constituent, the fullness of which could imaginably only be surpassed still by the Bewegung. The ideas or concepts of state universalism, public freedom, neutral power or the empty space of democratic power would appear to be, empirically speaking, the most precarious concerns constitutional and political theory can entertain. The paradox that Thornhill leaves us to ponder in this regard is this: The stronger the state, the greater are its chances to keep the space of power empty and the better are its chances to reign as a neutral power. The weaker it is, the more exposed it will be to factional replenishments eager to swamp its lieu vide, public space and pouvoir neutre with private interests.61 The ideas of the state, neutral power, and the empty space of public freedom have proved to be historically precarious and empirically fragile, no doubt. But the future of constitutional democracy and the future of the Lisbon jurisprudence of the GFCC, may well turn on the extent to which we can hold on to them. It is also for this reason that we must take Leisner’s narrative regarding the horizontal application or Drittwirkung at the heart of all constitutional review seriously. The idea that all constitutional review concerns the Drittwirkung of constitutional rights goes hand in hand with the idea of the state that maintains the neutral power and empty space of constitutional democracy, the state that does not fill this space with any pursuits of its own. As Leisner put it: “Weil ‘Werte’ aber nach der naturrechtlich-personalen Auffassung nur vom Menschen ausgehen können, verliert eine Freiheitsbetätigung ihre ‘Werthaftigkeit’ stets bei Kollision, nicht primär mit der staatlichen, sodern mit der ‘Wertsphäre’ anderer Individuen. Der Bedeutungswandel zur Werthaftigkeit führt also einerseits zu einer grundsätzlich-primären ‘Drittwirkung’ aller Freiheit, weil ein Zusammenstoß mit dem ‘Staat’, der seines ‘Selbstzwecks’ entkleidet ist, nur mehr eine Verletzung (vieler, mediatisierter) anderer persona-Werte ist.” 62

To rephrase with reference to the passage from Stern’s Staatsrecht with which we began: Not only does Drittwirkung always involve the competition, conflict or mutual limitation between two fundamental rights and between two subjects of fundamental rights. All limitations of rights, also limitations imposed by the state, concern competition, conflict or mutual limitation between two fundamental rights and two subjects or two groups of subjects of fundamental rights. Against the background of the post-metaphysical insistence that all values have their origins in human evaluations, against the background of secular states that 60 Lefort, L’invention démocratique, Paris 1994), 92: “[L]’image de la souveraineté populaire se joint celle d’un lieu vide, impossible à occuper [. . .].” 61 Cf. again Thornhill (note 53 supra). 62 Leisner (note 5 supra), 144.

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no longer pursue their own transcendent metaphysical or politico-theological ends, against the background, in other words, des selbstzweckentkleideten Staats, limitations of freedom are always limitations by third parties and the constitutional review of these limitations always a matter of Drittwirkung der Grundrechte. Hans Kelsen had exactly the same thought in mind when he insisted that that constitutional democracy is not concerned with truth, only with the maintenance of compromises between majorities and minorities.63 The importance of Kelsen’s thought in this regard lies not only in the astoundingly simple way in which he resolves the paradox of constitutional democracy and the enigma of the co-originality of democracy and rights to which Habermas has paid extensive attention.64 Given that the concept of the majority, as opposed to or in contrast with the sheer fact of mute overpowering force, depends on the concept of the minority for its meaning, the constitutional identification and protection of minorities also constitutes the constitutional protection of majorities. Kelsen saw clearly that there is no democracy-rights conflict at issue here but the necessary co-existence of both. This thought is crucial for the understanding of horizontal application constitutional review that I have developed in this essay. If the intransparent ordo-liberal consensus in which Europe again appears to be shrouded today is ever to be dignified with the concept of a “democratic majority” and not to degenerate completely into some silent bureaucratic movement (Bewegung) that consumes all like Hegel’s civil society ([d]ie bürgerliche Gesellschaft ist die ungeheure Macht, die den Menschen an sich reißt, von ihm fordert, daß er für sie arbeite und daß er alles durch sie sei und vermittelst ihrer tue),65 constitutional review had better start identifying and come to the avail of real dissent and real dissenting minorities. For this purpose constitutional review may well wish to avoid glib invocations of balancing and harmonising interests and constitutional scholarship may well wish not to embellish these facile invocations further with inane imputations of overlapping consensus.66 The understanding of constitutionalism and constitutional review in terms of the active and acute judicial concern with the identification of dissenting minorities is indispensable for the understanding of the constitutional state as disrobed, as it were, of all substantive goals (der selbstzweckentkleidete Staat). The judicial identification of dissenting minorities is crucial for the understanding of the constitutional state as an empty public space (lieu vide). It is not enough to simply insist in this regard on a strong state that will actively 63

Kelsen, Vom Wesem und Wert der Demokratie, Aalen 1981), 53, 57, 58. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1992, 112–135; 167–187. 65 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 238, Zusatz (386). For a penetrating discussion of Hegel’s view of the relation between the state and civil study, cf. Ritter’s ever poignant 1965 essay Hegel und die französischen Revolution, in: Ritter, Metaphysik und Politik, Frankfurt a. M. 2003, 183–255. 66 Sabel/Gerstenberg (note 42 supra), 551 ff. 64

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maintain public space as an empty space that de jure belongs to everyone and noone (Lefort), only to see this “evacuated public space” de facto occupied by nonstatal elites and dominant private actors that in fact require exceedingly forceful state machinery to safeguard these “private” occupations of the “public”, however “minimal” this forceful machinery may have appeared to the likes of Nozick and Hayek. It is important to remember that the ordo-liberals, the prototypes of contemporary neo-liberals, were also fiercely in favour of a strong state.67 The only way of forcefully protecting the empty space of constitutional democracy against de facto occupations of spaces that are no longer maintained but simply evacuated by the state, is to constantly rely on the state to retain and reopen space for those sidelined by these de facto occupations of public space. This is what constitutionalism and the constitutional protection of minorities through judicial review are all about. Considered against the background of supra-statal or Großraum governance, this is no longer a simple matter of protecting electoral minorities against electoral majorities. In the context of supra-statal governance, the identification of electoral majorities and minorities become increasingly complex and insignificant. This is clear from the Rüffert case (who votes for what in Niedersachsen does not seem to be all that significant after Rüffert) and well reflected in the constitutional complaints articulated in the Lisbon case (that electoral politics in Germany will generally be distorted by electoral majorities elsewhere in Europe that have neither quantitative nor qualitative claims to democratic sovereignty in Germany). Against this background, the identification of constitutionally relevant minorities (and majorities!) may well turn on the judicial identification of precarious and threatened constitutional interests. Judicial constructions in lieu of electoral identifications of “minorities” and “majorities” will of course remain irksome to die hard exponents of popular sovereignty. But then, one also learns from Kelsen that electoral minorities and majorities are themselves legal fictions and therefore ultimately and potentially judicial constructions.68 Unless law is bid farewell and recourse is taken, say, to civil war, electoral disputes will ultimately also be resolved and decided by constitutional judiciaries with reference to constructive rules that concern much more than mere head counts.69

67 Joerges, Europe A Großraum? Shifting Legal Conceptualisations of the Integration Project, in: Joerges/Ghaleigh (eds), Darker Legacies of Law in Europe: The Shadow of National Socialism and Fascism over Europe and its Legal Traditions, Oxford 2003), 167–191; id., Wurde Europa ein Großraum? Zäsuren, Kontinuitäten, Re-Konfigurationen in der rechtlichen Konzeptualisierung des Integrationsprojekts, in: Jachtenfuch/Knodt (eds), Regieren in internationalen Institutionen, Festschrift Beate KohlerKoch, Opladen 2002), 53–78. 68 Kelsen (note 63 supra), 31–32. 69 The locus classicus in recent years is surely Bush v Gore 531 US 98 (2000).

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Thus do judges construct political majorities and minorities when electoral processes run into trouble. They also do so every time they move to safeguard a constitutional right against legislating majorities and against dominant social powers represented by common law or private law judiciaries. When the latter happens, they identify a minority by virtue of identifying a politically precarious constitutional concern and by protecting it at the cost of a constitutional concern that they deem less precarious. The Viking, Ruffert and Lisbon cases show that supra-statal and statal judiciaries may well come to have different views as to who or what constitutes the relevant minority and majority in a particular case. When this happens, a national or statal constitutional judiciary may well come to protect its own electoral majority, its own embodiment of popular sovereignty, as the relevant minority. And thus can constitutional review and horizontal constitutional review, considered in terms of the familiar old state action doctrine or the duty of the state to protect the rights of its citizens, come to the rescue of state sovereignty in a strikingly new way. But as Kelsen shows us well, they also do so when they protect their own national minorities against their national majorities, because by doing so, they construct a constitutional democratic majority out of a mere electoral majority which otherwise may well turn out to be, as history has surely shown Kelsen, nothing but a delirious and blind social force. This is so because there is no such thing as a constitutional majority without a constitutional minority. And all of this, I wish to argue, can be inferred from thorough reflection on Stern’s simple observation that the horizontal application of fundamental rights concerns, constitutionally speaking, a clash between two fundamental rights.

3. Teil

Supranationaler und internationaler Grundrechtsschutz

Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit im Spiegel europäischer Rechtsentwicklungen Von Claus Dieter Classen I. Einführung Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit stellt ein altes Element deutscher rechtsstaatlicher Tradition dar. Wichtige Impulse erhielt es durch § 10 II 17 des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794. Danach war die Polizei darauf beschränkt, die zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit, Ordnung und zur Gefahrenabwendung „nöthigen Anstalten“ zu tun. Darauf gestützt hat das preußische Oberverwaltungsgericht eine umfangreiche Rechtsprechung entwickelt.1 Heute stellt die Verhältnismäßigkeit einen zentralen Topos des Verfassungs- und Verwaltungsrechts, vor allem der Grundrechtsdogmatik dar; mittlerweile sind schon Warnungen zu hören, dass hier zu viel des Guten getan werde.2 Zugleich stellt sie einen bedeutsamen Exportartikel deutschen Rechtsdenkens dar.3 In der Rechtsprechung des EuGH in Luxemburg finden sich erste Andeutungen bereits in einem Urteil vom 29. November 1956;4 seit 1993 ist die Verhältnismäßigkeit ausdrücklich im europäischen Vertragsrecht verankert (heute Art. 5 Abs. 4 EUV). Daneben hat sie auch in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofes für Menschenrechte eine wichtige Bedeutung erlangt. Über diese europäischen Entwicklungen hat sie auch ihren Weg „zurück“ in andere nationale Rechtsordnungen gefunden, selbst wenn die Rezeption insoweit durchaus unterschiedlich ausfällt. Diese große Verbreitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips kontrastiert mit der beachtlichen Unsicherheit darüber, was es im Einzelnen bedeutet und wie seine Beachtung gegebenenfalls kontrolliert werden kann. Von daher erscheinen Überlegungen zur Entwicklung der Verhältnismäßigkeit in der europäischen Rechtsentwicklung überaus geeignet für eine Ehrung von Klaus Stern. Dieser hat sich nicht nur immer wieder der Bedeutung der Verhältnismäßigkeit selbst gewid1 Dazu Stern, FS Lerche, 1993, S. 165 (168); Remmert, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen des Übermaßverbotes, 1995, S. 140 ff. 2 Beispielhaft: Ossenbühl, DB, VVDStRL 39, S. 189; ders., FS Lerche, 1993, 151 ff. 3 s. die entsprechende Einschätzung bei Craig, EU Administrative Law, 2006, S. 656; Galetta, in: Auby/Dutheil de la Rochère (Hrsg.), Droit administratif européen, S. 357. 4 EuGH, Rs. 8/55 (Fédéchar), Slg. 1955/56, 297 (311).

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met5. Auch die Interaktion zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen, also die Analyse der Ausstrahlung des deutschen Rechts in die internationale Rechtsentwicklung und umgekehrt die Rezeption ausländischer Entwicklungen durch das deutsche Recht stellen einen Arbeitsschwerpunkt von Klaus Stern dar.6 II. Deutsche Entwicklungen In der deutschen Diskussion ist der Inhalt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit weitgehend konsentiert: Danach ist eine Maßnahme, etwa ein Grundrechtseingriff, nur dann verhältnismäßig, wenn sie geeignet und erforderlich ist, um das vorgesehene Ziel zu erreichen, und sich zugleich auch im Rahmen einer Güterabwägung als angemessen erweist.7 Allerdings ist diese Trias schon in der deutschen Rechtsentwicklung nicht naturmäßig vorgegeben gewesen. Die Notwendigkeit, auf die das allgemeine preußische Landrecht anspielt, ließ zunächst die Grundsätze der Eignung und der Erforderlichkeit im Sinne der Verpflichtung auf das mildeste Mittel in den Vordergrund treten.8 Soweit ersichtlich beruht das Prinzip der Güterabwägung demgegenüber auf jüngeren Entwicklungen, die sich im Wesentlichen erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg abgespielt haben.9 Nichtsdestoweniger stellt die Güterabwägung in der Rechtsprechung des BVerfG aus heutiger Sicht zumeist den Schwerpunkt einer Grundrechtsprüfung dar. Nur selten scheitern Maßnahmen an den Schwellen der Geeignetheit und der Erforderlichkeit. Einige – eher zufällig ausgewählte – Entscheidungen des BVerfG aus jüngerer Zeit zeigen immer wieder das gleiche Bild: Die zuletzt genannten Punkte werden allenfalls kursorisch mit wenigen Sätzen angeschnitten und nach bemerkenswert oberflächlicher Prüfung bejaht, während dann über mehrere Seiten die Güterabwägung problematisiert wird. Genannt seien etwa Entscheidungen zum Persönlichkeitsrecht (Rasterfahndung)10, zur Berufsfreiheit (Rauchverbot in Gaststätten)11, zur Wissenschaftsfreiheit (eines Theologieprofessors)12 und zum 5 s. Stern, Staatsrecht I, 2. Aufl., 1984, § 20 IV 7; ders., FS Lerche, 1993, 165 ff.; ders., Staatsrecht III/2, 1994, § 84; dieses Werk hatte der Verfasser dieser Zeilen die Ehre zu rezensieren (AöR 121 [1996], 276 ff.); ferner Stern, in: ders./Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Einleitung, Rn. 135 ff. 6 s. etwa Stern (Hrsg.), 40 Jahre Grundgesetz – Entstehung, Bewährung und internationale Ausstrahlung, 1990; 60 Jahre Grundgesetz – Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Verfassungsverbund, 2010. 7 Statt aller Stern, Staatsrecht I (Fn. 5), S. 866; ders., Staatsrecht III (Fn. 5), S. 775 ff. Ausführlich ferner etwa Alexy, VVDStRL 61, S. 7 (18 ff.). 8 Dazu etwa Remmert (Fn. 1), S. 140 ff. 9 Zur Entwicklung Remmert (Fn. 1), S. 98, 150 ff.; ferner Ossenbühl (Fn. 2), 152. 10 BVerfGE 115, 320: eine halbe Seite (345) bzw. 19 Seiten (345 bis 366). 11 BVerfGE 121, 317: eine Seite (354) bzw. 12 Seiten (355–368). 12 BVerfGE 122, 89: eine halbe Seite (116) bzw. 3 Seiten (116–119).

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Fernmeldegeheimnis (online-Durchsuchung)13. Bei dieser Prüfung der Angemessenheit einer Maßnahme werden dann ausführlich die Bedeutung der jeweils betroffenen Rechtsgüter sowie die Intensität ihrer Beeinträchtigung gegenübergestellt und daraus die entsprechende Schlussfolgerung gezogen. Allerdings setzt genau an dieser Stelle auch die Kritik an. Die Möglichkeit der Rationalität, der normativen Begründbarkeit einer tragfähigen Güterabwägung wird zunehmend in Frage gestellt.14 Versuche der Rationalisierung durch Quantifizierung sind kaum wirklich möglich.15 Klaus Stern zufolge bereitet dieser Teil der Verhältnismäßigkeitsprüfung die „größten Schwierigkeiten“16. Hintergrund der Probleme ist vor allem, dass es bei dieser Güterabwägung nicht nur um die Frage geht, welchen Inhalt bestimmte rechtliche Vorgaben aufweisen. Vielmehr geht es ganz zentral auch um die Gewaltenteilung: Je stärker die Gerichte ihre eigenen Einschätzungen von der Bedeutung bestimmter Rechtsgüter in den Vordergrund stellen, desto geringere Bedeutung kommt den Einschätzungs- und Ermessensspielräumen der anderen beiden Gewalten, der Gesetzgebung und der Verwaltung zu. Je größer die Bedeutung der Güterabwägung, desto größer auch das Gewicht der Justiz.17 Bevor auf diese Kritik im Einzelnen eingegangen wird, soll zunächst gefragt werden, wie sich insoweit das Prinzip der Verhältnismäßigkeit anderswo entwickelt hat. III. Europäische Entwicklungen 1. Entwicklung in der Rechtsprechung des EGMR

Normative Grundlage für die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur Verhältnismäßigkeit sind insbesondere die in den zentralen Freiheitsgarantien der Art. 9 bis 11 EMRK enthaltenen Schrankenvorbehalte. Danach sind nur solche Beschränkungen zulässig, die – im Übrigen in bemerkenswerter sachlicher Übereinstimmung mit der eingangs zitierten Formulierung 13

BVerfGE 124, 43: ein Satz (62) bzw. vier Seiten (62–66). s. aus früherer Zeit insbesondere Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976; ders., Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, FS BVerfG, 2001, II, S. 445 (460 ff.); ferner Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 25. Aufl., 2009, Rn. 303 ff.; aus jüngerer Zeit pointiert Hofmann, Abwägung und Recht, 2007, S. 545: „Zumutung eines Glaubensaktes“; ferner Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 241 ff.; Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004; Groß, DÖV 2006, 856 (858 ff.); Fischer-Lescano, KJ 2008, 166 ff.; zum Problem auch Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492 (495 f.). Die Rationalität der Abwägung wird verteidigt von Alexy unter Hinweis auf eine nur eingeschränkte Prüfung der Verhältnismäßigkeit (Fn. 7). 15 Ausführlich und letztlich skeptisch Hofmann (Fn. 14); positiver Klatt/Schmidt, Spielräume im öffentlichen Recht, 2010. 16 Stern, in: ders./Becker (Hrsg.), Fn. 5, Einleitung, Rn. 140. 17 s. Fn. 54 sowie unter V. 14

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im preußischen Allgemeinen Landrecht – „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind“ zur Sicherung bestimmter, im Einzelnen ausdifferenziert näher aufgeführter Rechtsgüter. Vergleichbare Grundsätze hat der Straßburger Gerichtshof in der Folge in seiner Judikatur bei anderen Artikeln herangezogen. Dabei hat er sich insgesamt allerdings relativ wenig um eine formalisierte Strukturierung der Verhältnismäßigkeit bemüht, wie sie wie dargestellt insbesondere aus der deutschen Rechtsordnung mit seiner Trias der Eignung, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit bekannt ist. So wird zwar vielfach noch die Eignung einer Maßnahme angesprochen; demgegenüber wird die Erforderlichkeit mit der Vorgabe des mildesten Mittels als solche explizit kaum erörtert. Vielmehr ergeht sich der EGMR vielfach in einer Gesamtabwägung, die stark von einzelfallbezogenen Überlegungen geprägt ist und dabei zumindest verbal dem Einschätzungsund Beurteilungsspielraum der jeweiligen nationalen Stellen („margin of appreciation“) einen wichtigen Platz einräumt.18 Letztlich steht ähnlich wie in Deutschland die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeit im Vordergrund. 2. Entwicklung in der Rechtsprechung des EuGH

Mit dem EGMR verbindet die Judikatur des EuGH, dass sich dieser zunächst nur wenig um eine ausdifferenzierte Strukturierung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit bemüht hat; lange Zeit sind dessen Aussagen sehr knapp ausgefallen. Zu einem erheblichen Teil dürfte dies auch damit zu erklären sein, dass angelehnt insbesondere an französische Traditionen vor allem in der Anfangszeit der Integration die Begründungen der Urteile des EuGH ausgesprochen knapp ausgefallen sind und schon von daher kaum Raum für ausgefeilte Erörterungen bestand. Immerhin greift der EuGH zumindest seit Ende der 80er Jahre auf die aus Deutschland bekannte Trias der Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit zurück.19 So findet sich in einer ganzen Reihe von Urteilen, bis in die jüngste Zeit hinein, folgende Formulierung: „Nach ständiger Rechtsprechung dürfen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, die Handlungen der Gemeinschaftsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit der fraglichen Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen müssen.“20 Allerdings wird 18 s. beispielhaft EGMR, Slg. A 30, Ziff. 46 ff. (Sunday Times) = EuGRZ 1979, 386; Slg. 295-A, Ziff. 56 (Preminger). Ausführlich Grabenwarter, EMRK, 4. Aufl., 2009, S. 115 ff. 19 EuGH, Rs. 265/87 (Schräder), Slg. 1989, 2237 Rn. 21. 20 EuGH, Rs. C-189/01 (Jippes u. a.), Slg. 2001, I-5689, Rn. 81; Rs. C-379/08 (ERG u. a.), Urteil vom 9.3.2010, Rn. 86; Rs. C-343/09 (Afton Chemical), Urteil vom 8.7. 2010, Rn. 45.

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regelmäßig zugleich auch auf die nur begrenzte gerichtliche Kontrollierbarkeit hingewiesen.21 a) Verzichtbare Güterabwägung? Die vorstehend dargestellte, von der Rechtsprechung entwickelte Formulierung deckt sich allerdings nicht mit der erstmalig im Jahre 1992 im Vertrag von Maastricht (damals Art. 3b EGV) vorgenommenen normativen Verankerung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, wie sie sich heute – im Wortlaut praktisch unverändert – in Art. 5 Abs. 4 des EUV findet: „Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinaus.“ Ein Vergleich macht dabei deutlich: Während die zitierte EuGH-Formulierung die drei aus Deutschland bekannten Elemente der Verhältnismäßigkeit aufgreift – Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit/Güterabwägung –, lassen sich dem vertraglichen Text nur die beiden ersten Elemente entnehmen; die Güterabwägung fehlt. Das vertraglich verankerte europäische Prinzip der Verhältnismäßigkeit wurde im Übrigen im Zusammenhang mit den Verträgen von Amsterdam und dann von Lissabon jeweils durch Zusatzprotokolle ergänzt, doch bieten beide Texte mit Blick auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit keine inhaltlich weiterführenden Ansätze. Dieses soeben erwähnte Fehlen der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeit, also der Angemessenheit, lässt sich im Übrigen auch in der Judikatur des EuGH beobachten. In der Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten etwa findet sich zwar regelmäßig die Aussage, dass Beschränkungen verhältnismäßig sein müssen. In der bekannten und später immer wieder zitierten Formulierung aus dem Urteil in der Rechtssache Gebhard zur Niederlassungsfreiheit heißt es dazu aber: „Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich jedoch, dass nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen . . . (u. a.) geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.“22 Ähnliches lässt sich für mittelbare Diskriminierungen beobachten, bei denen die Frage auftaucht, ob Vorschriften, die an ein anderes als das durch die jeweilige Norm unmittelbar verbotenes Kriterium anknüpfen, aber eben de facto doch die eigentlich untersagten

21 Ebd.: Rs. C-189/01: Rn. 82; Rs. C-343/09: Rn. 46; vgl. auch Rs. C-379/08: Rn. 91. 22 EuGH, Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165, Rn. 37; zitiert etwa in Rs. C169/07 (Hartlauer), Slg. 2009, I-1721 Rn. 44; verb. Rs. C-171/07 und 172/07 (Apothekerkammer des Saarlandes u. a.), Slg. 2009, I-4171 Rn. 25.

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Wirkungen erzielen. Bei der Frage, ob in diesem Kontext eine bestimmte Maßnahme durch andere legitime Ziele „gerechtfertigt“ ist, wird gleichfalls nur auf Eignung und Erforderlichkeit abgestellt.23 Immer wieder prüft der EuGH aber auch Unionsrechtsakte, die Entscheidungsspielräume von Wirtschaftsteilnehmern beschränken, nur auf Eignung und Erforderlichkeit.24 Sind Grundrechte im Spiel, wird daneben aber auch die Verletzung des Wesensgehalts geprüft.25 Allein bei Sanktionen werden regelmäßig alle drei Stufen untersucht.26 Vor allem aber zeigt der Blick in die Judikatur eine bemerkenswerte Unbefangenheit des EuGH im Umgang mit diesen Unterschieden. So werden in etlichen Urteilen, in denen als Maßstab die Formulierung zugrunde gelegt wird, die auch die Angemessenheit einschließt, aber letztlich doch nur Eignung und Erforderlichkeit geprüft (und bejaht);27 umgekehrt wird zum Teil auch als Maßstab die Formulierung aus dem Vertrag genommen, aber trotzdem auch die Angemessenheit geprüft.28 Dabei versteht sich von selbst, dass zunächst einmal solche Variationen kaum zu überzeugen vermögen. Unabhängig davon, welchen Ansatz man im Einzelnen vorzieht, kann Rechtsprechung nur überzeugen, wenn sie klare Maßstäbe entwickelt und diese konsistent zu entfalten vermag; anderenfalls wird ihre Grundfunktion, Streitigkeiten verbindlich zu entscheiden, und dabei auch eine gewisse Orientierung für die Zukunft zu geben, grundlegend in Frage gestellt.29 Dies spricht allerdings nicht prinzipiell gegen unterschiedliche Formeln, denn es kann durchaus sein, dass in bestimmten Zusammenhängen eher die eine, in anderen die andere überzeugt. Notwendig ist also ggf. eine bereichsspezifische Betrachtung. Darauf ist zurückzukommen.

23 EuGH, Rs. 30/85 (Teuling), Slg. 1987, 2497 Rn. 18; Rs. C-343/92 (Roks u. a.) Slg. 1994, I-571, Rn. 33 f.; Rs. C-8/94 (Laperre), Slg. 1996, I-273 Rn. 14. 24 EuGH, Rs. C-233/94 (Deutschland/EP und Rat), Slg. 1997, I-2405, Rn. 55; verb. Rs. C-36 und 37/97 (Kellinghusen), Slg. 1997, I-6337, Rn. 33; Rs. C-491/01 (BAT u. a.), Slg. 2002, I-11453, Rn. 112; Rs. C-558/07 (S.P.C.M.), Urteil vom 7.7.2009, Rn. 41. 25 Beispielhaft EuGH, Rs. C-199/90 (Kühn), Slg. 1994, I-35 (Rn. 17); Rs. C-186/96 (Demand), Slg. 1998, I-8529 (Rn. 40). 26 Dazu Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, 2003, S. 219 ff. 27 EuGH, Rs. C-189/01 (Jippes u. a.), Slg. 2001, I-5689 Rn. 81 bzw. 100; verb. Rs. C-379/08 und 380/08 (ERG u. a.), Rn. 86 bzw. 91; dazu Koch (Fn. 26), S. 204 ff. 28 EuGH, verb. Rs. C-92 und 93/09 (Volker und Markus Schecke u. a.), Urteil vom 9.11.2010, Rn. 74 einerseits, 77 bis 83 andererseits; ähnlich EuGH, Rs. C-320/03 (Kommission/Österreich), Slg. 2005, I-9871, Rn. 86 ff. 29 Umfassend dazu Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1996; ferner Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, III, 6. Aufl., 2011, Art. 92 Rn. 1, Art. 97 Rn. 18 ff. Konkrete Kritik zur Praxis des EuGH bei Koch (Fn. 26), S. 252 ff.

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b) Intensive Prüfung der Eignung über die Frage nach der „Kohärenz“ einer Regelung Bemerkenswerterweise hat der EuGH zugleich umgekehrt die beiden anderen Prinzipien der Verhältnismäßigkeit – die Eignung und die Erforderlichkeit – in seiner Judikatur zumindest mit Blick auf Teilbereiche wesentlich stärker effektiviert, als dies im deutschen Recht bekannt ist. Zurückgehend insbesondere auf Formulierungen in der Rechtssache Gambelli sieht der EuGH eine nationale Regelung zunächst einmal nur dann als geeignet an, die „Erreichung des geltend gemachten Zieles zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, es in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen“ 30. Mit dieser Forderung entfaltet der EuGH einen wesentlich strengeren Prüfungsmaßstab im Bereich der Geeignetheit als das BVerfG, das es seit langem ausreichen lässt, wenn die Maßnahme geeignet ist, das in Visier genommene Ziel zu befördern, was nahezu immer der Fall ist. Konkret ging es im Leitfall Gambelli um die Frage, ob das in vielen Staaten bestehende staatliche Glücksspielmonopol mit der Dienstleistungs- und der Niederlassungsfreiheit vereinbar ist. Der EuGH knüpfte dies an die Voraussetzung, dass diese Monopole, die naturgemäß mit einem Verbot privater Glücksspiele gekoppelt sind, eben so ausgestaltet sind, dass sie tatsächlich in kohärenter – in anderen Sprachfassungen: konsistenter31 – Form die Spielsucht bekämpfen und nicht einfach das staatliche Monopol absichern.32 Als weitere Beispiele aus der Rechtsprechung des EuGH für Regelungen, die sich als inkohärent erwiesen, können etwa genannt werden die österreichische Bedürfnisprüfung bei Zahnarztambulatorien, weil die mit diesen vergleichbaren Gruppenpraxen keinem vergleichbaren Regime unterworfen und die Bedarfsprüfung zudem ohne tragfähige Kriterien durchgeführt worden seien33, das italienische Werbeverbot für medizinische Leistungen, weil es nur für nationale, nicht aber für regionale Fernsehsender gelte,34 oder eine sardische Steuer auf die Landung von Flugzeugen, die mit dem Schutz der Umwelt begründet, aber eben nur erhoben wurde von Betreibern, die ihren Steuerwohnsitz außerhalb von Sardinien hatten35. 30 EuGH, Rs. C-243/01 (Gambelli), Slg. 2003, I-13031 Rn. 67, unter Hinweis auf die insoweit aber nur begrenzt ergiebigen Urteile in der Rs. C-275/92 (Schindler), Slg. 1994, I-1039; Rs. C-124/97 (Läära), Slg. 1999, I-6067, und Rs. C-67/98 (Zenatti), Slg. 1999, I-7289 Rn. 37. Ausführlich dazu Mathisen, CMLR 47 (2010), 1021 ff. 31 Dazu Mathisen, CMLR 47 (2010), 1021 (1024), der für die deutsche Sprache „konsequent“ als angemessene Bezeichnung vorschlägt. 32 Ebenso dann EuGH, verb. Rs. C-338/04 u. a. (Placanica), Slg. 2007, I-1891, Rn. 53 und 58; verb. Rs. C-316/07 u. a. (Markus Stoß u. a.), Urteil vom 8.9.2010, Rn. 83; Rs. C-409/06 (Winner Wetten), Urteil vom 8.9.2010, Rn. 68 f. 33 EuGH, Rs. C-141/07 (Hartlauer), Slg. 2009, I-1721, Rn. 57 f. und 66 ff. 34 EuGH, Rs. C-500/06 (Corporación Dermoestética), Slg. 2008, I-5785, Rn. 39 f. 35 EuGH, Rs. C-169/08 (Presidente del Consiglio die Ministri), Urteil vom 17.11. 2009, Rn. 42 ff.

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In anderen Fällen hielten die nationalen Regelungen einer entsprechenden Prüfung stand. Dies gilt etwa zu Recht – im Gegensatz zum Votum des Generalanwalts – für die italienischen Bestimmungen zur Benutzung von Anhängern durch Motorräder und vergleichbare Fahrzeuge, das nur für inländische Fahrzeuge gilt,36 weil die Ausnahme für Ausländer gerade zur Sicherung der Freizügigkeit erforderlich ist.37 Zu Recht wurden auch die für Ortsfremde bestehenden Zugangsbeschränkungen bei den niederländischen „Coffeeshops“ als zulässige Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit angesehen.38 Ebenso hielt der EuGH zu Recht bestimmte begrenzte Ausnahmen vom deutschen Fremdbesitzerverbot für Apotheken für akzeptabel.39 Demgegenüber hätte man sich durchaus fragen müssen, ob das an sich legitime Ziel der ordnungsgemäßen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln nicht angesichts verschiedener anderer Regelungen auch ohne das einschlägige Verbot hätte erreicht werden können.40 Zu ergänzen ist, dass der EuGH in der Sache auch vor der ausdrücklichen Aufnahme der Kohärenzforderung in seiner Rechtsprechung bereits ähnlich judiziert hat. Beispielhaft kann etwa auf die Urteile zu den – zu Recht für unvereinbar mit der Warenverkehrsfreiheit erklärten – deutschen Regelungen zum Mindestalkoholgehalt von Fruchtlikören41 und zum Reinheitsgebot für Bier verwiesen werden, das Zusatzstoffe im Bier mit Hinweis auf den Gesundheitsschutz verbot, obwohl diese Zusatzstoffe im Übrigen problemlos eingesetzt werden durften.42 Im Ergebnis kann man auch die mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit unvereinbaren früheren deutschen und italienischen Regelungen zur Befristung von Fremdsprachlektoren an Hochschulen, die auf die Vertragslaufzeit und nicht die Dauer der Abwesenheit im Heimatstaat abstellten, hier einordnen; in Italien wurde so etwa auch ermöglicht, hintereinander an mehreren Universitäten tätig zu sein.43 36 EuGH, Rs. C-110/05 (Kommission/Italien), Slg. 2009, I-519 Rn. 63 und demgegenüber GA Bot, ebd., Rn. 169. 37 Classen, EuR 2009, 555 (561). 38 EuGH, Rs. C-137/09 (Josemans), Urteil vom 16.12.2010, Rn. 74 ff. 39 EuGH, verb. Rs. C-171/07 und 172/07 (Apothekerkammer des Saarlandes u. a.), Slg. 2009, I-4171 zu einer befristeten Übergangsregelung zum Schutz von Erbenrechten (Rn. 45 ff.), zu Ausnahmen zugunsten von Krankenhausapotheken (Rn. 48) und zum Filialsystem, das aber wegen seiner Grenzen den Grundsatz der persönlichen Verantwortung des Apothekers nicht in Frage stellt (Rn. 49). s. ferner zum spanischen Apothekenrecht EuGH, Rs. C-570/07 (Blanco Pérez und Chao Gómez), Urteil vom 1.6.2010, Rn. 94 ff. 40 Dazu näher Classen, Jura 2010, 56 (60). 41 EuGH, Rs. 120/78 (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649 Rn. 11. 42 EuGH, Rs. 178/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1227 Rn. 49; vgl. ferner Rs. 90/86 (Zoni), Slg. 1988, 4285 Rn. 12 ff. sowie Rs. C-67/88 (Kommission/Italien), Slg. 1990, I-4285 Rn. 6. 43 s. zu Italien EuGH, Rs. 33/88 (Allué), Slg. 1989, 1591 Rn. 14; vgl. auch verb. Rs. C-259/91 u. a. (Allué II), Slg. 1993, I-4309 Rn. 13; zu Deutschland (§ 57g HRG a. F.) stellt der EuGH allerdings darauf ab, dass mildere Alternativmaßnahmen wie Prüfungen gleich geeignet wären, die Qualifikation der Lektoren zu sichern; s. Rs. C-272/92

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c) Intensive Prüfung der Erforderlichkeit bei der Beschränkung von Grundfreiheiten Zumindest bei der Beschränkung von Grundfreiheiten prüft der EuGH darüber hinaus auch die Erforderlichkeit regelmäßig wesentlich intensiver als das BVerfG. So entspricht es ständiger Rechtsprechung, dass eine nationale Maßnahme, mit der eine Grundfreiheit beschränkt werden soll, nicht erforderlich ist, wenn das gleiche Ziel im ausreichendem Maße bereits durch Maßnahmen eines anderen Mitgliedsstaates gesichert wird;44 weiterhin sind Verbote nach ständiger Rechtsprechung nicht erforderlich, wenn Hinweise, Belehrungen und Informationen ausreichen.45 Hier ist der EuGH insofern streng, als er grundsätzlich vom Leitbild des mündigen Verbrauchers ausgeht.46 3. Rechtsvergleichende Entwicklungen

Im Rechtsvergleich zeigt sich einer eher begrenzte Bedeutung der Verhältnismäßigkeit, die vor allem nirgends in der ausgefeilten Struktur geprüft wird, wie sie aus Deutschland bekannt ist. Im Anwendungsbereich von EMRK und Unionsrecht müssen allerdings auch die nationalen Gerichte diesen Grundsatz jeweils so praktizieren, wie dies vom europäischen Standard her vorgegeben ist.47 Jenseits dieser unmittelbaren Rezeption kennt immerhin das britische Recht gewisse Ansätze im Sinne einer Erforderlichkeitsprüfung im Rahmen des sog. „Wednesbury reasonableness“-Tests;48 bei diesem spielt auch die „consistency“ einer Regelung eine gewisse Rolle.49 Im französischen Recht wird etwa bei Polizeimaßnahmen die Notwendigkeit nachgeprüft;50 Elemente einer expliziten Güterabwägung gibt

(Spotti), Slg. 1993, I-5185 Rn. 20; dazu Steindorff, JZ 1994, 95. Kritisch zum EuGH allerdings BVerfGE 94, 268 (292). 44 Rs. C-55/94 (Gebhardt), Slg. 1995, I-4165 Rn. 38; Rs. C-400/96 (Harpegnies), Slg. 1998, I-5121 Rn. 35. 45 Rs. 178/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1227 Rn. 35; Rs. C-17/93 (Van der Veldt), Slg. 1994, I-3537 Rn. 19. 46 Dazu Blaurock, JZ 1999, 801; Seibt, GRUR 2002, 465. 47 Zum Einfluss der EMRK auf das britische Recht s. v. Arnauld, in: Hatje/Nettesheim (Hrsg.), Grundrechtsschutz im Dreieck von nationalem, europäischem und internationalem Recht, 2008, S. 41 (45 ff.). 48 Dazu Wade/Forsyth, Administrative Law, 8. Aufl., 2000, S. 353 ff. (und S. 368 ff. zum Verhältnis zur Verhältnismäßigkeit); Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl., 2005, S. 678 ff.; Koch (Fn. 26), S. 80 ff. 49 Wade/Forsyth (Fn. 48), S. 370 ff. 50 Conseil d’État, Entscheidung vom 19.5.1933 (Benjamin), abgedruckt etwa in: Long u. a. (Hrsg.), Les grands arrêts de la jurisprudence administrative, 15. Aufl., 2005, S. 289, mit Nachweisen zur weiteren Rechtsprechung; s. ferner Philippe, Le contrôle de proportionnalité dans les jurisprudences constitutionnelle et administrative françaises, 1990, S. 342 ff.; Koch (Fn. 26), S. 66 ff.

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es im Rahmen des planerischen Enteignungsrechts („bilan coûts – avantages“).51 In einer jüngeren Entscheidung des Verfassungsrates zum Strafrecht werden sogar explizit alle drei Stufen abgehandelt.52 In anderen europäischen Staaten ist die Verhältnismäßigkeit entweder gar nicht oder nur in Ansätzen bekannt.53 Weiterhin wird überall dort, wo über das Prinzip nachgedacht wird, zugleich auch über die notwendigen Grenzen judikativer Macht diskutiert.54 IV. Vergleich Stellt man nun die deutsche und europäische Rechtsentwicklung gegenüber, so fällt zunächst auf, dass sich deutliche Parallelen ergeben zwischen dem Ansatz des BVerfG und dem des EGMR, sieht man einmal davon ab, dass der EGMR deutlich weniger strukturiert argumentiert als das BVerfG. Es verwundert daher nicht, dass die Urteile des EGMR, die in ihrer Grundaussage im Widerspruch stehen zu Senatsentscheidungen des BVerfG, vielfach Fälle betrafen, in denen das BVerfG gerade der Güterabwägung im Vergleich zu sonst eine eher geringe Bedeutung zugemessen hatten; konkret ging es um das Verhältnis von Persönlichkeitsrecht zur Pressefreiheit,55 zum kirchlichem Selbstbestimmungsrecht (im Arbeitsrecht)56 und jüngst zum Familienschutz57. Größere Unterschiede sind demgegenüber beim Vergleich zwischen BVerfG und EuGH zu beobachten: Das BVerfG setzt seinen Schwerpunkt bei der (aus deutscher Sicht) dritten Stufe, der EuGH bei der ersten und zweiten Stufe. Dies wirft naturgemäß die Frage auf, ob hierfür jeweils sachspezifische Gesichtspunkte eine Rolle spielen oder einfach unterschiedliche Rechtstraditionen.

51 Conseil d’État, Entscheidung vom 28.5.1971 (Ville nouvelle Est), abgedruckt in: Long u. a. (Fn. 50), S. 598 ff., mit Nachweisen zur weiteren Rechtsprechung; s. Philippe (Fn. 50), S. 369 ff.; Schwarze (Fn. 48), S. 664 ff. 52 Conseil constitutionnel, 2008-562 DC vom 21.2.2008. 53 s. Schwarze (Fn. 48), S. 680 ff. und Koch (Fn. 26), S. 92 ff. zu weiteren EU-Mitgliedstaaten. 54 Zur Frankreich Long u. a. (Fn. 50), S. 292 ff., 604 ff.; Waline, Droit administratif, 23. Aufl., 2010, Rn. 641; Koch (Fn. 26), S. 92 ff., 155. 55 EGMR, Slg. 2004-VI, 1 (Caroline von Hannover) im Gegensatz zu BVerfGE 101, 361: die Qualifikation als absolute Person der Zeitgeschichte begründete aus Sicht des EGMR zu pauschale Konsequenzen. 56 EGMR, Urteil zur Beschwerde 1620/03 vom 23.09.2010 (Schüth) im Gegensatz zu BVerfGE 70, 138 (167 ff.); vgl. aber auch das Urteil zur Beschwerden 425/03, gleichfalls vom 23.09.2010 (Obst). 57 EGMR, Urteil zur Beschwerde 20578/07 vom 21.12.2010 (Anayo) im Gegensatz zu BVerfGE 108, 82 (106 ff.), jeweils zum Umgangsrecht eines nichtehelichen (mutmaßlichen) Vaters mit seinen Kindern.

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1. Zur Kohärenz

a) Zur richtigen Einordnung Ein größerer Unterschied zwischen beiden Gerichten zeigt sich beim Umgang mit dem Thema Kohärenz. Fragt man sich daher, ob das BVerfG die Grundsätze, die der EuGH entwickelt hat, auch im nationalen Bereich (häufiger) anwenden könnte, so sprechen zahlreiche Beispiele aus den Grundfreiheiten, die sich ja zumindest in der Fallgestaltung vielfach auch als Probleme mit Blick auf die Berufsfreiheit darstellen lassen, für eine solche Möglichkeit. Konkret zeigt dies die eine Entscheidung des BVerfG zu einem Glücksspielfall. Dabei hat es wie der EuGH entscheidend darauf abgestellt, ob das bestehende Wettmonopol „auch in seiner konkreten Ausgestaltung“ den das Monopol rechtfertigenden Allgemeinwohlbelangen dient. Anders als der EuGH begreift das BVerfG diese Frage allerdings nicht als Probleme der Eignung oder der Erforderlichkeit, sondern der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – die Maßnahme sei nämlich nur unter der oben genannten Voraussetzung auch zumutbar.58 Mit anderen Worten: Das BVerfG führt vergleichbare Argumente wie der EuGH an und kommt auch zum gleichen Ergebnis – allerdings zumeist bezogen auf einen anderen Maßstab: Die Kohärenzargumente führen für den EuGH dazu, dass das nationale Verbot ungeeignet ist, während sie für das BVerfG regelmäßig die Unzumutbarkeit begründen.59 Im Übrigen kann als Fall paralleler Argumentation, aber noch aus der Zeit vor der Verwendung der Kohärenz, die Behandlung der Überwachung von Patentfristen erwähnt werden.60 „Autonom“ hat das BVerfG darüber hinaus die Kohärenz insbesondere im Rahmen seines Urteils zum Nichtraucherschutz herangezogen, gleichfalls also zur Berufsfreiheit und dort ebenfalls im Rahmen der Güterabwägung;61 auch die beiden Sondervoten üben – insoweit – keine Kritik.62 Jüngst hat im Übrigen auch der EGMR die Unzulässigkeit einer nationalen Maßnahme mit mangelnder Kohärenz begründet.63

58 BVerfGE 115, 276 (308 f.) zu Eignung und Erforderlichkeit und 309–317 zur Zumutbarkeit; die im Text erwähnte Aussage findet sich gleich zu Beginn. 59 s. die Nachweise in Fn. 30 und 58. 60 s. dazu EuGH, Rs. C-76/90 (Säger), Slg. 1991, I-4221, Rn. 18 ff. und später BVerfGE 97, 12 (27 ff.). 61 BVerfGE 121, 317 (355–368, nach Behandlung von Eignung und Erforderlichkeit allein auf S. 354; dazu bereits bei Fn. 11). Eine Prüfung der Kohärenz im Rahmen der Eignung findet sich hingegen im Kammerbeschluss 1 BvR 1789/10 vom 29.9.2010, Rn. 19 f., zu den Ausnahmen vom nächtlichen Alkoholverkaufsverbot in Baden-Württemberg. 62 SV Bryde: BVerfGE 121, 317–378 (379 explizit zustimmend); SV Masing: ebd., 381 (382: dies nicht kritisierend). 63 EGMR, Beschwerde 26713/05 (Bigeva), NJW 2010, 3419, Rn. 35 (im Fall eines widersprüchlichen Verhaltens nationaler Behörden).

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Damit stellt sich die Frage, ob die Kohärenz als Problem der Eignung oder der Angemessenheit anzusehen ist. Der zentrale Unterscheid zwischen beiden besteht nach deutschem Verständnis darin, dass über die Eignung einer Maßnahme durch deren isolierte Betrachtung entschieden werden kann; die Beurteilung der Angemessenheit setzt hingegen eine Einbeziehung auch anderer Faktoren voraus. In diesem Lichte betrachtet ist wohl zu differenzieren. In bestimmten Fällen wie etwa dem Fall der Vorgabe eines Mindestalkoholgehalts als Maßnahme des Gesundheitsschutzes fehlt es bereits an der Eignung. Wird eine Maßnahme hingegen nur inkonsequent durchgeführt, ist zu unterscheiden: Resultiert diese Inkonsequenz daher, dass die Maßnahmen in Wirklichkeit eben doch anderen Zielen dient als denen, die vorgebracht werden,64 oder wird eine konkrete Maßnahme mit in sich widersprüchlichen Zielsetzungen begründet,65 kann man auch dies als Problem der Eignung ansehen. Sonstige Inkonsequenzen stellen nach deutschem Verständnis die Eignung noch nicht per se in Frage, reicht es doch insoweit, wenn die Maßnahme zur Zielverwirklichung beitragen kann. Das zeigt das Beispiel des Glücksspiels: Ein staatliches Monopol sorgt im Ergebnis mutmaßlich selbst dann, wenn es inkonsequent durchgeführt wird, dafür, dass letztlich weniger Menschen am Glücksspiel teilnehmen als bei völliger Freigabe. Zur Einschätzung der Inkohärenz kommt der Richter vielmehr dadurch, dass die im Sinne des Ziels produktiven und die kontraproduktiven Elemente und Effekte der jeweiligen Regelung gegenübergestellt und in Bezug zu einander gesetzt werden. Dies aber stellt in deutschem Verständnis auch eine – wenn auch im Umfang reduzierte – Abwägung dar. Denkbar ist schließlich auch, dass eine Kohärenzprüfung zur Annahme fehlender Erforderlichkeit führt.66 Damit zeigt sich zugleich: Kohärenzfragen können auf allen Stufen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auftreten. b) Zur Sinnhaftigkeit der Frage nach Kohärenz Allerdings hat das Argument der Kohärenz in anderem Zusammenhang auch in der Judikatur des BVerfG größere Bedeutung erlangt, nämlich bei der Prüfung des Gleichheitssatzes. Vielfach ist nämlich gefragt worden, ob sich Maßnahmen als Verstoß gegen den Gleichheitssatz darstellen, wenn sie sich in einem bestimmten Lebensbereich als systemwidrig erweisen.67 Das BVerfG hat diesem Prinzip vor allem im Bereich des Steuerrechts eine sehr große Bedeutung zuge-

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So etwa die Frage in EuGH, Rs. C-67/98 (Zenatti), Slg. 1999, I-7289 Rn. 37. Zu einer nach Alter differenzierenden Regelung EuGH, Rs. C-88/08 (Hütter), Slg. 2009, I-5325, Rn. 47 ff. 66 s. etwa oben bei Fn. 40 zum Fremdbesitzerverbot für Apotheken. 67 Dazu etwa Stern, Staatsrecht I (Fn. 5), S. 838; ausführlich etwa Degenhart, Systemgerechtigkeit und Selbstbindung des Gesetzgebers als Verfassungspostulat, 1976; Peine, Systemgerechtigkeit, 1985 (selbst eher zurückhaltend). 65

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messen und mehrfach bestimmte Gesetze für verfassungswidrig erklärt.68 Im Übrigen wird regelmäßig betont, dass einem Systemverstoß als solchem keine zwingende Bedeutung zukomme, dass dieser wohl aber eine gewisse Indizwirkung entfalten könne.69 Mehrfach wurde dann auch im Ergebnis eine Regelung für verfassungswidrig erklärt.70 Im Lichte der vorstehend dargestellten Judikatur überrascht es im Übrigen nicht, dass der EuGH auch im Kontext der Gleichheitsrechte nach der inneren Kohärenz von Regelungen fragt.71 Diese Judikatur hat vor allem zwei Gegenargumente provoziert. Zum einen wird kritisiert, dass damit das einfache Recht zum Prüfungsmaßstab für andere einfachgesetzliche Normen gemacht werde. Zum anderen wird unter Hinweis auf das Demokratieprinzip kritisch vorgebracht, dass eine verstärkte Prüfung der Systemgerechtigkeit demokratisch zwingend notwendige Kompromisse erschwere und zudem faktisch zur Bindung eines Parlaments an Entscheidungen vorheriger Parlamente führe.72 Dabei ist das erste Argument als solches nicht überzeugend. Es wird nicht das einfache Recht zum Prüfungsmaßstab gemacht; vielmehr werden – wie es typisch ist für jede Prüfung am Maßstab des Gleichheitssatzes – zwei Teile eines Regelwerkes des einfachen Rechts gegenübergestellt und geprüft, ob und inwieweit diese zueinander passen. Damit kann bereits zur zweiten Frage übergegangen werden, nämlich zur Vereinbarkeit mit dem Demokratieprinzip. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass auch die vom BVerfG bevorzugte Hervorhebung der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeit unter demokratischen Gesichtspunkten keineswegs unproblematisch ist. Vielmehr führt im Gegenteil die Prüfung von Kohärenz und Systemkonformität lediglich dazu, dass – wie in anderem Zusammenhang eben erläutert – ein Richter bestimmte, demokratisch gefällte Entscheidungen zueinander in Beziehung setzt und sich fragt, ob beide zueinander passen. Im Übrigen ist das Parlament nicht gehindert, ein System durch ein anderes zu ersetzen; ggf. ist insoweit auch in der Zeitachse Spielraum zu gewähren, indem (ähnlich wie bei der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung) Maßnahmen nur mit dem Vorbehalt ggf. anschließend notwendig werdender Nachsteuerung für verfassungsmäßig erklärt werden. Bei der Güterabwägung nimmt der Richter dagegen eigene Gewichtungen vor. Allerdings ist nicht zu bestreiten, dass auch bei der Prüfung der Systemgerechtigkeit in der Kohärenz ein Richter mit eigenen Einschätzungen aufwartet.

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Beispielhaft BVerfGE 107, 27 (47); 117, 1 (31); 122, 210 (231). Etwa BVerfGE 9, 20 (28); 68, 237 (253). 70 s. etwa BVerfGE 20, 374 (377); 60, 123 (134); 102, 68 (91 f.). 71 s. etwa Rs. C-88/08 (Hütter), Slg. 2009, I-5325, Rn. 47 ff.; Rs. C-341/08 (Petersen), Urteil vom 12.1.2010, Rn. 69. 72 Kischel, AöR 124 (1999), 174 (203 ff.); ders., in: Epping/Hillgruber, GG, 2009, Art. 3 Rn. 87 ff.; Hillgruber, JZ 2010, 41 (43); Lepsius, JZ 2009, 260 (262 f.); vgl. auch ders., in: Jestaedt/ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, S. 1 (36 ff.). 69

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Dies zeigen schon die Fälle, bei denen man über die Anwendung dieses Maßstabs streiten kann wie etwa beim Rauchverbot73, beim Fremdbesitzerverbot im Apothekenrecht74 und beim italienischen Straßenverkehrsrecht75. Nur spielen die eigenen Einschätzungen des Richters hier letztlich eine deutlich geringere Rolle als bei einer echten Güterabwägung. Insgesamt spricht also viel dafür, den vom EuGH entwickelten Ansatz auch für das Verfassungsrecht stärker fruchtbar zu machen – nicht unbedingt im Sinne einer Alternative, sondern in dem Sinne, dass die Kohärenz einer Regelung stärker als in der Vergangenheit überprüft werden sollte. Richtig ist allerdings, dass insoweit noch mancher „Feinschliff“ erforderlich ist.76 2. Zur Erforderlichkeit

Bei der Kontrolle der Erforderlichkeit stellt sich die Frage, ob das BVerfG die Grundsätze des EuGH übernehmen könnte. Hier besteht allerdings ein Problem: Der EuGH hat ja regelmäßig über Situationen zu befinden, in denen in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich die Regelung besteht, die von dem in seinen Grundfreiheiten Beeinträchtigten verlangt wird. Demgegenüber ist das BVerfG bei seiner Prüfung der Eignung von Alternativmaßnahmen regelmäßig auf theoretische Überlegungen beschränkt. Zugleich bedeutet dies, dass sich bestimmte Konstellationen gerade im spezifischen Problemfeld der Grundfreiheiten, nämlich des grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehrs, leichter standardisieren lassen als im nationalen Bereich. 3. Zur Güterabwägung

In diesem Kontext ist zu fragen, ob der EuGH stärker auch die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeit im Sinne einer umfassenden Kontrolle der Angemessenheit überprüfen, also eine Güterabwägung vornehmen könnte. Dabei ist zunächst auf die besondere Problematik im Bereich der Grundfreiheiten hinzuweisen. Bei der Frage, ob nationale Maßnahmen Grundfreiheiten beschränken dürfen, geht es ja nicht allein um eine Abwägung zwischen der wirtschaftlichen Freiheit und dem jeweiligen entgegenstehenden nationalen Rechtsgut. Vielmehr sind zugleich auch Regelungskompetenzen im Spiel: Darf der jeweilige Mitgliedsstaat das ihm wichtige Rechtsgut umfassend schützen, oder ist er darauf beschränkt, dieses Rechtsgut nur in seinem innerstaatlichen Bereich zu garantieren, mit der Folge, 73

s. dazu bei Fn. 61 f. s. dazu bei Fn. 40 f. 75 s. dazu bei Fn. 35 f. 76 Dazu zutreffend Axer, in: ders. u. a. (Hrsg.), Das Europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, 2010, S. 123, 142. 74

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dass eine rechtlich heikle Inländerdiskriminierung77 zu beklagen ist? Kompetenzen aber sind im Gegensatz zu materiellen Rechtsgütern ohnehin als solche nicht wirklich abzuwägen, da es insoweit kaum einen geeigneten Vergleichsmaßstab gibt. Mit Blick auf die Grundfreiheiten tritt zusätzlich das Problem auf, dass der EuGH letztlich über das Gewicht von Rechtsgütern befinden müsste, deren Definition ausdrücklich den Mitgliedstaaten zugewiesen ist; diesen steht nach ständiger Rechtsprechung des EuGH auch die Befugnis zu, das bei ihnen jeweils zu fordernde Schutzniveau selbst zu bestimmen78. Dieses Anliegen aber würde konterkariert, würde man letztlich doch eine Güterabwägung zulassen. Geht es um die Prüfung, ob eine mittelbare Diskriminierung vorliegt, spricht sogar alles dafür, eine Güterabwägung nicht vorzunehmen. Bei der Frage, ob eine dem ersten Anschein nach diskriminierende Regelung durch andere Belange „gerechtfertigt“ ist, geht es nämlich gar nicht um eine Abwägung. Vielmehr geht es darum, herauszufinden, was denn das eigentliche Ziel der Maßnahme ist. Weist dieses sachbezogenen Charakter auf, liegt nämlich letztlich gar keine (mittelbare) Diskriminierung vor. Um allein dies festzustellen, darf aber nur auf Eignung und Erforderlichkeit abgestellt werden; eine Güterabwägung würde hier ggf. sogar die Ergebnisse der Prüfung verfälschen, da sie von ihrem Ansatz her über die soeben erwähnte Frage nach dem wahren Ziel einer Maßnahme hinausgeht.79 Geht es schließlich um die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der europäischen Organe, stellt sich die Frage nach der „richtigen Struktur“ des Verhältnismäßigkeitsprinzips demgegenüber letztlich in gleicher Weise wie auf nationaler Ebene. In der Literatur werden verschiedene Erklärungen für die begrenzte Bedeutung der Angemessenheitsprüfung genannt. Eine Überlegung verweist darauf, dass der EuGH ggf. nur den jeweils unterschiedliche Parteivortrag aufgreife80, eine andere führt an, dass richterliche Kontrolle auf europäischer Ebene stärker der objektiven Rechtkontrolle und damit weniger als in Deutschland der Wahrung subjektiver Rechte verpflichtet ist81. Beides überzeugt nicht. Auch wenn der EuGH in der Tat anders als die deutsche Judikatur auf der Grundlage eines weiten Verständnisses des ne ultra petita-Grundsatzes gerade bei materiellrechtlichen Fragen im Wesentlichen allein die von den Parteien aufgeworfenen Rechtsfragen 77 Nach Rechtsprechung mancher Mitgliedsstaaten wirft dies Probleme mit Blick auf den nationalen Gleichheitssatz auf (so etwa zu Österreich VfGH, EuGRZ 1997, 362; zu Frankreich Conseil d’État, RFDA 2009, 142); nach richtiger Auffassung steht in solchen Fällen vielmehr die Eignung oder zumindest die Angemessenheit aufgrund des nationalen Freiheitsrechts in Rede (zu Art. 12 GG BVerfG, JZ 2007, 354). 78 s. etwa EuGH, Rs. 304/84 (Muller), Slg. 1986, 1511 Rn. 21; Rs. 178/84 (Kommission/Deutschland), Slg. 1987, 1227 Rn. 41; Rs. C-110/05 (Kommission/Italien), Slg. 2009, I-519 Rn. 61. 79 Dazu ausführlich Classen, JZ 1996, 921 (923 ff.). 80 Craig (Fn. 3), S. 657. 81 So Galetta (Fn. 3), S. 366.

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erörtert,82 kann dies eigentlich nicht so weit gehen, dass dadurch ggf. die Prüfung von Teilaspekten eines Rechtsprinzips wie dem der Verhältnismäßigkeit entfällt. Und die Funktion der Gerichtsbarkeit kann sich zwar ggf. auf den Umfang einer gerichtlichen Prüfung, aber kaum auf deren Inhalt auswirken. Mit anderen Worten: auch bei einer objektiv ausgerichteten Kontrolle müssen die Interessen der Beteiligten (nur eben ggf. nicht besonders eines Einzelnen, sondern aller Betroffenen) in die Überlegungen einbezogen werden. Zu fragen ist allerdings nach der Überzeugungskraft der Güterabwägung überhaupt; dies soll am Ende geschehen. V. Gesamtbewertung: Zur Rolle der Justiz als Zentralproblem der Verhältnismäßigkeit Der vorstehende Vergleich hat deutlich gemacht, dass es bei der Frage nach Inhalt und Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im Kern immer auch um die Frage geht, welche Rolle man dem Richter und dessen Einschätzungen zuzugestehen bereit ist.83 So gesehen erscheint etwa offenkundig, dass die Prüfung der Systemgerechtigkeit und der Kohärenz dem Richter ein erkennbar geringeres Gewicht zumessen als die Prüfung der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeit. Bei der Kohärenzprüfung bilden andere Entscheidungen des Gesetzgebers den Anknüpfungspunkt der Prüfung. Demgegenüber ist die Güterabwägung unweigerlich mit eigenen Wertungen des Richters verbunden. In diesem Lichte ist auch nicht weiter verwunderlich, dass gerade in Deutschland die Güterabwägung eine so große Rolle spielt. Das hier vorherrschende Bild von der Stellung des Richters weist grundlegende Unterschiede auf im Vergleich zu dem, das anderswo besteht. Wie in kaum einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union geht man in Deutschland von einer „Allzuständigkeit“ oder besser „Allkompetenz“ des Richters aus, der in wesentlich stärkerem Maße gefordert ist, die Entscheidungen des Gesetzgebers oder auch der Verwaltung unter allen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten auch inhaltlich nachzuprüfen.84 Anderswo steht die Funktionsbeschränkung des Richters, die Frage nach den spezifischen Möglichkeiten einer speziell rechtlichen Kontrolle wesentlich stärker im Vordergrund und führt dazu, dass Beurteilungs- und Ermessensspielräume eine deutlich größere Rolle spielen, die Kontrolle des Richters sich weitaus stärker auf das Verfahrensrecht konzentriert.85 82 Dazu ausführlich etwa Sachs, Die ex-officio-Prüfung durch die Gemeinschaftsgerichte, 2008. 83 s. bereits oben bei Fn. 17; ferner Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Aufl., 1999, S. 322 ff.; in historischer Perspektive Remmert (Fn. 1), S. 94 ff., 158 ff. 84 Stern, Staatsrecht I (Fn. 5), S. 838. 85 s. etwa die rechtsvergleichenden Überblicke bei v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, zum Vereinigten Königreich (S. 45 ff.), zu Frankreich (S. 65 ff.), zu Italien (S. 82 ff.), zu Polen (S. 99 ff.) und zu Spanien (S. 120 ff.). Umfassend ferner

Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit

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Insgesamt spricht wohl gerade unter demokratischen Gesichtspunkten viel für einen Mittelweg: Einerseits sollte das BVerfG auch die Fragen der Eignung und Erforderlichkeit stärker kontrollieren und im Rahmen der Angemessenheit vor einer umfassenden Abwägung der Güter an vom Richter selbst gesetzten Maßstäben fragen, ob denn der Gesetzgeber selbst seine Entscheidungen und Gewichtungen in sich schlüssig umgesetzt hat. Wird dies beachtet, muss nämlich mutmaßlich wesentlich seltener zu einer demokratisch heiklen eigenständigen richterlichen Bewertung der abzuwägenden Rechtsgüter gegriffen werden. Andererseits vermag auch ein völliger Verzicht auf eine Güterabwägung, wie sie in einigen EuGH-Urteilen zu beobachten ist, nicht überzeugen; in den seltenen Fällen, in denen sie erforderlich ist, sollte sie allerdings mit der gebotenen Zurückhaltung praktiziert werden.

Schwarze (Fn. 48), S. 246 ff.; zu Deutschland als Perspektive auch Hofmann (Fn. 14), S. 546.

Aktuelle Entwicklungen im Grundrechtsschutz der Europäischen Union Von Thomas von Danwitz Anerkennende Worte über die Bedeutung zu formulieren, die dem Schutz der Grundrechte auf deutscher und auf europäischer Ebene im wissenschaftlichen Werk von Klaus Stern zukommt, hieße wahrlich Eulen nach Athen zu tragen1. Daher bedarf auch die Behandlung der aktuellen Entwicklungen im Grundrechtsschutz der Europäischen Union in dieser Festschrift zu Ehren des Jubilars keiner weiteren Erläuterung. Allenfalls sei der Hinweis gestattet, dass die Themenstellung neben Fragen der Grundrechtsdogmatik auch zentrale Aspekte der Kompetenzordnung und des institutionellen Rechts bei der Entfaltung des Verbundes der Gerichtsbarkeiten in Europa aufwirft. Aus der Vielzahl von Gesichtspunkten, welche die Entwicklung des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union prägen, soll nach einer Erinnerung an die institutionellen Grundbedingungen des europäischen Grundrechtsschutzes (sub I.) und einer zusammenfassenden Würdigung der Entwicklung des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union (sub II.) auf aktuelle Herausforderungen eingegangen werden (sub III.). Insoweit konzentrieren sich die Ausführungen nach Hinweisen zum Anwendungsbereich und zur einheitlichen Geltung der Grundrechte-Charta auf die Notwendigkeit dezentraler Elemente des Grundrechtsschutzes, auf die Frage nach dem Stellenwert sozialer Grundrechte und auf die mit einem Beitritt der Europäischen Union zur EMRK verbundenen Probleme.

1 s. zum europäischen Grundrechtsschutz von Klaus Stern, Der Schutz der Grundrechte durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in: Akademie-Journal – Magazin der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften 2002, Heft 2, S. 27–31; ders., Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Band I: Entwicklung und Grundlagen, 2004, S. 3 ff. (23; Rn. 40 ff.); ders., Der allgemeine Privatsphärenschutz durch das Grundgesetz und seine Parallelen im internationalen und europäischen Recht, in: FS Ress, 2005, S. 1259 ff. (1269 ff.); ders., Von der Europäischen Menschrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 13 ff.; ders., Europäische Verfassung und Grundrechte-Charta nach dem Nein der Franzosen und Niederländer, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Europäische Verfassung im Werden, 2006, S. 25 ff.

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Thomas von Danwitz

I. Institutionelle Grundbedingungen des europäischen Grundrechtsschutzes Die Aufnahme der mit Rechtsverbindlichkeit ausgestatteten und in den Rahmen des Lissabonner Vertrages eingebetteten Charta der Grundrechte lässt sich in Übertragung des berühmten Wortes von Richard Thoma2 schon heute als Schlussstein im normativen Gewölbe der europäischen Rechtsgemeinschaft begreifen. Jedenfalls ist dem Gerichtshof mit der ihm zufallenden Aufgabe, diese ins Werk zu setzen, ein Arbeitsprogramm zugewiesen worden, das fraglos mehrere Juristengenerationen beschäftigen wird. Bedeutsamer als die schiere Dimension dieser Entwicklung sind die Tragweite möglicher Konsequenzen und die durchaus integrationspolitische Natur der Fragestellungen, die eine Anwendung der Charta zwangsläufig aufwerfen wird. Stehen wir am Beginn einer neuen Ära der europarechtlichen Durchdringung des mitgliedstaatlichen Rechts? Wird die bereits im Grundrechtekonvent geäußerte Warnung vor den langfristigen Auswirkungen einer weitgehenden Uniformisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, die durch eine einheitliche Grundrechtsordnung ausgelöst werden könnte3, bald nur noch ein integrationshistorisches Muster ohne rechtspraktischen Wert sein? Wie wird der Grundrechtsschutz im Kräftedreieck zwischen Straßburg, Luxemburg und Karlsruhe praktisch funktionieren können? Wird der mitgliedstaatlich gewährleistete Grundrechtsschutz bald nur noch den Stellenwert einnehmen, der heute den Grundrechten deutscher Bundesländer, amerikanischer Gliedstaaten oder Schweizer Kantone zukommt4? So mögen besorgte Fragen kundiger Betrachter aus mitgliedstaatlicher Perspektive lauten. Solche und andere Befürchtungen werden in Luxemburg natürlich mit besonderer Wachsamkeit registriert. Eine erste, wahrhaft grundlegende Antwort auf derartige Sorgen besteht daher in der Erkenntnis, dass die verbindliche Geltung der Grundrechte-Charta einerseits und der bevorstehende Beitritt der Union zur EMRK andererseits den Beginn einer Entwicklung markieren, in der sich die bisher eher konzeptionell zu verstehende Forderung nach Entfaltung eines Verbundes der (Verfassungs-)Gerichtsbarkeiten in Europa schon bald ihrer Bewährungsprobe in der Rechtswirklichkeit wird stellen müssen5. Vor diesem Hintergrund sei an die durchweg posi2

Ders., in: Wandersleb/Traumann (Hrsg.), Recht-Staat-Wirtschaft III, 1951, S. 9. s. dazu Clemens Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 Rn. 63. 4 s. Céline Fercot, La protection des droits fondamentaux dans l’État fédéral. Étude de droit comparé allemand, américain et suisse, Paris 2010. 5 Vgl. zum Verbund der Gerichtsbarkeiten etwa: Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1 ff.; Thomas von Danwitz, Kooperation der Gerichtsbarkeiten in Europa, ZRP 2010, S. 143 ff.; vgl. auch: Stefan Oeter, Das Verhältnis zwischen EuGH, EGMR und nationalen Verfassungsgerichten, in: Fastenrath/ Nowak (Hrsg.), Der Lissabonner Reformvertrag – Änderungsimpulse in einzelnen 3

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tiven Erfahrungen erinnert, die der Gerichtshof seit nunmehr 50 Jahren im Rahmen des Rechtsprechungsdialogs des Vorabentscheidungsverfahrens mit den mitgliedstaatlichen Gerichtsbarkeiten hat machen dürfen. Eine besonders spannende Facette der Kooperation zwischen nationalen Gerichten und dem Gerichtshof betrifft die der Einflussnahme des nationalen Rechts und der Rechtsprechung mitgliedstaatlicher Gerichte auf die des Gerichtshofes. Dazu gehört vor allem eine Betrachtung der Strategien mitgliedstaatlicher Gerichte, wie sie ihren erheblichen Einfluss zu entfalten suchen, über den sie durch die Formulierung der Fragestellung und die in den Vorlageersuchen angeführten Rechtsargumente zweifelsohne verfügen. Zur Rolle mitgliedstaatlicher Gerichte im Rechtsprechungsdialog nach Art. 267 AEUV verdient Hervorhebung, dass in einer Einflussnahme mitgliedstaatlicher Gerichte, wenn sie nur im Dienste der Auslegung des Unionsrechts steht und in gebührender, vom Vertrag vorgesehener Form sowie im Stile sachlich-argumentativer Auseinandersetzung erfolgt, kein illegitimes Vorhaben gesehen werden kann. Denn die Auslegung und Fortentwicklung des Unionsrechts ist keine chasse gardée des Gerichtshofes, sondern eine gemeinsame Aufgabe, welche die europäischen und die mitgliedstaatlichen Gerichte nach Maßgabe ihrer jeweiligen Zuständigkeiten im Zusammenwirken zu bewältigen haben. Ein recht verstandenes Ringen um die richtige Lösung kann unter ehrpusseliger Eitelkeit nur leiden, vom Engagement aller Beteiligten aber erheblich profitieren. Wer nicht mitmacht, darf sich hingegen nicht wundern, wenn seine Vorstellungen unberücksichtigt bleiben. Gerade für die Anwendung und Entfaltung der Grundrechte-Charta ist der Gerichtshof auf eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den mitgliedstaatlichen Verfassungs- und Höchstgerichten angewiesen, die in diesem Bereich seit langen Jahren über eine besondere Expertise verfügen. Es wäre überaus bedauerlich, wenn der Gerichtshof die Grundrechte-Charta ohne den hoch geschätzten Input solcher Gerichte ins Werk setzen müsste. II. Entwicklung des unionalen Grundrechtsschutzes Da die wesentlichen Entwicklungslinien des unionalen Grundrechtsschutzes durch Richterrecht sattsam bekannt sein dürften, werde ich mich auf eine zusammenfassende Würdigung dieser Entwicklung beschränken. Während der Gerichtshof in den Anfangsjahren der europäischen Integration aus dem Fehlen ausdrücklicher Grundrechtsverbürgungen in den Gründungsverträgen noch geschlossen hatte, dass er für die Prüfung möglicher Grundrechtsverletzungen nicht Rechts- und Politikbereichen, 2009, S. 129 ff.; Kristin Rohleder, Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenen-System – Unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, Diss. 2009.

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zuständig sei6, erkannte er angesichts der vielfältigen Grundrechtsrügen, die gegen sekundärrechtliche Maßnahmen vorgebracht wurden, welche Brisanz dieser Problematik für die Sicherung des Vorrangs der Unionsrechtsordnung innewohnt7. Namentlich die in der Solange I-Entscheidung des BVerfG 8 in Anspruch genommene Entscheidungszuständigkeit nationaler Verfassungsgerichte hat insoweit als maßgeblicher Katalysator für die prätorische Entfaltung des Grundrechtsschutzes durch den Gerichtshof gewirkt. Ausgehend von ersten, zögernden Ansätzen zu Beginn der 1970er Jahre hat die Grundrechtsprechung des Gerichtshofes mittlerweile ein beachtliches Niveau erreicht, das in zahlreichen Entscheidungen gerade aus jüngerer Zeit dokumentiert ist9. In der ersten Entwicklungsphase um die prinzipielle Anerkennung des Grundrechtsschutzes ging es entsprechend dem Schwerpunkt der wirtschaftlichen Integration vor allem um die wirtschaftlichen Grundrechte, so dass namentlich die Unternehmerfreiheit10 und das Eigentum11 ganz im Vordergrund dieser Rechtsprechungsentwicklung standen. Demgegenüber gerieten in späteren Jahren zunehmend auch die anderen klassischen Freiheitsrechte in das Visier der Unionsrechtsprechung, wie etwa die Meinungs- und die Versammlungsfreiheit12, 6 EuGH, Rs. 1/58, Slg. 1958, 43 (63 f.) – Stork/Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl; verb. Rs. 36/59, 37/59, 38/59 u. 40/59, Slg. 1960, 885 (920 f.) – Ruhrkohlenverkaufsgesellschaft u. a./Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. 7 Jason Coppel/Aidan O’Neill, The European Court of Justice Taking Rights Seriously?, in: EUI Working Papers in Law No 92/21, 1992, S. 44. 8 BVerfGE 37, 271 (279 f., 291, 296) – Solange I; ebenso noch BVerfGE 58, 1 (40) – Eurocontrol. 9 Als Beginn der eigentlichen Grundrechtsjudikatur des Gerichtshofs gelten die Entscheidungen Stauder und Internationale Handelsgesellschaft, EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419 (425; Rn. 7) – Stauder; Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (1135; Rn. 4) – Internationale Handelsgesellschaft. Aus jüngerer Zeit etwa EuGH, Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611 – Conolly; Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279 – Carpenter; Rs. C-276/ 01, Slg. 2003, I-3735 – Steffensen; verb. Rs. C-465/00, C-738/01 u. C-139/01, Slg. 2003, I-4989 – Rechnungshof/ORF; Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 – Schmidberger; Rs. C-71/02, Slg. 2004 I-3025 – Karner/Troostwijk; Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 – Omega. Eingehende Rechtsprechungsanalyse bei Hans-Werner Rengeling/Peter Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004; ferner die Beiträge in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005. s. a. Gert Nicolaysen, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 1 Rn. 55 ff.; Jürgen Schwarze, Der Schutz der Grundrechte durch den EuGH, NJW 2005, S. 3459 ff. 10 s. EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 1 – Nold; Rs. 230/78, Slg. 1979, 2749 – Eridiana u. a.; Rs. 151/78, Slg. 1979, 1 – Sukkerfabriken. 11 s. z. B. EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 – Hauer; verb. Rs. 172/83 u. 226/83, Slg. 1985, 2831 – Hoogovens; Rs. C-177/90, Slg. 1992, I-35 – Kühn; Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-497 – Deutschland/Rat; Rs. C-293/97, Slg. 1999, I-2603 – Standley u. a.; verb. Rs. C-20/00 u. C-64/00, Slg. 2003, I-7411 – Booker Aquaculture. 12 s. etwa EuGH, verb. Rs. 43/82 u. 63/82, Slg. 1984, 19 – VBVB und VBB; verb. Rs. 60/84 u. 61/84, Slg. 1985, 2605 – Cinéthèque; Rs. C-288/89, Slg. 1991, I-4007 –

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das Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre13 und die Menschenwürde14. In seinem Urteil vom 15.7.2010 zur sog. Entgeltumwandlung hat der Gerichtshof schließlich dem Grundrecht auf Kollektivverhandlungen einen besonderen Stellenwert15 zuerkannt. Wie sich an dem in Deutschland viel gescholtenen Urteil in der Rechtssache Mangold16 zeigt, das bereits unter dem Eindruck der Charta der Grundrechte ergangen ist, lässt die Rechtsprechung des Gerichtshofes keinerlei Vorbehalte gegenüber der Anerkennung bestimmter Grundrechte erkennen. Gestützt auf die wertend erfassten Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, auf völkerrechtliche Verträge17 und insbesondere auf die EMRK18, gewährleistet der Gerichtshof einen umfassenden Grundrechtsschutz. Aufgrund dieser zielstrebigen Fortentwicklung des unionalen Grundrechtsschutzes in der Rechtsprechung des Gerichtshofes verlagerte sich die Diskussion in der Literatur alsbald auf die praktisch zweifelsohne entscheidende Frage nach der inhaltlichen Güte des unionalen Grundrechtsschutzes, also dem grundrechtlichen Schutzniveau, das in der Rechtsprechung des Gerichtshofes verbürgt wird. Gerade für die Beantwortung dieser Wertungsfrage nach der Qualität des Grundrechtsschutzes der Union sind die methodischen Unterschiede besonders augenfällig, die gegenüber der deutschen Grundrechtsordnung bestehen. So ist namentlich daran zu erinnern, dass die Grundrechte in der Unionsrechtsordnung nach Art. 6 Abs. 3 EU als allgemeine Rechtsgrundsätze geschützt werden. Es liegt daher gleichsam auf der Hand, dass sie sich nach Rechtsnatur und Prüfungsstruktur in wesentlicher Hinsicht von den Grundrechtsordnungen unterscheiden, die – wie die Grundrechte des deutschen Grundgesetzes – auf der Grundlage subjektiver Rechte entwickelt worden sind. Diese Unterschiede treten namentlich für die Bestimmung grundrechtlicher Schutzbereiche und für die Entfaltung einer grundrechtlichen Schrankensystematik deutlich hervor. Es bleibt einstweilen abzuwarten, ob und inwieweit diese Besonderheiten unter der Geltung der Charta, welche die Grundrechte wiederum als subjektive Rechte verbürgt, fortbestehen werden. Gouda; Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611 – Connolly; Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 – Schmidberger; Rs. C-262/02, Slg. 2004, I-6569 – Kommission/Frankreich; Rs. C239/02, Slg. 2004, I-7007 – Douwe Egberts. 13 s. z. B. EuGH, Rs. C-62/90, Slg. 1992, I-2575 – Kommission/Deutschland; Rs. C404/92 P, Slg. 1994, I-4737 – X/Kommission; Rs. C-465/00, Slg. 2003, I-4989 – Rechnungshof/ORF u. a. 14 EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004 I-9609 – Omega. 15 EuGH, Rs. C-271/08, Urteil vom 15.7.2010 (noch nicht in amtl. Slg.); Rn. 43 f., 49 – Kommission Deutschland. 16 EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005 I-9981 – Mangold. 17 Wie etwa die Europäische Sozialcharta, dazu EuGH, Rs. 149/77, Slg. 1978, 1365 – Defrenne/Sabena. 18 Ein Hinweis auf die EMRK findet sich erstmals in EuGH, Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219 (1232; Rn. 32) – Rutili; vgl. auch Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 (507; Rn. 13) – Nold; s. a. Christoph Grabenwarter/Katharina Pabel, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, S. 81 (82 ff.).

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Thomas von Danwitz

Ungeachtet dieser strukturbedingten Unterschiede, die bei der Würdigung der grundrechtlichen Schutzintensität zu berücksichtigen sind, hat die namentlich im deutschen Schrifttum verbreitete Mahnung, die grundrechtliche Kontrolldichte nicht zu weit absinken zu lassen19 und insbesondere einer Denaturierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu widerstehen, Widerhall in der Rechtsprechung des Gerichtshofes gefunden20. Betrachtet man die jüngere Rechtsprechung, so ist das Bemühen des Gerichtshofes unverkennbar, einen qualitativ hochwertigen Grundrechtsschutz zu verbürgen. Jenseits der symbolträchtigen Entscheidungen in den Rechtssachen Schmidberger21 und Omega22 ist eine Akzentuierung des Grundrechtsschutzes unverkennbar und insbesondere eine Rückbesinnung auf die dreistufige Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes festzustellen23. Vor allem aber bezeugt das eindeutige und selbst in Einzelfragen konsequente Bekenntnis des Gerichtshofes zu einem qualitativ hochwertigen Grundrechtsschutz in seiner landmark decision der Rechtssachen Kadi und Al Barakaat 24, wie ernst er diese Aufgabe nimmt. Dies gilt ebenfalls für seine Entscheidung in den Rechtssachen Schecke und Eifert 25 zum Datenschutz, welche die namentliche Veröffentlichung der Empfänger von 19 Deutliche Kritik etwa bei Ulrich Everling, Will Europe Slip on Bananas? – The Banana Judgement of the Court of Justice and National Courts, CMLRev. 33 (1996), S. 401 (419); Martin Nettesheim, Grundrechtliche Prüfdichte durch den EuGH, EuZW 1995, S. 106 ff.; sowie insb. Peter Selmer, Die Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards durch den EuGH, 1998. 20 s. etwa EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (5068; Rn. 90 f.) – Bananenmarktordnung; Rs. C-233/94, Slg. 1997, I-2405 (2461; Rn. 54) – Einlagensicherung; verb. Rs. C-36/97 u. C-37/97, Slg. 1998, I-6337 (6362; Rn. 33) – Kellinghusen; Rs. C-210/ 00, Slg. 2002, I-6453 (6503; Rn. 59) – Käserei Champignon Hofmeister; Rs. C-434/02, Slg. 2004, I-11825 (11885; Rn. 45) – Arnold André; Rs. C-210/03, Slg. 2004, I-11893 (11919; Rn. 47) – Swedish Match; verb. Rs. C-453/03, C-11/04, C-12/04 u. C-194/04, Slg. 2005, I-10423 (10497; Rn. 68) ABNA; Rs. C-28/05, Slg. 2006, I-5431 (5474; Rn. 72) – Dokter. Dazu Edgar Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, 2002, S. 138 ff.; Angelika Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, 2000, S. 337 ff.; Stefan Storr, Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union, Der Staat 36 (1997), S. 547 (566); insgesamt Thomas von Danwitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Gemeinschaftsrecht, EWS 2003, S. 393 (396). 21 EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 – Schmidberger. 22 EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 – Omega. 23 EuGH, Rs. C-424/02, Slg. 2004, I-7249 (7257; Rn. 23 f.) – Kommission/Vereinigtes Königreich; Rs. C-147/03, Slg. 2005, I-5969 (6008, 6013; Rn. 47 f., 63) – Kommission/Österreich; Rs. C-174/05, Slg. 2006, I-2443 (2457; Rn. 28) – Stichting; verb. Rs. C-37/06 und C-58/06, Slg. 2008, I-69 (100; Rn. 35) – Viamex; Rs. C-534/06, Slg. 2008, I-4129 (4139; Rn. 25) – Carni Ovine. 24 EuGH, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008, I-6351 – Kadi und Al Barakaat. 25 EuGH, verb. Rs. C-92/09 und C-93/09, Urteil vom 9.11.2010 (noch nicht in amtl. Slg.) – Schecke & Eifert.

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Subventionen aus der gemeinsamen Agrarpolitik betreffen. In diesem Verfahren hatte der Gerichtshof namentlich zu prüfen, ob die von der streitgegenständlichen Verordnung über die Veröffentlichung von Namen der Empfänger von Finanzmitteln aus der gemeinsamen Agrarpolitik bewirkte Einschränkung der in Art. 7 und 8 der Charta verankerten Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie auf Schutz personenbezogener Daten in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten, berechtigten Zweck steht26 und von den Institutionen bei der Herstellung von Transparenz der Mittelverwendung ausgewogen gewichtet wurden27. Da die Ausnahmen und Einschränkungen der vorgenannten Grundrechte nicht auf das absolut Notwendige beschränkt worden waren, hat der Gerichtshof die fraglichen Bestimmungen im Hinblick auf Privatpersonen für ungültig erklärt. Insgesamt wird man festhalten können, dass der Gerichtshof eine sinn- und maßvolle Intensivierung der gerichtlichen Kontrolldichte als ebenso notwendige wie konsequente Fortsetzung seiner bisherigen Grundrechtsjudikatur ansieht. So zeigt seine Entscheidung in der für die Anerkennung der grundrechtlichen Kontrollzuständigkeit des Gerichtshofes zentralen Rechtssache Arcelor, dass die Diskussion um die Bestimmung der angemessenen gerichtlichen Kontrolldichte gleichsam zum „Normalbetrieb“ seiner Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz gehört. Zur Bestimmung der Kontrolldichte ist der Gerichtshof dem Vorschlag von Generalanwalt Poiares Maduro in dieser Rechtssache nicht gefolgt. Statt eine Prüfung des Gleichheitssatzes am Maßstab des Willkürverbots vorzunehmen, hat er sich vielmehr zum Erfordernis verhältnismäßiger Gleichheit bekannt28. Ebenso hat dieses Urteil eine grundrechtliche Überprüfungs- und Nachbesserungspflicht angenommen und damit eine Frage beantwortet, die sich – soweit ersichtlich – im Unionsrecht erstmalig stellte. Insgesamt handelt es sich bei diesen Fragen also um Gesichtspunkte, welche die Nachhaltigkeit seiner Bemühungen um einen qualitativ hochwertigen Grundrechtsschutz in der Unionsrechtsordnung bestätigen. So sehr diese qualitative Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofes zum unionalen Grundrechtsschutz aus deutscher Sicht zu begrüßen ist, so wenig sollte verkannt werden, dass die Diskussion um die Bestimmung der grundrechtlichen Kontrollintensität nicht bestimmten nationalen Mustern folgt, sondern auf Grund genuin unionsrechtlicher Erwägungen stattfindet, die namentlich den besonderen Funktionsbedürfnissen der Union, ihrer Institutionen sowie dem erreichten Integrationsstand entsprechen.

26 27 28

Ebd., Rn. 72. Ebd., Rn. 77. EuGH, Rs. C-127/07, Slg. 2008, I-9895 (9937, 9941; Rn. 47 f., 58 f.) – Arcelor.

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III. Herausforderungen für den Grundrechtsschutz Vor diesem Hintergrund sollen nachfolgend einige der Aufgaben in den Blick genommen werden, die es für die Fortentwicklung des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union vorrangig zu bewältigen gilt. 1. Zum Anwendungsbereich des Unionsrechts

Die grundlegende Bedeutung, die der Frage nach einer rechten Dimensionierung des europäischen Grundrechtsschutzes, namentlich in Abgrenzung zu dem vom EGMR sowie von den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten gewährleisteten Schutz zukommt, ist bereits an anderer Stelle ausführlich behandelt worden29. Angesichts dessen soll hier lediglich zusammenfassend festgehalten werden, dass Art. 51 der Grundrechte-Charta eine spezifische Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts voraussetzt, um die Grundrechte der Charta zur Anwendung zu bringen30. a) Tragweite der mitgliedstaatlichen Bindung an Unionsgrundrechte Die entsprechend den Weichenstellungen des Grundrechtekonvents tendenziell restriktiv vorzunehmende Bestimmung der mitgliedstaatlichen Bindung an die Unionsgrundrechte darf indes nicht zu Fehlvorstellungen führen. Soweit mitgliedstaatliche Stellen Unionsrecht umsetzen, durchführen oder anwenden, unterliegen sie den Bindungen an die Unionsgrundrechte. Gleiches gilt für mitgliedstaatliche Beschränkungen der Grundfreiheiten des Vertrages, da der materielle Rechtsstatus der Unionsbürger auch in dieser Konstellation ausschließlich oder jedenfalls primär durch das Unionsrecht bestimmt wird und die Mitgliedstaaten einer entsprechenden Bindung unterliegen. Vor diesem Hintergrund liegt es gleichsam auf der Hand, dass die Anforderungen grundrechtskonformer Auslegung nur anhand der Unionsgrundrechte zu bestimmen sind. Gleiches gilt a forteriori für die Prüfung grundrechtlicher Einwände gegen die Gültigkeit von Sekundärrechtsakten. Auch solche können nur auf der Grundlage der Unionsgrundrechte geprüft werden. Dennoch bleibt festzuhalten, dass die Rechtsprechung in diesem Bereich noch am Anfang steht. Jenseits der vorstehenden Grundregeln sind die Anforderungen noch weitgehend unkonturiert, die an eine spezifische Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundrechte-Charta sowie an Art und Umfang der dadurch ausgelösten Bindung zu stellen sind.

29 s. Thomas von Danwitz, Grundrechtsschutz im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts nach der Charta der Grundrechte, in: FS Herzog, 2009, S. 19 ff. 30 EuGH, Rs. C-144/95, Slg. 1996, I-2909 – Maurin; Rs. C-309/96, Slg. 1997, I7493 (7511, 7512; Rn. 21, 23) – Annibaldi; Rs. C-427/06, Slg. 2008, I-7245 – Bartsch.

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b) Aktuelle Rechtsprechung In der Rechtssache J. McB hat der Gerichtshof hieraus erste konkrete Folgerungen gezogen und überprüft, ob die Verordnung Nr. 2201/2003 (Brüssel IIa), die für die Definition der Widerrechtlichkeit der Veränderung des Aufenthaltes eines Kindes auf das jeweilige nationale Recht verweist, mit den Grundrechten aus Art. 7 und 24 der Grundrechte-Charta vereinbar ist. In diesem Rahmen hat sich der Gerichtshof klar dazu bekannt, dass ihm die Wahrung der GrundrechteCharta nur im Rahmen der Kompetenzgrenzen obliegt, die der Union gezogen sind 31. Im Übrigen betont der Gerichtshof, dass die vom Kläger begehrte Zuerkennung eines Sorgerechts des nichtehelichen Vaters auf der Grundlage von Art. 7 der Grundrechte-Charta Gefahr liefe, die Kompetenzgrenzen der Union zu sprengen32, da diese bekanntlich über keine Zuständigkeit für das materielle Familienrecht verfügt. 2. Gefahr für eine einheitliche Grundrechtsunion?

Angesichts der ebenso nachhaltigen wie fruchtbaren Bemühungen um die Sicherung eines hochwertigen Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union wirft das grundrechtliche Sonderregime nachhaltige Zweifel auf, das im sog. 7. Protokoll zum Lissabonner Vertrag für die Republik Polen und das Vereinigte Königreich verankert wurde33. Eine nähere Betrachtung der drei verschiedenen Regelungen, die in diesem Protokoll enthalten sind, weist indes auf eine beschränkte Bedeutung dieser Bestimmungen hin, die ihre im Schrifttum anzutreffende Bezeichnung als „opt-out“ nicht treffend erscheinen lassen. Vielmehr spricht einiges dafür, das Anliegen dieser Regelungen darin zu erkennen, über den erreichten Stand der europäischen Grundrechtsgemeinschaft hinausgehende Auswirkungen der Charta auf die Rechtsordnungen Polens und des Vereinigten Königreichs auszuschließen. Soweit Art. 1 Abs. 1 des Protokolls davon spricht, dass die Charta „keine Ausweitung der Befugnis“ des Gerichtshofes oder der Gerichte dieser Mitgliedstaaten bewirkt, eine Unvereinbarkeit nationaler Vorschriften oder sonstiger Maßnahmen mit den in der Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen festzustellen, dürften Konfliktlagen nicht zu erwarten sein. Denn die materiellen Gewährleistungen der Charta sind gerade nicht darauf gerichtet, die gerichtlichen Entscheidungsbefugnisse des Gerichtshofes auszuweiten. Praktisch bedeutsamer erscheinen demgegenüber die übrigen Regelungen des Protokolls. So ist die in Art. 1 Abs. 2 enthaltene Vor31 EuGH, Rs. C-400/10, Urteil vom 5.10.2010 (noch nicht in amtl. Slg.), Rn. 51 – McB. 32 Ebd., Rn. 59. 33 Dazu Veith Mehde, Gespaltener Grundrechtsschutz in der EU?, EuGRZ 2008, S. 269 ff.

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schrift offenbar bestrebt, die Einklagbarkeit der sozialen Grundrechte aus Titel IV der Charta auszuschließen. Ob ihr angesichts der in Art. 52 Abs. 5 der Charta enthaltenen Regelung jedoch eine eigenständige Bedeutung zukommt, bedarf einer sorgfältigen Prüfung. Weitergehend enthält Art. 2 des Protokolls eine Anwendungsdirektive für diejenigen Chartabestimmungen, die auf das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis Bezug nehmen. Insoweit verlangt das Protokoll für Polen und das Vereinigte Königreich, dass sich seine Anwendung darauf beschränkt, den in den Rechtsordnungen oder der Praxis dieser Länder jeweils anerkannten Grundsätzen Rechnung zu tragen. Damit dürfte die vom Gerichtshof seit jeher gepflegte Methode wertender Rechtsvergleichung allerdings vor neue Aufgaben im Rahmen ihrer praktischen Anwendung gestellt werden, zumal wenn die Entstehung einer gespaltenen Grundrechtsordnung in Europa vermieden werden soll 34. Es bleibt abzuwarten, ob und in welchem Maße der Gerichtshof zu diesen Fragen bereits im Rahmen des ersten Vorabentscheidungsverfahrens35, das ihn zu diesem Protokoll erreicht hat, wird Stellung nehmen können. 3. Zur Notwendigkeit dezentraler Elemente des Grundrechtsschutzes

So sehr das Grundanliegen der Charta auf die Verwirklichung einer einheitlichen Grundrechtsunion gerichtet ist, so nachdrücklich bezeugt die jüngere Rechtsprechung des Gerichtshofes namentlich in der Rechtssache Omega36, dass selbst eine strikte Beachtung der notwendigen Abgrenzung dieser wechselseitigen Entscheidungszuständigkeiten für den Schutz der Grundrechte keine konfliktfreie Parallelität der verschiedenen Grundrechtsverpflichtungen zu gewährleisten vermag. Vielmehr sind Mechanismen einer Ausgleichs- und Abwägungslösung erforderlich, um zu sachlich überzeugenden Ergebnissen zu gelangen. So hat der Gerichtshof in Fortführung seiner Schmidberger-Rechtsprechung37 in der Rechtssache Omega entschieden, dass eine Beschränkung von Grundfreiheiten durch (nationale) Grundrechte nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit nicht voraussetzt, „dass die von den Behörden eines Mitgliedstaates erlassene beschränkende Maßnahme einer allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Auffassung darüber entspricht, wie das betreffende Grundrecht oder berechtigte Interesse zu schützen ist“. Damit erteilt der Gerichtshof nicht nur dem Vorbringen eine Absage, für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit sei stets ein unionsweit einheitliches Kriterium erforderlich. Zugleich toleriert er Unterschiede im Schutzniveau der mitgliedstaatlichen Grundrechtsgewährleistungen und hält es überdies für zulässig, im Rahmen einer Gewichtung der betroffenen Belange die besonderen Ausprä34 35

Ebd. EuGH, Rs. C-411/10, N. S./Secretary of State for the Home Department, anhän-

gig. 36 37

EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (9651 f.; Rn. 30, 33 f.) – Omega. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5718 ff.; Rn. 77 ff.) – Schmidberger.

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gungen zu berücksichtigen, die in den Mitgliedstaaten praktiziert werden38. In seinem Viking-Urteil, das von beachtlichen Besonderheiten geprägt wurde, hat der Gerichtshof die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Einsatzes von Mitteln des Arbeitskampfes in vergleichbarer Weise den mitgliedstaatlichen Gerichten überantwortet. Jenseits der Bewältigung von Kollisionslagen zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten hat der Gerichtshof in der Rechtssache Promusicae schließlich aus dem Umstand, dass die einschlägigen Richtlinien verhältnismäßig allgemein gehalten waren, den Schluss gezogen, dass sie den Mitgliedstaaten einen erforderlichen Beurteilungsspielraum für den Erlass der erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen einräumen. Im Rahmen dieser Ermächtigung hat der Gerichtshof den Mitgliedstaaten die Befugnis zuerkannt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten herzustellen39. Von einem europäischen Grundrechtszentralismus sind wir also weit entfernt. 4. Soziale Grundrechte

Eine dritte Grundsatzfrage stellt sich mit der normativen Bedeutung und namentlich der Einklagbarkeit der in Titel IV der Charta unter dem Begriff der Solidarität zusammengefassten Gewährleistungen, die in Art. 52 Abs. 5 der Charta eine ausdrückliche Regelung erfahren hat. Nach dieser Vorschrift können Bestimmungen der Charta, in denen Grundsätze festgelegt sind, vor Gericht nur bei der Auslegung von Akten und Entscheidungen herangezogen werden, die von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Unionsrechts erlassen werden. In diese Bestimmung hat einerseits die Unterscheidung zwischen objektiven Grundsatznormen und subjektiven Rechten sowie andererseits die aus dem französischen und dem spanischen Verfassungsrecht stammende Vorstellung der justiciabilité normative40 Ausdruck gefunden, wonach die Umsetzungsbedürftigkeit einer verfassungs38 EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (9653; Rn. 36, 37) – Omega; zur Abwägungsmethode s. v. a. SA von GA Stix-Hackl, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 (9625; Rn. 53) – Omega. 39 EuGH, Rs. C-275/06, Slg. 2008, I-271 (346; Rn. 68) – Promusicae. 40 s. Clemens Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 Rn. 7. D.h. die betreffenden Verfassungsgrundsätze geben zwar kein subjektives Recht auf konkrete Sozialleistungen, Gesetzgebung zu ihrer Umsetzung kann aber vom Verfassungsrat daraufhin überprüft werden, ob solche Grundsätze beachtet, ein gebotenes Mindestmaß an sozialem Schutz also nicht unterschritten wurde. Hierzu Guy Braibant, La Charte des droits fondamentaux de l’union européenne, 2001, S. 46; Florence Benoît-Rohmer, Le Dalloz 2001, S. 1483 (1485). Art. 53 Abs. 3 der span. Verf. lautet: „Die Anerkennung, die Achtung und der Schutz der in Kapitel 3 anerkannten Grundsätze liegen der positiven Gesetzgebung, der Rechtsprechung und dem Handeln der öffentlichen Gewalt zugrunde. Sie können nur vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Übereinstimmung mit den dafür maßgeblichen Gesetzen geltend gemacht werden“ (Übersetzung aus Kimmel/ Kimmel (Hrsg.), Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl. 2005, S. 799).

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rechtlichen Gewährleistung der Möglichkeit ihrer unmittelbaren gerichtlichen Einklagbarkeit entgegensteht. In der Konsequenz kommt den Grundsätzen aus Teil IV der Charta nur eine eingeschränkte Justiziabilität zu. Während sie bei der Auslegung des Sekundärrechts bzw. des mitgliedstaatlichen Durchführungsrechts zu berücksichtigen sind, begründen sie keine positiven Leistungsansprüche und auch keine Klagebefugnis, unterfallen nicht der Rechtsschutzgarantie nach Art. 47 der Charta und können auch nicht als Grundlage für Schadensersatzansprüche nach Art. 340 Abs. 2 AEUV dienen41. Allerdings spricht viel dafür, auch diese Grundsätze der Charta als primärrechtliche Maßstabsnormen im Rahmen einer objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle von Sekundärrechtsakten heranzuziehen. Zu bedenken ist überdies, dass Vorschriften aus Titel IV der Charta über Solidarität nicht nur objektive Grundsatznormen, sondern auch einklagbare Rechte enthalten können. Für die Rechtspraxis ist es daher hilfreich, dass einige der bei der Auslegung der Charta nach Art. 52 Abs. 7 gebührend zu berücksichtigenden Erläuterungen des Präsidiums zu einzelnen Artikeln eine ausdrückliche Einordnung vornehmen. Demnach sind die Vorschriften in Art. 34 Abs. 1 und 3 über soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, in Art. 35 über Gesundheitsschutz, in Art. 36 über Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse sowie in Art. 37 über Umweltschutz und in Art. 38 über Verbraucherschutz als objektive Grundsätze anzusehen, die der eingeschränkten Justiziabilität nach Art. 52 Abs. 5 unterfallen. Im Übrigen ist der Normcharakter des jeweiligen Grundsatzes durch Auslegung zu bestimmen, wobei der Wortlaut der jeweiligen Bestimmung, ihre Herkunft und ihre Zielsetzung ebenso wie die Ausfüllungsbedürftigkeit der Norm zu berücksichtigen sein werden42. Insgesamt steht zu erwarten, dass den unter dem Begriff der Solidarität zusammengefassten Rechten und Grundsätzen in der Unionsrechtsordnung langfristig eine größere Bedeutung zuwachsen wird, als dies für die grundgesetzliche Verfassungsordnung festzustellen ist. Diese Entwicklung dürfte sich vor allem bei der Herstellung praktischer Konkordanz sowie bei der Abwägung im Rahmen grundrechtlicher Kollisionslagen zeigen. Jedoch trifft die Charta in Art. 52 Abs. 5 Vorkehrungen, um eine ausufernde Grundrechtsjudikatur in diesem Bereich zu verhindern. 5. Beitritt zur EMRK

Eine durchaus delikate Fragestellung für den Grundrechtsschutz ist schließlich mit dem in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 des Lissabonner Unionsvertrages vorgesehenen 41 So Clemens Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 86. 42 Ebd., Rn. 98.

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Beitritt der Union zur EMRK aufgeworfen. So intensiv sich der Gerichtshof bereits heute mit der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofes auseinandersetzt und diese strikt beachtet43, so wenig lässt sich indes verhehlen, dass eine förmliche Einbindung des Rechtsschutzsystems der Union in das anders geartete institutionelle System der EMRK nicht unerhebliche Schwierigkeiten aufwerfen würde44. Soweit ersichtlich, stehen die Verhandlungen über den Beitritt noch am Anfang. Es geht namentlich darum, den subsidiaritätsrechtlichen Vorrang des innerstaatlichen Rechtsweges an die Besonderheiten des Rechtsschutzssystems der Union anzupassen. Darüber hinaus ist die Fortführung der vorhin erwähnten Bosphorus-Rechtsprechung von zentraler Bedeutung. Da einige Mitgliedstaaten bereits einen erneuten Gutachtenantrag angekündigt haben, verfolgt der Gerichtshof die Verhandlungen mit großem Interesse. Einstweilen kann lediglich festgehalten werden, dass dieser Schritt fraglos erhebliche Auswirkungen auf den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union haben wird und seine konkrete Umsetzung daher besondere Aufmerksamkeit verdient. IV. Ausblick Die Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der europäischen Union hat uns gelehrt, dass die frühe Forderung an den Gerichtshof, in der Unionsrechtsordnung einen wirkungsvollen Grundrechtsschutz zu verbürgen, der dem auf mitgliedstaatlicher Ebene bzw. im Rahmen der EMRK entfalteten Schutz im Wesentlichen gleich zu achten45 bzw. gleichwertig46 ist, eine ebenso sinnvolle wie natürliche Voraussetzung für eine zweckmäßige Aufgabenverteilung zwischen den verschiedenen Grundrechtsschutzsystemen bildet, die heute vielfach zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, im Übrigen indes der umsichtigen Handhabung bedarf. So zeigt die zur Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes ergangene OmegaRechtsprechung deutlich, dass das grundrechtliche Schutzniveau, gerade im Hinblick auf den identifikationsbildenden Kernbestand einer Verfassung, in den verschiedenen Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede aufweisen kann. Vor allem für multipolare Grundrechtsverhältnisse erweist sich, dass eine race to the bottom für den einen ebenso problematisch sein kann wie eine race to the top für den anderen. Der Gerichtshof wird die ihm von der Charta übertragene Aufgabe daher nur mit Augenmaß für das juste milieu wahrnehmen können, das lediglich

43 s. bspw. EuGH, verb. Rs. C-402/05 P u. C-415/05 P, Slg. 2008, I-6351 (6496, 6504, 6507, 6508, 6509; Rn. 311, 344, 360, 363, 368) – Kadi und Al Barakaat. 44 s. EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759 (1789; Rn. 34). 45 s. BVerfGE 73, 339 (387) – Solange II; 102, 147 (162 f.; 164) – Bananenmarktordnung. 46 So EGMR, NJW 2006, 197 – Bosphorus.

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eine genuin europäische Perspektive vermittelt. Bei der Bewältigung dieser Aufgabe bleibt es fraglos von vorrangiger Bedeutung, die grundrechtlichen Ableitungszusammenhänge und die Abwägungsvorgänge in der Rechtsprechung des Gerichtshofes transparent darzustellen, um auf diese Weise die Plausibilität seiner Entscheidungen erkennbar zu machen und so ihre Akzeptanz zu sichern.

Die Europäisierung der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht und das deutsche Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz Von Thomas Dünchheim „Im Zentrum des Verfahrens stehen also subjektive öffentliche Rechte des Klägers. Wann sich ein solches Recht aus dem (einfachen) Gesetzesrecht ergibt, ist nicht immer zweifelsfrei festzustellen; die grundsätzliche Subjektivität der Grundrechte wird aber heute nicht mehr in Frage gestellt. Angesichts der Gesetzesbindung der Verwaltung ist es in den meisten Fällen allerdings das grundrechtskonkretisierende Gesetzesrecht, das die subjektiven Rechte schafft.“ 1

Diese Aussage von Klaus Stern ist zeitlos gültig. In der fortschreitenden Europäisierung der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht ist sie allerdings seit über zwei Jahrzehnten Gegenstand kontroverser Diskussion, die eine kaum noch überschaubare Zahl von Veröffentlichungen hervorgebracht hat.2 Viele sehen hierin eine „Drohkulisse“, durch die die „Schutznormtheorie brüchig“ werde: Die gemeinschaftsrechtlich bedingte Ausweitung individuell einklagbarer Rechte ziehe die quantitative Überlastung und qualitative Verfremdung der Gerichte nach sich; gerade im Fachplanungs- und Umweltrecht bestehe die Gefahr der „Inflationierung subjektiver Rechte“.3 Andere hingegen versuchen, den Herausforderungen der Europäisierung positive Impulse zu entlocken, um die an Defiziten krankende nationale Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht fortzuentwickeln.4 Die-

1 K. Stern, in: ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1994, Bd. III/ 2, S. 1216 f. 2 Vgl. etwa O. Dörr, in: H. Sodan/J. Ziekow (Hrsg.), Kommentar zur VwGO, 3. Aufl., 2010, EVR, Rn. 234 f.; R. Wahl, in: F. Schoch/E. Schmidt-Aßmann/R. Pietzner, VwGO, 20. Lfg. 2010, Vorb. § 42 Abs. 2, Rn. 127 m.w. N. in Fn. 2; T. Dünchheim, Verwaltungsprozessrecht unter europäischem Einfluß, 2003, S. 105 ff. 3 Vgl. etwa R. Halfmann, VerwArch 91 (2000), S. 74, 88; P. M. Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991, S. 298 ff.; K. Redeker, NJW 1997, 373, 374; G. Winter, NVwZ 1999, 467 ff.; C. D. Classen, NJW 1995, 2457 ff.; instruktiv hierzu auch die Stellungnahme der Bundesregierung in der Rechtssache Trianel Kohlekraftwerk Lünen vor dem EuGH: Die Gerichtsressourcen Deutschlands seien beschränkt. Eine Zunahme der Zahl der Klagebefugten würde das System überfordern, vgl. hierzu auch die dortigen Schlussanträge von Generalanwältin E. Sharpston vom 16. Dezember 2010, Rs. C-115/09, Rz. 31. 4 Vgl. etwa J. Ziekow, NVwZ 2010, 793; F. Schoch, Die Verwaltung, Beiheft 2 – 1999, 135; ders., NVwZ 1999, 457, 459; Dünchheim (Fn. 2), S. 148 ff.

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se Debatte erhält im Zuge der Transformation der Århus-Konvention5 und des ihr folgenden Gemeinschaftsrechts durch das deutsche Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz vom 07. Dezember 2006 (UmwRG)6 neuen Zündstoff: Die Einklagbarkeit von Fehlern bei der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) scheitert für Drittbetroffene umweltrechtlicher Vorhaben nach der deutschen Lesart der Schutznormtheorie bereits am individualschützenden Charakter der UVP-Verfahrensvorgaben; das UmwRG gestattet Umweltverbänden jedoch in gewissem Umfang, Fehler bei der Durchführung einer UVP einzuklagen. Die Vereinbarkeit dieses Gesetzes mit den unionsrechtlichen Vorgaben war bislang völlig umstritten, soweit verlangt wird, dass die verletzte Rechtsvorschrift „Rechte Einzelner“ begründen muss.7 Es wird vertreten, die Århus-Konvention sowie die ÖffentlichkeitsbeteiligungsRichtlinie 2003/35/EG8 verlangen anstelle einer „schutznormakzessorischen Verbandsklage“, die an den Fall gesetzlicher Prozessstandschaft erinnert, die Einführung einer weiter gefassten, altruistischen Klageart für Umweltvereinigungen. Das OVG NRW hat diese Frage im Zusammenhang mit der Entscheidung über die immissionsschutzrechtliche Genehmigung für das Trianel-Steinkohlekraftwerk in Lünen mit Beschluss vom 5. März 2009 dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt.9 Generalanwältin Eleanor Sharpston stellte in ihren Schlussanträgen vom 16. Dezember 2010 klar, dass sie die deutschen Regelungen des UmwRG für europarechtswidrig hält; das deutsche System des Verwaltungsrechtsschutzes sei ein „Ferrari ohne Türen“.10 Daraufhin urteilte der EuGH in seiner Entscheidung vom 12. Mai 2011, dass eine anerkannte Umweltvereinigung nunmehr unmittelbar aus Art. 10a UVP-Richtlinie das Recht herleiten kann, vor Gericht die Verletzung einer Vorschrift geltend zu machen, die aus dem Unions-

5 Übereinkunft der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa (UNECE) über den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten vom 25. Juni 1998; hierzu ausführlich M. Karge, Das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz im System des deutschen Verwaltungsprozessrechts, 2010, S. 20 f. 6 BGBl. I S. 2816. 7 Vgl. BVerwG, NVwZ 2007, 695; OVG Nds., NVwZ 2008, 1144; OVG SchleswigHolstein, ZUR 2009, 432, 433; OVG Berlin-Brandenburg, LKV 2010, 138; VGH BW, DÖV 2010, 238; VGH Bayern, Urteil vom 15. Juli 2009, Az. 14 N 08.2736; VGH Hessen, ZUR 2010, 46; OVG NRW, NVwZ 2009, 987; M. Appel, NVwZ 2010, 473; T. v. Danwitz, UTR 2007, 31; W. Ewer, NVwZ 2007, 267; M. Kment, NVwZ 2007, 274; M. Marty, ZUR 2009, 115; W. Schrödter, NVwZ 2009, 157; J. Ziekow, NVwZ 2007, 259; eingehend Karge (Fn. 5). 8 Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Mai 2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinien 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten, ABl. EU L 156 vom 25. Juni 2003, S. 17. 9 OVG NRW, NVwZ 2009, 987; EuGH Rs. C-115/09 (Vorabentscheidungsersuchen des OVG NRW), ABl. EU C 141 vom 20. Juni 2009, S. 26. 10 Generalanwältin E. Sharpston, Schlussanträge v. 16. Dezember 2010, C-115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen, Rz. 85.

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recht hervorgegangen ist und den Umweltschutz bezweckt, auch wenn diese nur die Interessen der Allgemeinheit und nicht die Rechtsgüter Einzelner schützt.11 Dem deutschen UmwRG wurde so die Europarechtswidrigkeit bescheinigt. I. Grundzüge der deutschen Initiativberechtigung Das deutsche Verwaltungsrecht kennt als maßgeblichen Zugangsfilter zum Rechtsschutz die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO in direkter oder, für die allgemeine Leistungsklage, die Fortsetzungsfeststellungsklage sowie für den einstweiligen Rechtsschutz, entsprechender Anwendung.12 Auch die Erhebung der Normenkontrolle ist vom „Überspringen“ dieser Zugangshürde abhängig. Anders als nach dem französischen Rechtsschutzmodell, dass ein einfaches „intérêt pour agir“ genügen lässt,13 sollen damit bloße Interessenten- und Verbandsklagen ausgeschlossen werden.14 Der Kläger muss grundsätzlich die Verletzung eigener subjektiv-öffentlicher Rechte geltend machen. 1. Die Abgrenzung von Berechtigungen und bloßen Rechtsreflexen

Die Grenze zwischen dieser subjektiven Berechtigung und einem bloßen, nicht die Klagebefugnis begründenden Rechtsreflex ist in der Rechtsgeschichte schon verschieden weit gezogen worden und noch immer Gegenstand reger Diskussion.15 In der Rechtsprechung wird durchweg die sogenannte „modifizierte Schutznormtheorie“ praktiziert.16 Sie geht in ihren Grundzügen zurück auf Ottmar Bühler, der das subjektive öffentliche Recht definierte als „rechtliche Stellung des Untertanen zum Staat, in der er auf Grund eines (. . .) zwingenden, zum Schutz seiner Individualinteressen erlassenen Rechtssatzes, auf den er sich der Verwaltung gegenüber soll berufen können, vom Staat etwas verlangen kann oder ihm gegenüber etwas tun darf“.17 Im Wege der Auslegung wird herkömmlich in zwei Schritten geprüft, ob sich erstens aus einem objektiven Rechtssatz eine Rechtspflicht der Verwaltung ergibt, also ein zwingender Rechtssatz besteht, der zweitens nicht nur der objektiven Rechtswahrung, sondern auch dem Schutz 11

EuGH, Rs. C-115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen. Stern (Fn. 1), Bd. III/2, S. 1216. 13 Vgl. hierzu ausführlich J. Koch, Verwaltungsrechtsschutz in Frankreich, 1998, S. 163 ff. 14 Näher R. Wahl/H.-J. Schütz, in: F. Schoch/E. Schmidt-Aßmann/R. Pietzner, VwGO, 20. Lfg. 2010, § 42 Abs. 2, Rn. 7 f. m.w. N. 15 Statt vieler Dünchheim (Fn. 2), S. 112; Karge (Fn. 5), S. 91 m.w. N. 16 s. nur BVerwGE 1, 83; E 80, 259 f., 366 ff.; E 81, 330; E 82, 61, 75; E 94, 151, 155 ff.; E 95, 133, 136 f.; E 96, 302, 306; BVerfGE 27, 297, 307; E 31, 33, 39 ff.; E 46, 214, 220 f.; E 51, 193, 212; E 54, 341, 356; E 57, 9, 26; E 83, 182, 194 f. 17 O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, 1914, S. 22. 12

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von Individualinteressen zu dienen bestimmt ist. Fehlt es am gesetzlich bezweckten Interessenschutz, stellt die durch die Norm bewirkte Begünstigung des Bürgers lediglich einen unbeachtlichen Rechtsreflex dar. Das die Initiativberechtigung des Klägers auslösende subjektive Recht ist also stets rechtssatzabhängig durch einen Kanon von Methoden und Regeln zu ermitteln, ohne dass es hiernach – streng genommen – auf die „tatsächliche Betroffenheit“ des Klägers ankommen darf. Die Rechtsprechung beschränkt sich auf diese beiden Kriterien. So führt etwa das OVG NRW in seinem Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Auslegung des UmwRG vom 5. März 2009 wörtlich aus: „Subjektiv-öffentliche Rechte begründen nur solche Vorschriften, die ausschließlich oder gegebenenfalls neben dem mit ihnen verfolgten allgemeinen Interesse zumindest auch dem Schutz der Rechtsgüter einzelner zu dienen bestimmt sind.“ 18

Mitunter wird daneben die „Klagbarkeit eines Rechtssatzes“ losgelöst vom Vorliegen eines subjektiven Rechts angenommen: So gibt es Stimmen im Schrifttum, die das allgemeine Informationsrecht aus § 4 Abs. 1 UIG zwar nicht als Schutznorm im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG i.V. m. § 42 Abs. 2, 2. Alt. VwGO, aber dennoch als „klagbaren Rechtssatz“ gemäß § 42 Abs. 2, 1. Alt. VwGO einstufen.19 2. Die „Rechtsmacht“ als konstitutives Element

Oft nur beiläufig wird indessen die Frage gestellt, inwiefern die „modifizierte Schutznormtheorie“ nicht durch ein weiteres, drittes Kriterium abzurunden ist.20 Etwa taucht in der Definition Ottmar Bühlers als weiterer Gesichtspunkt „die Bestimmung des Rechtssatzes dazu, dass sich der Bürger der Verwaltung gegenüber auf ihn soll berufen können“ 21 auf. Anders gewendet ist damit die Berechtigung, eine normative Konfliktentscheidung den verpflichteten Rechtssubjekten gegenüber geltend zu machen, als konstitutives Element des subjektiven Rechts angesprochen. Nur auf den ersten Blick führt dies für das deutsche öffentliche Recht wegen Art. 19 Abs. 4 GG zu einer „Tautologie in der Definition“, zu einem Zirkel von subjektivem öffentlichen Recht und Klagebefugnis: So meint Wilhelm Henke, die Verleihung der das subjektive öffentliche Recht begründenden Rechtsmacht bestünde in der gesetzgeberischen Einräumung der Klagebefugnis, während die Klagebefugnis ihrerseits – wie Art. 19 Abs. 4 GG und § 42 Abs. 2 VwGO zeiti18 19 20 21

OVG NRW, NVwZ 2009, 987, 989. Vgl. nur Wahl/Schütz (Fn. 14), § 42 Abs. 2, Rn. 216. Vgl. hierzu ausführlich Dünchheim (Fn. 2), S. 111 ff. m.w. N. O. Bühler, in: Gedächtnisschrift für W. Jellinek, 1955, S. 269, 281.

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gen – selbst ein subjektives Recht voraussetzt.22 Erst bei näherer Betrachtung erschließt sich, dass sich das Rechtsmachtkriterium ausschließlich als eine den Begünstigten vom Gesetzgeber eingeräumte „Befugnis zur Normdurchsetzung“ erfassen lässt. Neben die Entscheidung des Gesetzgebers zur Individualschutzintention der Norm tritt demzufolge als eine weitere hinzu, wer zur Durchsetzung dieser Individualinteressen berechtigt sein soll.23 Sozusagen als Umschreibung des personalen Schutzbereichs der Norm ist die Normdurchsetzungsbefugnis folglich das eigentliche Kriterium zur Abgrenzung objektiven und subjektiven Rechts, so dass Schutzzielrichtung und subjektive Berechtigung im konkreten Fall auseinander laufen können. Es ist insofern zwischen dem sachlichen und dem personalen Schutzbereich der einfachgesetzlichen Rechtsnorm zu differenzieren. Gegen diese zusätzliche Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers über die Normdurchsetzungsbefugnis wird zwar geltend gemacht, dass eine objektive Begünstigung, die zumindest auch individualschützend wirkt, stets die Rechtsmacht zur Durchsetzung der normgeschützten Interessen gegenüber den Verpflichteten verleihen müsse.24 Insbesondere ergebe sich aus der Gesamtsicht des Grundgesetzes vom Verhältnis des Einzelnen zum Staat, dass „im Zweifel“ eine solche Auslegung den Vorzug verdiene, die eine Durchsetzungsbefugnis des Individualinteresses gewähre.25 Ein konkretes verfassungsrechtliches Verbot, trotz gezielter Begünstigungen Durchsetzungsmöglichkeiten zu versagen, ist allerdings nirgends nachweisbar. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist vielmehr in dieser Hinsicht unbeschränkt, solange er dem Untermaßverbot Rechnung trägt.26 II. Subjektiver Rechtsschutz im Umweltrecht sowie die These subjektiver Gemeinschaftsrechte 1. Die „Grenzen des Normierens“ im Umweltrecht

Trotz des scheinbar klaren Bekenntnisses von Rechtsprechung und Schrifttum zur Schutznormlehre erzeugen die These von der Gesetzesabhängigkeit des subjektiven öffentlichen Rechts und vom Anwendungsvorrang des einfachen Rechts 22

W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, 1968, S. 3. So auch J. Dietlein, DVBl. 1991, 685, 688; ders., JuS 1996, 593, 595; Dünchheim (Fn. 2), S. 112 m.w. N. 24 Vgl. J. Dietlein, DVBl. 1991, 685, 688 f. m.w. N. 25 s. nur BVerfGE 15, 275, 281 f.; E 51, 176, 186. 26 So schützt etwa die Aufstellung eines Wildabschussplanes nach § 21 Abs. 1 Satz 1 BJagdG die Belange des Grundstückseigentümers – ihre Durchsetzung ist nach § 21 Abs. 2 BJagdG ausschließlich den Jagdgenossenschaften überantwortet, s. BVerwG, NVwZ 1995, 1200, 1201; J. Dietlein, JuS 1996, 593, 596; vgl. zum Untermaßverbot Stern (Fn. 1), Bd. III/2, S. 813 f.; ders., in: ders./F. Becker, Grundrechte-Kommentar, 2009, Einl. 61 m. zahlr. w. N. in Fn. 102 ff.; J. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 2. Aufl., 2005, S. 144 ff. 23

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einerseits und die die Schutznormtheorie in Frage stellende Lehre der „Rechtsdurchsetzungsbefugnis infolge tatsächlicher Betroffenheit“ 27 andererseits ein nach wie vor aktuelles Spannungsfeld. a) Das Gebot der Rücksichtnahme im Bau- und Umweltrecht Im Bau- und Umweltrecht arbeitet das BVerwG mit dem „Gebot der Rücksichtnahme“, um die drittschützende Wirkung einer Norm zu ermitteln. Dem Merkmal des „Sich-Einfügens“ in den Bebauungszusammenhang des ungeplanten Innenbereichs gem. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB und dem Entgegenstehen „öffentlicher Belange“ im Außenbereich gem. § 35 Abs. 2 BauGB misst die Rechtsprechung drittschützende Wirkung zu, wenn „qualifizierende und zugleich individualisierende Umstände“ den Schutz der Interessen eines abgrenzbaren Kreises Dritter verlangen.28 Dieses Rücksichtnahmegebot gilt in gleicher Weise im Wasser- und Immissionsschutzrecht.29 Neben die individualschützende Zweckbestimmung des Gesetzgebers müssen demzufolge „tatsächliche Umstände“ hinzutreten, um ein subjektives Recht und damit die Klagebefugnis zu vermitteln. Im Immissionsschutzrecht und Atomrecht reicht hierzu beispw. die „räumliche Nähe“ aus.30 b) Der Rückgriff auf Grundrechte bei „schwerer und unerträglicher“ tatsächlicher Betroffenheit am Beispiel des sog. „Kutterfischer-Falles“ In Einzelfällen griff das BVerwG im Anwendungsbereich einfachgesetzlicher Normen sogar unmittelbar auf die Grundrechte zurück und bejahte die Klagebefugnis, wenn die Rechtssphäre des Klägers „schwer und unerträglich“ betroffen war.31 Ein sehr anschauliches Beispiel hierfür liefert das Kutterfischer-Urteil vom 1. Dezember 1982: Ein Kutterfischer aus Altenwerder klagte dort gegen die einem Privaten erteilte Erlaubnis zur Dünnsäure-Verklappung in der Nordsee und berief sich dabei auf Art. 2 Abs. 2 Nr. 2 EinbrG.32 Danach hängt die Erteilung der Erlaubnis u. a. davon ab, dass durch das Einbringen keine nachteilige Verän27 Vgl. W. Bartlsperger, VerwArch 60 (1969), S. 35 ff.; R. Bernhardt, JZ 1963, 302 ff.; W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, 1968, S. 5; D. Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S. 20; s. ferner A. Bleckmann, VBlBW 1985, 361 ff. 28 Vgl. nur BVerwGE 52, 122, 129 f.; E 55, 369, 379 ff. 29 Vgl. etwa BVerwGE 78, 40, 41 f.; BayVGH, BayVBl. 1985, 149. 30 BVerwGE 61, 256, 264 ff.; E 70, 365, 368 ff. 31 Vgl. BVerwGE 32, 173, 178; E 52, 122, 125; E 66, 307, 309. 32 Einbringungsgesetz – Gesetz vom 11. Februar 1977 zu den Übereinkommen vom 15. Februar 1972 und 29. Dezember 1972 zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch das Einbringen von Abfällen durch Schiffe und Luftfahrzeuge.

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derung der Beschaffenheit des Meerwassers zu besorgen ist, die die sonstige rechtmäßige Nutzung des Meeres behindert. Die Frage, ob diese Norm eine Schutznorm i. S. des § 42 Abs. 2 VwGO darstellt, wurde in allen drei Instanzen mit unterschiedlicher Begründung beantwortet33 und vom BVerwG auf eine „eigentümliche Melange von Verfassungs- und Verwaltungsrecht“ 34 gestützt. Das Gericht verneinte den individualschützenden Charakter von Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 EinbrG und lehnte es zugleich ab, die im Baurecht entwickelten Merkmale des Gebots der Rücksichtnahme auf die Vorschrift zu übertragen. Es sah jedoch die Erwerbschance des Klägers gem. Art. 12 Abs. 1 GG als geschützt an: „Wenn diese Chance (. . .) objektiv rechtlich geschützt ist und der Kläger als Berufsfischer auf dieser Chance seinen Gewerbebetrieb aufgebaut hat, darf sie ihm nicht in gesetz- und damit rechtswidriger Weise durch eine Maßnahme der Verwaltung entzogen werden, wenn dies zur Folge hat, daß sein Gewerbebetrieb ,schwer und unerträglich‘ getroffen oder ,der Bestand seines eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs ernsthaft infrage gestellt‘ wird (. . .).“ 35.

c) Gefahrenabwehrende und der Vorsorge dienende Grenzwerte im nationalen Umweltrecht Ob umweltrechtliche Vorsorgebestimmungen subjektive Rechte begründen können, hat die deutsche Rechtsprechung und auch das Schrifttum lange beschäftigt. So hat das OVG Münster im sog. „Voerde-Urteil“ vom 07. Juli 1976 entschieden, dass § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG „Individualrechtsschutz inne wohne“ 36. Hiernach sind genehmigungsbedürftige Anlagen u. a. so zu errichten und betreiben, dass Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen getroffen wird. Diese, der schlichten Vorsorge dienende Vorschrift des Immissionsschutzrechts sei also nachbarschützend. Auch das OVG Lüneburg hatte sich dieser Sichtweise angeschlossen.37 Dagegen fand das BVerwG, das immissionsschutzrechtliche Vorsorgegebot entfalte keine subjektiven Rechte,38 was der nunmehr gängigen Rechtsprechung und überwiegenden Auffassung im Schrifttum entspricht.39 Die Diskussion über diese Judikatur des BVerwG ist allerdings in der Literatur zu keinem Zeitpunkt verstummt.40 33 VG Hamburg, DVBl. 1981, 296, 270; OVG Hamburg, DVBl. 1981, 701, 702 f.; BVerwGE 66, 307, 309. 34 H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, 1986, S. 153. 35 BVerwGE 66, 307, 309 f. 36 OVG Münster, NJW 1976, 2360. 37 OVG Lüneburg, GewArch 1980, 203. 38 BVerwGE 65, 313. 39 Vgl. M. Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl., 2004, § 8 Rn. 24 m.w. N. 40 Vgl. H. D. Jarass, JuS 1984, 351, 353; R. Breuer, in: Neuere Entwicklungen im Immissionsschutzrecht, Umweltrechtstage 1991, S. 158, 174 ff.; E. Kutscheidt, Fest-

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Dieser fortschreitenden „Liberalisierung in der Anwendung der Schutznormtheorie“ 41 setzt die Rechtsprechung insbesondere im Umweltrecht Sonderregelungen und einschränkende Ausnahmen entgegen: Auch wenn die objektive Verletzung umweltrechtlicher Vorschriften zu einer bereits vom Gesetzgeber vorweg genommenen Beeinträchtigung der Individualrechtsgüter Gesundheit und Eigentum führen kann, sollen grundsätzlich nur die der Gefahrenabwehr, nicht aber die der Vorsorge dienenden Grenzwerte subjektive Rechte begründen; hierbei soll es keine Rolle spielen, ob die entstehenden Schäden an Individualrechtsgütern – ungeachtet normativ festgesetzter Vorsorgegrenzwerte – manifestiert sind.42 So trifft eine Immission im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG den Einzelnen unmittelbar und verleiht ihm ein subjektiv-öffentliches Abwehrrecht. Eine Emission im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG hingegen muss erst zu einer konkreten Immission werden, um dem Einzelnen ein klagbares Recht zu verleihen. Emissionsgrenzwerte gelten daher als Vorsorgewerte gegen potentielle Immissionen und dienen grundsätzlich nur dem Interesse der Allgemeinheit, nicht aber der Begünstigung eines individualisierbaren Personenkreises.43 Drittschützende Wirkung wird ihnen ausnahmsweise dann zugemessen, wenn Immissionswerte nicht oder nur unzureichend normiert sind.44 In diesen Fällen ist ein Kausalzusammenhang zwischen der emittierten Umwelteinwirkung und einem potentiellen künftigen Schaden darzulegen.45 Diese Entscheidung hängt situativ vom Wahrscheinlichkeitsgrad des Schadenseintritts ab.46 d) Zwischenergebnis Bereits diese kurzen Ausführungen zeigen, dass die deutsche Schutznormlehre keineswegs konsequent in der deutschen Verwaltungsrechtspraxis verfolgt wird. Nicht selten dienen etwa die Lehre von der Rücksichtnahme, die Einbeziehung tatsächlicher Elemente und die Grundrechtsklage der – nicht immer konsistenten – Rechtsprechung zu einer Billigkeitskorrektur.47 Das Rücksichtnahmegebot lässt sich seinerseits nur verstehen, wenn man es nicht als Umschreibung eines begrifflichen Umstandes, sondern als Verweis auf die konkrete Situation auffasst, die einem förmlichen Interessenausgleich zugeführt werden muss. Gerade im

schrift für K. Redeker, 1993, S. 439, 453 f. unter Berufung auf VG Neustadt/Weinstraße, NVwZ 1992, 1008, 1010. 41 Hierzu Huber (Fn. 3), S. 298 ff. 42 BVerwGE 65, 313, 320; hierzu Kloepfer (Fn. 39), § 8 Rn. 24 m.w. N. 43 BVerwGE 65, 313, 320; E 69, 37, 42 ff.; E 119, 329, 333; s. a. Karge (Fn. 5), S. 92 f. 44 Vgl. Karge (Fn. 5), S. 93. 45 BVerwGE 55, 250, 253; E 119, 329, 333. 46 BVerwGE 119, 329, 333 f.; BVerwG, NJW 1981, 1393, 1394 f. 47 Hierzu ausführlich Dünchheim (Fn. 2), S. 116 ff.

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Umweltrecht stößt der Gesetzgeber auf „Grenzen des Normierens“, so dass der Gesetzgeber auf tatsächliche Umstände verweisen muss. Damit findet die in der rechtswissenschaftlichen Diskussion „unendliche Geschichte“ 48 ihre Fortsetzung, ob eine tatsächliche Betroffenheit oder konkrete Beeinträchtigung des Klägers Voraussetzung für das Entstehen eines subjektiven Rechts sein kann. Der Grundgedanke „rechtlich zuerkannter Willensmacht“ lässt sich im Sinne der Schutznormtheorie nur aufrecht erhalten, wenn man der faktischen Betroffenheit lediglich insoweit konstitutive Wirkung beimisst, als das einfache Recht auf die faktischen Gegebenheiten verweist. Solche Rechtsnormen stehen unter einem Situationsvorbehalt, der unmittelbar aus der Norm oder dem Regelungszusammenhang entnommen werden muss.49 Die deutsche Schutznormtheorie steht insofern unter dem Verdacht, subjektive Rechte seien eher das Ergebnis juristischer Interpretationskunst, als das Resultat realitätsnaher Betrachtung.50 Dieser Vorwurf mag unberechtigt sein, doch das Bild, dass sich aus der Inkonsistenz der Rechtsprechung und der Vielzahl divergierender Literaturstimmen ergibt, lässt sie in der Tat nicht als Modellleistung systematischer Dogmatik erscheinen. Allein in ihrer Flexibilität liegt die Chance der Schutznormtheorie, auf neue Entwicklungen, insbesondere auf die Einwirkung des Europarechts, zu reagieren, ohne das bestehende Instrumentarium über Bord werfen zu müssen. 2. Die Theorie gemeinschaftsrechtlicher Schutznormen

Gerade das Vorausgesagte untermauert auf der einen Seite die These, die deutschen Schutznormvorstellungen seien „nicht exportfähig“ 51. Auf der anderen Seite ist jedoch deutlich geworden, dass es verfrüht und missverständlich ist, wenn Martin Gellermann konstatiert: „So darf es heute als geklärt betrachtet werden, dass die im bundesdeutschen Verwaltungsrecht dominierende Schutznormtheorie keine Rolle spielt, wenn es gilt, gemeinschaftsrechtlich begründete Rechte zu erweisen.“ 52

Dem ist entschieden entgegenzutreten.53 Vielmehr ist – bei präziser Analyse der Rechtsprechung des Gerichtshofs – deutlich sichtbar, dass der EuGH eine

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D. Mampel, BauR 1993, 44 ff. Wahl (Fn. 2), Vorb. § 42 Abs. 2, Rn. 106. 50 Vgl. C. D. Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996, S. 82 f. 51 F. Schoch, NVwZ 1999, 457, 463; im Anschluss daran M. Gellermann, in: H.-W. Rengeling/A. Middeke/ders., Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Aufl., 2003, § 36 Rn. 14 m.w. N. 52 Gellermann (Fn. 51), § 36 Rn. 14; ähnlich auch T. von Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996, S. 108 (107, 232 u. 246). 53 So schon Schoch (Fn. 51), 457; Dünchheim (Fn. 2), S. 162; wohl auch F. Kopp/ W.-R. Schenke, VwGO, 16. Aufl., 2009, § 42 Rn. 153. 49

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„Theorie gemeinschaftsrechtlicher Schutznormen“ praktiziert54: In der Rechtssache „Großkrotzenburg“ betonte der EuGH die Pflicht der mitgliedstaatlichen Behörden, objektive Rechtssätze des Gemeinschaftsrechts anzuwenden, wobei es im konkreten Fall um die sich unmittelbar aus der UVP-Richtlinie ergebende Verpflichtung zur Prüfung der Umweltverträglichkeit des streitgegenständlichen Projekts ging.55 Die Frage, „ob die Richtlinie dahin auszulegen ist, dass sie die behauptete Verpflichtung aufstellt“, habe hingegen „mit der – in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannten – Möglichkeit für den Einzelnen, sich gegenüber dem Staat auf unbedingte sowie hinreichend klare und genaue Vorschriften einer nicht umgesetzten Richtlinie zu berufen, nichts zu tun“ 56. Auch in der Rechtssache „Enichem-Base“ 57 hat der Gerichtshof die Klagbarkeit einer unbedingten, genauen Richtlinienbestimmung, die eine Notifizierungspflicht der Mitgliedstaaten beim Erlass bestimmter nationaler umweltrechtlicher Regelungen gegenüber der Kommission vorsah, deshalb verneint, weil sie „kein Recht für den Einzelnen schafft, das verletzt sein könnte“ 58. Eine entsprechende Feststellung enthalten die Urteilserwägungen in der Rechtsache „Sydhavnens Sten & Grus“ zu der lediglich objektiv-rechtlich wirkenden Unterrichtungspflicht der Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission gemäß Artikel 7 Abs. 3 der Abfallrichtlinie.59 Der Kreis der unmittelbar anwendbaren Normen ist also weiter, als derjenige der gemeinschaftsrechtlichen Normen, die dem Einzelnen Rechtspositionen verleihen.60 Es ist daher zwischen unmittelbar wirkenden Rechtssätzen des Gemeinschaftsrechts zu unterscheiden, die lediglich dem objektiven Recht zuzuordnen sind und solchen, die darüber hinaus Individualrechte vermitteln.61 Die Rechtsschutzkonzeption des EuGH geht also – anders als vielfach behauptet62 – allemal über das „intérêt pour agir“ nach französischem Vorbild hinaus. Es lässt sich daher – bei Lichte betrachtet – schwerlich vertreten, dass die europa54

Dünchheim (Fn. 2), S. 138 ff. m.w. N. EuGH, Slg. 1995, 2189 ff. – Großkrotzenburg, Rz. 19 ff. 56 EuGH, Slg. 1995, 2189 ff. – Großkrotzenburg, Rz. 26. 57 EuGH, Slg. 1989, 2491. 58 EuGH, Slg. 1989, 2491, 2518 – Enichem-Base, vgl. hierzu im Einzelnen: Dünchheim (Fn. 2), S. 139 ff. 59 Vgl. EuGH, Slg. 2000, I-3743 – Sydhavnens Sten & Grus; s. jüngst auch EuGH, Urt. v. 26. Mai 2011, Rs. C-165/09 bis C-167/09 zur IVU-Richtlinie (RL 2008/1/EG) und NEC-Richtlinie (RL 2001/81/EG). 60 M. Ruffert, DVBl. 1998, 69, 71; C. D. Classen, VerwArch 88 (1997), S. 645, 654. 61 Insofern ist es unzutreffend, wenn im Schrifttum zuweilen die Identität von unmittelbarer Wirkung und Individualrechtsbegründung angenommen wird, so z. B. J. Viebrock, JZ 1991, 555 f. sowie M. Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), 154, 163 f. 62 Vgl. etwa von Danwitz (Fn. 52), S. 246; Halfmann (Fn. 3), S. 74, 97 f.; J. Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, Berlin 1997, S. 37 ff.; M. Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft unter besonderer Berücksichtigung ihrer prozessualen Durchsetzung, 1996, S. 187. 55

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rechtlichen Einflüsse zur Abkehr von der Schutznormtheorie im deutschen Recht zwingen. Das Kriterienraster der Schutznormtheorie des deutschen Verwaltungsrechts ist vielmehr universal anwendbar und kann auch bei der Ermittlung unionsrechtlicher Gewährleistungen, die vor den deutschen Verwaltungsgerichten geltend gemacht werden sollen, ohne weiteres als Ausgangspunkt herangezogen werden.63 Freilich zeigen sich dabei gewisse Funktions- und Systemdivergenzen. Diese sind ihrerseits jedoch nicht unüberwindlich, sondern können durch eine Modifikation der ohnehin „flexiblen“ nationalen Kriterien aufgefangen werden. a) Gemeinschaftsrechtsnormen und objektive Rechtspflicht Auch im Gemeinschaftsrecht wirken nur solche Normen rechtsbegründend, die „zwingenden Charakter“ haben, die also eine objektive Rechtspflicht statuieren: Nur diese binden – über die Mitgliedsstaaten hinaus – Gerichte und Behörden gleichermaßen. Der Gerichtshof bezeichnet dies als „unmittelbare Wirkung“.64 Sie ist an zwei Bedingungen geknüpft: Die Norm muss zum einen inhaltlich hinreichend bestimmt und zum anderen unbedingt sein.65 Sie muss danach einerseits allgemein und unzweideutig bestimmte Vorgaben zum sachlichen und personalen Schutzbereich treffen, einen hinsichtlich Inhalt und Ausmaß bestimmten Tatbestand mit einer eindeutigen Rechtsfolge versehen.66 Andererseits muss sie eine Verpflichtung normieren, „die an keine Bedingung geknüpft ist und zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Unionsorgane oder der Mitgliedsstaaten bedarf“.67 Den unbedingten und genauen Handlungsanweisungen, etwa den gemeinschaftsrechtlich festgelegten Grenzwertbestimmungen in den Umweltrichtlinien68, stehen die bloßen Programmsätze des EG-Rechts gegenüber. Ein Beispiel für einen Programmsatz liefert etwa die Priorität der Abfallvermeidung vor der Abfallverwertung nach Art. 4 Abfallrichtlinie 75/44269. Gemeinschaftsrechtliche Normen, die den Normadressaten bloß ermächtigen, ihn jedoch nicht verpflich63 s. nur D. Triantaflyllou, NVwZ 1994, 943 ff.; ders., DÖV 1997, 192, 196 f.; Schoch (Fn. 51), 457, 463 ff.; Dünchheim (Fn. 2), S. 137. 64 Zu Begriff und Voraussetzungen der „unmittelbare Wirkung“ vgl. schon EuGH Slg. 1963, 1, 24 – van Gend & Loos. 65 EuGH, Slg. 1979, 1629, 1642 – Ratti. 66 Dünchheim (Fn. 2), S. 149 m.w. N. 67 So jüngst EuGH, Urteil vom 1. Juli 2010, C-194/08 – Gassmayr, Rz. 45 (noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht). 68 Hierzu in diesem Zusammenhang näher EuGH, Slg. 2008, I-6221 – Janecek, Rz. 35 ff.; B. W. Wegener, Rechte des Einzelnen – Die Interessentenklage im Europäischen Umweltrecht, 1998, S. 209 f. 69 Vgl. hierzu illustrativ: EuGH, Slg. 1994, I-483, 503 – Difesa della Cava, Rz.14: „Es ist (. . .) davon auszugehen, dass die fragliche Bestimmung (bloß) den Rahmen absteckt, in dem die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Behandlung der

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ten, begründen ebenfalls keine objektive Rechtspflicht. Keine Auswirkungen auf den zwingenden Charakter einer unbedingten, hinreichend bestimmten Richtlinie hat es hingegen, wenn sie in mehrpoligen Verwaltungsrechtsverhältnissen einzelne begünstigt, damit zugleich aber auch andere belastet.70 Lässt die Bestimmung des Gemeinschaftsrechts neben einem hinreichend genauen und unbedingten Grundtatbestand eine Reihe von Ausnahmen zu, deren Umsetzung oder Aktualisierung in das Ermessen der Mitgliedstaaten fällt, bildet nach der Rechtsprechung des EuGH allein der Grundtatbestand die objektive Rechtspflicht.71 Für den Fall „unzulänglicher Umsetzung“ – etwa wenn die Richtlinie in dem Mitgliedsstaat nur teilweise umgesetzt wurde –, hat der Gerichtshof jüngst im Urteil vom 14. Oktober 2010 in der Rechtssache „Fuß“ ausgeführt, „dass sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs Einzelne gegenüber dem Staat [. . .] immer dann auf die Bestimmungen einer Richtlinie berufen können, wenn sich diese als inhaltlich unbedingt und hinreichend genau darstellen, insbesondere wenn der Staat diese Richtlinie nicht innerhalb der Frist in nationales Recht umgesetzt hat oder wenn die Umsetzung unzureichend war.“ 72

Soweit daher Art. 10a i.V. m. Art. 1 Abs. 2 UVP-Richtlinie dem Mitgliedsstaat die Festlegung überlässt, welche Umweltorganisationen klageberechtigt sein sollen, ist diese Bestimmung mit der durch den nationalen Gesetzgeber in § 3 UmwRG getroffenen Spezifizierung unmittelbar wirksam.73 Auch die in einer Richtlinie vorgesehene Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen „Systemen“ zur Transformation bedeutet nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht, dass die Vorschrift bedingt ist.74 b) Kriterien zur Feststellung des individualschützenden Charakters einer Gemeinschaftsrechtsnorm Die Bestimmung der individualschützenden Wirkung einer gemeinschaftsrechtlichen Norm ist die „Gretchen-Frage“ 75, an der sich auch hier die Geister Abfälle stattfinden soll, und nicht als solche den Erlass konkreter Maßnahmen oder diese oder jene Methode der Abfallbeseitigung vorschreibt.“ 70 Hierin ist kein Fall unzulässiger, horizontaler Drittwirkung zu sehen, vgl. Dünchheim (Fn. 2), S. 26 f, 150. 71 Vgl. EuGH, Slg. 1999, I-5613, 5660 – World Wildlife Fund; ferner EuGH, Slg. 1999, I-5901 – Kommission/Irland; vgl. ferner jüngst EuGH, Urteil vom 1. Juli 2010, Rs. C-194/08 – Gassmayr, Rz. 44 ff. (noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht). 72 EuGH, Urt. v. 14. Oktober 2010, C-243/09 – Fuß, Rz. 56 (noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht). 73 So auch Generalanwältin E. Sharpston, Schlussanträge v. 16. Dezember 2010, C115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen, Rz. 92. 74 Vgl. EuGH, Slg. 2003, I-4135 – Deutscher Handballbund, Rz. 29; EuGH, Slg. 2005, I-2579 – Simutenkov, Rz. 24 f. 75 T. v. Danwitz, DÖV 1996, 481 (484).

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scheiden. Versucht man die Rechtsprechung des EuGH zu interpretieren, so stößt man – entgegen vieler Verlautbarungen im deutschen Schrifttum – auf ein großes Konvergenzpotential auf beiden Seiten, der des deutschen und der des EGRechts.76 Um voreiligen und auf Irrwege hinauslaufenden Schlüssen vorzubeugen, ist dabei stets – als „Selbstverständlichkeit“ – im Auge zu behalten, dass die Position des Gerichtshofs von konkreten Einzelfallentscheidungen geprägt wird, die – ähnlich wie die Einzelfallentscheidungen der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit – nicht immer auf der Linie einer klaren, widerspruchsfreien Dogmatik liegen. aa) Die Individualschutzintention kraft ausdrücklicher Anordnung Keine Besonderheiten gegenüber rein nationalen Sachverhalten ergeben sich, wenn bereits nach dem Wortlaut der gemeinschaftsrechtlichen Norm natürlichen oder juristischen Personen ausdrücklich Rechtsansprüche eingeräumt werden. So verleiht etwa Art. 45 Abs. 3 AEUV als primär rechtliche Bestimmung dem Einzelnen das Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat zum Zwecke der Arbeitssuche aufzuhalten. Ein Beispiel für eine entsprechende sekundärrechtliche Anordnung bietet die Bestimmung des Art. 4 der EG-Umweltinformationsrichtlinie77, die die Anfechtbarkeit antragsablehnender Entscheidungen in Verfahren vor den mitgliedstaatlichen Gerichten normiert.78 Dem Gemeinschaftsgesetzgeber ist es umgekehrt ebenfalls nicht verwehrt, die Individualrechtsbegründung ausdrücklich auszuschließen. bb) Die Nennung personenbezogener Rechtsgüter als Indiz Fehlt eine ausdrückliche Anordnung, ist die jeweilige gemeinschaftsrechtliche Bestimmung nach den herkömmlichen Topoi auszulegen.79 Der EuGH stellt hierzu – wie dies auch im deutschen Recht üblich ist – neben Wortlaut und Systematik insbesondere auf den Sinn und Zweck der Vorschrift ab.80 Die gemeinschaftsrechtliche Erwähnung personenbezogener Rechtsgüter, etwa des Ver76 So im Ergebnis auch Masing (Fn. 62), S. 181 ff.; Schoch (Fn. 51), 457, 465; Dünchheim (Fn. 2), S. 152 ff. 77 Richtlinie 90/ 313 / EWG des Rates vom 7. Juni 1990 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, Abl. 1990, L 1958, S. 56; in das deutsche Recht umgesetzt durch § 4 Abs. 1 UIG. 78 Weitere Beispiele finden sich bei A. Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998, S. 310 f. 79 Vgl. als „Leading Case“ zum Schutznormcharakter von Art. 25 EG (nun Art. 30 AEUV), der ebenfalls keine entsprechenden Anhaltspunkte in seinem Wortlaut enthält: EuGH, Slg. 1963, 1, 25 – Van Gend & Loos. 80 Vgl. hierzu insbesondere die anschaulichen Ausführungen des EuGH in der Rechtssache „Dillenkoffer“, bei der es um die Haftung der Bundesrepublik Deutschland

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braucherschutzes oder der Gefahren für die menschliche Gesundheit, ist dabei ein Indiz für den Schutznormcharakter der jeweiligen Vorschrift. Im Schrifttum wird vereinzelt sogar vertreten, dass mit der bloßen Nennung personenbezogener Rechtsgüter zugleich generell über den Inhalt und die Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsposition entschieden ist. So ist etwa Stefan Kadelbach der Ansicht, eine „explizite und gezielte Individualbegünstigung“ werde „im Gemeinschaftsrecht nicht verlangt“ 81. Auch Hans D. Jarass meint, „eine besondere gesetzgeberische Absicht der Drittbegünstigung“ sei „nicht erforderlich“.82 Diese pauschalierten Feststellungen sind zumindest unvollständig: Art. 4 der Abfallrichtlinie nennt ausdrücklich die „Gefährdung der menschlichen Gesundheit“ als Schutzgut. Dennoch hat der EuGH dieser Vorschrift in der Rechtsache „Difesa Della Cava“ 83 keinen Schutznormcharakter zuerkannt. Auch im Falle „Bovo Tours“ reichte die in einer den Busverkehr betreffenden Richtlinie vorgesehene Möglichkeit von Konkurrenten, ihre wirtschaftlichen „Interessen“ gegenüber Entscheidungen mit geeigneten Mitteln geltend zu machen, nicht zur Einklagbarkeit der betreffenden Bestimmungen aus.84 Gerade im Umweltrecht ist nicht schon jedes ideelle Interesse, etwa die Verbesserung der Lebensqualität rechtsbegründend;85 erforderlich ist vielmehr der Schutz vor konkreten Gefahren für ein personales Rechtsgut.86 Es wäre daher kurzschlüssig, aus der Nennung irgendwelcher personenbezogenen Güter generell den „auch individualschützenden Charakter der Gemeinschaftsrechtsnorm“ abzuleiten. Vielmehr müssten es solche Rechtsgüter sein, auf deren Schutz die Gemeinschaftsrechte final und nicht bloß am Rande abzielen.87 Um diese Finalität festzustellen, bedarf es einer präzisen Ermittlung des Willens des Gemeinschaftsgesetzgebers. Ebenso wie in der deutschen Rechtspraxis erschließt sich dieser oftmals aus den Gesetzesmaterialien, d. h. aus den Vorarbeiten der Kommission, den Stellungnahmen des europäischen Parlaments und seiner Ausschüsse sowie aus den Dokumenten des Rates.88 Auch die jedem Rechtsakt voranzustellenden Begründungserwägungen enthalten in komprimierter Form entsprechende Hinweise. Dementsprechend hat auch der

wegen nicht rechtzeitiger Umsetzung der Pauschalreise-Richtlinie ging, EuGH, Slg. 1996, I-4845, 4881 – Dillenkoffer Rz. 33 ff. 81 S. Kadelbach, in: T. v. Danwitz u. a. (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 131, 141. 82 H. D. Jarass, NJW 1994, 881, 883. 83 EuGH, Slg. 1994, I-484, 503. 84 EuGH, Slg. 1987, I-5429, 5461 – Bovo Tours; a. A. Generalanwalt J. Mischo, ebd., S. 5444 ff. 85 Vgl. Wegener (Fn. 68), S. 1987 f. m.w. N. 86 In diesem Sinne auch Classen (Fn. 60), S. 645, 667. 87 So auch W. Frenz, DVBl. 1995, 408, 412; F. Schoch, NVwZ 1999, 457, 464. 88 Vgl. etwa die Auswertung der Gesetzesmaterialien zum Begriff „Vorverfahren“ in der Umweltinformationsrichtlinie durch R. Röger, UPR 1994, 216, 217 ff.

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EuGH in zahlreichen Entscheidungen die Entstehungsgeschichte der zu beurteilenden Norm als Auslegungshilfe herangezogen.89 cc) Die Unbeachtlichkeit der Abgrenzung nach „Gefahrenabwehr oder Vorsorge“ im Gemeinschaftsrecht Aus der Nennung personenbezogener Rechtsgüter, wie Gesundheit oder Eigentum wird man daher allenfalls einen Indikator für die auf die Begründung individueller Rechte gerichteten Willen des Gemeinschaftsgesetzgebers gewinnen können. Von einem einklagbaren „Individualinteresse“ ist dabei immer dann auszugehen, wenn ein von der Allgemeinheit abgrenzbarer, potentiell „Betroffener“ bzw. „Berechtigter“ vorhanden ist.90 Keine Rolle spielt dabei die aus der deutschen Drittschutzdogmatik bekannte, aber zunehmend kritisch betrachtete 91 Unterscheidung zwischen drittschützenden Normen der Gefahrenabwehr und nicht drittschützenden Vorsorgegrenzwerten. Das Begriffspaar „Gefahrenabwehr und Vorsorge“ scheint dem Gemeinschaftsrecht insgesamt fremd zu sein: Die Rechtsprechung des EuGH deutet darauf hin, dass den immissions- wie auch den emissionsbezogenen Grenzwerten des europäischen Umweltrechts generell individualschützender Charakter zukommt, soweit sie dem Schutz personaler Rechtsgüter, wie der menschlichen Gesundheit, dienen. Jedenfalls lassen die Hinweise des Gerichtshofs auf den in den Zielbestimmungen der Umweltschutzrichtlinien angelegten Individualrechtsschutz keine Differenzierung zwischen akutem und vorbeugendem Gesundheitsschutz erkennen. Erst kürzlich erkannte der EuGH in der Rechtssache „Janecek“ dem unmittelbar betroffenen Einzelnen schon im Fall der Gefahr einer Überschreitung von Immissionsgrenzwerten oder der Alarmschwellen das Recht zu, bei den zuständigen nationalen Behörden die Erstellung eines „Aktionsplanes zur Luftreinhaltung“ nach § 47 BImSchG zu erzwingen.92 Der 89 Vgl. M. Lutter, JZ 1992, 593, 599 m.w. N. zur Rechtsprechung des EuGH in dortiger Fn. 75. 90 Vgl. EuGH, Slg. 1991, I-3757, 3790; J. Ruthig, BayVBl. 1997, 289, 294. 91 Vgl. nur BayVGH, BayVBl. 1989, 530, 532 ff.; Kutscheidt (Fn. 40), S. 439, 455; Wahl/Schütz (Fn. 14), § 42 Abs. 2, Rn. 160 f. 92 EuGH, Slg. 2008, I-6221, I-6222 – Janecek. Die deutschen Instanzgerichte hatten diese Frage völlig unterschiedlich bewertet. So hat das VG München unter Hinweis auf das Fehlen eines subjektiv-öffentlichen Rechts die Klage abgewiesen. Ein solcher Anspruch ergebe sich weder aus dem Bundesimmissionsschutzgesetz noch aus den einschlägigen europäischen Richtlinien, vgl. VG München, NVwZ 2005, 1219. Weil mit einem Aktionsplan nach § 47 Abs. 3 BImSchG in erster Linie die Gesundheit der betroffenen Anwohner geschützt werden solle und zu diesem Schutz als gesetzlicher Regelfall die Aufstellung eines Aktionsplanes vorgesehen ist, komme § 47 Abs. 3 BImSchG zumindest für die betroffenen Anwohner drittschützende Wirkung zu, urteilte die Berufungsinstanz, VGH München, NVwZ 2007, 233, 236. Dem hat das BVerwG widersprochen. Jedenfalls die deutsche Norm des § 47 Abs. 3 BImSchG stehe allein im Interesse der Allgemeinheit und erkenne den betroffenen Anwohnern keine klagefähige Rechtsposition auf Aufstellung eines Aktionsplanes zu. Allenfalls sei der Gesetzgeber

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Gerichtshof stellt damit gerade nicht auf die Rechtsverletzung wegen eines konkreten Schadens im Sinne einer Immission ab, sondern betont ein allgemeines Recht auf Vorsorge.93 dd) Zwischenergebnis Der (auch) individualschützende Charakter einer Gemeinschaftsrechtsnorm, d. h. ihr „sachlicher Schutzbereich“, ergibt sich aus deren Wortlaut, Genese sowie Sinn und Zweck. Umweltrechtliche Grenzwertbestimmungen haben schon dann individualschützenden Charakter, wenn sie den Schutz personaler Rechtsgüter bezwecken. Soweit der EuGH nicht der in Deutschland üblichen Differenzierung zwischen Gefahrenabwehr- und Vorsorgegrenzwerten gefolgt ist, führt dies nicht zugleich zum Bruch mit den Grundsätzen der Schutznormtheorie, da sich über die Sinnhaftigkeit und die Ungereimtheiten der deutschen Rechtspraxis trefflich streiten lässt und die Einbeziehung auch der vorsorgenden Schutzbestimmungen durch den EuGH durchaus dem hohen Stellenwert entspricht, den gerade der Amsterdamer Vertrag (wie auch der Vertrag von Lissabon) dem Vorsorgeprinzip einräumt.94 Damit erweist sich die deutsche Schutznormtheorie auch bezüglich ihres zweiten Kriteriums als vollständig rezeptionstauglich. c) Das Kriterium der Normdurchsetzungsbefugnis Dem dritten Kriterium, der „Rechtsmacht“ bzw. „Normdurchsetzungsbefugnis“, das gewissermaßen den „personalen Schutzbereich“ der Gemeinschaftsrechtsnorm bestimmt, ist vor dem Hintergrund der Europäisierung des Individualrechtsschutzes besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Eine personalisierte und individualisierte Rechtsmacht, die Rechtsordnung zur Verfolgung eigener Interessen in Bewegung setzen zu können, ist bei Gemeinschaftsrechtssätzen – ebenso wie bei nationalen Rechtsnormen – der entscheidende Punkt. Deswegen kommt es bei der Abgrenzbarkeit des Personenkreises auch nicht maßgeblich auf dessen zahlenmäßige Bestimmbarkeit, sondern darauf an, dass sich der Gemeinschaftsrechtssatz an jeden Einzelnen in seiner Individualität wendet.95 Es ist dazur drittschützenden Ausgestaltung aufgrund europäischen Rechts verpflichtet. Deshalb formulierte das BVerwG Vorlagefragen an den EuGH, vgl. BVerwG, NVwZ 2007, 695 ff., insbes. 697. 93 Hierzu Ziekow (Fn. 4), 793, 794. 94 Während der EG-Vertrag bis zu seiner Änderung gemäß Art. 130 lit.) r EGV a. f. nur das Prinzip der „Vorbeugung“ kannte, betont der Amsterdamer Vertrag nunmehr ausdrücklich die Verpflichtung auf das Vorsorgeprinzip, vgl. Art. 174 EG – hierzu R. Geiger, Kommentar zum EG-Vertrag, 3. Aufl., 2000, Art. 174, Rn. 14; J. Masing, DVBl. 1998, 549 ff. 95 So für das nationale Recht E. Schmidt-Aßmann, in: T. Maunz/G. Dürig, Grundgesetzkommentar, 59. Lfg. 2010, Art. 19 IV, Rn. 139.

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her allein Sache des Gemeinschaftsgesetzgebers zu bestimmen, wer sich – als Einzelner, als Personengruppe oder gar als Verband bzw. Umweltorganisation – auf das Gemeinschaftsrecht berufen darf.96 aa) Die Levitationstheorie als Grundsatz auch bei Gemeinschaftsrechtssätzen Die Ermittlung der Reichweite des personalen Schutzbereiches ist, ebenso wie die Abgrenzung des sachlichen Schutzbereiches einer Gemeinschaftsrechtsnorm, eine Frage der Auslegung. Unproblematisch ist die Bestimmung der Rechtsträgerschaft und damit die Normdurchsetzungsbefugnis, wenn der Einzelne in personeller Hinsicht schon durch den Wortlaut der Gemeinschaftsrechtsnorm selbst aus dem Kreise der Allgemeinheit emporgehoben wird (sog. Levitationstheorie). Ist er ausdrücklich genannt, kann über seine Normdurchsetzungsbefugnis kein Zweifel mehr bestehen. So ist etwa in Art. 7 der Pauschalreisenrichtlinie der „Verbraucher“ ausdrücklich angesprochen und somit initiativ berechtigt. Im Wirtschaftsrecht resultiert die verbesserte Rechtsschutzsituation des Wettbewerbers etwa im Bereich der Auftragsvergabe oder im Bereich der Gewährung unerlaubter Beihilfen ebenfalls aus der normativen Emporhebung des Wettbewerbers aus dem Kreise der Allgemeinheit.97 Dies gilt selbst dann, wenn der personale Schutzbereich ausdrücklich „jedermann“ mit einbezieht und damit der Kreis der individuell Begünstigten ausnahmsweise deckungsgleich mit dem der Allgemeinheit ist. Es kann insofern kein Zweifel daran bestehen, dass Art. 4 der EGUmweltinformationsrichtlinie „jedermann“ ein subjektives Recht auf Zugang zu Umweltinformationen zubilligt. Es steht auch im Ermessen des Gemeinschaftsgesetzgebers, Umweltschutzverbänden oder Gebietskörperschaften eine entsprechende Rechtsdurchsetzungsbefugnis zu verleihen98: In der Entscheidung „Commune di Carpaneto Piacentino“ stellte der Gerichtshof fest, eine Gemeinde habe das Recht, sich auf ihre Stellung als nicht steuerpflichtige Person im Sinne der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie zu berufen, weil die Gemeinden neben Staaten und sonstigen Einrichtungen des öffentlichen Rechts in der einschlägigen Richtlinienbestimmung als Rechtsträger „ausdrücklich benannt“ seien.99

96 Vgl. hierzu ausdrücklich EuGH, Slg. 1991, I-3757, 3790 f. – Verhohlen; s. dazu insbesondere die Schlussanträge von Generalanwalt M. Darmon, S. 3775 f. 97 Vgl. etwa die Hervorhebung des „Wirtschaftsteilnehmers“ in Art. 2 der Vergabekoordinierungsrichtlinie 2004/18/EG. 98 Auch nach Gemeinschaftsrecht können sich Gemeinden oder Umweltverbände nicht automatisch und ohne ausdrückliche Anordnung auf jeden individualbegünstigenden Rechtssatz berufen, vgl. hierzu Ruffert (Fn. 62), S. 218 m.w. N. 99 EuGH, Slg. 1989 3233, 3279 – Commune di Carpaneto Piacentino.

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bb) Der gemeinschaftsrechtliche Situationsvorbehalt im raum- und umweltbezogenen Sachbereich Schwierigkeiten bereitet die Zuordnung der Normdurchsetzungsbefugnis im Gemeinschaftsrecht – wie sollte es anders sein – dort, wo normative Anhaltspunkte fehlen. Umweltrechtliche Grenzwerte etwa erfassen Gefahrentatbestände für personale Rechtsgüter zunächst einmal nur in abstrakter Form. Wenngleich damit feststeht, dass es sich bei derartigen Grenzwerten um eine auch Individualinteressen dienende, objektive Rechtspflicht des Normadressaten handelt, ist damit noch keine normative Aussage darüber getroffen, wer die Einhaltung dieser Grenzwerte vor Gericht geltend machen darf. Sicher ist allein, dass eine Popularklage ausgeschlossen ist. Selbstverständlich wird man die bereits erwähnten „Grenzen des Normierens“ auch hier für das Gemeinschaftsrecht anerkennen müssen. Ähnlich wie die nationale Rechtsprechung im deutschen Planungs- und Umweltrecht knüpft der EuGH an dieser Stelle ebenfalls an das Merkmal der „Situationsbezogenheit“ an und löst sich insoweit von der rein normenbezogenen Betrachtung. Er verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des „Betroffenen“, ohne diesen an irgendeiner Stelle näher zu konkretisieren.100 Zu der Frage, welche Eigenschaften den Betroffenen gegenüber Nichtbetroffenen qualifizieren, hat er sich – soweit ersichtlich – noch nicht ausdrücklich geäußert. Nach überwiegender Auffassung im Schrifttum müsse sich der Betroffene, wenn er im Allgemeininteresse erlassene Normen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes geltend mache, mindestens auf eine faktische persönliche Betroffenheit berufen.101 Verlangt wird die hinreichend plausible Behauptung eines sich aus der klägerischen Situation ergebenden persönlichen Interesses an der Durchsetzung der betreffenden Vorschrift des Gemeinschaftsrechts. Eine qualifizierte Betroffenheit im Sinne einer gerade gegenüber der Gesamtbevölkerung gesteigerten Einwirkungsintensität setze das Gemeinschaftsrecht allerdings nicht voraus. So komme es etwa auf eine engere räumliche und zeitliche Beziehung zu einer Anlage nicht an.102 Auch an die Aktualität der Betroffenheit seien keine überzogenen Anforderungen zu stellen; es genüge eine potentielle, künftige Beeinträchtigung. cc) Zwischenergebnis Im Ergebnis ist jedenfalls festzuhalten, dass der Gerichtshof bei der Handhabung des Situationsvorbehaltes zur Bestimmung des Kreises der Normdurch100 EuGH, Slg. 1991, I-2567, 2601 – Schwefeldioxyd/Schwebestaub; Slg. 1991, I2607, 2631 – Blei; Slg. 1991, I-4983, 5023 – Oberflächenwasser. In EuGH, Slg. 1991, I-791, 816 – Grundwasser – ist vom „betroffenen Normadressaten“ die Rede. In EuGH, Slg. 1991, I-825, 867 – Grundwasser – wird vom „Begünstigten“ gesprochen. 101 Vgl. nur Kadelbach (Fn. 81), S. 131, 142; Halfmann (Fn. 3), S. 74, 82. 102 Vgl. B. W. Wegener, Rechte des Einzelnen, 1991, S. 185.

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setzungsbefugten deutlich großzügiger ist als die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit in rein nationalen Sachverhalten. An dieser Stelle ist jedoch zu betonen, dass die deutsche Rechtspraxis, die selbst nicht frei von Ungereimtheiten ist, im internationalen Vergleich sogar als „ausgesprochen kleinlich“ 103 bewertet wird und sich insbesondere dem Vorwurf ausgesetzt sieht, die Konsequenzen der mit modernem staatlichen Handeln verbundenen Breitenwirkung nicht angemessen zu bewältigen. III. Vereinigungsklage im Umweltschutzrecht und das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz 1. Naturschutzverbände als „außenstehende Anwälte der Natur“

Mit der Systementscheidung für einen auf den subjektiven Rechtsschutz ausgerichteten Verwaltungsprozess stößt das deutsche Recht dort auf vielschichtige Probleme, wo es keinen subjektiv betroffenen Einzelnen gibt, der seine Rechte durchsetzen kann oder möchte: Diese Situation stellt sich gerade im Umweltrecht häufig, denn im Wettstreit zwischen Umweltnutzer und Umweltschützer führt ein solches Rechtsschutzsystem zwangsläufig zu einem Ungleichgewicht. Der Nutzer kann gegen jede rechtliche Beschränkung seiner Tätigkeiten seine subjektiven Rechte ins Feld führen; dem Umweltschützer ist das systembedingt in vielen Fällen verwehrt.104 Um diesem Ungleichgewicht entgegenzuwirken und auch das bürgerliche Engagement zugunsten der Umwelt nutzbar zu machen, zeichnet sich in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union eine stetige Tendenz zur Liberalisierung und Einebnung ehemals restriktiver Standpunkte ab.105 So hat das Bundesverwaltungsgericht bereits 1993 die Naturschutzverbände im Sinne des § 29 BNatSchG a. F. als „außenstehende Anwälte der Natur“ anerkannt, ohne dabei allerdings das System des subjektiv-rechtlich geprägten Verwaltungsprozessrechts in Frage zu stellen.106 Die Vereinigungsklage ist, abweichend von der allgemeinen Regelung des § 42 Abs. 2 VwGO ohne Rücksicht auf die Geltendmachung eigener Rechte zulässig, soweit ein Bundes- oder Landesgesetz ein entsprechendes Klagerecht vorsieht.107 Ein Beispiel für eine unabhängig von der Geltendmachung eigener Rechte eingeräumte Klagemöglichkeit stellt die naturschutzrechtliche Vereinigungsklage gemäß § 64 Abs. 1 BNatSchG dar, die u. a. gegen Planfeststellungsbeschlüsse über Vorhaben, die mit Eingriffen in Natur und Landschaft verbunden sind, sowie gegen Plangenehmigungen, soweit eine Öffentlichkeitsbeteiligung vorgesehen ist, 103 104 105 106 107

s. rechtsvergleichend D. Ehlers, VerwArch 84 (1993), S. 129 ff. Vgl. Karge (Fn. 5), S. 94. So schon P. P. Craig, Administrative Law, 3. Aufl., 1994, S. 513. BVerwG, NVwZ 1993, 890, 891; auch BVerwG, NVwZ 1998, 279, 280. Vgl. hierzu Wahl/Schütz (Fn. 14), § 42 Abs. 2, Rn. 37, 228.

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zugelassen wird. Voraussetzung für die Zulässigkeit dieser Klage ist die Geltendmachung eines Verstoßes gegen das BNatSchG, gegen Rechtsvorschriften, die aufgrund oder im Rahmen des BNatSchG erlassen worden sind oder fortgelten oder gegen andere Rechtsvorschriften, die bei der Entscheidung zu beachten sind und zumindest auch den Belangen des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu dienen bestimmt sind. 2. Der Rechtsschutz von Umweltvereinigungen nach dem Umweltrechtsbehelfsgesetz

a) Das Konzept der Schutznormakzessorietät Mit dem UmwRG wurde nach jahrelangen, intensiven Diskussionen108 neben der naturschutzrechtlichen Vereinsklage erstmals eine allgemeine umweltrechtliche Rechtsschutzmöglichkeit für bestimmte Umweltvereinigungen in das deutsche Recht eingeführt. Diesen wird – über § 42 Abs. 2 VwGO hinaus – die Möglichkeit eingeräumt, Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen i. S. v. § 2 Abs. 3 UVPG über die Zulässigkeit von Vorhaben einzulegen, für die eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) bestehen kann. Ebenso kann gem. § 1 Abs. 1 UmwRG gegen Genehmigungen und nachträgliche Anordnungen für immissionsschutzrechtlich genehmigungsbedürftige Anlagen109 sowie gegen wasserrechtliche Erlaubnisse vorgegangen werden. Die Verletzung eigener Rechte der Vereinigung ist zwar gemäß § 2 Abs. 1 Satz 1 UmwRG nicht erforderlich, jedoch muss die Vereinigung geltend machen, dass Rechtsvorschriften verletzt worden sind, die dem Umweltschutz dienen, Rechte Einzelner begründen und für die Entscheidung von Bedeutung sein können (sog. schutznormakzessorische Verbandsklage110). Das Kriterium „Rechte Einzelner“ unterscheidet den Rechtsbehelf aus § 2 Abs. 1 Satz 1 UmwRG von der altruistischen Vereinigungsklage nach BNatSchG. Insofern schafft das UmwRG einen neuen Typus im deutschen Rechtsschutzsystem, der zwischen subjektiven und objektiven Rechtsbehelfen angesiedelt ist.111 Auf umweltschutzrechtliche Vorschriften lässt sich daher eine Klagebefugnis einer Umweltschutzvereinigung nur stützen, wenn durch diese Vorschriften subjektive Rechte Einzelner (auch Dritter) begründet werden können. Die Geltendmachung einer Verletzung nur objektiver Rechtspflichten des Staates genügt demnach nicht. Damit scheidet insbesondere die Geltendmachung eines Verstoßes gegen Naturschutzrecht – etwa gegen die Vorschriften über den gesetzlichen Biotopschutz oder den Schutz von Natura-2000Gebieten112 – aus. 108 109 110 111

Hierzu ausführlich H.-J. Koch, NVwZ 2007, 369, 370 ff. Betrifft Anlagen von Spalte 1 des Anhangs zur 4. BImSchV. Vgl. Koch (Fn. 108), 369, 379. So Marty (Fn. 7), 115; Ziekow (Fn. 7), 259, 260.

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Diese Einschränkungen gegenüber einer umfassenden altruistischen Vereinigungsklage begründet der deutsche Gesetzgeber regelmäßig damit, dass im deutschen Gerichtsverfahren eine sorgfältige und umfassende Kontrolle der Verwaltungsentscheidungen vorgenommen und damit ein hohes Schutzniveau für die Rechte des Einzelnen erreicht werde.113 Würden die Voraussetzungen der Klagebefugnis gelockert, sei eine Überlastung der Gerichte zu fürchten. Allerdings dürfte dieses Argument schon im Hinblick auf die empirisch nachweisbaren Tatsachen nicht durchgreifen. Denn von den klageberechtigten Umweltverbänden werden nur verhältnismäßig wenige Gerichtsverfahren angestrengt, die im Gegensatz zu Klagen von Einzelpersonen erheblich öfter erfolgreich enden.114 Auch wurde die naturschutzrechtliche Vereinsklage ausdrücklich eingeführt, um „den insgesamt positiven Erfahrungen mit 13 Vereinsklageregelungen der Länder Rechnung“ zu tragen.115 b) Der Vorwurf der Europarechtswidrigkeit des Umweltrechtsbehelfsgesetzes Im Schrifttum wurde mitunter vehement und lautstark vorgetragenen, das UmwRG verstoße gegen die durch die Öffentlichkeitsbeteiligungs-Richtlinie 2003/35/EG geänderte UVP-Richtlinie116: Der „historische Wille der Konventionsväter von Århus“ werde missachtet,117 die Schutznormakzessorietät schränke die Rechtsschutzmöglichkeiten der Umweltverbände unzulässigerweise ein, die Argumentation zur Befürwortung dieses Kriterium sei „spitzfindig und abenteuerlich“.118 Die Zweifel an der Europarechtskonformität des Kriteriums der Schutznormakzessorietät werden überwiegend von den Oberverwaltungsgerichten – mit sachverhaltsbedingt unterschiedlichen Nuancierungen – geteilt.119

112

Vgl. OVG NRW, ZUR 2009, 380, 381. So auch jüngst die Stellungnahme Deutschlands im Rahmen des Vorlageverfahrens vor dem EuGH in der Rechtssache Trianel Kohlekraftwerk Lünen, s. Generalanwältin E. Sharpston, Schlussanträge v. 16. Dezember 2010, C-115/09 Rz. 30 ff. 114 Vgl. BT-Drucks. 14/6378, S. 19; auch Sadeleer/Roller/Dross, Access to Justice in Environmental Matters, 2002, S. 19. 115 BT-Drucks. 14/6378, S. 27. 116 Vgl. zum Streitstand Karge (Fn. 5), S. 37 ff.; B. W. Wegner, Rechtsschutz im europäischen (Umwelt-)Recht, in: Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts (UTR) 98 (2008), 319, 338 m.w. N. in dortiger Fn. 69; W. Schrödter, NVwZ 2009, 157; Marty (Fn. 7), 115, 116 f. 117 C. Callies, in: Arbeitskreis für Umweltrecht (AKUR), Grundzüge des Umweltrechts, 7. Aufl., 2007, § 2, Rn. 112. 118 B. W. Wegner, UTR 98 (2008), 319, 341. 119 Vgl. OVG Schleswig-Holstein, ZUR 2009, 432, 435 („Port Olpenitz“); OVG NRW, ZUR 2009, 380 („Trianel Kohlekraftwerk Lünen“); s. a. zur Erweiterung der Rügemöglichkeit auf weitere Mängel im UVP-Verfahren HessVGH, ZUR 2009, 87, 88. 113

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Auch das OVG NRW teilte diese Bedenken. Die vom deutschen Gesetzgeber gewählte Umsetzungsvariante widerspreche zwar nicht dem Wortlaut der Richtlinie. Es sei aber zweifelhaft, ob die deutsche Umsetzung „auch einer funktionalen Betrachtung der Richtlinienbestimmung“ standhalte. Insoweit habe der Bundesgesetzgeber die maßgeblichen Ziele der Union und der UVP-Richtlinie verkannt und auch dem vom EuGH entwickelten „effet utile“-Prinzip nur unzureichend Rechnung getragen: „Die innerstaatliche Beschränkung des Klagerechts einer Nichtregierungsorganisation auf die Geltendmachung subjektiv-öffentlicher Rechte ist nämlich im Lichte des Gebots der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts deshalb Bedenken ausgesetzt, weil die Kontrolle des Vollzugs der Umweltvorschriften durch eine unabhängige Stelle für einen weiten Teil des Umweltrechts praktisch unmöglich ist. Nichtregierungsorganisationen können insoweit nicht als ,Anwälte der Umwelt‘ möglichen Vollzugsdefiziten entgegentreten.“ 120

Das OVG NRW beabsichtigte daher den Begriff der „Rechte Einzelner“ in § 2 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 UmwRG gemeinschaftsrechtskonform so auslegen, dass „solche hinreichend genauen und inhaltlich unbedingten Richtlinienbestimmungen erfasst werden, die dem Schutz der öffentlichen Gesundheit dienen und deren Nichtbeachtung die Gesundheit von Personen gefährden könnte.“ Um seine Rechtsauffassung bestätigen zu lassen, rief das Gericht mit Beschluss vom 5. März 2009 in der Rechtssache „Trianel Kohlekraftwerk Lünen“ den EuGH an.121 c) Nationale Verfahrensautonomie und der Verfahrensgrundsatz „weiten Zugangs zu den Gerichten“ Bereits in seinem Urteil vom 15. April 2010 in der Rechtssache „Barth“ hat der EuGH das auch vom OVG NRW hervorgehobene „effet utile“-Prinzip präzisiert: Demnach werde die mitgliedsstaatliche Verfahrensautonomie durch die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität determiniert. Der Äquivalenzgrundsatz verlange, dass bei der Anwendung von Verfahrensregeln nicht danach unterschieden werden darf, ob ein Verstoß gegen Unionsrecht oder gegen innerstaatliches Recht gerügt wird. Der Effektivitätsgrundsatz bedeute demgegenüber, dass eine Verfahrensregelung nicht dazu führen darf, dass die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird.122 Auch in 120 OVG NRW, Beschluss vom 5. März 2009 – 8 D 58/08.AK, Rn. 127; vgl. auch Gärditz, JuS 2009, 385, 391. 121 OVG NRW, Beschluss vom 5. März 2009 – 8 D 58/08.AK, Rn. 139. 122 EuGH, Urteil vom 15. April 2010, C-542/08 – Barth, Rz. 17 (noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht); auch EuGH, Urteil vom 12. Mai 2011, C-115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen, Rz. 43 (noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht); EuGH Slg. 1991, I-3757, I-3790 f. – Verholen; vgl. hierzu auch Ziekow (Fn. 4), 793.

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der Sache „Djurgården“ hat der EuGH in seinem Urteil vom 15. Oktober 2009 als unionsrechtliche Grenze der Verfahrensautonomie der Mitgliedsstaaten neben dem Effektivitätsgebot die Sicherstellung eines „weiten Zugangs zu den Gerichten“ genannt.123 Der Gerichtshof macht durch die Nennung dieses Merkmals neben der „Effektivität“ und der „Äquivalenz“ deutlich, dass es sich hierbei um einen eigenständigen Grundsatz handelt, der die Ausgestaltung und Anwendung des nationalen Verfahrensrechts leitet.124 Entscheidend sei, dass „alle unter die betreffende Richtlinie (scil.: UVP-Richtlinie) fallenden Vorgänge“ einer gerichtlichen Kontrolle zugeführt werden können – und zwar ohne eine „Filterung der umweltbezogenen Anfechtungen“.125 Eine Verletzung des Grundsatzes eines „weiten Zugangs zu den Gerichten“ sei darin zu erkennen, dass in Schweden lediglich Umweltvereinigungen mit mindestens 2.000 Mitgliedern zur Erhebung von Rechtsbehelfen berechtigt waren.126 Eine systematische Erfassung der vom EuGH geforderten Anforderungen an einen „weiten Zugang zu den Gerichten“ i. S. v. Art. 10a Abs. 3 Satz 1 UVP-Richtlinie ließ sich indes noch nicht aus dieser Rechtsprechung entnehmen. d) Das Urteil des EuGH zum deutschen UmwRG; unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 10a UVP-Richtlinie Unter Bezugnahme auf die vorstehend zusammengefassten Grundsätze urteilte der EuGH am 12. Mai 2011 in der Rechtssache „Trianel Kohlekraftwerk Lünen“ über die Vereinbarkeit des deutschen UmwRG mit dem Unionsrecht. Bereits in ihren Schlussanträgen betonte die Generalanwältin Eleanor Sharpston, dass die Klagebefugnis nichtstaatlicher Umweltorganisationen jedenfalls umfassender sein müsse, als die eines Einzelnen. Der Gerichtshof führte hierzu wörtlich aus, „[es widerspräche] zum einen dem Ziel, der betroffenen Öffentlichkeit ,einen weiten Zugang zu Gerichten‘ zu gewähren, und zum anderen dem Effiktivitätsgrundsatz, wenn die betreffenden Verbände nicht auch die Verletzung von aus dem Umweltrecht der Union hervorgegangenen Rechtsvorschriften gerichtlich geltend machen können, nur weil Letztere Interessen der Allgemeinheit schützen. [. . .] Allgemeiner folgt daraus, dass Art. 10 Abs. 3 Satz 3 [UVP-Richtlinie] in dem Sinne zu verstehen ist, dass zu den ,Rechten, die verletzt werden können‘, als deren Träger die Umweltverbände gelten, zwingend die nationalen Rechtsvorschriften, die die Rechtsvorschriften der Union im Bereich der Umwelt umsetzen, sowie die unmittelbar anwendbaren Vorschriften des Umweltrechts der Union gehören müssen.“ 127 123

EuGH, EuZW 2010, 65 – Djurgården, Rz. 45. Ziekow (Fn. 4), 793, 794. 125 EuGH, EuZW 2010, 65 – Djurgården, Rz. 44 f., 51. 126 Ziekow (Fn. 4), 793, 794. 127 EuGH, Urteil vom 12. Mai 2011, C-115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen, Rz. 46 sowie 48 (noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht). 124

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Zwar stehe es dem nationalen Gesetzgeber frei, die Rechte, deren Verletzung ein Einzelner im Rahmen eines gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung, Handlung oder Unterlassung im Sinne von Art. 10a UVP-Richtlinie geltend machen kann, auf subjektiv-öffentliche Rechte zu beschränken, doch könne eine solche Beschränkung nicht auf Umweltverbände angewandt werden, weil dadurch die Ziele des Art. 10a Abs. 3 UVP-Richtlinie missachtet würden.128 Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die strengen Zugangsvoraussetzungen für Klagen vor den deutschen Verwaltungsgerichten deshalb bestehen, um so eine sorgfältige und umfassende Prüfung zugunsten eines hohen Schutzniveaus für die Rechte Einzelner zu gewährleisten.129 Während der EuGH dieses Argument der deutschen Regierung in seiner Entscheidung noch nicht einmal würdigte, trat die Generalanwältin Eleanor Sharpston ihm mit einem sehr bildhaften Vergleich entgegen: „Ebenso wie ein Ferrari mit verschlossenen Türen hilft jedoch eine intensive Kontrolldichte in der Praxis wenig, wenn das System als solches für bestimmte Kategorien von Klagen nicht zugänglich ist.“ 130

Darüber hinaus erklärte der EuGH die Vorschrift des Art. 10a UVP-Richtlinie für unmittelbar anwendbar: Zwar lasse Art. 10a UVP-Richtlinie im Ganzen betrachtet, den Mitgliedstaaten einen beträchtlichen Spielraum sowohl hinsichtlich der Bestimmung dessen, was eine Rechtsverletzung darstellt, als auch hinsichtlich der Festlegung insbesondere der Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Rechtsbehelfen und der Stellen, bei denen diese einzulegen sind. Doch urteilte der EuGH weiter: „Entsprechendes gilt allerdings nicht für die Sätze 2 und 3 des Art. 10a Abs. 3 [UVP-Richtlinie]. Indem diese Sätze zum einen bestimmen, dass das Interesse jeder Nichtregierungsorganisation, die die in Art. 1 Abs. 2 [UVP-Richtlinie] genannten Voraussetzungen erfüllt, als ausreichend gilt, und zum anderen, dass derartige Organisationen auch als Träger von Rechten gelten, die verletzt werden können, treffen sie genaue Regelungen, die keinen weiteren Bedingungen unterliegen.“ 131

Allerdings wird allein den anerkannten Umweltvereinigungen dieser weite Zugang zu Gerichten wegen der „Verletzung von aus dem Umweltrecht der Union hervorgegangenen Rechtsvorschriften“ eröffnet. Die Verletzung allein deutschen

128 EuGH, Urteil vom 12. Mai 2011, C-115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen, Rz. 45 (noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht). 129 So Stellungnahme der deutschen Regierung im Verfahren C-115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen, vgl. Generalanwältin E. Sharpston, Schlussanträge v. 16. Dezember 2010, C-115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen, Rz. 31. 130 Generalanwältin E. Sharpston, Schlussanträge v. 16. Dezember 2010, C-115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen, Rz. 77. 131 Vgl. EuGH, Urteil vom 12. Mai 2011, C-115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen, Rz. 56 f. (noch nicht in der amtl. Slg. veröffentlicht).

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Umweltrechts kann demzufolge nicht durch Vereinigungen unter unmittelbarem Rückgriff auf Art. 10a UVP-Richtlinie zur Prüfung gestellt werden. Die Reaktionen auf dieses Urteil ließen nicht lange auf sich warten. So wurde von Kritikern fatalistisch das „Ende der Planbarkeit“132 ausgerufen. Es drohten eine Klageflut, längere Bauzeiten für neue Anlagen und weniger Planungssicherheit. Für die betreffenden Unternehmen erhöhe sich damit das Risiko, dass Großprojekte einer gerichtlichen Prüfung nicht standhalten.133 Insbesondere werde das Urteil die „Energiewende in Deutschland um Jahre verzögern“.134 Demgegenüber waren die Verlautbarungen der Umweltvereinigungen nicht minder provokant: In Deutschland und überall in Europa werde man künftig die umfassende gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit umweltrelevanter Bauvorhaben und Industrieanlagen erwirken können;135 die Chancen, „überflüssige und klimaschädliche Kohlekraftwerke“ zu verhindern, seien gestiegen.136 Schiebt man diese wortgewaltige Rhetorik beiseite, wird man rasch feststellen, dass kein Grund zur Hysterie besteht. Die bisherigen Erfahrungen sprechen dafür, dass die Vereinigungen ihre durchaus geringen Ressourcen auf diejenigen Projekte konzentrieren werden, bei denen ein gerichtliches Vorgehen tatsächlich Erfolg verspricht.137 Generalanwältin Eleanor Sharpston geht zu Recht davon aus, „dass die begrenzten Gerichtsressourcen im Ergebnis tatsächlich effizienter und kostengünstiger genutzt werden können, wenn nichtstaatliche Umweltorganisationen klagen können.“ 138

Für die Realisierung von großen Infrastruktur- und Energieprojekten bedeutet die Entscheidung ein höheres Maß sorgfältiger Projektvorbereitung. Gefordert ist ferner ein neuer Weg der Kommunikation im Vorfeld: Um Klagen gegen die Genehmigungen insbesondere von Großprojekten von vornherein zu unterbinden und die Gefahr von Zeitverzögerungen bei der Umsetzung der Projekte zu verringern, ist eine möglichst frühzeitige Einbeziehung der interessierten Umweltvereinigungen auf Augenhöhe nunmehr ein absolutes „Muss“. Ansonsten besteht die Gefahr, dass deren Bedenken – seien sie berechtigt oder nicht – erst vor Gericht 132

J. Flauger/T. Ludwig, in: Handelsblatt vom 13. Mai 2011, S. 4. Flauger/Ludwig (Fn. 132), S. 4. 134 So M. Schröers/A. Kurz/N. Fichtner/M. Gassmann, in: Finacial Times Deutschland vom 13. Mai 2011, S. 1. 135 Dazu BUND, Europäischer Gerichtshof stärkt Klagerechte von Umweltverbänden – BUND: „Herausragender Erfolg zur Stärkung der Bürgerrechte“/Chancen zur Verhinderung umweltschädlicher Kohlekraftwerke steigen, am 12. Mai 2011 auf www.bund. net abgerufen. 136 Schröers/Kurz/Fichtner/Gassmann (Fn. 134), S. 1. 137 Dazu schon zuvor III. 2. a). 138 Generalanwältin E. Sharpston, Schlussanträge v. 16. Dezember 2010, C-115/09 – Trianel Kohlekraftwerk Lünen, Rz. 79. 133

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Gehör finden. Gefordert ist also ein neuer Weg des Dialogs, der dem deutschen Verwaltungsverfahrensrecht gut zu Gesicht steht: Gesetzgeber und Verwaltungen sind aufgerufen, die Genehmigungsverfahren die Genehmigungsverfahren in dieser Hinsicht zu optimieren. So früh wie möglich sind die Umweltvereinigungen einzubeziehen. So äußerte auch der Bundesumweltminister Norbert Röttgen zum Urteil des EuGH: „Es stellt sich immer mehr heraus, dass die frühzeitige Beteiligung von Bürgern und Verbänden bei großen Infrastrukturvorhaben am Ende der Akzeptanz und damit der Realisierbarkeit dient. Das sollten wir bei der Umsetzung des Urteils berücksichtigen.“ 139

Dabei kann möglicherweise auch ein ständiger und regelmäßiger Dialog zwischen Behörden und Umweltvereinigungen ohne den Anlass konkreter Planungen und Anträge hilfreich sein. Bei konkreten Genehmigungs- und Planungsverfahren sind die Fristen zwischen den einzelnen Verfahrensterminen möglichst kurz zu halten, ohne etwaige Bedenken zugleich beiseite zuschieben. Nur ein zügiges Verfahren schafft Akzeptanz bei den Antragstellern. Gleichzeitig verlangt es von den Vereinigungen ihre Bedenken gebündelt vorzubringen. Es verhindert aber auch, dass getroffene Vereinbarungen zwischen den Beteiligten bei der Ausführung der Projekte schon „verjährt“ sind und bindet sie so an diese Vereinbarungen. IV. Ausblick Schon dieser kurze Beitrag zeigt, dass die Schutznormtheorie aus dem europäisierten deutschen Verwaltungsprozessrecht nicht hinweggedacht werden kann. Die vom Gerichtshof verfolgte „Theorie gemeinschaftsrechtlicher Schutznormen“ lässt sich durch die drei Kriterien der deutschen Schutznormtheorie – der objektiven Rechtspflicht, der Individualbezogenheit und der Normdurchsetzungsbefugnis – abbilden, ohne dass ein Bruch in der Systematik hinzunehmen wäre. Bei der Analyse und Begründung der Individualschutzintention einer Norm geht der EuGH ähnlich vor, wie dies die deutschen Verwaltungsgerichte tun. Im Einzelnen, insbesondere im Umweltrecht, ist das Gemeinschaftsrecht bei der Bewertung der „Situationsbezogenheit“ tendenziell großzügiger. Seine Ursache dürfte dies darin haben, dass hier der Gerichtshof in problematischen und umstrittenen Abgrenzungsfragen nicht die Ungereimtheiten aus langer Tradition „kleinlicher“ deutscher Rechtsprechung adaptieren musste, sondern einen eigenen, moderneren Weg beschreiten konnte. Besondere Aufmerksamkeit ist insbesondere dem Kriterium der Rechtsmacht, verstanden als personaler Schutzbereich der Gemeinschaftsrechtsnorm, zu widmen. Soweit sich diese nicht unmittelbar aus der Norm 139 Pressemitteilung Nr. 061/11 vom 12. Mai 2011, www.bmu.de, zuletzt am 07. Juni 2011 abgerufen.

Die Europäisierung der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht

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erschließen lässt und nur in abstrakter Form Gefahren für personale Rechtsgüter umschrieben werden, ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber den Kreis der Berechtigten durch einen Situationsvorbehalt beschränken will – ähnlich wie dies auch in der deutschen Rechtspraxis der Fall ist. Es liegt auf der Hand, dass dies in der Rechtsanwendung mitunter Unsicherheiten verursacht und Schwierigkeiten bereitet. Von großem Wert wäre es zweifelsohne, wenn der Gemeinschaftsgesetzgeber häufiger davon Gebrauch machen würde, den sachlichen und personalen Schutzbereich der sekundärrechtlichen Normen – gerade im Umweltrecht – explizit zu umschreiben.140 Das neue UmwRG führte die Vereinigungsklage in das deutsche Umweltrecht ein. Der Versuch des Gesetzgebers, Umweltvereinigungen lediglich denselben Zugang wie Individualklägern zuzuerkennen, muss seit dem Urteil des EuGH vom 12. Mai 2011 als gescheitert erkannt werden. Eine Umweltvereinigung ist mehr als nur die Summe ihrer individuellen Mitglieder. Sie kann nunmehr tatsächlich als außenstehender „Anwalt der Umwelt“ bezeichnet werden und hat dazu das Recht alle (unionsrechtlichen) Umweltrechte zu vertreten. Den Gerichten kommt damit neben der – wie es Klaus Stern formuliert hat – Rolle als „spezifischen Hütern der Grundrechte“ 141 auch die Rolle als spezifischer Hüter der Umwelt zu. „Ihnen ist der Schutz des gesamten Rechts im Konfliktfall anvertraut.“ 142 Sie sind berufen, die Balance zwischen Umweltrecht und der Freiheit des Einzelnen im konkreten Fall zu finden. Für die Akzeptanz der Projekte insgesamt kommt es aber auf die Neujustierung der Entscheidungsprozesse und insbesondere des – in den vergangenen Jahrzehnten ausschließlich im Sinne der Wirtschaft „beschleunigten“ – Verwaltungsverfahrens an. Der Bürger will – das haben die prominenten Fälle der jüngsten Vergangenheit, wie „Stuttgart 21“, „Eon-Datteln“, „Trianel Kohlekraftwerk Lünen“ und „CO-Pipeline Köln-Worringen/Dormagen“ gezeigt – stärker mitreden, dabei auch gehört und ernst genommen werden.

140 So auch D. Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozeßrechts, 1999, S. 58, der eine ausdrückliche Stellungnahme in den Erwägungsgründen fordert. 141 Stern (Fn. 1), Bd. III/2, S. 1143. 142 Stern (Fn. 1), Bd. III/2, S. 1189.

Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Chancengleichheit für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung Von Jörg Ennuschat I. Einleitung Zu den Kernaufgaben des freiheitlichen Staates gehört es, „ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Menschen gemäß ihren Fähigkeiten die den heutigen gesellschaftlichen Anforderungen entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet“.1 Deutschland fällt es offenbar schwer, diese Aufgabe zu erfüllen. So deuten die erschreckend hohe Zahl der Schulabbrecher, die Resultate der PISAStudien oder der augenfällige Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg darauf hin, dass es zu viele Jugendliche gibt, welche die Schullaufbahn nicht mit dem Abschluss beenden, der ihrer Begabung entspricht. Das gilt im besonderen Maße für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung. Der nachstehende Beitrag stellt Behinderungen in den Mittelpunkt, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind, dann jedoch, wenn ihre Auswirkungen zu Tage treten, von der Umwelt häufig mit verminderter intellektueller Leistungsfähigkeit assoziiert werden: Legasthenie, Dyskalkulie und Stottern. Betroffene Schülerinnen und Schüler unterscheiden sich in ihrer Intelligenz freilich nicht von der übrigen Schülerschaft. Dennoch erreichen sie in den Prüfungen vielfach schlechtere Ergebnisse, wobei für legasthene Schüler die Klausuren und für stotternde Schüler die mündlichen Prüfungen zum spezifischen Problem werden. Das Grundgesetz verbürgt allen Schülerinnen und Schülern Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) und wendet sich gegen jede Benachteiligung infolge der Behinderung (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG).2 Gleichwohl sind aus Sicht der behinderten Schüler und ihrer Eltern Missstände zu registrieren, etwa weil im konkreten Fall der Wunsch nach einer bestimmten Form des Nachteilsausgleichs nicht erfüllt 1

BVerfGE 96, 288 (303). Zum Anspruch auf Chancengleichheit – als prägenden Grundsatz des Schul- und Prüfungsrechts – s. BVerfGE, 37, 342 (352 f.); 52, 380 (388); 79, 212 (218); 84, 34 (51); Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 3 Rn. 71; Huster, in: Berliner Komm. zum GG, Stand Jan. 2011, Art. 3 Rn. 153 f.; Niehues/Fischer, Prüfungsrecht, 5. Aufl., 2010, Rn. 2, 4, 6, 130, 379, 402 f.; Ennuschat, in: Rux/ders., Die Rechte stotternder Menschen in Schule, Ausbildung und Studium, 2010, S. 98 ff.; Ennuschat, br 2008, 93 (94 f.). 2

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wird. Vor diesem Hintergrund löst die UN-Behindertenrechtskonvention bei den Betroffenen beträchtliche Hoffnungen auf Verbesserung ihrer Situation aus. Dieses „Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ wurde von Deutschland am 30.3. 2007 unterzeichnet, am 24.2.2009 ratifiziert und zum 26.3.2009 innerstaatlich in Kraft gesetzt.3 Im Folgenden soll diese Konvention – welche der Jubilar in seinem grundlegenden Beitrag über die Verfassungsaussagen zu Schule und Bildung im jüngsten Teilband des „Stern, Staatsrecht“ bereits in den Blick genommen hat4 – näher betrachtet und geprüft werden, welche Impulse zur Effektuierung der Chancengleichheit durch sie gesetzt werden. II. Vorfrage: Legasthenie, Dyskalkulie und Stottern – Behinderungen? Relevanz kann die UN-Behindertenrechtskonvention nur dann entfalten, wenn Legasthenie, Dyskalkulie und Stottern als Behinderungen einzustufen sind. Was unter einer Behinderung zu verstehen ist, wird in Art. 1 Abs. 2 BRK bestimmt: „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“

Der Begriff „Behinderung“ wird in Art. 1 Abs. 2 BRK nicht abschließend definiert, sondern dynamisch umrissen.5 Die Unterzeichnerstaaten können auf Grundlage des Mindeststandards der UN-Behindertenrechtskonvention den Behindertenschutz eigenständig ausgestalten, etwa den Kreis der betroffenen Menschen vergrößern (z. B. kurzfristige Behinderungen einbeziehen),6 nicht aber verkleinern. Das Verständnis von Behinderung i. S. d. Art. 1 Abs. 2 BRK beinhaltet zunächst eine medizinische Komponente, d.h. die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigung. Hinzu tritt eine soziale Komponente – die Hinderung an der Teilhabe an der Gesellschaft. Die UN-Behindertenrechtskonvention lenkt das Augenmerk dabei insbesondere auf die soziale Komponente.7 Dieses Verständnis findet sich bereits im deutschen Recht, vgl. § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX: „Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige 3

Gesetz vom 21.12.2008, BGBl. II S. 1419. Stern, in: ders., Staatsrecht IV/2, 2011, § 116 IX 1, S. 576. 5 Vereinte Nationen und Interparlamentarische Union, Von Ausgrenzung zu Gleichberechtigung – Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen. Ein Handbuch für Abgeordnete zu dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und seinem Fakultativprotokoll, 2007, S. 12. 6 Poscher/Rux/Langer, Von der Integration zur Inklusion, 2008, S. 21. 7 Rothfritz, Die Konvention der Vereinigten Nationen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2009, S. 174. 4

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Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.“ Der Behindertenbegriff in Art. 1 Abs. 2 BRK und in § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX besteht also aus zwei Elementen: (1) Funktionsstörung und (2) Beeinträchtigung der gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. 1. Funktionsbeeinträchtigung

Das Vorliegen des ersten Elements des Behindertenbegriffs – die nicht nur vorübergehende, auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruhende Funktionsbeeinträchtigung – kann für Legasthenie, Dyskalkulie und Stottern bejaht werden. Dies gilt zunächst für die Legasthenie, die von der Rechtsprechung aufgrund des zunehmend als gesichert zu qualifizierenden Forschungsstandes als geistige Leistungsstörung eingestuft wird.8 In der neurobiologischen Forschung bzw. der Gehirnforschung wird Legasthenie als basale Störung in der auditiven und visuellen Informationsverarbeitung9 oder als neurologische Dysfunktion im Bereich des ventralen visuell-verbalen Verarbeitungsstranges der linken Gehirnhemisphäre bezeichnet10. Legastheniker weisen Defizite in der Fähigkeit auf, lautliche Segmente der Sprache zu unterscheiden und im Gedächtnis zu speichern.11 Weitere Defizite ergeben sich in der Wahrnehmung von Wort- bzw. Buchstabeninformationen. Diese werden von Lese-Rechtschreib-Gestörten deutlich verzögert und ineffektiver wahrgenommen.12 Dabei wird ein genetischer Zusammenhang der

8 BVerwG, NVwZ-RR 1996, 446; BayLSG, Urteil vom 23.3.2006 – L 4 KR 279/04, JAmt 2006, 314; VGH BW, FEVS 47, 342 (350 f.); HessVGH, NJW 2006, 1608; OVG Nds., FEVS 27, 70 (71); OVG NRW, br 2000, 119; vgl. auch VG Darmstadt, Urteil vom 15.2.2007 – 7 E 2172/05, Urteilsabschrift S. 7 f., das in der Legasthenie eines Schülers eine dauerhafte Behinderung sieht; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 5.8.2010 – L 8 SO 143/10 B, juris Rn. 16. – Ebenso Langenfeld, RdJB 2007, 211 (214); Kaiser, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, BeckOK SGB XII, Stand Mai 2011, § 53 Rn. 7; Marwege, DVBl. 2009, 538 (538 f.). 9 Schulte-Körne, Neurobiologie und Genetik der Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie), in: ders., Legasthenie: Zum aktuellen Stand der Ursachenforschung, der diagnostischen Methoden und der Förderkonzepte, 2002, S. 14; Schulte-Körne, Lese- und Rechtschreibstörung und Sprachwahrnehmung, 2001, S. 4. 10 Wimmer/Kronbichler, Legasthenie: Neurokognitive Erklärungen auf dem Prüfstand, in: Schulte-Körne (Fn. 9), S. 90. 11 Vgl. auch die Angaben bei Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (Ludwig-Maximilian-Universität München) unter www.kjp.med. uni-muenchen.de/forschung/legasthenie/ueberblick.php. 12 Schulte-Körne, Definition der Lese-Rechtschreibstörung vs. Lese-Rechtschreibschwäche, BVL-Zeitschrift für Legasthenie und Dyskalkulie 2002, S. 59; ders. (Fn. 9), S. 2.

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Lese- und Rechtschreibstörung angenommen.13 Ansonsten verfügen die betroffenen Kinder über normale, teils sogar überdurchschnittliche intellektuelle Begabungen.14 In den letzten Jahren haben sich mehrere Gerichte mit der rechtlichen Einordnung der Dyskalkulie befasst. Dabei orientierten diese sich verbreitet an den Grundlinien der Rechtsprechung zur Legasthenie und bejahten dementsprechend ebenfalls eine geistige Leistungsstörung.15 Nach aktuellem Forschungsstand wird Dyskalkulie durch ein Defizit der basisnumerischen Verarbeitung (Numerosiät) verursacht.16 Eine genetische Komponente ist wahrscheinlich.17 Dyskalkule Kinder haben auf Grund einer neurobiologisch determinierten Störung Schwierigkeiten, die Funktion und Bedeutung von Zahlen zu erfassen;18 für sie ist eine Zahl nichts als ein leeres Wort.19 Ansonsten verfügen die betroffenen Kinder, ebenso wie die legasthenen Kinder, über normale, teils sogar überdurchschnittliche intellektuelle Begabungen.20 Bezogen auf das Stottern steht eine sichere wissenschaftliche Bestimmung der Ursachen des Stotterns, auf die sich Gerichte berufen können, noch aus.21 Ein13 Schulte-Körne (Fn. 9), S. 29; ders. (Fn. 9), S. 4; Grimm, Zeitschrift des BVL 2007, 12 (17) = Abdruck aus medizinische genetik 2006, 145 ff.; ders., Neues zur Genetik der Legasthenie, LeDy – Mitgliederzeitschrift des BVL 2/2011, 6 (9); s. a. den Hinweis des HessVGH, NJW 2006, 1608, auf ein humangenetisches Gutachten der Abteilung für medizinische Genetik im Institut Humangenetik der Universität Würzburg vom 27.12.2005: genetisch bedingte Legasthenie. 14 Sommer-Stumpenhorst, Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten vorbeugen und überwinden, 2006, S. 13. s. a. HessVGH, NJW 2006, 1608 unter Hinweis auf ein humangenetisches Gutachten der Abteilung für medizinische Genetik im Institut Humangenetik der Universität Würzburg vom 27.12.2005: Es handele sich bei der Legasthenie um eine Teilleistungsstörung im schriftlichen Bereich, die jedoch mit keinerlei Einschränkungen der intellektuellen Fähigkeiten verbunden sei. – Ebenso z. B. BVerwG, NVwZRR 1996, 446; OVG NRW, br 2000, 119; OVG Nds., FEVS 27, 70 (71); VG Regensburg, Urteil vom 14.9.1999 – RO 8 K 98.1403, juris Rn 28. 15 VG Düsseldorf, ZfJ 2001, 196 (201) = NWVBl. 2001, 362; gleichfalls für Parallelität etwa VG Regensburg, Beschluss vom 8.9.2006 – RN 1 E 06.1610, S. 8 der Beschlussabschrift; VG Regensburg, Urteil vom 14.9.1999 – RO 8 K 98.1403, juris Rn. 28; VG Sigmaringen, Urteil vom 28.1.2003 – 9 K 1632/01, juris Rn. 22; SächsOVG, Beschluss vom 20.8.2009 – 1 B 432/09, juris Rn. 5, und FEVS 2010, 430 (431); ThürOVG, LKV 2010, 427 (428); offen lassend BayVGH, Beschluss vom 20.12.2006 – 7 CE 06.2754, unter Hinweis auf den im Vergleich zur Legasthenie weniger intensiv abgesicherten Forschungsstand. 16 Kaufmann/Nuerk, Zeitschrift des BVL 2006, 11 (12). – s. umfassend zum aktuellen Forschungsstand zur Dyskalkulie Landerl/Kaufmann, Dyskalkulie. Modelle, Diagnostik, Intervention, 2008; Butterworth/Varma/Laurillard, Dyscalculia: From Brain to Education, Science 332 (2011), 1049 ff. 17 Butterworth/Varma/Laurillard (Fn. 16), 1049; Kaulen, Zahlen – nichts als leere Worte, FAZ Nr. 137 vom 15.6.2011, S. N 1. 18 Landerl/Fussenegger, Mitgliederzeitschrift des BVL 2007, 5 (8 f.). 19 Kaulen (Fn. 17), S. N 1. 20 Butterworth/Varma/Laurillard (Fn. 16), 1049; s. ferner die Nachweise in Fn. 14.

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zelne Untersuchungen deuten darauf hin, dass 70 bis 80 Prozent der Wahrscheinlichkeit, ob ein Kind zu stottern beginnt, genetisch bedingt ist.22 Neurologische Untersuchungen ergaben auffällige oder sogar abnorme Hirnaktivitäten, die immerhin therapeutisch beeinflusst werden können.23 Weiter haben Studien zu stotternden Schulkindern gezeigt, dass Stottern, wie auch Legasthenie und Dyskalkulie, nicht mit einer Intelligenzminderung einhergeht. Vielmehr lagen die Werte überwiegend im Normbereich.24 Dieser skizzierte Forschungsstand weist auf eine Funktionsabweichung hin, die als neurophysiologische Basisstörung umschrieben werden kann. Gerade mit Blick auf die Funktionsbeeinträchtigung – der ersten Komponente des Behindertenbegriffs – lehnen sich Gerichte häufig an diese medizinischen Beschreibungen an.25 Dementsprechend wurde wiederholt anerkannt, dass es sich beim Stottern um eine körperliche Funktionsbeeinträchtigung handelt.26 2. Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft

Das zweite Element des Behindertenbegriffs – die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft – ist mit Blick auf Legasthenie, Dyskalkulie und Stottern ebenfalls erfüllt. Bezogen auf die Legasthenie weist die Rechtsprechung darauf hin, dass die gesellschaftliche Teilhabe Lesen und Schreiben als selbstverständliche Kommunikationsform voraussetzt.27 Dem Sprechen kommt ebenfalls eine herausragende Bedeutung für die Kommunikation innerhalb der Gesellschaft zu, sodass im Falle des Stotterns die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt werden kann.28 Dieser Effekt wird noch verstärkt durch 21

s. hierzu Ennuschat (Fn. 2), S. 74 ff. Natke, Stottern – Erkenntnisse, Theorien, Behandlungsmethoden, 2. Aufl., Bern 2005, S. 4. 23 Neumann, Stottern im Gehirn: neue Erkenntnisse aus Humangenetik und Neurowissenschaften, Forum Logopädie, Heft 2/2007, 6 (12). 24 s. Bosshardt, Stottern, Göttingen 2008, S. 2; Natke (Fn. 22), S. 55. 25 Vgl. etwa HessVGH FEVS 41, 358: „tonisch-klonische Balbuties“; LSG BW, Beschluss vom 8.7.2008 – L 2 SO 1990/08 ER-B, juris Rn. 12: „phonetisch-phonologische Störung“; VG Augsburg, Urteil vom 2.10.2007 – Au 3 K 06.1331, juris Rn. 2, 4: „mittelschweres tonisch-klonisches Stottern“; VG Dresden, Beschluss vom 10.8.2005 – 5 K 1469/05, juris Rn. 2: „klonisch-tonisches Stottern“. 26 VG Aachen, Urteil vom 17.2.2003 – 9 K 2680/00, juris Rn. 54 f.; VG Dresden, Urteil vom 17.1.2003 – 10 D 111/02, juris Rn. 6; ArbG Frankfurt, br 2004, 199 f. 27 HessVGH, NJW 2006, 1608; BayLSG, Urteil vom 23.3.2006 – L 4 KR 279/04, juris Rn. 22; im Ergebnis ebenso OVG NRW, Beschluss vom 28.2.2007 – 12 A 1472/ 05, juris Rn. 8. 28 LSG BW, FEVS 92 (94); Rux, in: ders./Ennuschat, Die Rechte stotternder Menschen in Schule, Ausbildung und Studium, 2010, S. 14 f.; Ennuschat (Fn. 2), S. 77 f.; so auch die Bundesvereinigung Stotter-Selbsthilfe e. V., FAQ-Broschüre über Stottern, 4. Aufl., 2008, S. 3 (= www.bvss.de/images/stories/download/BVSS_Broschuere_FAQ _Stottern.pdf). 22

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Strategien zur Vermeidung mündlicher Kommunikation, welche stotternde Menschen entwickeln.29 Anders gelagert ist die Situation bei der Dyskalkulie, da dort nicht die Kommunikation als Grundlage der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft betroffen ist. Dyskalkule Personen können jedoch häufig schlichte Alltagsdinge nicht bewältigen, etwa Zeit- oder Temperaturangaben nicht einordnen oder kein Wechselgeld zählen.30 Hinzu kommt, dass die Berufswelt – ein zentraler Bestandteil unserer Gesellschaft – vielfach solide mathematische Grundkenntnisse verlangt, was dyskalkulen Menschen die Eingliederung in das Arbeitsleben erschwert.31 Vieles spricht daher dafür, Personen mit Dyskalkulie in gleicher Weise zu behandeln wie solche mit Legasthenie.32 Dementsprechend gibt es inzwischen einige Gerichtsentscheidungen, die auch für die Dyskalkulie dieses Merkmal des Behindertenbegriffs bejahen.33 3. Seelische Behinderung als drohende Folge von Legasthenie, Dsykalkulie und Stottern

Legasthenie und Dyskalkulie können daher als geistige Behinderungen und das Stottern als körperliche Behinderung eingestuft werden. Darüber hinaus kann eine Legasthenie eine seelische Behinderung verursachen,34 wenngleich sie als solche keine seelische Störung ist.35 Anschaulich hat dies das OVG NRW formuliert:36 „Bei einer schweren LRS [= Lese-Rechtschreib-Schwäche] . . . ist der drohende Eintritt seelischer Verletzungen und hierauf beruhender sozialer Funktionsstörungen zumindest nahe liegend.“

Dasselbe droht bei Dyskalkulie37 und Stottern.38 Gerade stotternde Menschen sind aufgrund ihrer augenscheinlichen Handikaps und den damit verbundenen 29

Ausführlich dazu Natke (Fn. 22), S. 17 ff. Kaulen (Fn. 17), S. N 1. 31 VG Düsseldorf, ZfJ 2001, 196 (200); Butterworth/Varma/Laurillard (Fn. 16), 1049 (1053). 32 Vgl. dazu VG Düsseldorf, ZfJ 2001, 196; ebenso z. B. VG Regensburg, Beschluss vom 8.9.2006 – RN 1 E 06.1610, S. 8 der Beschlussabschrift; VG Sigmaringen, Urteil vom 28.1.2003 – 9 K 1632/01, LNRL 2003, 30081; anders zum schulischem Nachteilsausgleich aber ThürOVG, LKV 2010, 427 (430). 33 Zuletzt ThürOVG, LKV 2010, 427 (429). 34 VGH BW, FEVS 47, 342 (346); HessVGH, NVwZ-RR 2010, 767 (769); OVG NRW, br 2000, 119; VG Darmstadt, Urteil vom 27.8.2007 – 3 E 1022/07, juris Rn. 17; VG Hannover, Beschluss vom 13.12.2010 – 6 B 5596/10, juris Rn. 21; VG Sigmaringen, Urteil vom 28.1.2003 – 9 K 1632/01, juris Rn. 22; a. A. aber VG Schleswig, NJOZ 2010, 133 (136). 35 BayVGH, Beschluss vom 3.2.2011 – 12 ZB 09.1918, juris Rn. 11; OVG RP, NJW 2007, 1993; VG Ansbach, Urteil vom 14.12.2007 – AN 14 K 06.03624, juris Rn. 31; VG Darmstadt, Urteil vom 27.8.2007 – 3 E 1022/07, juris Rn. 17; VG Sigmaringen, Urteil vom 28.1.2003 – 9 K 1632/01, juris Rn. 22. 36 OVG NRW, 28.2.2007 – 12 A 1472/05, juris Ls. 1 und Rn. 14. 30

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Einschränkungen häufig von psychischen Problemen betroffen.39 Ähnliches gilt für die Dyskalkulie, weil selbst einfache Alltagsdinge – wie etwa das Ablesen der Uhr – zu großen Problemen führen können. III. Inhalte der UN-Behindertenrechtskonvention Die UN-Behindertenrechtskonvention will weder neue noch besondere Rechte für behinderte Menschen schaffen.40 Ihr zentrales Anliegen ist es, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern“ (Art. 1 Abs. 1). Im Kern geht es damit um die Anerkennung und Sicherstellung der gleichen Ausübung sämtlicher Menschenrechte für alle Menschen mit Behinderungen durch die Vertragsstaaten sowie die innerstaatliche Garantie dieser Rechte.41 Anstatt einer am Fürsorgeprinzip und medizinischer Versorgung ausgerichteten Behindertenpolitik soll sich diese künftig an Menschenrechten und dem Prinzip der gleichwertigen Partizipation orientieren.42 Kurz: Es geht nicht um Fürsorge, sondern um Freiheit. 1. Überblick über die Regelungen der UN-Behindertenrechtskonvention

Die ersten neun Artikel der UN-Behindertenrechtskonvention enthalten generelle Aussagen und können als Allgemeiner Teil der BRK bezeichnet werden.43 Neben dem Zweck der Konvention (Art. 1 BRK) werden hier Begriffsbestimmungen (Art. 2 BRK), allgemeine Prinzipien (Art. 3 BRK) und Verpflichtungen (Art. 4 BRK) sowie Bestimmungen zu Gleichberechtigung (Art. 5 BRK), Frauen (Art. 6 BRK) und Kindern (Art. 7 BRK) mit Behinderungen angeführt und mit Verpflichtungserklärungen zur Förderung des öffentlichen Bewusstseins über Behinderung (Art. 8 BRK) und Barrierefreiheit (Art. 9 BRK) ergänzt. Die Art. 10 bis 30 BRK enthalten die einzelnen Menschenrechte, die Art. 31 bis 40 BRK 37 OVG NRW, NVwZ-RR 2003, 864 (866); VG Düsseldorf, ZfJ 2001, 196 (198); VG Regensburg, Urteil vom 14.9.1999 – RO 8 K 98.1403, juris Rn. 27, 42, und Beschluss vom 8.9.2006 – RN 1 E 06.1610, S. 8 der Beschlussabschrift; VG Sigmaringen, Urteil vom 28.1.2003 – 9 K 1632/01, juris Rn. 22; s. a. VG Göttingen, Urteil vom 6.2.2007 – 2 A 508/05, BeckRS 2007 21679. 38 VG Augsburg, Urteil vom 2.10.2007 – Au 3 K 06.1331, juris Rn. 36; VG Stuttgart, Beschluss vom 23.5.2005 – 10 K 4604/04, juris Rn. 24. 39 SächsLSG, Urteil vom 24.7.2003 – L 2 U 123/99, juris Rn. 59; Rux (Fn. 28), S. 14 f.; Ennuschat (Fn. 2), S. 78, 80; Benecken/Spindler, Forum Logopädie, Heft 6/ 2002, 6. 40 Krajewski, JZ 2010, 120 (121). 41 Poscher/Rux/Langer (Fn. 6), S. 11. 42 Faber/Roth, DVBl. 2010, 1193 (1194). 43 Degener, RdJB 2009, 200 (203).

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Bestimmungen zur Umsetzung und zum Monitoring der Konvention. Das Abkommen schließt mit weiteren Regelungen, etwa zur Ratifizierung oder zum InKraft-Treten (Art. 41 bis 50 BRK). 2. Schulbezogene Regelungen

Für das Schulwesen zunächst relevant sind die allgemeinen Bestimmungen der Konvention wie die Nichtdiskriminierung und die Chancengleichheit (Art. 3 lit. b, e BRK). Die Vertragsstaaten treffen alle erforderlichen Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen können (Art. 7 Abs. 1 BRK). Eine Diskriminierung liegt schon vor, wenn angemessene Vorkehrungen versagt werden, die notwendig sind, dass Menschen mit Behinderungen ihre Grundfreiheiten genießen und ausüben können (Art. 2 BRK). Diesem Begriff von Diskriminierung liegt die Erkenntnis zugrunde, dass behinderte Menschen oft gleichermaßen qualifiziert sind wie Nichtbehinderte, eine Tätigkeit auszuüben, wenn nur die Bedingungen der Tätigkeit und ihr Umfeld an die individuelle Beeinträchtigung der behinderten Person angepasst werden.44 Dieses weite Verständnis von Diskriminierung, das auch die Verweigerung zumutbarer Vorkehrungen bzw. Anpassungen erfasst, hat eine Wurzel im US-amerikanischen Schulrecht.45 Daher überrascht es nicht, dass die UN-Behindertenrechtskonvention dem Bildungsbereich besondere Aufmerksamkeit widmet. So anerkennen deren Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung, das „ohne Diskriminierung auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen“ ist (Art. 24 Abs. 1 BRK). Ziel ist die Beschulung von Kindern mit Behinderungen an den allgemeinen Schulen (Art. 24 Abs. 2 lit. a BRK). Der Regelung liegt der Gedanke der Inklusion zugrunde, deren Verwirklichung ein zentrales Ziel der Konvention ist.46 Inklusive Beschulung bedeutet, alle Schüler ungeachtet ihrer individuellen Unterschiede gemeinsam und ggf. lernzieldifferenziert zu unterrichten.47 Die Konvention geht hierbei von einem gewandelten Begriffsverständnis von Behinderung aus und erkennt es als primär soziales Phänomen: Man ist nicht behindert, man wird behindert.48 Mit der Inklusion ist ein Paradigmenwechsel49 verbunden: Bislang müssen – mit gewisser Vergröberung formuliert – Schüler mit Behinderungen den Anfor44

Degener (Fn. 43), 200 (205). So Degener (Fn. 43), 200 (206) m.w. N. 46 Faber/Roth (Fn. 42), 1193 (1196). 47 Vgl. Poscher/Rux/Langer (Fn. 6), S. 24 f. 48 Vgl. Rux, RdJB 2009, 220 (226). 49 So u. a. Krajewski (Fn. 40), 120 (121); Faber/Roth, DVBl. 2010, 1193 (1197); Schröder/Schütz, br 2011, 53 (53). 45

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derungen der allgemeinen Schule genügen; vermögen sie das nicht, müssen sie zur Sonder- bzw. Förderschule. Nunmehr soll sich die Regelschule den Anforderungen behinderter Schüler öffnen. Inklusion ist somit eine Absage an eine Segregation durch statisches Nebeneinander zweier Schulsysteme.50 Mit dem Gedanken der Inklusion ist auch ein Perspektivenwechsel für legasthene, dyskalkule oder stotternde Schüler verbunden, die schon jetzt zumeist die Regelschulen besuchen: Zur Verwirklichung der Inklusion sollen „angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden“ (Art. 24 Abs. 2 lit. c BRK). Schülern mit Behinderung soll „innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet [werden], um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern“ (Art. 24 Abs. 2 lit. d BRK). Eine Konsequenz könnte sein: Die Schule hat sich z. B. bei der Leistungsfeststellung an die Schüler anzupassen und nötigenfalls Nachteilsausgleich, etwa in Form von Schreibzeitverlängerungen, Hilfsmittelverwendung oder Modifikationen der Prüfungsanforderungen, zu gewähren.51 Die Zielvorstellungen einer inklusiven Bildung gelten im Übrigen für den gesamten Bildungsbereich, also auch für die Berufsausbildung und Hochschulbildung sowie das lebenslange Lernen (Art. 24 Abs. 1 BRK).52 IV. Umsetzung in den Ländern Vertragspartner der UN-Behindertenrechtskonvention ist die Bundesrepublik. Für das Schulwesen ist aber nicht der Bund, sondern sind die Länder zuständig. Wie haben also die Länder auf die UN-Behindertenrechtskonvention reagiert? Zunächst haben die Länder die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention vielleicht ein wenig unterschätzt. Manche gingen davon aus, dass im Schulbereich die Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention schon längst erfüllt seien.53 Mittlerweile gibt es eine intensivere Auseinandersetzung mit der UN-Behindertenrechtskonvention. So will die Kultusministerkonferenz 2011 eine Strategie zum gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern beschließen.54 Darüber hinaus gibt es in einzelnen Ländern neue Entwicklungen, von denen zwei kurz geschildert seien.

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Faber/Roth (Fn. 42), 1193 (1197). Rux (Fn. 48), 220 (226). 52 s. hierzu auch die amtliche Begründung des Zustimmungsgesetzes, BT-Drs. 16/ 10808, S. 57. 53 s. einen Hinweis in der Stellungnahme der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention vom 31. März 2011, S. 4 Fn. 10. 54 FAZ Nr. 31 vom 7.2.2011, S. 4. s. dazu die Stellungnahme der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention vom 31. März 2011, S. 6. 51

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Am 8.6.2011 wurde vom hessischen Landtag ein Gesetz zur Änderung des Hessischen Schulgesetzes beschlossen.55 Mit der von der Landesregierung angestoßenen Novelle sollen u. a. Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention umgesetzt werden. Die inklusive Beschulung, d.h. die gemeinsame Unterrichtung aller Kinder mit oder ohne Behinderung (vgl. § 51 Abs. 1 HSchG), stellt danach in Hessen künftig die Regelform dar. Ausgangspunkt ist die Anmeldung aller schulpflichtigen Kinder zunächst in der allgemeinen Schule (§ 54 Abs. 1 S. 1 HSchG), die mit Mitteln für zusätzliche Förderangebote ausgestattet werden soll. Die sonderpädagogischen Beratungs- und Förderzentren stellen den allgemeinen Schulen Förderlehrkräfte zur Verfügung, um den gemeinsamen Unterricht von einer individuellen Lehrerzuweisung durch das Staatliche Schulamt unabhängig zu machen (vgl. § 53 Abs. 2 HSchG).56 Für den Ausnahmefall, dass ein Kind nicht an der zuständigen allgemeinen Schule beschult werden kann, sieht das Gesetz die Möglichkeit vor, es einer Förderschule zuzuweisen, wenn dies nach Würdigung der besonderen Umstände des Einzelfalls als notwendig erscheint (§ 54 Abs. 4 HSchG). Daneben bleibt die Möglichkeit bestehen, auf Antrag in einer Förderschule beschult zu werden (§ 54 Abs. 1 HSchG). Klargestellt sei, dass die UN-Behindertenrechtskonvention diesen Weg, der in vielen Fällen den Bedürfnissen des Kindes besonders gut Rechnung trägt, nicht verwehrt. Während die hessische Gesetzesnovelle keine ausdrücklichen Aussagen zum Nachteilsausgleich enthält, wird diese Problematik in Rheinland-Pfalz in den Blick genommen. Dort wurde am 16.3.2010 ein Aktionsplan von der Landesregierung vorgelegt.57 Die Landesregierung Rheinland-Pfalz will die Ziele der UN-Behindertenrechtskonvention mit Hilfe dieses Plans schrittweise erreichen (S. 5). Der Aktionsplan benennt zehn Handlungs- bzw. Politikfelder und dabei an erster Stelle den Bereich Erziehung und Bildung. Die zu ergreifenden Maßnahmen reichen von der barrierefreien Neu- und Umgestaltung von Schulen (S. 11) und der Einführung des zielgleichen wohnortnahen Unterrichts (S. 12) bis zur Einführung von Nachteilsausgleichen („Umsetzungshilfen für die angemessene Berücksichtigung der Auswirkung einer Behinderung bei der Gestaltung des Unterrichts und bei der Leistungsbeurteilung und -messung“, S. 13) und der Verankerung von Inklusion in der Lehrkräfteausbildung (S. 23). Es soll eine Praxisanleitung mit Verfahrensregelungen und Beispielen erarbeitet werden, die sich in der Praxis bewährt haben.

55 Gesetz zur Änderung des Hessischen Schulgesetzes und des Hessischen Personalvertretungsgesetzes vom 10.6.2011, GVBl. S. 267; s. zur Begründung LT-Drs. 18/4144, 18/3635. 56 Zu dieser Maßnahme in NRW s. Faber/Roth (Fn. 42), 1193 (1202). 57 Wiedergegeben in: http://msagd.rlp.de/fileadmin/landesbehindertenbeauftragter/ Aktionsplan_Behinderung_SS_10.pdf.

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V. Erste Rezeption der UN-Behindertenrechtskonvention in der Rechtsprechung Erkennbar ist damit, dass die UN-Behindertenrechtskonvention rechtspolitische Impulse setzt. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob sie auch im Einzelfall hilft, also dem Einzelnen Rechte verschafft, die er vor Gericht durchsetzen kann. Mit dieser Frage haben sich bereits einige deutsche Gerichte befasst.58 Ihre Antwort mahnt zur Zurückhaltung gegenüber allzu großen Hoffnungen. 1. Keine innerstaatliche Geltung auf Ebene des Landes(schul)rechts

Zunächst verneinen mehrere Gerichte die Geltung der UN-Behindertenrechtskonvention auf Ebene des Landesrechts. Durch Unterzeichnung des Abkommens und Abschluss des Ratifikationsverfahrens hat die Konvention für die Bundesrepublik zwar völkerrechtliche Verbindlichkeit erlangt. Das betrifft das Außenverhältnis der Bundesrepublik gegenüber den anderen Vertragspartnern, d.h. gegenüber den anderen Unterzeichnerstaaten. Hiervon zu unterscheiden ist jedoch, ob die UN-Behindertenrechtskonvention auch innerstaatliche Rechtspflichten auslöst. Denn das Zustimmungsgesetz des Bundes verschafft dem völkerrechtlichen Vertrag nur innerstaatliche Geltung, soweit die Bundesgesetzgebungskompetenz für die inhaltlichen Regelungen reicht.59 Die schulbezogenen Regelungen der UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere die Zielvorgaben des Art. 24 BRK, fallen aber in den Bereich der Landesgesetzgebung und müssen daher durch Landesgesetz in innerstaatliches (Schul-)Recht transformiert werden. Solange dieses Landesgesetz fehlt, mangelt es zugleich an einer innerstaatlichen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.60 2. Keine unmittelbare Verschaffung individueller Rechte hinsichtlich konkreter Maßnahmen zugunsten von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung

Selbst wenn ein völkerrechtlicher Vertrag in das innerstaatliche Recht transformiert worden ist, bedeutet dies noch nicht, dass daraus unmittelbare Rechte oder Pflichten Einzelner folgen. Individuelle Rechte können dem völkerrechtlichen 58 s. näher insb. BVerwG, Beschluss vom 18.1.2010 – 6 B 52/09; HessVGH, NVwZRR 2010, 602 ff. (krit. hierzu Riedel/Arend, NVwZ 2010, 1346); OVG Nds., Beschluss vom 16.9.2010 – 2 ME 278/10; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 21.4.2010 – 4 K 3823/ 08; VG Saarland, Urteil vom 13.1.2011 – 3 K 376/10. 59 Allgemein dazu Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 5. Aufl., 2010, § 29 (S. 107 ff.). 60 So HessVGH, NVwZ-RR 2010, 602 (603); OVG Nds., Beschluss vom 16.9.2010 – 2 ME 278/10, juris Rn. 13; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 21.4.2010 – 4 K 3823/08, juris Rn. 67; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 18.1.2010 – 6 B 52/09, juris Rn. 4.

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Vertrag vielmehr nur dann entnommen werden, wenn die einzelne Bestimmung erstens nach ihrem Wortlaut, Zweck und Inhalt darauf gerichtet ist, solche Rechte zu verschaffen, und zweitens hinreichend bestimmt ist, dass sie aus sich heraus und ohne weitere Rechtsakte anwendbar ist (self executing).61 Einige Gerichte führen insoweit aus, dass die Vorschriften des Art. 24 BRK als bloße Zielvorstellungen zu allgemein gehalten seien. Es fehlten insbesondere Vorgaben zu konkreten Maßnahmen. Deshalb könne der Einzelne, wenn er konkrete Maßnahmen verlange, sich nicht unmittelbar auf die UN-Behindertenrechtskonvention berufen.62 In der Literatur ist diese Rechtsprechung teils auf Kritik gestoßen.63 Teils werden sogar subjektive Rechtsansprüche von Schülern direkt aus der UN-Behindertenrechtskonvention abgeleitet: 64 Die UN-Behindertenrechtskonvention ziele darauf, dem behinderten Menschen Rechte einzuräumen – gerade auch innerhalb der Schule und bei Prüfungen. Deshalb sei der individualrechtliche Anspruch auf angemessene Vorkehrungen im Schulrecht anzuwenden.65 Es handele sich dabei keineswegs nur um unverbindliche Programmsätze oder objektive – und damit innerhalb des deutschen Rechtsschutzsystems nicht einklagbare – Verpflichtungen der Unterzeichnerstaaten, sondern um subjektive Rechtsansprüche der Betroffenen, die diese gegebenenfalls auf dem Rechtsweg durchsetzen können.66 International habe sich die Ansicht durchgesetzt, dass wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte völkerrechtlicher Verträge wie Art. 24 BRK nicht auf programmatische Orientierungssätze zu reduzieren seien. Ihnen könne man im Gegenteil einen subjektiv-rechtlichen bzw. unmittelbar justiziablen Inhalt grundsätzlich nicht mehr absprechen.67 Die dieser Literaturansicht zugrunde liegende Annahme, Art. 24 BRK habe self executing-Charakter, begegnet freilich erheblichen Bedenken. Vielmehr ist der Rechtsprechung beizupflichten. Die (u. a.) maßgebliche englische Fassung des Art. 24 BRK genügt den Anforderungen an eine unmittelbare Anwendbarkeit nicht, da die gewählten Begrifflichkeiten wie „recognize“ (Art. 24 Abs. 1

61 BVerfGE 29, 348 (360); Geiger (Fn. 59), § 34 I 1 (S. 141); vgl. ferner Kunig, in: Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., 2010, Rn. 41; Schweitzer, Staatsrecht III, 10. Aufl., 2010, Rn. 438 ff. 62 So HessVGH, NVwZ-RR 2010, 602 (604); OVG Nds., Beschluss vom 16.9.2010 – 2 ME 278/10, juris Rn. 14, VG Saarland, Urteil vom 13.1.2011 – 3 K 376/10, juris Rn. 23. 63 Riedel/Arend (Fn. 58), 1346; Stellungnahme der Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention vom 11. August 2010, S. 10 ff. 64 Rux (Fn. 48), 220. 65 Degener (Fn. 43), 200 (218). 66 Rux (Fn. 48), 220. 67 Riedel/Arend (Fn. 58), 1346 (1347); Degener (Fn. 43), 200 (217).

Die UN-Behindertenrechtskonvention und die Chancengleichheit

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S. 1 BRK: „anerkennen“), „shall ensure“ (Art. 24 Abs. 1 S. 2 BRK: „gewährleisten“; Art. 24 Abs. 2 und 5 BRK: „stellen sicher“), „shall enable“ (Art. 24 Abs. 3 BRK: „ermöglichen“) und „appropriate measures“ (Art. 24 Abs. 3 BRK: „geeignete Maßnahmen“) mangels hinreichender Bestimmtheit keine konkreten Verpflichtungen, sondern lediglich politische Zielvereinbarungen darstellen.68 Der programmatische Charakter ergibt sich nicht zuletzt durch die Zusammenschau mit Art. 4 Abs. 2 BRK, der die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte unter den Vorbehalt der verfügbaren Mittel der Vertragsstaaten stellt. Da den Staaten hinsichtlich der Zielerreichung hierdurch ein weites Ermessen bezüglich der Wahl der Mittel verbleibt, kann der self executing-Charakter kaum überzeugend dargelegt werden, sodass eine unmittelbare Anwendung ausscheidet.69 VI. Impulse der UN-Behindertenrechtskonvention zur Effektuierung der Chancengleichheit für legasthene, dyskalkule und stotternde Schülerinnen und Schüler Fragt man resümierend nach den Impulsen der UN-Behindertenrechtskonvention zur Effektuierung der Chancengleichheit für legasthene, dyskalkule oder stotternde Schülerinnen und Schüler, ist zunächst festzuhalten, dass sie den Betroffenen keine unmittelbaren und gerichtlich durchsetzbaren Ansprüche verschafft. Dennoch kommt ihr beträchtliche Bedeutung zu. 1. Verwirklichung von Menschenrechten und von Freiheit

Die UN-Behindertenrechtskonvention stellt klar, dass es um die Verwirklichung der Menschenrechte und um Freiheit geht – nicht um staatliche Wohltaten. So heißt es in Art. 4 Abs. 1 BRK: „Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern.“

Für Schüler mit Behinderungen bedeutet dies die Schaffung einer Unterrichtssituation, in der sich ihr Bildungspotential möglichst gut entfalten kann.70

68 HessVGH, NVwZ-RR 2010, 602 (604); OVG Nds., Beschluss vom 16.9.2010 – 2 ME 278/10, juris Rn. 14. 69 Vgl. Geiger (Fn. 59), § 34 I 1 (S. 141); Herdegen, Völkerrecht, 10. Aufl., 2011, § 22 Rn. 5; Krajewski (Fn. 40), 120 (123 f.). – Ebenso zur ähnlich lautenden Formulierung in Art. 2 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (sog. UN-Sozialpakt) VGH BW, Urteil vom 16.2.2009 – 2 S 1855/07, juris Rn. 43; OVG NRW, DVBl. 2007, 1442. 70 Vgl. Poscher/Rux/Langer (Fn. 6), S. 25.

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Jörg Ennuschat 2. Hervorhebung der Notwendigkeit einer Infrastruktur zur Herstellung und Wahrung von Chancengleichheit

Von besonderer Bedeutung ist der Gedanke der Inklusion, der in Deutschland zu einem Paradigmenwechsel führen kann. Nicht die Schüler mit Behinderung sollen sich länger an ihre Schule anpassen müssen, sondern die Schule soll künftig die Anpassungsleistung an die Lebensumstände ihrer Schüler erbringen. Die Konvention hebt hervor, dass die Staaten aktive Vorkehrungen treffen, quasi eine Infrastruktur schaffen müssen, welche Chancengleichheit herstellt und wahrt (vgl. Art. 4 Abs. 1 BRK). Im Schulbereich betrifft dies nicht nur die Frage des Verhältnisses zwischen Regel- und Förderschule,71 sondern auch die Leistungsfeststellung bei behinderten Schülern in der Regelschule. Nötig ist eine Infrastruktur in Form qualifizierter schulischer Förderung unter Einschluss von Vorkehrungen für einen angemessenen Nachteilsausgleich.72 3. Sensibilisierung und Schulung des Lehrpersonals

Im Schulalltag müssen legasthene, dyskalkule und stotternde Schüler und ihre Eltern zu oft erfahren, dass Lehrer und Schule unsicher sind, wie sie auf die besonderen Bedürfnisse dieser Schüler eingehen können und müssen. Hinzuweisen ist daher auf eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, die Mitarbeiter im Bildungswesen für die Belange von Menschen mit Behinderungen zu sensibilisieren und sie so zu schulen, dass sie diese Menschen unterstützen können. In diesem Sinne bestimmt der auf die Bildung bezogene Art. 24 Abs. 4 BRK: „Um zur Verwirklichung dieses Rechts [auf Bildung ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit] beizutragen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen . . . zur Schulung von Fachkräften sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf allen Ebenen des Bildungswesens. Diese Schulung schließt die Schärfung des Bewusstseins für Behinderungen . . . sowie pädagogische Verfahren und Materialien zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen ein.“ 4. Auslegung und Anwendung der deutschen Vorschriften zum Nachteilsausgleich im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist zwar nicht unmittelbar anwendbar, aber doch von Bedeutung für Auslegung und Anwendung der deutschen Vorschriften zum Nachteilsausgleich. Im Zentrum steht insoweit der schul- und prüfungsrechtliche Grundsatz auf Chancengleichheit, der sich auf Art. 3 Abs. 1 GG 71 Zur Notwendigkeit der systemischen Veränderung der Schulorganisation näher Poscher/Rux/Langer (Fn. 6), S. 25; Faber/Roth (Fn. 42), 1193 (1196 ff.). 72 Dazu Rux/Ennuschat, Die Rechte stotternder Menschen in Schule, Ausbildung und Studium, 2010, S. 102 ff.

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stützt. Hinzu treten Regelungen zum Nachteilsausgleich in Gesetzen, Verordnungen oder auch nur in Verwaltungsvorschriften.73 Im deutschen Recht gilt der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung.74 Deshalb erfolgen Auslegung und Anwendung des gesamten deutschen Rechts – einschließlich des Grundgesetzes – fortan im Lichte der UN-Behindertenrechtskonvention. Relevanz hat dies insbesondere für das Verständnis des „Vorbehalts des Möglichen“, welcher von schulischer Seite bisweilen angeführt wird, um eine bestimmte Form des Nachteilsausgleichs abzulehnen. VII. Fazit Legasthenie, Dyskalkulie und Stottern sind – jedenfalls bei Überschreiten gewisser Erheblichkeitsschwellen – Behinderungen, welche der UN-Behindertenrechtskonvention unterfallen. Diese entfaltet für den Schulbereich zwar keine unmittelbaren Wirkungen, beeinflusst aber Auslegung und Anwendung der deutschen Vorschriften z. B. zum Nachteilsausgleich. Bedeutsam sind vor allem zwei Impulse der UN-Behindertenrechtskonvention: (1) Nicht der behinderte Schüler muss sich der Schule, sondern die Schule hat sich ihrem behinderten Schüler anzupassen; diese darf sich nicht vorschnell auf den Vorbehalt des Möglichen berufen. (2) Nachteilsausgleiche und andere Anpassungen der Schule an die spezifischen Bedürfnisse behinderter Schüler sind keine Akte staatlicher Fürsorge, sondern die Ermöglichung von Freiheit und Gleichheit. Werden sich die Hoffnungen der Betroffenen in die UN-Behindertenrechtskonvention erfüllen? Klaus Stern hat 1995 anlässlich der kurz vorher vom verfassungsändernden Gesetzgeber beschlossenen Aufnahme des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG in das Grundgesetz vor Enttäuschungen gewarnt und gefordert, dass sich derartige Verfassungsaussagen „in der Gesetzgebung und in der Alltagspraxis niederschlagen“ müssen.75 Dasselbe gilt heute für die UN-Behindertenrechtskonvention.

73 Zu den Vorschriften mit Relevanz für den Nachteilsausgleich s. Rux/Ennuschat (Fn. 72), S. 115 ff. 74 Danach ist das nationale Recht unabhängig vom Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen, vgl. BVerfGE 74, 358 (370); 111, 307 (324); Herdegen (Fn. 69), § 22 Rn. 10; ferner Geiger (Fn. 59), § 38 II (S. 170 f.). 75 Stern, Deutschlands Verfassung (1995), in: ders., Im Dienste von Recht, Staat und Wissenschaft. Ausgewählte Reden, hrsg. von Peter J. Tettinger und Michael Sachs, 2002, S. 311 (329).

“Zusammen mit Zusatzprotokollen bildet die EMRK heute ein höchst effizientes Normensystem europäischer Grundrechte zur Verbürgung von Freiheit, Gleichheit, justiziellen Garantien und politischen Mitwirkung mit unabhängigen eingenständigen europäischen Sicherungseinrichtungen.” (K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, München 1994, p. 1562)

Cultural Values in Supranational Adjudication: Is there a “Cultural Margin of Appreciation” in Strasbourg? By Lech Garlicki I. The Mysterious Margin of Appreciation 1. Culture is diversity. While contemporary Europe often emphasize the need for common standards and universal values, it has never been understood as the exclusion of national, regional and local differences. Each country of Europe has its own heritage that refers to tradition and history, religious and moral values, political and constitutional conventions and, simply, the way of living of the society. In other words, each country has, usually over centuries, elaborated its own identity that may be described as its own culture. The countries of Europe may uniformly adhere to general values like human rights and the rule of law, but pluralism occupies a prominent place among those values. Thus, the current process of European integration has a dialectic nature: the trend towards uniformisation collides sometimes with the quest for preservation of traditional values, relations and attitudes, in brief – distinct cultural identities of particular states. Those different identities exist also in respect to legal tradition and culture. It goes without saying that, also on this field, the German tradition occupies a particularly prominent place. The numerous works of Klaus Stern represent one of the most authoritative illustrations of the richness and importance of that tradition. But national cultural identities must not collide with universal standards, particularly in respect to human rights. The question, I am going to discuss in this paper, is whether the “cultural context” in a human rights dispute reserves more flexibility for national diversity. On the one hand, Europe is quite resolute in demanding that each and every country respect certain common standards of human rights – this is why the European Convention on Human Rights (ECHR) and the European Court of Human Rights (ECtHR) exist at all. On the other

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hand, implementation of common standards may be secured in different ways and it has always been assumed that each and every country retains the right to choose such ways that fit best to its own moralities, religions, beliefs, political and constitutional traditions – in brief to its own culture. Therefore, some distribution lines must be set and – perhaps – more room should be left for the individual states in areas that traditionally belong to the core of that “culture”. The so-called “margin of appreciation” doctrine serves as one of the prominent tools to design what need not (or – what should not) be uniformly decided at the European level. 2. The proper setting of distribution lines is, however, quite complicated. On the one hand, the entire system of the Convention is based on the principle of subsidiarity: “The Convention leaves to each Contracting State, in the first place, the task of securing the rights and freedoms it enshrines [. . .] By reason of their direct and continuous contact with the vital forces of their countries, State authorities are in principle in better position than the international judge to give an opinion on the exact content of the [Convention] requirements [. . .].” 1

On the other hand, the Convention sets certain standards that must be universally observed in all Member States. The Court has emphasized on many occasions that the State power to regulate: “[. . .] goes hand in hand with a European supervision. Such supervision concerns both the aim of the measure challenged and its necessity; it covers not only the basic legislation but also the decision applying it, even one given by an independent court.” 2

This produces a certain tension between subsidiarity and universality which may be addressed only on a case-to-case basis. Therefore “some interpretational tool is needed to draw the line between what is properly a matter for each community to decide at local level and what is so fundamental that it entails the same requirement for all countries whatever the variations in traditions and culture. In the European system that function is served by the doctrine of the margin of appreciation” 3. In a nutshell, this doctrine reserves for the Contracting States some room to decide how to implement the Convention standards in a way that corresponds best to the domestic conditions4. While the very idea of margin of

1

Handyside v. the U. K. (1976), par. 48. Handyside v. the U. K., par. 49. 3 P. Mahoney, Marvelous Richness of Diversity or Invidious Cultural Relativism?, HRLJ 1988, p. 1. 4 Thus, it also “embraces an element of deference to decisions taken by [national] democratic institutions” (L. Wildhaber, A Constitutional Future for the ECHR?, HRLJ 2002, no. 5–7, p. 162). 2

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appreciation is based upon the respect for the subsidiarity principle5, it has never been stated in the written text of Convention. Rather, it emerged in the Strasbourg case-law as an entirely judge-made creation. Thus, it is the ECtHR who, in the final resort, delineates the scope of what shall be left for the States. 3. The lineage of the margin of appreciation is more ancient than the Convention and can be traced back to national procedures of judicial review of governmental action, in particular to the doctrine developed by the French Conseil d’Etat6. However, it has been only the Strasbourg jurisprudence that gave to this doctrine a universal magnitude – in the pre-Conventional era the term “margin of appreciation” had not even existed in the English legal language. The first references to the doctrine appeared in the early decisions of the Commission, in the particular context of emergency situations7. The Court has waited another 10 years to use the term “margin of appreciation”8 and it was only in the 1976 Handyside case9 where it elaborated its understanding of the doctrine. Over the next decades, the references to the “margin of appreciation” became more frequent and, today, it may be regarded as one of the most important doctrines of the Strasbourg Court. The Court regularly invokes the “margin of appreciation”, but – unlike in the early years – quite often it finds that States have overstepped this margin and concludes for a violation. While, in the intellectual perspective, the doctrine may be still regarded as one of the expressions of the judicial self-restraint, in the practical perspective, it cannot be said that it is used exclusively or mainly to justify State interferences with individual rights. There is no need to discuss here the question of legitimacy of the margin of appreciation doctrine. While scholars and practitioners remain divided on this matter10, it is clear that, in the jurisprudential reality, the doctrine functions as 5 “It is the essence of the national margin of appreciation that, when different opinions are possible and do exist, the international judge should only intervene if the national decision cannot be reasonably justified” (Wingrove v. the U. K., 1996, the concurring opinion of Judge Bernhardt). See also M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the ECHR, in: Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law (Liber Amicorum Lucius Caflish), Leiden 2007, p. 624–626. 6 See, e. g.: R. St. J. Macdonald, The Margin of Appreciation, in: Macdonald/Matscher/Petzold (eds.), The European System for the Protection of Human Rights, Nijhoff 1993, s. 83; P. van Dijk/G. J. H. van Hoof, Theory and Practice of the ECHR, Kluwer 1998, p. 84. 7 E. Brems (The Margin of Appreciation Doctrine in the Case-Law of the ECtHR, ZfAöRuV 1996, H. 1–2, p. 242–243) mentions the Lawless v. Ireland Case (Commission’s Report of 29 XII 1959) as well as the Greek Case (1969) and the First Cyprus Case (1976). However, the Court, when taking its final decision in the Lawless Case (1 VII 1961) refrained from any explicit reference to the “margin of appreciation”. 8 DeWilde, Ooms and Versyp v. Belgium (1971), par. 93. 9 Handyside v. the U. K., par. 48–50. 10 According to Lord Lester of Herne Hill: “The concept of the margin of appreciation has become as slippery and elusive as an eel. Again and again the Court now

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one of the primary tools of the judicial interpretation. Its application is based upon three assumptions: (1) the Convention sets universal standards and within those standards allows the Member States a choice; (2) the Court should respect choices taken by the domestic authorities as long as they do not collide with any of the universal standards; (3) the scope of choice varies depending on several factors: in some situations domestic authorities are allowed a “wide” or (only) “certain” margin of appreciation, in others – margin of appreciation remains very limited or does nor exist at all. And, since it is the Court’s function to decide what (if any) margin of appreciation is appropriate in respect to each particular type of cases, the doctrine offers a considerable degree of flexibility in the application of general standards to individual situations11. Thus, the identification of criteria determining the scope of the margin of appreciation is of the crucial importance. 4. It is not the Court’s task to discuss those problems in the abstract12. Nevertheless, its – quite rich – jurisprudence shows at least some factors that determine the scope of the margin of appreciation. Without even attempting to provide any comprehensive list, it seems useful to mention six relevant factors: – Nature (subject-matter) of the right in question. Both the text of the Convention and the Strasbourg case-law establish certain hierarchy of rights and this hierarchy affect the scope and manner of limitations of rights. In consequence, the nature of the right also determines the scope of action allowed to the Member States. On the one side of the spectrum there are rights of absolute or quasi-absolute nature (e. g. prohibition of torture or prohibition of slavery) where universal standards go so deep that the case law never resorts to the margin of appreciation. On the other side, some rights have always been regarded as less uniformly structured at the European level and that is why the Court is ready to allow to the States a “wide” or – even – “very wide” margin of appreciation in regulation of property rights or electoral systems13.

appears to use the margin of appreciation as a substitute for coherent legal analysis of the issues at stake.” (quoted after P. Mahoney, op. cit., p. 1) 11 As the Court observed in Rasmussen v. Denmark (1984), par. 40: “The scope of the margin of appreciation will vary according to the circumstances, the subject-matter and its background; in this respect, one of the relevant factors may be existence or nonexistence of common ground between the laws of the Contracting States.” 12 “Being concerned with the appropriate scope of review, the margin is not susceptible of definition in the abstract, as it is, by its very nature, context-dependent.” (R. St. J. Macdonald, op. cit., p. 85) See also J. Schokkenbroeck, The Basis, Nature and Application of the Margin-of-Appreciation Doctrine in the Case Law of the ECHR, HRLJ 1998, no. 1, p. 31. 13 See e. g.: in respect to Article 1 of Protocol No. 1 – Y. Winisdoerffer, Margin of Appreciation and Article 1 of Protocol No. 1, HRLJ 1998, p. 18–20; in respect to Article 3 of Protocol No. 1: Mathieu-Mohin and Clerfayt v. Belgium (1987), par. 52 and –

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– Nature of the State’s duties: it seems to be a common ground that a wider margin of appreciation is allowed in respect to the so-called positive obligations that, by definition, require Member States to take a creative action to secure implementation of a particular right. At the same time, stricter control may apply to the duty of the State to refrain from interfering with the same right14. – Nature of the aim pursued by the contested State action: already the text of some Articles of the Convention enumerates some “legitimate aims” and it seems that some of those aims (like, in particular, protection of national security) may be more compelling than the others. – Surrounding circumstances. As already mentioned, the margin of appreciation doctrine had been, at first, used in the context of emergency situations where the States resorted to Article 15 of the Convention. Also today, it may be assumed that “greater latitude will be allowed in emergency or threatening situations [. . .] than in peacetime or normal circumstances”15. A greater latitude may also be accorded to the countries in the process of transition, particularly in respect to actions undoing past injustices and mistakes16. – Existence of “common ground” between the laws of the Member States17. The Court often examines the legislative solutions adopted in different Member States and tries to establish whether there is a common denominator adopted in most of them. The existence of a “legislative consensus” or – at least – the existence of a common trend may leave less room for those States that are not ready to join the club.

more recently: Hirst v. the U. K. (2005), par. 61; Yumak and Sadak v. Turkey (2008), par. 109. 14 “The question arises whether the Court allows a wider margin of appreciation to States where what is in issue is a positive obligation to secure respect for, rather than a duty to refrain from interfering with, an individual’s [right].” (C. Ovey, The Margin of Appreciation and Article 8 of the Convention, HRLJ 1998, no. 1, s. 10) However, the Court often repeats that there are no strict limits between negative duties and positive obligations. 15 P. Mahoney, op. cit., p. 5. 16 E. g. in Jahn and Others v. Germany (2005), the Court reiterated “that the State has a wide margin of appreciation when passing laws in the context of a change of political and economic regime . . . It has also reiterated this point regarding the enactment of laws in the unique context of German reunification.” (par. 113). See L. Garlicki, L’application de l’article 1er du Protocole No. 1 de la CEDH dans l’Europe centrale et orientale – problemes de transition, in: H. Vandenberghe (ed.), Proprieté et droits de l’homme, Bruylant 2006, p. 156–158. 17 “The more a consensus matures on a certain issue involving a right protected under the Convention, the smaller the margin of appreciation of the domestic authorities to determine freely the purview.” (C. Rozakis, The European Judge as Comparatist, 80 Tulane Law Review (2005), no. 1, p. 273)

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– Existence of common cultural context (i. e. of particular traditional combination of moral, religious, ideological, political and constitutional values and attitudes) in which particular rights operate within the society. It should not be, of course, forgotten that the Convention as such is based on a certain political philosophy, and that it also presupposes a universal acceptation of certain social, cultural and moral values. At the same time, however, there are, as there always have been, profound differences between societies (and – in consequence – between Member States) and – in the Convention process – those different identities of Member States must be accepted and respected. Those factors appear parallely in each and every important case before the Strasbourg. Court. Sometimes, like in respect to the prohibition of torture, they all act in the same direction; in consequence, no latitude is left to the Member States and that is why there are no references to the margin of appreciation doctrine in Article 3 cases. Sometimes, however, different factors may act in opposite directions and the Court must propose a compromise between conflicting factors, i. e. it must find a “balanced” margin of appreciation. 5. This task may appear particularly difficult when there is a conflict involving the last of the above-mentioned factors. The Member States differ in their tradition and history, as well as in their religious structures, moral values, degree of tolerance. It must not be forgotten that over the last two decades those differences became more dramatic due to the geographical expansion of the Convention system and also due to the evolution of the role of Islam in some Member States. It may be very difficult to identify common ground to approach problems like family life, sexual orientation, abortion or euthanasia. The underlying philosophy of the Convention assumes pluralism of views and judgments and requires tolerance. Tolerance means, on the one hand, that the very fact that other may have views and values that are not shared by a majority, cannot be called in question. But, it also means that those who represent less orthodox views and values must not disrespect feelings and reactions of other social groups. Those relations develop horizontally – among individuals and groups, and only indirectly may be controlled by the Convention standards. The State’s role is focused primarily on securing a peaceful coexistence of different systems of values. Quite often it calls for elaboration of compromises (or, at least, for elaboration of a framework in which such compromises becomes feasible) and for the State acting as an arbiter. While such State action must respect all standards set out in the Convention (and in the case-law of the ECtHR), assessments of “necessity”, “justifiability” or “public interest” cannot be taken in the Strasbourg ivory tower. The Strasbourg judges cannot ignore the local context of each and every case and are constantly faced with the contradiction between universalism and particularism. What may be perfectly acceptable in a Nordic society, may provoke shock and distaste in some other corners of Europe.

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This brings us to the question how the cultural context is taken into account by the ECtHR and, in particular, how relevant is this context in the judicial determination of what should be left to the national margin of appreciation. Since the Court has not yet developed any general theory, this question can be approached only upon some examples from the Strasbourg case-law. II. Expression and Morals While the doctrine of margin of appreciation has been applied to most Convention rights and freedoms, it is the area covered by Articles 8–11 that shows the best developed use of this doctrine18. In particular, assessments of “necessity” (that, usually, represent the decisive criterion in deciding whether a violation has taken place) often refer to the margin of appreciation left to the national authorities. This margin of appreciation may, sometimes, result from differences in moral conceptions prevailing in different countries or different regions. Those differences may have bearing on the interpretation of even so important rights as freedom of expression. It was a conflict between freedom of expression and traditional morality that, for the first time, prompted the Court to apply the margin of appreciation doctrine to the interpretation of Article 10 of the Convention. In the 1976 Handyside case, the Court upheld measures against dissemination of a publication which was considered obscene by the English courts. While accepting that freedom of expression constitutes one of the essential foundations of a democratic society, and that it applies also to informations or ideas that offend, shock or disturb the State or any sector of the population, the Court reminded that the Convention allows to restrict freedom of expression if necessary “for the protection of morals”. The Court based its reasoning on the “common ground” argument. It observed that “it is not possible to find in the domestic law of the various Contracting States a uniform European conception of morals. The view taken by their respective laws of the requirements of morals varies from time to time and from place to place, especially in our era which is characterized by a rapid and far-reaching evolution of opinions on the subject. By reason of their direct and continuous contact with the vital forces of their countries, State authorities are in principle in a better position than the international judge to give an opinion on the exact content of those requirements [. . .].” (par. 48)

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See P. van Dijk/G. J. H. van Hoof, op. cit., p. 85.

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Therefore, the fact that some other countries may have developed greater flexibility in moral assessments does not necessarily deprive the national legislature of its power to act in concordance with moral values prevailing in a given society. The Handyside case demonstrated that, when protection of morals is at stake, the Court may be more inclined to accept limitations of the freedom of expression, even if it would lead to geographical differentiations. The Court emphasized, naturally, that it is not ready to abandon its general mission: “the domestic margin of appreciation goes hand in hand with a European supervision”. Nevertheless, in the circumstances of the case, it reached the conclusion that there had been no breach of the requirements of Article 10 of the Convention. The Handyside approach found continuation in several subsequent cases. In Müller and Others v. Switzerland (1988), the Court upheld restrictive measures taken in reaction to the controversial nature of certain paintings displayed at an exhibition in Fribourg. The Swiss courts found that the paintings “showed an orgy of unnatural sexual practices” and were “morally offensive to a person of normal sensitivity”. The Court accepted that artistic expression should enjoy a particular level of protection. The “privileged nature” of the artistic speech, does not, however, prevent the State to take steps necessary for the protection of morals and those assessments cannot escape from local contexts. “Today, as at the time of the Handyside judgment, it is not possible to find in the legal and social order of the Contracting States a uniform European conception of morals.” (par. 35) The references to the margin of appreciation have played even greater role in cases involving state prosecution of blasphemy. Since those cases often involved also an element of erotism, it seems “quite understandably that the Court’s approach has drawn upon the case law concerning restrictions for the protection of morals”19. In Otto-Preminger-Institut v. Austria (1994), the Court found that the seizure and subsequent forfeiture of the film Das Liebeskonzil had not violated Article 10 of the Convention. The Court formulated three principles. Firstly, it set a general standard: those who exercise the freedom of expression in the context of religious beliefs and opinions, may have an obligation “to avoid as far as possible expressions that are gratuitously offensive to others and thus an infringement of their rights, and which therefore do not contribute to any form of public debate capable of furthering progress in human affairs.” (par. 49) Secondly, it noted the lack of the “common ground” in regard to religious feelings and accepted that “a certain margin of appreciation is therefore to be left to the national authorities in assessing the existence and extent of the necessity of such interference.” (par. 50) 19 S. Prebensen, The margin of appreciation and Article 9, 10 and 11 of the Convention, HRLJ 1998, p. 15.

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Finally, those assessments may sometimes be made upon purely local standards (par. 56). The same position was taken in Wingrove v. the U. K. (1996) in which the Court upheld the refusal of the British authorities to grant a certificate for the video work “Visions of Ecstasy” based on the finding that it infringed a provision of the criminal law of blasphemy. The Court observed that: “Whereas there is little scope [. . .] for restrictions on political speech or on debate of questions of public interest, a wider margin of appreciation is generally available to the Contracting States when regulating freedom of expression in relation to matters liable to offend intimate personal convictions within the sphere of morals or, especially, religion. Moreover, as in the field of morals, and perhaps to an even greater degree, there is no uniform European conception of the requirements of ‘the protection of the rights of others’ in relation to attacks on their religious convictions. What is likely to cause substantial offence to persons of a particular religious persuasion will vary significantly from time to time and from place to place, especially in an era characterized by an ever growing array of faiths and denominations.” (par. 58)

No other judgment of comparative significance has been adopted over the next 15 years. It is not clear to what extent the Court’s position as to the lack of a “European common ground” in matters of moral and religious feelings remains valid also today. In any case, even the Handyside approach should not be understood as a total abdication from the European supervision: in all above-mentioned judgments, the Court – on the one hand, reminded that the domestic margin of appreciation is not unlimited, especially in regard to the freedom of expression, and – on the other hand, invoked particular circumstances of each of those cases. One of those circumstances was that none of the contested works could be regarded as functioning within the area of political debate. Otherwise, the Court’s conclusions might have been different. In the case of Vereinigung Bildender Künstler v. Austria (2007), the Court found that an injunction forbidding the applicant association to exhibit any further the painting “Apocalypse”, constituted a violation of Article 10 of the Convention. The Court noted that the painting, in its original state, depicted Mr. M., a former general secretary of the Austrian Freedom Party, “in a somewhat outrageous manner, namely naked and involved in sexual activities.” (par. 32)20 However, the Court came to the conclusion that “such portrayal amounted to a caricature of the persons concerned using satirical elements [. . .]. It could hardly be understood to address details of Mr. M.’s private life, but rather related to Mr. M.’s public standing as a politician.” (par. 34) The Court reminded that politicians must display more tolerance in respect to criti-

20 This “somewhat outrageous manner” was, in a more detailed manner, explained in the dissenting opinion of judge Loucaides.

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cism. Not a single reference to the margin of appreciation doctrine was included into the reasoning. It would be premature to propose any predictions. In any case, the Austrian case shows that the Court is less ready to turn toward the margin of appreciation doctrine when political speech is involved. III. Morals, Privacy and Identity 1. Private life represents an area which is quite intensively determined by moral and cultural values. Some of those values are common for all countries of Europe, some, however; still remain different from place to place. The Court cannot ignore the existing variations, particularly when assessing what interferences with private life may be accepted as “necessary in a democratic society” or when assessing what is the scope of the States’ “positive obligations” to secure respect for private rights21. It does not mean, however, that applications of the margin of appreciation doctrine would always result in giving priority to the local approaches in understanding the scope and importance of privacy rights. Already in the early period of its history, the Court had no hesitations in imposing certain universal standards on all member States. In Dudgeon v. the U. K. (1981), the Court found that penalization, in Northern Ireland, of certain forms of homosexual activities between consenting adults was incompatible with Article 8 of the Convention. The Court confirmed that “it is for the national authorities to make the initial assessment of the pressing social need [for interference] in each case; accordingly a margin of appreciation is left to them . . . The Government inferred from the Handyside judgment that the margin of appreciation will be more extensive where the protection of morals is in issue [. . .] However, not only the nature of the aim of the restriction but also the nature of the activities involved will affect the scope of the margin of appreciation. The present case concerns a most intimate aspect of private life. Accordingly, there must exist particularly serious reasons before interferences [. . .] can be legitimate.” (par. 52)

Thus, the Court accepted that there may be a conflict between different factors determining the scope of the margin of appreciation. Nevertheless, as long as the nature of the restricted activities relates to a privileged sphere of “most intimate aspects of private life”, other factors cannot prevail. In consequence, the State is left with a quite limited margin of appreciation22. 21 It should not be forgotten that the concept of “positive obligations” plays an important role in the judicial interpretation of Article 8 – see C. Ovey, op. cit., p. 10. 22 More categorical was the Court’s language in the judgment K. A. and A. D. v. Belgium (2005): “le droit penal ne peut, en principe, intervenir dans le domaine des pratiques sexuelles consenties qui relevent du libre arbitre des individus.” (par. 83 – it is not necessary here to discuss the very particular context of the case)

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The message of the Court was that local moral convictions, even when shared by a clear majority of population, are not sufficient to extend the State margin of appreciation into the area of “most intimate aspects of private life”. Furthermore, the Court took into account the emerging trends of tolerance in other Member States. The Dudgeon judgment was drafted in a careful language. Nevertheless, the position of the Court has been confirmed and expanded in several subsequent cases concerning Ireland23, Cyprus24 and Austria25 and, gradually, developed into a general ban of discrimination based on sexual orientation26. In consequence, almost no margin of appreciation has been left to the States in that area. 2. In cases involving civil status of transsexuals, the Court showed, initially, more deference to the State margin of appreciation. The main question in those cases was whether the Member States are under the duty to adopt legislation recognizing legal consequences of gender reassignment. Thus, the Court was invited to intervene into positive obligations of the national authorities. For several decades the Court has refused to act. In the Court’s opinion, it was not possible to define any common approach among the Member States and, therefore, in regulations concerning the status of transsexuals, national authorities had to be offered a wide margin of appreciation27 It was only in Christine Goodwin v. the U. K. (2002) when the Court revisited the problem. The Court reiterated that in the interpretation of the Convention a dynamic and evolutive approach must be maintained, i. e. the Court “must have regard to the changing conditions within the responding State and within Contracting States generally and respond, for example, to any evolving convergence as to the standards to be achieved.” (par. 74) The Court emphasized a continuous international legal trend towards legal recognition following gender re-assignment. This led to the finding that the respondent Government “can no longer claim that the matter falls [entirely] within its margin of appreciation [. . .] the fair balance that is inherent in the Convention now tilts decisively in favor of the applicant.” (par. 93) Hence, the “common ground/approach” argument, usually invoked by the Court, was, in the Goodwin case, replaced by the “continuing international trend” argument. In other words, the – still existing – variations in 23

Norris v. Ireland (1988). Modinos v. Cyprus (1993). 25 L. and V. v. Austria (2003). 26 See, in particular, Smith and Grady v. the U. K. (1999 – sexual orientation as reason for discharge from the army); Karner v. Austria (2003) and Kozak v. Poland (2010) – social benefits; Ba˛czkowski and Others v. Poland (2007 – prohibition of an “Equality parade” in Warsaw); E. B. v. France (2008 – single parent adoption). 27 Rees v. the U. K. (1986); Cossey v. the U. K. (1990); Sheffield and Horsham v. the U. K. (1998). 24

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national solutions did not preclude the Court from restricting the scope of the State margin of appreciation. The Court adopted here a more dynamic standard of intervention, but the whole case was hardly typical since it represented one of the few examples when the technique of overruling (instead of that of distinguishing) has been applied. In short, the Court’s approach to both homosexuality and transsexuality, demonstrates that, even in questions of high moral sensitivity, it may not be ready to resort to the margin of appreciation doctrine as a tool of the judicial selfrestraint. IV. Right to Life and Its Penumbras 1. Another important question is whether the margin of appreciation doctrine can find an application to the “most absolute” articles of the Convention, particularly to the protection of the right to life. The general position of the Court is clear: Article 2 of the Convention expresses one of “the most fundamental provisions of the Convention [. . .] It safeguards the right to life, without which enjoyment of any of the other rights and freedoms in the Convention is rendered nugatory. It sets out the limited circumstances when deprivation of life may be justified and the Court has applied a strict scrutiny when those exceptions have been invoked by respondent Governments”28. In consequence, all Member States must respect the right to life in the same manner. That is why the Court makes no references to the margin of appreciation doctrine in the “regular” Article 2 cases. More room for the doctrine may be allowed in cases that only indirectly are related to the “right to life”, namely in cases concerning euthanasia and abortion. 2. In regard to euthanasia, the leading precedent of the Strasbourg Court is the judgment Pretty v. the U. K. (2002). The Court examined the compatibility with the Convention the refusal of the U. K. authorities to give an undertaking that a husband of a terminally ill wife would not be prosecuted if he assisted her to commit suicide. The Court found that no right to assisted suicide can be derived from Article 2, but the refusal may, in some circumstances, engage the rights protected by Article 8. In the instant case, the Court was “not prepared to exclude that [the refusal] constitutes an interference with the right to respect for private life.” (par. 67) Hence, the case had to be decided by assessing whether this interference was “necessary in a democratic society”. The Court observed that “in determining whether an interference is “necessary in a democratic society”, the Court will take into account that a margin of appreciation is left to the national authorities, whose decision remains subject to review by the Court for conformity with the requirements of the Convention. The 28

McCann and Others v. the U. K. (1995), par. 146–150.

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margin of appreciation to be accorded to the competent national authorities will vary in accordance with the nature of the issues and the importance of the interests at stake. The Court focused on the assessment of proportionality of the interference and, in particular, noted particular vulnerability of the terminally ill persons. “It is primarily for States to assess the risk and the likely incidence of abuse if the general prohibition on assisted suicide were relaxed or if exceptions were to be created.” (par. 74) It led the Court to the conclusion that the interference in question could be justified as “necessary in a democratic society” for the protection of the rights of others. The applicability of the margin of appreciation doctrine to the Pretty case resulted from its qualification as an Article 8 case. Nevertheless, the Court remained rather careful in addressing the doctrine; it only indicated that in respect to assisted suicide the margin of appreciation need not be as narrow as in respect to the area of sexual identity. The Court did not discuss the general – moral and cultural – context of euthanasia, but – by referring to the Canadian Supreme Court jurisprudence – indicated, in a indirect manner, that if there is a legislative “common ground” among modern States, it rather tends towards prohibiting of the assisted suicide of terminally ill people. The Court did not even try to determine whether there is a cultural/moral “common ground” concerning mercy killing. In the Pretty case, the Court was invited to address a question whether the Convention allows to the States to maintain legislation prohibiting assisted suicide and it gave an affirmative answer. The Court has not yet been addressed with a question whether the Convention allows to the States to adopt legislation legitimizing assisted suicide in some circumstances. Such question would necessarily focus the discussion at the Article 2 and the right to life. It might be interesting to see whether the Court would resort to the margin of appreciation doctrine to give an answer. 3. The Court has only rarely had occasion to consider the status of abortion under the Convention. In almost all cases, the Court choose to avoid taking any general position. It seems that the Court is ready to follow the “classic” decision of the European Commission of Human Rights in the 1976 Brüggemenn and Scheuten case29. In the 2007 Tysia˛c v. Poland judgment, the Court reiterated that art. 8 of the Convention is applicable in the abortion cases: “legislation regulat29 The Commission rejected the allegation that the 1974 German Abortion Law violated applicants’ right to respect of private life. The Commission observed that “the question to what extent abortion should be subject to punishment is, according to Article 8 sec. 2 of the Convention, left to the discretion of the Contracting States [. . .] The exercise of such discretion also appears from the fact that the scope of protection by criminal law varies in detail among the Member States”.

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ing the interruption of pregnancy touches upon the sphere of private life, since whenever a woman is pregnant her private life becomes closely connected with the developing foetus.” (par. 106) The Court found that Poland had violated art. 8 by the refusal to provide abortion in a situation in which continuation of pregnancy constituted danger for the applicant’s health. The Court preferred, however, to decide the case on a very narrow ground and not to address the, much more controversial, problem of so-called social abortion: “While the State regulations on abortion relate to the traditional balancing of privacy and the public interest, they must – in case of a therapeutic abortion – be also assessed against the positive obligations of the State to secure the physical integrity of mothers-to-be.” (par. 107) While the Court did not refer to the margin of appreciation, it seems quite clear that state regulation of social abortion remains well within that margin.30 In both above mentioned cases the problem of abortion was analyzed from the perspective of rights and obligations of a future mother, i. e. upon article 8 of the Convention. Sometimes, however, it is proposed to address the problem in the opposite manner, i. e. from the perspective of the fetus’ right to life. If unborn life could be treated as a form of “regular” human life, then that life would have to be protected under article 2 of the Convention. The Court took a clear position only in respect to the status of embryos: in 2007, it stated that “embryos [conceived in vitro and not yet introduced into the mother’s womb] do not have a right to life within the meaning of Article 2” 31. The only opportunity to decide on the status of fetus arouse in the 2004 case Vo v. France. The Court was confronted with a question whether a medical error that result in an unnecessary therapeutic abortion should be assessed as a potential violation of the fetus’ right to life. In other words, the Court was invited to decide when the “life” (in the meaning of Article 2 of the Convention) begins. The Court noted that “unlike Article 4 of the American Convention on Human Rights, which provides that the right to life must be protected ‘in general, from the moment of conception’, Article 2 of the ECHR is silent as to temporal limitations of the right to life [. . .] The Court has yet to determine the issue of the ‘beginning’ of ‘everyone’s right to life’ within the meaning of that provision and whether an unborn child has such a right.” (par. 75)

30 Very recently, in the judgment of December 16, 2010 (A, B and C v. Ireland, par. 231), the Court observed that: “There can be no doubt as to the acute sensitivity of the moral and ethical issues raised by the question of abortion or as to the importance of the public interest at stake. A broad margin of appreciation is, therefore, in principle, to be accorded to the Irish State in determining the question whether a fair balance was struck between the protection of that public interest [. . .] and the conflicting rights of the applicants to respect for their private lives under Article 8 of the Convention.” 31 Evans v. the United Kingdom (2007), par. 56.

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The Court reviewed its case-law concerning abortion and concluded that it is apparent that: “[. . .] the interpretation of Article 2 in this connection has been informed by a clear desire to strike a balance, and the Convention institutions’ position in relation to the legal, medical, philosophical, ethical or religious dimensions of defining the human being has taken into account the various approaches to the matter at national level. This has been reflected in the consideration given to the diversity of views on the point at which life begins, of legal cultures and of national standards of protection, and the State has been left with considerable discretion in the matter [. . .]. It follows that the issue of when the right to life begins comes within the margin of appreciation which the Court generally considers that States should enjoy in this sphere, notwithstanding an evolutive interpretation of the Convention [. . .]. At European level, the Court observes that there is no consensus on the nature and status of the embryo and/or fetus, although they are beginning to receive some protection [. . .]. Having regard to the foregoing, the Court is convinced that it is neither desirable, nor even possible as matters stand, to answer in the abstract the question whether the unborn child is a “person” for the purposes of Article 2 of the Convention. [. . .].” (par. 82–85)

The bottom-line of the Court’s position was that it would be premature to set any universal standards as to the applicability of Article 2 and its right-to-life guarantees to the unborn life. The Court preferred to leave the question opened. It accepted that the resolution of the issue of when the right to life begins belongs to the margin of appreciation which Member States enjoy in this sphere. The width of that margin is, in particular, determined by the absence of common ground between the Member States. The Court observed that such common ground exists neither on the field of legal regulations (and also international law instruments refrain from providing clear definitions) nor in respect to moral and cultural assessments of abortion. Thus, decisions as to the temporal limitations of the right to life and as to the scope of protection of the unborn life may be left with then national legislatures. In any case, the issue of protection of unborn life shows that, notwithstanding its links with Article 2, the Court refers to the margin of appreciation doctrine.

V. Concluding Remarks The references to the doctrine of the margin of appreciation are constantly present in the case law of the Strasbourg Court. While there are some areas of “classic applications” of the doctrine (rights covered by Articles 8–11, property rights, electoral rights), it has been invoked also in the interpretation of most other substantive provisions of the Convention. Even within such strongholds of uniform standards, like Article 2, some usefulness of the doctrine has been accepted in regard to disputes on abortion and assisted suicide. The margin of appreciation appears particularly helpful when the Court resorts to the assessments

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of proportionality and, since those assessments are visible – in one form or another – in the application of nearly all rights and liberties, there is always a temptation to refer to the doctrine. As it has been already mentioned, the margin of appreciation doctrine offers a considerable degree of flexibility and, therefore, fits well to both basic principles of the Strasbourg jurisprudence: subsidiarity and minimal standards. Unlike in the earlier history of the Court (and, even more, that of the Commission) a reference to the doctrine of the margin of appreciation does not necessarily mean that an interference with individual rights would be upheld. Nowadays, we are no longer on a one-way street. There have been numerous cases in which the Court referred to the margin of appreciation only to find that actions of the State had gone beyond that margin. In other words, this doctrine is no longer used only as a tool of justification of interferences; rather it has been transformed into an intellectual category that is taken into account whenever the Court faces a dispute of a controversial nature. Some degree of flexibility belongs to the very core of the doctrine and that is why it is still very difficult to squeeze the notion of margin of appreciation into more organized conceptual framework. Its interpretation develops in reference to several distinctive factors (criteria) and, as usually, comentators differ considerably in defining both the list of those factors and their substantive meaning. In any case, the existence (or non-existence) of a “common ground” represents one of the best established factors. The “common ground” is discussed, first of all, in relation to the state of national legislation, however, as it has been on several occasions noted by the Court, legal solutions result from political, historical and moral backgrounds of particular countries; in brief – from their cultural identity. Since that identity matters particularly in the exercise of such “traditional” rights like privacy, expression or religion, it is not a surprise that references to cultural (moral, religious) determinations of the margin of appreciation appear more often in the process of interpretation of Articles 8–11 of the Convention. Sometimes, as shown in the “Handyside-type” cases, those references lead the Court to refrain from intervention, sometimes, however (as shown in the “Dudgeon-type” cases), the Court see no alternative but to impose common standards. In respect to other sensitive areas, like abortion and euthanasia or like religion expression32, the Court is still hesitating as to the best course of its action.

32 In particular, in respect to State regulations on wearing of religious symbols in public institutions and/or public places (see L. Garlicki: The Strasbourg Court on Issues of Religion in the Public School System, in print). In Lautsi v. Italy (2009), the margin of appreciation doctrine did not convince the Third Chamber of the Court to accept mandatory display of crucifixes in public schools. However, the Grand Chamber, in the judgment of 18 March 2011, overruled the Chamber and decided that mandatory display of crucifix is compatible with both Article 2 of Protocol No. 1 and Article 9 of the Convention.

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The member States are not identical and they need not (and – even – must not) be identical33. The very essence of the Convention system lies in the elaboration of a modus vivendi between different social groups34 and in the providing an European framework for a compromise between uniformity and particularity (minimal standards and subsidiarity). This compromise can be found only by trial and error35, and – by definition – it must have a dynamic nature and – as we have seen – quite often judges differ considerably in their opinions on the matter. What could have been justified twenty years ago may no longer belong to the State margin of appreciation today (the Court’s approach to homosexuals and transvestites offers one of the examples). On the other hand, new times bring new challenges (like the transformation processes in the new member States) and the Court may sometimes feel compelled to be more careful in setting limits to the State action. This restraint becomes particularly visible when the Court is confronted with – political, moral or cultural – ideas that may clash with the traditional understanding of the Convention values. The Court must address those challenges and we should hope that it will be able to provide coherent and convincing solutions36.

33 “The Convention does not purport to impose uniform approaches to the myriad different interests which arise in the broad field of fundamental rights protection.” (L. Wildhaber, op. cit., p. 162) 34 See, e. g., the case of Konrad and Others v. Germany (2006) where the Strasbourg Court referred to the position of the German Constitutional Court. 35 “The difficulty with the doctrine lies not so much in allowing it as in deciding precisely when and how widely to apply in on the facts of particular cases.” (D. J. Harris/M. O’Boyle/C. Warbrick, Law of the ECHR, London 1995, p. 15) 36 As correctly observed by J. Callewaert, Quel avenir pour la marge d’appreciation?, in: Protecting Human Rights: the European Perspective (studies in memory of Rolv Ryssdal, Köln/Berlin/Bonn/München 2000, p. 166): “l’avenir de la marge d’appreciation pourrait bien etre aussi celui de la Convention.”

Abkehr von Solange? – Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung und zu Honeywell1 Von Stephan Hobe* I. Das Verhältnis von europäischer und Verfassungsgerichtsbarkeit nach dem Vertrag von Lissabon Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon2 hat in bemerkenswerter Weise nicht nur die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union zu beschreiben versucht, sondern dabei auch den Stellenwert der verfassungsrechtlichen Kontrolle im Europa der Union der Siebenundzwanzig vor Au* Meinem Mitarbeiter Tobias Michels danke ich sehr für seine tatkräftige Unterstützung. 1 BVerfGE 125, 260 = Verkürzt: NJW 2010, S. 833 und BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6. Juli 2010 = Verkürzt: NJW 2010, S. 3422; im Folgenden wird jeweils aus den Fundstellen in der NJW unter Angabe der dortigen Rn. zitiert. 2 BVerfGE 123, 267 = NJW 2009, S. 2267; aus dem schon jetzt fast unübersehbaren Schrifttum zu diesem Urteil siehe nur: Bergmann, Jan, Bericht aus Europa: Vertrag von Lissabon und aktuelle Rechtsprechung, DÖV 2008, S. 305–314; Daiber, Birgit, Die Umsetzung des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts durch Bundestag und Bundesrat, DÖV 2010, S. 293–303; Everling, Ulrich, Europas Zukunft unter der Kontrolle der nationalen Verfassungsgerichte, Anmerkung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 über den Vertrag von Lissabon, EuR 2010, S. 91–108; Holtschneider, Rainer, Ist das Ende des Föderalismus im Europäischen Staatenbund erreicht?, DÖV 2008, S. 1018–1027; Isensee, Josef, Integrationswille und Integrationsresistenz des Grundgesetzes – Das Bundesverfassungsgericht zum Vertrag von Lissabon, ZRP 2010, S. 33–37; Nettesheim, Martin, Die Integrationsverantwortung – Vorgaben des BVerfG und gesetzgeberische Umsetzung, NJW 2010, S. 177–183; Sauer, Heiko, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil – Ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht?, ZRP 2009, S. 195–198; Schorkopf, Frank, Die Europäische Union im Lot – Karlsruhes Rechtsspruch zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2009, S. 718–724; Schröder, Ulrich Jan, Die offene Flanke – Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Begleitgesetzgebung zum Vertrag von Lissabon, DÖV 2010, S. 303–313; Schwarze, Jürgen, Die verordnete Demokratie – Zum Urteil des 2. Senats des BVerfG zum Lissabon-Vertrag, EuR 2010, S. 108–118; Terhechte, Jörg Philipp, Souveränität, Dynamik und Intergration – making up the rules as we go along? – Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, EuZW 2009, S. 724–731; Wolff, Heinrich Amadeus, De lege feranda: Das Integrationskontrollverfahren – Diskussionsbeitrag zur Frage einer Fortbildung des Verfassungsrechts nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009, DÖV 2010, S. 49–58.

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gen geführt. Fehlte es zwar, anders als noch im Urteil zum Vertrag von Maastricht3, wo von einem Kooperationsverhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Gerichtshof die Rede gewesen war,4 an einer weiteren derartigen Umschreibung dieses Verhältnisses der beiden Gerichte,5 war doch klar, dass die sehr prononcierte Hervorhebung des letztlich den zentralen deutschen Verfassungsbestand darstellenden Normenmaterials auch über Art. 79 Abs. 3 GG hinausgehend nach einer verfassungsgerichtlichen Klarstellung verlangen würde. Der derzeitige Präsident des Bundesverfassungsgerichts bezeichnet das Verhältnis zum EuGH nunmehr als einen „Verfassungs(gerichts)verbund“6. Ob allerdings diese Beschreibungen für sich genommen zu einem Erkenntnisgewinn beitragen, mag an dieser Stelle dahinstehen. Sie zeigen jedenfalls, wie sehr man in Karlsruhe um eine Positionsbestimmung in europarechtlichen Fragen ringt. Dieses Ringen wurde auch im Vorfeld der beiden hier zu besprechenden Urteile deutlich, namentlich darin, dass in der Sache „Honeywell“ beide Senate des BVerfG Kompetenz beanspruchten.7 Nach dem Lissabon-Urteil stand das Bundesverfassungsgericht vor allem wegen der Grenzen, die es zum Teil mit zweifelhafter normativer Begründung der europäischen Integration setzte, auch öffentlich in der Kritik.8 Nun steht die Frage im Raum, ob und wie die mahnende Rhetorik des Lissabon-Urteils in die Karlsruher Rechtsprechungspraxis umgesetzt wurde. In anderen Worten wurde gefragt: Würde das Bundesverfassungsgericht das Damoklesschwert auf das europäische Unionsrecht niedergehen lassen und es in konkreten Anwendungsfällen für nichtig erachten? Die beiden nachfolgend genauer unter die Lupe zu nehmenden Urteile des BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung einerseits9 und in Sachen Honeywell andererseits10 können nun als eine solche Beschreibung der Vorstellungen des Karls3

BVerfGE 89, 155. Vgl. hierzu nur: Odendahl, Kerstin, Das „Kooperationsverhältnis“ zwischen BVerfG und EuGH in Grundrechtsfragen, JA 2000, S. 219; Schwarze, Jürgen, Das Kooperationsverhältnis des BVerfG mit dem EuGH, FS 50 Jahre BVerfG, 2001, S. 223. 5 Vgl. Pache, Eckhard, EuGRZ 2009, S. 285 (297). 6 Vgl. nur Voßkuhle, Andreas, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, S. 1 ff. 7 Vgl. Westphal, Dietrich, Leitplanken für die Vorratsdatenspeicherung – Abrücken von „Solange“, Das Urteil des BVerfG vom 2.3.2010, EuZW 2010, S. 494 (495). 8 Vgl. nur Möllers, Christoph, Lissabon-Urteil: Was ein Parlament ist, entscheiden die Richter, FAZ, 16.7.2009 (abgerufen zuletzt am 07.02.2011 auf http://www.faz.net/s/ Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E77620A14A6AA46F591B447D4 0973EF54~ATpl~Ecommon~Scontent.html); Becker, Peter/Maurer, Andreas, Deutsche Integrationsbremsen, SWP-aktuell, Juli 2009 (abgerufen zuletzt am 07.02.2011 auf http: //www.swp-berlin.org/fileadmin /contents/products/aktuell/2009A41_bkr_mrr_ks.pdf); Everling, Ulrich, Europas Zukunft unter der Kontrolle der nationalen Verfassungsgerichte – Anmerkungen zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 über den Vertrag von Lissabon, EuR 2010, 9191. 9 BVerfGE 125, 260 = NJW 2010, S. 833. 4

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ruher Gerichts von der Demarkation seiner Überprüfungskompetenz die europäischen Hoheitsakte betreffend angesehen werden. Und dabei rückt eines wieder ganz ins Zentrum des Interesses, was sich wie ein roter Faden durch all die Positionsbestimmungen des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis der beiden Gerichtshöfe gezogen hatte: die berühmte „Solange-Rechtsprechung“11. Sollte diese Rechtsprechung nunmehr ihre Fortsetzung finden, oder würde es nach den jüngeren Anzeichen eines Friedensschlusses dabei bleiben, dass an eine Überprüfung von europäischen Hoheitsakten durch das Karlsruher Gericht nicht mehr wirklich zu denken ist, wie dies ja eigentlich in der sog. Bananenmarkt-Entscheidung des Gerichts12 zuletzt ziemlich deutlich geworden war? Dies sind also die wesentlichen Fragestellungen, unter denen nachfolgend die beiden ersten einschlägigen Urteile des Gerichts nach dem Lissabon-Urteil zu besprechen sein werden. Das geschieht nicht zuletzt in Anerkennung der bemerkenswerten Leistung Klaus Stern auch auf dem Gebiet des europäischen Verfassungsrechts, die etwa besonders in der Mitherausgabe des Kommentars zur Europäischen Grundrechte-Charta hervorgetreten ist13. II. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung Gegenstand des Verfahrens zur Vorratsdatenspeicherung waren Verfassungsbeschwerden gegen die §§ 113a, b TKG und 100g StPO. Diese Vorschriften waren zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG geändert worden und regelten eine vorsorgliche Speicherungspflicht von Telekommunikationsverkehrsdaten seitens der Anbieter öffentlich zugänglicher Telekommunikationsdienste für sechs Monate sowie die nachherige Verwendung dieser Daten. Die Speicherungspflicht sollte sich damit auf alle Angaben erstrecken, die erforderlich wären, um zu rekonstruieren, wer wann, wie lange, mit wem und von wo aus kommuniziert hatte oder zu kommunizieren versucht hatte. Gerügt worden waren die mögliche Unvereinbarkeit dieser Vorratsdatenspeicherung mit den Artikeln 10 Abs. I GG, Artikel 12 GG, Artikel 14 GG, Artikel 5 GG und Artikel 3 Abs. I GG.14 Im Ergebnis erklärte das Bundesverfassungsgericht die §§ 113a, b TKG in der Fassung des Änderungsgesetzes sowie § 110g

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BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6. Juli 2010 = NJW 2010, S. 3422. Vgl. Cornils, Matthias, Aller guten Dinge sind V – Zur Abrundung der „Solange“Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, ZJS-online 2008, S. 69–75. 12 BVerfGE 102, 147; zusammenfassend dazu Hobe, Stephan, Europarecht, 5. Aufl., § 11, Rn. 194 ff. 13 Tettinger, Peter J./Stern, Klaus, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 1. Aufl., München 2006. 14 BVerfGE 125, 260 und NJW 2010, S. 833. 11

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StPO, soweit danach Verkehrsdaten nach § 113a TKG erhoben werden dürfen, wegen Verstoßes gegen Art. 10 Abs. I GG für nichtig.15 Ausgehend von und bezugnehmend auf seine(r) Solange-Rechtsprechung hatte das Bundesverfassungsgericht zunächst seine grundsätzliche Unzuständigkeit für die Überprüfung von Rechtsakten der Union, genauer zwingenden Vorgaben von Richtlinien, anhand des grundgesetzlichen Grundrechtekataloges erklärt.16 Dabei umschließt die Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts insofern ausdrücklich auch die innerstaatliche Umsetzung solch zwingenden Unionsrechts.17 Angesichts des Ermessensspielraums des nationalen Gesetzgebers bei der Umsetzung der Richtlinie gelte dies jedoch insoweit nicht „als der Gesetzgeber bei der Umsetzung von Unionsrecht Gestaltungsfreiheit hat, das heißt durch das Unionsrecht nicht determiniert ist.“18 Bezüglich dieses Umsetzungsspielraums sei eine Berufung auf den Grundrechtekatalog des Grundgesetzes und eine entsprechende verfassungsgerichtliche Prüfung daher weiterhin möglich.19 Damit schloss das Bundesverfassungsgericht an seine bisherige Rechtsprechung an, wonach Unionsrecht möglichst grundrechtschonend in nationales Recht zu transformieren sei. Mit anderen Worten müsse also der gesetzgeberische Spielraum, etwa bei der Umsetzung von Richtlinien, zugunsten der Grundrechte ausgenutzt werden.20 In Anlehnung an die im Lissabon-Urteil besonders betonte Ultra-vires-Kontrolle hielt das Gericht aber auch eine Überprüfung der angegriffenen Vorschriften, die auf zwingendem Unionsrecht beruhen, anhand nationaler Grundrechte für möglich, soweit die Beschwerdeführer geltend machten, dass es der Richtlinie 2006/24/EG an einer europarechtlichen Kompetenzgrundlage fehle. In einem solchen Fall wäre allerdings die Nichtigerklärung der Richtlinie durch den EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Artikel 267 AEUV Grundvoraussetzung „für eine Überprüfung der angegriffenen Vorschriften am Maßstab der deutschen Grundrechte.“21 Die Möglichkeit eines solchen Vorabentscheidungsverfahrens und damit einer solchen Grundrechtsprüfung schloss der Erste Senat nun jedenfalls nicht von vornherein aus und hielt folglich die Verfassungsbeschwerde für zulässig.22 Damit macht das Bundesverfassungsgericht einen weiteren Schritt hin zu einer Einbindung des EuGH in das nationale Rechtsschutzsystem: Der EuGH wird insofern seitens des Bundesverfassungsgerichts wie ein deutsches Gericht behandelt, dessen Zuständigkeit somit auch Karlsruhe 15

BVerfG, ebd. BVerfG, ebd., Rn. 181. 17 BVerfG, ebd., Rn. 181. 18 BVerfG, ebd., Rn. 182. 19 BVerfG, ebd., Rn. 182. 20 So schon: Urteil zum Europäischen Haftbefehl (BVerfGE 113, 273 = NJW 2005, S. 2289), vgl. auch Tomuschat, Christian, EuGRZ 2005, S. 453 (460). 21 BVerfG, ebd., Rn. 182. 22 BVerfG, ebd., Rn. 182, 185. 16

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respektiert.23 Auch eine Vorlage des Verfassungsgerichts selbst an den EuGH scheint nun möglich.24 Zu einer Vorlage des Bundesverfassungsgerichts an den EuGH nach Art. 267 AEUV kam es aber letztlich dennoch nicht. Das Bundesverfassungsgericht hielt nämlich eine Umsetzung der Richtlinie ohne Verstoß gegen Grundrechte für möglich, weshalb die Wirksamkeit der Richtlinie nach Ansicht des Gerichts nicht entscheidungserheblich war.25 Damit war implizit auch gesagt, dass das Bundesverfassungsgericht die Richtlinie 2006/24/EG nicht als durch einen Akt „ultra vires“ zustande gekommen ansah, denn andernfalls wäre die Nichtigerklärung ja sehr wohl entscheidungserheblich gewesen.26 Hierbei ist einzuschränken, dass damit noch nicht gesagt ist, die Richtlinie sei aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts kompetenzgemäß erlassen worden. Man wird jedoch die verfassungsrichterliche Zurückhaltung als Anerkennung des EuGH-Urteils zur selben Richtlinie ansehen können.27 Zumindest geht der Erste Senat damit davon aus, dass diese EuGH-Entscheidung selbst nicht als ultra-vires zu qualifizieren ist.28 Zudem gehen die Verfassungsrichter aus Karlsruhe so einem Konflikt mit Luxemburg aus dem Weg, denn eine Nichtigerklärung der Richtlinie wegen Kompetenzwidrigkeit in einem (nochmaligen) Vorabentscheidungsverfahren hätte als wenig aussichtsreich angesehen werden müssen: Eine darauf gerichtete Vorlagefrage konnte nämlich bereits deshalb als unzulässig angesehen werden, weil in eben dieser Sache schon entschieden worden war.29 Die Zurückhaltung des Ersten Senats, einerseits die durchaus relevante Entscheidung des EuGH zu thematisieren und andererseits die Verfassungsbeschwerde zuzulassen mit der Begründung, dass eine Nichtigkeitserklärung im Rahmen eines Vorlageverfahrens vor dem EuGH möglich erscheine, kann inso23 Vgl. nur BVerfG, ebd., Rn. 182, so auch Bäcker, Matthias, Solange IIa oder Basta I?, Das Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus europarechtlicher Sicht, EuR 2011, S. 103 (110 f.). 24 Ähnlich zur Honeywell-Entscheidung (vgl. BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7. 2010, Rn. 60), die hier schon anklingt: Frenz, Walter, Kastriertes Lissabon-Urteil? Die Relativierung durch den „Mangold“-Beschluss vom 6.7.2010, EWS 2010, S. 401 (403). 25 BVerfG, ebd., Rn. 185–187. 26 Kritisch hierzu auch Wolf, Heinrich Amadeus, Vorratsdatenspeicherung – der Gesetzgeber gefangen zwischen Europarecht und Verfassung?, NVwZ 2010, S. 751. 27 EuGH, Urteil vom 10.02.2009 – C-201/06 (Irland/Parlament); darin hat der EuGH die Binnenmarktkompetenz der Union gem. Art. 95 EG (nunmehr Art. 114 AEUV) als Rechtsgrundlage der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung anerkannt; zu dieser vielkritisierten Entscheidung vgl. nur: Kindt, Anne, Die grundrechtliche Überprüfung der Vorratsdatenspeicherung: EuGH oder BVerfG – wer traut sich?, MMR 2009, S. 661. 28 Anders als im Urteil „Honeywell“ geht das BVerfG hier allerdings nicht auf die vorherige Rechtsprechung des EuGH ein. 29 Dies folgt jedenfalls für die Kompetenzfrage zwingend aus der „acte claire“ – Doktrin des EuGH; zu dem Verdacht das BVerfG gehe einem Konflikt mit dem EuGH aus dem Weg auch: Wolf, a. a. O. (Fn. 26), S. 751.

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fern nur als deutliche Warnung an den EuGH verstanden werden.30 Denn über diese Konstruktion hat sich der Erste Senat die Möglichkeit eröffnet, die gesamte Rechtslage auch materiell zu betrachten und das obwohl, wie soeben festgestellt, eine Vorlage wegen Kompetenzwidrigkeit an den EuGH wohl nicht zulässig wäre. Man wird insofern wohl mit der Schlussfolgerung nicht fehlgehen, dass das Bundesverfassungsgericht ein Exempel statuieren wollte. Es sollte die grundsätzlich bestehende Zuständigkeit in dieser Sache seitens des Verfassungsgerichts betont werden. Dogmatisch unsauber erscheint dabei allerdings die Vermengung der Frage von Ultra-vires-Kontrolle mit derjenigen der Grundrechtskonformität, denn auch bei Letzterer hätte das Bundesverfassungsgericht, was die zwingend in der Richtlinie geregelten Normen betrifft, auf das Vorlageverfahren verweisen müssen.31 Es schlussfolgert jedoch, dass „auf diesem Weg eine Prüfung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes nicht von vornherein ausgeschlossen ist“.32 Dies muss nicht unbedingt auf eine Abkehr von der Solange-Rechtsprechung hinweisen, sondern ist wohl der Tatsache geschuldet, dass das Verfassungsgericht in der Zulässigkeit seine Reservekompetenz betonen wollte, es im Ergebnis aber nicht auf einen Vorrang des europäischen Rechts ankam.33 Damit laviert sich das Bundesverfassungsgericht, was den materiell-rechtlichen Teil des Urteils angeht, um die Frage der Kompetenzwidrigkeit der Richtlinie herum. Die Argumentation hierfür ergibt in letzter Konsequenz, dass eine bundesgesetzliche Regelung mit der grundsätzlichen Anordnung der Speicherung von TK-Daten auf Vorrat auch dann Bestand haben kann, wenn die Richtlinie, aus deren Anlass die Anordnung erfolgte, wegen Kompetenzwidrigkeit keine Bindungswirkung für Deutschland entfalten kann. Die politisch gewollte Befolgung von nichtbindendem Unionsrecht wäre demnach unschädlich und rechtlich nicht anfechtbar. In der Sache selbst ist die Entscheidung daher als letztlich europarechtsfreundlich zu werten: indem das Bundesverfassungsgericht eine grundgesetzkonforme Umsetzung der Richtlinie für möglich hält, lässt es das europäische Sekundärrecht (man will fast sagen: noch) unangetastet und weist in diesem Fall die Pflege der Grundrechte im Wesentlichen dem deutschen Gesetzgeber bei der Umsetzung zu.34 Zwar ist die Richtline nach dem Urteil nunmehr in Deutschland nicht anwendbar, was einen Verstoß gegen die Umsetzungspflicht gem. Art. 288 AEU und Art. 4 EU darstellt, dies stellt jedoch wegen des Eingriffscharakters der Vorratsdatenspeicherung und der Ausfüllungsbedürftigkeit die einzig handhab30

So auch Wolf, a. a. O. (Fn. 26), 751. Irritiert hierüber auch im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung: Westphal, Dietrich, Leitplanken für die Vorratsdatenspeicherung – Abrücken von „Solange“, Das Urteil des BVerfG vom 2.3.2010, EuZW 2010, S. 494 (497). 32 BVerfG, Urteil vom 2.3.2010 – 1 BvR 256/08 u. a., Rn. 181. 33 BVerfG, ebd., Rn. 184, 186. 34 Dagegen Bäcker, Matthias, Solange IIa oder Basta I?, Das Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus europarechtlicher Sicht, EuR 2011, S. 103 (115 ff.). 31

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bare Maßnahme dar und sollte nicht als „unfreundlicher Akt“ gegenüber Europa verstanden werden.35 Eine Kassation der in Frage stehenden Gesetze nur insoweit, dass die gesetzlichen Regelungen zur Umsetzung des zwingenden Unionsrechts bestehen bleiben, scheint wegen der normativen Verflechtung der Materie gänzlich ausgeschlossen. Das Gericht betont weiterhin die hohe Aussagekraft von gespeicherten Telekommunikationsdaten und daher den Bedarf an detaillierten gesetzlichen Vorgaben für Sicherheitsstandards.36 Außerdem müssten hohe Hürden für die Verwendung solcher Daten aufgestellt werden37 und der Umgang mit ihnen transparent geschehen.38 Dem gläsernen Bürger erteilt das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich eine Absage: „Eine vorsorglich anlasslose Speicherung aller Telekommunikationsverkehrsdaten über sechs Monate ist unter anderem deshalb ein so schwerwiegender Eingriff, weil sie ein Gefühl des ständigen Überwachtwerdens hervorrufen kann; sie erlaubt in unvorhersehbarer Weise tiefe Einblicke in das Privatleben, ohne dass der Rückgriff auf die Daten für den Bürger unmittelbar spürbar oder ersichtlich ist. Der Einzelne weiß nicht, was welche staatliche Behörde über ihn weiß, weiß aber, dass die Behörden vieles, auch Höchstpersönliches, über ihn wissen können.“ 39

Einerseits genügten, so das Gericht, die angegriffenen Vorschriften hinsichtlich des Datenschutzes und der hohen grundrechtlichen Hürden zur Verwendung der Daten den Anforderungen nicht und seien daher im Hinblick auf Art. 10 Abs. I GG unverhältnismäßig.40 Andererseits, so der Erste Senat, verbiete das Grundgesetz eine anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat „nicht unter allen Umständen“.41 Eine Verletzung des Art. 12 Abs. I GG hinsichtlich der Berufsausübungsfreiheit der Betreiber kann das Bundesverfassungsgericht dagegen nicht erkennen.42 Es offenbart sich nun auch das Dilemma der Verfassungsrichter in diesem Fall, denn auf der einen Seite zeigt sich das Bemühen, das Unionsrecht möglichst unangetastet zu lassen, auf der anderen Seite aber auch das Bestreben, die strenge Rechtsprechung zur staatlichen Überwachung intakt zu lassen. Dass dies der Klarheit und inneren Logik des Urteils nicht immer zuträglich ist, zeigt etwa folgender Satz: „(. . .) eine anlasslose Speicherung der TK-Verkehrsdaten unterfällt nicht schon als solche dem strikten Verbot einer

35 So aber Bäcker, Matthias, Solange IIa oder Basta I?, Das Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus europarechtlicher Sicht, EuR 2011, S. 103 (115 ff.). 36 BVerfG, ebd., Rn. 222–225. 37 BVerfG, ebd., Rn. 231 ff. 38 BVerfG, ebd., Rn. 239. 39 BVerfG, ebd., Rn. 241. 40 BVerfG, ebd., Rn. 270–285, zusammenfassend: Rn. 292. 41 BVerfG, ebd., Rn. 187. 42 BVerfG, ebd., Rn. 293 ff.

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Speicherung von Daten auf Vorrat i. S. d. Rspr. des BVerfG.“ 43 Allein dieser Satz verdeutlicht das Dilemma des Zweiten Senates und seinen Versuch einer Quadratur des Kreises zu vollbringen: Auf der einen Seite will man dem grundrechtlich sensiblen Thema der Datenspeicherung gerecht werden, auf der anderen Seite ist man bestrebt, möglichst europarechtsfreundlich zu urteilen. Dass dies nicht ohne Brüche gelingen kann, wird hieran nur überdeutlich. In der Gesamtschau muss das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung daher wohl als der dogmatisch nicht immer geglückte Versuch verstanden werden, hohe Grundrechtsstandards und Europarechtsfreundlichkeit zu einem Ausgleich zubringen. III. Der Honeywell-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Beschwerdeführer in dem zweiten zu besprechenden Verfahren war ein Unternehmen im Bereich der Automobilzulieferungsindustrie (Honeywell).44 Im Februar 2003 hatte das Unternehmen mehrere befristete Arbeitsverträge abgeschlossen. Die Befristung war jeweils ohne sachlichen Grund erfolgt. Denn nach der im Jahre 2003 geltenden Fassung des § 14 III Satz 4 TzBfG konnte von der notwendigen Angabe eines sachlichen Grundes als Rechtfertigung für die Befristung des Arbeitsverhältnisses abgewichen werden, wenn der Arbeitnehmer zu Beginn des Arbeitsverhältnisses das 52. Lebensjahr bereits vollendet hatte. Ein Arbeitnehmer, der unter den geschilderten Umständen eingestellt worden war, hatte in einem erfolgreichen Verfahren zuletzt vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG) gegenüber der Beschwerdeführerin die Unwirksamkeit der Befristung geltend gemacht.45 Das BAG erklärte die Befristung des Arbeitsverhältnisses für unwirksam und verwies zur Begründung auf das Mangold-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 22. November 2005.46 Darin hatte der EuGH festgestellt, dass die nationale Regelung des § 14 III Satz 4 TzBfG weder mit der Antidiskriminierungsrichtlinie (2000/78/RG) noch mit dem allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung zu vereinbaren sei. Nunmehr machte der Beschwerdeführer in seiner Verfassungsbeschwerde geltend, durch das Urteil des BAG insofern in seinen Rechten verletzt worden zu sein, als dass der EuGH in seinem Urteil vom 22. November 2005, auf dessen Ausführungen das BAG verweist, seine Kompetenzen mehrfach überschritten habe. Ferner machte Honeywell Verletzungen seiner Rechte auf Vertragsfreiheit, 43

BVerfG, ebd., Rn. 205. Daher wird BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6. Juli 2010 = NJW, 2010, S. 3422, oftmals auch als „Mangold II“ bezeichnet; i. S. einer besseren Unterscheidbarkeit für die verfassungs- und europarechtliche Rechtsprechung, wurde hier jedoch als Titel „Honeywell“ gewählt. 45 BAG, Urteil vom 26.04.2006 – 7 AZR 500/04. 46 EuGH, Urteil vom 22.11.2005, Aktenzeichen/Fundstelle: C-144/04 = NZA 2005, S. 1345 (Mangold). 44

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Vertrauensschutz sowie des Rechtes auf den gesetzlichen Richter geltend. Das Bundesverfassungsgericht ließ die Beschwerde zunächst mit der Argumentation zu, dass die Möglichkeit einer Kompetenzüberschreitung des EuGH grundsätzlich bestehe und dass die Beschränkung des Verfassungsgerichts in Bezug auf diese Kompetenzüberschreitung erst noch zu präzisieren sei.47 Ebendiese Präzisierung nimmt der Zweite Senat dann auch in der folgenden materiell-rechtlichen Begründetheitsprüfung vor. Im Ergebnis wies das Bundesverfassungsgericht die Beschwerde allerdings als unbegründet zurück, da es keine hinreichend qualifizierte Kompetenzüberschreitung des EuGH feststellen konnte und demnach eine Verletzung des Beschwerdeführers in seiner Vertragsfreiheit ausschied. Die Herleitung des allgemeinen Grundsatzes des Verbots der Altersdiskriminierung durch den EuGH stelle demnach keine für eine entsprechende Rechtsverletzung zu fordernde Kompetenzüberschreitung i. S. d. Lissabon-Urteils dar.48 Denn eine Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht komme grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert sei.49 Dabei fordert der Zweite Senat sehr hohe Voraussetzungen für diese „hinreichende Qualifikation“: Die Kompetenzwidrigkeit müsse einerseits offensichtlich sein und der jeweilige Rechtsakt andererseits „im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten“ führen.50 Eine solch schwerwiegende Kompetenzverletzung kann das Bundesverfassungsgericht vorliegend aber nicht erkennen. Gleichzeitig lässt das Gericht offen, ob es in der EuGH-Entscheidung eine „einfache Kompetenzwidrigkeit“ sehen würde und ob sich die verwendete Definition der „hinreichenden Qualifiziertheit“ von Kompetenzüberschreitungen nur auf Gerichtsurteile oder auch auf Unionsrechtsakte insgesamt beziehe.51 Das Verfassungsgericht geht allerdings davon aus, dass der EuGH im Wege des Vorlageverfahrens auch in verfassungsgerichtliche Streitigkeiten einzubeziehen sei, bei denen Akte anderer Unionsorgane in Rede stehen.52 Dann wäre jede verfassungsgerichtliche Entscheidung zur Kompetenzwidrigkeit immer auch eine Entscheidung über die Rechtsprechung des EuGH selbst, welcher Karlsruhe ausdrücklich Autonomie zubilligt.53 Das dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu Grunde liegende „Mangold“-Urteil des EuGH sah sich zuvor bereits großer Kritik ausgesetzt und

47 48 49 50 51 52 53

BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 45 und 47. BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 49 und 68. BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 61. BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 71. BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 66 ff. BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 60. BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 66.

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wurde in der Literatur teilweise sogar als ausbrechender Rechtsakt qualifiziert.54 Daher beschäftigte sich der Zweite Senat zunächst mit der Frage, ob der Europäische Gerichtshof in der Mangold-Entscheidung seine Kompetenzen überschritten habe und in welchem Umfang ihm eine Prüfungskompetenz hinsichtlich solcher Überschreitungen zustehe. Das Gericht stellt in seiner Begründung zunächst das Spannungsfeld zwischen dem Vorrang unionsrechtlicher Rechtsakte und der auf nationaler Ebene bestehenden Möglichkeit einer Ultra-vires-Kontrolle dar. Diese Ultra-vires-Verfahren, so schränkt das Verfassungsgericht ein, seien „mit der vertraglich dem Gerichtshof übertragenen Aufgabe zu koordinieren“.55 Insofern wird hierin ausdrücklich das von Karlsruhe postulierte Kooperationsverhältnis zum EuGH genannt und dem EuGH die verbindliche Auslegung des Unionsrechts zugesprochen.56 In der Konsequenz ergibt sich auch für die verfassungsrechtliche Ultra-vires-Kontrolle, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen des Gerichtshofs grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts beachtet.57 Bei der Herleitung der Definition der „hinreichenden Qualifikation“ von Ultra-vires-Akten stützt sich das Bundesverfassungsgericht zudem ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EuGH, was das Bemühen des Zweiten Senats um einen Gleichklang von Europa- und Verfassungsrecht nochmals verdeutlicht.58 Für einen ersichtlichen Kompetenzverstoß wird dabei eine Überschreitung des durch Art. 23 GG verfassungsrechtlich geschützten Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung in „einer spezifisch verletzenden Art“ gefordert, der zudem bzgl. der rechtsstaatlichen Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fallen müsse.59 Damit gestaltet das Bundesverfassungsgericht die Ultra-vires-Kontrolle als eine Art Willkürkontrolle aus, die, wie es auch selbst feststellt, bei den rechtsstaatlichen Verfahren innerhalb der Union nur selten Anwendung finden werde.60 Ausdrücklich erkennt der Zweite Senat auch die Kompetenz des EuGH an, Rechtsfortbildung zu betreiben und beschränkt ihn daher nicht bloß auf die Überwachung der Einhaltung von Vertragsbestimmungen.61 Bemerkenswert hieran ist, dass das Bundesverfassungsgericht explizit betont, „diese Befugnis stets aus54 Siehe dazu nur: Gerken, Lüder/Rieble, Volker/Roth, Günter H./Stein, Torsten/ Streinz, Rudolf, „Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt, München 2009. 55 BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 56. 56 BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 57. 57 BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 60; vgl. auch: BVerfGE 123, 267 (353). 58 Vgl. zur Formulierung „hinreichend qualifiziert“ als Tatbestandsmerkmal im unionsrechtlichen Haftungsrecht etwa EuGH, Urteil vom 10.7.2003, Rs. C-472/00 P, Fresh Marine, Slg. 2003, S. I-7541 Rn. 26 f.; vgl. auch dazu Hobe, Stephan, Europarecht, 5. Aufl., § 12, Rn. 208. 59 BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 60, 61. 60 BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 59 ff.; sehr kritisch hierzu Landau in seinem Sondervotum: BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 103.

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drücklich anerkannt“ zu haben,62 was als Hinweis auf das aus seiner Sicht möglicherweise missverstandene Lissabon-Urteil verstanden werden kann. Daher streicht das Gericht wohl auch die positiven Aspekte der Rechtsfortbildung heraus, die zu „einer der grundlegenden Verantwortung der Mitgliedstaaten über die Verträge gerecht werdenden Kompetenzabgrenzung zu den Regelungsbefugnissen des Unionsgesetzgebers beitragen.“ 63 Gleichzeitig betont das Bundesverfassungsgericht, warum es bei der Ausübung seiner Reservekompetenz in Sachen Kompetenzüberschreitung Zurückhaltung habe walten lassen. Hierbei legt es besonderen Wert auf das „supranationale Integrationsprinzip“ sowie die Wahrung von „Aufgabe und Stellung der unabhängigen überstaatlichen Rechtsprechung“. Zudem gesteht es dem EuGH einen Anspruch auf Fehlertoleranz zu: „Daher ist es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, bei Auslegungsfragen des Unionsrechts, die bei methodischer Gesetzesauslegung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen.“ 64

Gestützt auf die Ex-tunc-Wirkung von Entscheidungen des EuGH in Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV lässt das Bundesverfassungsgericht auch keine Berufung auf Vertrauensschutz zu, zeigt aber die Möglichkeit auf, innerstaatlich einen Ausgleich für Vermögenseinbußen zu schaffen, die aus Dispositionen herrührt, welche im Vertrauen auf die Gültigkeit der nationalen Rechtslage getroffen worden seien.65 Auch eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG konnte der Zweite Senat nicht erkennen, denn das Bundesarbeitsgericht habe nach dem angelegten Willkürmaßstab in vertretbarer Weise davon ausgehen können, dass die Rechtsprechung des EuGH hinreichend klar und ein nachträglicher Vertrauensschutz nicht zu gewähren sei.66 Im Ganzen betrachtet liegt die Leistung des Bundesverfassungsgerichts in der Entscheidung Honeywell wesentlich in der Schaffung einer präzisen Definition zur Anwendung der im Lissabon-Urteil angelegten Ultra-vires-Kontrolle. Hierbei ist zu erwarten, dass, wie bereits in der Entscheidung angeklungen, für zukünftige Klagen der erforderlich „hinreichend qualifizierte“ Kompetenzverstoß der Unionsorgane bereits in der Zulässigkeit nachgewiesen werden muss.67 Solange aber die europäischen Institutionen sich innerhalb eines rechtsstaatlichen Rahmens bewegen, der eben auch eine Fehlertoleranz zulässt, wird die praktische Relevanz der verfassungsgerichtlichen Ultra-vires-Kontrolle eng begrenzt blei61 Vgl. zur über die Auslegung des Vertragstextes gehenden richterlichen Rechtsfortbildung Hobe, Stephan, Europarecht, 5. Aufl., § 10, Rn. 51 ff. 62 BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 62. 63 BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 62. 64 BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 66. 65 BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 85. 66 BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 91. 67 Vgl. BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 47.

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ben. Ebendies bemängelt gerade auch das Sondervotum des Richters Landau.68 Dadurch, dass der Zweite Senat jedoch die verfassungsgerichtliche Ebene und die Ebene der europäischen Gerichtsbarkeit weiter verknüpft hat und hier ausdrücklich die Möglichkeit eines von Karlsruhe angestrengten Vorlageverfahrens in den Blick genommen wird, wird im Ergebnis ein recht ausgewogener Ausgleich der Ebenen geschaffen. Was erkennbar wird, ist ein Damoklesschwert, welches als Warnung über den europäischen Institutionen und insbesondere dem EuGH hängt und gebietet, das europarechtliche Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ernst zu nehmen. Aus europarechtlicher Sicht stellt sich dabei die Frage, ob dieses Damoklesschwert die Fortentwicklung des Unionsrechts behindern wird und ob etwa mutige Urteile wie die Herleitung des europarechtlichen Anwendungsvorrang in Costa/ENEL69 auch in Zukunft noch möglich sein werden. Das Bundesverfassungsgericht hat jedenfalls mit der Entscheidung in Sache Honeywell den Faden des Schwertes zu einem Seil verstärkt und steht auch zukünftig einer progressiven Rechtsfortbildung durch den EuGH jedenfalls solange nicht im Wege, solange dieser die in seiner jüngeren Rechtsprechung demarkierten roten Linien nicht überschreitet. IV. Der Zweite Senat als zwölfte Fee für das Unionsrecht? Im Märchen wandelt die zwölfte Fee das Todesurteil für Dornröschen, welches sie nur mildern, nicht jedoch aufheben kann, in einen hundertjährigen Schlaf um; ähnlich zauberhaft agiert auch der Zweite Senat mit seinem Honeywell-Beschluss: Es hebt die wohl als (zu) streng empfundenen Anforderungen des Lissabon-Urteils nicht auf, aber präzisiert die Reservekompetenz des Bundesverfassungsgerichts so, dass ein Einschreiten Karlsruhes „einmal in hundert Jahren“ zu erwarten ist, also nur in exzeptionellen Einzelfällen.70 Eine offensichtliche Kompetenzwidrigkeit und eine erhebliche Kompetenzverschiebung durch einen einzigen Unionsrechtsakt, nunmehr die entscheidenden Qualifikationsmerkmale Karlsruhes für die Kassation eines Unionsrechtsaktes, wird man in der bisherigen europäischen Rechtspraxis jedenfalls vergeblich suchen.71 Dies ist schon deswegen interessant, weil der Zweite Senat damit seine eigene Rechtsprechung so präzisiert, dass sie sogar bisweilen als „dem Geiste des Lissabon-Urteils diametral entgegenstehend“ qualifiziert werden könnte.72 68

BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6. Juli 2010, Rn. 103. EuGH, Urteil vom 15.7.1964, Rs. 6/64 = Slg. 1964, 1253. 70 Dies bemängelt auch das Sondervotum des Richters Landau (a. a. O.) und so mutmaßt wohl auch Frenz, Walter, Kastriertes Lissabon-Urteil? Die Relativierung durch den „Mangold“-Beschluss vom 6.7.2010, EWS 2010, S. 401 (402). 71 So mutmaßt wohl auch: Stein, Torsten, Zwischenruf – Arrivederci Karlsruhe . . ., ZRP 2010, S. 265. 69

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Tatsächlich liest sich das Lissabon-Urteil phasenweise wie ein (über-)langes obiter dictum, eine Art Handbuch für den Gesetzgeber zum Umgang mit dem Unionsrecht. Dies macht auch den Umgang mit dieser Entscheidung nicht eben einfach. Karlsruhe lässt das Unionsrecht intakt und fordert lediglich am nationalen Recht Änderungen unter gleichzeitiger Hervorhebung seiner Reservekompetenz. Diese Kompetenz, dies ist nun klargestellt, versteht das Bundesverfassungsgericht in der Tat nur als Reserve, als ultima ratio für die Bewahrung von Verfassungsgrundsätzen.73 In Anbetracht des nunmehr zu erwarteten oder jedenfalls zu hoffenden Gleichklangs von nationalen und europäischen Verfassungsgrundsätzen74 sind Konflikte jedoch kaum zu erwarten. In dieses Konzept fügt sich auch die Entscheidung zur Vorratsdatenspeicherung ein, denn auch hier nimmt das Bundesverfassungsgericht, was die materiellrechtliche Prüfung angeht seine Kompetenz zurück und verweist auf die Möglichkeiten des Vorlageverfahrens.75 In der Zusammenschau mit dem HoneywellBeschluss wird damit deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht bei solchen Vorlageverfahren im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde auch solche Voten des EuGH respektieren wird, die zwar kompetenzwidrig, aber eben nicht hinreichend qualifiziert kompetenzwidrig sind. Die Tendenz Karlsruhes, sich somit bei der Kontrolle „gewöhnlicher Unionsrechtsakte“ zurückzuhalten, wird daher auch hierin deutlich und das Bundesverfassungsgericht gewährt damit den europäischen Akteuren, allem voran dem EuGH, einen erheblichen Handlungsspielraum. Gleichzeitig belässt das Gericht aber auch sich selbst einen erheblichen Auslegungsspielraum in Bezug auf Kompetenzüberschreitungen, denn die Qualifikationen „offensichtlich und erheblich“ erscheinen unzweideutig als offene Rechtsbegriffe, die das Bundesverfassungsgericht selbst nach Belieben füllen kann. Die vordergründige Rücknahme der eigenen Prüfungskompetenz ist daher implizit

72 So Wuermeling, Joachim, Was bleibt noch vom Lissabon-Urteil? Kurzkommentar zur Mangold-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.8.2010 (abgerufen zuletzt am 07.02.2011 auf http://www.europa-union.de/fileadmin/files_eud/PDF-Da teien_EUD/AG_Europa-Professionell/Was_bleibt_von_Lissabon_Kommentar_zur_BVerf GE_Mangold_von_J._Wuermeling.pdf) diese Kritik ist aber auch schon im Sondervotum zum „Honeywell“ – Urteil zu hören: Landau, BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6. Juli 2010, Rn. 102; ähnlich: Schönberger, Christoph, Erwiderung, Der introvertierte Rechtsstaat als Krönung der Demokratie? – Zur Entgrenzung von Art. 38 GG im Europaverfassungsrecht, JZ 2010, S. 1160. 73 BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 101; so auch schon die berechtigte Hoffnung nach dem Lissabonurteil: Ruffert, Matthias, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, DVBl. 2009, S. 1197 (1205). 74 Beitritt der EU zur EMRK, sowie Rechtsverbindlichkeit der Europäischen Grundrechtecharta. 75 BVerfG, Urteil vom 2.3.2010 – 1 BvR 256/08 u. a. = Verkürzt: NJW 2010, S. 833, Rn. 182.

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auch mit einer Mahnung an die europäischen Institutionen verbunden, die ihnen zur Verfügung stehenden Kompetenzen nicht zu überdehnen. Von einer Abkehr des Bundesverfassungsgerichts von der Solange-Rechtsprechung kann nach alledem trotzdem keine Rede sein.76 Vielmehr erlauben es die drei Entscheidungen zum Lissabon-Vertrag, zur Vorratsdatenspeicherung und in Sachen Honeywell nunmehr ein Bild dergestalt zu zeichnen, dass die SolangeFormel auf alle Verfassungsvorbehalte übertragen wird. Zu erwarten ist daher, dass in zukünftigen Verfahren vor dem Verfassungsgericht bereits in der Zulässigkeit die Darlegung zumindest der Möglichkeit eines hinreichend qualifizierten Kompetenzverstoßes gefordert werden wird.77 Mit den Kriterien der „Offenkundigkeit“ und der „gewichtigen Kompetenzverschiebung“ werden die Hürden hierfür allerdings mindestens ebenso hoch wie nach der Solange-Doktrin angesetzt. Eine tatsächliche Ausweitung der bisherigen Kontrolle und der Zugriff auf einzelne EU-Rechtsakte stehen daher wohl nicht in Rede.78 Nach dem Solange-Vorbehalt, bezogen auf Grundrechte,79 kann man daher mit Fug und Recht behaupten, dass das BVerfG nun auch einen Solange-Vorbehalt bezüglich ausbrechender Rechtsakte der EU80 und schließlich bezüglich der Verfassungsidentität entwickelt hat.81 Wie insbesondere die Entscheidung in Sachen Honeywell zeigt, ist allerdings vorläufig nicht zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht diese dreidimensionale Reservekompetenz extensiver als bisher nutzen wird. Vielmehr wird Karlsruhe daran gelegen sein, auch um eine Prozessflut zu verhindern, einen Gleichklang der prozessualen und inhaltlichen Voraussetzungen für die sich teilweise überschneidenden Vorbehalte zu erreichen.82 Das Bundesverfassungsgericht konzipiert insgesamt seine Rechtsprechung zum Europarecht zwischen zwei verfassungsrechtlichen Extrempunkten. Es ist dies einerseits das Demokratieprinzip, wie es in der „Brückenklausel“ des Art. 23 76 So aber: Westphal, Dietrich, Leitplanken für die Vorratsdatenspeicherung – Abrücken von „Solange“, Das Urteil des BVerfG vom 2.3.2010, EuZW 2010, S. 494 (497). 77 Dies impliziert jedenfalls die Honeywell- Entscheidung: BVerfG, Urteil vom 2.3. 2010 – 1 BvR 256/08 u. a. = Verkürzt: NJW 2010, S. 833, Rn. 45 und 47. 78 So aber: Sauer, Heiko, Europas Richter Hand in Hand? – Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH nach Honeywell –, EuZW 2011, S. 94 (96 f.). 79 BVerfGE 102, 147 (Rn. 62); BVerfGE 73, 339 (Rn. 132). 80 So fast schon explizit: BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 101. 81 Ähnlich auch schon: Augsberg, Steffen, Von der Solange- zur Soweit-Rechtsprechung: Zum Prüfungsumfang des Bundesverfassungsgerichts bei richtlinienumsetzenden Gesetzen, DÖV 2010, S. 153 (156 f.); der allerdings von einer „Soweit“-Formel redet und Ruffert, Matthias, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, DVBl. 2009, S. 1197 (1205). 82 Insofern steht nicht zu befürchten, dass etwa die Identitätskontrolle den SolangeVorbehalt unterlaufen wird, so aber Bäcker, Matthias, Solange IIa oder Basta I?, Das Vorratsdaten-Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus europarechtlicher Sicht, EuR 2011, S. 103 (118).

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GG zum Ausdruck kommt und andererseits die postulierte Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Lag die Betonung im Urteil zum Lissabon-Vertrag noch stark auf der nationalen verfassungsrechtlichen, eher staatlichen Kontouren und Prüfvorbehalte stärkenden Seite, so schwingt in den Urteilen Honeywell zur Altersdiskriminierung und zur Vorratsdatenspeicherung das Pendel in Richtung einer stärkeren Europafreundlichkeit zurück. Die hier diskutierten Urteile sind daher in der Tat eher als eine Rückkehr zur Solange-Rechtsprechung zu werten. Hatte das Lissabon-Urteil dabei noch sehr die europarechtlichen Überprüfungskompetenzen des Bundesverfassungsgericht in den Vordergrund gestellt, so werden diese Kompetenzen nun eher zurückhaltend interpretiert, so dass den Akteuren auf europäischer Ebene, allem voran dem EuGH, immer die Möglichkeit gegeben wird, etwaige Fehlentwicklungen noch zu korrigieren.83 Denn solange die europäischen Institutionen die Grundrechte honorieren, sich in ihren Kompetenzen bewegen und die nationale Verfassungsidentität beachten, wird das Bundesverfassungsgericht seine Kompetenz nicht ausüben. Das Karlsruher Damoklesschwert wird zwar weiter über dem Unionsrecht und dem EuGH schweben, es steht jedoch nicht zu befürchten, dass der (Gedulds-)Faden des Bundesverfassungsgericht in allzu naher Zukunft reißen wird. Bei allen kleineren Ungereimtheiten in der Argumentation ist so doch ein grundsätzliches Wohlwollen des Bundesverfassungsgerichts für das „Projekt Europa“ zu beobachten. Dies illustriert insbesondere seine Entwicklung des Grundsatzes der „Europarechtsfreundlichkeit“ des Grundgesetzes, dessen praktische Wirkkraft nicht zuletzt die hier diskutierten Urteile deutlich gemacht haben.84 Welche weiteren rechtlichen Schlussfolgerungen dieser Grundsatz in Zukunft noch möglich machen könnte, soll an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Er gibt den Verfassungsrichtern jedoch eine Möglichkeit an die Hand, integrationspolitischen Erwägungen einen Verfassungsrang zu verleihen und damit auch anderen Verfassungsgütern gegenüber zu stellen. Dies zeigt: Gefahren für die europäische Einigung gehen jedenfalls, so haben nicht zuletzt die Erfahrungen der Finanz- und Eurokrise gelehrt, nicht wie von manchen behauptet, von Verfassungsrichtern aus Karlsruhe aus.85 Eine Abkehr von der Solange-Rechtsprechung lässt sich also in den Urteilen Honeywell und Vorratsdatenspeicherung nicht erkennen. Vielmehr wird diese Dogmatik von Mahnung einerseits und Zurückhaltung andererseits durch das 83

BVerfG, 2 BvR 2661/01 vom 6.7.2010, Rn. 60. Vgl. Lissabon-Urteil: BVerfGE 123, 267 (354); Honeywell: BVerfG, 2 BvR 2661/ 01 vom 6.7.2010, Rn. 58. 85 Dies suggeriert z. B. die Denkschrift: Pernice, Ingolf (u. a.), Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: – Auswege aus dem drohenden Justizkonflikt –, WalterHallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht, Berlin 2009 (abgerufen zuletzt am 07.02.2011 auf: http://www.whi-berlin.de/documents/whi-material0109.pdf). 84

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Verfassungsgericht ausgebaut und auf neue Bereiche der Verfassungskontrolle, namentlich den der Ultra-vires- und den der Identitätskontrolle erstreckt.86 Insgesamt muss daher das Fazit wohl eher lauten: Solange II ist tot – es lebe Solange III! Diese an die monarchische Erbfolge angelehnte Formel drückt die Kontinuität im Wandel, die das Bundesverfassungsgericht versucht, recht treffend aus: In einer immer vertiefteren Union wird die alte Solange II-Dogmatik auf andere (neu entwickelte) Verfassungsvorbehalte ausgeweitet. Aber ob dies angesichts des ja wohl erwartbaren Beitritts der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention dann das letzte Wort Karlsruhes in diesem Triangel der Gerichte gewesen sein wird, bleibt wiederum abzuwarten.

86 So im Ergebnis zustimmend auch: Sauer, Heiko, Europas Richter Hand in Hand? – Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH nach Honeywell –, EuZW 2011, S. 94 (97).

Die Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern verstößt gegen geltendes Unionsrecht Von Bernhard Kempen I. Mitgliedschaft wider Willen 1. Status und Funktion der Industrie- und Handelskammern

In der Bundesrepublik Deutschland gibt es, nach regionalen Bezirken gegliedert, 80 Industrie- und Handelskammern. Ihr rechtlicher Status ergibt sich aus dem „Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern“ 1. Nach § 3 Abs. 1 IHKG sind die Industrie- und Handelskammern Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sie werden nach Maßgabe ergänzender landesrechtlicher Rechtsvorschriften in den Bundesländern errichtet. Im Wesentlichen sind die Industrie- und Handelskammern in ihrem jeweiligen Bezirk nach Maßgabe der Gesetze für folgende Aufgaben zuständig: Interessenwahrnehmung für die Gewerbetreibenden, Förderung der gewerblichen Wirtschaft, Erstellung von gutachterlichen Stellungnahmen für Behörden und Gerichte, Ausstellung von dem Wirtschaftsverkehr dienenden Bescheinigungen, Überwachung und Förderung der kaufmännischen und gewerblichen Berufsbildung, Vereidigung von Sachverständigen, fachkundige Prüfung nach dem Waffengesetz (§ 21 WaffG), Sachkundeprüfung im Einzelhandel nach dem Arzneimittelgesetz (§ 50 ArzneimittelG), Gaststättenunterrichtung nach dem Gaststättengesetz (§ 4 Abs. 1 GastG), Fachkundeprüfung nach dem Personenbeförderungsgesetz (§§ 11, 54 PersonenbeförderungsG). Daneben halten sie für ihre Kammerzugehörigen ein Serviceangebot bereit (Beratung, Vorträge, Seminare, Schulungen). Mit ihren Tätigkeiten stehen die Industrie- und Handelskammern auch in Konkurrenz zu ihren eigenen Mitgliedern, etwa wenn es um Tätigkeiten in der Fort- und Weiterbildung geht. 2. Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern

Mit der gewerblichen Anmeldung werden Betriebe automatisch Mitglied in der Industrie- und Handelskammer ihres Gewerbebezirks. In § 2 Abs. 1 IHKG ist 1 IHKG vom 18.12.1956, BGBl. I S. 920, zuletzt geändert durch Gesetz vom 11.12. 2008, BGBl. I S. 2418.

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diese Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern geregelt. Die Bestimmung hat folgenden Wortlaut: „Zur Industrie- und Handelskammer gehören, sofern sie zur Gewerbesteuer veranlagt sind, natürliche Personen, Handelsgesellschaften, andere Personenmehrheiten und juristische Personen des privaten und des öffentlichen Rechts, welche im Bezirk der Industrie- und Handelskammer eine Betriebsstätte unterhalten (Kammerzugehörige).“ Dies bedeutet, dass kraft Gesetzes unmittelbar mit der Aufnahme einer unternehmerischen Tätigkeit die Pflichtmitgliedschaft in der jeweiligen Industrie- und Handelskammer des Bezirks hergestellt ist. Der Gewerbetreibende kann sich dieser Pflichtmitgliedschaft nicht entziehen. Weder kann er zwischen den Industrie- und Handelskammern frei wählen, noch kann er seine Pflichtmitgliedschaft durch Kündigung beenden. Kammerzugehörige sind, wie sich aus § 2 IHKG im Weiteren ergibt, alle Gewerbetreibenden, die zur Gewerbesteuer veranlagt sind, im Einzelnen natürliche Personen, Handelsgesellschaften und nicht rechtsfähige Personenmehrheiten und juristische Personen des privaten und des öffentlichen Rechts, welche im Bezirk der Industrie- und Handelskammer entweder eine gewerbliche Niederlassung oder eine Betriebsstätte oder eine Verkaufsstelle unterhalten. Dies gilt auch für natürliche Personen und Gesellschaften, welche ausschließlich einen freien Beruf ausüben oder Land- und Forstwirtschaft oder ein damit verbundenes Nebengewerbe betreiben, sofern sie in das Handelsregister eingetragen sind. Handwerksbetriebe, die neben dem Handwerk noch ein anderes Gewerbe betreiben, gehören ebenfalls mit ihrem nichthandwerklichen oder nichthandwerksähnlichen Betriebsteil der Industrie- und Handelskammer an. Alle Unternehmen im Inland sind demnach per Gesetz Mitglied einer Industrie- und Handelskammer, grundsätzlich davon ausgenommen sind lediglich reine Handwerksbetriebe, freie Berufe (z. B. Ärzte, Rechtsanwälte) und reine landwirtschaftliche Betriebe. Die Pflichtmitgliedschaft trifft dabei auch Gewerbetreibende aus anderen EU-Mitgliedstaaten und ausländische Gewerbetreibende aus Drittstaaten. § 2 IHKG enthält insoweit keinerlei Differenzierung. 3. Die Beitragspflicht in den Industrie- und Handelskammern

Als Kammerzugehöriger ist jeder Gewerbetreibende beitragspflichtig. Dabei unterscheidet das IHK-Gesetz zwischen Grundbeiträgen und Umlagen (§ 3 Abs. 3 IHKG). Die Bestimmungen über die Beitragsbemessung sind dabei im IHK-Gesetz in den letzten Jahren mehrfach geändert worden. In seiner aktuellen Fassung hat § 3 Abs. 3 IHKG folgenden Wortlaut: „Als Beiträge erhebt die Industrie- und Handelskammer Grundbeiträge und Umlagen. Der Grundbeitrag kann gestaffelt werden; dabei sollen insbesondere Art, Umfang und Leistungskraft des Gewerbebetriebes berücksichtigt werden.“ Auf der Grundlage dieser bundesgesetzlichen Regelung erlassen die Industrie- und Handelskammern Beitragsordnungen in der Gestalt von Satzungen. Die Beiträge werden in Form gestaffelter Grundbeiträge und Umlagen erhoben. Die Staffelung ergibt sich nach

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der gesetzlichen Vorgabe (§ 3 Abs. 3 Sätze 2 ff. IHKG), indem entweder die Gewerbeerträge oder die nach dem Einkommenssteuergesetz oder dem Körperschaftssteuergesetz ermittelten Gewinne zugrunde gelegt werden. Das Gesetz sieht vor, dass Kammerzugehörige unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. wenn der nach dem Einkommenssteuergesetz ermittelte Gewinn 5.200 Euro nicht übersteigt) von der Beitragspflicht freigestellt sind. Wegen der unterschiedlich hohen Gewerbeerträge bzw. Gewinne ergeben sich im individuellen Fall große Unterschiede in der konkret anfallenden Beitragslast. Verlässliche aktuelle Zahlen über den Durchschnittsbeitrag zu den Industrie- und Handelskammern liegen nicht vor. Nach dem Stand des Jahres 2003 lag der Durchschnittsbeitrag, wie die Bundesregierung 2003 erklärte, bei 161,00 Euro.2 Für das laufende Jahr 2010 gibt der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), der privatrechtsförmige Dachverband der Industrie- und Handelskammern, den Durchschnittsbeitrag mit 280,00 Euro an.3 4. Die Situation in anderen Mitgliedstaaten

Unter den 27 EU-Mitgliedstaaten kennen neben Deutschland lediglich sieben Staaten (Frankreich, Italien, Niederlande, Österreich, Spanien, Griechenland, Luxemburg) bei teilweise stark abweichender Aufgabenstellung eine Pflichtmitgliedschaft in Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft. In Frankreich werden die Kammern aus dem allgemeinen staatlichen Finanzaufkommen und nicht aus Beiträgen finanziert. In den Niederlanden bezieht sich die Pflichtmitgliedschaft nur auf die Führung des Handelsregisters durch die Kammer. In Österreich sind die Kammern Tarifpartei. Eine freiwillige Mitgliedschaft besteht in acht Staaten (Dänemark, Belgien, Schweden, Finnland, Portugal, Norwegen, Großbritannien, Irland). In 12 EU-Mitgliedstaaten sind öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungskörperschaften der Wirtschaft gänzlich unbekannt.4 II. Die verfassungsrechtliche Beurteilung Mehrfach hat sich das Bundesverfassungsgericht mit der Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern beschäftigt. Den Maßstab der verfas2 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage vom 28.05.2004, BTDrucks. 15/3265. 3 Interview mit dem Hauptgeschäftsführer des DIHK, Wansleben, vom 25.02.2010, www.dihk.de/print.php?url=/root/inhalt/themen/standortpolitik/news/meldung1199.html. 4 Quelle: Landtag Baden-Württemberg, Antwort der Landesregierung auf eine Große Anfrage vom 10.01.2003, LTDrucks. 13/1664, S. 9; vgl. auch Kristian, Handwerkskammern in Europa – ein Organisationsvergleich, 2004, dort auch jeweils zu den Industrieund Handelskammern in den einzelnen EU-Staaten.

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sungsgerichtlichen Überprüfung könnte dabei die negative Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG bieten. Insoweit entscheidet das Bundesverfassungsgericht aber in ständiger Rechtsprechung, dass der Schutzbereich dieses Grundrechts von vornherein nicht gegen die gesetzlich angeordnete Pflichtmitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Körperschaften in Ansatz gebracht werden könne. Der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 GG erfasse nur die durch das Merkmal des freiwilligen Zusammenschlusses geprägten privaten „Vereine“, nicht aber die gesetzlich konstituierten öffentlich-rechtlichen Körperschaften mit Pflichtmitgliedschaft. 5 Für das Bundesverfassungsgericht bildet, durchaus konsequent, das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG den richtigen Prüfungsmaßstab. Das Grundrecht biete neben vielem anderen auch Schutz gegen die Inanspruchnahme als Mitglied einer Zwangskorporation.6 Allerdings verbleibe dem Gesetzgeber angesichts dieses Grundrechts immer noch ein großer Gestaltungsspielraum, den er nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zur Errichtung von Zwangsverbänden nutzen könne. Die Zwangsmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern begegne dabei im Ergebnis keinen Bedenken. Sie verfolge ein verfassungslegitimes Ziel und entspreche den Anforderungen von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit. Das Bundesverfassungsgericht „verlangt vom Gesetzgeber allerdings die ständige Prüfung, ob die Voraussetzungen für eine öffentlich-rechtliche Zwangskorporation noch bestehen“ 7. Eine Änderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen könne eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung nach sich ziehen. Nach dem Stande des Jahres 1998 bleibe es aber bei der Verfassungslegalität des Systems der Industrie- und Handelskammern. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgen die Instanzgerichte in großer Einmütigkeit8, und auch das rechtswissenschaftliche Schrifttum teilt in weiten Teilen diese verfassungsrechtliche Beurteilung9. Dass das System einer Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern deshalb gleichsam in Stein gemeißelt wäre, lässt sich jedoch nicht sa5 Zuletzt BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 07.12.2001 – 1 BvR 1806/98 – unter Verweis auf die vorausgegangene Rechtsprechung: BVerfGE 10, 89 (102); 10, 354 (361 f.); 15, 235 (239); 38, 281 (297 f.). 6 BVerfGE 10, 89 (102); 10, 354 (363); 15, 235 (239); 38, 281 (297 f.). 7 BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 07.12.2001 – 1 BvR 1806/98 – Ziff. 38. 8 Beispielhaft: BVerwG, Urteil vom 19.01.2005 – 6 C 10/04 – GewArch 2005, 211; VG Stuttgart, Urteil vom 12.07.2007 – 4 K 3493/07 – GewArch 2008, 304; VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2009 – 2 K 650/06Me, 2 K 650/06 – beck-online – BeckRS 2009, 38117. 9 Jahn, IHK statt Staat – Das Bundesverfassungsgericht und die IHK-Pflichtmitgliedschaft, GewArch 2002, 98; Kluth, IHK-Pflichtmitgliedschaft weiterhin mit dem Grundgesetz vereinbar, NVwZ 2002, 298; Löwer, Verfassungsrechtsdogmatische Grundprobleme der Pflichtmitgliedschaft in Industrie- und Handelskammern, GewArch 2000, 89; Schöbener, Verfassungsrechtliche Aspekte der Pflichtmitgliedschaft in wirtschafts- und berufsständischen Kammern, VerwArch 2000, 374.

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gen. Der gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel mag früher oder später eine andere Beurteilung erzwingen oder der Gesetzgeber mag der Querelen um die Pflichtmitgliedschaft überdrüssig zu einem System freiwilliger Mitgliedschaft umschwenken. Vielleicht entfaltet aber auch jetzt schon das Recht der Europäischen Union einen Anpassungsdruck, dem die Pflichtmitgliedschaft zum Opfer fällt. III. Die europarechtliche Beurteilung im Licht der Grundfreiheiten Die IHK-Pflichtmitgliedschaft verstößt gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 Abs. 1 AEU), gegen die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 Abs. 1 AEU) und gegen Art. 14 Ziff. 2 der Dienstleistungsrichtlinie. 1. Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit, Art. 49 Abs. 1 AEU

a) Sachlicher Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit Der Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit ist eröffnet, weil es aa) tatbestandlich um einen Niederlassungsvorgang geht, und weil es bb) um einen grenzüberschreitenden Sachverhalt bzw. einen Fall der Inländerdiskriminierung geht. aa) Niederlassungssachverhalt Der Begriff „Niederlassung“ wird im Unionsrecht nicht definiert. Der Europäische Gerichtshof versteht darunter in ständiger Rechtsprechung „die tatsächliche Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit“10. Bei diesem weiten Begriffsverständnis kommt es – in Abgrenzung zur Dienstleistungsfreiheit – entscheidend darauf an, ob die in Frage stehende wirtschaftliche Tätigkeit in einer „festen Einrichtung“ ausgeübt wird und ob diese Tätigkeit auf unbestimmte Dauer angelegt ist. Während bei der Dienstleistungsfreiheit der Dienstleistungserbringer grundsätzlich in seinem Herkunftsstaat angesiedelt bleibt und sich – bei der sog. aktiven Dienstleistungsfreiheit – nur vorübergehend in einen anderen EU-Mitgliedstaat begibt, integriert sich der Niederlassungswillige vollständig in die Wirtschaftsordnung eines Mitgliedstaates. Wie Art. 49 Abs. 2 AEU ergänzend klarstellt, umfasst die Niederlassungsfreiheit dabei „die Aufnahme und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten“. Bezogen auf die Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern bedeutet dies, dass die Niederlassungsfreiheit in beiden Erscheinungsformen the10

EuGH Rs. C-221/89, Factortame I, Slg. 1991, I-3905 Rn 20.

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matisch berührt ist. Die Entscheidung eines Gewerbetreibenden, in Deutschland ein Gewerbe zu beginnen, die nach der Gewerbeordnung obligatorische Anzeige des Gewerbebeginns (§ 14 GewO) bzw. das Einholen bestimmter gewerberechtlicher Erlaubnisse oder Genehmigungen sowie die tatsächlichen Maßnahmen wirtschaftlicher Art, die der Gewerbetreibende vor der Aufnahme des Geschäftsbetriebs vornimmt, fallen unter das Sachverhaltsmerkmal „Aufnahme selbständiger Erwerbstätigkeiten“. Die IHK-Pflichtmitgliedschaft knüpft automatisch an die Anmeldung des Gewerbes und die Veranlagung zur Gewerbesteuer an, somit an einen Sachverhalt, der als „Aufnahme selbständiger Erwerbstätigkeit“ zu qualifizieren ist. Zugleich knüpft die andauernde unkündbare und beitragspflichtige Pflichtmitgliedschaft der Kammerzugehörigen Rechtsfolgen an die „Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeit“. Auch diese Variante der Niederlassungsfreiheit ist mithin thematisch berührt. bb) Grenzüberschreitender Sachverhalt oder Inländerdiskriminierung Zweifellos ist der sachliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit bei solchen Sachverhalten eröffnet, bei denen ein grenzüberschreitendes Element gegeben ist. Eine geradezu klassische Sachverhaltskonstellation, die den Anwendungsbereich des Art. 49 Abs. 1 AEU eröffnet, ist in der Vorschrift selbst genannt: die „freie Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats“. In dieser Konstellation entfaltet Art. 49 AEU seine genuine normative Kraft als Diskriminierungsverbot, indem es dem Aufenthaltsstaat grundsätzlich verboten ist, den ausländischen Niederlassenden schlechter zu behandeln als einen eigenen Staatsangehörigen, der sich niederlassen will. Keine klare Linie hat der Europäische Gerichtshof bei der Beantwortung der Frage gefunden, ob an dem Vorliegen eines grenzüberschreitenden Elements immer und notwendig festzuhalten ist. Problematisch sind die rein innerstaatlichen Sachverhalte, bei denen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit sich für Inländer im Vergleich zu EU-Bürgern in anderen Mitgliedstaaten nachteilig auswirken (sog. Inländerdiskriminierung oder discrimination à rebours). Der Europäische Gerichtshof hat einerseits entschieden, dass der Anwendungsbereich der Grundfreiheiten, z. B. der Niederlassungsfreiheit, grundsätzlich einen Sachverhalt mit grenzüberschreitendem Auslandsbezug voraussetze11. Andererseits finden sich aber auch Urteile und Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofs, in denen rein innerstaatliche Sachverhalte den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten er-

11 EuGH Rs. C-20/87 Gauchard, Slg. 1987, 4879 Rn. 10 ff.; C-29/94 – 35/94, Aubertin u. a., Slg. 1995, I-301 Rn. 9; verb. Rs. C-225-227/95, Kapasakalis, Slg. 1998, I4239.

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öffnen12, ebenso wie Entscheidungen, in denen nur ein entfernter Auslandsbezug als schutzbereichseröffnend für die Niederlassungsfreiheit angesehen wird13. Die wenig konsistente Rechtsprechung findet ihr Echo im rechtswissenschaftlichen Schrifttum, das in dieser Frage keine einheitliche Auffassung hat. Neben der von mehreren Autoren vertretenen pauschalen Zurückweisung rein innerstaatlicher Sachverhalte aus dem Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit14 gibt es auch differenzierende Stimmen15. Zunehmend wird vertreten, dass die Niederlassungsfreiheit auch bei Inlandssachverhalten thematisch berührt sei16. Die richtige Interpretation der Niederlassungsfreiheit erschließt sich erst im Blick auf den Sinn und Zweck dieser Grundfreiheit. Telos der Niederlassungsfreiheit ist es, den Marktbürgern eine allein aus wirtschaftlichen Rationalitätserwägungen begründete Entscheidung über den Ort ihrer gewerblichen Betätigung zu ermöglichen. Mit dieser Zwecksetzung verbunden ist die Vorstellung, dass nur eine ausschließlich ökonomischen Gesichtspunkten verpflichtete Standortwahl, einen freien, die Binnengrenzen überwindenden Wettbewerb zur Folge hat. Mit dieser Zielsetzung ist nicht die Vorstellung von einer vollständigen Aufhebung aller Unterschiede in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verbunden. Die Niederlassungsfreiheit beinhaltet keinen Auftrag zur Vollharmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Aber sie lässt Beschränkungen, gleich an welchem Ort sie eintreten, vor den normativen Vorgaben des unionalen Primärrechts als rechtfertigungsbedürftig erscheinen. Neben der teleologischen Struktur des Art. 49 AEU spricht auch dessen inhärente Sachverhaltslogik für eine Ausdehnung auf reine Inlandssachverhalte. Für den Waren- und Dienstleistungsverkehr wird man annehmen dürfen, dass den 12 EuGH Rs. C-250/03, Mauri, Slg. 2005, I-1267 Rn. 21; Rs. C-140/03, Kommisson/ Griechenland, Slg. 2005, I-3177 Rn. 28 f.; C-451/03, Servizi Ausiliari, Slg. 2006, I2941 Rn. 29; – zur Niederlassungsfreiheit; Rs. C-458/03, Parking Brixen, Slg. 2005, I8585 Rn. 50 ff.; Rs. C-231-03, Conane, Slg. 2005, I-7287 Rn. 17; Rs. C-410/04, ANAC, Slg. 2006, I-3303 Rn. 19 ff. – zur Dienstleistungsfreiheit. 13 EuGH Rs. C-107/94, Asscher, Slg. 1996, I-3089 Rn. 32; Rs. C-79/01, Payroll Data Services, Slg. 2002, I-8923 Rn. 27; Rs. C-470/04, N/Almelo, Slg. 2006, I-7409 Rn. 28. 14 Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV Kommentar, 3. Aufl., 2007, Art. 43 EGV Rn. 6; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Bd. 2, Losebl. Stand 2009, Art. 43 Rn. 64 f. 15 Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 84 ff.; ders., Grundfreiheiten, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2009, S. 705 (729). 16 Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, 1995, S. 200 ff., 526 f.; Lackhoff, Die Niederlassungsfreiheit des EGV – nur ein Gleichheits- oder auch ein Freiheitsrecht?, 2000, S. 55 ff.; Lackhoff/Raczinski, Umgekehrte Diskriminierung, EWS 1997, 109 ff.; Nachbaur, Niederlassungsfreiheit: Geltungsbereich und Reichweite des Art. 52 EGV im Binnenmarkt, 1999, S. 98 ff.; Tietje, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009, § 10 Rn. 1 ff.

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entsprechenden wirtschaftlichen Tätigkeiten ein grenzüberschreitendes Moment innewohnt. Bei der Standortentscheidung wird man das in dieser Form nicht sagen können. Hier geht es um die dauerhafte Verwurzelung in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaates, um einen Akt der Vollintegration, der längst nicht mit der Zwangsläufigkeit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs auf Grenzüberschreitung angelegt ist. Im Interesse einer optimalen Ressourcenallokation liegt es, die Niederlassung möglichst frei von staatlichen Einflüssen zu halten. Allein diese Sichtweise entspricht dem in Art. 26 Abs. 1 AEU verankerten Binnenmarktziel und dem in Art. 3 Abs. 3 EU verankerten Verwirklichungsauftrag. In Art. 3 Abs. 3 EU heißt es wörtlich: „Sie (die Union) wirkt auf (. . .) eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft (. . .) hin.“ Dieser Auftrag ist nur zu erfüllen, wenn Beschränkungen und Behinderungen der Niederlassung in rein innerstaatlichen Sachverhaltskonstellationen möglichst unterbleiben und sie nicht allein einer mitgliedstaatlichen Kontrolle überantwortet, sondern darüber hinaus dem Maßstab der europäischen Niederlassungsfreiheit unterstellt werden. b) Beschränkung der Niederlassungsfreiheit Die IHK-Pflichtmitgliedschaft stellt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar. aa) Beschränkungsverbot als Gewährleistungsinhalt der Niederlassungsfreiheit Zum Gewährleistungsinhalt der Niederlassungsfreiheit gehört zum einen ein Diskriminierungsverbot. Den Mitgliedstaaten ist es verboten, fremde Staatsangehörige bei der Niederlassung schlechter zu behandeln als eigene Staatsangehörige. Eine solche Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit ist bei der IHKPflichtmitgliedschaft nicht zu besorgen, weil die Pflichtmitgliedschaft unterschiedslos für deutsche wie ausländische Gewerbetreibende gilt. Allerdings erschöpft sich der Gewährleistungsinhalt der Niederlassungsfreiheit nicht in dem Gebot der Inländergleichbehandlung. Anfang der 80er Jahre hat sich durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine Erweiterung des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit auf solche Konstellationen vollzogen, bei denen nicht mehr eine Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit, sondern lediglich eine allgemeine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit zu beobachten war. Die Schutzbereichserweiterung hin zu einem allgemeinen Beschränkungsverbot setzte im Jahr 1984 in der Rechtssache Klopp ein17, verfestigte sich später in den Rechtssachen Kraus und Geb17

EuGH Rs. 107/83, Slg. 1984, 2971.

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hard 18 und darf seitdem als ständige Rechtsprechung angesehen werden19. Das rechtswissenschaftliche Schrifttum hat diese Entwicklung zustimmend zur Kenntnis genommen20. Seit der Rechtssache Gebhard gilt die Formel, dass „nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können“, grundsätzlich unzulässige Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit sind, die nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein können21. Als Beschränkungen hat der Europäische Gerichtshof unter anderem angesehen: das Erfordernis der Eintragung in bestimmte berufsständische Listen, um Datenverarbeitungsdienste anbieten zu können22; die Regelung, wonach die Steuerberatung juristischen Personen vorbehalten sein soll, die besonderen Anforderungen entsprechen müssen23; das Verbot, als natürliche Person mehr als ein Optikergeschäft zu betreiben24; das strafbewehrte Verbot des Anbietens von Sportwetten25; die Verwaltungspraxis eines Mitgliedstaates über die Nichtanerkennung von Hochschuldiplomen, die an der Zweigniederlassung einer privaten Hochschule in diesem Staat erworben wurden26; das österreichische Verbot, den Beruf des Heilpraktikers auszuüben27. Die IHK-Pflichtmitgliedschaft und die mit ihr einhergehende Beitragspflicht stellt sich mit Blick auf die vom Europäischen Gerichtshof geübte Rechtsprechungspraxis als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar, denn sie macht die Niederlassung in Deutschland ohne Zweifel nicht attraktiv, sondern unattraktiv. 18 EuGH Rs. C-19/92, Slg. 1993, I-1663 Rn. 32 m.w. N. und Gebhard, EuGH Rs. C55/94, Slg. 1995, I-4165. 19 Vgl. aus jüngerer Zeit EuGH Rs. C-424/97, Haim, Slg. 2000, I-5123 Rn. 57; Rs. C-439/99, Kommission/Italien, Slg. 2002, I-305 Rn. 22; Rs. C-442/02, CaixaBank France, Slg. 2004, I-8961 Rn. 11. 20 Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV Kommentar, 3. Aufl., 2007, Art. 43 EGV Rn. 30 f.; Everling, Das Niederlassungsrecht in der EG als Beschränkungsverbot – Tragweite und Grenzen, in: GS Knobbe-Keuk, 1997, S. 607 (608); Frenz, Handbuch Europarecht, Band I Europäische Grundfreiheiten, 2004, Rn. 434; Müller-Graff, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV Kommentar, 2003, Art. 43 EGV Rn. 57 ff.; Randelzhofer/ Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Bd. 2, Losebl. Stand 2009, Art. 43 Rn. 64 f.; Schlag, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., 2008, Art. 43 EGV Rn. 45 ff.; Steiner/Woods/Twigg-Flesner, EU Law, 2006, p. 454 ff.; Tiedje/Troberg, in: von der Groeben/Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl., 2003, Art. 43 EG Rn. 87. 21 EuGH Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165, 4197 Rn. 37. 22 EuGH Rs. C-79/01, Payroll Data Services, Slg. 2002, I-8923. 23 EuGH Rs. C-451/03, Servizi Ausiliari, Slg. 2006, I-2941 Rn. 34 ff. 24 EuGH Rs. C-140/03, Kommission/Griechenland, Slg. 2005, I-3177 Rn. 28 f. 25 EuGH C-243/01, Gambelli, Slg. 2003, I-13031 Rn. 44 ff. 26 EuGH Rs. C-153/02, Neri, Slg. 2003, I-13555 Rn. 40 ff. 27 EuGH C-294/00, Gräbner, Slg. 2002, I-6515 Rn. 40.

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bb) Niederlassung und IHK-Pflichtmitgliedschaft als Junktim Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird dagegen die These vertreten, die IHK-Pflichtmitgliedschaft könne schon deswegen keine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit sein, weil sie nicht Voraussetzung der Niederlassung sei, sondern dieser zeitlich nachfolge28. Diese These ist jedoch erkennbar falsch. Denn die Gebhard-Formel des Europäischen Gerichtshofs sieht Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit auch und gerade in den Fällen als gegeben an, in denen zeitlich nachfolgende, belastende Rechtsfolgen die Niederlassung unattraktiv machen29. cc) IHK-Pflichtmitgliedschaft als qualitative Abwertung der Niederlassung Ferner wird die Ansicht vertreten, die IHK-Pflichtmitgliedschaft sei keine Belastung, sondern eine Begünstigung der Betroffenen, weil sie ihnen Partizipationsmöglichkeiten in einer Selbstverwaltungskörperschaft zuweise30. Doch auch dieses Argument ist nicht tragfähig. Denn schon auf der verfassungsrechtlichen Ebene wird die Einbeziehung einer Person in eine Körperschaft gegen ihren Willen als Eingriff in die grundrechtlich geschützte Freiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) gewertet31. Dies würde selbst dann gelten, wenn die Pflichtmitgliedschaft beitragsfrei gestellt wäre. Für die unionale Ebene kann insoweit keine andere Schlussfolgerung gezogen werden. Die IHK-Pflichtmitgliedschaft macht die Niederlassung im Sinne der Gebhard-Formel des Europäischen Gerichtshofs nicht etwa attraktiver, sondern eindeutig weniger attraktiv, wobei hier zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass die Pflichtmitgliedschaft mit einer Beitragslast einhergeht. dd) Fehlende Akzeptanz bei den Kammerzugehörigen Dass die IHK-Pflichtmitgliedschaft die Niederlassung unattraktiv macht, zeigt sich nicht zuletzt in der subjektiven Einstellung der Kammerzugehörigen. Nicht nur in der extrem schwachen Wahlbeteiligung zu den Vollversammlungen der Industrie- und Handelskammern, sondern auch in zahllosen Beiträgen in den Printmedien32, im Fernsehen33 und im Internet34 wird ein zunehmendes Akzep28 Burgi, Europarechtliche Perspektiven der funktionalen Selbstverwaltung, in: Kluth (Hrsg.), Jahrbuch des Kammerrechts, 2002, S. 23 [34]; Frentzel/Jäkel/Junge, Industrieund Handelskammergesetz, 7. Aufl., 2009, § 2 Rn. 7. 29 So zutreffend Diefenbach, Einwirkungen des EU-Rechts auf das deutsche Kammerrecht, GewArch 2006, 217 (220 f.). 30 Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, 1997, S. 337 f. 31 BVerfG 1 BvR 1806/98, Beschluss vom 07.12.2001. 32 Beispielsweise „Soll der Kammerzwang 2008 fallen?“, Hamburger Abendblatt v. 15.03.2005; „FDP facht Debatte um Kammerzwang an“, Handelsblatt v. 10.05.2006; „IHK-Kammerzwang weiter auf dem Prüfstand“, Eifelzeitung v. 27.10.2010.

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tanzdefizit deutlich. Die IHK-Pflichtmitgliedschaft wird von vielen Gewerbetreibenden als nicht mehr zeitgemäß, überflüssig und für die wirtschaftliche Entwicklung schädlich empfunden. Die extrem niedrige Wahlbeteiligung bei den Wahlen zu den IHK-Vollversammlungen spricht Bände. ee) IHK-Pflichtmitgliedschaft jenseits von Bagatellbeschränkungen Berufsbezogene Regelungen können, wie der Europäische Gerichtshof entschieden hat, „zu ungewiss und zu unbestimmt sein“, so dass eine beschränkende Wirkung hinsichtlich der Niederlassungsfreiheit nicht eintritt. Den Regelungen über Ladenschlusszeiten, die für alle Wirtschaftsteilnehmer in einem Mitgliedstaat gelten, käme deswegen eine niederlassungsbeschränkende Wirkung nicht zu35. Später hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass auch geringfügige und unbedeutende Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit grundsätzlich verboten sind36. Ohne darlegen zu müssen, wann genau die Schwelle von „ungewissen und unbestimmten“ Bagatellregelungen zu niederlassungsrelevanten Regelungen überschritten wird, darf angenommen werden, dass es sich bei der beitragspflichtigen Pflichtmitgliedschaft keineswegs nur um eine untergeordnete und niederlassungsirrelevante Regelung handelt. Schon die alternativlose Inkorporierung in eine Industrie- und Handelskammer und damit die Unterwerfung unter die Satzungsgewalt der Kammer an und für sich überschreitet bei weitem jede Bagatellgrenze. Die Freiheit, sich niederzulassen und dabei von irgendwelchen Mitgliedschaften verschont zu bleiben, ist nicht nur am Rande, sondern massiv betroffen. Aber auch die mit der Pflichtmitgliedschaft einhergehende Beitragspflicht ist ökonomisch gesehen alles andere als eine quantité négligeable. ff) Keine schutzbereichsbegrenzende Übertragung der Keck-Rechtsprechung auf die Niederlassungsbeschränkung Der Niederlassungsbeschränkung, die mit der IHK-Pflichtmitgliedschaft verbunden ist, steht auch nicht die sog. Keck-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entgegen. In der Rechtssache Keck hat der Europäische Gerichtshof,

33 Beispielsweise „Bericht aus Brüssel“, Westdeutscher Rundfunk v. 05.05.2010, www. wdr.de/themen/global/webmedia/webtv/getwebtvextrakt.phtml?p=25&b=146&ex=4. 34 Beispielsweise die Internetpräsenz des Bundesverbands für freie Kammern (BFFK): www.bffk.de – mit umfangreicher und aussagekräftiger Dokumentation; ferner www.kammerzwang-nein-danke.de; aufschlussreich auch das Forum auf der Homepage des Bundeswirtschaftsministeriums: www.forum.bmwi.de/showthread.php?t=328. 35 EuGH Rs. C-418-421/93, Semeraro u. a., Slg. 1996, I-2975 Rn. 32. 36 EuGH Rs. C-34/98, Kommission/Frankreich, Slg. 2000, I995 Rn. 49; C-9/02, de Lasteyrie du Saillant, Slg. 2004, I-2409 Rn. 43.

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bezogen auf die Warenverkehrsfreiheit, zu tatbestandlichen Begrenzungen gefunden, die im Ergebnis eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung gar nicht erst entstehen lassen. Es handelt sich dabei um ungeschriebene Schutzbereichsbegrenzungen. Der Europäische Gerichtshof hat zur Warenverkehrsfreiheit entschieden, dass bestimmte nationale Verkaufsmodalitäten, die auch auf ausländische Erzeugnisse Anwendung finden, nicht geeignet sind, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, sofern die Verkaufsmodalitäten für alle im Inland tätigen, betroffenen Marktteilnehmer gelten und den Absatz inländischer und ausländischer Erzeugnisse in gleicher Weise berühren37. Für die Warenverkehrsfreiheit ist dabei die Unterscheidung zwischen produktbezogenen Maßnahmen und Verkaufsmodalitäten maßgeblich. Produktbezogene Maßnahmen sind Regelungen, die sich auf die Merkmale der Erzeugnisse selbst beziehen, z. B. auf Zusammensetzung, Ausstattung, Form, Gewicht etc. Demgegenüber sind Verkaufsmodalitäten alle Bestimmungen über räumliche, zeitliche und ähnliche Umstände für den Absatz von Waren, beispielsweise das in der Rechtssache Keck streitige französische Verbot des Verkaufs von Waren unter dem Einkaufspreis (sog. vente à perte). Bislang hat der Europäische Gerichtshof die Grundsätze seines Keck-Urteils zwar durchaus auf andere Grundfreiheiten, nicht aber auf die Niederlassungsfreiheit übertragen. In der Rechtswissenschaft wird eine solche Übertragung auf die Niederlassungsfreiheit vereinzelt gefordert38. Danach soll zwischen Regeln über den Berufszugang und Berufsausübungsregeln, die ähnlich wie Verkaufsmodalitäten keine oder nur eine geringe wettbewerbsbeeinflussende Wirkung haben, unterschieden werden, wobei die Letzteren nicht am Maßstab der Niederlassungsfreiheit zu messen wären. Der Vertragstext des Art. 49 AEU spricht jedoch ausdrücklich von der „Ausübung“ des Gewerbes, so dass schon insoweit eine restriktive Einengung des Schutzbereichs der Niederlassungsfreiheit außer Betracht bleiben muss39. Hinzu kommt, dass die Funktion der Warenverkehrsfreiheit, die möglichst weite und unbeschränkte Umlauffähigkeit eines in einem Mitgliedstaat hergestellten Produkts zu gewährleisten, sich von der Funktion der Niederlassungsfreiheit signifikant unterscheidet: Diese zielt nicht vorrangig auf eine möglichst hohe Zahl von Niederlassungen, sondern darauf, den singulären Akt der Niederlassung möglichst frei von marktfremden Einflussnahmen zu halten.

37

EuGH Rs. C-267 u. 268/91, Keck, Slg. 1993, I-6097. Everling, Das Niederlassungsrecht der EG als Beschränkungsverbot, in: GS Knobbe-Keuk 1997, S. 607, (621); Eberhartinger, Konvergenz und Neustrukturierung der Grundfreiheiten, 1997, S. 43 (49). 39 Zutreffend Fischer, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge – Kommentar, 5. Aufl., 2010, Art. 49 Rn. 9; Schlag, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., 2008, Art. 43 EGV Rn. 56. 38

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c) Fehlende Rechtfertigung der Niederlassungsbeschränkung Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit gerechtfertigt, wenn sie zwingenden Gründen des Allgemeinwohls dienen und verhältnismäßig sind40. aa) Fehlende zwingende Gründe des Allgemeinwohls Als zwingende Gründe des Allgemeinwohls hat der Gerichtshof insbesondere anerkannt: die Kohärenz des Steuersystems41; die Wirksamkeit der Steueraufsicht42; die Lauterkeit des Handelsverkehrs43; die Wahrung der Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten44; bestimmte Berufs- und Standesregeln45; Betrugsvorbeugung und Schutz vor Spielsucht46; den Schutz von Gläubigerinteressen, Minderheitsgesellschaftern und Arbeitnehmern47; die Sicherstellung der Energieversorgung im Krisenfall48; den Standard der Hochschulausbildung49; den Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums50). Damit ist nicht gesagt, dass der Gerichtshof in den genannten Fällen durchweg zu einer Rechtfertigung der Niederlassungsbeschränkung gelangt ist; dies hängt auch noch von der weiteren Voraussetzung ab, ob die Beschränkung im konkreten Fall verhältnismäßig ist. Aber immerhin hat der Gerichtshof in diesen Fällen überhaupt einen legitimen, nämlich zwingenden Allgemeinwohlbelang erkannt. Die IHK-Pflichtmitgliedschaft ist, wenn überhaupt, nur vor dem Hintergrund der Aufgabenstellung der Industrie- und Handelskammern rechtfertigungsfähig. Die Aufgaben sind in § 1 IHK-Gesetz genannt. Das Hauptziel der Industrie- und Handelskammern, „das Gesamtinteresse der ihnen zugehörigen Gewerbetreibenden ihres Bezirks wahrzunehmen“, lässt sich aber schlechterdings nicht als zwingender Grund des Allgemeinwohls qualifizieren. Insoweit stellt sich schon die 40 Ständige Rechtsprechung seit EuGH Rs. C-55/94, Gebhard, Slg. 1995, I-4165 Rn. 37; aus jüngerer Zeit Rs. C-65/05, Kommission/Griechenland, Slg. 2006, I-10341 Rn. 49; C-345/05, Kommission/Portugal, Slg. 2006, I-10633 Rn. 24; C-524/04, Test Claimants, Slg. 2007, I-2107 Rn. 64. 41 EuGH Rs. C-471/04, Keller Holding, Slg. 2006, I-2109 Rn. 40. 42 EuGH Rs. C-250/95, Futura u. a., Slg. 1997, I-2471 Rn. 31. 43 EuGH Rs. C-167/01, Inspire Art, Slg. 2003, I-10155 Rn. 132. 44 EuGH Rs. C-231/05, Oy AA, Slg. 2007, I-6373 Rn. 51 ff. 45 EuGH Rs. C-309/99, Wouters, Slg. 2002, I-1577 Rn. 100 ff. 46 EuGH Rs. C-243/01, Gambelli, Slg. 2003, I-13031 Rn. 63, 67. 47 EuGH Rs. C-208/00, Überseering, Slg. 2002, I-9919 Rn. 92. 48 EuGH Rs. C-503/99, Kommission/Belgien, Slg. 2002, I-4809 Rn. 46. 49 EuGH Rs. C-153/02, Neri, Slg. 2003, I-13555 Rn. 46. 50 EuGH Rs. C-255/97, Pfeiffer, Slg. 1999, I-2835 Rn. 21.

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Frage, was unter der Wahrnehmung des „Gesamtinteresses“ sinnvoll verstanden werden könnte. Tatsächlich ist nicht nachvollziehbar, wie bei den Kammerzugehörigen als einem höchst heterogenen Personenverband von einem „Gesamtinteresse“ die Rede sein kann. Die wirtschaftlichen Interessen der Gewerbetreibenden sind sehr unterschiedlich, nicht nur, was die unterschiedlichen Branchen angeht (Banken, Dienstleistungen, Einzelhandel, Medien, Verkehr etc.), sondern auch was die Kammerzugehörigen in den einzelnen Branchen anbelangt. Die Kammerzugehörigen befinden sich in den einzelnen Branchen in einer wettbewerblichen Konkurrenzsituation, die es ausschließt, von einem „Gesamtinteresse“ zu sprechen. Wenn es denn ein solches Gesamtinteresse gibt, dann besteht es möglicherweise darin, von staatlichen Einflussnahmen auf den Wettbewerb, insbesondere von Pflichtmitgliedschaften, verschont zu bleiben. Hinzu kommt, dass die regionale Gliederung der 80 deutschen Industrie- und Handelskammern zu einer kleinteiligen Parzellierung in „Interessenzonen“ führt, die den wirtschaftlichen Realitäten des 21. Jahrhunderts nicht adäquat ist. Im Zeitalter der Globalisierung ist die Vorstellung verfehlt, es komme auf eher kleinflächige regionale Interessenverbünde der Wirtschaft an. Die wirtschaftlichen Aktivitäten der Kammerzugehörigen machen an den Kammergrenzen nicht halt, und daher macht es wenig Sinn, die Interessen der Kammerzugehörigen auf einen Kammerbezirk zu reduzieren. Es soll, was die Allgemeinwohlbezogenheit der Kammerpflichtmitgliedschaft anbelangt, nicht verkannt werden, dass der Europäische Gerichtshof sich verschiedentlich mit der Pflichtmitgliedschaft in Berufskammern befasst hat; allerdings hat er – soweit ersichtlich – noch nie zu den deutschen Industrie- und Handelskammern entschieden. In einem nunmehr 27 Jahre zurück liegenden Urteil hat der Europäische Gerichtshof, wie man bei flüchtiger Lektüre meinen könnte, die Legitimität von berufsständischen Kammern generell bestätigt. In der Rechtssache Auer heißt es wörtlich: „Dazu ist festzustellen, dass das Erfordernis der obligatorischen Eintragung oder der Pflichtmitgliedschaft bei Berufsverbänden oder Berufskörperschaften, das in mehreren Vorschriften der Richtlinie 78/1026, und zwar in der ersten Begründungserwägung und in den Artikeln 7 und 12, erwähnt wird, als rechtmäßig anzusehen ist, da damit die Zuverlässigkeit und die Beachtung der standesrechtlichen Grundsätze sowie die disziplinarische Kontrolle der Tätigkeit der Tierärzte und damit schutzwürdige Rechtsgüter gewährleistet werden sollen. Die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, die die Pflichtmitgliedschaft in einer berufsständischen Kammer vorsehen, sind somit als solche nicht unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht.“51 Damit ist allerdings nicht mehr gesagt, als dass Pflichtmitgliedschaften in berufsständischen Kammern nicht per se („als solche“) gemeinschaftsrechtswidrig 51

EuGH Rs. C-271/82, Auer, Slg. 1983, 2727 Rn. 18.

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sind. Im konkreten Einzelfall kommt es aber darauf an, welche Zwecksetzung mit der Pflichtmitgliedschaft verfolgt wird. In der Rechtssache Auer ging es um die Beurteilung der Zuverlässigkeit und die disziplinarische Kontrolle von Tierärzten. Diese Kammeraufgaben dienen unmittelbar und zwingend dem Allgemeinwohl. Mit der „Wahrnehmung des Gesamtinteresses der Kammerzugehörigen“ ist diese tierärztliche Überwachungs- und Kontrollfunktion nicht zu vergleichen. Die Industrie- und Handelskammern haben keine den tierärztlichen Kammern vergleichbaren Kontroll- und Überwachungsfunktionen. In der Rechtssache Corsten aus dem Jahr 2000 urteilt der Gerichtshof über die Zulässigkeit einer obligatorischen Eintragung in die Handwerksrolle auch für ausländische Dienstleistungserbringer im Handwerk. Wörtlich heißt es: „Die deutsche Regierung trägt vor, dass das Gesamtsystem handwerklicher Qualifikation, das auf dem Erfordernis der Meisterprüfung einschließlich der Pflichtmitgliedschaft in der Handwerkskammer beruhe, der Erhaltung des Leistungsstands und der Leistungsfähigkeit des Handwerks diene. Diese Belange stellten zwingende Gründe des Allgemeininteresses dar und seien nicht durch Vorschriften des Mitgliedstaats gewahrt, in dem der Dienstleistungserbringer niedergelassen sei. (. . .) Wie die Kommission bemerkt, stellt das Ziel, die Qualität der durchgeführten handwerklichen Arbeiten zu sichern und deren Abnehmer vor Schäden zu bewahren, einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar, der eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit rechtfertigen kann.“ 52 Die Eintragung in die Handwerksrolle, die der Gerichtshof übrigens in der Rechtssache Corsten am Ende als unverhältnismäßig verwirft, ist danach nur deswegen von einem zwingenden Gemeinwohlbelang getragen, weil die Handwerkskammern als Hauptaufgabe eine inhaltlich-qualitätsichernde Funktion wahrnehmen. Auch dies ist mit der IHK-Zwecksetzung nicht vergleichbar. Die Industrieund Handelskammern nehmen vor der Aufnahme der Kammerzugehörigen keine Qualitäts- oder Zuverlässigkeitskontrolle vor. Auch sind sie nicht befugt, die Qualität der gewerblichen Leistung der Kammerzugehörigen zu bewerten oder zu kontrollieren. Diese Aufgaben liegen in Deutschland bei den staatlichen Gewerbebehörden. Was für die „Wahrnehmung des Gesamtinteresses“ gilt, gilt nicht minder für die anderen Aufgaben der Industrie- und Handelskammern. Die Förderung der gewerblichen Wirtschaft, die Erstellung von gutachterlichen Stellungnahmen für Behörden und Gerichte, die Ausstellung von dem Wirtschaftsverkehr dienenden Bescheinigungen, die Überwachung und Förderung der kaufmännischen und gewerblichen Berufsbildung und die Vereidigung von Sachverständigen weisen allenfalls entfernte Allgemeinwohlbezüge auf. Aber dass es sich um „zwingende“ Allgemeinwohlgründe in dem Sinne handelt, dass diese Aufgaben notwendigerweise gerade von den Industrie- und Handelskammern zu erfüllen wären, lässt sich nicht behaupten. 52

EuGH Rs. C-58/98, Corsten, Slg. 2000, I-7919 Rn. 36, 38.

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Im Vergleich mit den vom Europäischen Gerichtshof in diesem Zusammenhang anerkannten Allgemeinwohlgründen fällt auf, dass die Aufgaben der Industrie- und Handelskammern immer nur einen eher technisch-administrativen (Vereidigung von Sachverständigen, Ausstellung von Bescheinigungen) oder subsidiären (Förderung der beruflichen Bildung, die aber in staatlicher Hand liegt) oder komplementären (gutachterliche Stellungnahmen für Behörden und Gerichte) Charakter haben. Eine wirklich wichtige, unverzichtbare Funktion kommt den IHK-Aufgaben nicht zu, zwingende Allgemeinwohlgründe fordern ihre Erfüllung durch die Industrie- und Handelskammern nicht. Dementsprechend ist die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch die IHK-Pflichtmitgliedschaft nicht durch zwingende Allgemeinwohlgründe gerechtfertigt. bb) Fehlende Verhältnismäßigkeit der IHK-Pflichtmitgliedschaft Wenn man einmal davon absieht, dass es ohnehin an zwingenden Allgemeinwohlgründen für die IHK-Pflichtmitgliedschaft mangelt, wäre in einem weiteren Schritt aber auch die Feststellung unumgänglich, dass die IHK-Pflichtmitgliedschaft unverhältnismäßig ist. Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kann nur rechtmäßig sein, wenn sie geeignet (notwendig) und erforderlich ist, um das verfolgte Ziel zu erreichen.53 Die IHK-Pflichtmitgliedschaft muss auch insoweit in Bezug zu den Aufgaben der Industrie- und Handelskammern gesetzt werden. Zu jeder der IHK-Aufgaben gibt es eine weniger einschneidende Alternative, nämlich die Aufgabenwahrnehmung entweder durch staatliche Stellen oder durch Private, die hoheitlich beliehen sind, oder durch die Industrie- und Handelskammern auf der Grundlage einer freiwilligen Mitgliedschaft. Genau diesen Weg gehen die EU-Staaten, die keine Pflichtmitgliedschaft in Industrie- und Handelskammern kennen. Für die skandinavischen Staaten gilt schon seit Jahrzehnten, dass dort ein deutlich günstigeres Klima für Unternehmensneugründungen herrscht und dass dort die Wirtschaft auch in anderen Belangen durchaus als vorbildlich gelten darf.54 Für Deutschland drängt sich folgende mildere und im Vergleich zur Pflichtmitgliedschaft weniger einschneidende Aufgabenwahrnehmung auf. Für die zentrale Aufgabe der Interessenwahrnehmung bietet sich evident die Lösung einer freiwilligen Mitgliedschaft an. Der Gewerbetreibende, der seine wirtschaftlichen Interessen institutionell vertreten sehen will, wird sich ohne weiteres freiwillig einer Körperschaft anschließen; dies entspricht im Übrigen auch der Rechtslage in der ganz überwiegenden Mehrzahl der anderen EU-Mitgliedstaaten. Nur auf der Basis der Freiwilligkeit lässt sich der Interessenpluralismus, 53 Ständige Rechtsprechung, vgl. nur EuGH Rs. C-212/97, Centros, Slg. 1999, I-1459 Rn. 34. 54 Vgl. Bosma/Levie, Global Entrepreneurship Monitor [GEM], 2009 Global Report.

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der die Unternehmen kennzeichnet, abbilden. Nur so entstehen ein Wettbewerb der Meinungen und ein offenes politisches Klima, in dem eine Interessenvertretung von Wirtschaftsakteuren möglich ist. Die gutachterlichen Hilfstätigkeiten der Industrie- und Handelskammern (z. B. nach dem Waffengesetz, dem Gaststättengesetz u. a.) lassen sich ohne Weiteres privaten Unternehmen überantworten, die mit diesen Aufgaben beliehen werden. Der Technische Überwachungsverein (TÜV) in Deutschland ist eine entsprechende privatrechtlich organisierte Einrichtung, welcher die einschlägigen IHK-Aufgaben leicht übertragen werden könnten. Die Förderaufgaben im Bereich der Wirtschaft sind ohnehin dem Staat (Bund und Bundesländer) und den Kommunen als öffentliche Aufgaben zugewiesen. Sofern dazu ein Ergänzungsbedarf besteht, lässt er sich am ehesten in privater Initiative (durch Stiftungen und andere gemeinnützige Einrichtungen) befriedigen. Aufgaben im Bereich der beruflichen Bildung liegen nach der bestehenden Gesetzeslage ohnehin beim Staat. Die Mitwirkung der Industrie- und Handelskammern ist ohne weiteres substituierbar durch die freiwillige Mitwirkung von Gewerbetreibenden, die in einem transparenten Verfahren hinzu zu ziehen wären. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass die Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihrer jeweiligen Wirtschaftsordnung auch nach dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages – zu Recht! – über weite Gestaltungsspielräume verfügen und dass sie grundsätzlich Beschränkungen der Grundfreiheiten aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls vornehmen können, wird man wegen der deutlichen Evidenz der alternativ zur Verfügung stehenden weniger einschneidenden Maßnahmen die deutsche IHK-Pflichtmitgliedschaft mit Blick auf die konkrete Aufgabenstellung insgesamt als unverhältnismäßig einstufen müssen. d) Ergebnis zur Niederlassungsfreiheit Die in § 2 Abs. 1 bis 3 IHKG geregelte IHK-Pflichtmitgliedschaft verstößt gegen Art. 49 Abs. 1 AEU. 2. Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit, Art. 56, 57 AEU

a) Sachlicher Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit Zum Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit gehört die sog. aktive Dienstleistungsfreiheit. Es ist dies die Freiheit, als Dienstleistungserbringer eine Dienstleistung über die Grenze hinweg in einem anderen Mitgliedstaat zu erbringen. Art. 57 Abs. 3 AEU sieht insoweit ausdrücklich vor, dass der Dienstleistungserbringer seine Tätigkeit in dem Bestimmungsland unter denselben Voraussetzungen ausüben darf, welche dieser Mitgliedstaat für seine eigenen Angehörigen vorschreibt. Über diesen unmittelbar textlich vorgegebenen Anwen-

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dungsbereich hinaus schützt die Dienstleistungsfreiheit aber auch gegen alle anderen Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs in der Union. Dementsprechend betrifft das Beschränkungsverbot nicht nur solche Beschränkungen, die vom Staat des Leistungsempfängers auferlegt werden, sondern auch solche, die der Staat des Leistungserbringers auferlegt. Ein Unternehmer kann sich daher gegenüber dem Staat, in dem er seinen Sitz hat, auf die Dienstleistungsfreiheit berufen, wenn er Leistungen an Leistungsempfänger erbringt, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind55. Diese Form der Dienstleistungsfreiheit wird auch als „Ausgangsfreiheit“ bezeichnet. Die IHK-Pflichtmitgliedschaft betrifft also auch die Dienstleistungsfreiheit in all den Fällen, in denen ein hier ansässiger Dienstleistungserbringer grenzüberschreitend Dienstleistungen erbringt. Denn mit der IHK-Pflichtmitgliedschaft ist – was noch im Einzelnen darzustellen ist – eine Beschränkung auch des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs in dem Sinne verbunden, dass die grenzüberschreitende Dienstleistung nicht unbeeinträchtigt erbracht werden kann. b) Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit aa) Beschränkungsverbot als Gewährleistungsinhalt der Dienstleistungsfreiheit Beschränkungen im Sinne des Art. 56 AEU sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch alle diejenigen mitgliedstaatlichen Regelungen, die, selbst wenn sie diskriminierungsfrei angewendet werden, „geeignet sind, grenzüberschreitende Dienstleistungen zu unterbinden oder zu behindern oder weniger attraktiv zu machen.“56 Die Hinwendung des Europäischen Gerichtshofs von einem Diskriminierungsverbot zu einem allgemeinen Beschränkungsverbot hat die Rechtswissenschaft auch bei dieser Grundfreiheit positiv aufgenommen.57 Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit hat der Europäische Gerichtshof in folgenden Fällen angenommen: Erfordernis einer behördlichen Erlaubnis für eine Dienstleistung58; obligatorische Registereintragungen59; Verpflichtung zum Vor55 EuGH Rs. C-384/93, Alpine, Slg. 1995, I-1141 Rn. 30; C-70/95, Sodemare, Slg. 1997, I-3395 Rn. 37; C-224/97, Ciola, Slg. 1999, I-2517 Rn. 11; C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279 Rn. 30. 56 Früh schon EuGH Rs. C-33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, 1299 Rn. 10, 12; aus neuerer Zeit C-266/96, Corsica Ferries II, Slg. 1998, I-3949 Rn. 56 m.w. N. 57 Seyr, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge – Kommentar, 5. Auflage 2010, Art. 56, 57 AEU Rn. 20; Holoubek, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., 2008, Art. 49/50 EGV Rn. 68 ff.; Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Bd. 2, Losebl. Stand 2009, Art. 49/50 EGV Rn. 88 ff. 58 EuGH Rs. C-76/90, Säger/Dennemeyer, Slg. 1991, I-4221. 59 EuGH Rs. C-358/98, Kommission/Italien, Slg. 2000, I-1255; C-131/01, Kommission/Italien, Slg. 2003, I-1659; C-58/98, Corsten, Slg. 2000, I-7919; C-215/01, Schnitzer, Slg. 2003, I-14847.

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halten einer anwaltlichen Infrastruktur60; arbeitsrechtliche Beschränkungen61; Werbebeschränkungen62. Die IHK-Pflichtmitgliedschaft für Unternehmen, die grenzüberschreitend Dienstleistungen erbringen wollen, reiht sich in diese Beschränkungsfallgruppen nahtlos ein. Sie macht das Erbringen von grenzüberschreitenden Dienstleistungen für einen in Deutschland ansässigen Dienstleistungserbringer deutlich unattraktiv. Einen deutschen Dienstleistungserbringer trifft die gesetzliche Verpflichtung, auch gegen seinen Willen Mitglied in einer Industrie- und Handelskammer zu sein, deren „Interessenvertretung“ er möglicherweise nach Verfahren und Inhalt ablehnt, und es trifft ihn damit zwangsläufig verbunden eine jährlich wiederkehrende Geldleistungspflicht. Ihrer Intensität und nachteiligen Wirkung nach sind diese IHK-Verpflichtungen mit Werbebeschränkungen oder Eintragungspflichten vergleichbar, wenn sie diese Beschränkungen nicht sogar nach Schwere und Gewicht weit übertreffen. bb) Keine schutzbereichsbegrenzende Übertragung der Keck-Rechtsprechung auf die Dienstleistungsfreiheit Anders als bei der Niederlassungsfreiheit muss eine schutzbereichsbegrenzende Einengung der Dienstleistungsfreiheit nach den Maßstäben der KeckRechtsprechung außer Betracht bleiben. Eine solche Analogie wird zwar in der Rechtswissenschaft gelegentlich gefordert63. Dabei bleibt freilich unbeantwortet, worin im Zusammenhang mit dem Dienstleistungsverkehr die beschränkungsirrelevanten „Verkaufsmodalitäten“ bestehen sollen. Doch das ist nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, dass sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bislang keine Hinweise auf eine analoge Heranziehung der KeckGrundsätze finden. Der Gerichtshof hat im Gegenteil eine Schutzbereichsbegrenzung für die Dienstleistungsfreiheit ausdrücklich abgelehnt64. c) Fehlende Rechtfertigung der Dienstleistungsbeschränkung aa) Fehlende zwingende Gründe des Allgemeinwohls Nichtdiskriminierende Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit sind grundsätzlich unter ähnlichen Voraussetzungen rechtfertigungsfähig wie Beschränkun60

EuGH Rs. C-145/99, Kommission/Italien, Slg. 2002, I-3129. EuGH Rs. C-398/95, Syndesmos, Slg. 1997, I-3091. 62 EuGH Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 Rn. 33 ff. 63 Randelzhofer/Forsthoff, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Bd. 2, Losebl. Stand 2009, Art. 49/50 Rn. 91 ff.; Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV Kommentar, 3. Aufl., 2007, Art. 49/50 EGV Rn. 58. 64 EuGH Rs. C-384/93, Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141 Rn. 33–38. 61

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gen der Niederlassungsfreiheit. Der Europäische Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang eine ähnlich reiche Kasuistik entfaltet und – vorbehaltlich einer Verhältnismäßigkeitsprüfung – als grundsätzlich legitime zwingende Allgemeinwohlerfordernisse anerkannt: die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege65; die ordnungsgemäße Ausübung des Rechtsanwaltsberufs66; die Betrugsbekämpfung67; Berufs- und Standesregeln von Ärzten, Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern und im Rundfunkgewerbe68; die Lauterkeit des Handelsverkehrs und Verbraucherschutz69; den sozialen Schutz der Arbeitnehmer70. Das Gewicht und die Bedeutung der hier nur beispielhaft wiedergegebenen Allgemeinwohlbelange unterscheiden sich erheblich von den Zwecksetzungen der deutschen Industrie- und Handelskammern, in denen Pflichtmitgliedschaft besteht. Wie schon dargelegt besitzen die Industrie- und Handelskammern nur randständige Funktionen, denen eine eigene, das Wirtschaftsleben ordnende Kraft nicht zugesprochen werden kann. Mit den Berufs- und Standesregeln von Ärzten, Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern haben die Industrie- und Handelskammern rein gar nichts zu tun. Sie befinden nicht über die Berufszulassung von Gewerbetreibenden, noch üben sie diesen gegenüber Disziplinargewalt aus. Was für die Niederlassungsfreiheit gilt, muss daher auch hier gelten: Es gibt keine „zwingenden Allgemeinwohlerfordernisse“, die eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch Pflichtmitgliedschaft in den Industrie- und Handelskammern legitimieren könnte. bb) Fehlende Verhältnismäßigkeit der Beschränkung Wenn man einmal annähme, dass die Pflichtmitgliedschaft in den Industrieund Handelskammern ein grundsätzlich legitimer Allgemeinwohlbelang wäre, dann würde sich gleichwohl ergeben, dass diese Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit nicht verhältnismäßig ist. Um die Zwecke der Industrie- und Handelskammern zu erfüllen, drängen sich geradezu andere Gestaltungsalternativen auf, die eine obligatorische Mitgliedschaft aller Gewerbetreibenden entbehrlich erscheinen lassen. Weniger einschneidend und deutlich effektiver wäre eine freiwillige Kammermitgliedschaft.

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EuGH Rs. C-3/95, Reisebüro Broede, Slg. 1996, I-6511 Rn. 38 ff. EuGH Rs. C-309/99, Wouters, Slg. 2002, I-1577. 67 EuGH Rs. C-275/92, Schindler, Slg. 1994, I-103. 68 EuGH Rs. C-106/91, Ramrath, Slg. 1992, I-3351; C-148/91, Omroep, Slg. 1993, I-487 Rn. 13; C-94/04 u. C-202/04, Cipolla, Slg. 2006, I-11421; C-222/95, Parodi, Slg. 1997, I-3899 Rn. 31. 69 EuGH Rs. C-34–36/95, De Agostini, Slg. 1997, I-3843 Rn. 53; C-564/07, Kommission/Österreich, DStRE-2010, 61, Rn. 32. 70 EuGH Rs. C-341/05, Laval, Slg. 2007, I-11676. 66

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d) Zwischenergebnis zur Dienstleistungsfreiheit Die in § 2 Abs. 1 bis 3 IHKG geregelte IHK-Pflichtmitgliedschaft verstößt gegen Art. 56, 57 AEU. 3. Verstoß gegen die Dienstleistungsrichtlinie

Die IHK-Pflichtmitgliedschaft verstößt gegen Art. 14 Ziff. 2 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie).71 a) Verbot der Doppelregistrierung Die Dienstleistungsrichtlinie leistet einen wichtigen Beitrag zur Beseitigung von Dienstleistungshemmnissen in der Europäischen Union. Ausweislich ihres 12. Erwägungsgrundes zielt die Richtlinie auch auf die Beseitigung von Niederlassungshemmnissen, die einer ungestörten grenzüberschreitenden Dienstleistung im Wege stehen. Im Wortlaut heißt es: „Ziel dieser Richtlinie ist die Schaffung eines Rechtsrahmens, der die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten garantiert (. . .).“ In Verfolgung dieses Ziels ordnet die Richtlinie sodann an, dass Doppelmitgliedschaften in berufsständischen Kammern mehrerer Mitgliedstaaten ausgeschlossen sein sollen. In Art. 14 der Richtlinie heißt es wörtlich: „Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in ihrem Hoheitsgebiet nicht von einer der folgenden Anforderungen abhängig machen: (. . .) 2. einem Verbot der Errichtung von Niederlassungen in mehr als einem Mitgliedstaat oder der Eintragung in Register oder der Registrierung bei Berufsverbänden oder -vereinigungen in mehr als einem Mitgliedstaat. (. . .).“ Was unter der „Registrierung bei Berufsverbänden oder Berufsvereinigungen“ zu verstehen ist, kann sich nur im Wege einer richtlinienadäquaten Interpretation erschließen. Ein mitgliedstaatliches, beispielsweise deutsches Begriffsverständnis muss von vornherein außer Betracht bleiben. „Berufsverbände oder -vereinigungen“ sind, unabhängig von der Rechtsform, alle Vereinigungen, in denen Angehörige einer Berufsgruppe, Branche oder Sparte zusammengeschlossen sind. Die Bedeutung des „Registrierens“ wird klar im systematischen Zusammenhang mit dem Begriff „Anforderungen“. Der Begriff „Anforderungen“ hat nämlich in Art. 4 Ziff. 7 der Richtlinie eine Legaldefinition gefunden: „Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet (. . .) ,Anforderungen‘ alle Auflagen, Verbote, Bedingungen oder Beschränkungen, die in den Rechts- oder Verwaltungsvorschriften

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ABl. L 376 vom 27.12.2006, S. 36–68.

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der Mitgliedstaaten festgelegt sind oder sich aus der Rechtsprechung, der Verwaltungspraxis, den Regeln von Berufsverbänden oder den kollektiven Regeln, die von Berufsvereinigungen oder sonstigen Berufsorganisationen in Ausübung ihrer Rechtsautonomie erlassen wurden, ergeben; Regeln, die in von den Sozialpartnern ausgehandelten Tarifverträgen festgelegt wurden, sind als solche keine Anforderungen im Sinne dieser Richtlinie.“ Daraus ergibt sich ein grundsätzlich weites Verständnis der „Anforderungen“, zugleich aber auch ein weites Begriffsverständnis von „Registrieren“. Darunter ist nicht nur das Anmelden einer Person oder einer Tätigkeit, sondern überhaupt jeder Vorgang zu verstehen, der im Zusammenhang mit dem Beginn der wirtschaftlichen Tätigkeit zur Aufnahme in eine Berufskammer oder -vereinigung führt. Erfasst ist also auch ein passives Registrieren, deutlicher: ein Registriert-Werden. Die Richtlinie war insgesamt bis zum 31.12.2009 umzusetzen. b) Fehlende Umsetzung des Art. 14 Nr. 2 der Dienstleistungsrichtlinie Die Richtlinienbestimmung des Art. 14 Nr. 2 ist in der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht umgesetzt, weil Doppelmitgliedschaften in einer Deutschen Industrie- und Handelskammer und in der vergleichbaren Kammer eines anderen EU-Mitgliedstaates nicht ausgeschlossen sind. Diese Sachverhaltskonstellation betrifft alle Dienstleistungserbringer, die aus einem anderen EUMitgliedstaat mit obligatorischer Kammermitgliedschaft stammen, also aus Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich, Spanien, Griechenland oder Luxemburg. Die Bundesrepublik Deutschland hat bis heute keinerlei Vorkehrung getroffen, um eine doppelte Pflichtmitgliedschaft zu verhindern. In diesem Zusammenhang sei bemerkt, dass in Deutschland auch eine mehrfache Mitgliedschaft in den deutschen Industrie- und Handelskammern keine Seltenheit ist. Unterhält ein Gewerbetreibender mehrere Betriebsstätten in mehreren Bezirken der Industrie- und Handelskammern, ist er kraft Gesetzes in allen entsprechenden Bezirken beitragspflichtiges Mitglied. Dies hat zur Folge, dass ein Gewerbetreibender, der Dienstleistungen anbietet, in Deutschland gleich mehrfach Mitglied in verschiedenen deutschen Industrie- und Handelskammern ist, und dass er gegebenenfalls auch noch Pflichtmitglied in einer vergleichbaren Kammer in einem oder mehreren anderen EU-Mitgliedstaaten ist. c) Ergebnis zur Dienstleistungsrichtlinie Die IHK-Pflichtmitgliedschaft verstößt gegen Art. 14 Ziff. 2 der Dienstleistungsrichtlinie insoweit, als auch Dienstleistungserbringer aus solchen EU-Mitgliedstaaten, in denen eine obligatorische Kammermitgliedschaft vorgesehen ist, in eine Doppelmitgliedschaft gezwungen werden, wenn sie zum Zwecke der Dienstleistungserbringung in Deutschland eine Betriebsstätte unterhalten.

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IV. Ausblick Wer das rechtsdogmatische ABC der Grundfreiheiten herunter buchstabiert, wird dem Befund kaum ausweichen können: Die IHK-Pflichtmitgliedschaft verstößt gleich in mehrfacher Hinsicht gegen geltendes Unionsrecht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Erkenntnis durchsetzt.72 Dann wird es zu freiwilligen Mitgliedschaften kommen, und einige der IHK-Aufgaben werden auf andere – staatliche oder private – Träger übergehen. Dass damit der Wirtschaftsstandort Deutschland Schaden leidet, ist nicht zu befürchten. Im Raum der Europäischen Union kommt die große Mehrheit der Mitgliedstaaten ohne obligatorische Mitgliedschaft in öffentlich-rechtlichen Kammern aus.

72 Es soll nicht verhehlt werden, dass die Verwaltungsgerichte, die sich bislang mit der Frage der Europarechtskonformität der IHK-Pflichtmitgliedschaft auseinandergesetzt haben, von dieser Erkenntnis noch entfernt sind: zuletzt OVG Lüneburg, GewArch 2009, 370; VG Meiningen, Urteil vom 01.07.2009 – 2 K 650/06 Me, 2 K 650/06 –; VG Ansbach, GewArch 2008, 209; VG Stuttgart, GewArch 2008, 304; VG Darmstadt, Urteil vom 07.11.2006 – 9 E 793/05.

Das Verhältnis des Grundrechtsschutzes nach der Europäischen Menschenrechtskonvention und nach dem Recht der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des Beitritts der Letzteren zur EMRK Von Heribert Franz Köck* I. Überblick über die Entwicklung des Grundrechtsschutzes Der Jubilar, dem die vorliegende Festschrift gewidmet ist, hat sich vielfältig und grundlegend mit Fragen des Grundrechtsschutzes befasst.1 Es erscheint daher angemessen, aus gegebenem Anlass den gegenwärtigen Anlauf zu einem einheitlichen europäischen System des Grundrechtsschutzes zum Gegenstand dieser Überlegungen zu machen. Eine Auseinandersetzung mit dem modernen Grundrechtsschutz, wie er in den Mitgliedstaaten der EU durch das Recht der Europäischen Union und durch die Europäische Menschenrechtskonvention gewährleistet wird, erfordert zunächst, einen kurzen Blick auf die grundsätzliche Entwicklung des Grundrechtsschutzes zu werfen. Die theoretische Auseinandersetzung um das Verhältnis von Ordnung und Freiheit nahm von England seinen Ausgang. Während Thomas Hobbes noch bereit war, um der durch die staatliche Ordnung zu garantierenden persönlichen * Ich danke Frau Dr. Daniela Braza-Horn, Lektorin am Institut für Europarecht an der Johannes Kepler Universität Linz, für die wertvolle Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrages. 1 Vgl. etwa: Verfassungsrechtliche wider „ideologische“ Deutung der Grundrechte, in: Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), Wirtschaftliche Entwicklungslinien und gesellschaftlicher Wandel, Köln 1983, S. 61 ff.; Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V.: Allgemeine Grundrechtslehren, Heidelberg 1992, S. 3 ff.; Der Schutz der Grundrechte durch den Europäischen Gerichtshof der Menschenrechte, in: 2 Akademie Journal 2002, S. 27 ff.; Von der europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechtecharta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechtecharta im wertenden Verfassungsvergleich, Berlin 2005, S. 13 ff.; Europäische Verfassung und Grundrechtecharta nach dem Nein der Franzosen und Niederländer, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Europäische Verfassung im Werden, Berlin 2006, S. 25 ff.; Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, in: 6 Die öffentliche Verwaltung 2010, S. 241 ff., um hier nur wenige Beispiele aus dem umfangreichen Werk des Jubilars zu nennen.

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Sicherheit willen die Freiheit zu opfern und einen totalitären Staat zu akzeptieren,2 behalten sich in der Staatslehre John Lockes die Bürger bei der Gründung des Staates einen sog. staatsfreien Raum vor, in den der Staat nicht eingreifen darf und in dem daher die Grundrechte des Einzelnen angesiedelt sind.3 Eine Liste dieser dem Einzelnen vorstaatlich (von Natur aus) zukommenden Grundrechte wurde dann in sog. Grundrechtskatalogen festgehalten, wie sie – auch inspiriert von der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 17894 – im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts in fast allen Staaten mit europäischer Rechtstradition Eingang fanden.5 1. Nationaler Grundrechtsschutz

Der Schutz der Grundrechte, die auf diese Weise – je nach Konstruktion der Grundrechtskataloge – vom Staat anerkannt oder dem Einzelnen durch den Staat zuerkannt wurden, blieb aber prekär, da er davon abhing, ob und inwieweit der Staat seinen eigenen Grundrechtskatalog beachtete. Totalitäre Systeme, wie sie im 19. Jahrhundert grundgelegt und im 20. Jahrhundert etabliert wurden, deuteten die Grundrechte entweder um oder relativierten sie auf eine solche Weise, dass sie keine feste Grundlage für den Schutz des Einzelnen mehr boten. 2. Internationaler Grundrechtsschutz gegenüber dem Staat

Aufgrund dieser negativen Erfahrungen wurde die Achtung von Grundfreiheiten und Menschenrechten nach dem Zweiten Weltkrieg einerseits zum Markenzeichen der freiheitlich-demokratischen Staaten Europas6 in Abgrenzung zu den 2

Vgl. Hobbes, Leviathan, 1651, Einleitung, Kapitel 18 und 31. Vgl. Locke, Two treatises of government, Bd. 2, 1690; auch Essay concerning human understanding, 1690. Vgl. dazu Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie2, Wien 1963, S. 122 ff. 4 Die Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen erklärt, dass es natürliche und unveräußerliche Rechte wie Sicherheit, Freiheit und Eigentum gibt, und rechtfertigt den Widerstand gegen staatliche Unterdrückung. Vgl. Gauchet, Die Erklärung der Menschenrechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, Hamburg 1991. 5 Vgl. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt, I. Bd.: Historische Entwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Wien 1974, S. 115 ff. 6 Trotz der vergleichsweise geringen freiheitlich-demokratischen Tradition in Deutschland wurde gerade das 1949 geschaffene Bonner Grundgesetz (BGBl. 1949, 1 ff., zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Grundgesetz vom 21.07. 2010, BGBl. 2010 I, 944), zu einem klaren Ausdruck dieses Bekenntnisses zum freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat und diente nicht erst nach der Wende vielen Staaten als Beispiel. Vgl. zur Vorbildwirkung des Bonner Grundgesetzes bereits in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts etwa für Griechenland, Portugal und Spanien den Vortrag des Jubilars vor der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer am 12.05.1999: „50 Jahre deutsches Grundgesetz und die europäische Verfassungsentwicklung“, druckgelegt in: Speyrer Vorträge, Bd. 50, 1999, S. 18 ff. 3

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realsozialistischen Regimes der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten, andererseits aber auch erkannt, dass der Schutz dieser Rechte und Freiheiten nicht allein den einzelnen Staaten überlassen werden durfte. Dies führte schon 1950 zum Abschluss der Europäischen Konvention zum Schutze der Grundfreiheiten und der Menschenrechte7 durch die Mitglieder des erst ein Jahr zuvor gegründeten Europarates,8 deren entscheidender Fortschritt darin bestand, dass der verpflichtende nationale Rechtsschutz durch einen internationalen Rechtsschutz ergänzt und überhöht wurde,9 der durch internationale Rechtsschutzorgane10 auszuüben war. Das System der Europäischen Menschenrechtskonvention, das seit 1950 durch zahlreiche Zusatzprotokolle zur EMRK inhaltlich angereichert und prozedural verbessert wurde, ist auf den Schutz des Einzelnen gegen den Staat – seinen eigenen, aber auch jeden anderen Konventionsstaat – ausgerichtet. Inhaltlich beschränkt es sich auf die klassischen bürgerlichen und politischen Grund- und Freiheitsrechte; für die sozialen Grundrechte korrespondiert der EMRK die Europäische Sozialcharta.11 3. Internationaler Grundrechtsschutz gegenüber der (organisierten) internationalen Gemeinschaft

Da nach einer traditionellen Auffassung der Einzelne durch den Staat gegenüber der internationalen Gemeinschaft „mediatisiert“ wurde,12 die internationale Gemeinschaft auch in ihrer organisierten Form13 also nicht auf den Einzelnen 7 Vom 04.11.1950, BGBl. 1958/210, i. d. F. BGBl. III 1998/30. Österreich trat der EMRK 1958 bei; die zunächst umstrittene Frage des Rangverhältnisses zwischen Verfassungsrecht und EMRK wurde durch ein besonderes Verfassungsgesetz (Bundesverfassungsgesetz vom 4.3.1964, mit dem Bestimmungen des Bundesverfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 über Staatsverträge abgeändert und ergänzt werden, BGBl. 1964/59) geklärt, nach welchem die EMRK mit dem Tag ihres Inkrafttretens in Österreich im Verfassungsrang steht. 8 Vgl. zur Gründung des Europarates, dessen Ursprungsgedanke weit in die europäische Geschichte zurückreicht, Schwimmer, Der Europarat, Entstehungsgeschichte, Rolle und Stellenwert für Österreich, in: Hummer (Hrsg.), Österreich im Europarat 1956– 2006, Wien u. a. 2006, S. 18 ff. 9 Vgl. die Präambel der EMRK, wo es heißt: „Die Unterzeichnerregierungen [. . .], entschlossen, als Regierungen europäischer Staaten, die vom gleichen Geist beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an politischen Überlieferungen, Idealen, Achtung der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit besitzen, die ersten Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung aufgeführten Rechten zu unternehmen [. . .].“ 10 Während ursprünglich der Europäischen Kommission für Menschenrechte als Vermittlungsorgan vorderhand die Wahrung der Individualrechte oblag, wurde diese Zuständigkeit durch das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK dem EGMR (BGBl. III Nr 47/ 2010) in alleiniger Zuständigkeit übertragen. Vgl. Art. 34 EMRK. 11 BGBl. 460/1969. 12 Vgl. statt vieler Fischer/Köck, Völkerrecht6, Wien 2004, Rz. 663. 13 Also in der Form internationaler Organisationen.

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durchgriff,14 andererseits der Heimatstaat zu seinen Gunsten das sog. diplomatische Schutzrecht ausüben konnte,15 warf der Schutz des Einzelnen gegen diese internationale Gemeinschaft kein Problem auf. a) Grundrechtsschutz gegenüber dem Völkerbund und der UNO Dies änderte sich erst mit dem Auftreten von Fällen, wo die internationale Gemeinschaft Aufgaben übernahm, die traditionellerweise von einem Staat wahrgenommen wurden. Das war einmal dort der Fall, wo eine bestimmte Staatengemeinschaft die Verwaltung eines Gebietes übernahm, wie dies z. B. als eine von mehreren Möglichkeiten der Verwaltung eines Gebietes unter dem Treuhandsystem der Vereinten Nationen vorgesehen war.16 Schon zuvor hatte der Völkerbund Verantwortung für die Administration bestimmter Gebiete übernommen, sei es unter dem Mandatssystem,17 sei es unter dem Sonderregime für die Freie Stadt Danzig,18 doch kam dem Völkerbund in dieser Fällen nur die Ausübung einer Kontrolle zu,19 sodass die Gelegenheiten, hiedurch Grundrechte von Menschen zu verletzen, sehr begrenzt waren. Beispiele für eine UN-Verwaltung, die tatsächlich realisiert wurde, stellen Osttimor20 und zuletzt das Kosovo dar, das mit Resolution 1244 (1999)21 der Administration durch die Vereinten Nationen unterstellt wurde, bis die Statusfrage einer endgültigen Lösung zugeführt sein würde.

14 Ausnahmen stellten nur die delicta iuris gentium dar, die vom Völkerrecht formuliert wurden und bei deren Verfolgung der verfolgende Staat zwar im eigenen Namen, letztlich aber doch für die internationale Gemeinschaft tätig war, die ein Interesse daran hatte, dass ein hostis humanae generis der Bestrafung zugeführt wurde. Vgl. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht9, Köln u. a. 1997, Rz. 927 ff. 15 Vgl. ausführlich Fischer/Köck, Völkerrecht6, Wien 2004, Rz. 380 ff. 16 Nach Art. 81 SVN kann die Verwaltung eines Treuhandgebietes entweder durch einen Staat, eine Staatengruppe oder durch die VN selbst erfolgen. 17 Die im Rahmen des Völkerbundes eingerichteten Mandate gingen durch die Gründung der Organisation der Vereinten Nationen auf diese über und wurden in das Regime des Treuhandsystems überführt. Vgl. Schweisfurth, Völkerrecht, Tübingen 2006, 11. Kapitel, Rz. 78. 18 Vgl. Schweisfurth, Danzig, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. 12, Amsterdam u. a. 1990, S. 85 f. 19 Vgl. zum Mandatssystem des Völkerbundes etwa Rauschning, Mandates, in: Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law, Bd. 10, Amsterdam u. a. 1987, S. 288 ff. 20 SR Res. 1272 vom 25.10.1999, mit welcher durch die UNTAET (United Nations Transitional Administration in East Timor) von den VN die volle Verwaltung übernommen wurde, nachdem das durch den Sicherheitsrat an einzelne Mitglieder erteilte Mandat (SR Res. 1264 vom 15.09.1999) sich als nicht zielführend erwiesen hatte. Vgl. im Überblick auch Wilde, From Danzig to East Timor and Beyond, The Role of International Territorial Administration, in 95 AJIL, 2001, S. 853 ff. 21 Vgl. zum Ganzen Köck/Horn/Leidenmühler, From Protectorate to Statehood, Wien u. a. 2009, S. 37 ff.

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b) Grundrechtsschutz gegenüber den Europäischen Gemeinschaften/der Europäischen Union Der klassische Fall eines Durchgriffs einer Staatengemeinschaft auf den Einzelnen ist aber die supranationale Organisation. Für sie steht prototypisch die Europäische Union (früher die Europäische[n] Gemeinschaft[en]) mit ihren Grundsätzen der unmittelbaren Anwendbarkeit bzw. der direkten Wirkung22 von Unionsrechtsakten gepaart mit dem Vorrang des Unionsrechts vor dem mitgliedstaatlichen Recht.23 Je nach Rechtsgebiet ist daher heute der Mensch, der Unionsbürger ist, sich in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union aufhält oder (insbesondere wirtschaftliche) Tätigkeiten mit Auswirkungen auf den Bereich der Europäischen Union ausübt, dem Unionsrecht in genau derselben Art unterworfen wie dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaates. Damit tritt auch die Frage des Rechtsschutzes gegen Verletzungen der Grundrechte durch die Europäische Union auf. aa) Auf der Grundlage der Gründungsverträge Dieser Aspekt wurde zur Zeit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts offenbar noch nicht als problematisch angesehen; jedenfalls ist eine entsprechende Regelung in den Gründungsverträge unterblieben. Das hat später insbesondere dem deutschen Bundesverfassungsgericht Anlass gegeben, gegenüber dem Gemeinschaftsrecht für sich eine Berufung zur Verteidigung der Grundrechte der Bundesbürger zu reklamieren,24 wenngleich dieser Anspruch in der Folge bisher nie praktisch geworden ist, weil das Bundesverfassungsgericht keinen Anlassfall zum Einschreiten gesehen hat.25 Freilich war ein solcher Anspruch nicht nur (gemeinschafts)rechtsdogma22 Die als eines der fundamentalen Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts seit seinem Urteil vom 15.02.1963 in der Rs. 26/62, van Gend en Loos, Slg. 1963, 7 ff., (26), durch den Europäischen Gerichtshof stetige Verfestigung und Weiterentwicklung erfahren hat. 23 Welcher seitens des Europäischen Gerichtshofs durch das Grundsatzurteil vom 15.07.1964 in der Rs. 6/64, Costa vs. ENEL, Slg. 1964, 1259 ff. (1269 f.) ebenfalls eine frühe Klarstellung erfahren hat. 24 Vgl. etwa die Solange I und Solange II-Beschlüsse des deutschen Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss vom 29.05.1974, Az. BvL 52/71 BVerfGE 37, 271 ff., sowie BVerfG, Beschluss vom 22.10.1986, Az. 2 BvR 197/83, BVerfGE 73, 339 ff.) durch welche die mitgliedstaatliche Sicht der Evolution des europäischen Grundrechtsschutzes in seiner Relation zu den mitgliedstaatlichen Verfassungen klar zum Ausdruck kommt. 25 Zuletzt hat sich das BVerfG in seinem Erkenntnis hinsichtlich des Vertrags von Lissabon mit der Frage eines ausreichenden europäischen Grundrechtsschutzes auseinandergesetzt und im Wesentlichen seine im Zuge des Solange II-Beschlusses gewonnenen Erkenntnisse bestätigt, als es u. a. darum ging, ob etwa durch die Rechtsverbindlichkeit der europäischen Grundrechtecharta das Profil des Grundrechts der Menschenwürde (Art. 1 GG) geschwächt wäre, indem es von einem unabdingbaren zu einem

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tisch nicht gedeckt,26 sondern auch rechtspolitisch nicht geboten, da der Europäische Gerichtshof von Anfang an gegen Akte der Gemeinschaften einen Grundrechtsschutz auf der Basis der den Mitgliedstaaten in diesem Bereich gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätzen ausübte.27 Es kann auf keinen Fall verwiesen werden, wo dieser vom EuGH gewährte Grundrechtsschutz hinter dem Grundrechtsstandard der Mitgliedstaaten zurückgeblieben wäre. bb) Nach dem Unionsvertrag Ungeachtet des Umstands, dass die gemeinsamen allgemeinen Rechtsgrundsätze eine ausreichende Grundlage für den Grundrechtsschutz im Rahmen der Europäischen Gemeinschaften boten, hielten es die Mitgliedstaaten doch für angezeigt, im Zuge der sog. Vertiefungsverträge28 ihrer Integration auch eine geschriebene Grundlage für den Grundrechtsschutz zu schaffen. Erstmals wurde ein entsprechender Hinweis in den Unionsvertrag von Maastricht 1992 aufgenommen29 und dort zur Präzisierung über die gemeinsame Verfassungstradition hinaus auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention verwiesen,30 deren Parteien alle Mitgliedstaaten waren und sind. cc) Nach dem Vertrag von Lissabon Darüber hinaus wurde das Projekt einer EU-Grundrechtecharta in Angriff genommen, bei deren Erarbeitung man sich das erste Mal der sog. Konventsmeeiner Güterabwägung zugänglichen Rechtsgut reduziert worden sei. Vgl. BVerfG, Urteil vom 30.09.2009, Az. 2 BvE 2/08 u. a., BVerfGE 123, 267 ff. [Rz. 188 ff.]). 26 Wegen des ausnahmslosen Anwendungsvorrangs; vgl. dazu die ausführliche dogmatische Aufarbeitung bei Fischer/Köck/Karollus, Europarecht4, Wien 2002, Rz. 851 ff. 27 Frühe und grundsätzliche Entscheidungen des Gerichtshofs waren die bekannten Urteil des Gerichtshofs vom 12.11.1969, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, 419 ff.; Urteil vom 17.12.1970, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125; und das Urteil vom 14.05.1974, Rs. 4/73, Nold, Slg. 1974, 491. 28 Die, beginnend mit der 1986 unterzeichneten Einheitlichen Europäischen Akte (ABl. L 169 vom 29.07.1987, 1 ff.), in zunehmend kürzeren Intervallen (als Meilenstein der EU-Vertrag von Maastricht 1992 [ABl. C 191 vom 29.07.1992 1 ff.], ferner die Verträge von Amsterdam 1997 [ABl. L 169 vom 29.06.1997, 1 ff.], sowie von Nizza 2001 [ABl. C 80 vom 10.03.2001, 1 ff.] und zuletzt das allen in bester Erinnerung stehende Tauziehen um den bereits 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon [ABl. C 306 vom 17.12.2007, 1 ff.]) für eine Vervollständigung der europäischen Integration sorgen. 29 ABl. C 191 vom 29.07.1992, 1 ff. 30 Vgl. den ursprünglichen Art. F Abs. 2 des EU-Vertrages: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“

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thode bediente,31 die dann auch für die Erarbeitung der letztlich als solche gescheiterten „Verfassung für Europa“ herangezogen wurde.32 Die EU-Grundrechtecharta wurde vom Europäischen Rat zusammen mit dem Parlament und der Kommission aus Anlass des Nizza Gipfels der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten im Oktober 2000 proklamiert,33 allerdings mit dem Schönheitsfehler, dass sie als solche dadurch noch keine bindende Wirkung erlangen sollte. In der Folge diente sie aber doch der Lehre und Rechtsprechung als Referenzgrundlage, was ihre Hebung in den Rang der Rechtsverbindlichkeit durch den Reformvertrag von Lissabon 200734 zweifellos erleichtert hat. Die EU-Grundrechtecharta deckt insoweit nicht nur den Bereich der EMRK (und ihrer Zusatzprotokolle) mit ihren bürgerlichen und politischen Freiheiten ab, sondern auch den Bereich der Europäischen Sozialcharta,35 denn sie enthält auch die sozialen Grundrechte.36 II. Verhältnis von EU-Grundrechtsschutz und EMRK-Grundrechtsschutz Aus dem bisher Dargestellten ergibt sich, dass in Europa zwei regionale Menschenrechtsschutzsysteme nebeneinander bestehen, nämlich jenes des Europarates und jenes der Europäischen Union. Zwischen beiden Menschenrechtsschutzsystemen besteht eine inhaltliche Verbindung jedenfalls insofern, als sich der Europäische Gerichtshof schon vor jeder Nennung von Grundrechten im Gefüge des Unionsvertrags bei der Ermittlung der den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten gemeinsamen Rechtsgrundsätzen inhaltlich auch an der Europäischen Menschenrechtskonvention orientiert hat.37 Seit dem Vertrag von Maastricht wird also im Unionsvertrag ausdrücklich auch auf die EMRK Bezug ge-

31 Vgl. ausführlich zur Konventionsmethode etwa Maurer/Göler, Die Konventsmethode in der Europäischen Union – Ausnahme oder Modell?, SWP-Studie S 44/2004 (http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2004_S44_mrr_goeler _ks.pdf, abgerufen am 14.02.2011); ferner Jarass, EU-Grundrechte, München 2005, § 1, Rz. 21 ff. 32 ABl. C 310 vom 16.12.2004, 1 ff. 33 ABl. C 83 vom 30.03.2010, 389 ff. 34 ABl. C 306 vom 17.12.2007, 1 ff. 35 Vom 18.10.1961, die von Österreich 1969 ratifiziert wurde (BGBl. 460/1969). Vgl. weitergehend Fischer/Köck/Karollus, Europarecht4, Wien 2002, Rz. 537 ff.; Karl, Die europäische Sozialcharta, in: Hummer (Hrsg), Österreich im Europarat 1956–2006, Wien 2008, S. 851 ff. 36 Vgl. Titel IV der Europäischen Grundrechtecharta. 37 Vgl. etwa die Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727, in welcher das in Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK enthaltene Grundrecht auf Eigentum thematisiert wurde (Rz 18 ff.).

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nommen. Und die EU-Grundrechtecharta betrachtet die EMRK sozusagen als jenen grundrechtlichen Mindeststandard, auf dem sie selbst aufbaut.38 1. Das Problem divergierenden Grundrechtsschutzes

Ungeachtet dessen ist es aber zwischen der Grundrechtsjudikatur des Gerichtshofs der Europäischen Union und jener des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu – wenngleich bisher nur geringfügigen – Divergenzen gekommen.39 Das ist der Rechtssicherheit in beiden Bereichen nicht zuträglich und wird dort zu einem Problem, wo eine und dieselbe Person hinsichtlich gleichartiger Sachverhalte divergierenden Grundrechtsordnungen untersteht. Dies lässt sich selbst dann nicht vermeiden, wenn die Sachverhalte als solche fein säuberlich getrennt werden, eine Vorgangsweise, die allerdings auch ihrerseits gelegentlich in Frage gestellt wird. Wird diese Trennung aber nicht durchgehalten, dann kann es tatsächlich sogar hinsichtlich eines und desselben Sachverhaltes zu divergierenden Entscheidungen der beiden Gerichtshöfe kommen. a) Die Frage der Zuständigkeit Dies wirft eine Reihe von Fragen auf, teils über die jeweilige Anwendbarkeit der einen oder anderen Konvention, teils über die Zuständigkeit des jeweiligen Gerichtshofs. Die Unhaltbarkeit, eine Person hinsichtlich gleichartiger Sachverhalte unterschiedlichen Grundrechtsordnungen zu unterwerfen, führt jedenfalls dazu, die Zusammenführung beider Grundrechtsordnungen für geboten erscheinen zu lassen. Freilich kann auch eine solche Zusammenführung weitere Fragen aufwerfen, wenn die Vorstellungen der einen Seite mit jenen der anderen Seite oder beide mit dem Anspruch einer tatsächlichen Auflösung von Antinomien unvereinbar erscheinen.

38 Dies zeigt sich deutlich in den Erläuterungen der Charta der Grundrechte, ABl. C 303 vom 14.12.2007, 17 ff. 39 So urteilte etwa der EuGH zunächst hinsichtlich des in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankerten Schutzes der Privatsphäre, dass jener sich nicht auf Geschäftsräumlichkeiten erstrecke (Urteil vom 21.09.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Hoechst, Slg. 1989, 2859 ff.), während der EGMR hinsichtlich einer Durchsuchung von Räumlichkeiten einer Anwaltskanzlei eine weite Auslegung von Art. 8 Abs. 1 EMRK dahingehend verfolgte, den Schutz von Geschäftsräumen in dessen Schutzbereich mit einzubeziehen. Vgl. Urteil vom 16.12.1992, Nr. 13710/88, Niemitz/Deutschland. In der Folge dieses Judikats nutze der EuGH jedoch die Gelegenheit, in einer anderen Rechtssache (Urteil vom 22.10.2002, Rs. 94/00, Roquettes Frères S.A., Slg. 2002, I-9011) das von ihm gewährte Ausmaß an Grundrechtsschutz hinsichtlich der Privatsphäre an jenes des EGMR anzugleichen.

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aa) Zuständigkeit bei Grundrechtsverstößen mitgliedstaatlicher Organe Bisher hat sich ein nicht weiter problematisierter Zugang zum Problem folgendermaßen dargestellt: Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind auch Parteien der Europäischen Menschenrechtskonvention. Folglich haben sie auch beim Vollzug des Unionsrechts40 die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beachten. Verletzen sie diese Vorgaben, so kann das betroffene Individuum (nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges) beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde einreichen, mit der Folge, dass dieser Gerichtshof in die Lage versetzt werden kann, indirekt über die Vereinbarkeit eines Rechtsaktes der Europäischen Union mit der Europäischen Menschenrechtskonvention abzusprechen, falls sich der Mitgliedstaat, gegen den sich die Beschwerde richtet, auf diesen Rechtsakt beruft. Stellt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Unvereinbarkeit von Europäischer Menschenrechtskonvention und Unionsrechtsakt fest, so ist der Mitgliedstaat gehalten, den Letzteren nicht anzuwenden bzw. für den Beschwerdeführer eine der Menschenrechtskonvention entsprechende Rechtslage herbeizuführen. bb) Zuständigkeit bei Grundrechtsverstößen von Unionsorganen Dieser Ansatz nimmt freilich nicht darauf Bedacht, dass nicht nur die Mitgliedstaaten durch bzw. bei Vollzug des Unionsrechts Grundrechte, die durch die EMRK geschützt sind, verletzen können, sondern auch Organe der Union selbst. Um auch diese Verletzungen in den Griff zu bekommen, müsste man schon die Europäische Union mit ihren Mitgliedstaaten identifizieren und Letztere für das Verhalten der ersteren kollektiv verantwortlich und gegebenenfalls haftbar machen.41 Eine letzte Rückfallsmöglichkeit in der Argumentation, warum das Verhalten mitgliedstaatlicher Organe beim Vollzug des Unionsrechts auch weiter der Beurteilung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterliegen soll, greift auf den Zeitpunkt der Gründung der Europäischen Gemeinschaften zurück: die Mitgliedstaaten der (heute:) Europäischen Union, hätten – als Parteien der Europäischen Menschenrechtskonvention – Teile ihrer Hoheitsgewalt nicht an eine supranationale Gemeinschaft abtreten dürfen oder gar können, ohne gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, dass auch die Ausübung der übertragenen Hoheitsrechte dem Rechtsschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention unterworfen bleibt.

40 Der Begriff des Vollzugs des Unionsrechts umfasst nicht nur dessen Vollziehung durch Rechtsprechung und Verwaltung, sondern auch dessen Umsetzung durch die Gesetzgebung. Vgl. Fischer/Köck/Karollus, Europarecht4, Wien (2002), Rz. 817. 41 Auch dieser Ausweg wurde bereits versucht; vgl. dazu unten.

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b) Unbefriedigende derzeitige Rechtsschutzsituation Trotzdem ist die Situation, wie schon eingangs festgestellt, nicht befriedigend, weil ein Marktbürger42 zwar nicht hinsichtlich eines bestimmten, sehr wohl aber hinsichtlich gleichartiger Sachverhalte unterschiedlichen Grundrechtsschutzregimes unterliegen kann, je nachdem, ob er sich außerhalb der Anwendbarkeit des Unionsrechts ereignet oder in dessen Anwendungsbereich hineinspielt und damit hineinfällt. Es ist eine verständliche Forderung, dass eine Person zumindest im europäischen Raum einem einheitlichen Grundrechtsverständnis ausgesetzt sein soll. Ein widerspruchsloses Grundrechtsverständnis ist aber nur bei entsprechender Verschränkung der Systeme des Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Union gesichert. 2. Die Vereinheitlichung des Grundrechtsschutzes

Eine solche Verschränkung wird nunmehr mit dem Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention angestrebt. Eine Reihe von Voraussetzungen dafür sind bereits geschaffen worden. So eröffnet das XIV. Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention aus 2004,43 das 2010 in Kraft getreten ist, der Europäischen Union grundsätzlich die Möglichkeit, Partei der Europäischen Menschenrechtskonvention zu werden. Zu diesem Zweck musste die frühere Regelung, nach welcher nur Mitglieder des Europarates Parteien der EMRK werden konnten, entsprechend abgeändert werden.44 a) Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention Auf Seiten der Europäischen Union war es ursprünglich unklar, ob für den Beitritt zur EMRK der alte Art. 308 EG45 als Grundlage ausreichte. Während Kommission und Parlament diese Auffassung vertraten,46 hatten einzelne Mit42 Vgl. zum Begriff des Marktbürgers, welcher über jenen des Unionsbürgers hinausgeht, Fischer/Köck/Karollus, Europarecht4, Wien 2002, Rz. 792. 43 BGBl. III 47/2010 vom 21.05.2010. Der hinhaltende Widerstand Russlands gegen das XIV. ZP konnte erst durch den Abschluss eines Protokolls XIVbis unter den übrigen Parteien der EMRK überwunden werden, das die vorläufige Anwendung des XIV. ZP unter allen übrigen Parteien vorsah und am 1. Oktober 2009 in Kraft trat. 44 Art. 17 des Protokolls XIV hat Art. 59 EMRK dahingehend geändert, dass jetzt auch die Europäische Union Vertragspartei werden kann. 45 Ex-Art. 308 EG, heute im Wesentlichen inhaltlich unverändert Art. 352 Abs. 1 S.1 AEUV, bestimmte als so genannte Vertragsergänzungsklausel: „Erscheint ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, und sind in diesem Vertrag die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften.“

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gliedstaaten daran Zweifel, weshalb vorweg ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofs eingeholt wurde. In diesem Gutachten 2/9447 stellte der Europäische Gerichthof fest, dass Art. 308 EG keine geeignete Grundlage darstelle, weil es sich dort nur um Kompetenzen handle, welche wahrzunehmen zur Verwirklichung von Ziel und Zweck des EG-Vertrags notwendig wären;48 ein Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention wurde aber vom Gerichtshof als hiefür nicht erforderlich erachtet.49 Er hat daher für einen derartigen Schritt eine ausdrückliche Grundlage im Primärrecht gefordert. Mittlerweile wurde eine solche Grundlage durch den neuen Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV geschaffen. Danach „[tritt d]ie Union [. . .] der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei.“ Diese Norm erhält also nicht nur eine Ermächtigung zum Beitritt, sondern stellt gleichzeitig auch einen Auftrag an die zuständigen EU-Organe dar, diesen Beitritt zu betreiben. Die Ermächtigung zum Beitritt in Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV gilt auch für den Beitritt der Union zu den Zusatzprotokollen zur EMRK.50 Von dieser rechtlichen Frage ist die politische zu unterscheiden, ob die Europäische Union auch solchen Protokollen beitreten soll, die nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind.51 Es wird Aufgabe der zuständigen EU-Organe sein, zu gegebener Zeit darüber zu befinden. aa) Institutionelle Lösungen Die für den Einzelnen befriedigende Verschränkung der beiden Rechtsschutzsysteme wird dann als erreicht angesehen werden können, wenn eine divergierende Rechtsprechung von Gerichtshof der Europäischen Union und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte hintangehalten und damit sichergestellt werden kann, dass der Einzelne bei gleichartigen Sachverhalten, von denen einer nach dem Recht eines Mitgliedsstaates, der andere nach dem Recht der Europäischen Union zu beurteilen ist, in seinen Grundrechten gleichermaßen geschützt ist. Eine Hintanhaltung divergierender Rechtsprechung ist aber nur auf dreierlei

46 Die Kommission erwog bereits 1979 einen Beitritt der EG zur EMRK, was später auch vom Europäischen Parlament unterstützt wurde. Vgl. die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 18.01.1994, ABl. C 44 vom 14.02.1994, S. 32 ff. 47 Gutachten 2/94 des EuGH vom 28.03.1996, Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Slg. 1996, I-1759 ff. 48 Vgl. dahingehend bereits den Wortlaut der Vorschrift. 49 Vgl. Gutachten des EuGH 2/94, Slg. 1996, I-1763 ff., Rz. 32 ff. 50 Auf den Stand ihrer Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten kommt es dabei nicht an. 51 Dies betrifft die Protokolle Nr. 4 (Freizügigkeit und Ausweisung), Nr. 7 (Ausweisung, Verfahrensgarantien bei Straftaten und Gleichberechtigung von Ehegatten), Nr. 12 (allgemeines Diskriminierungsverbot) und Nr. 13 (Abschaffung der Todesstrafe).

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Weise möglich, nämlich indem die letzte Entscheidung entweder beim Gerichtshof der Europäischen Union oder beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder bei einer dritten, beide bindenden Instanz liegt. Der Gedanke, in einem solchen Fall beide Gerichtshöfe durch einen dritten überhöhen zu lassen, wäre an sich nicht von vornherein als abwegig zu betrachten. Tatsächlich war für den Europäischen Wirtschaftsraum, der die EG-Mitglieder und die EFTA-Staaten unter ein gemeinsames Regime bringen sollte, ursprünglich ein EWR-Gerichtshof vorgesehen, der sich aus Richtern des Europäischen Gerichtshofs und des EFTA-Gerichtshofs zusammensetzen sollte. Diese Konstruktion wurde aber vom EuGH in seinem entsprechenden Rechtsgutachten52 mit der Begründung abgelehnt, damit würde die Rechtsordnung der Europäischen Gemeinschaften an eine Instanz ausgeliefert, die von den Gemeinschaften nicht ausreichend kontrolliert werden könne, was mit dem Wesen des Gemeinschaftsrechts unvereinbar sei.53 Die Idee eines EWR-Gerichtshofs wurde daraufhin aufgegeben. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gerichtshof der Europäischen Union dem Gedanken eines solchen EU-EMRK-Gerichtshofs positiver gegenüberstehen würde; ein solcher ist auch in Zusammenhang mit dem geplanten Beitritt der Europäischen Union zur EMRK erst gar nicht angedacht worden. Damit bleibt nur die Unterordnung des einen Gerichtshofs unter den anderen für den Bereich der Grundrechtssprechung; und die Frage ist dann, welcher von beiden Gerichtshöfen hier das letzte Wort haben soll. Diese Frage könnte dadurch entschärft werden, dass man die Entscheidungskompetenz nicht schlechthin beim einen oder anderen von ihnen ansiedelt, sondern das Zuvorkommen entscheiden lässt: jener Gerichtshof, der zuerst mit einer bestimmten Grundrechtsfrage befasst wird, entscheidet mit Bindungswirkung für beide Gerichtshöfe. Auf diese Art käme es zu einer Art von gemischtem case law. Eine solche Regelung wäre im Ergebnis jener vergleichbar, wo ein Gerichtshof über zwei voneinander getrennte Senate verfügt, wobei jeder von ihnen an eine frühere Entscheidung des anderen gebunden ist.54 Eine solche Lösung birgt aber auch Nachteile in sich. Von zwei Senaten eines und desselben Gerichtshofs kann man noch erwarten, dass sie – eben weil sie denselben Gerichtshof repräsentieren – genug esprit de corps aufbringen, um die Entscheidung des jeweils anderen Senats zu akzeptieren, auch wenn sie dieselbe oder die ihr zugrunde liegende Begründung nicht teilen, weil sonst das Ansehen 52 Gutachten 1/91 des EuGH vom 14.12.1991, Entwurf eines Abkommens zwischen der Gemeinschaft einerseits und den Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation andererseits über die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums, Slg. 1991, I-6079. 53 A. a. O., Rz. 46 ff. 54 So die Konstruktion am deutschen Bundesverfassungsgericht, wobei Art. 16 Abs. 1 des deutschen BVerfGG vorschreibt: „Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen, so entscheidet darüber das Plenum des Bundesverfassungsgerichts.“

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des Gerichtshofs als Ganzes gefährdet wäre. Diese Motivation fällt bei zwei Gerichtshöfen, die aus unterschiedlichen Rechtssystemen kommen und unterschiedliche Traditionen haben, weg. Es muss daher damit gerechnet werden, dass jeder Gerichtshof versuchen wird, sich von Entscheidungen des anderen, die er missbilligt, freizuspielen. Das Fallrecht, das sowohl in der Europäischen Union als auch im Bereich der Europäischen Menschenrechtskonvention eine große Rolle spielt, bietet hiefür zwei Möglichkeiten an: die Differenzierung der Sachverhalte und die Feststellung, was beim Präzedenzfall holding – also die eigentliche Entscheidung mit den sie tragenden, von ihr notwendig vorausgesetzten Gründen – und was bloß obiter dictum ist, also eine im Rahmen der Entscheidung vom Gerichtshof gemachte Bemerkung, die für die Entscheidung nicht notwendig ist und daher auch unterbleiben hätte können. Da sich die Bindungswirkung des Präzedenzfalles nur auf das holding, nicht aber auf das obiter dictum bezieht, ist die Beurteilung, was zu ersterem und was zu Letzterem gehört, von großer Wichtigkeit. Dass Gerichte selbst im eigenen Bereich bei der Unterscheidung von holding und obiter dictum nicht immer zimperlich sind, wenn ihnen die frühere Entscheidung nicht (mehr) gefällt, zeigt das Endurteil des Internationalen Gerichtshofs im Fall Südafrika.55 Bei einer solchen sozusagen konkurrierenden Kompetenz von Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte und Gerichtshof der Europäischen Union wäre daher die Beseitigung des Problems etwaiger unterschiedlicher Behandlung von gleichartigen Sachverhalten, von denen der eine nach dem Recht eines Mitgliedstaates, der andere nach Unionsrecht zu beurteilen ist, hinsichtlich des Grundrechtsschutzes nicht ausreichend garantiert. Scheidet man die Lösung, für den Grundrechtsschutz konkurrierende Zuständigkeiten zweier Gerichte anzunehmen, die nach dem Prinzip des Zuvorkommens zum Zuge kommen, wegen der gerade genannten Schwierigkeiten aus, dann bleibt nur noch die Lösung, einen Gerichtshof dem anderen unterzuordnen. Theoretisch könnte hinsichtlich des Grundrechtsschutzes im europäischen Raum sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte dem Gerichtshof der Europäischen Union untergeordnet werden als auch der Letztere dem ersteren. Praktisch spricht aber viel dafür, hier die letzte Entscheidung dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu übertragen. Erstens sind zwar alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch Parteien der Europäischen Menschenrechtskonvention, doch ist der Kreis der Parteien der EMRK weiter als jener der Mitgliedstaaten. Da es aber ganz systemfremd wäre, Nichtmitgliedstaaten am Rechtsschutzsystem der Europäischen Union zu beteiligen, ist eine Einbindung aller interessierten Staaten nur im Rahmen des Rechtsschutzsystems der Europäischen Menschenrechtskonvention möglich und daher den Nichtmitgliedstaaten der Europäischen Union nur diese Variante zumutbar.

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IGH, Urteil vom 18.07.1966, Liberia/South Africa, ICJ Reports 1966, 6 ff.

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Zweitens behandelt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerden gegen die Verletzung aller Art von Grundrechtsverstößen; der Gerichtshof der Europäischen Union ist hingegen mit Verstößen befasst, die in Zusammenhang mit der Ausübung der – im Vergleich zur staatlichen Allzuständigkeit eingeschränkten – Unions-Kompetenzen auftreten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist daher besser geeignet, Querverbindungen zwischen allen Grundrechten herzustellen und auf diese Weise eine ausgereiftere bzw. homogenere Grundrechtsjudikatur zu entwickeln, als dies dem Gerichtshof der Europäischen Union möglich ist, dessen Rechtsprechung um situationsgebundene Grundrechtsverstöße kreist.56 Die genannten Gründe sprechen dafür, bei einem Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention die letzte Entscheidung darüber, ob durch das Unionsrecht bzw. im Zuge seiner Vollziehung Grundfreiheiten und Menschenrechte, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert sind, verletzt wurden, dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu überlassen. bb) Prozedurale Lösungen Ist dies einmal akzeptiert, so ist anschließend die Frage nach dem Verfahren zu stellen. Eine Regelung, die mit dem Rechtsschutz systemkonform ist, den der Europäische Gerichtshof bei Verstößen der Mitgliedstaaten gegen die in der EMRK verbürgten Grundrechte gewährt, müsste die Europäische Union nach ihrem Beitritt wie jede andere Partei der Konvention auch behandeln. Was die Frage anlangt, wer bei einer Beschwerde wegen Verletzung von Grundrechten durch das Unionsrecht oder im Zuge der Vollziehung desselben eigentlich Beschwerdegegner ist, so sind auf dieselbe zwei unterschiedliche Antworten möglich, die davon abhängen, ob man dort, wo das Unionsrecht durch mitgliedstaatliche Organe vollzogen wird, von der funktionalen oder von der organisatorischen Qualifikation dieser Organe ausgeht. Die organisatorische Betrachtungsweise ist vorzuziehen, weil sie den Beschwerdeführer der Aufgabe enthebt festzustellen, ob das mitgliedstaatliche Organ funktional als solches oder als Organ der Europäischen Union tätig geworden ist. Überdies eignet sich eine solche – bei funktionaler Betrachtungsweise schon für die Frage der Zulässigkeit der

56 Vgl. Art. 51 Abs. 1 der Grundrechtecharta, wonach diese „[. . .] für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union [gilt]“. Eine Gesamtharmonisierung des Grundrechtsschutzes, abgekoppelt vom Vorliegen eines unionsrechtlich relevanten Sachverhaltes, war damit gerade nicht vorgesehen. Vgl. dahingehend auch Kokott/Sobotta, Die Charta der Grundrechte nach Lissabon, in: Europäische Grundrechtezeitschrift (EuGRZ) 2010, S. 265 ff. (S. 267 f.).

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Beschwerde bedeutsame – Feststellung, die auch erst das Zwischenergebnis eines bereits eingeleiteten Verfahrens sein kann, nicht als Kriterium für die Beurteilung, ob die Beschwerde schon ab instantia zurückzuweisen ist. Hingegen wird mit dem Beitritt der Europäischen Union zur EMRK endgültig die Frage ausgeräumt, wer bei einer Verletzung von in der Konvention verankerten Grundrechten durch Organe der Europäischen Union Beschwerdegegner ist. Bisher unterlagen ja Akte der Union als solche nicht der Kontrolle durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte;57 und der Versuch, die Mitgliedstaaten in ihrer Gesamtheit für Grundrechtsverletzungen der Unionsorgane verantwortlich zu machen,58 erinnert an mittelalterliche Verfahren, wo sich die Auffassung, dass juristische Personen durch ihre Organe handeln und daher nicht alle Mitglieder derselben geschlossen auftreten müssen, noch nicht durchgesetzt hatte.59 Was jene Fälle anlangt, wo sich die Beschwerde gegen einen Akt des Mitgliedstaates wendet, der aber seinerseits (tatsächlich oder vermeintlich) auf einem Rechtsakt der Union beruht, so hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte jüngst in der Entscheidung Bosphorus eine Individualbeschwerde gegen eine mitgliedstaatliche Maßnahme, welche auf einen EG-Sekundärrechtsakt60 zurückging und sich damit letztlich gegen Gemeinschaftsrecht richtete, für zulässig erachtet, gleichzeitig jedoch in materiell-rechtlicher Hinsicht betont, dass eine grundsätzliche Vermutung für die Vereinbarkeit von Konvention und Gemeinschaftsrecht bestehe.61 Es wird in der Literatur insofern zutreffend von einer „Solange-Rechtsprechung“ des EGMR gesprochen.62 57 Konsequenterweise lehnte bisher der EGMR in ständiger Rechtsprechung eine unmittelbare Überprüfung von Gemeinschafts-(Unions-)Rechtsakten ab, da die EG/EU bisher nicht Vertragspartei war bzw. ist. Vgl. etwa das Urteil des EGMR 18.02.1999 Nr. 45036/98, Matthews. 58 Wie er im Fall Senator Lines – Beschwerde Nr. 56672/00, DSR, Senator Lines gegen Österreich [und die damaligen restlichen 14 Mitgliedstaaten] – unternommen wurde. Die Individualklage wurde vom EGMR indes aus anderen Gründen (die Entscheidung des Europäischen Gerichts erster Instanz zugunsten der Klägerin überschnitt sich zeitlich mit der Klage vor dem EGMR) als unzulässig abgewiesen. Vgl. die Entscheidung des EGMR vom 10.03.2004. Vgl. zu diesem Verfahren auch Ress, Das Europarecht vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, in: Forum Constitutionis Europae, Bd. 2, 2002, S. 12 ff. (www.whi-berlin.de/documents/ress.pdf [20.02.2011]). 59 So kam es gelegentlich vor, dass bei Klagen einer Stadt alle deren Bürger geschlossen vor dem Gericht auftraten. Dasselbe galt natürlich mutatis mutandis auch dann, wenn die Stadt Beklagte war. 60 Und zwar auf eine Verordnung, also einen unmittelbar anwendbaren Sekundärrechtsakt. 61 EGMR, Entscheidung vom 30.06.2005, Nr. 45036/98. 62 Vgl. Haratsch, Die Solange-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte – Das Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und EGMR, in: ZaöRV 2006, S. 927 ff.

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cc) Grundsatz der autonomen Auslegung des Unionsrechts Aufgrund des Umstands, dass das Verhalten des tätig gewordenen Organs in einem solchen Fall durch das Unionsrecht und nicht etwa durch das Recht des betreffenden Mitgliedstaates bestimmt ist, kann die Frage nach der richtigen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts bzw. nach der EMRK-Konformität desselben eine Rolle spielen, ein Problem, dessen unionsrechtlich befriedigende Lösung im Zuge des Beitritts herbeizuführen sein wird. In diesem Zusammenhang verlangt der Grundsatz der autonomen Auslegung des Unionsrechts, dass sich die im Rahmen des Rechtsschutzsystems der EMRK tätig werdenden Organe – insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und das Ministerkomitee des Europarates – nicht mit Fragen befassen dürfen, welche die Auslegung des Unionsrechts, insbesondere was die Befugnisse der Organe der Union sowie Inhalt und Umfang der den Mitgliedstaaten aus dem Unionsrecht erwachsenden Pflichten anlangt, betreffen, und zwar nicht nur nicht ausdrücklich, sondern auch nicht implizit. Um dies zu gewährleisten, wird im Zuge des Beitritts sicherzustellen sein, dass alle Fragen, die die Auslegung des Unionsrechts betreffen und die für die Beurteilung, ob im konkreten Fall eine Verletzung der durch die Europäische Menschenrechtskonvention garantierten vorliegt, nur eine Vorfrage darstellen können, ausschließlich vom Gerichtshof der Europäischen Union beantwortet werden.63 Soweit dies nicht dadurch geschehen kann, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bloß die der EMRK zugewendete „Außenseite“ des EU-Rechts beurteilt, müsste dieser verpflichtet werden, auf Antrag der Europäischen Union das Verfahren aussetzen und vom Gerichtshof der Europäischen Union eine Art Vorabentscheidung64 einholen. dd) Grundsatz der Gleichberechtigung aller Konventionsparteien Der Grundsatz der Gleichberechtigung aller Parteien der EMRK verlangt, dass die Europäische Union in das Rechtsschutzsystem der EMRK institutionell in gleicher Weise eingebunden ist wie die übrigen Parteien der Konvention. Dafür reicht ein für Verfahren, welche die Europäische Union betreffen, ad hoc bestellter Richter nicht aus; ein ständiger Richter entspricht auch dem Grundsatz, dass

63 Vgl. dahingehend auch das Reflexionspapier des Europäischen Gerichtshofs zu bestimmten Aspekten des Beitritts der europäischen Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Rz. 8 (online verfügbar unter http://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2010-05/convention_de_ 2010-05-21_08-58-25_999.pdf [15.02.2011]). 64 Dahingehende Überlegungen werden jedenfalls offenbar derzeit in den Verhandlungsgremien angestellt. Vgl. die Presseaussendung der österreichischen Parlamentsdirektion vom 18.01.2011 (online verfügbar unter http://www.parlinkom.gv.at/PAKT/PR/ JAHR_2011/PK0047/index.shtml, [16.02.2011]).

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jedes Rechtssystem im Gerichtshof vertreten sein soll.65 Gerade für die Europäische Union ist wegen ihres spezifischen, sie von den Staaten abhebenden Charakters und des Umstandes, dass das Unionsrecht eine gesonderte, autonome und hoch spezialisierte Rechtsordnung darstellt, ein solcher Richter, der in derselben Art an der Tätigkeit des Gerichtshofs mitwirkt wie die aus den einzelnen Staaten kommenden Richter, unabdingbar. Überdies muss die Union auch das Recht haben, an den Arbeiten aller Organe des Europarates, die das EMRK-System betreffen, mitzuwirken. Dies gilt auch für die Mitwirkung des Europäischen Parlaments bei der Wahl der Richter,66 in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates67 und (inhaltlich begrenzt68) für Sitz und Stimme im Ministerkomitee69 sowie für die Teilnahme an zukünftigen Vertragsverfahren zur allfälligen Änderung oder Ergänzung der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle oder zur Ausarbeitung neuer Protokolle. Selbstverständlich wird sich die Europäische Union an den Kosten des EMRKSystems beteiligen (müssen). Dies könnte in Form eines nach einer zuvor vereinbarten Formel berechneten Pauschalbetrages geschehen, was jede Ingerenz der Union in das jährlichen Haushaltsverfahren des Europarates – der gemäß Art. 50 EMRK die Kosten trägt – von vornherein überflüssig machen würde. ee) Verfahrensrechtliche Sonderregelungen Das Verfahren zur Feststellung, ob die Beschwerde begründet ist, also eine Grundrechtsverletzung vorliegt, muss sich – wo die Europäische Union als solche Beschwerdegegner ist – grundsätzlich in keiner Weise von jenen Verfahren unterscheiden, die bei Grundrechtsverletzungen, die behaupteter Maßen von Staaten, die Parteien der Konvention sind, begangen wurden, Anwendung finden. Wegen des besonderen Charakters der Europäischen Union erscheinen aber einige Sonderregelungen angezeigt.

65 Vgl. hierzu auch die klare Auffassung der Kommission in ihrer Empfehlung vom 17.03.2010 für einen Beschluss des Rates zur Ermächtigung der Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen über den Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, SEK(2010)305, 11. 66 Wie die in Art. 22 EMRK vorgesehene Liste mit den drei Kandidaten für den Sitz des EU-Richters zustande kommt, ist für die Union eine ebenso interne Angelegenheit wie für die übrigen Konventsstaaten. Vgl. detailliert zum Prozedere Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention2, Baden-Baden 2006, Art. 22 EMRK. 67 Vgl. dahingehend auch Obwexer, Beitritt der EU zur EMRK, in: ecolex 2010, S. 1028 ff. (S. 1030). 68 Bei der Wahrnehmung von Aufgaben gemäß Art. 39, 46 und 47 EMRK. 69 Es muss einer unionsinternen Regelung überlassen bleiben, wie sich die Union und ihre Mitgliedstaaten in Zusammenhang mit der Überwachung des Vollzugs von gegen die Union ergangenen Urteilen abstimmen.

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(1) Co-Verteidigung So sollte insbesondere sichergestellt werden, dass die Union und die Mitgliedstaaten das wechselseitige Recht erhalten, sich bei einem gegen sie gerichteten Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jeweils als mitbeklagte Partei anzuschließen.70 Dies erscheint vor allem in allen Fällen wichtig, wo sich die Beschwerde gegen einen Mitgliedstaat wegen eines Aktes richtet, den dieser in Erfüllung des Unionsrechts erlassen hat und dessen Erlassung er nur durch Missachtung seiner Verpflichtungen aus dem Unionsrecht hätte vermeiden können; hier sollte dem Mitgliedstaat die Co-Verteidigung durch die Union zugute kommen, die vielleicht besser als er (allein) in der Lage ist, die Konformität der unionsrechtlichen Norm mit der EMRK dazutun. Überdies kann sich die Union nur als vollwertige Prozesspartei aller notwenigen Rechtsmittel bedienen, um zu zeigen, dass die in Rede stehende Bestimmung des Unionsrechts die in der EMRK garantierten Rechte nicht verletzt; dies gilt insbesondere auch für die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer gemäß Art. 43 EMRK. Die in Art. 36 Abs. 2 EMRK schon jetzt vorgesehene Intervention als Streithelfer des betreffenden Mitgliedstaats reicht hiefür nicht aus. Der Vorteil dieser Sonderregelungen für das EMRK-System würde darin bestehen, dass im Falle eines verurteilenden Erkenntnisses sowohl der Mitgliedstaat als auch die Europäische Union zu dessen Vollziehung verpflichtet wären, ohne dass dies unionsinterne Probleme aufwirft, die negative Außenwirkungen zeitigen können. Dies gilt insbesondere für die Bereinigung der unionsinternen Rechtslage, die – wo es um die Aufhebung von Normen des primären oder sekundären Unionsrechts geht – von einem Mitgliedstaat allein nicht zu bewerkstelligen wäre, auch wenn hier auf das in Art. 4 Abs. 3 EUV enthaltene Gebot wechselseitiger Loyalität verwiesen werden kann. (2) Begriff des innerstaatlichen Instanzenzuges Anlässlich des Beitritts müsste auch die Frage der Klärung zugeführt werden, wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem für Individualbeschwerden bestehenden Zulässigkeitserfordernis der Ausschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges in all jenen Fällen umzugehen hat, wo es um behauptete Grundrechtsverstöße beim Vollzug des Unionsrechts geht. Nach richtiger Auffassung wird in solchen Fällen, wo ein Rechtsakt der Union durch ein Unionsorgan vollzogen wird, die Art. 35 Abs. 1 EMRK geforderte Erschöpfung

70 Etwa in Form einer Streitgenossenschaft, vgl. Kokott/Sobotta, Die Charta der Grundrechte nach Lissabon, in: Europäische Grundrechtezeitschrift (EuGRZ) 2010, S. 265 ff. (S. 267).

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„aller [internen] Rechtsbehelfe“ auch die vorherige Befassung des EuGH mit Grundrechtsfragen einschließen.71 Wird hingegen das Unionsrecht von einem Mitgliedstaat vollzogen und wäre bei seiner Vollziehung die Befassung des EuGH in Form eines Vorabentscheidungsverfahrens unterblieben, so sollte für die Zulässigkeit einer Individualbeschwerde gefordert sein, dass der Beschwerdeführer vor dem in letzter Instanz entscheidenden mitgliedstaatlichen Gericht die Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens zumindest angeregt hat.72 Die (wenngleich unionsrechtswidrige) Unterlassung der Einholung einer solchen Vorabentscheidung durch das Gericht kann allerdings nicht zu Lasten des Einzelnen gehen. Sollte man innerhalb der Europäischen Union die Befassung des EuGH vor Einbringung einer Individualbeschwerde auch in solchen Fällen für unbedingt geboten erachten, so müsste dem Einzelnen von unionsrechtswegen die Veranlassung der Vorabentscheidung ermöglicht werden. Ob in Fällen, wo das in letzter Instanz tätige mitgliedstaatliche Gericht die Einholung einer Vorabentscheidung unterlassen hat,73 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte darauf beschränkt werden kann, lediglich diese Verletzung (von Art. 6 EMRK74) festzustellen und weitere Aspekte des Falles nicht aufzugreifen, muss hier dahingestellt bleiben und bedarf zur Sicherstellung einer allfälligen Beschränkung wohl ebenfalls einer besonderen Regelung. (3) Unionsgerichte als „innerstaatliche“ Gerichte Eine solche Regelung wäre auch in Zusammenhang mit der Qualifikation der Unionsgerichte als „innerstaatliche“ Gerichte wünschenswert, selbst wenn diese Qualifikation an sich auf der Hand liegt. Es sollte nämlich von vornherein auch nur der Anschein vermieden werden, als handle es sich bei den Unionsgerichten um internationale Instanzen i. S. von Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK oder von

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Obwexer, Beitritt der EU zur EMRK, in: ecolex 2010, S. 1028 ff. (S. 1030). Soweit ihm nicht das mitgliedstaatliche Recht mehr Möglichkeiten zur Herbeiführung eines Vorabentscheidungsverfahrens einräumt. Vgl. hierzu auch Obwexer, Beitritt der EU zur EMRK, in: ecolex 2010, S. 1028 ff., der es genügen lassen will, dass der betroffene Beschwerdeführer in einem Individualverfahren zuvor im Zuge des innerstaatlichen Instanzenzuges ein Vorabentscheidungsverfahren beantragt hat (S. 1030). Ein Antragsrecht i. e. S. kommt dem Einzelnen vor dem innerstaatlichen Gericht freilich nicht zu, weil das Vorabentscheidungsverfahren nicht seinem, sondern dem Interesse des vorlegenden Gerichts dient. 73 Für die differenzierende Entscheidung, ob dies nach den durch den EuGH in der Rs. 283/81, CILFIT, Slg 1982, 8415 ff. aufgestellten Kriterien zu recht oder zu unrecht geschah, kann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht als zuständig angesehen werden. 74 Vgl. Beschwerden Nr. 35673/97, Schweighofer u. a. gegen Österreich, und Nr. 9912/82, Lutz gegen Deutschland. 72

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Art. 55 EMRK. Erstere Bestimmung lässt nämlich Beschwerden u. a. dann nicht zu, wenn die Sache „schon einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet worden ist und keine neuen Tatsachen enthält.“ Nach letzterer Bestimmung ist es den Parteien der EMRK verboten, „eine Streitigkeit über die Auslegung oder Anwendung dieser Konvention einem anderen als den in der Konvention vorgesehenen Beschwerdeverfahren zur Beilegung zu unterstellen.“ ff) Terminologische Anpassungen Schließlich wären aus Anlass des Beitritts jene terminologischen Änderungen in der EMRK und ihren Zusatzprotokollen vorzunehmen, welche durch den Umstand gefordert werden, dass die Europäische Union kein Staat ist.75 Allerdings würde auch die Klarstellung im Beitrittsabkommen genügen, dass die einen Staat voraussetzenden Termini sich mutatis mutandis auch auf die Union und ihre Verhältnisse beziehen. gg) Grundsatz der Wahrung des EMRK-Systems Über die gerade genannten Sonderregelungen hinaus lässt der Beitritt der Europäischen Union keine Änderung des EMRK-Systems als wünschenswert oder gar notwendig erscheinen; dies gilt nicht nur für das formelle, sondern auch für dass materielle Recht. Damit kann dem Wunsch nach möglichst weitgehender Wahrung des EMRK-Systems (der dem Wunsch nach ebenso weitgehender Wahrung des EU-Systems entspricht) Rechnung getragen werden. hh) Vollziehung der Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs Für die Erfüllung eines verurteilenden Erkenntnisses des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in einem Verfahren, in welchem ein Organ der Europäischen Union den Grundrechtsverstoß zu vertreten hat, ist die Union zuständig. Dort, wo nicht die Europäische Union, sondern ein Mitgliedstaat Beschwerdegegner ist, der Grundrechtsverstoß aber eine unionsrechtliche Grundlage hat, bleibt es dem Unionsrecht überlassen zu regeln, auf welche Weise die Europäische Union zur Wiedergutmachung beiträgt. Eine grundsätzliche Verpflichtung der Union hiezu ergibt sich schon aus dem Loyalitätsgebot in Art. 4 Abs. 3 EUV. Soweit der Grundrechtsverstoß auf eine Verletzung des Unionsrechts seitens des

75 Also überall dort, wo von „Staat“, „Land“ oder „Nation“ die Rede ist. Vgl. z. B. Art. 10 Abs. 1, Art. 11 Abs. 2, Art. 17 und Art. 56 Abs. 1 EMRK.

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Mitgliedstaates zurückzuführen ist, können die vom Gerichtshof der Europäischen Union in Zusammenhang mit der Staatshaftung entwickelten Kriterien nur soweit in Betracht kommen, als sie die Erfüllung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht unmöglich machen. Das schließt insbesondere das Erfordernis eines qualifizieren Verstoßes gegen das Unionsrecht aus. Würde man dem Mitgliedstaat eine Berufung auf das Nichtvorliegen dieses Erfordernisses auch in diesem Zusammenhang erlauben, müsste nämlich die Union als ganze für den Grundrechtsverstoß haften, und der betreffende Mitgliedstaat wäre besser gestellt, als wenn er aufgrund einer Beschwerde verurteilt würde, die sich gegen eine von ihm außerhalb des Vollzugs des Unionsrechts begangenen Verstoßes richtet. Eine solch unterschiedliche Behandlung erscheint nicht gerechtfertigt; damit wird freilich auch wieder die Fragwürdigkeit des Erfordernisses eines qualifizierten Verstoßes gegen das Unionsrecht als solches deutlich. b) Besondere Bedingungen der Europäischen Union für den Beitritt Unsere Betrachtungen, obwohl in sich abgerundet, sollen aber nicht abgeschlossen werden, ohne auf ihrem Hintergrund jene Bedingungen zu beleuchten, mit denen die Europäische Union in die Verhandlungen über einen Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention eingetreten ist.76 aa) Erhaltung der Besonderheit der Union und ihres Rechts Das Protokoll Nr. 8 über den Beitritt der Union zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten enthält für die Beitrittsverhandlungen gewisse Vorgaben. Dort heißt es in Art. 1, dass „[i]n der Übereinkunft über den Beitritt [. . .] dafür Sorge getragen [wird], dass die besonderen Merkmale der Union und des Unionsrechts erhalten bleiben“. Die soll sowohl hinsichtlich einer „besondere[n] Regelung für eine etwaige Beteiligung der Union an den Kontrollgremien der Europäischen Konvention“ als auch der „Mechanismen [gelten, die nötig sind], um sicherzustellen, dass Beschwerden von Nichtmitgliedstaaten und Individualbeschwerden den Mitgliedstaaten und/oder gegebenenfalls der Union ordnungsgemäß übermittelt werden.“ Tatsächlich handelt es sich hier um wichtige Anliegen der Union, die mutatis mutandis freilich auch jeder anderen Partei der EMRK wichtig sein werden und hinsichtlich derer nicht unmittelbar einleuchtet, warum man sich dafür auf „die besonderen Merkmale der Union und des Unionsrechts“ beruft.

76 Der ebenfalls in Art. 6 Abs. 2 EUV enthaltene Hinweis „Dieser Beitritt ändert nicht die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union“ hat mit diesen Forderungen nichts zu tun, sondern verbleibt im Innenverhältnis der Union.

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bb) Erhaltung des bisherigen Systems von Zuständigkeiten und Befugnissen Auch Art. 2 des Protokolls bezieht sich mehr auf das Verhältnis der Europäischen Union zu ihren Mitgliedstaaten als auf die zukünftige Position der ersteren im System der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wenn „der Beitritt der Union die Zuständigkeiten der Union und die Befugnisse ihrer Organe unberührt“ lassen soll, ist es doch kaum Aufgabe der Beitrittsübereinkunft, dies sicherzustellen; vielmehr obliegt es den für den Abschluss der Übereinkunft zuständigen Unionsorganen,77 dafür zu sorgen, dass die Übereinkunft diese Zuständigkeiten und Befugnisse nicht berührt. Zwischen „nicht berühren“ und „sicherstellen“ ist aber ein Unterschied. Hinter dieser Formulierung, die fürs erste an die Kompetenzverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten denken lässt, könnte sich aber auch ein ganz spezifisches Anliegen verbergen. Ausgehend von der Überlegung, dass Parteien der EMRK diese nicht nur durch Handeln, sondern auch durch Unterlassen verletzen können, soll möglicherweise ausgeschlossen werden, dass die Europäische Union für die Nichterlassung von Rechtsakten verantwortlich gemacht werden kann, zu deren Setzung sie gar keine Kompetenz hat. Tatsächlich kann der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK nur als Beitritt einer Gemeinschaft angesehen werden, auf welche die Mitgliedstaaten zwar Hoheitsrechte übertragen haben, die aber im Gegensatz zu einem Staat keine All-, sondern nur eine limitierte Kompetenz besitzt, wie sie insbesondere im Grundsatz der begrenzten oder Einzel-Ermächtigung zum Ausdruck kommt. Von der Union kann daher auch im Bereich der EMRK nicht mehr verlangt werden, als sie nach Unionsrecht geben kann. cc) Erhaltung des bisherigen Verhältnisses von Mitgliedstaaten und EMRK Noch weiter hergeholt ist die Forderung, in der Übereinkunft müsse auch „sichergestellt [werden], dass die Bestimmungen der Übereinkunft die besondere Situation der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Europäische Konvention unberührt lassen, insbesondere in Bezug auf ihre Protokolle, auf Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten in Abweichung von der Europäischen Konvention nach deren Art. 15 getroffen werden, und auf Vorbehalte, die die Mitgliedstaaten gegen die Europäische Konvention nach deren Art. 57 anbringen“, denn das zukünftige Verhältnis der Europäischen Union zur EMRK ist eine, das Verhältnis der Mitgliedstaaten zu ihr eine andere Sache. Die Beitrittsübereinkunft berührt letzteres Verhältnis überhaupt nicht und kann daher auch für die Stellung der Mitglied77 Die Mitgliedstaaten müssen den nach Art. 218 Abs. 8 S. 1 erforderlichen einstimmigen Ratsbeschluss nach Art. 218 Abs. 8 S. 2 AEUV ratifizieren, damit dieser in Kraft treten kann.

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staaten als solche keine Änderung mit sich bringen. Dem steht auch Art. 216 Abs. 2 AEUV, nach welchem „[d]ie von der Union geschlossenen [internationalen] Übereinkünfte [. . .] die Organe der Union und die Mitgliedstaaten [binden]“, nicht entgegen, weil sich der Beitritt und ein allfälliges in diesem Zusammenhang von der Europäischen Union abgeschlossenes Abkommen ja nur auf Grundrechtsverletzungen durch die Europäische Union, nicht aber auf Grundrechtsverletzungen der Mitgliedstaaten beziehen. Soweit die Mitgliedstaaten freilich Organe zum Vollzug des Unionsrechts zur Verfügung stellen, sind diese an das Unionsrecht gebunden; und ihr Verhalten unterliegt dann insoweit auch der Kontrolle durch das Rechtsschutzsystem der EMRK. Im Übrigen hatte eine etwaige Sonderstellung des einen oder anderen Mitgliedstaates im Verhältnis zur Europäischen Menschenrechtskonvention78 schon bisher keinen Einfluss auf das Verhältnis zwischen Mitgliedstaat und Europäischer Union; und die Organe des Mitgliedstaates waren daher schon jetzt gehalten, sich der Grundrechtsordnung der Europäischen Union, wie sie vom Europäischen Gerichtshof entfaltet wurde, zu konformieren. Der Umstand, dass der eine oder andere Mitgliedstaat gegenüber der EMRK irgendwann eine Sonderstellung bezogen hat, hat daher auf sein Verhältnis zur Europäischen Union keinen Einfluss; und wenn der Gerichtshof der Europäischen Union bei dem von ihm gewährten Grundrechtsschutz auch die in der EMRK niedergelegten Menschenrechte und Grundfreiheiten zugrunde legt (wie dies übrigens Art. 6 Abs. 3 EUV ausdrücklich vorsieht), so kann sich kein Mitgliedstaat ihm gegenüber auf seine Sonderstellung im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention berufen. Diese Sonderstellung kann daher auch gegenüber einer nachprüfenden Kontrolle des Unionsrechtsvollzugs auf seine Übereinstimmung mit der EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht zum Tragen kommen. Insoweit enthält Protokoll Nr. 8 nur Bestimmungen, die mit dem in Aussicht genommenen Beitritt der Europäischen Union zur EMRK eigentlich nichts zu tun haben, sondern unter anderen Aspekten gleichsam ex abundante cautela eingefügt worden sind. dd) Erhaltung der Alleinzuständigkeit des EuGH zur Auslegung des Unionsrechts Das Gleiche gilt auch für Art. 3 des Protokolls, nach welchem „[k]eine der Bestimmungen der Übereinkunft nach Art. 1 [. . .] Art. 344 des Vertrags über die 78 Nicht alle Mitgliedstaaten haben die Protokolle Nr. 4, 7, 12 und 13 ratifiziert. Einige Mitgliedstaaten haben von der in Art. 57 EMRK eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht und Vorbehalte gegenüber einzelnen Bestimmungen der EMRK oder einem oder mehreren Protokollen angebracht.

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Arbeitsweise der Europäischen Union [berührt]“. Aufgrund dieses Artikels sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, „Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als hierin [d.h. in den Verträgen] vorgesehen zu regeln.“ Abgesehen davon, dass Art. 3 legistisch misslungen ist – stellt er sich doch seinem Wortlaut nach als (vorweggenommene) unionsrechtliche Interpretation eines zukünftigen Abkommens dar (argumento nicht berührt) – während er doch bloß bestimmen soll, dass die Beitrittsübereinkunft den Grundsatz der ausschließlich unionsinternen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts nicht berühren darf, kann der Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention als solcher die Art und Weise der Beilegung von Streitigkeiten innerhalb der Union über die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts ohnedies nicht berühren. Der hinter der Bestimmung stehende Gedanke ist jener der Abwehr von Staatenbeschwerden der Mitgliedstaaten untereinander,79 von „Staaten“beschwerden der Union gegen einen Mitgliedstaat80 und von Staatenbeschwerden der Mitgliedstaaten gegen die Union,81 die alle das Unionsrecht verletzen würden. Da ein entsprechendes im Unionsrecht bestehendes Verbot aber gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte keine Wirkung entfalten kann, müsste beim Beitritt in geeigneter Weise sichergestellt werden, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf Antrag der Union oder des beklagten Mitgliedstaats das Verfahren aussetzen muss, bis die Angelegenheit unionsintern beigelegt ist und sich daher eine Weiterführung des Verfahrens erübrigt.82

79 Für eine Staatenbeschwerde der Mitgliedstaten untereinander ist der Fall Kommission v. Irland, Rs. C-459/03, Urteil vom 30.05.2006, Slg. 2006, I-4635, zu nennen, wonach es gegen Art. 344 AEUV (ex-Art. 292 EG) verstößt, wenn ein Mitgliedstaat ein anderes Gericht als den EuGH anruft, um die Verletzung eines Unionsrechtsakts durch einen anderen Mitgliedstaat feststellen zu lassen. Dies schließt auch die Beteiligung von Mitgliedstaaten als Streithelfer gem. Art. 36 EMRK an Individualbeschwerden aus, die sich gegen behauptete Verstöße in Bereichen richten, die dem Unionsrecht unterfallen. 80 Eine solche Beschwerde, die sich ohnedies nur gegen ein unionsrechtsrelevantes Verhalten des Mitgliedstaates richten könnte, würde das in Art. 258 AEUV vorgesehene Vertragsverletzungsverfahren umgehen und wäre daher unionsrechtlich unzulässig. 81 Eine solche Beschwerde würde, wenn sie sich gegen ein Handeln der Union richten sollte, die in Art. 263 AEUV vorgesehene Nichtigkeitsklage, wenn sie sich gegen ein Untätigbleiben der Union richten sollte, die in Art. 265 AEUV vorgesehene Untätigkeitsklage umgehen und wäre daher unionsrechtlich unzulässig. 82 Dieser Auffassung ist im Ergebnis auch der Europäische Gerichtshof. Vgl. das Reflexionspapier des Europäischen Gerichtshofs zu bestimmten Aspekten des Beitritts der europäischen Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Rz. 11 (online verfügbar unter http://curia.europa.eu/jcms/upload/ docs/application/pdf/2010-05/convention_de_2010-05-21_08-58-25_999.pdf [15.02. 2011]).

Grundrechtsschutz nach der Europäischen EMRK und dem Recht der EU

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ee) Rechtliche Bedeutung der besonderen Bedingungen Was die in Art. 3 des Protokolls genannten besonderen Bedingungen anlangt, so wird es für deren Beachtung auf das konkrete Beitrittsinstrument ankommen. Der einzige Weg zu einem solchen besteht unionsintern in einem Übereinkommen nach Art. 218 AEUV (also dem Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags unter verschärften Bedingungen83). Nach außen werden freilich nicht die Mitgliedstaaten, sondern es wird die Europäische Union als Vertragspartner auftreten, sodass mit einem Beitrittsabkommen zwischen den (derzeit 47) Vertragsparteien der EMRK auf der einen Seite und der Europäischen Union auf der anderen Seite zu rechnen ist. Es wäre freilich grundsätzlich nicht ausgeschlossen, dass das Beitrittsinstrument auch die der Union zugrunde liegenden Verträge84 verändern kann, weil die Mitgliedstaaten, die gemeinsam (selbstverständlich nicht jeder für sich!) „Herren der Verträge“ geblieben sind,85 diese Verträge durch einen neuen Vertrag (unter sich oder mit anderen Staaten) abändern können. Sollten sich die Mitgliedstaaten daher entschließen, den Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention selbst auf einem anderen als auf dem in Art. 218 AEUV vorgezeichneten Weg herbeizuführen, so könnten die Mitgliedstaaten in diesem neuen Vertrag die Frage der Beilegung von Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge neu regeln, womit Art. 344 AEUV, gegebenenfalls auch 258 und 265 AEUV derogiert wäre, ohne dass Art. 3 des Protokolls ein wirksames Hindernis dagegen darstellen würde. ff) Voraussichtliches Beitrittsprozedere Hinsichtlich des eigentlichen Beitrittsprozedere finden sich die EU-Mitgliedstaaten gleich in mehreren Rollen wieder. Als bisherige Vertragsparteien der EMRK müssen sie das Beitrittsabkommen86, für welches das Zusatzprotokoll XIV 83 Die verschärften Bedingungen bestehen darin, dass gemäß Art. 218 Abs. 6 lit. a ii) AEUV zunächst das Parlament einem entsprechenden Ratsbeschluss über den Abschluss der Übereinkunft zustimmen muss. Art. 218 Abs. 8 S. 2 AEUV schreibt zudem vor, dass der Rat diesen Beschluss im Wege der Einstimmigkeit fasst und dieser erst dann in Kraft tritt, nachdem ihn die Mitgliedstaaten ratifiziert haben. 84 EUV, AEUV und EU-Grundrechtecharta. 85 Diese Situation wird solange fortdauern, als die Europäische Unions sich nicht von einem (wenn auch hochintegrierten) Staatenbund zu einem (wenn auch stark dezentralisierten) Bundesstaat gewandelt hat. In letzterem Fall wären die Mitgliedstaaten bei Änderungen des Unionsrechts an die in den Verträgen (welche dann die Verfassung des Bundesstaates im formellen Sinn bilden würden) für Primärrechtsänderungen vorgesehenen Verfahren gebunden. Ein revolutionärer Akt der Mitgliedstaaten wäre damit allerdings nicht ausgeschlossen; seine Geltung hinge von seiner Effektivität ab. 86 Die zum Beitrittsabkommen bestehende Alternative, den Beitritt der EU über ein weiteres Zusatzprotokoll abzuwickeln, steht, soweit ersichtlich, nicht mehr zur Diskussion.

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den Weg geebnet hat, ratifizieren. Und auch unionsintern wird ihre Zustimmung unumgänglich sein, selbst wenn die Ratsmitglieder das Verhandlungsheft über das Beitrittsübereinkommen der Kommission übergeben haben. Jedenfalls führen die in Art. 218 Abs. 6 lit. a Z. ii) und in Abs. 8 AEUV explizit für den Beitritt festgelegten und gegenüber gewöhnlichen Übereinkommen der Union deutlich verschärften Voraussetzungen dazu, dass das entsprechende Abkommen unter besonderer Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Interessen zu entwerfen sein wird. Dass dies seine Zeit brauchen wird, ist am derzeitigen Verfahrensstand87 erkennbar. Obwohl die Kommission und der Europarat-Lenkungsausschuss bereits am 7. Juli 2010 in die Beratungen über ein Beitrittsabkommen eingetreten sind88 und erwartet werden konnte, dass die Verhandlungen dank eines straffen Fahrplans bereits im Juli 2011 abgeschlossen sein würden, scheint doch sowohl in zentralen Fragestellungen als auch zu wichtigen Detailfragen, die in diesem Beitrag angesprochen wurden,89 bislang noch kein Konsens zwischen den Vertragsparteien gefunden worden zu sein. Da die sich an die Verhandlungen anschließenden Genehmigungs- und Ratifizierungsverfahren ihrerseits Verzögerungen mit sich bringen können, wird sich erst am Ende des gesamten Prozesses zeigen, auf welch komplexes Problem man sich mit der Entscheidung für einen Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention eingelassen hat.

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Februar 2011. Vgl. die Pressemeldung der Kommission vom 07.07.2010, IP/10/906, Europäische Kommission und Europarat starten Gespräche über den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention. 89 So beispielsweise hinsichtlich des Verfahrens in Zusammenhang mit dem oben angesprochenen Co-Verteidigungsmechanismus. 88

Die anthropozentrische Wende – menschenrechtlicher Individualschutz im Völkerrecht Von Markus Kotzur I. Einleitung: Menschenrechtsrevolution und Menschenrechtsevolution „Der Ruf nach Menschenrechten“, so hat der Jubilar Klaus Stern an prominenter Stelle geschrieben, „leitete in der Geschichte, auch in der jüngeren, Revolutionen ein.“ 1 Für das Völkerrecht mag es eine „stille Revolution“ 2 gewesen sein, allerdings eine mit erstaunlichen Konsequenzen. D. Schindler verdankt die Völkerrechtswissenschaft eine für dieses Erstaunen treffende Umschreibung: Das Individuum werde, und zwar in steigendem Maße, wertmäßig bei der internationalen Rechtsbildung berücksichtigt; die im einzelnen Menschen verankerten Werte würden international anerkannt, geschützt und gefördert.3 Ob indes revolutionärer Umbruch oder evolutionärer Wandel die vom Menschen her und auf den Menschen hin denkende Dynamik bedingen, lässt sich nicht mit einem SchwarzWeiß-Schema erfassen. Menschenrechtsrevolution und Menschenrechtsevolution stehen vielmehr ihrerseits in einem untrennbaren Bedingungszusammenhang. So reichen die kulturellen und philosophischen Wurzeln des Menschenrechtsdenkens tief: von Cicero zu J. Locke, von den Gesetzen des Hammurabi oder den Zehn Geboten zur „Magna Charta“ (1215), vom Westfälischen Frieden (1648) zum Humanitären Völkerrecht, von der katholischen Soziallehre zum Kommunistischen Manifest. Die ersten großen Menschenrechtsdokumente im modernen Sinne, die

1 K. Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: D. Merten/H.-J. Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2004, § 1 Rn. 1; vgl. auch ders., Menschenrechte als universales Leitprinzip, in: ebd., Bd. IV/2, 2009, § 185 Rn. 7 ff. 2 E. Klein, Menschenrechte. Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung, 1997; vgl. auch K. Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl. 2004, S. 425; M. Nettesheim, Das kommunitäre Völkerrecht, JZ 2002, S. 569 ff. 3 D. Schindler, Gleichberechtigung von Individuen als Problem des Völkerrechts, 1997; darauf Bezug nehmend K. Stern, Menschenrechte als universales Leitprinzip, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV/2, 2009, § 185 Rn. 9. Mit einer umfänglichen Literaturschau W. Kälin/J. Künzli, Universeller Menschenrechtsschutz, 2005, sowie Th. Marauhn (Hrsg.), Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht, 2003.

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„Virginia Bill of Rights“ (1776) und die Französische Erklärung der Menschenund Bürgerrechte, sind deshalb ein Stück weit zu Texten geronnene Evolution – ein Konzentrat von längst Vorgedachtem, ein Inbegriff von kulturellem Menschheitserbe.4 Das Evolutionäre, kulturell Gespeicherte machen sich Revolutionen zu Eigen, sie beschleunigen seine Dynamik und erstreiten – oft blutig – seine Durchsetzung und Anerkennung. Wo Menschenrechte als „angeboren“, „natürlich“ und „unveräußerlich“ apostrophiert werden, sind sie der Idee nach zunächst anthropologische Konstanten jenseits von Revolution und Evolution. In die Geschichte treten sie indes dort, wo ihr evolutives Werden revolutionäre Wirkung entfaltet. Nicht ohne Grund gilt die Idee universeller Menschenrechte in besonderer Weise als ein Kind der Französischen Revolution. Die Umbrüche im Frankreich des Jahres 1789 haben das Universalitätsdenken geistesgeschichtlich beeinflusst, mitunter auch politisch vereinnahmt.5 Der französische Konstitutionalismus war immer auch Menschenrechtskonstitutionalismus, aber von seiner nationalstaatlichen hin zu einer weltrechtlichen Orientierung bedurfte es noch zahlreicher evolutionärer Schübe und revolutionärer Sprünge – und großer Geduld.6 Noch in der Völkerbundsepoche, der Philanthropie, Humanitätsideale und eine moralische Orientierung der internationalen Politik durchaus nicht fremd waren, dominierte die staatliche Souveränität ohne jedes Wenn und Aber über den universellen Schutzgedanken.7 Den entscheidenden Schritt markiert erst die Transnationalisierung des Menschenrechtsschutzes nach 1945. Es galt eine traditionell rein innerstaatliche Angelegenheit, nämlich das Verhältnis Staat–Bürger, aus der domaine reservé auf die überstaatliche Ebene zu heben.8 Damit verbunden war 4 Vgl. auch H. Bielefeldt, Von der Aufklärung zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in: F.-J. Hutter/C. Kimmle (Hrsg.), Das uneingelöste Versprechen. 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 2008, S. 27 ff., 27. 5 Art. 16 der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ formuliert sendungsbewussten Verfassungsuniversalismus: „Toute Société dans laquelle la garantie des Droits n’est pas assurée, ni la séparation des Pouvoirs déterminée, n’à point de Constitution.“ Falsch verstandener Kulturuniversalismus wurde im Zeitalter des Kolonialismus als zivilisatorisches Oktroy missbraucht. Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut, der von allgemeinen Rechtsgrundsätzen spricht, welche die „Kulturvölker“ („civilized nations“) anerkannt haben, widerspiegelt das bis in die Gegenwart, vgl. A. Pellet, in: A. Zimmermann/Ch. Tomuschat/K. Oellers-Frahm (Hrsg.), The Statute of the International Court of Justice. A Commentary, 2006, Art. 38 Rn. 245 ff. 6 So K. Stern, Menschenrechte als universales Leitprinzip, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV/2, 2009, § 185 Rn. 7. 7 Ebd., Rn. 8. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt der Versuch dar, den das „Institut de droit International“ 1929 in seiner „Erklärung der internationalen Rechte des Menschen“ unternahm, s. Annuaire de l’Institute de Droit International 35 (1929–31), S. 298. 8 Ph. Jessup, Modernes Völkerrecht, 1950, S. 120; Ch. Schreuer, The Waning of the Sovereign State: Towards a New Paradigm for International Law, in: EJIL 4 (1993), S. 447 ff., 465 f.; R. Bernhardt, Europäische Menschenrechtskonvention: Entwicklung

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die Einsicht, dass neben dem Staat als dem ursprünglichen Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten der Mensch, das Individuum, eine neue und neu zu definierende Rolle im internationalen Recht übernehmen musste.9 Weil Souveränität nicht mehr absolut gesetzt, sondern instrumentell in den Dienst des Menschen gestellt ist10, erwächst das Individuum zum menschenrechtsgesicherten partiellen Völkerrechtssubjekt.11 Das Völkerrecht darf seinerseits regelnd in das innere Verhältnis zwischen Staat und Bürger eingreifen.12 Verbunden damit wandelt sich das Konzept der Sicherung bürgerlicher Freiheit durch die Begrenzung von Staatsgewalt vom rein verfassungsstaatlichen auch zum völkerrechtlichen Strukturprinzip politischer Ordnungsbildung.13 Nichts anderes meint die Rede von der „anthropozentrischen Wende“14 des Völkerrechts, die – wie der freiheitliche Verfassungsstaat – in der Menschenwürde erstlich und letztlich ihr Funda-

und gegenwärtiger Stand, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 137 Rn. 1. 9 E. Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, in: EuGRZ 1989, 9 ff., 9; vgl. aus dem Blickwinkel einer staatstheoretisch orientierten Forschung auch T. FleinerGerster, Allgemeine Staatslehre 1980, S. 90: „Stand im letzten Jahrhundert die Organisation der Staatsgewalt und zu Beginn dieses Jahrhunderts das Thema der Souveränität im Mittelpunkt der staatspolitischen Auseinandersetzung, dürften es heute die Grundund Menschenrechte sein.“ Aber auch schon im 19. Jh. gab es zukunftsweisende Ansätze, die Rolle des Individuums als Glied der internationalen Gemeinschaft zu beleuchten: so z. B. R. v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 1, 1860 (Nachdruck 1962), S. 586 f.: „Einmal sind sämtliche Subjekte einer internationalen Verbindung zu betrachten; nämlich nicht bloß die Staaten selbst, sondern auch die gesellschaftlichen Kreise und die einzelnen Individuen.“ 10 J. P. Müller, Wandel des Souveränitätsbegriffs im Lichte der Grundrechte, in: Symposion L. Wildhaber, 1997, S. 45 ff. 61; M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 322. 11 Für klassische Konzeptionen P. P. Remec, The Position of the Individual in International Law According to Grotius and Vattel, 1960. 12 H. Rumpf, The International Protection of Human Rights and the Principle of Non-Intervention, 1979. 13 Die Nähe zu einer überstaatlichen Rechtsstaatsidee respektive einer „international rule of law“ liegt auf der Hand, vgl. auch A. v. Arnauld, Rechtsstaat, in: O. Depenheuer/ Ch. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 21 Rn. 13, Rn. 58 ff. m.w. N. Überzeugend heißt es: „Es mag paradox klingen: Der Rechtsstaat ist auf den Staat nicht angewiesen. Anders als das Demokratieprinzip ist das nomokratische Prinzip nicht an vermeintlich (?) ontologische Größen wie das „Volk“ (oder eben auch den „Staat“) gebunden, sondern knüpft allein an das Vorhandensein institutionalisierter Macht an.“ 14 Zum Begriff s. a. P. Häberle, Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens, in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 1 ff., 28; J. Stone, A Sociological Perspective on International Law, in: R. St. J. Macdonald/D. M. Johnston (Hrsg.), The Structure and Process of International Law, 1983, S. 263 ff., 263; vgl. auch E. Friesenhahn, Der internationale Schutz der Menschenrechte, 1960, S. 18; Ch. Tomuschat, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 7 ff., S. 53. Nicht vergessen sei allerdings, dass schon 1879 C. Bluntschli (Die Entwicklung des Rechts und das Recht der Entwicklung – Kleine Schriften, S. 45) konstatierte: „Alles Recht dient dem Menschenleben“.

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ment hat.15 Die Phasen und Felder dieser Wende gilt es im Folgenden abzustecken und die sich wandelnde Rolle des Individuums dabei auszuloten. II. Die anthropozentrische Wende – ihre Phasen und Felder 1. Das Fremdenrecht, Humanitätsideale und das humanitäre Völkerrecht

Auch dem klassischen Völkerrecht war das Individuum als Rechtssubjekt nicht vollständig fremd. Eine menschen- bzw. individualrechtliche Seite hatte seit jeher das Fremdenrecht. Integrität, Eigentum und gerichtlicher Rechtsschutz des Fremden sollten und sollen bis heute gegen Übergriffe des Aufenthaltsstaates gesichert werden. Indes war der Fremde weitgehend „mediatisiert“. Die Durchsetzung seiner Rechte blieb – im Wege diplomatischen Schutzes – dem Heimatstaat überantwortet. Als dessen Angehöriger und nicht etwa als individueller Grundrechtsträger genoss er Schutz.16 Schrittweise aber haben sich gewohnheitsrechtliche Staatenverpflichtungen entwickelt, Ausländern auch auf dem eigenen Hoheitsgebiet einen Grundbestand von Rechten zu garantieren.17 Dazu gehört an erster Stelle das Recht auf Rechtsfähigkeit respektive Rechtssubjektivität. Aus der Subjektstellung resultieren „core rights“ wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie Sicherheit der Person; ferner die Gleichheit vor dem Gesetz und, prozedural gewendet, das Recht auf ein geordnetes gerichtliches Verfahren.18 Nicht minder früh und intensiv hat sich das humanitäre Völkerrecht dem Schutz des Individuums in bewaffneten Konflikten angenommen.19 Für das Völ15 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, § 97 mit umfänglichen Nachweisen; weiterhin P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 22; Ch. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997; ders., in: K. H. Friauf/W. Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 12. Ergänzungslieferung 2005, Art. 1; ders., in: K. Stern/F. Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 1, insbes. Rn. 115 ff.; Ph. Mastronardi, Menschenwürde als materielle „Grundnorm“ des Rechtsstaates?, in: D. Thürer/F. Aubert/J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, § 14; auch aus der Perspektive christlichen Naturrechtsdenkens A. Klose, Menschenwürde als universales Ordnungsprinzip, in: R. Weiler (Hrsg.), Die Wiederkehr des Naturrechts und die Neuevangelisierung Europas, 2005, S. 242 ff.; verfassungsvergleichend P. Ridola, Diritto comparato e diritto costituzionale europeo, 2010, S. 77 ff. 16 Zur menschenrechtlichen Dimension des Fremdenrechts R. Bernhardt, Europäische Menschenrechtskonvention: Entwicklung und gegenwärtiger Stand, in: D. Merten/ H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 137, Rn. 2. 17 K. Ipsen, in: ders., Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 50 Rn. 5. Umfassend J. A. Frowein/T. Stein (Hrsg.), Die Rechtsstellung von Ausländern nach staatlichem Recht und Völkerrecht, Bd. 1 und 2, 1987. 18 Wiederum K. Ipsen, in: ders., Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, § 50 Rn. 6. 19 Detaillierte Nachweise bei M. Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2010, 8. Abschn. Rn. 56.

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kerrecht des 19. Jh. generell war die Einführung des Humanitätsgedankens prägend; er gehört zu den „innersten Formgesetzen des Zeitalters“20; in der Humanität sahen die „civilized nations“ (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut) ihre zivilisatorische Substanz. Auch deshalb greift die Völkerrechtswissenschaft die allgemeinen verfassungspolitischen Ideale des bürgerlichen Liberalismus auf. Die „droits humains“ (insbesondere das Recht auf Leben, Freiheit, gesetzmäßige Ordnung) sicherzustellen wird ihr – über das Fremdenrecht hinaus – zum Anliegen21. Das „ius in bello“ leistet wesentliche völkervertragsrechtliche Konkretisierungen.22 Zwei unterschiedliche Entwicklungslinien lassen sich ausmachen. Der einen geht es vor allem um eine Begrenzung der zulässigen Kampf- und Schädigungsmittel (Haager Recht), der anderen um den Schutz von Konfliktopfern (Genfer Recht). Beide Entwicklungslinien haben mit ihrem Ideal der Menschlichkeit und ihrem Regelungsziel der Verminderung menschlichen Leidens eine durchaus menschenrechtliche Seite. Dieser kommt aufgrund der erzielten Universalität des Vertragsrechts eine umso größere Bedeutung zu.23 Nach dem Ersten Weltkrieg konnten über das Kriegsvölkerrecht hinaus das völkerrechtliche Minderheitenrecht oder Garantien für die Bewohner der Mandatsgebiete menschenrechtliche Impulse weitertragen.24 Für eine umfassendere Kodifizierung universeller Menschenrechtsstandards war aber erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Zeit gekommen. 2. Menschenrechtsschutz durch völkerrechtliches „soft law“

Die entsetzliche, auf ihre Weise einzigartige Missachtung der Grund- und Menschenrechte zwischen 1933 und 1945 hatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit rasch den Ruf nach einer positiv-rechtlich festgeschriebenen, vertraglich konzipierten „international bill of rights“ laut werden lassen.25 Die vollständige Infragestellung des Individuums im Totalitarismus verlangte nach einem unzweideutigen Bekenntnis zu „Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit“.26

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W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 575. Ebd., S. 576. 22 Th. Meron, The Convergence between Human Rights and Humanitarian Law, 1997, S. 97 ff. 23 M. Bothe, Friedenssicherung und Kriegsrecht, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl. 2010, 8. Abschn. Rn. 57; R. Bernhardt, Europäische Menschenrechtskonvention: Entwicklung und gegenwärtiger Stand, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 137, Rn. 3. 24 Ebd.; ferner L. Palleit, Völkerrecht und Selbstbestimmung, 2008, S. 64 ff.; R. Hofmann, Menschenrechte und der Schutz nationaler Minderheiten, ZaöRV 65 (2005), S. 587 ff. 25 K. Stern, in: ders./F. Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Einleitung: Die Hauptprinzipien des Grundrechtssystems des Grundgesetzes, Rn. 179 ff. 26 So die Präambel der UN-Charta in ihrem zweiten Passus. 21

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Vorstufe einer verbindlichen Menschenrechtscharta sollte die am 10. Dezember 1948 von der UN-Generalversammlung verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) sein27, die – wenngleich nur völkerrechtliches „soft law“28 – gewiss zu den „großen Dokumenten der Weltgeschichte“ rechnet.29 Schon ihr erster Präambelpassus formuliert ein Leitmotiv, das für die anthropozentrische Neuorientierung des Völkerrechts steht: „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte der Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“ als „Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.“30 Universelle Menschenrechte sind nicht nur zum konstitutiven Element einer völkerrechtlichen Friedensordnung erwachsen; ihre Verbürgung wandelt auch das vormals polare Verhältnis zwischen Individuum und Staat zu einem triangulären: Individuum – Staat – internationale Gemeinschaft. Spätestens mit der EMRK aus dem Jahre 1950 muss das Bild noch um die intermediäre Ebene der regionalen Verantwortungsgemeinschaften erweitert werden. Dass in der UN-Charta ein eigenes Menschenrechtskapitel fehlt, beweist allerdings auch, wie kontrovers das „Ob“ und vor allem das „Wie“ einer anthropozentrischen Neuorientierung behandelt wurden. Zwar beherrschte die Menschenrechtsdebatte von Anfang an auch die Konferenz von Dumbarton Oaks (September und Oktober 1944). Ihr Einfluss auf die Gründung einer neuen Weltorganisation blieb allerdings zunächst geringer, als die Menschenrechtsbewegung es sich gewünscht hätte. Der amerikanische Vorschlag, den Respekt für die Menschenrechte in die Charta aufzunehmen, scheiterte am Widerstand Großbritanniens und der Sowjetunion. Der chinesische Vorschlag, die Gleichheit aller Rassen positivrechtlich festzuschreiben, fand seinerseits keine Zustimmung der USA.31 Erst der Konferenz von San Francisco gelangen deutlichere Worte, die bis heute die UN-Charta prägen (etwa die bereits zitierte Präambel oder Art. 1 Nr. 3). Verbindliche Menschenrechtsstandards aber wurden nicht festgelegt. Zu 27 F.-J. Hutter/C. Kimmle (Hrsg.), Das uneingelöste Versprechen. 60 Jahre allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 2008; E. Klein, Universeller Menschenrechtsschutz – Realität oder Utopie?, EuGRZ 1999, S. 109 ff. 28 K. Hailbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, 3. Abschnitt, Rn. 222 f. mit zahlreichen Nachweisen zur (strittigen) rechtlichen Einordnung in Fn. 22. 29 M. Robinson, Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – ein lebendiges Dokument, in: Jahrbuch der Menschenrechte 1999, S. 29 ff., 32. 30 Ch. Tomuschat, The Universal Declaration of Human Rights and the Place of the Charter in Europe, in: S. v. Schorlemer (Hrsg.), Praxishandbuch UNO, 2003, S. 219 ff.; ders., Menschenrechte als universelle Norm, in: Jahrbuch für internationale Politik 24 (1999), S. 24 ff.; Ch. Gusy, Das Grundgesetz im völkerrechtlichen Wirkungszusammenhang, in: U. Battis/D. Th. Tsatsos, Das Grundgesetz im internationalen Wirkungszusammenhang, 1990, S. 207 ff. 31 Vgl. M. Glen Johnson, The Contributions of Eleanor and Franklin Roosevelt to the Development of International Protection of Human Rights, in: Human Rights Quarterly 9 (1987), S. 19 ff. mit zahlreichen Quellennachweisen.

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einem so weitgehenden Schritt waren gerade die späteren „Permanent Five“ unter Rekurs auf das klassische Souveränitätsdogma nicht bereit.32 Eine „humanitäre Intervention“ schien damals undenkbar. 3. Menschenrechtsschutz durch verbindliches Völkervertragsrecht

Die Wirkungsmacht der AEMR darf trotz der genannten Hemmnisse und Hindernisse nicht unterschätzt werden. Vielfältige Prozesse zur vertraglich verbindlichen Sicherung der Menschenrechte auf internationaler wie regionaler Ebene wären ohne ihr Leitbild undenkbar.33 Universellen Anspruch erheben die beiden großen Konventionen aus dem Jahre 1966, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie der internationale Pakt über soziale, politische und kulturelle Rechte. Zahlreiche, wiederum universelle Einzelverträge34 gelten so wichtigen Materien wie dem Sklaverei- und dem Folterverbot, der Rassendiskriminierung, Frauen-, Kinder- und Behindertenrechten. Ungeklärt bleibt jedoch die Frage, welche Normen des Menschenrechte-Völkerrechts ius cogens-Charakter haben (vgl. Art. 53 WVK). Nicht ohne nachdrücklichen Menschenrechtsoptimismus rechnet A. Verdross all die Verbürgungen, die humanitären Zwecken dienen, dem zwingenden Völkerrecht zu.35 Überwiegend sind die Kriterien aber restriktiver: Anerkennung des nicht-derogierbaren Charakters der Normen in den einschlägigen Konventionen; Qualifikation der Verletzungshandlung als völkerrechtliches Verbrechen im Recht der Staatenverantwortlichkeit; schließlich die völkerstrafrechtliche Begründung individueller Verantwortlichkeit.36 Allein aber die Tatsache, dass (bestimmte) Menschenrechtsgarantien unabhängig von vertraglicher Anerkennung zwingend und erga omnes wirken sollen, belegt die „revolutionär“ neuartige Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht. Auf regionaler Ebene kommt der Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 (EMRK) eine nicht minder „revolutionäre“ Vorreiterrolle zu.37 Die Grundrechtecharta der Europäischen Union ist ihre produktive Fort32 S. Waltz, Reclaiming and Rebuilding the History of the Universal Declaration of Human Rights, in: Human Rights Quarterly 23 (2002), S. 437 ff., 441. 33 F.-J. Hutter/C. Kimmle, 60 Jahre allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Fortschritte, Defizite und Perspektiven, in: dies. (Hrsg.), Das uneingelöste Versprechen. 60 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 2008, S. 13 ff., 15 ff. 34 K. Hailbronner, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, 3. Abschnitt, Rn. 230 ff. 35 A. Verdross, Jus dispositivum and Jus Cogens in International Law, AJIL 60 (1966), S. 55 ff. 36 Ausführlich dazu J. v. Bernstorff, Kerngehalte im Grund- und Menschenrechtsschutz, Habilitationsschrift 2010 (Manuskriptfassung), S. 306 ff.; J. Künzli, Zwischen Rigidität und Flexibilität: Der Verpflichtungsgrad internationaler Menschenrechte, 2001, S. 67 ff. 37 Ch. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2008; A. Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003; J. G. Merrills/

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schreibung.38 Die Organisation Amerikanischer Staaten verabschiedete am 22. November 1969 die Amerikanische Konvention über Menschenrechte (AMRK). Die Organisation Afrikanischer Staaten, heute Afrikanische Union (AU), verkündete am 27. Juni 1981 die sog. Banjul-Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker. Im asiatischen Raum stehen ähnlich weitgefasste Konventionen noch aus. Die „Bangkok Declaration“ (April 1993) betont bei allem universellen Geltungsanspruch die kulturelle Partikularität der Menschenrechte39: „Recognize that while human rights are universal in nature, they must be considered in the context of a dynamic and evolving process of international norm-setting, bearing in mind the significance of national and regional particularities and various historical, cultural and religious backgrounds.“

Gleiches gilt für die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ aus dem Jahre 1990.40 Immerhin schimmern auch in diesen Texten Vorstufen anthropozentrischer Evolutionen respektive Revolutionen auf. 4. Eine „responsibility to protect“

Die Idee der „responsibility to protect“ findet bereits in einem Bericht der Völkerrechtskommission aus dem Jahre 2001 Niederschlag.41 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat sie – mit großem internationalen Echo – in einer Resolution aus dem Jahre 2005 aufgegriffen und das menschenrechtliche Verantwortungsprofil der Staatengemeinschaft so auf spezifische Weise geA. H. Robertson, Human Rights in Europe: A Study of the European Convention on Human Rights, 4. Aufl. 2004; s. a. D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005. 38 Aus der kaum mehr überschaubaren Lit. sei etwa verwiesen auf S. Baer, Grundrechte-Charta ante portas, ZRP 2000, S. 361 ff.; P. Häberle, Europa als werdende Verfassungsgemeinschaft, DVBl. 2000, S. 840 ff.; I. Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, DVBl. 2000, S. 847 ff.; A. Weber, Die europäische Grundrechte-Charta – auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, NJW 2000, S. 537 ff.; M. Zuleeg, Zum Verhältnis nationaler und europäischer Grundrechte. Funktionen einer EU-Charta der Grundrechte, EuGRZ 2000, S. 511 ff.; E. Pache, Die europäische Grundrechtscharta – ein Rückschritt für den Grundrechtsschutz in Europa?, EuR 36 (2001), S. 475 ff.; M. Hilf, Die Charta der Grundrechte der EU in der Perspektive 2004, in: ders./Th. Bruha (Hrsg.), Perspektiven für Europa: Verfassung und Binnenmarkt, EuR, Beiheft 3/2002, S. 13 ff. 39 Dazu M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2000, S. 328 ff. 40 Cairo Declaration on Human Rights in Islam, August 5, 1990, U.N. GAOR, World Conference on Human Rights, 4th Sess., Agenda Item 5, U.N. Doc. A/CONF.157/PC/ 62/Add.18 (1993); abgedruckt bei R. Smith (Hrsg.), Textbook on International Human Rights, 2003; dazu s. a. D. Littman, Universal Human Rights and „Human Rights in Islam“, 1999; H. Bielefeldt, Facetten der islamischen Menschenrechtsdiskussion, in: A. Zimmermann (Hrsg.), Religion und Internationales Recht, 2006, S. 83 ff. 41 Report of the International Law Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS), The Responsibility to Protect, 2001.

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schärft.42 Auch in der Sicherheitsratsresolution 1674 – im Gegensatz zu den Generalversammlungsresolutionen, die allenthalben als „soft law“ wirken können, ein völkerrechtlich verbindliches Dokument – ist das neue Schutzkonzept erwähnt. So innovativ es wirken mag, kennt es durchaus vielfältige historische und dogmatische Vorbilder. Die „Intervention zum Schutz bedrängter Glaubensbrüder“ war schon im Zeitalter der Religionskriege bekannt; bedingt durch die Genese des humanitären Völkerrechts wurde die „Humanitätsintervention“ kontroverser Diskussionstopos für die Völkerrechtswissenschaft (und -politik) des 19. Jahrhunderts.43 Dogmatisch ausdifferenziert begegnet die Idee einer Schutzverantwortung in der grund- respektive menschenrechtlichen Schutzpflichtenlehre wieder.44 Bereits die AEMR nimmt – implizit – die Staaten als die noch immer wichtigsten völkerrechtlichen Akteure in Schutzverantwortung45 und erwartet „compliance“. 46 Auch der EGMR hat wiederholt gefordert, es genüge etwa zum effektiven Lebensschutz nicht, dass ein Staat sich auf die Sanktionsordnung seines Strafrechts berufe; verlangt sei vielmehr der wirksame Schutz des Lebens in der Rechtswirklichkeit.47 Ob indes die „responsibility to protect“, strukturiert in das dreistufige Modell einer „responsibility to prevent“, „to react“ und „to rebuild“, mehr ist als politische Rhetorik und dem Anspruch effektiver Wirklichkeitsgestaltung gerecht wird, bleibt fraglich.48 Greifen soll die Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft erst dann, wenn ein Staat aus welchen Gründen auch immer seiner primären Verantwortung, die eigene Bevölkerung vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen, nicht nachkommt respektive nicht nachkommen kann.49 Eine Verantwortung, wenn nicht gar eine Wäch42 UN Doc. GA/Res 60/1 (2005 World Summit and Outcome), Ziff. 138 ff.; G. Nolte, Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung: Steuerung durch Verantwortlichkeit und Haftung, in: M. Breuer u. a. (Hrsg.), Im Dienste des Menschen: Recht, Staat und Staatengemeinschaft, 2009, S. 19 ff., 21 f. 43 W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 765. 44 Statt aller K. Stern, Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, in: DÖV 2010, S. 241 ff. 45 N. Weiß, Die Verantwortung des Staates für den Schutz der Menschenrechte, in: E. Klein/Ch. Menke (Hrsg.), Universalität – Schutzmechanismen – Diskriminierungsverbote. MRZ der Universität Potsdam, Bd. 30 (2008), S. 317 ff. 46 H. H. Koh, Why do Nations obey International Law, in: The Yale International Law Journal 106 (1997), S. 2599 ff. 47 EGMR, Opuz ./. Turkey, Appl. 33401/02, Urteil vom 9. Juni 2009; dazu M. Herdegen, Internationalisierung der Verfassungsordnung, in: O. Depenheuer/Ch. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 7 Rn. 19. 48 C. Focarelli, The Responsibility to Protect Doctrine and Humanitarian Intervention: Too Many Ambiguities for a Working Doctrine, in: Journal of Conflict & Security Law 2008, S. 191 ff., 196; C. Stahn, „Responsibility to Protect. Political Rhetoric or Emerging Legal Norm, AJIL 101 (2007), S. 99 ff. 49 Aus der Lit. etwa A. v. Arnauld, Souveränität und responsibility to protect, in: Die Friedenswarte 84 (2009), S. 11 ff.; Ch. Verlage, Responsibility to protect: ein neuer Ansatz im Völkerrecht zur Verhinderung von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 2009; Ch. Schaller, Gibt es eine „Responsibility to Pro-

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terrolle50 der Staatengemeinschaft ist darin gewiss angelegt. Eine konkrete Verpflichtung dritter Staaten zum Tätigwerden kann nach derzeitigem Staatenverständnis und derzeitiger Staatenpraxis aber ebenso wenig angenommen werden wie eine unzweideutige Rechtsgrundlage für die humanitäre Intervention.51 Dessen ungeachtet sollte eine positive Wirkung außer Frage stehen: souveräne Akteure werden in umfassende Verantwortung für den Schutz des Individuums genommen; weil Souveränität instrumental im Dienste des Menschen steht, meint sie immer auch Verantwortung für den Menschen.52 Damit ist auch die Brücke zum Konzept der „human security“ geschlagen. 5. Das Konzept der „menschlichen Sicherheit“

Das Konzept der menschlichen Sicherheit geht zurück auf einen im Jahre 1994 erschienenen Bericht des UN-Entwicklungsprogramms UNDP (United Nations Development Program).53 Anders als nach klassischen Sicherheitsstrategien soll nicht mehr der Staat, sondern das Individuum Objekt der Sicherheitspolitik sein. Das teils emphatisch befürwortete, teils vehement bekämpfte Konzept wählt einen integrativen Ansatz, der weit über den Schutz vor bewaffneter Gewalt hinausreicht und etwa auch ökonomische oder ökologische Schutzinteressen als Grundbedingungen menschlicher Existenz aufgreift. Vorgedacht ist es bereits in F. D. Roosevelts Botschaft an den Kongress vom 7. Januar 1941 – später als Rede zu den „Four Freedoms“ berühmt geworden. „Freedom from Want“, die Freiheit von (materieller) Not, und „Freedom from Fear“, die Freiheit von Furcht, das Bedürfnis nach Sicherheit, werden aufeinander hin bezogen und vom Individuum

tect“?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 46/2008, S. 9 ff.; S. v. Schorlemer, Die Schutzverantwortung als Element des Friedens: Empfehlungen zu ihrer Operationalisierung, SEF Policy Paper 28, 2007; I. Winkelmann, „Responsibility to protect“: Die Verantwortung der internationalen Gemeinschaft zur Gewährung von Schutz, in: FS Ch. Tomuschat, 2006, S. 449 ff. 50 E. Klein, Staatliches Gewaltmonopol, in: O. Depenheuer/Ch. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 19 Rn 12 spricht von einer „Wächterrolle für Menschenrechtswahrung durch andere Staaten“. 51 G. Nolte, Zusammenarbeit der Staaten bei der Friedenssicherung: Steuerung durch Verantwortlichkeit und Haftung, in: M. Breuer u. a. (Hrsg.), Im Dienste des Menschen: Recht, Staat und Staatengemeinschaft, 2009, S. 19 ff., 22. 52 Als Frage formuliert bei G. Nolte, Sovereignty as Responsibility?, in: Proceedings of the 99th Annual Meeting of the American Society of International Law, 2005, S. 389 ff. 53 Ausführliche Nachweise bei G. Nolte, Vom Weltfrieden zur menschlichen Sicherheit? Zu Anspruch, Leistung und Zukunft des Völkerrechts, in: Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2010, S. 1377 ff.; s. a. Th. Büttner/B. Fahlbruch/B. Wilpert, Sicherheitskultur. Konzepte und Analysemethoden, 2007; Ch. Daase, Wandel der Sicherheitskultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 50/ 2010 vom 13.12.2010.

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her konzipiert.54 Nachdrücklich verschreibt sich auch der Bericht der UN-Generalversammlung „In Larger Freedom“ diesem ambitionierten Ansatz55: „The threats to peace and security in the twenty-first century include not just international war and conflict but civil violence, organized crime, terrorism and weapons of mass destruction. They also include poverty, deadly infectious disease and environmental degradation since these can have equally catastrophic consequences. All of these threats can cause death or lessen life chances on a large scale.“

Gewiss sehen viele Kritiker, oft mit guten Argumenten, im Zusammenspiel von globaler Sicherheitsarchitektur und nachhaltiger Entwicklung56 mit dem Individuum als Referenzobjekt eine schlichte Überforderung rechtlicher Steuerungsmechanismen. Das Risiko hybrider Überkomplexität ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Dessen ungeachtet verleiht aber allein die Diskussion über eine solch umfassende Risikovorsorgeverantwortung der anthropozentrischen Wende im Völkerrecht eine ganz eigene Dynamik. 6. Menschenrechtsschutz durch Völkerstrafrecht

Schließlich hält das Völkerstrafrecht neue Instrumente zur Effektivierung respektive „Bewährung“ der Menschenrechte vor. Das Straf- wie das Menschenrechtsregime lassen sich nicht nur auf ihre gemeinsamen Wurzeln im humanitären Völkerrecht zurückführen, sondern kennen auch in ihrer konkreten Entstehung und weiteren Entwicklung vielfache Parallelen.57 Die Autonomie des Individuums, sei sie menschenrechtlich begründet oder in individueller strafrechtlicher Verantwortung ausgeformt, war dem klassischen Völkerrecht fremd. Sie verdankt, wie ausgeführt, ausgerechnet der „Jahrhundertkatastrophe“ des Zwei54 Zitiert nach: L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987, S. 112 f.; s. a. M. G. Johnson, The Contributions of Eleanor and Franklin Roosevelt to the Development of International Protection for Human Rights, in: Human Rights Quarterly, Vol. 9 (1987), S. 19 ff., 21 f.; A. Cassese, Human Rights in a Changing World, 1990, S. 29 ff. 55 United Nations Series A /59/2005, dort Nr. 78. 56 Dazu etwa K. F. Gärditz, Nachhaltigkeit und Völkerrecht, in: W. Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 20058, S. 137 ff.; M. Kotzur, Nachhaltigkeit im Völkerrecht – eine sektorenübergreifende und systembildende Ordnungsidee, in: JöR 57 (2009), S. 503 ff. 57 G. Werle, Völkerstrafrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 121 ff.; K. Ambos/M. Othman (Hrsg.), New Approaches to International Criminal Justice, 2003; A. Cassese, From Nuremberg to Rome: International Military Tribunals to the International Criminal Court, in: ders./P. Gaeta/J. R.W. D. Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court: A Commentary, Bd. I, 2002, S. 3 ff.; O. Triffterer, Der lange Weg zu einer internationalen Strafgerichtsbarkeit, ZStW 114 (2002), S. 321 ff.; R. Wedgwood, The International Criminal Court: An American View, EJIL 10 (1999), S. 93 ff.; Ch. Tomuschat, Ein Internationaler Strafgerichtshof als Element einer Weltfriedensordnung, Europa-Archiv 1994, S. 6 ff.

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ten Weltkriegs ihren Durchbruch.58 Um Strafrechtsnormen im Völkerrecht zu etablieren, bedurfte es der Anerkennung des Individuums als Völkerrechtssubjekt und damit einer Überwindung absoluten Souveränitätsdenkens.59 Heute wird die Komplementarität zwischen Staatenverantwortlichkeit und individueller Verantwortlichkeit immer selbstverständlicher. Das Völkerstrafrecht ist von den Ad-hocTribunalen (begonnen mit Nürnberg und Tokio) bis hin zum IStGH schrittweise ein Instrument effektiven Menschenrechtsschutzes geworden. Die Kriminalisierung besonders schwerer Menschenrechtsverletzungen, insbesondere der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, erlaubt Interventionen in die staatliche Souveränitätssphäre. Systematische und massenhafte Angrife („gross violations“) gegen so basale Rechte wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Recht auf körperliche Bewegungsfreiheit oder die menschliche Würde stehen unter Strafe. Damit kommt ein Humanitätsideal zum Ausdruck, das dem Völkerstrafrecht wie dem Menschenrechte-Völkerrecht gemeinsam, das letztlich gemeinsames Menschheitserbe ist.60 III. Die anthropozentrische Wende – ihre Akteure Die ordnungsbildende Dynamik61 der anthropozentrischen Neuorientierung des Völkerrechts kann nicht losgelöst von der Frage nach den relevanten Akteuren ausgelotet werden. Eine maßgebliche Rolle spielen zunächst die internationalen Organisationen, allen voran die UN-Familie. Wenn H. Kelsen die UN-Generalversammlung als „open conscience of humanity“ bezeichnet62, verbinden sich Akteurspotential und politisch-moralischer Anspruch. Es sind gerade die Vereinten Nationen, die dem Menschenrechtsdiskurs kontinuierlich weltöffentliche Foren eröffnen. Einen gewissen Meilenstein markiert die zweite Weltkonferenz über Menschenrechte, veranstaltet von den Vereinten Nationen vom 14. bis 25. Juni 1993 in Wien, eines der größten menschenrechtlichen Symposien der Weltorganisation. In der Wiener Deklaration und dem damit verbundenen Aktionsprogramm63 bekennen sich alle 171 Unterzeichnerstaaten einstimmig zur Universalität und gegenseitigen Interdependenz der Menschenrechte. Sie betonen den untrennbaren Zusammenhang zwischen Entwicklungspolitik, Demokratie und Menschenrechten und stellen die Notwendigkeit heraus, durch effektive gemein58

G. Werle, Völkerstrafrecht, 2. Aufl. 2007, Rn. 121. Ebd., Rn. 2. 60 Th. Meron, The Convergence between Human Rights and Humanitarian Law, 1997, S. 97 ff., 100. 61 Zur Relevanz des Ordnungsbegriffs für das politische Denken der Moderne H. Barth, Die Idee der Ordnung, 1958, S. 213; daran anknüpfend A. Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, 2. Aufl. 2007, S. 3. 62 H. Kelsen, The Law of the United Nations, 1951, S. 199. 63 UN.-Doc. A/Conf. 157/23 of 12 July 1993. 59

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same Maßnahmen der Staatengemeinschaft gegen ernsthafte Menschenrechtsverletzungen einzuschreiten.64 Die Forderung nach solchen gemeinsamen Maßnahmen der Staatengemeinschaft verweist zugleich auf zwei weitere maßgebliche Akteure. Die regionalen Organisationen und Verantwortungsgemeinschaften, etwa die EMRK oder AMRK, tragen maßgeblich zur effektiven Umsetzung universeller Menschenrechtsgarantien in kulturell-partikulären Umfeldern bei; nicht minder wirkungsmächtiger menschenrechtlicher Akteur bleibt bei aller Transnationalisierung aber weiterhin der nationale Verfassungsstaat in seinen drei Gewalten: der Legislative, der Exekutive und der Judikative. Welch wichtige Durchsetzungsmacht und damit Durchsetzungsverantwortung staatlichen respektive bei Kompetenzübertragung auf internationale oder supranationale Organisationen deren Gerichten zukommt, belegt die Rechtssache Kadi.65 Hier ist der EUGH der Fehlvorstellung, der Kampf gegen den Terror könne durch pauschale Grundrechtssuspendierungen erleichtert werde, entschlossen entgegengetreten.66 Für die Entwicklung einer „international rule of law“67, ohne die das autonome Individuum als Bezugspunkt des Völkerrechts gleichsam „in der Luft hinge“, hat der EuGH einen entscheidenden Beitrag geleistet. Durch die Inanspruchnahme einer weitgehenden menschen- bzw. grundrechtlichen Prüfungskompetenz bezieht der Luxemburger Gerichtshof eindeutige Position mit Blick auf die Mitgliedstaaten und die internationale Gemeinschaft. Innerunional werden potentielle Rechtsprechungskonflikte vermieden, die sich etwa aufgrund der „Solange“-Logik des BVerfG hätten ergeben können.68 Der konfliktvermeidenden Wirkung nach innen korrespondiert eine positive Anstoßwirkung nach außen. Würden – de lege ferenda – bereits auf UN-Ebene hinreichender Grundrechts- und effektiver Rechtsschutz sichergestellt, könnten sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Union auf eine eigenständige Grundrechtsprüfung verzichten und so die einheitliche, effektive Umsetzung der Sicherheitsratsresolutionen am besten sicherstellen. Nicht zu unterschätzen ist schließlich die Rolle der zivilgesellschaftlichen Akteure. Hierzu rechnen politische Parteien und Verbände, Kirchen und Religionsgemeinschaften ebenso wie ideologische Weltbewegungen, Bildungseinrichtungen, von Künsten und Wissenschaften geprägte Öffentlichkeitsforen, transnatio64

M. Nowak (Hrsg.), World Conference on Human Rights, 1994, S. I. EuGH, EuGRZ 2008, S. 480 ff. – Kadi u. a.; dazu M. Kotzur, Kooperativer Grundrechtsschutz in der Völkergemeinschaft, EuGRZ 2008, S. 673 ff. m.w. N. 66 Ch. Ohler, Gemeinschaftlicher Rechtsschutz gegen personengerichtete Sanktionen des UN-Sicherheitsrates, EuZW 2008, S. 630 ff., 630. 67 K. Alter, Establishing the Supremacy of European Law: The Making of an International Rule of Law in Europe, 2001; A. Watts, The International Rule of Law, in: German Yearbook of International Law 36 (1993), S. 15 ff. 68 Neuerlich aufgegriffen in BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht; modifiziert, aber prinzipiell bestätigt in BVerfGE 102, 147 (164) – Bananenmarkt. 65

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nal agierende Unternehmen mit ihren spezifisch menschenrechtlich angereicherten „codes of conduct“ und nicht zuletzt die rechtsberatenden Berufe.69 Eine ganz zentrale Bedeutung kommt aber den Nichtregierungsorganisationen zu.70 NGOs wie Amnesty International oder Human Rights Watch gehören zu den wichtigsten Antriebskräften menschenrechtlichen Fortschritts. Als private Vereinigungen zur Menschenrechtseffektivierung gegründet, engagieren sie sich nicht nur im Rahmen humanitärer Hilfeleistung oder auf dem Gebiet der Menschenrechtserziehung, sie übernehmen vielmehr auch eine Kontrollfunktion mit Blick auf die innerstaatliche Menschenrechtssituation. Diese Tätigkeit ist in hohem Maße öffentlichkeitswirksam und schafft durch transnationale organisatorische Netzwerke weltweite Publizität in Sachen Menschenrechte.71 Damit machen die NGOs auf ihre Weise die anthropozentrische Wende des Völkerrechts zu einer weltöffentlichen Angelegenheit. IV. Die antropozentrische Wende – ihre Wirkmechanismen und Entwicklungsperspektiven Diese weltöffentliche Perspektive ist schließlich eine wesentliche Grundbedingung für die Wirkmechanismen und Entwicklungsperspektiven der anthropozentrischen Ausrichtung des Völkerrechts. Mit der Orientierung auf den Menschen hin ist nämlich noch nicht entschieden, ob dem Menschenrechtsschutz eher durch zunehmende Institutionalisierung – etwa die neue Europäische Grundrechteagentur72 – oder durch Informalisierung Rechnung getragen werden soll. Ebenso wenig ist entschieden, ob die universellen Menschenrechte als konstitutionelle Bindemittel völkerrechtliche Konstitutionalisierungsprozesse anstoßen oder eher eigenständiges Teilgebiet einer fragmentierten Völkerrechtsordnung bleiben.73 Eines aber macht das Denken vom Menschen her und auf den Men69 Für eine Übersicht M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 195 ff. 70 Jüngst etwa R. Bayko, Die Rolle der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im internationalen Minderheitenschutz, Diss. Leipzig 2011 mit ausführlicher Literaturübersicht; S. Hobe, Der Rechtsstatus der Nichtregierungsorganisationen nach gegenwärtigem Völkerrecht, AVR 37 (1999), S. 152 ff. 71 E. Klein (Hrsg.), Stille Diplomatie oder Publizität – Überlegungen zum effektiven Schutz der Menschenrechte, 1996. 72 A. v. Bogdandy/J. v. Bernstorff, Die Europäische Agentur für Grundrechte in der europäischen Menschenrechtsarchitektur und ihre Fortentwicklung durch den Vertrag von Lissabon, EuR 45 (2010), S. 141 ff. 73 Einen Überblick zum weit gefächerten Stand der Literatur gibt A. v. Bogdandy, Constitutionalism in International Law: Comment on a Proposal from Germany, Harvard International Law Review 47 (2006), S. 223 Verwiesen sei auf die Aufsatzreihe „Zur Zukunft der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland: Zwischen Konstitutionalisierung und Fragmentierung des Völkerrechts, in: ZaöRV 67 (2007). Eine glänzende Übersicht findet sich schließlich bei M. Knauff, Konstitutionalisierung im inner- und

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schen hin unmissverständlich deutlich: Souveränität meint nichts anderes als „völkerrechtlich geordnete und gebundene Freiheit“74, damit letztlich menschenrechtlich geordnete und gebundene Freiheit; auch die Volkssouveränität, im demokratischen Verfassungsstaat immer mit der inneren und äußeren Souveränität zusammenzulesen75, unterliegt diesen menschenrechtlichen Bindungen. Der Staat ist, wie es W. v. Simson klassisch formuliert hat, überstaatlich bedingt76 und das menschenrechtsradizierte Völkerrecht erwächst zur „Legitimationsordnung moderner Staatlichkeit“.77 Gerade das deutsche Grundgesetz gibt das Beispiel einer Verfassung, die dem Geltungsanspruch und dem Bindungskonzept dieser Legitimationsordnung Rechnung trägt, sie teils inkorporiert, sich teils an ihr orientiert. Aus einer Zusammenschau von Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 23 bis 26, Art. 59 Abs. 2, Art. 79 Abs. 1 S. 2, Art. 100 Abs. 2 GG gewinnt die Völkerrechtsfreundlichkeit eindeutige normative Konturen.78 Diese dürfen nicht ohne Konsequenz bleiben und verlangen ein kooperatives Miteinander aller an der Menschenrechtseffektivierung beteiligten Akteure. Das

überstaatlichen Recht – Konvergenz oder Divergenz, ZaöRV 68 (2008), S. 453 ff., S. 462 ff. 74 F. v. Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Bd. I, 1988, S. 416 – aufgegriffen in BVerfG 123, 267 (346), das sich für ein modernes Souveränitätsverständnis interessanterweise auf einen Gelehrten des 19. Jahrhunderts beruft. 75 J. Kokott, Souveräne Gleichheit und Demokratie im Völkerrecht, ZaöRV 64 (2004), S. 517 ff. 76 Etwa W. v. Simson, Die Bedingtheit der Menschenrechte, in: FS C. Aubin, 1979, S. 217 f.; ausführlich P. Häberle/J. Schwarze/W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Die überstaatliche Bedingtheit des Staates: zu Grundpositionen Werner von Simsons auf den Gebieten der Staats- und Verfassungslehre, des Völker- und des Europarechts, 1993. 77 D. Thürer, Kosmopolitisches Staatsrecht, 2005, S. 427 f. Schon W. Fiedler (Die Kontinuität des deutschen Staatswesens im Jahre 1990 – Zur Einwirkung des Völkerrechts auf Verfassungslagen, AVR 31 (1993), S. 333 ff., 333) hatte dualistische Denkmodelle überzeugend relativiert: „Das Denken in ,dualistischen‘ Modellen bediente sich verschiedener Transformationsvorstellungen, um im konkreten Einzelfall alle wirksamen Aspekte einzubeziehen. Eine strenge Unterscheidung etwa zwischen Staats- und Völkerrecht wurde dabei schon früh von ,Gemengelagen‘ durchbrochen, die vor allem in der Deutschlandfrage für systematische Unklarheit sorgten. Inzwischen steht fest, dass die ,Gemengelage‘ meist dem jeweils fallbezogenen Verhältnis zwischen nationalem und internationalem Recht entsprach, während die systematischen Unklarheiten eher in den Köpfen der Interpreten entstanden. Dass differenzierende Fragen zu stellen waren, die im konkreten Fall mehr der einen oder mehr der anderen Rechtsmaterie zuzuordnen waren, änderte nichts daran, dass nur der Zusammenhang beider verlässliche Antworten liefern konnte, ohne dass die systematischen Eigenarten des Details in ein notwendig diffuses Licht getaucht werden mussten.“ 78 Seit jeher betont das Bundesverfassungsgericht die Völkerrechtsoffenheit bzw. -freundlichkeit des Grundgesetzes, BVerfGE 6, 309 (362 f.); jetzt wiederum E 111, 307 (317 f.); R. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, 4. Aufl. 2010, S. 189 ff.; Ch. Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: HStR, Bd. VII (1992), § 172 Rn. 27.

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beginnt bei der Interpretation79 und setzt sich im dialogischen Austausch etwa der zum Menschenrechtsschutz berufenen Rechtsprechungsinstanzen fort.80 Im europäischen Verfassungsraum übernehmen auch die Generalanwälte beim EuGH eine dialogeröffnende Mittlerrolle.81 Ihre Schlussanträge finden in der Entscheidung häufig nachhaltigen Niederschlag. Hier können Grund- bzw. Menschenrechtsrechtskonzeptionen aus dem national-verfassungsstaatlichen Kontext hin zum EuGH transportiert und damit transnationalisiert werden. Kooperation kann informell gelingen, bedarf aber häufig institutioneller Hilfestellung (z. B. durch institutionalisierte Formen regelmäßiger Treffen von Richtern nationaler und internationaler Gerichte). Kooperativer Menschenrechtsschutz sollte indes nicht mit deckungsgleichen Menschenrechtsstandards verwechselt werden. Effektiver Menschenrechtsschutz muss bei allem Universalitätsanspruch neben kultureller Partikularität immer auch der Asymmetrie in den Lebensverhältnissen und Entwicklungsstandards Rechnung tragen. Dazu dient etwa die Anerkennung nationaler Beurteilungsspielräume (margins of appreciation).82 Kooperation beginnt schließlich dort, wo Recht gelehrt, das Wissen ums Recht vermittelt und die Verantwortung für das Recht gelebt wird: bei der Juristenausbildung.83 Menschenrechtliche Bezüge jenseits ihrer eigenen Rechtsordnung müssen den jungen Juristinnen und Juristen von Anfang an vertraut sein. Sie müssen in der Lage sein, solche Bezüge rechtzeitig in die konkret zu entscheidenden Streitfälle mit einzubeziehen. Nur so kann ein „kulturübergreifendes gemeinsames Wertebewusstsein geschaffen werden“, das nicht einseitiger Werteoktroy, sondern Bewusstwerden im Miteinander sein will.84

79 Vgl. die interessanten Anregungen bei S. Albert/U. Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 497 ff., 509. 80 A. Stone Sweet, Constitutional Dialogues in the European Community, in: A.-M. Slaughter/ders./J. Weiler (Hrsg.), The European Courts and National Courts: Doctrine and Jurisprudence, 1998, S. 305; einer dialogischen Konzeption folgt seit jeher P. Häberles Rezeptionstheorie, Gerichte sind hier wichtige „Rezeptionsmittler“, vgl. etwa seine Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 624; ders., Theorieelemente eines juristischen Rezeptionsmodells, JZ 1992, S. 1033 ff. 81 Vgl. in diesem Kontext zur Stellung der Generalanwälte R. Schwartmann, Europäischer Grundrechtsschutz nach dem Verfassungsvertrag, AVR 43 (2005), S. 129 ff., 138 f.; H. C. Krüger/J. Polakiewicz, Vorschläge für ein kohärentes System des Menschenrechtsschutzes in Europa, Europäische Menschenrechtskonvention und EU-Grundrechte-Charta, EuGRZ 2001, S. 92 f., 98. 82 W. Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung nationaler und europäischer Grundrechte, EuGRZ 2002, S. 473 ff., 474. 83 Diesem Anliegen verpflichtet ist P. Häberle in seinen jüngst erschienenen „Pädagogischen Briefen an einen jungen Verfassungsjuristen“, 2010. 84 Siehe M. Nettesheim, Das kommunitäre Völkerrecht, JZ 2002, S. 588 ff.

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V. Schlussbemerkung Der Jubilar K. Stern hat als Wissenschaftler wie akademischer Lehrer gerade letztgenanntes Anliegen ernst genommen, den „grundrechtsgeprägten Verfassungsstaat“ von seiner transnationalen Einbettung her gedacht und sein Recht als „überstaatlich bedingtes“, menschenrechtlich vorgeformtes gelehrt.85 Ihm gebührt daher – verbunden mit einem herzlichen „Ad multos annos!“ – das Schlusswort, das zugleich Leitwort sein will: „Wollen wir das Mehrebenensystem – nationale Gemeinschaft, regionale Gemeinschaft, Weltgemeinschaft – konsequent zu Ende denken, so kann an der Universalität der Menschenrechte als tragender Pfeiler aller Ebenen kein Weg vorbeiführen. Wenn Menschen- und Grundrechte zu jeder Zeit und an jedem Ort gelten und durchgesetzt werden, dann dürfen wir wahrhaftig von einem universellen Leitprinzip sprechen. Dieses Ziel zu verwirklichen ist die große Aufgabe des 21. Jahrhunderts.“ 86

85 Sein Standardwerk über „Das Staatsrecht in der Bundesrepublik Deutschland“, Bd. I bis V, 1980 und Folgejahre, gibt davon an vielen Stellen und nicht nur in den Grundrechtskapiteln Aufschluss. 86 K. Stern, Menschenrechte als universales Leitprinzip, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV/2, 2009, § 185 Rn. 48.

Freizügigkeit von Drittstaatsangehörigen in der Europäischen Union Von Siegfried Magiera Mit der beschleunigten technischen Entwicklung, insbesondere auf den Gebieten des Kommunikations- und des Verkehrswesens, wächst auch der Bedarf an erleichterter Freizügigkeit von Waren, Leistungen und Personen in und zwischen den abgegrenzten Nationalstaaten weltweit. Dies gilt für die freiwillige Teilnahme, etwa im Bereich der Wirtschaft oder des Tourismus, wie für die erzwungene Teilnahme, insbesondere bei Gefahr für Leib und Leben im eigenen Heimatstaat. Die grenzüberschreitende Freizügigkeit und der Aufenthalt von Angehörigen anderer Staaten sind damit zu einer Kernfrage und einem Hauptproblem der Staatengemeinschaft geworden, die im Rahmen des Ausländerrechts zu bewältigen sind. In seinem großen Werk zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland hat Klaus Stern, dem dieser Beitrag in Dankbarkeit gewidmet ist, umsichtig und überzeugend festgestellt, dass außerhalb der staatsbürgerlichen Rechte zunehmend eine Angleichung im Rechtsstatus von Ausländern erkennbar ist, bewirkt vor allem durch die nationale Gesetzgebung und das internationale Vertragsrecht sowie das Recht der Europäischen Gemeinschaft.1 Die zwischenzeitliche Entwicklung des Gemeinschafts- und des Unionsrechts hat, was die Freizügigkeit von Ausländern in der Europäischen Union anbetrifft, zu erheblichen Erleichterungen für die Unionsbürger, d.h. die Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten, geführt.2 Inwieweit dies auch für Drittstaatsangehörige – sei es als Familienangehörige von Unionsbürgern, sei es unabhängig davon – gilt, soll Anliegen der folgenden Ausführungen sein. I. Entwicklung Drittstaatsangehörige kamen zugleich mit den Bemühungen um ein Europa der Bürger, die Ende der 1960er Jahre mit der Vollendung der Zollunion ihren An1 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 70 III 1, S. 1033 f. 2 Vgl. dazu Siegfried Magiera, Bürgerrechte und justitielle Grundrechte, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 161, S. 1033 ff., Rn. 4 ff.

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fang nahmen, in das Blickfeld der Europäischen Gemeinschaft. Auf ihrem Pariser Gipfeltreffen im Dezember 1974 setzten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten schließlich zwei Arbeitsgruppen ein. Die eine sollte die Möglichkeit von besonderen Rechten für die Bürger der Mitgliedstaaten als Angehörige der Gemeinschaft untersuchen, die andere die Möglichkeit einer Pass-Union prüfen sowie einen Entwurf für eine schrittweise Harmonisierung der Ausländergesetzgebung und für die Abschaffung der Passkontrollen innerhalb der Gemeinschaft vorlegen.3 Zumindest die für ein Europa der Bürger symbolträchtige Beseitigung der Kontrollen an den gemeinsamen Binnengrenzen erforderte eine Einbeziehung des gesamten Personenverkehrs in der Gemeinschaft und damit auch aller dort ansässigen Drittstaatsangehörigen. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 19864 bekräftigten die Mitgliedstaaten ihr Ziel, den Binnenmarkt als einen Raum ohne Binnengrenzen, der den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen gewährleisten sollte, nunmehr bis Ende 1992 schrittweise zu verwirklichen (Art. 13 EEA). In der dazugehörigen Schlussakte erklärten sie, dass dadurch in keiner Weise das Recht der Mitgliedstaaten berührt werde, Maßnahmen u. a. zur Kontrolle der Einwanderung aus dritten Ländern zu ergreifen,5 dass sie aber auch – unbeschadet der Befugnisse der Gemeinschaft – zur Förderung der Freizügigkeit zusammenarbeiten, insbesondere hinsichtlich der Einreise, der Bewegungsfreiheit und des Aufenthalts von Staatsangehörigen dritter Länder.6 Damit wurde deutlich, dass die Einwanderungspolitik weiterhin in der Kompetenz der einzelnen Mitgliedstaaten verbleiben, die Reisefreiheit von Drittstaatsangehörigen hingegen unter Achtung der Gemeinschaftskompetenzen gemeinsam gewährleistet werden sollte. Der Vertrag von Maastricht führte für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die Unionsbürgerschaft ein, die u. a. das Recht umfasst, sich – vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen, jedoch unabhängig von einer wirtschaftlichen Betätigung – im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, d.h. unionsweit, allgemein frei zu bewegen und aufzuhalten (8a EGV a. F.). Erstmals wurden auch im Hinblick auf Drittstaatsangehörige Vertragsbestimmungen vereinbart, wenn auch nicht im gemeinschaftsrechtlichen EG-Vertrag, sondern in den „intergouvernementalen“ Bestimmungen des EU-Vertrags über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (Titel VI, Art. K-K.9 EUV a. F.). Zur Verwirklichung der Unionsziele, insbesondere der Freizügigkeit, und unbeschadet der Gemeinschaftszustän3

Kommuniqué, EG-Gesamtbericht 8/1974, S. 337 ff., Ziff. 10 f. Bull.EG, Beilage 2/86. 5 Allgemeine Erklärung zu den Artikeln 13 bis 19 EEA (betr. den Binnenmarkt), ebd., S. 24. 6 Politische Erklärung der Regierungen der Mitgliedstaaten zur Freizügigkeit, ebd., S. 25. 4

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digkeiten betrachteten die Mitgliedstaaten darin u. a. die folgenden Bereiche als Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse: die Asyl-, die Einwanderungspolitik und die Politik gegenüber Drittstaatsangehörigen, die Personenkontrollen an den Außengrenzen sowie die Bekämpfung der illegalen Einwanderung und des illegalen Aufenthalts von Drittstaatsangehörigen (Art. K.1 Nr. 1–3 EUV a. F.). Ausdrücklich hervorgehoben wurde, dass die Behandlung dieser Angelegenheiten unter Beachtung insbesondere der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu erfolgen hat (Art. K.2 EUV a. F.). Mit dem Vertrag von Amsterdam erfolgte die Überführung der intergouvernementalen Bestimmungen über die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres – bis auf die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen – in das Gemeinschaftsrecht. Zum schrittweisen Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sollten gemäß dem neuen Titel IV „Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr“ innerhalb von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags Maßnahmen zur Gewährleistung des freien Personenverkehrs zusammen mit näher bestimmten flankierenden Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Binnen- und Außengrenzen sowie auf Asyl, Einwanderung und Schutz der Rechte von Drittstaatsangehörigen erlassen werden (Art. 61–63 EGV n. F.). Ferner sollte der sog. Schengen-Besitzstand, der von einigen Mitgliedstaaten außerhalb des Unions- und Gemeinschaftsrechts durch 1985 und 1990 abgeschlossene Übereinkommen über den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Binnengrenzen7 erreicht worden war, in den Rahmen der Europäische Union einbezogen werden.8 Der Vertrag von Lissabon hat die verbliebenen Bereiche der polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit den übrigen Bereichen der Innenund Justizpolitik in einem erweiterten Titel V„Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zusammengeführt und den formellen Unterschied zwischen intergouvernementalen und gemeinschaftlichen Rechtssäulen beseitigt. Materiell-rechtlich sind – wie auch schon im Vertrag von Nizza – für den hier näher betrachteten Bereich der Freizügigkeit von Drittstaatsangehörigen keine wesentlichen Änderungen zu ver7 Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen v. 14.6.1985, Bekanntmachung v. 29.1.1986, GMBl. 1986, S. 79; Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen v. 19.6.1990, BAnz. Nr. 217a v. 23.11.1990, S. 1. 8 Protokoll Nr. 2 zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union, ABl.EU 1997 C 340/93; vgl. auch (15.) Erklärung zur Bewahrung des durch den Schengen-Besitzstand gewährleisteten Maßes an Schutz und Sicherheit sowie (46.) und (47.) Erklärung zu Art. 5 und 6 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union, ABl.EU 1997 C 340/ 134, 141; ferner Beschluss 1999/435/EG des Rates v. 20.5.1999, ABl.EU 1999 L 176/ 1; Beschluss 1999/436/EG des Rates v. 20.5.1999, ABl.EU 1999 L 176/17.

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zeichnen.9 Nach den Allgemeinen Bestimmungen des Vertragstitels stellt die Union sicher, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden und entwickelt sie eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen, die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist; ferner werden Staatenlose insoweit entsprechend der bisherigen Praxis den Drittstaatsangehörigen ausdrücklich gleichgestellt (Art. 67 Abs. 2 AEUV). Die näheren Einzelheiten sind ausführlich in dem anschließenden Kapitel „Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung“ geregelt. So soll nunmehr u. a. im Bereich Außengrenzen auch ein integriertes Grenzschutzsystem eingeführt werden (Art. 77 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 lit. d AEUV) und können im Bereich Asyl und Flüchtlingsschutz Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem und nicht nur Mindestnormen erlassen werden (Art. 78 Abs. 2 AEUV). Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die ursprünglich von dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission feierlich proklamiert10 und nach Anpassung an das Vertragswerk von Lissabon11 gleichrangig mit diesem12 von den EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wurde, bestätigt das mit dem Vertrag von Maastricht eingeführte allgemeine Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger (Art. 45 Abs. 1 GRCh) und sieht zugleich vor, dass Staatsangehörigen von Drittländern, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, nach Maßgabe der Verträge Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit gewährt werden kann (Art. 45 Abs. 2 GRCh). II. Freizügigkeit als Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit Das begriffliche Nebeneinander in Art. 45 Abs. 2 GRCh, wonach Drittstaatsangehörigen Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit gewährt werden kann, findet sich auch in der authentischen Überschrift des Art. 45 GRCh,13 nicht hingegen in seinem ersten Absatz, nach dem die Unionsbürger das Recht haben, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Die letztere Verbindung entspricht auch derjenigen des Vertragstextes im Hinblick auf die allgemeine Freizügigkeit der Unionsbürger (Art. 20 Abs. 2 lit. a, Art. 21 Abs. 2 AEUV) und im Hinblick auf die wirtschaftliche Freizügigkeit der Unionsbürger

9 Vgl. auch Caroline Picheral, L’apport du Traité de Lisbonne aux politiques d’asile et d’immigration: de l’européen au commun?, RMC 2011, 225 ff. 10 ABl.EU 2000 C 364/1. 11 ABl.EU 2007 C 303/1. 12 Art. 6 Abs. 1 EUV. 13 Allerdings erst in der Endfassung, während es zuvor lediglich „Freizügigkeit“ hieß (CHARTE 4195/00 v. 29.3.2000, Vorschlag J. Meyer, Art. I; CHARTE 4360/00 v. 14.6.2000, Vermerk des Präsidiums, Art. 30).

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als Arbeitnehmer, deren Regelung die Bewegungs- und die Aufenthaltsfreiheit zudem ausdrücklich unter dem Begriff der Freizügigkeit zusammenfasst (Art. 45 AEUV). Dieser Sprachgebrauch erscheint vorzugswürdig, da er zwischen Bewegung und Aufenthalt unterscheidet, wenn dies erforderlich ist, und im Übrigen – jedenfalls in der deutschen Sprache – einen knapp zusammenfassenden und leicht verständlichen Oberbegriff zur Verfügung stellt.14 III. Familienangehörige von Unionsbürgern 1. Rechtsrahmen

Noch vor seiner ausdrücklichen Regelung, wie sie seit dem Vertrag von Maastricht und nunmehr zusätzlich in der Charta der Grundrechte erfolgt und im Rahmen des Primärrechts näher auszugestalten ist, stellte sich das Problem der Freizügigkeit von Drittstaatsangehörigen in der Europäischen (Wirtschafts-)Gemeinschaft. Deren Aufgabe war es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten u. a. eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens, aber auch allgemein engere Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern (Art. 2 EWGV), um die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen (Präambel Abs. 1 EWGV). Aufgabe und Ziel der Gemeinschaft wiesen somit über den Bereich der Wirtschaft hinaus. Die vertraglich gewährte Freizügigkeit beschränkte sich zunächst jedoch auf den Bereich des Wirtschaftsverkehrs, d.h. auf Staatsangehörige der Mitgliedstaaten als Arbeitnehmer oder selbständig Erwerbstätige sowie auf die am Dienstleistungsverkehr beteiligten Personen (Art. 48 ff. EWGV). Die damit gewährten „Marktfreiheiten“ betrafen die Begünstigten allerdings nicht nur als Objekte oder Instrumente bei der Errichtung des Gemeinsamen Marktes, sondern zumindest auch als „Marktbürger“ mit eigenen Rechten und Pflichten. Angelegt war diese Zielrichtung schon im Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der nach seiner Präambel durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft nur den ersten Grundstein für eine vertiefte Gemeinschaft der bis dahin durch blutige Auseinandersetzungen entzweiten europäischen Völker legen sollte. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft strebte die Beseitigung der Hindernisse für den Personenverkehr allgemein an (Art. 3 lit. c EWGV) und gewährleistete den Arbeitnehmern ausdrücklich das Recht, sich zur Stellenbewerbung im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten frei zu bewegen, eine Beschäftigung unter gleichen Bedingungen auszuüben und im Anschluss daran zu verbleiben (Art. 48 EWGV). 14 Vgl. zur Terminologie auch Dieter Scheuing, Freizügigkeit als Unionsbürgerrecht, EuR 2003, 744 ff. (745).

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In der dazu ergangenen Ausführungsverordnung 1612/68 bezeichnete der Rat die Freizügigkeit als ein Grundrecht der Arbeitnehmer und ihrer Familien.15 Damit dieses in Freiheit und Menschenwürde wahrgenommen werden könne, müsse sich die Gleichbehandlung der Arbeitnehmer tatsächlich und rechtlich auf alles erstrecken, was mit der Ausübung ihrer Tätigkeit und mit der Beschaffung einer Wohnung zusammenhänge; ferner müssten alle Mobilitätshindernisse beseitigt werden, insbesondere hinsichtlich des Rechts, ihre Familie nachkommen zu lassen, und der Bedingungen für die Integration ihrer Familie im Aufnahmeland.16 Berechtigt zur Wohnsitznahme, zur Aufnahme einer Arbeitnehmertätigkeit sowie zur Teilnahme am allgemeinen Unterricht und an der Berufsausbildung waren danach im Einzelnen näher bestimmte Familienangehörige, insbesondere der Ehegatte und die Kinder des Arbeitnehmers, und zwar ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, also auch Drittstaatsangehörige.17 Vergleichbare Bestimmungen wurden für selbständig erwerbstätige Personen auf dem Gebiet der Niederlassung und für am Dienstleistungsverkehr beteiligte Personen erlassen.18 Entsprechendes galt auch im Rahmen der allgemeinen, d.h. nicht wirtschaftlich bedingten, Freizügigkeit der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die durch die 1990 erlassenen Richtlinien über das Aufenthaltsrecht, über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen sowie über das Aufenthaltsrecht der Studenten gewährleistet wurde.19 Diese bereichsspezifischen und fragmentarischen Regelungen in den aufgezeigten und in zahlreichen weiteren Sekundärrechtsakten wurden nach der primärrechtlichen Einführung der Unionsbürgerschaft und der damit verbundenen Erweiterung der wirtschaftsbezogenen um die allgemeine Freizügigkeit für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten durch den Vertrag von Maastricht mit der Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38 überarbeitet und kodifiziert, um das Freizügigkeitsrecht aller Unionsbürger zu vereinfachen und zu verstärken.20 15 VO (EWG) Nr. 1612/86 des Rates v. 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl.EG 1968 L 257/2, Präambel Abs. 3; vgl. auch EuGH, Rs. 222/86, Heylens, Slg. 1987, 4097 Rn. 14. 16 VO (EWG) 1612/68, ebd., Präambel Abs. 5. 17 Ebd., Art. 10–12. 18 RL 73/148/EWG des Rates v. 21.5.1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs, ABl.EG 1973 L 172/14, Art. 1. 19 RL 90/364/EWG des Rates v. 28.6.1990 über das Aufenthaltsrecht, ABl.EG 1990 L 180/26; RL 90/365/EWG des Rates v. 28.6.1990 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbsleben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen, ABl.EG 1990 L 180/28; RL 90/366/EWG des Rates v. 28.6.1990 über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl.EG 1990 L 180/30, ersetzt durch RL 93/96/EWG des Rates v. 29.10.1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl.EG 1993 L 317/59; vgl. dazu näher Siegfried Magiera, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, 2003, Art. 18 Rn. 3 EGV.

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2. Akzessorisches Freizügigkeitsrecht

Wie schon das ursprüngliche Ausführungsrecht zum wirtschaftlichen und zum allgemeinen Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger hebt die Richtlinie 2004/38 ausdrücklich hervor, dass dieses Recht, wenn es in Freiheit und Würde ausgeübt werden soll, ebenso den Familienangehörigen – ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, also auch Staatsangehörigen von Drittstaaten – gewährt werden sollte.21 Dies steht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung der europäischen Gerichtsbarkeit22 sowie mit den Erfordernissen eines wirksamen Grundrechtsschutzes, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Grundrechtecharta der Europäischen Union (Art. 6 EUV) ergeben. Danach hat jede Person insbesondere das Recht auf Achtung ihres Familienlebens (Art. 8 EMRK, Art. 7 GRCh). Für die Familienangehörigen handelt es sich jedoch im Rahmen des Unionsrechts nicht um ein originäres, sondern um ein an die Freizügigkeit des Unionsbürgers anknüpfendes und davon abgeleitetes Recht.23 Unter Familienangehörigen sind nach der Richtlinie 2004/38 der Ehegatte des Unionsbürgers, die Verwandten in gerader absteigender Linie, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen Unterhalt gewährt wird, sowie die Verwandten in gerader aufsteigender Linie, denen Unterhalt gewährt wird, zu verstehen, ferner aufgrund der zwischenzeitlichen Entwicklung auch der Lebenspartner des Unionsbürgers, wenn eine in einem Mitgliedstaat rechtmäßig eingetragene Partnerschaft besteht und im Aufnahmemitgliedstaat der Ehe gleichge20 Erwägungsgründe 3 und 4 der RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.4.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der RL 64/221/EWG, 68/ 360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG [betreffend die wirtschaftliche Freizügigkeit], 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG [betreffend die allgemeine Freizügigkeit], ABl.EU 2004 L 158/77, in der berichtigten Fassung, ABl.EU 2004 L 229/35; vgl. auch Kommission, Bericht über die Anwendung der RL 2004/38, KOM(2008) 840; Kommission, Hilfestellung bei der Umsetzung und Anwendung der RL 2004/38, KOM(2009) 313; ferner EuGH, Rs. C-127/08, Metock, Slg. 2008, I-6241 Rn. 59; EuGH, Rs. C-145/09, Tsakouridis, Urt. v. 21.11.2010 Rn. 23; Helene Groß, Die Umsetzung der EU-Freizügigkeitsrichtlinie im deutschen Recht, ZAR 2006, 61 ff. 21 RL 2004/38, ebd., Erwägungsgrund 5. 22 Vgl. u. a. EuGH, Rs. C-249/86, Kommission/Deutschland, Slg. 1989, 1263 Rn. 10; EuGH, Rs. C-370/90, Singh, Slg. 1992, I-4265 Rn. 18; EuGH, Rs. C-60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279 Rn. 38 ff.; EuGH, Rs. C-459/99, MRAX, Slg. 2002, I-6591 Rn. 53 f.; EuGH, Rs. C-157/03, Kommission/Spanien, Slg. 2005, I-2911 Rn. 26 f.; EuGH, Rs. C540/03, Europäisches Parlament/Rat, Slg. 2006, I-5769 Rn. 52 ff.; EuGH, Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Urt. v. 8.3.2011 Rn. 40 ff. 23 EuGH, Rs. C-10/05, Mattern, Slg. 2006, I-3145 Rn. 25; EuGH, Rs. C-291/05, Eind, Slg. 2007, I-10719 Rn. 23; ablehnend gegenüber einer Annexkompetenz entgegen der „h. M.“ Thomas Wilson, Die Rechte von Drittstaatsangehörigen nach Gemeinschaftsrecht, 2007, S. 69 ff., 183.

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stellt ist (Art. 2 Nr. 2 RL 2004/38). Darüber hinaus erleichtern die Mitgliedstaaten nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts die Freizügigkeit anderer Familienangehöriger ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, denen der Unionsbürger in seinem Herkunftsland Unterhalt gewährt oder mit denen er dort in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat oder die aus schwerwiegenden gesundheitlichen Gründen seiner persönlichen Pflege bedürfen, sowie des Lebenspartners, mit dem der Unionsbürger eine ordnungsgemäß bescheinigte dauerhafte Beziehung eingegangen ist (Art. 3 Abs. 2 RL 2004/38). Trotz der Zielrichtung der Richtlinie 2004/38, die in den früheren Sekundärrechtsakten getrennt behandelten Regelungen zur Freizügigkeit der Unionsbürger, an welche die Freizügigkeitsrechte der Familienangehörigen anknüpfen, einheitlicher zu gestalten, mussten die aufgrund des Vertragsrechts weiter bestehenden Unterschiede beachtet werden. Dies gilt zunächst für die Differenzierung zwischen der wirtschaftlichen Freizügigkeit der Unionsbürger als Arbeitnehmer, selbständig Erwerbstätige und am Dienstleistungsverkehr Beteiligte (Art. 45 ff. AEUV) einerseits und der allgemeinen Freizügigkeit der Unionsbürger ohne eine entsprechende Betätigung andererseits (Art. 20 ff. AEUV). Von besonderer Bedeutung sind insoweit die für die allgemeine Freizügigkeit bestehenden zusätzlichen Erfordernisse einer umfassenden Krankenversicherung, die im Aufnahmemitgliedstaat alle Risiken abdeckt, und ausreichender Existenzmittel, die vor der Inanspruchnahme von Sozialhilfe des Aufnahmemitgliedstaates bewahren. Diese Anforderungen sollen sicherstellen, dass die allgemein Freizügigkeitsberechtigten die öffentlichen Finanzen des Aufenthaltsmitgliedstaats nicht über Gebühr belasten,24 was bei den wirtschaftlich Freizügigkeitsberechtigten dadurch gewährleistet erscheint, dass sie die für ihren Lebensunterhalt und ihren Gesundheitsschutz erforderlichen Mittel aus ihrer Berufstätigkeit erzielen oder im Dienstleistungsverkehr zur Verfügung haben.25 Weiter kann, auch wenn die Richtlinie 2004/38 vielfach auf eine Gleichbehandlung abstellt,26 eine Differenzierung zwischen Familienangehörigen des Unionsbürgers, die als Staatsangehörige eines Mitgliedstaats selbst Unionsbürger sind, und solchen, die – ausschließlich27 – Drittstaatsangehörige sind, erforderlich sein. Letzteres gilt vor allem bei Verwaltungsformalitäten28 sowie bei einer Beendigung der Familienverbindung oder des gemeinsamen Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat. 29 24

Erwägungsgründe 10 und 16 RL 2004/38 (Fn. 20). EuGH, Rs. C-456/02, Trojani, Schlussanträge des GA Geelhoed, Slg. 2004, I-7573 Nr. 9 ff. 26 Art. 3 Abs. 2 lit. a, Art. 6 Abs 2, Art. 7 Abs. 2, Art. 23 RL 2004/38 (Fn. 20). 27 Zur Problematik bei doppelter Staatsangehörigkeit, wenn eine davon diejenige eines Mitgliedstaats ist, vgl. EuGH, Rs. C-369/90, Micheletti, Slg. 1992, I-4239 Rn. 5, 14; EuGH, Rs. C-179/98, Mesbah, Slg. 1999, I-7955 Rn. 39. 28 Art. 8 ff. RL 2004/38 (Fn. 20). 25

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3. Recht auf Ein- und Ausreise

Unbeschadet der für die Kontrollen von Reisedokumenten an den nationalen Grenzen geltenden Vorschriften30 haben die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, gemäß der Richtlinie 2004/38 das Recht, in einen Mitgliedstaat einzureisen oder aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat auszureisen, wenn sie einen gültigen Reisepass oder – als Unionsbürger – auch einen gültigen Personalausweis mit sich führen. Ein Visum oder eine gleichartige Formalität darf von einem Unionsbürger in keinem Fall, von einem Familienangehörigen aus einem Drittstaat nur für die Einreise verlangt werden, falls dieser nicht im Besitz einer von einem Mitgliedstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltskarte ist. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, den betreffenden Personen bei der Beschaffung der erforderlichen Visa, die unentgeltlich zu erteilen sind, sowie fehlender Reisedokumente behilflich zu sein, bevor sie eine Zurückweisung verfügen. Ferner können sie den Betroffenen eine begrenzte sanktionsbewehrte Meldepflicht auferlegen.31 Das Aus- und Einreiserecht schließt auch das Rückkehrrecht aus einem anderen in den eigenen Mitgliedstaat ein.32 Anders als hinsichtlich der Ausreise beschränkt sich die Regelung der Richtlinie 2004/38 hinsichtlich der Einreise nicht auf den Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten. Damit gewährleistet sie für die Unionsbürger, die von ihrer Freizügigkeit in der Union Gebrauch machen,33 dass ihre Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, ihr Einreiserecht auch unmittelbar aus einem Drittstaat kommend wahrnehmen können34 und sich nicht zuvor (rechtmäßig) in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten haben müssen.35 Das Bundesverwaltungsgericht 29

Ebd., Art. 12 f. Vgl. dazu unten, Abschnitt V. 31 Art. 4 und 5 RL 2004/38 (Fn. 20); vgl. zur dafür wegweisenden Rechtsprechung EuGH, Rs. C-459/99, MRAX, Slg. 2002, I-6591 Rn. 55 ff.; EuGH, Rs. C-157/03, Kommission/Spanien, Slg. 2005, I-2911 Rn. 27 ff.; EuGH, Rs. C-127/08, Metock, Slg. 2008, I-6241 Rn. 49 ff. 32 EuGH, Rs. C-370/90, Singh, Slg. 1992, I-4265 Rn. 19. 33 EuGH, Rs. C-434/09, McCarthy, Urt. v. 5.5.2011 Rn. 30 ff. – Dies kann, etwa im Bereich des Dienstleistungsverkehrs, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch ohne Wohnsitzwechsel in einen anderen Mitgliedstaat der Fall sein; vgl. EuGH, Rs. C60/00, Carpenter, Slg. 2002, I-6279 Rn. 28 ff. mit kritischer Anmerkung von Sebastian Puth, Die unendliche Weite der Grundfreiheiten des EG-Vertrags, EuR 2002, 860 ff.; Ute Mager, JZ 2003, 204 ff. 34 EuGH, Rs. C-127/08, Metock, Slg. 2008, I-6241 Rn. 49 ff. 35 So noch EuGH, Rs. C-109/01, Akrich, Slg. 2003, I-9607 Rn. 50 f. (ausdrücklich aufgegeben in der Rs. Metock, ebd., Rn. 58); vgl. dazu auch Astrid Epiney, Von Akrich über Jia bis Metock: zur Anwendbarkeit der gemeinschaftlichen Regeln über den Familiennachzug, EuR 2008, 840 ff.; Samantha Currie, Accelerated justice or a step too far? Residence rights of non-EU family members and the Court’s ruling in Metock, E.L. Rev. 2009, 310 ff.; Cathryn Costello, Metock: Free movement and „normal family life“ 30

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verlangt qualifizierend, dass der Unionsbürger von seinem Freizügigkeitsrecht (zeitlich) „nachhaltig“ Gebrauch gemacht hat, ohne eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs für erforderlich zu halten.36 Die Zurückhaltung gegenüber einer Prüfung und Klärung dieser „Art Bagatellverbot“37 durch die europäische Gerichtsbarkeit erscheint angesichts der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die in diesem Zusammenhang auf den Unionsbürgerstatus und den Kernbereich der davon umfassten Rechte abstellt,38 zumindest bedauerlich. 4. Recht auf Aufenthalt

Infolge der primärrechtlich fortbestehenden Unterschiede zwischen dem wirtschaftlichen und dem allgemeinen Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger sowie zwischen ihren Familienangehörigen mit oder ohne Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats ist die Regelung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen auch in der um Vereinfachung und Konsolidierung bemühten Richtlinie 2004/38 insgesamt komplex und auslegungsbedürftig geblieben.39 Bei der Dauer des Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat als dem Heimatstaat des Unionsbürgers wird zwischen Aufenthalten bis zu drei Monaten, solchen für mehr als drei Monate und Daueraufenthalten unterschieden. a) Kurzaufenthalt Ein Recht auf Kurzaufenthalt bis zu drei Monaten haben Unionsbürger und ihre sie begleitenden oder ihnen nachziehenden Familienangehörigen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, wobei alle Personen lediglich im Besitz eines gültigen Reisepasses oder – als Unionsbürger – auch eines gültigen Personalausweises sein müssen und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen haben (Art. 6 RL 2004/38). Damit unterliegen sie auch keiner Meldepflicht, wie sie andernfalls verlangt werden könnte (Art. 5 Abs. 5 RL 2004/38). Als Folge dieser Erleichterungen steht das Kurzaufenthaltsrecht den Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen nur so lange zu, wie sie Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Eine Ausweisungsverfügung bei Inanspruchnahme in the Union, CMLR 2009, 587 ff.; Said Hammamoun, Le droit de séjour du conjoint non communautaire d’un citoyen de l’Union dans le cadre de la directive 2004/38, RTD eur. 2009, 91 ff. 36 Bundesverwaltungsgericht, Urt. v. 16.11.2010 – 1 C 17/09, NVwZ 2011, 495 ff. 37 Ebd. 38 Vgl. die Nachweise unten, Fn. 45 und 46. 39 Vgl. dazu die zahlreichen Nachweise aus der Rechtsprechung der Europäischen Gerichtshofs bei Siegfried Magiera, in: Jürgen Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Kommentar, 3. Aufl., 2011, Art. 45 Rn. 5 ff.

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darf jedoch nicht automatisch erfolgen, sondern nur nach einer Prüfung im Einzelfall unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit,40 und zudem grundsätzlich nicht gegenüber Arbeitnehmern und Selbständigen sowie mit Aussicht auf Erfolg arbeitsuchenden Unionsbürgern (Art. 14 RL 2004/38).41 b) Längerfristiger Aufenthalt Ein Recht auf längerfristigen Aufenthalt von mehr als drei Monaten steht jedem Unionsbürger und seinen ihn begleitenden oder ihm nachziehenden Familienangehörigen – auch wenn diese nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen – zu, wenn er im Aufnahmemitgliedstaat Arbeitnehmer oder selbständig Erwerbstätiger ist oder dort für sich und seine Angehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass er keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen muss. Dabei gelten für Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätige zusätzliche Vergünstigungen, etwa bei Krankheit oder Aufnahme einer Berufsausbildung, sowie für Studierende bestimmte Ausnahmen im Hinblick auf den Nachweis ausreichender Existenzmittel und den Kreis der mitumfassten Familienangehörigen (Art. 7 RL 2004/38). Dieses komplexe System entspricht inhaltlich weitgehend dem vorangegangenen Stand des Sekundärrechts. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs besteht ein Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Elternteils jedoch nicht nur, wenn ihm der Unionsbürger, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, im gemeinsamen Aufenthaltsstaat – aufgrund Bedürftigkeit42 – Unterhalt gewährt (Art. 2 Nr. 2 lit. d, Art. 7 Abs. 2 RL 2004/38), sondern auch, wenn der Unionsbürger – etwa als Kleinkind – über keine eigenen Mittel, sondern lediglich über Mittel dieses Elternteils verfügt, indem dieser ihm tatsächlich Unterhalt und Betreuung gewährt, da das Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers andernfalls ohne jede Wirksamkeit wäre.43 Dies folgt daraus, dass der Unionsbürgerstatus (Art. 20 AEUV)44 gegen Maßnahmen der Mitgliedstaaten schützt, die dem Unionsbürger den tatsächlichen Genuss des Kernbereichs der ihm durch diesen Status verliehenen Rechte verwehren würden.45 Dementspre40

EuGH, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193 Rn. 42 f. Zur Freizügigkeit von Arbeitsuchenden vgl. EuGH, Rs. C-138/02, Collins, Slg. 2004, I-2703 Rn. 63 ff.; EuGH, Rs. C-258/04, Ioannides, Slg. 2005, I-8275 Rn. 22 ff.; EuGH, Rs. C-22/08, Vatsouras, Urt. v. 4.6.2009 Rn. 33 ff. 42 EuGH, Rs. C-1/05, Jia, Slg. 2007, I-1 Rn. 34 ff. 43 EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925 Rn. 18 ff.; vgl. dazu Bjorn Kunoy, A Union of national citizens: The origins of the Court’s lack of avant-gardisme in the Chen case, CMLR 2006, 179 ff. 44 Ausführlich dazu Siegfried Magiera, in: Klaus Dicke/Stephan Hobe u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht – Liber amicorum Jost Delbrück, 2005, S. 429 ff. 45 EuGH, Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano, Urt. v. 8.3.2011 Rn. 40 ff. 41

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chend darf einem drittstaatsangehörigen Elternteil, der seinen minderjährigen unionsangehörigen Kindern Unterhalt gewährt, weder der Aufenthalt noch eine Arbeitserlaubnis im Heimatmitgliedstaat der Kinder verwehrt werden, selbst wenn die Kinder nicht von ihrem Freizügigkeitsrecht innerhalb der Union Gebrauch gemacht haben.46 Entsprechendes sollte für den im Heimatmitgliedstaat des Kindes verbleibenden, jedoch weiterhin unterhaltsgewährenden drittstaatsangehörigen Elternteil anzunehmen sein, wenn das minderjährige unionsangehörige Kind zusammen mit dem anderen Elternteil den Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt.47 Grundsätzlich bleibt den Familienangehörigen eines Unionsbürgers das Aufenthaltsrecht in dem Aufnahmemitgliedstaat erhalten, wenn der Unionsbürger verstirbt, von dort wegzieht oder wenn die Ehe mit dem Unionsbürger geschieden oder aufgehoben wird. Sie müssen jedoch, bevor sie das Recht auf Daueraufenthalt erwerben, die allgemeinen Aufenthaltsvoraussetzungen – Erwerbstätigkeit bzw. ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherung – erfüllen sowie als Drittstaatsangehörige sich zuvor für eine bestimmte Mindestzeit in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben.48 c) Daueraufenthalt Ein Recht auf Daueraufenthalt erhalten Unionsbürger, wenn sie sich rechtmäßig fünf Jahre lang – abgesehen von nur geringfügigen, näher umschriebenen Unterbrechungen – im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben. Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, erhalten das Recht unter denselben Voraussetzungen, wenn sie sich mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten haben (Art. 16 ff. RL 2004/38). d) Gemeinsame Bestimmungen Unabhängig von der Differenzierung nach der Aufenthaltsdauer haben die aufnahmeberechtigten Unionsbürger und ihre Familienangehörigen unbeschadet ihrer Staatsangehörigkeit im Aufnahmemitgliedstaat grundsätzlich das Recht auf die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats (Art. 22 ff. RL 2004/38). Die Gleichbehandlung erstreckt sich auf den Anwendungsbereich des Vertrags und gilt vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklicher unionsrechtlicher Bestimmungen. Insbesondere können sich die Aufenthaltsbe46

Ebd.; EuGH, Rs. C-434/09, McCarthy, Urt. v. 5.5.2011 Rn. 44 ff. Vgl. dazu das Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs BadenWürttemberg, EuGH, Rs. C-40/11, Yoshikazu Iida, ABl.EU 2011 C 145/4, sowie EuGRZ 2011, 96 ff. 48 Vgl. dazu und zu weiteren Einzelheiten Art. 12 und 13 RL 2004/38 (Fn. 20). 47

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rechtigten im gesamten Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats wie die eigenen Staatsangehörigen frei bewegen und dort eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausüben. Der Aufnahmemitgliedstaat ist jedoch nicht verpflichtet, während eines allgemeinen, d.h. nicht wirtschaftlich bedingten, Kurzaufenthalts bis zu drei Monaten und für Arbeitsuchende auch danach Sozialhilfe zu leisten oder vor dem Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen zu gewähren.49 5. Beschränkungen

Beschränkungen des Einreise- und des Aufenthaltsrechts von Unionsbürgern und ihren – auch drittstaatsangehörigen – Familienangehörigen sind im Einklang mit dem bisherigen Vertrags- und Sekundärrecht sowie der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit sowie bei Rechtsmissbrauch zulässig (Art. 27 ff., Art. 35 RL 2004/38). Gründe zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit dürfen demgemäß nicht zu wirtschaftlichen Zwecken geltend gemacht werden.50 Bei Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darf ausschließlich das persönliche Verhalten ausschlaggebend sein und ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.51 Eine Ausweisung zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ist auf eng umgrenzte Krankheiten mit epidemischem Potential beschränkt und darf nur innerhalb von drei Monaten nach der Einreise erfolgen. Ein Rechtsmissbrauch oder Betrug, der zur Verweigerung oder zum Verlust der durch die Freizügigkeits-Richtlinie verliehenen Rechte führen kann, liegt beispielsweise bei Eingehung einer Scheinehe vor.52 IV. Sonstige Drittstaatsangehörige 1. Rechtsrahmen

Für die Freizügigkeit von Drittstaatsangehörigen, die nicht Familienangehörige von Unionsbürgern sind, bestehen weiterhin – in Ausführung der komplexen Ver49 Ausführlicher dazu Siegfried Magiera, Von der wirtschaftlichen zur allgemeinen Freizügigkeit in der Europäischen Union, in: Wolf Schäfer/Andreas Graf Wass von Czege (Hrsg.), Dienstleistungsfreiheit in der EU, 2010, S. 17 ff. (26 f.). 50 EuGH, Rs. C-388/01, Kommission/Italien, Slg. 2003, I-721 Rn. 22; EuGH, Rs. C400/08, Kommission/Spanien, Urt. v. 24.3.2011 Rn. 74. 51 EuGH, Rs. C-100/01, Olazabal, Slg. 2002, I-10981 Rn. 31, 43; EuGH, Rs. C-482/ 01, Orfanopoulos, Slg. 2004, I-5257 Rn. 66, 99; EuGH, Rs. C-145/09, Tsakouridis, Urt. v. 23.11.2010 Rn. 39 ff. 52 EuGH, Rs. C-370/90, Singh, Slg. 1992, I-4265 Rn. 24; EuGH, Rs. C-200/02, Zhu und Chen, Slg. 2004, I-9925 Rn. 34 ff.; EuGH, Rs. C-127/08, Metock, Slg. 2008, I6241 Rn. 75; vgl. auch Alexandra Borrmann, Rechte drittstaatsangehöriger Ehegatten wandernder Unionsbürger, ZAR 2004, 61 ff.

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tragsbestimmungen53 einschließlich des ebenso komplexen Schengen-Besitzstandes54 sowie unter Berücksichtigung der mit Drittstaaten abgeschlossenen Abkommen55 – zahlreiche im letzten Jahrzehnt erlassene detaillierte Sekundärrechtsakte. Dazu gehören Richtlinien zur Familienzusammenführung,56 zur langfristigen Aufenthaltsberechtigung, zum Schutz von Opfern des Menschenhandels, zu Ausbildungsmaßnahmen, zu Forschungszwecken, zur Rückführung bei illegalem Aufenthalt und zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung.57 Ferner liegen Vorschläge für Richtlinien zur konzerninternen Entsendung und zur Ausübung einer saisonalen Beschäftigung von Drittstaatsangehörigen vor.58 Der wesentliche Regelungsgehalt der Richtlinien betrifft die Bedingungen, unter de53

Vgl. dazu die Angaben oben, im Text nach Fn. 8. Dieser ist in den Rahmen der Europäischen Union einbezogen, enthält jedoch Sonderbestimmungen betr. einige Mitgliedstaaten (Dänemark, Irland, Vereinigtes Königreich) und einige assoziierte Staaten (Island, Norwegen, Schweiz), die im Folgenden nicht näher behandelt werden; vgl. dazu die Protokolle (Nr. 19–22) zum Vertrag von Lissabon, ABl.EU 2010 C 83/290 ff., sowie Volker Röben, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, 2010, Art. 67 AEUV Rn. 129 ff. m.w. N. 55 Vgl. dazu ausführlich Martin Hedemann-Robinson, An overwiew of recent legal developments at Community level in relation to third country nationals resident within the European Union, with particular reference to the case law of the European Court of Justice, CMLR 2001, 525 ff. (531 ff.). 56 Vgl. dazu Kees Groenendijk, Familienzusammenführung als Recht nach Gemeinschaftsrecht, ZAR 2006, 191 ff. 57 RL 2003/86/EG des Rates v. 22.9.2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl.EU 2003 L 251/12; RL 2003/109/EG des Rates v. 25.11.2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, ABl.EU 2004 L 16/44; RL 2004/81/EG des Rates v. 29.4.2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren, ABl.EU 2004 L 261/19; RL 2004/114/EG des Rates v. 13.12. 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder eines Freiwilligendienstes, ABl.EU 2004 L 375/12; RL 2005/17/EG des Rates v. 12.12.2005 über ein besonderes Zulassungsverfahren für Drittstaatsangehörige zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung, ABl.EU 2005 L 289/ 15; RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl.EU 2008 L 348/98; RL 2009/50/EG des Rates v. 25.5.2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, ABl.EU L 155/17; RL 2009/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.6.2009 über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt beschäftigen, ABl.EU 2009 L 168/24. 58 Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Rahmen einer konzerninternen Entsendung, KOM(2010) 378; Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zwecks Ausübung einer saisonalen Beschäftigung, KOM(2010) 379. 54

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nen Drittstaatsangehörige in einen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union einreisen und sich dort aufhalten können. Dabei werden im Vergleich zu den Regelungen für Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige von Unionsbürgern sind, differenziertere Anforderungen an die Ausstellung von Aufenthaltstiteln, an die Einbeziehung von Familienangehörigen, an den Besitz ausreichender Existenzmittel und einer Krankenversicherung, an die Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit oder Ausbildung oder an die Verlegung des Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat gestellt, die den Mitgliedstaaten zudem einen erheblich weiteren Entscheidungsspielraum bei der Einräumung von Freizügigkeitsrechten belassen.59 2. Langfristiger Aufenthalt

Nach den Vorgaben des Europäischen Rates sollen die Regelungen bewirken, dass die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen derjenigen der Unionsbürger angenähert wird, wenn sich die Drittstaatsangehörigen rechtmäßig und langfristig in einem Mitgliedstaat aufgehalten haben.60 Eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die bis spätestens 2014 sichergestellt sein soll, bedarf einer energischeren Integrationspolitik und einer Konsolidierung der bestehenden Rechtsvorschriften im Bereich der Einwanderung, beginnend mit der legalen Migration.61 Die Gewährung vergleichbarer Rechte und Chancen als Kernstück der 59 Vgl. dazu auch Carmen Thiele, Einwanderung im Europäischen Gemeinschaftsrecht – Familienzusammenführung und Daueraufenthalt von Drittstaatsangehörigen –, EuR 2007, 419 ff.; Rainer Hofmann, Europarecht für Drittstaatsangehörige in der Praxis, in: ders./Tillmann Löhr (Hrsg.), Europäisches Flüchtlings- und Einwanderungsrecht, 2008, S. 217 ff.; Anna Kocharov, What intra-Community mobility for third-country workers?, E.L. Rev. 2008, 913 ff; Daniel Thym, Europäische Einwanderungspolitik: Grundlagen, Gegenstand und Grenzen, in: Rainer Hofmann/Tillmann Löhr (Hrsg.), Europäisches Flüchtlings- und Einwanderungsrecht, 2008, S. 183 ff.; Thomas Groß/ Alexandra Tryjanowski, Der Status von Drittstaatsangehörigen im Migrationsrecht der EU – Eine kritische Analyse, Der Staat 2009, 259 ff.; Kay Hailbronner (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law – Commentary on EU Regulations and Directives, 2010; Claire Marzo, Aux frontières de l’Europe: Comparaison de la situation des résidents, ressortisants de différents États tiers, à celle des citoyens de l’Union Européenne, RMC 2010, 286 ff.; Anja Wiesbrock, Free movement of third-country nationals in the European Union: The illusion of inclusion, E.L. Rev. 2010, 455 ff. 60 Europäischer Rat v. 15./16.10.1999, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Bull.EU 10-1999, Ziff. I.6.18 ff., S. 10; Europäischer Rat v. 4./5.11.2004, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Anlage 1 (Haager Programm), Bull.EU 11-2004, Ziff. I.20 ff., S. 18 ff.; Europäischer Rat v. 10./11.12.2009, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 25 ff. (Stockholmer Programm, ABl.EU 2010 C 115/1, Ziff. 6); vgl. auch Kommission, Mitteilung über Einwanderung, Integration und Beschäftigung, KOM(2003) 336; Kommission, Eine gemeinsame Integrationsagenda – Ein Rahmen für die Integration von Drittstaatsangehörigen in die Europäische Union, KOM(2005) 389; Kommission, Schritte zu einer Gemeinsamen Einwanderungspolitik, KOM(2007) 780; Kommission, Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms, KOM(2010) 171, Ziff. 6 i.V. m. Anhang S. 47 ff. 61 Europäischer Rat, Stockholmer Programm, ebd., Ziff. 6.1.4.

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europäischen Zusammenarbeit im Bereich der Integration schließt die Belastung mit vergleichbaren Pflichten und Verantwortlichkeiten ein und erfordert damit gemeinsame Anstrengungen der Aufnahmegesellschaft und der Zuwanderer.62 Insgesamt entspricht dies den Anforderungen des Vertrags von Lissabon, eine gemeinsame Einwanderungspolitik zu entwickeln, die eine wirksame Steuerung der Migrationsströme, eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, sowie die Verhütung und Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel gewährleisten soll (Art. 79 Abs. 1 AEUV). Die entsprechenden Bedingungen für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen und der damit verbundenen Rechte in einem oder anschließend auch in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union sind in der dazu ergangenen Richtlinie 2003/109 festgelegt.63 Die dadurch verbesserte Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erfordert insbesondere einen rechtmäßigen und grundsätzlich ununterbrochen Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen von fünf Jahren in dem betreffenden Mitgliedstaat, feste und regelmäßige Einkünfte zum ausreichenden Lebensunterhalt und eine Krankenversicherung für sich und die Familienangehörigen sowie – auf Verlangen des Mitgliedstaats – die Erfüllung von Integrationsanforderungen nach dessen Recht. Sie kann aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit versagt sowie aus näher bestimmten Gründen entzogen werden oder – bei Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem anderen Mitgliedstaat – auch verloren gehen. Im Übrigen werden die langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen auf zahlreichen, ausdrücklich aufgeführten Gebieten grundsätzlich wie die eigenen Staatsangehörigen des Mitgliedstaats behandelt, u. a. im Hinblick auf eine Erwerbstätigkeit, die allgemeine und berufliche Bildung, soziale Sicherheit und Sozialhilfe, Vereinigungsfreiheit und Zugang zum gesamten Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats. Im Hinblick auf den zuvor umstrittenen Zugang zur Beschäftigung64 hat Art. 79 Abs. 5 AEUV klargestellt, dass dieser Artikel nicht das Recht der Mitgliedstaaten berührt, die Zahl der Drittstaatsangehörigen festzulegen, die in sein Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbständige Arbeit zu suchen.65

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Ebd. Oben, Fn. 57; ausführlicher dazu Kay Hailbronner, Langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige, ZAR 2004, 163 ff.; Sonja Boelaert-Suominen, Non-EU nationals and Council directive 2003/109/EC on the status of third-country nationals who are long-term residents: Five paces forward and possibly three paces back, CMLR 2005, 1011 ff. 64 Vgl. dazu näher Siegfried Magiera, in: Jürgen Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Kommentar, 2. Aufl., 2006, Art. 45 Rn. 31 m.w. N. 63

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3. Kurzfristiger Aufenthalt

Kurzfristige Aufenthalte von Drittstaatsangehörigen in der Europäischen Union, die zunächst auf höchstens drei Monate zu beschränken waren (Art. 62 Nr. 2 lit. b EGV), können nunmehr nach Fortfall des starren Zeitrahmens flexibler begrenzt werden (Art. 77 Abs. 2 lit. c AEUV). Die näheren Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa, deren Erforderlichkeit sich aus der Verordnung 539/2001 ergibt,66 für geplante Aufenthalte im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von derzeit höchstens drei Monaten je Sechsmonatszeitraum sind in der Visakodex-Verordnung 810/2009 festgelegt.67 In der Regel ist danach von den Mitgliedstaaten ein einheitliches Visum für den gesamten Unionsraum zu erteilen, das zur ein- oder mehrmaligen Einreise berechtigt und dessen Gültigkeitsdauer fünf Jahre nicht überschreiten darf. In Ausnahmefällen kann das Visum auf das Hoheitsgebiet eines oder mehrerer der ausstellenden Mitgliedstaaten beschränkt werden. Gültigkeitsdauer des Visums und Aufenthaltsdauer im Unionsgebiet bestimmen sich aufgrund einer eingehenden Prüfung der Einreisevoraussetzungen und Risikobewertung, die u. a. festzustellen hat, ob der Drittstaatsangehörige über ausreichende Reisemittel verfügt, ob er eine Gefahr für die Sicherheit der Mitgliedstaaten darstellt oder ob bei ihm das Risiko einer rechtswidrigen Einwanderung besteht. V. Überschreiten der Außen- und der Binnengrenzen Gemäß Art. 77 AEUV entwickelt die Europäische Union eine Politik mit dem Ziel, Personen – unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, also auch Drittstaatsangehörige – beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht, beim Überschreiten der Außengrenzen hingegen wirksam zu kontrollieren und schrittweise ein integriertes Außengrenzschutzsytem einzuführen. Die näheren Regelungen, die seit der Einheitlichen Europäischen Akte angestrebt wurden,68 finden sich in der Verordnung 562/2006 über den Schengener Grenzkodex.69 65 Vgl. aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht auch Vincent Fromentin, Les conséquences économiques de l’immigration en Europe en période de crise, RMC 2011, 216 ff. 66 Vgl. unten, Fn. 75. 67 VO (EG) Nr. 810/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.7.2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex), ABl.EU 2009 L 243/1; vgl. für längerfristige Aufenthalte Art. 18 und allgemein Art. 19–22 Durchführungsübereinkommen von Schengen (Fn. 7). 68 Vgl. zur Entwicklung Siegfried Magiera, Die Beseitigung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen der Europäischen Union, in: Joachim Burmeister u. a. (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit – Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, 1997, S. 1317 ff. 69 VO (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.3.2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen

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Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Europäischen Union70 sind danach grundsätzlich abgeschafft und können nur ausnahmsweise und zeitlich begrenzt bei einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit unter Einhaltung geregelter Verfahren wieder eingeführt werden. Kontrollen innerhalb des staatlichen Hoheitsgebiets bleiben zulässig, sofern ihre Ausübung nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben,71 was erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten in der Praxis bereiten kann.72 Außengrenzen der Europäischen Union, d.h. alle Grenzen der Mitgliedstaaten, soweit sie nicht Binnengrenzen sind, dürfen grundsätzlich nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrszeiten überschritten werden. Für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten je Sechsmonatszeitraum73 muss der Drittstaatsangehörige die für kurzfristige Aufenthalte geltenden Einreisevoraussetzungen erfüllen,74 insbesondere auch ein gültiges, zur Grenzüberschreitung berechtigendes Reisedokument und ein etwa erforderliches75 gültiges Visum besitzen, außer wenn er Inhaber eines gültigen Aufenthalttitels76 oder eines gültigen Visums für einen längerfristigen Aufenthalt ist.77 Da der Übertritt an den Außengrenzen die Einreise in das Hoheitsgebiet aller Mitgliedstaaten ermöglicht, werden Drittstaatsangehörige bei der Ein- und Ausreise grundsätzlich eingehend nach detailliert festgelegten Bestimmungen kontrolliert.78

(Schengener Grenzkodex), ABl.EU 2006 L 105/1; vgl. dazu auch Christian Krane, Freier Personenverkehr und Kontrollen an den EU-Binnengrenzen, DÖV 2005, 936 ff. 70 Darunter sind die (mitgliedstaatlichen) gemeinsamen Landgrenzen, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen, die Flughäfen für Binnenflüge sowie die See-, Flussschifffahrts- und Binnenseehäfen für regelmäßige Fährverbindungen zu verstehen (Art. 2 Nr. 1 VO 562/2006; ebd.). 71 Zu diesen und weiteren Einzelheiten vgl. Art. 20 ff. VO 562/2006 (Fn. 69). 72 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-188/10, Melki, Urt. v. 22.6.2010 Rn. 70 ff.; Kommission, Bericht über die Anwendung von Titel III (Binnengrenzen) der VO 562/2006, KOM (2010) 554. 73 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-241/05, Bot, Slg. 2006, I-9627 Rn. 21 ff. (betr. Art. 20 Abs. 1 Schengener Durchführungsübereinkommen; oben, Fn. 7) und Kommission, Vorschlag für eine Verordnung zur Änderung der VO 562/2006, KOM(2011) 118, S. 3, 6, 16. 74 Vgl. oben, Abschnitt IV.3. 75 VO (EG) Nr. 539/2001 des Rates v. 15.3.2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind, ABl.EU 2001 L 81/1. 76 Vgl. dazu die VO (EG) Nr. 1030/2002 des Rates v. 13.6.2002 zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatsangehörige, ABl.EU 2002 L157/1. 77 Für längerfristige Aufenthalte gelten die Voraussetzungen der Mitgliedstaaten sowie der besonderen Rechtsakte der Union (oben, Fn. 57); vgl. auch Art. 18 und Art. 19 ff. Durchführungsübereinkommen von Schengen (oben, Fn. 7). 78 Zu diesen und weiteren Einzelheiten vgl. Art. 4 ff. VO 562/2006 (Fn. 69).

Religionsfreiheit im Europarecht nach dem Vertrag von Lissabon Von Stefan Muckel I. Einführung Klaus Stern hat sich in seinen umfassenden Schriften zum Staatsrecht allenthalben mit Fragen der Religionsfreiheit beschäftigt. Er ist ihren historischen Ursprüngen ebenenso nachgegangen,1 wie er aktuelle Probleme und größere Zusammenhänge, in die die grundrechtliche Religionsfreiheit eingebunden ist, aufgezeigt hat.2 Dabei hat Stern mit Recht auch die Bezüge zu staatskirchenrechtlichen Fragen hergestellt. So sieht er Religionsfreiheit schon für die Zeit vor der Entstehung reichsverfassungsrechtlicher Verbürgungen in engem Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften.3 Lange vor der Reichsverfassung von Weimar mit ihrer (gem. Art. 140 GG) noch heute gültigen Bestimmung in Art. 137 Abs. 3 WRV4 kannte das Landesverfassungsrecht Garantien kirchlicher Selbstbestimmung,5 die die grundrechtliche Verbürgung von Religionsfreiheit ergänzten. Die Entwicklung religiöser und kirchlicher Freiheit im 19. Jahrhundert, die Klaus Stern im Einzelnen beschrieben hat,6 lässt sich heute auf europäischer Ebene beobachten. Sie ist durch das Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zur Reform der Europäischen Union am 1. Dezember 2009 in eine neue Phase getreten. Zum ersten Mal enthält das primäre Europarecht nicht nur die grundrechtliche Verbürgung von Religionsfreiheit, sondern sieht auch Bestimmungen über das Verhältnis der Europäischen Union zu den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften vor. Das bietet Veranlassung, in dieser Festgabe für einen der großen Grundrechtsdenker

1 Vgl. nur Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2, S. 890 ff., Bd. V, S. 35 ff., 158, 253, 307, 420 ff., 547, 652. 2 Vgl. nur Stern, in: ders./Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Einl. 67, wo er die Religionsfreiheit – in ihren Bezügen zu aktuellen Problemkonstellationen – in den Zusammenhang der grundrechtlichen Schutzpflichten stellt. 3 Stern, Staatsrecht, Bd. V, S. 421. 4 „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihr Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“ 5 Stern, Staatsrecht, Bd. V, S. 421. 6 Stern, Staatsrecht, Bd. IV/2, S. 1187 ff., Bd. V, S. 420 ff.

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den freiheitlichen Anteilen des neuen europäischen Staatskirchenrechts7 nachzugehen. II. Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht im Europarecht 1. Religionsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrecht bis zum Reformvertrag von Lissabon

Im Recht der Europäischen Union gab es bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon keinen vollgültigen kodifizierten Grundrechtskatalog.8 Gleichwohl hat der EuGH schon früh Grundrechte anerkannt9. Der Kern dieser Rechtsprechung wurde 1992 in Art. 6 Abs. 2 EUV festgeschrieben. Danach beruhte der Grundrechtsschutz der Union auf der EMRK und den Grundrechten „wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“. Auf dieser Grundlage hat der EuGH eine ausdifferenzierte Grundrechtsjudikatur entwickelt.10 War dies noch Ausdruck einer Jahrzehnte dauernden Entwicklung, so bildete die feierliche Proklamation der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ am 7.12. 2000 einen klar fixierbaren „Meilenstein“11 in der Ausprägung des europäischen Grundrechtsschutzes. Allerdings war die Charta zunächst rechtlich nicht unmittelbar verbindlich. Sie diente nur als eine Art Interpretationshilfe bei der Auslegung von Art. 6 Abs. 2 EUV a. F.12 und als Rechtserkenntnisquelle für die europäischen Grundrechte13.

7 Der Begriff ist für die europäischer Ebene des Gegenübers von Religion und öffentlicher Gewalt nicht ganz exakt, vgl. Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1395; er wird hier mit de Wall, Europäisches Staatskirchenrecht, ZevKR 45 (2000), S. 157, verwendet. Zugleich soll in der Auseinandersetzung um eine Beibehaltung des Begriff auf nationaler Ebene nicht Position bezogen werden – vgl. dazu Stern, ebd., S. 1168 ff.; v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl., 2006, S. 39 f. m.w. N. 8 Näher Hobe, Europarecht, 4. Aufl., 2009, Rn. 523 ff. 9 EuGH Slg. 1969, 425 – Stauder; EuGH, Slg. 1970, 1125 – Internationale Handelsgesellschaft; EuGH, Slg. 1974, 491, Rn. 13 – Nold; näher Hobe, Europarecht, Rn. 528. 10 Beutler, in: v. d. Groeben/Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl., 2003, Bd. 1, Art. 6 EUV Rn. 51 ff.; Kingreen, Die Gemeinschaftsgrundrechte, JuS 2000, 857 ff.; Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl., 2005, §§ 13–18; Jarass, EU-Grundrechte, 2005, S. 115 ff. 11 Grabenwarter, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, S. 213. 12 Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBl. 2001, 1 (11). 13 Jarass, EU-Grundrechte, 2005, S. 14; zur Grundrechte-Charta auch Hobe, Europarecht, Rn. 530 ff. m.w. N.; mit Blick auf die Religionsfreiheit: Ottenberg, Der Schutz der Religionsfreiheit im internationalen Recht, 2009, S. 195 ff.

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Zu den so gewonnenen Gemeinschaftsgrundrechten zählte auch die Religionsund Weltanschauungsfreiheit14. Sie konnte auf beide Säulen des europäischen Grundrechtsschutzes gestützt werden. Zum Einen war – und ist – das Grundrecht der Religionsfreiheit in den Verfassungen sämtlicher Mitgliedstaaten verankert15. Zum Anderen wird die Religionsfreiheit in Art. 9 EMRK gewährleistet. Allerdings gibt es kaum Entscheidungen des EuGH zu diesem Grundrecht. Dem grundlegenden Fall Prais16 folgten zwar noch einige Entscheidungen des EuGH mit Berührungspunkten zur Tätigkeit von Religionsgemeinschaften17, eine nähere Konturierung im Hinblick auf Inhalt und Grenzen der Religionsfreiheit ergibt sich aber auch daraus nicht. Der Grund dürfte darin liegen, dass die Europäische Union – nach wie vor – keine eigenständige Kompetenz für den Bereich des Staatskirchenrechts bzw. Religionsrechts hat und nur sehr eingeschränkte Kompetenzen in Bereichen, in denen religiöse Konflikte häufig auftreten und sich die Fragen nach Inhalt und Schranken der Religionsfreiheit ergeben, etwa im Schul- und Bildungsrecht.18 Hier hatte die Gemeinschaft nach Art. 149 EGV (gleiches heute für die Union: Art. 165 AEUV) nur sehr eingeschränkte Kompetenzen, die zudem unter dem Vorbehalt der „strikten Beachtung der Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems“ stehen. Auch die Rechtsprechung des EGMR in Straßburg hatte schon vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon für das Verständnis der EU-Grundrechte besondere Bedeutung.19 Das Verhältnis zwischen der Rechtsprechung des EuGH in Luxemburg und der des EGMR in Straßburg, dessen Aufgabe es gem. Art. 19 EMRK ist, die Einhaltung der Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention sicherzustellen, ist in vielen Detailfragen nicht geklärt20. Die 14 Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrecht, EuR 2000, 261 ff.; Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 427 ff. 15 Mückl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2002, S. 44 ff.; de Wall, Zur aktuellen Lage des Religionsrechts der Europäischen Union, ZevKR 52 (2007), S. 310 (316); vgl. auch die Nachweise der Normen bei Muckel, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, S. 321. 16 EuGH, Rs. 130/75, Slg. 1976, 1589 ff.; Anmerkung von Pernice, JZ 1977, 777. 17 Übersicht bei Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrecht, EuR 2000, 261 (269 ff.); Vachek, Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, 2000, S. 88 ff. 18 Zur Konfliktträchtigkeit dieses Bereichs gerade im Hinblick auf Probleme der Religionsfreiheit vgl. Stern, in: ders./Becker (Hrsg.), Einl. Art. 67 m.w. N. 19 Vgl. nur Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1388 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, 2005, S. 23. 20 Zu möglichen Rechtsprechungsdivergenzen Grabenwarter, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, S. 206 f.; Ottenberg, Schutz der Religionsfreiheit im internationalen Recht, 2009, S. 194.

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Europäische Union ist bislang21 nicht Mitglied der EMRK und damit nicht unmittelbar an die Rechtsprechung des EGMR gebunden. Dennoch misst der EuGH der Rechtsprechung des EGMR bei der Ermittlung und Auslegung der EU-Grundrechte eine besondere Bedeutung bei und bezieht die Rechtsprechung des EGMR in die Begründung seiner eigenen Entscheidungen ein22. Es ist davon auszugehen, dass sich der EuGH auch in Zukunft bei der Auslegung der Religionsfreiheit als Unionsgrundrecht maßgeblich an der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 9 EMRK orientieren wird23. Das legt vor allem Art. 6 Abs. 3 EUV n. F. nahe, wonach die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts sind. Nach früherem Recht – vor Lissabon – „achtete“ die Union diese Rechte nur (Art. 6 Abs. 2 EUV a. F.). Nach altem Rechtszustand – vor Lissabon – war nicht ganz eindeutig, inwieweit das Grundrecht der Religionsfreiheit im Europarecht auch einen korporativen Aspekt aufwies. In Abgrenzung zur kollektiven Freiheit ist damit die eigene Freiheit der Religionsgemeinschaften und religiösen Vereine als solche gemeint, mit der ihnen eine eigenständige, von den Grundrechten ihrer Mitglieder abstrahierte Grundrechtsträgerschaft vermittelt wird. Eine dem Art. 19 Abs. 3 GG vergleichbare Regelung über die Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen enthält die EMRK nicht. Das schloss zwar nicht aus, dass auch juristische Personen als Träger der Grundrechte anerkannt werden. Einen deutlichen Hinweis darauf bietet Art. 34 EMRK. Dort ist festgelegt, dass der EGMR von jeder natürlichen Person, aber auch von „nichtstaatlichen Organisationen“ mit der Beschwerde angerufen werden kann, in einem der in der Konvention anerkannten Rechte verletzt worden zu sein. Eine ausdrückliche Regelung wie in Art. 19 Abs. 3 GG findet zudem nur wenige Parallelen in Verfassungen anderer Staaten. In Ländern ohne eine entsprechende Bestimmung wird der Grundrechtsschutz juristischer Personen dennoch nicht generell abgelehnt, sondern von der Recht21 Einen Beitritt der Union zur EMRK sieht Art. 6 Abs. 2 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon vor. 22 Näher Grabenwarter, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, S. 206 m.w. N. Besonders deutlich wurde dies vielleicht bei der Frage, ob auch Geschäftsräume unter den Schutz des Rechts auf Wohnung fallen. Zunächst lehnte der EuGH dies ab (EuGH, Urt. vom 21.09.1989, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 17 f. – Hoechst). Als aber dann der EGMR davon ausging, dass der Schutzbereich des Grundrechts auf Wohnung, das in Art. 8 Abs. 1 EMRK verankert ist, auch Geschäftsräume umfasst (EGMR, Urt. vom 16.12. 1992, Serie A 251-B, Rn. 30 – Niemietz; EGMR, Urt. v. 16.04.2002, RJD 2002-III, Rn. 40 – Colas), änderte der EuGH seine Rechtsprechung und stellte unter ausdrücklichem Hinweis auf die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung des EGMR klar, dass auch Geschäftsräume dem Schutzbereich des Rechts auf Wohnung unterfallen (EuGH, Urt. vom 22.10.2002, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9039, Rn. 29 – Roquette Frères). 23 Vgl. bereits Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, S. 439 f.

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sprechung je nach „Natur“ oder „Wesen“ des jeweiligen Grundrechts ausgestaltet24. Auch der EuGH hat in seiner Rechtsprechung zu Gemeinschaftsgrundrechten mehrfach ohne nähere Begründung eine Grundrechtsberechtigung juristischer Personen anerkannt25. Gleichwohl war lange Zeit nicht geklärt, ob und in welchem Umfang Religionsgemeinschaften sich auf Art. 9 EMRK berufen können26. Die frühere Menschenrechts-Kommission hatte Kirchen und Religionsgemeinschaften zunächst nicht als Träger der Religionsfreiheit ansehen wollen. So war einer Religionsgemeinschaft die eigene Beschwerdefähigkeit mit der Begründung abgesprochen worden, eine juristische Person sei nicht fähig, eigene Rechte aus Art. 9 EMRK geltend zu machen. Das stehe nur ihren Mitgliedern als natürlichen Personen zu27. In einer späteren Entscheidung änderte die Kommission aber ihre Rechtsprechung und erkannte Religionsgemeinschaften als Beschwerdeführer im Hinblick auf das Recht aus Art. 9 EMRK an28. Die entsprechende Passage enthielt allerdings weiterhin den Zusatz „as a representative of its members“ – was als eine Art Prozessstandschaft gedeutet werden konnte, bei der die Kirche zwar prozessual zulässiger Beschwerdeführer sein konnte, materiell jedoch Rechte ihrer Mitglieder, nicht ihre eigenen geltend machte29. In der Folgezeit ging die Kommission allerdings ohne Weiteres von einer Berechtigung der Religionsgemeinschaften aus Art. 9 EMRK aus30. Der EGMR übernahm diese Rechtsprechung und hat bereits mehrfach die materielle Grundrechtsfähigkeit von religiösen Organisationen hinsichtlich Art. 9 EMRK anerkannt31. Vor dem Hintergrund dieser zeitweilig nicht ganz eindeutigen Judikatur hat der deutsche Delegierte Ingo Friedrich (CSU/EVP) bei den Beratungen des Europäischen Grundrechte-Konvents dafür plädiert, den Schutz der korporativen Seite 24

Nachw. bei Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG Bd. 1, 2. Aufl., 2004, Art.19 III Rn. 23. EuGH, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4 ff. – Internationale Handelsgesellschaft; EuGH, Slg. 1989, S. 2237, Rn. 15 – Schräder. 26 Zum Folgenden ausführlich Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, 2006, S. 370 ff.; Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der EMRK, 1990, S. 170 ff.; Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, 1998, S. 339 ff. 27 EKMR, Entscheidung v. 17.12.1968, BNr. 3798/68; zit. nach Blum, ebd., S. 171 Fn. 4. 28 EKMR, Entscheidung v. 5. Mai 1979, DR 16, 68; zit. nach Blum, ebd., S. 171 Fn. 7; die weitere Rechtsprechung der Kommission stellt Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, S. 345 ff. dar. 29 Dazu und zur weiteren Rechtsprechung der Kommission Conring, ebd., S. 345 ff. 30 Vgl. Walter, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG – Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2006, Kap. 17, Rn. 91. 31 EGMR, Urt. v. 13.12.2001, Metropolitenkirche von Bessarabien ./. Moldawien, Rn. 101; Ls. abgedruckt in öarr 2003, 156 m. Anm. Synek; näher zur korporativen Religionsfreiheit nach der EMRK Grabenwarter, in: Muckel (Hrsg.), Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat, FS f. Rüfner, 2003, S. 147 ff. 25

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der Religionsfreiheit ausdrücklich in die Grundrechte-Charta aufzunehmen32. Dass er sich damit nicht durchsetzen konnte,33 liegt nicht darin begründet, dass der Konvent einen eigenständigen Grundrechtsschutz der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften ausschließen wollte. Entscheidend war vielmehr der Wunsch, den Wortlaut des Art. 10 EU-GRCh mit dem des Art. 9 EMRK in Übereinstimmung zu bringen. Ebenso wurden etwa Vorschläge abgelehnt, den Schutz der negativen Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ausdrücklich in der Charta zu verankern34, ohne dass damit eine Absage an die negative Dimension der Grundrechte verbunden wäre. Festgehalten werden kann, dass vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon die Religionsfreiheit als EU-Grundrecht zwar im Grundsatz auch Personengemeinschaften als eigenes Grundrecht zustand und so die korporative Seite der Religionsfreiheit geschützt war. Die Rechtslage war aber normativ nicht eindeutig und nicht hinreichend abgesichert. 2. Religionsfreiheit als Unionsgrundrecht nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon

Nach dem Scheitern des allzu ambitionierten Vertrags über eine Verfassung für Europa konnte immerhin der Vertrag von Lissabon politisch durchgesetzt werden. Er hebt neben zahlreichen organisationsrechtlichen Änderungen auch den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union auf eine neue, höhere Ebene.35 Er ist formal und inhaltlich aufgewertet sowie erweitert worden. Die vielleicht bedeutsamste Änderung bringt der neugefasste Art. 6 Abs. 1 EUV mit sich. Er stellt die Charta der Grundrechte auf eine rechtliche Stufe mit dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Damit wird die Grundrechte-Charta zwar nicht textlich unmittelbar in den EU-Vertrag integriert – wie es noch im Vertrag über eine Verfassung für Europa vorgesehen war. Es ist jedoch klargestellt, dass die Charta rechtlich ebenso verbindlich ist wie die Verträge und damit qualitativ Teil des Primärrechts wird. Sie ist nicht mehr allein Interpretationshilfe und Rechtserkenntnisquelle, sondern unmittelbare Rechtsquelle für den europäischen Grund32 Zu ähnlichen Vorschlägen der EKD und der Konferenz Europäischer Kirchen Heinig, Die Religion, die Kirchen und die europäische Grundrechtscharta, ZevKR 46 (2001), S. 440 (448). 33 Vgl. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 10 Rn. 7; zum Ganzen auch Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1393. 34 Bernsdorff, ebd., Art. 10 Rn. 7. 35 Zum Vertrag von Lissabon sei aus dem umfangreichen Schrifttum hier nur verwiesen auf Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 868, 1387 f., 1392 f., 1995 f.; Streinz/Ohler/ Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU – Einführung mit Synopse, 2. Aufl., 2008, S. 26 ff.; Hobe, Europarecht, Rn. 43, pass.

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rechtsschutz36. Ausgenommen davon sind Polen und Großbritannien37, die eine Ausnahme von der Zuständigkeit des EuGH für den Schutz der in der Grundrechte-Charta anerkannten Rechte aushandelten38. Über die ausdrückliche Verbürgung der Religionsfreiheit in Art. 10 Abs. 1 EUGRCh39 hinaus anerkennt Art. 10 Abs. 2 EU-GRCh das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen nach Maßgabe der einzelstaatlichen Gesetze. Die Formulierung entspricht nahezu wörtlich der Garantie des Art. 9 EMRK. Die minimalen sprachlichen Unterschiede dürften keine inhaltlichen Differenzen begründen40. Die Grundrechte-Charta enthält allerdings über die Garantie der Religionsfreiheit hinaus Regelungen, die für Religionsgemeinschaften, insbesondere die christlichen Kirchen, von Bedeutung sein werden. So gewährleistet Art. 14 Abs. 3 EU-GRCh die Freiheit zur Gründung von Privatschulen und das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen Überzeugungen sicherzustellen – jeweils „nach den einzelstaatlichen Gesetzen“ 41. Nach Art. 22 EU-GRCh achtet die Union die Vielfalt der Religionen42. Art. 21 EU-GRCh verbietet Diskriminierungen wegen der Religion, der Weltanschauung und anderen Merkmalen43. 36 Vgl. Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1387 f.; Pache/Rösch, Der Vertrag von Lissabon, NVwZ 2008, 473 (474). 37 Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich (Protokoll Nr. 7), abgedruckt in EuGRZ 2008, 339 – Protokolle sind gem. Art. 51 EUV n. F. Bestandteil der Verträge. 38 Zur Bedeutung dieser Sonderregelung Mehde, Gespaltener Grundrechtsschutz in der EU?, EuGRZ 2008, 269 ff. 39 Ausführlich dazu Robbers, Religionsrechtliche Gehalte der Europäischen Grundrechtecharta, in: Geis/Lorenz (Hrsg.), Staat – Kirche – Verwaltung, FS Maurer, 2001, S. 425 ff.; Hobe, Die Verbürgung der Religionsfreiheit in der EU-Grundrechtecharta, in: Muckel (Hrsg.), Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat, FS Rüfner, 2003, S. 317 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, S. 179 ff.; Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1393 f. 40 „die Religion zu wechseln“ – „seine Religion zu wechseln“ sowie „Bräuche und Riten“ – „Praktizieren von Bräuchen und Riten“. 41 Zur Bedeutung dieser Formulierung Kempen, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 14, Rn. 10 f., 18 f.; Robbers, Religionsrechtliche Gehalte der Europäischen Grundrechtecharta, in: Geis/Lorenz (Hrsg.), Staat – Kirche – Verwaltung, FS f. Maurer, 2001, S. 425 (430). 42 Näher zum Inhalt der Vorschrift Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1394; Ennuschat, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 22, Rn. 19 ff.; Gaitanides, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 29, Rn 25 ff.; Robbers, Religionsrechtliche Gehalte der Europäischen Grundrechtecharta, in: Geis/Lorenz (Hrsg.), Staat – Kirche – Verwaltung, FS f. Maurer, 2001, S. 425 (429); Jarass, EU-Grundrechte, S. 309 ff.; Söbbeke-Krajewski, Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union – Ansätze eines systematischen Religionsrechts der EU unter EUVertrag, EG-Vertrag und EU-Verfassungsvertrag, 2006, S. 290 ff. 43 Vgl. dazu Sachs, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 21, Rn. 6 ff.; Odendahl, in: Heselhaus/ Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 45, Rn. 56.

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Auch die Bedeutung der EMRK wird in Art. 6 Abs. 3 EUV n. F. rechtlich verbindlich festgelegt (in ähnlicher Weise wie im bisherigen Art. 6 Abs. 2 EUV). Darüber hinaus sieht der Vertrag von Lissabon gem. Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. einen Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention vor. Der EuGH hält eine solche ausdrückliche Beitrittsermächtigung für erforderlich44. Die Garantien der EMRK sind danach für die Organe der Europäischen Union unmittelbar rechtlich verbindlich. Eine mögliche Verletzung dieser Rechte durch Legislativakte der Europäischen Union kann unmittelbar vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gerügt werden. Allerdings müsste noch der genaue Weg gefunden werden, um Rechtsprechungsdivergenzen zwischen dem EuGH und dem EGMR zum europäischen Grundrechtsschutz zu vermeiden.45 3. Insbesondere: Kirchliche Selbstbestimmung

a) Die Bedeutung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nach Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV Im Grundgesetz wird der Grundrechtsschutz der Religionsgemeinschaften nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG durch die ausdrückliche Verbürgung des Selbstbestimmungsrechts in Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV ergänzt. Danach ordnet und verwaltet jede Religionsgemeinschaft ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.46 Nach Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 7 gilt dies auch für Vereinigungen, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen. Die Garantie des Selbstbestimmungsrechts47 hat für die Rechtsstellung der Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften in Deutschland überragende Bedeutung. Sie ist nicht zu Unrecht schon früh als „lex regia“ des deutschen Staatskirchenrechts bezeichnet worden.48 Sie schützt in erster Linie den innerkirchlichen Bereich von Kultus, Sakramentsverwaltung, Seelsorge und Lehre. Eine besondere Bedeutung erfährt 44 Gutachten des EuGH 2/94, Slg. 1996, I-1759; näher Ottenberg, Schutz der Religionsfreiheit im internationalen Recht, S. 194. Auf Seiten der EMRK wurden durch das 14. Zusatzprotokoll zur EMRK die Voraussetzungen für einen Beitritt der Europäischen Union geschaffen. 45 Dazu bereits o. Fn. 20. 46 Vgl. bereits o. Fn. 4. 47 Näher dazu aus der umfangreichen Literatur: Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1241 ff.; v. Campenhausen/de Wall, Staatsrkirchenrecht, S. 99 ff.; Unruh, Religionsverfassungsrecht, 2009, Rn. 149 ff.; Jeand’Heur/Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, Rn. 171 ff.; Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., 2008, S. 167 ff.; Classen, Religionsrecht, 2006, Rn. 255 ff.; Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl., 1994, S. 521 ff.; monographisch: Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, 1996.

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Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV aber auch im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts. Das staatliche Arbeitsrecht findet zwar grundsätzlich auf die kirchlichen Arbeitsverträge Anwendung, es wird jedoch durch das Leitbild von der „kirchlichen Dienstgemeinschaft“ überlagert49. Das BVerfG gewährt den Kirchen das Recht, den kirchlichen Dienst – in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes – nach ihrem Selbstverständnis zu regeln und die spezifischen Obliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer verbindlich zu machen. Dazu zählt auch die Entscheidung darüber, ob die Loyalitätspflichten der im kirchlichen Dienst tätigen Mitarbeiter „abgestuft“ werden können bzw. sollen50. Das gilt nicht nur für die organisierten Kirchen, sondern – so das BVerfG – für alle „der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform, wenn sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück Auftrag der Kirche in dieser Welt wahrzunehmen und zu erfüllen“51. Dazu zählen beispielsweise die Caritasverbände der katholischen Kirche und die Diakonischen Werke der Evangelischen Kirche. Auch ist die Garantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts besonders bedeutsam für die Frage nach dem staatlichen Rechtsschutz in kirchlichen Angelegenheiten. So ist nach überkommener Rechtsprechung52 der Rechtsweg zu den staatlichen Gerichten nicht eröffnet für die Überprüfung von Rechtsakten, die dem innerkirchlichen Bereich zugehören53. Inzwischen zeichnet sich hier zwar eine Wende ab, wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung die Zuständigkeit staatlicher Gerichte nicht mehr ausschließt54. Doch wirkt sich das kirchliche 48 Johannes Heckel, zit. bei Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1241 f., und bei v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, S. 99; s. a. Martin Heckel, ZevKR 12 (1966/67), S. 1 (35 Fn. 7 sub 2.). 49 Korioth, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Februar 2003, Art. 140/Art. 137 WRV, Rn. 41; vgl. auch Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1250. 50 BVerfGE 70, 138 (162 ff.); näher Rüfner, Arbeitsverhältnisse im kirchlichen Dienst, in: FS der Rechtswiss. Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1988, S. 797 (803 f.). Ob dies aufgrund der Entscheidung EGMR, EuGRZ 2010, 560 (Schüth ./. Bundesrepublik Deutschland) in Zukunft anders gesehen werden muss, bedarf noch näherer Diskussion. 51 BVerfGE 46, 73 (85); dazu Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1244 f. 52 Seit BVerfGE 18, 385; vgl. ferner BVerwGE 66, 241; BAGE 51, 238; BGHZ 46, 96 (101). 53 Grundlegend Kästner, Staatliche Justizhoheit und religiöse Freiheit, 1991. 54 BVerfG, NJW 1999, 349 und 350; BGH, NJW 2000, 1555 (1556); BHGZ 154, 306 ff.; BVerwGE 116, 86 ff.; 117, 145; aus der aktuellen Literatur Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1261 ff.; Germann, Staatliche und kirchliche Gerichtsbarkeit, in: Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat, FS Listl, 2004, S. 627 ff.; Weber, Kirchlicher Rechtsschutz und staatliche Gerichtsbarkeit, ZevKR 49 (2004), S. 385 ff.; Kästner, Vergangenheit und Zukunft der Frage nach rechtsstaatlicher Judikatur in Kirchensachen, ZevKR 48 (2003), S. 301 ff.; Droege, Neues zum „Quis judicabit“ – oder: Ist das Bundesverfassungsgericht (k)ein staatliches Gericht?, ZevKR 49 (2004), S. 763 ff.

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Selbstbestimmungsrecht jedenfalls auf den Umfang der gerichtlichen Prüfungsund Entscheidungskompetenz aus: Das Selbstbestimmungsrecht begrenzt im Rahmen der Begründetheitsprüfung die staatliche Kontrolldichte55. b) Kirchliches Selbstbestimmungsrecht auf europäischer Ebene – vor Lissabon Vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon herrschte über die Frage, ob und ggf. inwieweit das kirchliche Selbstbestimmungsrecht auch auf europäischer Ebene besteht, weitreichende Unklarheit. Als primärer Anknüpfungspunkt diente Art. 9 EMRK. Die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK wurde, wie dargelegt, zunächst als rein individuelles Grundrecht natürlicher Personen verstanden56. Die Menschenrechts-Kommission war zunächst sehr zurückhaltend mit der Anerkennung eines kirchlichen Selbstbestimmungsrechts. In früheren Entscheidungen judizierte sie ausdrücklich, dass sich eine juristische Person nicht auf die Rechte aus Art. 9 EMRK berufen könne, sondern dies ihren Mitgliedern als natürliche Personen vorbehalten sei57. In späteren Entscheidungen konnten sich Religionsgemeinschaften selbst auf die Religionsfreiheit berufen, als „Repräsentantin ihrer Mitglieder“58. Wie zurückhaltend die Rechtsprechung zur EMRK in dieser Phase bei der Anerkennung eines kirchlichen Selbstbestimmungsrechts war, zeigt die Entscheidung zum kirchlichen Arbeitsrecht, in dem nach deutschem Verfassungsrecht, wie dargelegt,59 das Selbstbestimmungsrecht die rechtliche ausschlaggebende Rolle spielte. Der deutsche Arzt Rommelfanger, Angestellter in einem katholischen Krankenhaus, wurde wegen eines Leserbriefs gekündigt, in dem er die Haltung der katholischen Kirche zur Abtreibung kritisiert hatte. Seine Beschwerde vor der Europäischen Menschenrechtskommission gegen die Kündigung, die nach einem Beschluss des BVerfG60 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden war, wurde zwar zurückgewiesen61. In den Gründen wird dies aber nicht etwa auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als Ausfluss von Art. 9 EMRK gestützt und damit auf das Recht der Kirche, Arbeitsverhältnisse mit ihren Bediensteten eigenen Vorstellungen gemäß auszugestalten, sondern vorwiegend auf das Recht des kirchlichen Krankenhauses auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK62. 55 Näher Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1266 f.; v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, S. 313. 56 Söbbeke-Krajewski, Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union, S. 161. 57 EKMR, Entscheidung vom 17.12.1968, Nr. 3798/68. 58 EKMR, Entscheidung v. 5.5.1979, DR 16, 68; EKMR, Entscheidung v. 8.5.1985, NJW 1987, 1131; dazu bereits o. mit Fn. 28 f. 59 s. o. II.3.a) m. Fn. 49 ff. 60 BVerfGE 70, 138 ff. 61 EKMR, Entscheidung v. 6.9.1989, appl. no. 12242/86.

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Erst im Jahr 2000 in der Sache „Hasan und Chaush ./. Bulgarien“ erkennt der EGMR ein Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften grundsätzlich an63. Der Entscheidung lag eine Auseinandersetzung innerhalb der muslimischen Minderheit in Bulgarien über die Position des geistlichen Oberhaupts zu Grunde. Der bulgarische Ministerrat hatte aktiv und einseitig in diesen Streit eingegriffen und die Ablösung des Beschwerdeführers veranlasst. In seiner Begründung führt der EGMR aus, dass alle anderen Aspekte der Religionsfreiheit verletzbar würden, wenn das „organisational life“ einer Religionsgemeinschaft nicht von Art. 9 EMRK geschützt wäre. Ausdrücklich stellt der EGMR fest, dass die unabhängige, autonome Existenz der Religionsgemeinschaften unverzichtbar („indispensable“) für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft sei und zum Kernbereich („an issue at the very heart“) der Gewährleistung des Art. 9 EMRK zähle.64 In der Literatur wurde dieses Urteil zutreffend als „klares Bekenntnis“ des EGMR zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht als Inhalt der Religionsfreiheit gewertet65. In einer weiteren Entscheidung hat der EGMR seine Rechtsprechung bestätigt und erneut festgestellt, dass die Autonomie der Religionsgemeinschaften vom Schutz des Art. 9 EMRK umfasst ist.66 Seitdem wird die Formulierung, dass „das unabhängige Bestehen von Religionsgemeinschaften . . . Kernstück des von Art. 9 EMRK gewährten Schutzes“ sei, regelmäßig in den Entscheidungen des EGMR verwendet67. Damit durfte es – vor dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon – als geklärt gelten, dass Art. 9 EMRK ein Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften verbürgte68. Der genaue Umfang und das Schutzniveau dieses Rechts waren aber weitgehend ungeklärt69. Aus den ersten Ansätzen der Rechtsprechung des EGMR ist aber immerhin erkennbar, dass über den engen Bereich der religiösen Rituale hinaus zumindest auch die Organisationshoheit geschützt sein sollte. Mehrere Fälle der bisherigen Rechtsprechung betrafen Sachverhalte, in denen die verurteilten Staaten konventionswidrig Einfluss auf die Verteilung von Führungsämtern in den 62 Krit. Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 177. 63 EGMR, Urt. v. 26.10.2000, appl. no. 30985/96, im Internet abrufbar über die Datenbank HUDOC des EGMR unter www.echr.coe.int/hudoc.htm; Ls. in: öarr 2002, 302 m. Anm. Jochum. 64 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, appl. no. 30985/96, Rn. 62. 65 Weber, Die individuelle und kollektive Religionsfreiheit im europäischen Recht einschließlich ihres Rechtsschutzes, ZevKR 47 (2002), S. 265 (276). 66 EGMR, Urt. v. 13.12.2001, appl. no. 45701/99, Rn. 118 – „Metropolitane Kirche von Bessarabien v. Republik Moldawien“; Ls. in: öarr 2003, 156 m. Anm. Synek. 67 Z. B. in EGMR, Urt. v. 05.04.2007, NJW 2008, 495. 68 So auch Söbbeke-Krajewski, Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union – Ansätze eines systematischen Religionsrechts der EU unter EUVertrag, EG-Vertrag und EU-Verfassungsvertrag, 2006, S. 206 ff. m.w. N. 69 de Wall, ZevKR 47 (2002), 205 (213); Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, 2006, S. 382.

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Religionsgemeinschaften genommen hatten70. Neben der internen Organisationshoheit folgt aus dem Selbstbestimmungsrecht nach der Rechtsprechung des EGMR im Übrigen, dass den Religionsgemeinschaften die Möglichkeit eingeräumt wird, Rechtspersönlichkeit zu erlangen und damit am weltlichen Rechtsleben teilzunehmen71. Die Interpretation von Art. 9 EMRK durch den EGMR war ein deutliches Indiz für eine entsprechende Auslegung der Religionsfreiheit als EU-Grundrecht. Allerdings war im Europarecht von einer eigenständigen Entwicklung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts auszugehen, die den Standard des deutschen Religionsverfassungsrechts nicht annähernd erreichte. Es waren längst nicht alle Verästelungen und Details der Verbürgung aus Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV erfasst.72 Es wurde deshalb ergänzend zurückgegriffen auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. Nach Art. 6 Abs. 2 EUV a. F. (jetzt noch verstärkt in Art. 6 Abs. 3 EUV) waren bei der Auslegung unionsrechtlicher Grundrechte neben der Rechtsprechung des EGMR zu den Grundrechten aus der EMRK die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Rechtserkenntnisquelle73 zu beachten und einer wertenden Rechtsvergleichung74 zu unterziehen. Maßgebend war – und ist – dabei nach überwiegender Auffassung nicht der Minimalstandard oder der Maximalstandard75, sondern die Lösung, die den Zielen der Europäischen Union am besten entspricht76. Welche Verfassungsüberlieferungen sich im Hinblick auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nachweisen lassen, wurde in den letzten Jahren in mehreren rechtsvergleichenden Arbeiten grundlegend untersucht. Pionierarbeit hat dabei eine Studie von Albert Bleckmann aus dem Jahre 70 EGMR, Urteil vom 14.12.1999, Reports 1999-IX (Serif ./. Griechenland); EGMR, Urt. v. 17.10.2002 (Agga ./. Griechenland), appl. no. 50776/99. 71 EGMR, Urt. vom 13.12.2001, Reports 2001-XII; näher dazu Söbbeke-Krajewski, Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union, S. 222. 72 Weber, Die individuelle und kollektive Religionsfreiheit im europäischen Recht einschließlich ihres Rechtsschutzes, ZevKR 47 (2002), S. 265 (276); ebenso Walter, Religionsverfassungsrecht in vergleichender und internationaler Perspektive, 2006, S. 383 im Hinblick auf das kirchliche Arbeitsrecht. 73 Jarass, EU-Grundrechte, 2005, S. 25. 74 Grundlegend dazu Zweigert, Der Einfluss des europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, RabelsZ 28 (1964), S. 601 (610). 75 So allerdings im Hinblick auf die Religionsfreiheit Robbers, Europarecht und die Kirchen, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1994, S. 315 (320). 76 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EUV, Rn. 14 ff.; Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Art. 6 EUV, Rn. 52; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, At. 6 EUV Rn. 39; speziell für die Religionsfreiheit Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 70, 440; Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 158 f.; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 430 m. Fn. 206.

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1995 geleistet77. Darin weist Bleckmann für zahlreiche Länder nach, dass ihre Verfassungen das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen garantieren. Dies geschieht auf verschiedene Weise und nur zum Teil durch eine ausdrückliche Gewährleistung. Ein Beispiel dafür ist Art. 8 der Verfassung der Republik Italien, in dem festgelegt wird, dass „die von der katholischen Konfession abweichenden Bekenntnisse . . . das Recht [haben], sich nach ihren eigenen Statuten zu organisieren, soweit diese nicht im Widerspruch zur italienischen Rechtsordnung stehen.“ Für die katholische Kirche ist ergänzend auf Art. 7 der italienischen Verfassung hinzuweisen, wonach „der Staat und die katholische Kirche . . ., jeder im eigenen Bereich, unabhängig und souverän“ sind und ihre Beziehungen in den Lateranverträgen geregelt sind. In Portugal garantiert Art. 41 Abs. 3 der Verfassung von 1976, dass die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften „in ihrer Organisation sowie in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben“ frei sind. In Österreich gewährt Art. 15 des Staatsgrundgesetzes von 1867, das gem. Art. 149 Abs. 1 Nr. 1 Bundesverfassungs-Gesetz der Republik Österreich weiterhin gilt, jeder gesetzlich anerkannten Kirche und Religionsgesellschaft das Recht, ihre inneren Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten. Daneben ist auf die Rechtslage in Irland hinzuweisen. Nach Art. 44 Abs. 2 Nr. 5 der Verfassung der Republik Irland von 1937 hat „jede religiöse Konfession . . . das Recht, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln sowie das Recht auf den Besitz, den Erwerb und die Verwaltung beweglichen wie auch unbeweglichen Eigentums“. Diese Ergebnisse werden ergänzt und bestätigt durch neuere Untersuchungen. In einer Arbeit aus dem Jahre 2005 wird anhand eingehender Prüfung der staatskirchenrechtlichen Systeme für die Länder England, Frankreich und Spanien nachgewiesen, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht Teil der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen dieser Mitgliedstaaten ist78. In Spanien wird die in Art. 16 der Verfassung von 1978 gewährleistete Religionsfreiheit näher konkretisiert durch ein „Organgesetz über die Religionsfreiheit“79. Es gewährt den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften in Art. 6 eine umfassende Autonomie, aufgrund der sie eigene Rechtsvorschriften im Hinblick auf ihre Organisation, innere Ordnung und den Status ihres Personals erlassen können80. Die Auswahl dieser drei Länder ist insofern bedeutsam, als die Religionsverfassung jeweils eines Staates mit einem Staatskirchensystem, einem Trennungssystem und einem Kooperationssystem analysiert worden ist. Für Frankreich lässt sich zeigen, dass sich die verfassungsrechtliche Ausgangssituation zwar von derjeni77 Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, 1995. 78 Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 2005, S. 384 f. 79 Ley Orgánica de Libertad Religiosa vom 5. Juli 1980 (LOLR), näher dazu Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, S. 316; vgl. auch Weinberger, Königreich Spanien, in: Rees (Hrsg.), Katholische Kirche im neuen Europa, 2006, S. 326. 80 Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, S. 341.

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gen in Deutschland deutlich unterscheidet, da dort das in Art. 1 Abs. 1 der französischen Verfassung von 1958 verankerte Prinzip der Laizität den Schlüsselbegriff des staatskirchenrechtlichen Systems bildet81. Dennoch ergeben sich beim Rechtsvergleich anhand konkreter Problemstellungen überraschende Übereinstimmungen im rechtlichen Ergebnis. So ist auch in Frankreich das jeweilige Innenrecht der Kirchen vor staatlichen Eingriffen in der Weise geschützt, dass der Regelungsanspruch des Staates hier eine Grenze findet.82 Zudem bestehen auch in Frankreich Regelungen, die die besonderen Loyalitätsanforderungen an Arbeitnehmer in Einrichtungen schützen, welche von Religionsgemeinschaften getragen werden83. Die Anerkennung eines kirchlichen Selbstbestimmungsrechts lässt sich nicht nur für die älteren EU-Staaten, sondern auch für Verfassungen der mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten nachweisen. Die Verfassung der Republik Litauen aus dem Jahre 1992 enthält in Art. 43 eine Regelung, der zufolge sich die Kirchen und religiösen Organisationen gemäß ihren Statuten frei verwalten84. Art. 25 Abs. 3 der polnischen Verfassung von 1997 verbürgt zugunsten der Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften im Hinblick auf die Beziehungen zum Staat das Prinzip der „Achtung ihres Selbstbestimmungsrechts sowie gegenseitiger Unabhängigkeit eines jeden in seinem Gebiet“. In der Verfassung der Slowakei von 1992 wird in Art. 24 neben der Garantie individueller und kollektiver Religionsfreiheit auch festgelegt, dass „die Kirchen und Religionsgemeinschaften . . . ihre Angelegenheiten selbst [verwalten]“. Besonders erwähnt wird dabei, dass sie ihre Organe einrichten, ihre Geistlichen bestellen, den Religionsunterricht gewährleisten und Ordens- sowie andere kirchliche Institutionen unabhängig von staatlichen Organen errichten85. Eine ähnliche Formulierung gilt für Tschechien, wo sich die Grundrechte gem. Art. 3 der Verfassung der Tschechischen Republik von 1992 aus der „Charta der Grundrechte und -freiheiten“ ergeben. Nach Art. 16 Abs. 2 dieser Charta verwalten die Kirchen und religiösen Gesellschaften ihre Angelegenheiten, konstituieren ihre Organe, ernennen ihre 81 Wick, Die Trennung von Staat und Kirche – Jüngere Entwicklungen in Frankreich im Vergleich zum deutschen Kooperationsmodell, 2007, S. 39; Franzke, Die Laizität als staatskirchenrechtliches Leitprinzip Frankreichs, DÖV 2004, 383 ff.; Heun, Die Religionsfreiheit in Frankreich, ZevKR 49 (2004), S. 273 (283). 82 Wick, Die Trennung von Staat und Kirche, S.154. 83 Walter, Religionsverfassungsrecht, S. 428, der zugleich darauf hinweist, dass die Kontrolle der französischen Gerichte in diesem Punkt strenger ist als diejenige der deutschen Gerichte. 84 Übersetzungen nach der englischen Textfassung in „Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten“ mit einer Einführung von Adolf Kimmel und Christiane Kimmel, 6. Aufl., 2005. 85 Näher dazu Schanda, Staatskirchenrecht in den neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat, FS f. Listl 2004, S. 797 (801); ders., Staat und Kirche in den Beitrittsländern zur Europäischen Union, KuR 2003, S. 117 ff.

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Geistlichen und gründen Orden und andere kirchliche Einrichtungen unabhängig von den staatlichen Organen. Der Überblick zeigt, dass die Achtung des religiösen Selbstbestimmungsrechts keine deutsche Besonderheit ist, sondern in vielfältiger Form in den Verfassungen anderer Mitgliedstaaten angelegt ist. Ein dritter Argumentationsstrang zur Begründung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Gemeinschaftsrecht ergab sich aus der sog. Amsterdamer Kirchenerklärung. In der Schlussakte des Vertrages von Amsterdam aus dem Jahre 1996 sind zahlreiche Erklärungen enthalten. Die 11. Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften lautet: „Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise.“

Die Erklärung, für die sich schnell der Begriff „Kirchenerklärung“ einbürgerte, ist nicht Bestandteil des europäischen Primärrechts geworden, auch nicht als Protokoll i. S. v. Art. 311 EGV.86 Über den genauen rechtlichen Stellenwert einer solchen „Erklärung“ bestand durchaus keine Klarheit87. Sie stellte aber jedenfalls eine offizielle Willensbekundung der EU-Mitgliedstaaten dar, also Soft Law, das nach ganz überwiegender Auffassung bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts im religiösen Bereich zumindest als Interpretationshilfe verwendet werden konnte.88 Da – wie zu zeigen sein wird – der Reformvertrag von Lissabon die „Kirchenerklärung“ ins Primärrecht überführt hat und ihr damit rechtliche Verbindlichkeit zukommen lässt, lohnt sich gleichwohl ein näherer Blick auf die Amsterdamer Erklärung. Schon nach ihrem Wortlaut ist sie vorwiegend abwehrend ausgerichtet und gewährleistet den sehr unterschiedlichen Status, den die Kirchen und religiösen Vereinigungen in den einzelnen Mitgliedstaaten genießen. Das bedeutete etwa für die Religionsgemeinschaften, die nach Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV in Deutschland Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, dass dieser Status als solcher unangetastet bleibt. Damit wurde zugleich die Vielfalt der Mo86 Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 284 (287); vgl. auch Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1395 f. m.w. N. 87 Näher dazu, auch zur Anwendbarkeit der völkerrechtlichen Auslegungsregeln gem. Art. 31 ff. Wiener Vertragsrechtskonvention Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 284 (288 ff.). 88 Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1395 f.; Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrecht, EuR 2000, 261 (265); Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 284 (290); Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, 2003, S. 418 m.w. N.; zu Soft Law im Völkerrecht Kimminich/Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 7. Aufl., 2000, S. 193 f.

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delle von Beziehungen zwischen Staat und Kirche bzw. Religion garantiert, die – historisch je unterschiedlich gewachsen – in den Mitgliedstaaten besteht.89 Auch ein System, das eine Staatskirche kennt, war damit als solches nicht europarechtswidrig90. Die Amsterdamer Kirchenerklärung brachte den Willen der Mitgliedstaaten zum Ausdruck, dass die Union die grundsätzliche Regelung des Staat-Kirche-Verhältnisses den Mitgliedstaaten überlässt91, zu deren umfassender Regelung sie schon mangels Kompetenzzuweisung nicht berechtigt war92. Wie weit der sich aus der Amsterdamer Kirchenerklärung ergebende Schutz des „Status“ der Kirchen reichte, blieb unklar. Es ließen sich zwei Grenzen aufzeigen, die den Umfang des Beeinträchtigungsverbotes absteckten. So entsprach es auf der einen Seite nicht dem Zweck der Amsterdamer Kirchenerklärung, sämtliche einzelstaatlichen, einfachrechtlichen Regelungen, aus denen Religionsgemeinschaften berechtigt sein können, umfassend vor Einwirkungen durch europäisches Recht zu schützen.93 Eine generelle Bereichsausnahme für das Religionsverfassungsrecht, das damit vollständig der Anwendung und dem Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts entzogen wäre, war mit dem System und der Logik des Gemeinschaftsrechts nicht zu vereinbaren.94 Das bedeutet, dass die europäischen Rechtsakte nicht bei jeder Einzelfrage die Besonderheiten der religionsrechtlichen Regelungen sämtlicher Mitgliedstaaten berücksichtigen95 und nicht jede konkrete Ausprägung des jeweiligen Staatskirchenrechts im Detail unangetastet lassen mussten.96 Es konnte z. B. nicht davon ausgegangen werden, dass mit der Amsterdamer Kirchenerklärung sämtliche Berechtigungen, die im deutschen Recht mit dem Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts nach Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV verbunden sind, einschließlich des sog. Privilegienbündels97 auf alle Zeit europarechtlichen Einwirkungen entzogen sind – das gilt im Übrigen auch, seitdem die Kirchenerklärung rechtlich verbindlich geworden ist (Art. 17 Abs. 1 AEUV). Europarechtliche Vorschriften wirken sich 89

Häberle, Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl., 2008, S. 524. Zur Vereinbarkeit staatskirchlicher Strukturen mit Art. 9 EMRK Weber, Religionsfreiheit im nationalen und internationalen Verständnis, ZevKR 45 (2000), 109 (150); Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, S. 154. 91 Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 521. 92 de Wall, ZevKR 47 (2002), S. 205 (206); Mückl, Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Europarecht, 2002, S. 22. 93 Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrecht, EuR 2000, 261 (266). 94 Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, S. 412; Walter, Religionsverfassungsrecht, S. 404. 95 Heinig, Die Religion, die Kirchen und die europäische Grundrechtscharta – Anmerkungen zu einer Etappe im europäischen Verfassungsprozess, ZevKR 46 (2001), S. 440 (451). 96 Leinemann, Das Religionsrecht in Europa – Der Beitrag und die Stellung der christlichen Kirchen, in: Kreß (Hrsg.), Religionsfreiheit als Leitbild – Staatskirchenrecht in Deutschland und Europa im Prozess der Reform, 2004, S. 185 (196). 90

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vielmehr seit Langem in vielfältiger Weise auf die rechtliche Stellung der Kirchen aus.98 Auf der anderen Seite nähme eine Auslegung der Kirchenerklärung ihren Sinn, die unter dem Begriff „Status“ allein den Rechtsstatus, verstanden in einem engen, organisationsrechtlichen Sinne geschützt sähe.99 Dass europarechtliche Regelungen keinen Einfluss auf die rechtlich-institutionelle Struktur einer Religionsgemeinschaft haben können, ergibt sich bereits aus der fehlenden Kompetenz der Union für Regelungen, die unmittelbar in das Staatskirchenrecht der Mitgliedstaaten eingreifen.100 Das bedeutet z. B., dass die christlichen Kirchen nicht auf europarechtlicher Grundlage ihren Rechtsstatus als Körperschaft des öffentlichen Rechts gem. Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV verlieren. Gerade der Blick auf solche, schon kompetenziell vorgezeichnete Grenzen für europäische Rechtsakte macht deutlich, dass der Sinn der Amsterdamer Kirchenerklärung darin bestand, die Religionsgemeinschaften vor den Auswirkungen kompetenzgerecht erlassener Richtlinien und Verordnungen zu schützen. Über diese wesentlichen, aber groben Leitlinien hinaus ist fraglich geblieben, wie weit der Schutz der Religionsgemeinschaften durch die Amsterdamer Kirchenerklärung reichte. Dabei wird eine religionsrechtliche Rechtsvorschrift umso eher von dem Beeinträchtigungsverbot der Erklärung umfasst gewesen sein, je stärker die nationalstaatliche Regelung Ausdruck des grundsätzlichen Systems des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in dem jeweiligen Mitgliedstaat war. Grundsätzlich war einer weiten Auslegung der Kirchenerklärung der Vorzug zu geben.101 Dafür sprach insbesondere der Wortlaut der Erklärung. Der Begriff „achten“ ist zwar noch zurückhaltend gewählt. „Geachtet“ wäre der Status selbst dann, wenn der europäische Gesetzgeber die besonderen Interessen der Religionsgemeinschaften nur in eine Abwägung zwischen verschiedenen Zielen und 97 Dazu Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1284 ff.; v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, S. 267 f.; Korioth, in: Maunz/Dürig, GG, Kommentar, Stand: Februar 2003, Art. 140 GG/Art. 137 WRV, Rn. 92, jeweils m.w. N. 98 Einen Überblick über die Auswirkungen im Einzelnen vermitteln etwa Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1396 ff.; de Wall, ZevKR 47 (2002), S. 205 (208 ff.); Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, 2000, 61 ff., 301 ff.; Streinz, Essener Gespräche 31 (1997), S. 53 ff.; insbes. zur Finanzierung der Kirchen Rüfner, Staatskirchenrechtliche Überlegungen zu Status und Finanzierung der Kirchen im vereinten Europa, in: Ipsen/Rengeling/Mössner/Weber, Verfassungsrecht im Wandel, 1995, S. 485 ff. 99 Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 284 (294); Walter, Religionsverfassungsrecht, S. 418. 100 Söbbeke-Krajewski, Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union, S. 271, 273. 101 Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 284 (294); anders Walter, Religionsverfassungsrecht, S. 418, mit Blick auf die entsprechende Vorschrift des gescheiterten Verfassungsvertrags.

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Interessen einstellen würde.102 Die Formulierung „nicht beeinträchtigen“ geht jedoch darüber hinaus. Diese Wortwahl legt nahe, dass in den geschützten Status grundsätzlich nicht eingegriffen und die geschützte Rechtstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften nicht verschlechtert werden darf. Konkret folgte damit aus der Amsterdamer Erklärung die Pflicht der Europäischen Union, ihre Rechtsakte so zu gestalten, dass eine Beeinträchtigung der Statusrechte der Religionsgemeinschaften vermieden wurde. Diese Verpflichtung konnte etwa durch Ausnahmeregelungen erfüllt werden, die religiöse Besonderheiten berücksichtigen und die Auswirkungen der Vorschriften auf diese vermindern. Zu dem Status der Religionsgemeinschaften, der von der Amsterdamer Kirchenerklärung geschützt wurde, gehörte nach deutschem Recht das kirchliche Selbstbestimmungsrecht nach Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV. Dieser Vorschrift entstammen Aussagen über das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland; sie war damit in ihrer grundlegenden Funktion vom Achtungsgebot und Beeinträchtigungsverbot der Amsterdamer Kirchenerklärung umfasst. Insgesamt ließ sich also schon vor Lissabon – mit erheblichem Begründungsaufwand – ein Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften im Europarecht nachweisen. Es bestand aber keine Rechtsgrundlage, die hinreichend eindeutig war, um einen dem deutschen Rechtszustand nach Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 III WRV vergleichbare Rechtssicherheit annehmen zu können. c) Kirchliches Selbstbestimmungsrecht auf europäischer Ebene nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Die Amsterdamer Kirchenerklärung ist in Art. 17 Abs. 1 und 2 AEUV übernommen worden. Dadurch hat diese für die Sicherung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts wesentliche Bestimmung in rechtlicher Hinsicht eine deutliche Aufwertung erfahren.103 Aus dem bisherigen soft law ist vollgültiges, rechtlich verbindliches Primärrecht geworden. Damit ist erstmals der besondere Status der Kirchen und religiösen Vereinigungen unmittelbar im Vertragsrecht verankert. Art. 17 AEUV wird in Zukunft einen Dreh- und Angelpunkt104 des europäischen Religionsrechts bilden. Nach Abs. 2 dieser Norm achtet die Union in gleicher Weise den Status, den weltanschauliche Gemeinschaften nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften 102 Ähnlich Söbbeke-Krajewski, Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union, S. 272. 103 Vgl. Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1396; de Wall, Zur aktuellen Lage des Religionsrechts der Europäischen Union, ZevKR 52 (2007), S. 310 (312) im Hinblick auf die vergleichbare Regelung im Entwurf des Verfassungsvertrags. 104 So die Einschätzung im Hinblick auf die vergleichbare Vorschrift des Art. I-52 EUVerfV von Robbers, Der Dialog zwischen der Europäischen Union und den Kirchen, in: Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat, FS f. Listl, 2004, S. 753.

Religionsfreiheit im Europarecht nach dem Vertrag von Lissabon

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genießen. Damit sind die weltanschaulichen Gemeinschaften105 ebenso wie im deutschen Verfassungsrecht nach Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 7 WRV den Religionsgemeinschaften grundsätzlich gleichgestellt. Durch den in der Diskussion um den Europäischen Verfassungsvertrag bereits so genannten „Kirchenartikel“106 in Art. 17 AEUV reagiert das europäische Primärrecht erstmals ausdrücklich auf den Umstand, dass in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ganz verschiedene Systeme des Verhältnisses von Staat und Kirche vorherrschen,107 die ihrerseits fest in den historischen und kulturellen Grundlagen der Verfassungen verankert sind und damit einen Teil der nationalen Identität der Staaten bilden sowie Ausdruck ihrer kulturellen Vielfalt108 sind. Die äußeren Pole bilden dabei Länder mit Staatskirchen wie England auf der einen und Länder mit verfassungsrechtlich verankerter Laizität109 wie in Frankreich auf der anderen Seite. Diese Bandbreite von unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben über das Verhältnis von Staat und Kirche verbietet es, die jeweiligen Regelungen der Mitgliedstaaten als Teil gemeineuropäischen Verfassungsrechts zu interpretieren und als Standard für ein europäisches Staatskirchenrecht anzusehen.110 Das gilt ungeachtet der insbesondere von Robbers entwickelten sog. Konvergenz-These, wonach sich die äußeren Pole durch eine Entstaatlichung der Staatskirchen und eine zunehmende Kooperationsbereitschaft in Trennungssystemen allmählich annähern.111 Die Berechtigung dieser These lässt sich beispielhaft damit belegen, dass die im Ansatz deutlich unterschiedlichen Systeme in Deutschland und Frankreich bei der Lösung rechtlicher Probleme, die sich aus der wachsenden Präsenz des Islam ergeben, in vielen Fällen zu vergleichbaren Ergebnissen gelangen.112

105 Dazu jetzt die umfassende Untersuchung von Mertesdorf, Weltanschauungsgemeinschaften. Eine verfassungsrechtliche Betrachtung mit Darstellung einzelner Gemeinschaften, 2008, die sich freilich auf das nationale Verfassungsrecht beschränkt. 106 Vgl. etwa Triebel, ZevKR 49 (2004), S. 644 (645). 107 Überblick bei Heintzen, Die Kirchen im Recht der Europäischen Union, in: Isensee/Rees/Rüfner (Hrsg.), Dem Staate, was des Staates – der Kirche, was der Kirche ist, FS f. Listl, 1999, S. 29 (40 ff.); Sahlfeld, Aspekte der Religionsfreiheit im Lichte der Rechtsprechung der EMRK-Organe, des UNO-Menschenrechtsausschusses und nationaler Gerichte, 2004, S. 11 ff.; ausführliche Länderberichte bei Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, 1995. 108 Goerlich, NJW 2001, 2862. 109 Wick, Die Trennung von Staat und Kirche, S. 38 ff.; Robbers, VVDStRL 59 (2000), S. 232 (238); Franzke, Frankreich, seine Laizität und Europa, ZRP 2003, 357 ff.; ders., Die Laizität als staatskirchenrechtliches Leitprinzip Frankreichs, DÖV 2004, 383 ff. 110 Grzeszick, ZevKR 48 (2003), 284 (293). 111 Robbers, ZevKR 42 (1997), S. 122 (127). 112 Wick, Die Trennung von Staat und Kirche, S. 155 ff., 203 am Beispiel des Moscheenbaus und des Schächtens.

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Art. 17 Abs. 3 AEUV bringt eine wichtige Ergänzung der früheren Kirchenerklärung mit der Bestimmung: „Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“

Dieser Absatz geht über den Inhalt der Amsterdamer Erklärung hinaus und stellt eine eigenständige Neuregelung dar, die bereits im gescheiterten Vertrag über eine Verfassung für Europa vorgesehen war. Es wird zwar zu Recht kritisch bemerkt, dass sprachlich unklar bleibt, worin genau „besondere Beitrag“ der Kirchen besteht.113 Bedeutsam erscheint aber, dass die Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften primärrechtlich wahrgenommen werden. Insofern ist zu Recht von einem „Durchbruch für die Kirchen“ 114 gesprochen worden. Eine Union, die sich immer mehr von ihren ursprünglichen Wurzeln einer auf die Herstellung eines Binnenmarktes ausgerichteten Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer politischen Union fortentwickelt, muss Kirchen und Religionsgemeinschaften auch in anderen Dimensionen und Funktionen wahrnehmen denn als Verpächterin von der Milcherzeugung dienenden landwirtschaftlichen Grundstücken115 oder Schuldnerin von für die Eigenkapitalausstattung der Kreditinstitute relevanten Forderungen116. Die Regelung in Art. 17 Abs. 3 AEUV erfüllt ein kirchliches Anliegen. Danach entspricht die Einordnung der Kirchen als bloßer Teil der Zivilgesellschaft nicht ihrem eigenen Selbstverständnis und erfasst sie nicht ausreichend in ihren Besonderheiten.117 Hintergrund dessen ist die Regelung in Art. 11 Abs. 2 EUV n. F., wonach die Organe der Union einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft pflegen. Durch Art. 17 Abs. 3 EUV n. F. sehen sich die Kirchen in ihrer spezifisch religiösen, über ihre gesellschaftliche Bedeutung hinausweisenden Funktion anerkannt. Die Religionsgemeinschaften unterscheiden sich 113 Triebel, Der Kirchenartikel im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, ZevKR 49 (2004), S. 644 (649). 114 Schnabel, Die Stellung der Kirchen im Verfassungsvertrag der EU, KuR 2003, 155. 115 Vgl. den Sachverhalt zum Urteil des EuGH, Slg. 1997, S. I-2555 ff.; Rs. C-463/ 93. 116 Vgl. die Richtlinie 98/33/EG, Art. 2 Abs. 1b; dazu Vachek, Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, S. 82. 117 Dazu Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1396; Heinig, Das Religionsverfassungsrecht im Konventsentwurf für einen „Vertrag über eine Verfassung für Europa“, in: Kreß (Hrsg.), Religionsfreiheit als Leitbild. Staatskirchenrecht in Deutschland und Europa im Prozess der Reform, 2004, S. 169 (183), der diese Sorge als „in der Sache wohl unbegründet“ bezeichnet; Triebel, ZevKR 49 (2004), S. 644 (649) mit Verweis auf eine gemeinsame Stellungnahme der EKD und der DBK.

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von gesellschaftlichen Interessenverbänden auch dadurch, dass sie nicht lediglich ein partikulares Interesse vertreten, sondern die Religion – nicht nur die christliche – alle Lebensbereiche betrifft.118 Die Kirchen sehen sich nach ihrem Selbstverständnis mit der Sorge um das Gemeinwohl betraut, mit einem Öffentlichkeitsauftrag119 ausgestattet und in besonderer Weise zur Pflege der ethischen Grundlagen der Gesellschaft120 berufen. Durch ihre karitativen Aktivitäten und ihr Engagement im Schulwesen121 entlasten sie den Staat. Sie leisten ihren Beitrag dazu, „Europa eine Seele“ (Jacques Delors) zu geben.122

118 Robbers, Der Dialog zwischen der Europäischen Union und den Kirchen, in: Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat, FS f. Listl, 2004, S. 753 (756 f.). 119 Stern, Staatsrecht Bd. IV/2, S. 1007 f., 1295 f.; Schlaich, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: Listl/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, 2. Aufl., 1995, Bd. II, § 44; Klostermann, Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen – Rechtsgrundlagen im kirchlichen und staatlichen Recht, 2000. 120 Depenheuer, Wahrheit oder Frieden?, Essener Gespräche 33 (1999), S. 5 (24, 44); Tillmanns, Wehrhaftigkeit durch Werthaftigkeit, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, 2003, S. 25 (50). 121 Baldus, Bildungs- und Erziehungsauftrag der Kirche und des Staates, in: Rees (Hrsg.), Recht in Kirche und Staat, FS f. Listl 2004, S. 573 (577 ff.); ders., Katholische Freie Schulen im Kontext der europäischen Rechtsangleichung, in: Muckel (Hrsg.), Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat, FS f. Rüfner, 2003, S. 33 ff. 122 Winter, Das Verhältnis von Staat und Kirche als Ausdruck der kulturellen Identität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in: Bohnert/Gramm/Kindhäuser/Lege/ Rinken/Robbers (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche, FS f. Hollerbach, 2001, S. 893 (905).

Die EU-Verfassungsbeschwerde – Hebel und Falle eines „Gouvernement de juges“ Von Thomas Oppermann1 „Die ich rief, die Geister, Werd ich nun nicht los“ (Goethe – Der Zauberlehrling)

An einer zweiten Festschrift Klaus Stern mitzuwirken, ist Ansporn und Freude zugleich. Würde die doppelte akademische Ehrung anderwärts übermäßig wirken, erscheint sie in diesem Falle höchst angemessen. Klaus Stern nimmt für das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten einen Rang ein, wie er etwa Paul Laband im wilhelminischen Kaiserreich nach 1871 oder Georg Anschütz unter der Weimarer Verfassung gebührte.2 Das heutige deutsche Staatsund Verfassungsrecht ist reich an Gesamtdarstellungen wie das von Josef Isensee und Paul Kirchhof herausgegebene monumentale Handbuch des Staatrechts oder das parallele Unternehmen des Handbuchs des Verfassungsrechts unter der Obhut von Ernst Benda, Werner Maihofer und Hans Jochen Vogel.3 Gleichwohl stehen die fünf (eigentlich sieben) Bände des eben erst Ende 2010 nach über drei Jahrzehnten vollendeten Sternschen Staatsrechts als Werk eines einzigen Hauptautors mit wenigen Mitstreitern für sich und wirken in besonderer Weise repräsentativ für die Grundordnung der Bonner und dann Berliner Republik.4 In gewisser Weise hinkt die Parallele zu Laband und Anschütz. Während Beide ihrer Zeit gemäß das Staatsrecht erst in die Qualität einer den klassischen Rechtsgebieten dogmatisch gleichrangigen Disziplin erhoben, gewinnt Stern heutigem Verständnis gemäß die Auslegung der Verfassung und ihres umgrenzenden Rechts unter stetigem Rückgriff auf das politisch-soziale Umfeld Deutschlands seit 1949. In diesen Zusammenhang gehört an vorderer Stelle das Bekenntnis des 1 Professor (em.) Dr. iur. Dres h.c. Thomas Oppermann, Tübingen, ehem. Mitglied des Staatsgerichtshofes für das Land Baden-Württemberg – Stand des Beitrags: April 2011. 2 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs, 5. Aufl., 1911–1914; Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933. 3 Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 10 Bde., 1.–3. Aufl., 1987– 2006; Benda/Maihofer/Vogel, Handbuch des Verfassungsrechts, 2 Bde., 2. Aufl., 1995. 4 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 5 Bde. (mit zwei Teilbänden 7), 1977–2011.

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Grundgesetzes zum vereinten Europa und dem europäischen Vereinigungsprozeß, wie er sich in der Entwicklung der Europäischen Union abzeichnet (Präambel, Art. 23 GG). Von dieser „Europarechtsfreundlichkeit“ ist das Werk Sterns immer wieder durchdrungen.5 Es mag daher Klaus Stern interessieren, an dieser Stelle den Blick auf eine kühne Ausweitung der Verfassungsbeschwerde durch das Bundesverfassungsgericht seit seinem Maastricht-Urteil 1993 zu werfen, mit deren Hilfe sich das Gericht zum prominenten Akteur im deutschen europapolitischen Diskurs kürte. I. Art. 38 GG – Schutzschild der Bundestagswahl oder der Demokratie? Das Bundesverfassungsgericht hat sich von Anfang an mit der europäischen Integration schwer getan. Der zunehmende Aufbau vorrangigen Gemeinschafts(Unions)rechts stand mit dem Auftrag des Gerichts als Hüter des Grundgesetzes öfters in Spannungsverhältnis. So pendelte die Karlsruher Rechtsprechung seit den sechziger Jahren mehrere Male zwischen Integrationsskepsis und einem Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der EG/EU.6 Der für den Charakter des EWGV verständnisvollen Ablehnung einer Verfassungsbeschwerde gegen EWG-Verordnungen 1967 folgte 1974 und 1979 das „Wechelbad“ der „Solange“ I und II-Beschlüsse, mit denen nach anfänglichem Zögern der Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene dem deutschen als „im Wesentlichen gleich“ erachtet wurde.7 1982 unterschied das Gericht im „Eurocontrol“-Beschluß die deutsche, an das GG gebundene öffentliche Gewalt im Sinne von Art. 19 Abs. 4 GG strikt von einer externen, durch völkerrechtlichen Vertrag geschaffenen, die von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschieden sei.8 Hiervon löste sich Karlsruhe erneut im Aufsehen erregenden „Maastricht-Urteil des Jahres 1993, mit dem das Gericht sich erstmals entschlossen zu einer umfassenden verfassungsrechtlichen Kontrolle des EU-Einigungsprozesses bekannte.9 Zum „Türöffner“ dieses Anspruches wurde die Zulassung von Verfassungsbeschwerden über eine Neuinterpretation des Wahlrechtes zum Bundestag gemäß Art. 38 GG, das nach Art. 90 Abs. 1 BVerfGG als verfassungsbeschwerdefähiges Recht anerkannt ist. War Art. 38 GG bis dahin als das Recht verstan5 Schon Stern (Fn. 4), Bd. I (1977), 381 (Die supranationale Option des Grundgesetzes) oder Bd. V (2000), 2159 („. . . ein sich immer enger zusammenschließendes Europa, das allein Mittelmächte wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien in das Konzert der ,Großen‘ zu erheben vermag“). 6 Die Entwicklung der europabezogenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei Broß, VerwArch 2001, 425 ff. oder Nicolaysen/Novak, NJW 2001, 1233 ff. 7 BVerfGE 22, 293; E 37, 271; E 73, 339. 8 BVerfGE 58, 1. 9 BVerfGE 89, 155.

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den worden, welches dem einzelnen Staatsbürger die Teilnahme an einer ordnungsgemäß (d.h. gemäß den dort genannten Grundsätzen) abgehaltenen Bundestagswahl garantierte,10 erfolgte im „Maastricht-Urteil“ über den Wortlaut der Norm hinausgehend eine Art „materielle Aufladung“ des Art. 38. Ihr Kern war die sog. „Entleerungsthese“. Art. 38 GG enthält hiernach nicht nur das Wahlrecht zum Bundestag, sondern verfügt über einen „demokratischen Gehalt“, der durch die Übertragung von Zuständigkeiten des Bundestages auf supranationale Organisationen nicht so weit „entleert“ werden darf, dass das unantastbare demokratische Prinzip (Art. 79 Abs. 3 i.V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) verletzt wird.11 Jeder zur Bundestagswahl berechtigte Bürger kann eine solche Verletzung mit der Verfassungsbeschwerde rügen. Mit Recht ist von einer „Entgrenzung“ des Art. 38 GG gesprochen worden (Christoph Schönberger). Diese „EU-Verfassungsbeschwerde“ bedeutete faktisch eine immense Ausweitung der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts bei Friktionen zwischen EURecht und deutschem Verfassungsrecht. An sich ist eine solche Kontrolle fraglos über den Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Ziff. 1 GG) oder die abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Ziff. 2 GG) möglich. Jedoch fehlt es in der Praxis zumeist an den dortigen qualifizierten Antragstellern wie z. B. eines Drittels der Mitglieder des Bundestages oder einer Fraktion.12 Dies hängt mit dem weitgehenden überparteilichen Konsens in Fragen der Europapolitik zusammen. „Euroskeptische“ Verfassungsbeschwerdeführer lassen sich dagegen seit den neunziger Jahren bei bedeutsamen EU-Entscheidungen des Bundestages jederzeit finden. Während sich das Maastricht-Urteil beim rügefähigen Inhalt des Art. 38 GG noch auf das Demokratieprinzip beschränkte, ging das Gericht 2009 im Lissabonvertragsverfahren weiter. Das BVerfG entnimmt Art. 38 i.V. m. Art. 146 GG nunmehr zusätzlich ein „Individualrecht auf Staatlichkeit“ (Martin Nettesheim) d.h. prüfen zu lassen, ob die Bundesrepublik sich durch Zustimmung zu europäischem Recht aus einem souveränen EU-Mitgliedstaat in den Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates verwandelt hätte. Ferner wird die Verletzung des Sozialstaatsprinzips mittels auf Art. 38 GG gestützter Verfassungsbeschwerde rügefähig.13

10 Art. 41 Abs. 2 GG, § 13 Ziff. 2 BVerfGG und daneben in bestimmten Fällen Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde. Statt Vieler: Benda, in: ders./Klein, Lehrbuch des Verfassungsprozessrechts, 1991, S. 129 ff. – Jüngst Schönberger, JZ 2010, 1160. 11 BVerfGE 89, 155 (172). 12 Im Verfahren über den Lissabon-Vertrag (BVerfGE 123, 267) hatte neben Einzelpersonen die Fraktion DIE LINKE Anträge gestellt. 13 BVerfGE 123, 267 (331 f.). In der Literatur möchte Dietrich Murswiek (Prozessvertreter im Lissabon-Verfahren) den „materialisierten“ Art. 38 GG über Fragen der europäischen Integration hinaus noch weiter im Sinne eines „Rechtes auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns“ verstanden wissen (JZ 2010, 702). Hierauf wird an dieser Stelle nicht eingegangen.

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Die nur als rechtsfortbildendes Richterrecht verständliche Ausdehnung nach Art. 38 GG rügefähiger Verfassungsbeschwerden hat gewichtige Kritik erfahren. Sie zielt im Kern vor allem auf die den gerichtlichen Auftrag überschreitende Einmischung Karlsruhes in die deutsche Europapolitik.14 Diese Argumente werden hier nicht noch einmal ausgetauscht. Die Maastricht/Lissaboner Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht zur Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden ist ein Faktum, dessen grundsätzliche Revision nicht zu erwarten ist, zumal der Inhalt der beiden Entscheidungen in der politischen Öffentlichkeit auf viel positive Resonanz gestoßen ist.15 Die Frage bleibt freilich, welche europäischen Fragen Karlsruhe den künftigen Gauweilers, Lafontaines oder Starbattys sinnvoll beantworten könnte, wenn es weiterhin die Portale des Gerichts so weit aufgestoßen lässt. Dem sei hier ein wenig nachgegangen. II. Maastricht und Lissabon – „Gouvernement de juges“ Verfassungsrecht ist eng mit der Politik verschwistertes Recht und Verfassungsgerichtsbarkeit vermag daher in vielen Fällen der politischen Implikation seiner Entscheidungen nicht zu entgehen.16 Gleichwohl gibt es eine – wahrscheinlich eher quantitativ als in einem absoluten Sinne qualitativ zu bestimmende – Grenze, bei welcher der juristisch nachvollziehbare Gehalt des Richterspruchs hinter seiner politischen Dimension zurücktritt. Ein solches „Gouvernement de juges“ wird besonders augenscheinlich, wenn das Gericht sich nicht mit der konkreten Entscheidung hic et nunc begnügt, sondern ohne Not in die Zukunft ausgreift, um den politischen Instanzen den rechten Weg und seine Grenzen zu weisen. So liegt es bei den Urteilen von 1993 zum Maastricht- und insbesondere 2009 zum Lissabon-Vertrag. Beide Entscheidungen sind auf ihre Art faszinierende Meisterwerke, vom maßgeblichen Einfluss der großen Richterpersönlichkeiten Paul Kirchhof und Udo di Fabio geprägt. Inhaltlich äußern sie zunächst im Geiste der Präambel und Art. 23 GG viel „europafreundliches“ Verständnis für den Einigungsprozess.17

14 Zum Maastricht-Urteil bereits Tomuschat, EuGRZ 1993, 489; Kokott, AöR 1994, 207; Fromont, JZ 1995, 800. Zur Lissabon-Entscheidung Nettesheim, NJW 2009, 2867; Oppermann, EuZW 2009, 473; Ruffert, DVBl. 2009, 1197; Schönberger, JZ 2010, 1160 – Zustimmung u. a. bei Gärditz/Hillgruber, JZ 2009, 872. 15 Eine bemerkenswerte Rechtfertigung des weiten Ausgreifens des BVerfG bei Kielmansegg, FAZ 24.2.2011, 8, wonach die politischen Eliten den Wählern bisher nie eine Chance eingeräumt hätten, über die Frage mitzuentscheiden, wie viel Integration sein solle. Daher hätte Karlsruhe als „letzte Rettung“ sich artikulieren müssen. Bei Lichte betrachtet, ist dies freilich ein Freibrief für politische Justiz. – Zum gewissen Abrücken des BVerfG von den Maßstäben der Maastricht- und Lissabonurteile mit dem „Honeywell“-Beschluss vom 6.7.2010 vgl. unten bei IV. 16 Klassisch Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927; umfassende Erörterung bei Stern (Fn. 4), Bd. I, 1977, 12.

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Letztlich ließ das Bundesverfassungsgericht beide Vertragswerke passieren. Gleichwohl ist der Blick des Gerichts auf die europäische Integration und ihre Ziele mit dem Maastricht-Vertrag ein anderer geworden als früher. Möglicherweise hängt es mit der Wiedervereinigung und der Rückerlangung deutscher Souveränität 1991 zusammen, die praktisch zeitgleich mit der Maastrichter Entscheidung zugunsten der Währungsunion und Förderung der Politischen Union eine empfindliche Einschränkung erfahren sollte.18 Vermeintlich wandelte sich die Vision des Europäischen Bundesstaates als Endziel europäischer Einigung durch die Maastrichter Entscheidung zugunsten der Währungsunion aus einer Wunschvorstellung in eine näher rückende Realität. Galt das Grundgesetz 1949 ff. geradezu angelegt zugunsten des möglichen Eintrittes der „alten“ Bundesrepublik in eine überstaatliche Föderation, wurde dies in den neunziger Jahren mit Blick auf Art. 20 und die neu gefassten Art. 23, 146 GG zum verfassungsrechtlichen Mega-Problem.19 Die EU wird seit der Maastricht-Entscheidung als „Verbund“ souverän bleibender Staaten begriffen, deren Vertrag „keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat“ begründet. Die in ihm enthaltene Währungsunion ist verfassungsrechtlich und parlamentarisch nur deshalb verantwortbar, da sie als Stabilitätsgemeinschaft angelegt ist, die ähnlich wie die DM vorrangig die Preisstabilität zu gewährleisten hat (Art. 88 S. 2 GG). Deutschland 17 BVerfGE 89, 155 ff. (182 ff.) E 123, 267 ff. (344 ff.) – P. Kirchhof, FAZ 19.9. 2009, 8 sieht eine „Faszination Europa“ im Lissabon-Urteil. – Gesamtüberblick zur sog. Europarechtsfreundlichkeit und Europarechtsskepsis des BVerfG bei F. C. Mayer, in: Giegerich (Hrsg.), Der „offene Verfassungsstaat“ des Grundgesetzes nach 60 Jahren, 2010, 237. 18 Nach Art. 7 Abs. 2 des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland v.12.9.1990, BGBl. II 1318 („Zwei + Vier-Vertrag“) BGBl. wurde mit Wirkung vom 15.3.1991 die Souveränität Deutschlands grundsätzlich wiederhergestellt. Am 7.2.1992 wurde der Maastricht-Vertrag unterzeichnet, der in Titel VI eine schrittweise Vergemeinschaftung der Währungspolitik mit einer Währungsunion als Endstufe vorsah. Kurz darauf wurde das Bundesverfassungsgericht über verschiedene Verfassungsbeschwerden mit der souveränitätseinschränkenden deutschen Zustimmung zum Maastricht-Vertrag befasst und fällte am 12.10.2003 sein Urteil in E 89, 155 ff. 19 Bis Ende der achtziger Jahre bestanden kaum verfassungsrechtliche Zweifel, dass Präambel („Glied in einem vereinten Europa“) und der damalige Art. 24 Abs. 1 („Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen“) GG letztlich den Übergang Deutschlands in den bisher „unvollendeten“ (Walter Hallstein) Europäischen Bundesstaat ermöglichten, vgl. etwa Stern (Fn. 4) Bd. I, 1977, S. 378 ff. oder jüngst Bryde, FS Jaeger, 2011, 65 (70). Die Deutung des BVerfG im Maastricht- und Lissabon-Urteil, dass durch die Neufassung der Art. 23, 146 GG der Europäische Bundesstaat nur durch den Pouvoir constituant des deutschen Volkes erreicht werden könnte, ist angesichts der unveränderten Europa-Präambel und der „Verwirklichung eines vereinten Europas“ (Art. 23 GG) nicht zwingend, näher Oppermann/Classen, Aus Politik und Zeitgeschichte B 28/93 v. 9.7.1993, 29. – Bei alledem handelt es angesichts der Wirklichkeit einer EU von heute 27 Mitgliedstaaten um eine rein theoretische Frage, die kaum jemals auf der politischen Tagesordnung stehen dürfte. Die Problematik der Karlsruher Rechtsprechung liegt darin, dass sie zwangsläufige „föderative“ Schritte wie in der Finanzkrise seit 2010 unnötig zur Verfassungsfrage macht und sich damit selbst ein problematisches Gouvernement de juges aufbürdet.

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unterwirft sich mit der Ratifikation des EUV nicht einem „Automatismus“ in die Währungsunion, sondern Bundesregierung und Parlament vermögen den Prozess mit zu steuern, ja, als ultima ratio bei einem Scheitern der Stabilitätsgemeinschaft sich aus der Gemeinschaft wieder zu lösen20. Das Gericht nimmt auch das Fehlen einer gleichzeitigen Wirtschafts- und Politischen Union hin, da dies eine politisch zu verantwortende Entscheidung sei, die letztlich mittels Vertragsänderung unter Beteiligung der deutschen staatlichen Organe weiterentwickelt werden könnte. Im Kern fällt das Maastricht-Urteil erstmals die eminent politische Entscheidung, dem europäischen Einigungsprozess mit Blick auf die Zukunft verfassungsrechtliche Grenzen zu setzen. Entgegen früherem Verständnis liegt in der Erwähnung Deutschlands als „gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ (Präambel, Art. 23 GG) nicht mehr die Ermächtigung zur Entäußerung deutscher Staatlichkeit in einem größeren europäischen Verbund. Bereits vor einer solchen – fernen – Finalität behält sich Karlsruhe die laufende Kontrolle vor, ob „die demokratischen Grundlagen der Union Schritt haltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedstaaten eine lebendige Demokratie erhalten bleibt.“ 21 Während die Maastricht-Entscheidung das verfassungspolitische Wächteramt des Gerichts über die EU-Entwicklung mit einer gewissen Zurückhaltung anklingen lässt, markiert das Lissabon-Urteil inzwischen mit größerer Deutlichkeit, bis wohin die Reise nach Europa gehen darf und wann nach seiner Auffassung verfassungsrechtliche Grenzen der Integration überschritten werden. Indem Art. 38 GG nunmehr auch ein „Recht auf Staatlichkeit“ enthält, glaubt die Entscheidung wie in einem Lehrbuch der Allgemeinen Staatslehre definieren zu können, was einen Staat ausmacht und wo demgemäß der europäische Vertragsgeber einzuhalten hat. „Ausreichender Raum“ muss zur nationalen Gestaltung präzise benannter „wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Lebensverhältnisse“ verbleiben22 Noch schärfer als in der Maastricht-Entscheidung wird die Verwirklichung eines „vereinten Europas“ der Präambel und des Art. 23 GG mit Blick auf Art. 79 Abs. 2–3, 146 GG unter nationalen Souveränitätsvorbehalt gestellt. Nur das Deutsche Volk könne sich durch Ablösung des Grundgesetzes nach Art. 146 GG für die Teilnahme Deutschlands an einem Europäischen Bundesstaat entscheiden. Die in Brüssel an der Integration mitwirkenden deutschen Instanzen sehen sich heute bei jedem künftigen Schritt einer dicht gewirkten Verfassungskontrolle unterwor20 BVerfGE 89, 155 (199 ff.) Ähnlich BVerfGE 97, 350 „Euro“, wo das Gericht den Übergang in die endgültige Stufe der Währungsunion 1999 passieren lässt, aber Bundesregierung und Parlament für die Sicherung des Geldeigentums „in Verantwortung nimmt“. 21 BVerfGE 89, 155 (213). 22 BVerfGE 123, 267 (358 ff.). – Kritisch jetzt M. Schröder, FS Fiedler, 2011, 675 m.w. N.

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fen, die argwöhnisch beäugt, ob Deutschland nicht bereits mit einem Bein in eine europäische Föderation einsteigt. Die Unterhändler müssten eigentlich die Texte der Maastricht- und Lissabon-Entscheidung jederzeit im Reisegepäck nach Belgien mitführen. Bei Lichte betrachtet sind freilich die Gefahren für einen massiven Souveränitätsverlust der EU-Staaten in der 27er Gemeinschaft mehr als gering. Die langen Jahre europäischer Verfassungsgebung von der Nizza-Konferenz 2001 bis zum Lissabon-Vertrag 2007 haben mit ihren oft quälenden Verhandlungen und Rückschlägen mehr als einmal gezeigt, wie sehr die Idee eines Europäischen Bundesstaates in der heutigen Mega-Union zur Schimäre geworden ist. Praktisches Ziel der Reformen des „Post-Nizza-Prozesses“ konnte nur noch sein, gewisse Verbesserungen der Handlungsfähigkeit der Union als enger Staatenverbund zu erreichen, während die Wahrung oder sogar der Ausbau nationaler Reservatrechte nie außer Frage stand.23 Schien die von Karlsruhe errichtete richterliche Oberhoheit über den Fortgang des Einigungsprozesses heutzutage eher ins Leere zu laufen, wird sie seit 2010 durch die Finanz- und Währungskrise der EU in unvermuteter Weise auf die Probe gestellt. III. Auf dem Wege zur „EURO-Entscheidung“? Seit dem Frühjahr 2010 hat sich die 2008 weltweit ausgebrochene Finanzkrise in Europa durch die dramatische Lage Griechenlands, Irlands und Portugals und weiterer besorgniserregender Daten in den übrigen sog. PIIGS-Staaten (Spanien und Italien) zu einer Krise der Europäischen Währungsunion und des EURO verdichtet.24 Sie führte nach einer Nothilfe zugunsten Griechenlands in Höhe von A 110 Milliarden (deutscher Anteil bis A 22,4 Milliarden) am 7.–9. Mai 2010 zu einem ersten Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Euro-Zone, die zur Errichtung eines sogenannten „EURO-Rettungsschirms“ von A 750 Milliarden Stützungsgarantien (darunter A 440 Mia der Euro-Staaten) führte, um den befürchteten Kollaps der Gemeinschaftswährung an den Finanzmärkten abzuwenden. Der deutsche Anteil am Rettungsschirm belief sich zunächst auf ca. A 125 Milliarden Garantien.25 Seit dem 10. Mai 2010 begann die Europäische Zentralbank aufgrund eines Mehrheitsbeschlusses ihres Rates Staatsanleihen der PIIGS-Staaten (vornehmlich aus Griechenland, Irland und Portugal) aufzukaufen, um die Funktionsfähigkeit der entsprechenden Finanzmärkte zu erhalten. Die Stützungskäufe 23

Oppermann, DVBl. 2008, 473. Häde, EuR 2010, 854; Nettesheim, EuR 2011, H.4; Oppermann, FS Möschel, 2011. 25 VO (EU) 407/2010, ABl. L 118/1; Währungsunion/Finanzstabilitätsgesetz v. 7.5. 2010, BGBl. I 537; Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus v. 22.5.2010, BGBl. I 627. 24

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erreichten Anfang 2011 eine Gesamthöhe von über A 70 Mia. – Im November 2010 musste Irland als erster Staat nach massiver Stützung seines notleidenden Bankensektors den Rettungsschirm in Höhe von A 85 Mia in Anspruch nehmen. Im April 2011 folgte Portugal mit einem Rettungsbedarf von ca. A 80 Mia. Von den drei Staaten wird im Gegenzug zu den Hilfsmaßnahmen ein hartes Sparprogramm eingefordert. – Gemäß politischen Vorentscheidungen soll der Rettungsfonds (European Financial Stability Facility = EFSF) 2011 ein weiteres Mal aufgestockt und in einen permanenten Krisenmechanismus (European Stability Mechanism = ESM) überführt werden, um das nominale Volumen der A 440 Mia der EU-Staaten voll verleihen zu können. Die deutschen Garantien verdoppeln sich hierdurch auf bis zu A 250 Mia.26 Diese Rettungsmaßnahmen sind sowohl europarechtlich als auch nach deutschem Recht vielfältig umstritten. Gegen ihre Zulässigkeit wird im EU-Recht insbesondere die sog. „No bail out“-Klausel des Art. 125 AEUV ins Feld geführt, wonach ein Mitgliedstaat nicht für die Verbindlichkeiten der verschiedenen öffentlichen Instanzen eines anderen Mitgliedstaates haftet. Hiergegen wird vor allem eingewendet, dass Art. 125 AEUV freiwillige Hilfen der Union und ihrer Mitgliedstaaten zugunsten eines notleidenden EU-Staates nicht ausschließe.27 Auch die Ankäufe von Staatsanleihen solchen Staaten durch die EZB stehen europarechtlich im Streit.28 Es war nicht verwunderlich, dass die Tiefe der EU-Finanzkrise und ihre u. a. in deutsches Recht zu überführenden weit reichenden Rettungsbeschlüsse erneut deutsche Bürger auf den Plan riefen, welche mit Hilfe der EU-Verfassungsbeschwerde die Verfassungsmäßigkeit dieser außerordentlichen Maßnahmen angriffen. Unter den Beschwerdeführern befinden sich zum dritten Mal die bereits aus den Maastricht- und Lissabonverfahren bekannten Namen.29 Kern der Anträge 26

Schlussfolgerungen des Europäischen Rates 24./25.3.2011, Dok EUCO 10/11. U. a. Kube Reimer, NJW 2010, 1911, und Ruffert, FAZ 11.2.2010, verstehen Art. 125 AEUV als umfassende Verbotsnorm. Noch weitergehende Bedenken bei Seidel, EuZW 2011, 241 – Die Möglichkeit einer durch Art. 125 AEUV nicht ausgeschlossenen freiwilligen Nothilfe bejahen etwa Everling, FS Scheuing, 2011 oder Nettesheim (Fn. 24). Oppermann (Fn. 24) sieht darüber hinaus eine Rechtfertigung durch ungeschriebenes EU-Notrecht. 28 Seidel, EuZW 2010, 521. 29 Seit Mai 2010 ergingen verschiedene, z. T. später ausgeweitete Verfassungsbeschwerden der schon im Maastricht-Verfahren aufgetretenen Gruppe Hankel/Nölling/ Schachtschneider/Starbatty, des von Murswiek vertretenen Bundestagsabgeordneten Gauweiler, verschiedener Einzelpersonen, die vom Berliner Finanzwissenschaftler Kerber vertreten wurden, darunter 24 mittelständische Familienunternehmer. Die Eilanträge (§ 32 BVerfGG) wurden vom Gericht mittels der üblichen Folgenabwägung zurückgewiesen, ohne die Beschwerdebefugnis der Antragsteller für das Hauptverfahren auszuschließen (u. a. NJW 2010, 1586). – Im Februar 2011 hat die „Starbatty-Gruppe“ eine weitere „vorsorgliche“ Vb gegen die Erweiterung des EFSf in den permanenten ESM (oben Fn. 26) eingereicht. 27

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gegen die Verfassungsmäßigkeit des Währungsunion-Finanzstabilitätsgesetz v. 7.5.2010 (BGBl. I 537) und des Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechanismus v. 22.5.2010 (BGBl. I 627)30 ist die Rüge, dass Bundesregierung/Bundestag durch die GriechenlandNothilfe und die Errichtung des EU-Rettungsschirms am 9.5.2010 die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts im Maastricht-Urteil verletzt hätten, wonach die Teilnahme Deutschlands an der Währungsunion nur als Stabilitätsgemeinschaft verfassungsrechtlich tragbar sei. Mit den Rettungsbeschlüssen wandele sich die Währungsunion aus einer Stabilitätsgemeinschaft in eine „Transferunion“, in der Deutschland entgegen dem „No bail out“-Verbot des Art. 125 AEUV für notleidende Euro-Staaten wie Griechenland in Haftung genommen werde. Durch die hierdurch sich abzeichnende Zerrüttung von Geldwert und Staatsfinanzen unter gleichzeitigen Verlustes Deutschlands an Eigenstaatlichkeit und Demokratie würde in die vom Gericht im Maastricht- und Lissabon-Urteil bekräftigten Rechte des Bürgers aus Art. 38 GG eingegriffen, u. a. auch in sein Eigentum und in die Teilhabe an der Sozialstaatlichkeit.31 Diese große Zahl der „Euro-Verfassungsbeschwerden“ war eine voraussehbare Folge des mit dem Maastricht- und Lissabon-Urteil über Art. 38 GG eröffneten Zugangs zum Gericht für Einzelpersonen. Nachdem Karlsruhe sich mit diesem selbst geschaffenen Hebel zweimal als „Gouvernement de juges“ tief in den demokratisch-politischen Prozess eingemischt hatte, lag es für die Beschwerdeführer nahe, vom Bundesverfassungsgericht auch die Letztentscheidung über finanziell und währungsmäßig konkrete Maßnahmen der Regierung aufgrund von EU-Verpflichtungen zu erwarten, die anders als die „abstrakten“ europäischen Verfassungsverträge beim inflationssensiblen deutschen Bürger persönliche Betroffenheit auszulösen vermochten. Das Bundesverfassungsgericht wird freilich durch die „Euro-Beschwerden“ in eine unangenehme Lage gebracht. Es war verführerisch und für ein Verfassungsgericht in gewissem Sinne nahe liegend gewesen, sich mit zwei europäischen

30 Die beiden deutschen Gesetze führten Beschlüsse der Staats- und Regierungschefs der EU v. 26.3. und 2./7.5.2010 (Griechenland) sowie die VO (EU) 407/2010 v. 11.5. 2010, ABl. L 118/1 durch. 31 Die politisierte Argumentation der Verfassungsbeschwerdeführer ging hier und da noch weiter. In mündlichen Äußerungen und Zeitungsanzeigen war u. a. von „Nötigung und Erpressung“ des Bundestages und des Bundespräsidenten durch die Bundesregierung bei der raschen Verabschiedung der deutschen „Notstandsgesetze“ zur Einrichtung des Rettungsschirms im Mai 2010 die Rede. Die „Haftungsunion“ der Euroländer sei ein „zynischer Versuch, Europas Völkern Eigenstaatlichkeit und Demokratie zu nehmen“. Dieser Weg führe Deutschland und Europa „in den Ruin“. Am weitesten ging die Behauptung, die Bürger hätten „nicht das Recht, sondern sogar die Pflicht zum Widerstand nach Art. 20 Abs. 4 GG“, sollte das Bundesverfassungsgericht den Beschwerden nicht stattgeben. Seidel bezeichnet in EuZW 2011, 241 die VO (EU) 407/2010 als „Europarechtsverstöße und Verfassungsbruch im Doppelpack“.

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Verfassungsinstrumenten wie Maastricht- und Lissabonvertrag zu beschäftigen und aus nationalem Blickwinkel die äußersten grundgesetzlichen Grenzen des Brüsseler Integrationsprozesses für Deutschland feststellen zu wollen. Politisch zu weitgehend oder nicht – die Inhalte einer „fremden“ Verfassungsnorm mit dem Grundgesetz zu vergleichen und hieraus allgemeine Schlüsse zu ziehen, ist der Sache nach Normenkontrolle, wie sie zum verfassungsprozessualen Aufgabenbereich gehört. Etwas ganz Anderes bedeutet die Aufforderung, nunmehr finanz- und währungspolitische, sich aus EU-Recht ableitende Gesetze des Bundestages mit zahlenmäßig ablesbaren Finanzverpflichtungen an den seinerzeit selbst gesetzten grundgesetzlichen Schranken des europäischen Einigungsprozesses messen und beurteilen zu sollen. Wie lassen sich „Stabilitätsgemeinschaft“, „Entleerung des demokratischen Gehaltes“ oder „Staatlichkeit“ überzeugend in die kleine Münze umsetzen, mit der bestimmt werden könnte, ob A 125 Milliarden (oder demnächst 250?) deutsche Stützungsgarantien für den Europäischen Stabilitätsfonds die Gemeinschaftswährung in Gefahr bringen? Oder bedeutet die Errichtung des EFSF (oder erst des ESM?) jenen kleinen Schritt über den Rubikon, mit dem Deutschland unmerklich beginnt, seine Staatlichkeit zugunsten des undemokratischen „Brüsseler Monsters“ aufzugeben? Ist die deutsche Zustimmung zur VO (EU) 407/2010 und diese selbst ein „ausbrechender Rechtsakt“, welcher der Kontrolle Karlsruhes unterliegt? Oder bedarf es in diesem Zusammenhang zunächst einer Vorlage des Bundesverfassungsgerichts zur Prüfung der europarechtlichen Gültigkeit dieser Verordnung an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV, den das BVerfG nach seinem Selbstverständnis bisher noch nie angewendet hat?32 Fragen über Fragen, zu denen die Antwort schwer fällt, außer die Feststellung, dass jedwede Antwort sich auf richterlich selbst gesetzte Kriterien stützen müsste, die sich eher aus einem politischem Vorverständnis ableiten ließen als gemäß einer stringenten Deduktion anhand von Verfassungsnormen.33 Schließlich wäre unabsehbar, welche Auswirkungen ein etwaiges Verdikt des Bundesverfassungsgerichts über die deutsche Beteiligung an den EU-Rettungsmaßnahmen des Mai 2010 beziehungsweise März 2011 Monate oder Jahre nach der Installierung des EFSF und des ESM auf die finanziell/währungsmäßige Lage im Euro-Raum haben müsste. Der zwangsweise Rückzug des größten Partners Deutschland aus dem europäischen Rettungsschirm käme dessen Zusammenbruch gleich und müsste die Euro-Zone einschließlich Deutschlands in eine ganz neue kaum einschätzbare Krise stürzen. Auch unter diesem Gesichtswinkel werden die Grenzen nachträglicher verfassungsrechtlicher Kontrolle über Stabili-

32 Die Verfassungsbeschwerde Kerber u. a. regt eine solche Vorabentscheidung des EuGH an. 33 Kritisch zum „Karlsruher Konzept der europäischen Integration“ M. Schröder, FS Fiedler, 2011, 675.

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sierungsbeschlüsse sichtbar, die in einer dramatischen Krisensituation Anfang Mai 2010 in Tagen und Stunden gefällt werden mussten. 34 IV. „Honeywell“ und Vertragsänderung als Befreiungsschlag? Manches sieht danach aus, dass sich das Bundesverfassungsgericht 2010 zu erneutem Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen seiner Kontrolle deutschen Handelns in Brüssel und gemäß dortigen Vorgaben veranlasst sah. Ursache dürfte die in ihrem Verlauf unvorhersehbare Finanz- und Währungskrise der Union seit ungefähr Ende 2009 im Gefolge der weltweiten Turbulenzen gewesen sein. Die Gemeinschaftsorgane und ihnen folgend die nationalen Instanzen wurden durch die plötzliche Notlage einiger Euro-Staaten in finanzielle Engagements einer bisher unbekannten Größenordnung getrieben, um diese Staaten vor einer Insolvenz zu bewahren und gleichzeitig die Gemeinschaftswährung stabil zu halten. Die längerfristigen Erfolgschancen dieser Rettungsaktionen wurden und werden ökonomisch kontrovers beantwortet.35 Es darf jedoch bezweifelt werden, ob ein Verfassungsgericht der geeignete Schiedsrichter über unterschiedliche volkswirtschaftliche Prognosen sein kann. Unabhängig davon, ob diese Vermutungen zutreffen, schränkte derselbe zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts, der seinerzeit die Maastricht- und Lissabon-Urteile erlassen hatte, mit dem sog. „Honeywell“-Beschluss vom 6. Juli 2010 seine Kontrolle über möglicherweise kompetenzloses „ausbrechendes“ Handeln europäischer Organe („Ultra-vires-Kontrolle“) in erheblichem Ausmaß wieder ein.36 Ein Kompetenzverstoß muss nunmehr „hinreichend qualifiziert“ sein, d.h. das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt sollte „offensichtlich“ sein und der angegriffene Akt muss im Kompetenzgefüge zu einer „strukturell bedeutsamen Verschiebung“ zu Lasten der Mitgliedstaaten führen. Es wird bereits auf den ersten Blick sichtbar, dass sich aus solchen wenig bestimmten Formulierungen im konkreten Fall ohne Umstände Argumente entwickeln lassen, welche das europäische Handeln letzten Endes zu rechtfertigen vermögen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass „Honeywell“ eine gewisse Rücknahme der Lissabon-Kriterien bedeutet, liefert ihn die abweichende Meinung des Richters Landau zur Honeywell-Entscheidung, in der diese Unterschiede durchaus verständlich herausgearbeitet werden.37 34

Dazu auch Selmayr, ZeuS 2009, 574; Everling, EuR 2010, 91. Gravierende Bedenken etwa bei Blankert, Orientierungen 127 (2011), 46. 36 BVerfGE 126, 286. Anm. Classen, JZ 2010, 1186. Kurz vor dieser Entscheidung betonte der Präsident des BVerfG Voßkuhle die „zentrale Verantwortung“ des Gerichts für die Erfüllung des Verfassungsauftrags zur europäischen Integration, FAZ 22.4.2010, 11. Vgl. auch Voßkuhle, NZVerwR 2010, 1. 37 Abweichende Meinung Landau, JZ 2010, 1182. Auch die Anmerkung Classen (Fn. 36), 1186, betont den „Schwenk“ des Zweiten Senats. Ähnlich Bryde (Fn. 19), 73. 35

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Eine andere „Erleichterung“ für künftige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über Maßnahmen zur Bewältigung der EU-Finanz- und Währungskrise könnte die von den Staats- und Regierungschefs der EU im März 2011 grundsätzlich beschlossene Änderung des AEUV im Zusammenhang mit der Umwandlung des Rettungsschirms in einen permanenten Krisenmechanismus mit sich bringen, wonach Beistand der Union und ihrer Mitglieder für notleidende Euro-Staaten künftig auch erlaubt sein soll, „wenn die Stabilität der Währungsunion als Ganzes“ bedroht ist.38 Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Beitrages bestehen demnach begründete Hoffnungen, dass sich das Bundesverfassungsgericht aus der selbst gestellten Falle seiner „EU-Verfassungsbeschwerde“ ohne allzu offensichtlichen Bruch mit der Maastricht/Lissaboner Rechtsprechung zu befreien vermag. In der Erinnerung wird freilich die neuerliche Bestätigung bleiben, dass es eine Grenze zwischen zulässiger Fortbildung der Verfassung durch Richterrecht und dem spekulativen Übergriff von Verfassungsgerichtsbarkeit in den politischen Raum gibt. Dort sind die Unwägbarkeiten tatsächlicher Entwicklungen so zahlreich und unvorhersehbar, dass Judicial Self-restraint das erste Gebot richterlicher Klugheit bleiben sollte. Mich würde nicht verwundern, wenn der langjährige nordrheinwestfälische Landesverfassungsrichter Klaus Stern ähnlich dächte.

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Oben Fn. 26.

Entwicklungen des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union Von Hans-Werner Rengeling I. Einleitung Nach fast 50 Jahren Grundrechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union sollen im Folgenden einige Entwicklungslinien und Entwicklungsschwerpunkte dieses Grundrechtsschutzes aufgezeigt werden.1 Was heute grundsätzlich selbstverständlich ist, war im Anfang problematisch. Im Einzelnen gibt es zwar beim Grundrechtsschutz immer noch Meinungsverschiedenheiten, die u. a. auf grundlegenden Fragestellungen beruhen. Sie berühren zum Teil die Ausgangsdiskussionen. Ein kleiner „geschichtlicher Rückblick“ kann die anstehenden Fragen verdeutlichen und möglicherweise zu einer Klärung beitragen.2 Aus deutscher Sicht, aber wohl auch allgemein, können die Einflüsse des deutschen Verfassungsrechts und – damit verbunden – der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei den Entwicklungen des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union nicht hinweggedacht werden. Deshalb sind auch diese Einflüsse zu berücksichtigen. Jedenfalls können sie nicht schlicht als „querelle allemande“ 3 beiseite geschoben werden – mag es auch Übertreibungen beim Grundrechtsschutz, vor allem in der täglichen Gerichtspraxis (allerdings nicht nur vor europäischen Gerichten), geben. Bei der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich zweifellos um einen „grundrechtsgeprägten Verfassungsstaat“4 – entsprechend dem Titel der Festschrift. Einflussnahmen darauf durch die „Europäische Verfassung“ 5 mit ihren 1 Zu Konzeption und System europäischer Menschen- und Grundrechte: Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. III/1 – Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1988, § 62 III und Bd. III/2 – Allgemeine Lehren der Grundrechte, 1994, § 94 III 7. 2 Vgl. auch den Überblick zu den Entwicklungen bei Klaus Stern, in: ders./Florian Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Einl. Rn. 183 ff.; Manuel Strunz, Strukturen des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union in ihrer Entwicklung, 2006. 3 Nachweise bei Hans-Werner Rengeling/Peter Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, § 1 Rn. 16 m.w. N. 4 Dazu Stern, Bd. III/1 (Fn. 1), § 61. 5 Dazu Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: Josef Isensee/ders. (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., Bd. II, 2004, § 21, S. 261 Rn. 53 m.w. N.; Thomas

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Grundrechten sind unverkennbar, können aber bekanntlich auch ein Spannungsverhältnis erzeugen, auf das einzugehen ist. Dies ist umso dringlicher, als der Grundrechtsschutz sich immer mehr vom Bundesverfassungsgericht zum Europäischen Gerichtshof verlagert, man denke nicht nur an die europäischen Verordnungen, sondern vor allem auch an das richtliniengebotene nationale Recht sowie an die Geltung der europäischen Grundrechte bei der Durchführung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten.6 Folgende Entwicklungsschwerpunkte sollen beleuchtet werden: – Ausgangssituation und Anfangsphase; – „Solange I-Beschluss“, „Vielleicht“- oder „Mittlerweile-Beschluss“ und „Solange II-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts; – Gemeinsame Erklärung europäischer Organe zum Grundrechtsschutz; – Überlegungen zum Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention; – Überblick über die Entwicklungen aufgrund der Einheitlichen Europäischen Akte sowie vor allem durch die Verträge über die Europäische Union von Maastricht und Amsterdam, eingeschlossen das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts; – Einzelfragen zum Grundrechtsschutz vor und in der Europäischen Union: vermehrte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu einzelnen Grundrechten, Konkretisierung der Inhalte, Entwicklung einer Grundrechtsdogmatik in Form „Allgemeiner Grundrechtslehren“ und Vertiefung der Grundlagen; – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Proklamation von Nizza, Teil des Entwurfs eines Vertrages über eine Verfassung für Europa und Regelungen im Reformvertrag von Lissabon; – aktuelle Rechtslage nach Lissabon und Einzelheiten zum künftigen Grundrechtsschutz; – die Europäische Agentur für Grundrechte als ergänzendes administratives Element. II. Ausgangssituation und Anfangsphase 1. Geltendes Gemeinschaftsrecht

In den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion, 1952 in Kraft getreten), der Europäischen WirtschaftsgeOppermann/Claus Dieter Classen/Martin Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl. 2009, § 18 Rn. 14 ff.; Peter M. Huber, Das europäisierte Grundgesetz, DVBl. 2009, 574 ff.; Jan Moritz Schilling, Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und menschlicher Europäisierung, 2010. 6 Dazu etwa Claus-Peter Bienert, Die Kontrolle mitgliedstaatlichen Handelns anhand der Gemeinschaftsgrundrechte, 2001; Rengeling/Szczekalla (Fn. 3), § 4 Rn. 277 ff.

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meinschaft und Europäischen Atomgemeinschaft (beide 1958 in Kraft getreten)7 ist von Grundrechten nicht ausdrücklich die Rede, obwohl einzelne „Grundrechte“ genannt werden. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat anfangs die Auffassung vertreten, dass es seine Aufgabe sei, die Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen, er habe sich hingegen nicht mit Problemen zu befassen, die dem nationalen Verfassungsrecht angehörten.8 Im Hinblick auf den engen Zusammenhang zwischen Grundrechtsschutz und dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts wurde allerdings bald klar, dass dieser Vorrang nur durchsetzbar sein kann, wenn die Gemeinschaft einen eigenen Grundrechtsschutz bietet. 2. Beginn der Rechtsprechung zum gemeinschaftsinternen Grundrechtsschutz (1969) und „Gemeinsame Erklärung der Grundrechte“ (1977)

a) Europäischer Gerichtshof (1969/1974) Nachdem der Gerichtshof den Vorrang des Gemeinschaftsrechts begründet hatte,9 findet sich eine erste Aussage zum Grundrechtsschutz in einem obiter dictum eines Urteils aus dem Jahre 1969: Die Wahrung der Grundrechte gehöre zu den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung“.10 In einem Urteil aus dem Jahre 1969 heißt es dann, wie seitdem immer wiederholt wird:11 „Die Beachtung der Grundrechte gehört zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Die Gewährleistung dieser Rechte muß zwar von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getragen sein, sie muß sich aber auch in die Struktur und Ziele der Gemeinschaft einfügen.“

Genannt sei an dieser Stelle noch ein Urteil aus dem Jahre 1974, in dem sich ein Hinweis auf völkerrechtliche Quellen des Grundrechtsschutzes findet:12 „Auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind.“

7 Einzelheiten zu den drei Verträgen bei Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 3. 8 Vgl. Hans-Werner Rengeling, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft und die Überprüfung der Gesetzgebung, DVBl. 1982, 140 (141). 9 Insbesondere Urt. v. 15.7.1964 – Rs. 6/64, Costa/E.N.E.L. – Slg. 1964, 1251. 10 Urt. v. 12.11.1969 – Rs. 29/69, Stauder/Stadt Ulm – Slg. 1969, 419 (424 f.). 11 Urt. v. 17.12.1970 – Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft/EVSt Getreide – Slg. 1970, 1125 Rn. 4. 12 Urt. v. 14.5.1974 – Rs. 4/73, Nold/Kommission – Slg. 1974, 491.

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Mit Blick auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts noch ein Zitat aus dem zuletzt erwähnten Nold-Urteil:13 Der Gerichtshof „kann keine Maßnahmen als rechtens anerkennen, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten anerkannten und geschützten Grundrechten.“ Das klingt nach einem „Maximal-Standard“ für den Grundrechtsschutz.14 b) Bundesverfassungsgericht – „Solange I“ (1974) Diese Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 1974 erging 14 Tage vor dem Solange I-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts15, hat aber diesen Beschluss nicht – obwohl es möglich gewesen wäre16 – verhindern können. In diesem Beschluss heißt es u. a.: „Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist, ist nach Einholung der in Art. 177 des Vertrages geforderten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs die Vorlage eines Gerichts an das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahren zulässig und geboten, wenn das Gericht die für es entscheidungserhebliche Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in der vom Europäischen Gerichtshof gegebenen Auslegung für unanwendbar hält, weil und soweit sie mit einem der Grundrechte des Grundgesetzes kollidiert.“

Die Entscheidung hat aus verschiedenen Gründen zutreffend viel Kritik und überwiegend Ablehnung erfahren,17 vor allem weil sie dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts nicht entspreche und die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Frage stelle. Die Entscheidung hat aber auch positive Wirkungen erzeugt, indem sie eine Intensivierung des Grundrechtsschutzes auf der europäischen Ebene zur Folge hatte. c) Gemeinsame Erklärung (1977) Diskussionen über den Grundrechtsschutz in der Gemeinschaft wurden ausgelöst. Sie führten etwa zu der „Gemeinsamen Erklärung der Versammlung, des 13

EuGH (Fn. 12). Vgl. insofern zur Methode der wertenden Rechtsvergleichung beim Grundrechtsschutz: Hans-Werner Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, S. 121 f., 223 ff., 228 f. 15 Beschl. v. 29.5.1974 – 2 BvL 52/71 – BVerfGE 37, 271 (285). 16 Dazu Hans Peter Ipsen, BVerfG versus EuGH re „Grundrechte“. Zum Beschluß des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1974 (BVerfGE Bd. 37 S. 271), EuR 1975, 1 (9). 17 Kritisch insbesondere: Ipsen (Fn. 16); zur Problematik insgesamt: Oppermann/ Classen/Nettesheim (Fn. 5), § 11 Rn. 18 ff. 14

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Rates und der Kommission“ vom 5. Juli 1977,18 in der es u. a. heißt, dass die drei genannten Organe die vorrangige Bedeutung, die sie der Achtung der Grundrechte beimessen, unterstreichen und bei der Ausübung ihrer Befugnisse diese Rechte beachten würden. Der Europäische Gerichtshof hat auf diese Entscheidung mehrfach Bezug genommen.19 d) Bundesverfassungsgericht – „Solange II“ (1986) So folgte – im Anschluss an den sog. „Vielleicht-Beschluss“ 20 – der sog. „Solange II-Beschluss“, besser: „Mittlerweile-Beschluss“ 21, des Bundesverfassungsgerichts, in dem es u. a. heißt:22 „Solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht . . . nicht mehr ausüben . . .“

Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union findet – so ist dem Urteil zu entnehmen – ihre Grenze an der Identität der deutschen Verfassung.23 III. Diskussionen um den Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention (1977) Nach der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. November 1977 sollte sich die Kommission für ein Abkommen zwischen den Mitgliedstaaten auf der Grundlage von Art. 235 EWGV oder Art. 236 EWGV einsetzen – mit dem Ziel, im Lichte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 die Europäische Menschenrechtskonvention „als integrierenden Bestandteil der Verträge zur Gründung der EG anzu-

18 ABl. C 193 v. 27.4.1977, 1; zu weiteren Erklärungen: Bengt Beutler, in: Hans von der Groeben/Jürgen Schwarze (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Kommentar, 6. Aufl. 2003, Artikel 6 EU, Rn. 43. 19 Nachweise bei Rengeling/Szczekalla (Fn. 3), § 1 Rn. 17. 20 Beschl. v. 25.7.1979 – 2 BvR 6/77 – BVerfGE 52, 187. 21 Hans Peter Ipsen, Das Bundesverfassungsgericht löst Grundrechtsproblematik, EuR 1987, 1 ff. 22 Beschl. v. 22.10.1986 – 2 BvR197/83 – BVerfGE 73, 339 (387). 23 Kirchhof (Fn. 5), § 21 Rn. 52; ders., Das Grundgesetz – ein oft verkannter Glücksfall, DVBl. 2009, 541 (543).

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sehen“.24 Auch mit Blick auf den „Solange I-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts – Forderung eines geschriebenen Grundrechtskataloges – begannen Diskussionen über einen Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention.25 IV. Überblick über die Entwicklungen aufgrund der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) und der Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) 1. Erweiterung der Kompetenz der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union und Rechtsprechung zu den Grundrechten

Die Kompetenzen der Gemeinschaft wurden durch die Einheitliche Europäische Akte26 und insbesondere durch die Verträge von Maastricht27 und Amsterdam28 betreffend die Europäische Union erheblich verstärkt, so dass die Frage des Grundrechtsschutzes erneut an Bedeutung gewann. Das gilt in grundlegender Hinsicht mit Blick auf die Frage nach der „Verfassung“29 für die Europäische Union als auch mit Blick auf brisante grundrechtliche Einzelfragen, etwa zur Tabakwerbung30 und zur Bananenmarktordnung.31 Auch in den Bereichen Medien32 und der Liberalisierung des Strommarktes33 ergeben sich viele Fragen des Grundrechtsschutzes.

24 Roland Bieber, Besondere Rechte für die Bürger der Europäischen Gemeinschaften, EuGRZ 1978, 203. 25 Dazu Hans-Werner Rengeling, Grundrechtsschutz in den Europäischen Gemeinschaften: Beitritt der Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention?, EuR 1979, 124 ff.; zur Situation nach Lissabon s. die Ausführungen unten unter VI. 3. d). 26 Vom 28.2.1986, ABl. L 169 v. 29.6.1987, 1. 27 Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992, ABl. C 191 v. 29.7.1992 = BGBl. II v. 30.12.1992, 1253 – in Kraft getreten am 1.11.1993. 28 Vertrag von Amsterdam vom 2.10.1997, ABl. C 340 v. 10.11.1997, 145 = BGBl. II v. 16.4.1998, 386 – in Kraft getreten am 1.5.1999. 29 Nachweise bei Rengeling/Szczekalla (Fn. 3), § 1 Rn. 21 mit Fn. 36; vgl. auch die Nachweise oben in Fn. 5. 30 Vgl. nur Peter J. Tettinger (Hrsg.), Verbote von Werbung und Sponsoring bei Tabakerzeugnissen und deutsches Verfassungsrecht, 1998; Jürgen Schwarze, Werbung und Werbeverbote im Lichte des europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, § 18. 31 Vgl. etwa Peter Selmer, Die Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards durch den EuGH, 1998; zur Rechtsprechung vgl. die Nachweise bei Rengeling/ Szczekalla (Fn. 3), § 1 Fn. 47. 32 Generell zur Problematik: Martin Stock, Medienfreiheit in der EU-Grundrechtecharta, Art. 10 EMRK ergänzen und modernisieren, 2000. 33 Jürgen F. Baur, Die Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie, et 1997, 624 ff.

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2. Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (1993)

Ausführlich hat das Bundesverfassungsgericht zum Grundrechtsschutz im Maastricht-Urteil Stellung genommen. Es heißt dort u. a.:34 „Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet durch seine Zuständigkeit . . ., daß ein wirksamer Schutz der Grundrechte für die Einwohner Deutschlands auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell sichergestellt ist und dieser dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesengehalt der Grundrechte generell verbürgt. Das Bundesverfassungsgericht sichert so diesen Wesensgehalt auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft . . . Allerdings übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendung von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in einem ,Kooperationsverhältnis‘35 zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deswegen auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards . . . beschränken kann.“

Zu dieser Entscheidung ist vielfach, auch kritisch, Stellung bezogen worden.36 In einer späteren Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht Klarstellungen zu den Aussagen im Maastricht-Urteil geboten:37 Es gebe keinen Unterschied zwischen den Entscheidungen Solange II und Maastricht und ein generelles Absinken des Grundrechtsstandards in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sei nicht festzustellen. V. Überblick über den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union (seit 1992 bis Lissabon) 1. Allgemeine Rechtsgrundsätze und Unionsvertrag

Während zunächst die Grundrechte – wie gesagt – „nur“ als allgemeine Rechtsgrundsätze38 geschützt wurden und dann später – freilich nicht als „Rechtsquelle“ – die Gemeinsame Erklärung hinzukam,39 finden sich ausdrückliche Regelungen zum Grundrechtsschutz im Unionsvertrag. 34

Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 und 2159/92 – BVerfGE 89, 155 (174 f.). Dazu Jürgen Schwarze, Das „Kooperationsverhältnis“ des Bundesverfassungsgerichts mit dem Europäischen Gerichtshof, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Bd. I, S. 223 ff. 36 Ulrich Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach dem Maastricht-Urteil, in: Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, 57 ff.; Fritz Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz – eine verfassungsrechtliche Wende?, DVBl. 1993, 629 ff.; Jürgen Schwarze, Europapolitik unter deutschem Verfassungsrichtervorbehalt, NJ 1994, 1 ff. 37 Beschl. v. 7.6.2000 – 2 BvL – BVerfGE 102, 147 (161 ff.); weitere Nachweise bei Rengeling/Szczekalla (Fn. 3), § 1 Rn. 24. 38 Hinweis auf die Ausführungen oben unter II. 2. 39 Dazu die Ausführungen oben unter II. 2. c). 35

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Der Vertrag über die Europäische Union (von Maastricht, 7. Februar 1992) verweist in Art. F Abs. 2 erstmals im Text der Gründungsverträge auf den Schutz der Grundrechte und gibt der Europäischen Union die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf.40 Die Bestimmung übernahm fast wörtlich die Bezugsformel, mit der der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung den gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz begründet hat.41 Dem Art. F Abs. 2 des Maastricht-Vertrages entspricht Art. 6 Abs. 2 des Amsterdamer Vertrages, der am 1. Mai 1999 in Kraft getreten ist. Heute gilt Art. 6 EUV in der Fassung des Vertrages über die Europäische Union von Lissabon vom 13. Dezember 2007,42 worauf noch näher einzugehen ist.43 2. Charta der Grundrechte

a) Fassung des Konvents und Proklamation in Nizza (2000) Nach dem Amsterdamer Vertrag ist die Regierungskonferenz von Nizza zu erwähnen. Der Nizza-Vertrag44 wurde 2001 unterzeichnet und trat am 1. Februar 2003 in Kraft. Anlässlich der Nizza-Konferenz verkündeten die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten feierlich die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die ein 1999 in Köln eingesetzter Konvent aus Vertretern der Regierungen, der Kommission und des Parlaments unter Leitung des deutschen Altbundespräsidenten Roman Herzog am 2. Oktober 2000 verabschiedet hat.45 b) Dokumentation der Grundrechte und rechtliche Erheblichkeit Zu den Inhalten der Charta ist hier nicht ausführlich zu berichten.46 Es erfolgt jedenfalls eine Dokumentation der Grundrechte, was mit Blick auf die Solange IRechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hervorgehoben sei, und sie verdeutlicht somit die EU als Grundrechts- und Wertegemeinschaft. Sie enthält auch

40 Meinhard Hilf, in: Eberhard Grabitz/ders. (Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union, Stand: Mai 1995, Art. F EUV, Rn. 20 m.w. N. 41 Seit dem Nold-Urteil (Fn. 12); vgl. dazu Bengt Beutler, in: von der Groeben/ Schwarze (Fn. 18), Artikel 6 EU, Rn. 43. 42 ABl. C 306 v. 17.12.2007, in der Fassung der Bekanntmachung v. 9.5.2008, ABl. C 115 vom 9.5.2008. 43 Hinweis auf die Ausführungen unten unter VI. 44 Vertrag von Nizza, ABl. C 80 v. 10.3.2001, 1; dazu Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 5), § 2 Rn. 31 ff. 45 Dazu Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 5), § 2 Rn. 35. 46 Überblick etwa: Rengeling/Szczekalla (Fn. 3), § 1 Rn. 28 ff. m.w. N.; kritisch: Ulrich Everling, Durch die Grundrechtecharta zurück zu Solange I?, EuZW 2003, 225.

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– das sei hervorgehoben – soziale Rechte.47 Die Charta wurde zwar nicht Bestandteil des Nizza-Vertrages, blieb aber – auch in rechtlicher Hinsicht – nicht wirkungslos.48 c) Grundrechtecharta als Teil des Entwurfs für einen Vertrag über eine Verfassung für Europa (2004) Ein Versuch, der Grundrechtecharta rechtliche Verbindlichkeit zu verleihen, wurde mit dem „Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa“ 49 2004 unternommen. Teil II (Art. II-61 bis II-114) integrierte die Grundrechtecharta 2000 des ersten Konvents in die Verfassung.50 Der Vertrag scheiterte bekanntlich aufgrund der negativen Referenden in Frankreich und Holland 2005.51 Die Grundrechtecharta52 behielt indessen ihre eingeschränkte rechtliche Bedeutung. 3. Kurzes Zwischenfazit (Anfang der 90er Jahre)

Zieht man ein Zwischenfazit etwa zu Beginn der 90er Jahre, so kann man zusammenfassend einige Schwerpunkte bei der Entwicklung des Grundrechtsschutzes – andeutungsweise – nennen. a) Grundrechtsschutz mit flächendeckender Tendenz Der Europäische Gerichtshof hat zahlreiche Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze erkannt und konkretisiert, so dass der Grundrechtsschutz inso47 Dazu bereits Rengeling/Szczekalla (Fn. 3), § 34 sowie § 1 Rn. 35 und § 3 Rn. 188, unter Hinweis auf die Konkretisierung durch die Europäische Sozialcharta, vom 18.10. 1961, BGBl. 1964 II, 1262; vgl. in diesem Zusammenhang auch den umfassenderen Ansatz von Thorsten Kingreen, Universalisierung sozialer Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Armin Hatje/Peter M. Huber (Hrsg.), Unionsbürgerschaft und soziale Rechte, EuR Beiheft 1/2007, 43 ff.; jetzt: Julia Illopoulos-Strangas, Soziale Grundrechte in Europa. Eine rechtsvergleichende Untersuchung der nationalen Rechtsordnungen und des Europäischen Rechts, 2010. 48 Dazu Rengeling/Szczekalla (Fn. 3), § 1 Rn. 50 m.w. N. 49 ABl. C 169 v. 18.7.2003, 1 ff.; Günter Hirsch, Die Aufnahme der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag, in: Jürgen Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 111 ff.; Thomas Oppermann, Europäischer Verfassungskonvent und Regierungskonferenz 2002–2004, DVBl. 2004, 1264 ff. 50 Zu den Grundrechten: Christian Calliess/Matthias Ruffert, Verfassung der Europäischen Union. Kommentar der Grundlagenbestimmungen (Teil I), 2006, S. 157 ff. 51 s. zum Scheitern: Eckhard Pache/Franziska Rösch, Der Vertrag von Lissabon, NVwZ 2008, 473 (474); Jürgen Schwarze, Der Reformvertrag von Lissabon – Wesentliche Elemente des Reformvertrages, in: ders./Armin Hatje (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR Beiheft 1/2009, 9 (17). 52 Zu Bewertungen: Rudolf Streinz, Wie gut ist die Grundrechte-Charta des Verfassungsvertrages?, in: Festschrift für Hans-Werner Rengeling, 2008, 645 ff.

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fern mit flächendeckender Tendenz geschieht. Diesbezügliche Zusammenstellungen im wissenschaftlichen Schrifttum machen das deutlich.53 Dabei wird oftmals auch der Zusammenhang mit den Grundfreiheiten des EG- bzw. EU-Vertrages berücksichtigt.54 Die Grundrechtecharta nimmt diese Entwicklungen in der Rechtsprechung auf, setzt aber auch selbst Schwerpunkte, etwa bei den sozialen Grundrechten.55 b) Allgemeine Grundrechtslehren – Grundrechtsdogmatik Es wurde versucht, allgemeine Grundrechtslehren oder eine Grundrechtsdogmatik zu entwickeln56 – bei Orientierung am deutschen Recht. Dieser Bezugspunkt oder besser grobe Orientierungspunkt, allerdings nicht nur dieser, führte zu kritischen Äußerungen, etwa dass es eine solche Grundrechtsdogmatik im Gemeinschaftsrecht gerade nicht gebe.57 In neuerer Zeit werden nahezu in allen einschlägigen (jedenfalls deutschen) allgemeinen Darstellungen zum Grundrechtsschutz in der Europäischen Union „allgemeine Lehren“ geboten.58 Einige Aspekte der allgemeinen Grundrechtslehren sind auch in der Grundrechtecharta enthalten.59 c) Vertiefung der Grundlagen, auch in neuerer Zeit Es erfolgte eine Vertiefung der Grundlagen des europäischen Grundrechtsschutzes, auch in neuerer Zeit. Dabei geht es etwa um die Bezüge der Entwicklungen im EU-Recht zur Europäischen Menschenrechtskonvention (schon früher wurde damit begonnen), aber auch zum sonstigen internationalen Recht.60 Ein Schwerpunkt liegt auch bei der Umschau für rechtsvergleichende Überlegungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.61 Der Europäische Ge53 Vgl. etwa Rengeling (Fn. 14), S. 11–170. Die Zusammenstellungen in Kommentaren und Lehrbüchern aus neuerer Zeit sprechen für sich. Zur gegenwärtigen Situation etwa: Sebastian M. Heselhaus/Carsten Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006; Albrecht Weber, Menschenrechte. Texte und Fallpraxis, 2004. 54 Dierk Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, 2001; Dirk Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009. 55 Rengeling/Szczekalla (Fn. 3), § 28 Rn. 993 ff. 56 Rengeling (Fn. 14), S. 171–231; dazu auch Rezension von Hans-Peter Ipsen, DVBl. 1993, 567 f. 57 Vgl. dazu Rengeling/Szczekalla, (Fn. 3), § 1 Rn. 83 ff. m.w. N. 58 Vgl. etwa Jürgen Kühling, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 583 (596 ff.). 59 Vgl. dazu Stern (Fn. 1), § 62. 60 Vgl. dazu nur oben die Ausführungen zum Beitritt der EG zur EMRK, Hinweis auf die Ausführungen oben unter III.

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richtshof hat oftmals vor der Konkretisierung der Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht rechtsvergleichende Untersuchungen angestellt, die aber leider nicht zugänglich sind. VI. Der Vertrag von Lissabon 1. Grundlagen

Im Anschluss an eine „Denkpause“62 setzte sich der Reformprozess innerhalb der Europäischen Union fort. Ein maßgeblicher Anstoß ging von der „Berliner Erklärung“ 63 aus Anlass der 50 Jahr-Feier der Römischen Verträge aus. Diese Erklärung dokumentiert die Einigung der Regierungen, eine „erneuerte gemeinsame Grundlage“ für die Europäische Union zu schaffen.64 Es kam ein Reformvertrag zustande, der am 13. Dezember 2007 von 27 Regierungen in Lissabon unterzeichnet worden ist – Lissabon-Vertrag.65 Am 1. Dezember 2009, zwei Jahre nach der Unterzeichnung, ist der Vertrag in Kraft getreten.66 Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 30. Juni 2009 die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das deutsche Zustimmungsgesetz nicht geteilt.67 Die nach diesem Urteil erforderliche Änderung der Begleitgesetzgebung erfolgte.68 Der „Vertrag zur Änderung des Vertrages über die EU und des Vertrages zur Gründung der EG“ (Lissabon-Vertrag) ist ein schwer lesbarer „Artikelvertrag“. Die EU kann man nur durch die Texte des neuen „EU-Vertrages“ (EUV) und des „Vertrages über die Arbeitsweise der Union“ (AEUV) erschließen. Durch die Verträge wird eine einheitliche und einzige Rechtspersönlichkeit der neuen Europäischen Union begründet.69 61 Peter J. Tettinger/Klaus Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Charta der Grundrechte, 2006. 62 Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 5), § 2 Rn. 44. 63 Dazu Thomas Oppermann, Die Berliner Erklärung vom 25. März 2007, in: Festschrift für Hans-Werner Rengeling, 2008, S. 609 ff. 64 Dazu im Einzelnen Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 63). 65 ABl. C 306 vom 17.12.2009. 66 Thomas Oppermann, Die Europäische Union von Lissabon, DVBl. 2008, 473 ff.; Markus Möstl, Vertrag von Lissabon. Einführung und Kommentierung, 2010; Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU. Einführung und Synopse, 3. Aufl. 2010; Albrecht Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, 7 ff. 67 Dazu ausführlich Armin Hatje/Jörg Philip Terhechte (Hrsg.), Grundgesetz und europäische Integration. Die Europäische Union nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, EuR Beiheft 1/2010. 68 Vgl. auch Gert Nicolaysen, Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Kontext der Europarechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Armin Hatje/ Jörg Philipp Terhechte (Hrsg.), EuR Beiheft 1/2010, 9 ff. 69 Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 5), § 2 Rn. 45.

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Hans-Werner Rengeling 2. Der Schutz der Grundrechte nach Lissabon

Durch den Vertrag wird u. a. das System des Grundrechtsschutzes, die Grundrechtsquellen und die Grundrechtsgeltung der nunmehr „verfassten“ Europäischen Union geändert.70 Art. 6 in der Fassung des Vertrages von Lissabon, also in der nunmehr geltenden Fassung (ex-Art. 6 EUV) lautet: „(1) Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig. Durch die Bestimmungen der Charta werden die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert.71 Die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze werden gemäß den allgemeinen Bestimmungen des Titels VII der Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt, und unter gebührender Berücksichtigung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt. (2) Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei. Dieser Beitritt ändert nichts an den in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union. (3) Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind, und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Rechtsgrundsätze Teil des Unionsrechts.“

Art. 6 Abs. 3 EUV n. F. nimmt die Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV a. F. auf. Weiterhin gelten die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze. Insofern besteht eine Kontinuität des Grundrechtsschutzes.72 Grundlegende Änderungen werden gesehen:73 erstens in der Integration der Europäischen Grundrechtecharta und dem mit ihr seit langem geforderten ausformulierten geschriebenen Grundrechtekatalog in das europäische Primärrecht und zweitens in der Schaffung der unionsverfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention.

70 Eckhard Pache/Franziska Rösch, Die neue Grundrechtsordnung der EU nach dem Vertrag von Lissabon, EuR 2009, 769 ff. 71 Hans-Werner Rengeling, Eine Europäische Charta der Grundrechte, in: Festschrift für Dietrich Rauschning, 2001, S. 225 (243 ff.). 72 Pache/Rösch (Fn. 70), S. 772. 73 Pache/Rösch (Fn. 70), S. 772.

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3. Änderungen durch die Grundrechtecharta und den Lissabonner Vertrag

a) Inhaltliche Änderungen der Inhalte der Grundrechtecharta Hervorzuheben ist zunächst, dass in einigen Einzelpunkten die Grundrechtecharta im Vergleich zu der vom Konvent vorgelegten Fassung geändert worden ist.74 Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EUV n. F. erkennt die EU die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der EU vom 1. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung75 enthalten sind.76 Auch der Verfassungskonvent und die anschließende Regierungskonferenz hatten bereits einige Änderungen des Konventstextes vorgenommen, die beibehalten worden sind.77 Die Änderungen betreffen vor allem:78 – den Wortlaut der Präambel, – das Recht auf Zugang zu Dokumenten in Art. 42 der Grundrechtecharta und – die Einführung der drei neuen Absätze 4 bis 6 in den Art. 52 der Charta. Die in Art. 52 eingefügten Absätze sind auf die Begrenzung und die engere Anbindung der Inhalte der Grundrechte der Charta an die nationalen Verfassungsüberlieferungen, Rechtsordnungen und Gepflogenheiten gerichtet.79 Während dem Abs. 4 und dem Abs. 6 eher deklaratorische Bedeutung beigemessen wird, kommt dem Abs. 5 wohl rechtliche Bedeutung zu.80 b) Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta Geregelt wird eine Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta auf der Primärrechtsebene. Die Grundrechtecharta sollte nach dem Auftrag des Europäischen Rates von Köln81 entsprechend ihrer Präambel die gemeinsamen Grundrechte und Grundwerte sichtbar machen, die die Mitgliedstaaten und die Völker der Europäischen Union verbinden und die von der Gemeinschaftsgewalt zu beachten sind.82 74 Dazu Franz C. Mayer, Der Vertrag von Lissabon und die Grundrechte, in: Jürgen Schwarze/Armin Hatje (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR Beiheft 1/2009, 87 (89 f.). 75 ABl. C 303 vom 14.12.2007, 1, EuGRZ 2007, 747 ff. 76 Pache/Rösch (Fn. 70), S. 776. 77 Pache/Rösch (Fn. 70), S. 776. 78 Pache/Rösch (Fn. 70), S. 776. 79 Pache/Rösch (Fn. 70), S. 777. 80 Pache/Rösch (Fn. 70), S. 777. 81 Vgl. Anhang IV der Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Köln am 3./ 4.6.1999. 82 Vgl. auch Rengeling/Szczekalla (Fn. 3), § 1 Rn. 30.

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Vor Lissabon war die Grundrechtecharta – wie gesagt – nicht verbindlich. Allerdings erlangte die Charta „mittelbare“ Geltung aufgrund einer Selbstverpflichtung von Parlament, Rat und Kommission.83 Vor allem aber wurde sie in der Rechtsprechung als ergänzende Rechtserkenntnisquelle für den Grundrechtsschutz durch allgemeine Rechtsgrundsätze herangezogen.84 Art. 6 EUV wird nunmehr zum „Grundrechtsanerkennungstitel“.85 Eine Aufnahme der Charta in den Vertragstext scheiterte vor allem am Widerstand des Vereinigten Königreichs.86 c) Auswirkungen auf den Grundrechtsschutz Zu den inhaltlichen Auswirkungen auf den Grundrechtsschutz ist festgestellt worden, dass die rechtsverbindliche Geltung der Grundrechtecharta materiellrechtlich nur teilweise Veränderungen mit sich bringt.87 In der Charta sind allerdings soziale Grundrechte und Grundrechtsgewährleistungen vorgesehen. Sog. wirtschaftliche und soziale Gewährleistungen sind nicht nur im umfangreichsten Titel IV der Charta unter der Überschrift „Solidarität“ enthalten, z. B. das Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst oder das Recht auf angemessene Arbeitsbedingungen. In dem Auftrag zur Gestaltung der Grundrechtecharta war vorgesehen, dass die Europäische Sozialcharta,88 die für die Mitgliedstaaten verbindlich ist, und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer berücksichtigt werden sollten.89 Diesbezügliche Fragen waren sehr umstritten.90 d) Änderungen bezüglich der EMRK Zu den bedeutsamen Neuerungen des Vertrages von Lissabon wird die Schaffung der erforderlichen primärrechtlichen Grundlage für den Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention91 gerechnet sowie die 83 Dazu bereits Eckhard Pache, Die Europäische Grundrechtecharta – ein Rückschritt für den Grundrechtsschutz in Europa?, EuR 2001, 475 (486). 84 s. dazu die Hinweise bei Streinz/Ohler/Herrmann (Fn. 66), S. 104. 85 Weber (Fn. 66), S. 7. 86 Pache/Rösch (Fn. 70), S. 774 f. 87 Dazu Pache/Rösch (Fn. 70), S. 776 ff. 88 Vom 18.10.1961, BGBl. 1964 II, S. 1262; dazu Stern, Bd. III/1 (Fn. 1), § 62 III 5. 89 Beschluss der Europäischen Rates vom 4.6.1999, abgedruckt in EuGRZ 1999, 364 ff. 90 Zur Verbindlichkeit der sozialen Grundrechte etwa: Christoph Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBl. 2001, 1 (12). 91 Zur Erforderlichkeit einer solchen Grundlage: EuGH, Urteil vom 28.3.1996 – Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759; vgl. zum Beitritt der EG bereits oben unter III.

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Verpflichtung der Europäischen Union zu diesem Beitritt, Art. 6 Abs. 2 EUV n. F.92 Dabei dürfte allerdings zweifelhaft sein, ob von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird.93 e) Zusammenfassung Der Lissabonner Vertrag bewirkt also insbesondere Folgendes: Er bringt einen rechtsverbindlichen, geschriebenen Grundrechtskatalog; er sichert den bisherigen Stand der Grundrechtsentwicklung; er eröffnet den Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention. 4. Das Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen, das Vereinigte Königreich und Tschechien

Hinzuweisen ist auf das Protokoll Nr. 30 zum Lissabonner Vertrag über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich.94 Am 29. Oktober 2009 ist dann auch für Tschechien eine Ausnahme von der Grundrechtecharta anerkannt worden, die mit dem nächsten Beitrittsvertrag als Protokoll rechtsverbindlich werden soll.95 Die genannten Länder haben also für sich eine eigene Regelung bekommen, wonach eine Ausweitung der Befugnisse des Europäischen Gerichtshofs und der nationalen Gerichte zur Feststellung der Grundrechtswidrigkeit nationaler Maßnahmen und die Begründung neuer einklagbarer Rechte durch Titel IV der Charta ausgeschlossen wird.96 VII. Einzelheiten zum künftigen Grundrechtsschutz 1. Bessere Erkennbarkeit der Europäischen Union als Grundrechts- und Wertegemeinschaft

Nach dem derzeitigen Stand der unionsrechtlichen Regelungen zum Grundrechtsschutz kann man eine bessere Erkennbarkeit der Europäischen Union als Grundrechts- und Wertegemeinschaft feststellen. In diesem Zusammenhang ist 92 Einzelheiten dazu bei Pache/Rösch (Fn. 70), S. 779 ff.; Kyra Strasser, Grundrechtsschutz in Europa durch den Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention, 2001; Jan Hendrik Wiethoff, Das konzeptionelle Verhältnis von EuGH und EGMR, 2008. 93 Pache/Rösch (Fn. 70), S. 788; vgl. auch Norbert Reich, Beitritt der EU zur EMRK – Gefahr für das Verwerfungsmonopol des EuGH?, EuZW 2010, 641. 94 ABl. C 115 vom 9.5.2008, 313 f.; Einzelheiten dazu bei Pache/Rösch (Fn. 70), S. 783 ff. 95 Dazu Pache/Rösch (Fn. 70), S. 783. 96 Zu dieser eingeschränkten Bedeutung der Ausnahme im Einzelnen: Pache/Rösch (Fn. 70), S. 783 f.

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allerdings zutreffend bemerkt worden, dass die „Grundrechtsabneigung“ von Großbritannien und Polen97 mehr als ein Schönheitsfehler ist und der Wertegemeinschaft somit Grenzen gezogen sind.98 2. Unterschiedliche Grundrechtskategorien

Künftig – so heißt es99 – könne man drei verschiedene Kategorien von Grundrechten unterscheiden: – Grundrechte der Europäischen Grundrechtecharta als mit den Verträgen gleichrangiges Primärrecht; – nach dem Beitritt der Europäischen Union zur Europäischen Menschenrechtskonvention, als völkerrechtlicher Vertrag nach Art. 215 AEUV integriert in die Rechtsordnung der Europäischen Union, aber nicht gleichrangig mit den Verträgen, sondern in der Normenhierarchie unterhalb der Verträge und damit auch der Grundrechtecharta, allerdings mit Vorrang vor dem Sekundärrecht; – Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV n. F. Bezüglich des Grundrechtsschutzes dürfte aber die Existenz der drei Grundrechtskategorien kaum zu einer quantitativen oder qualitativen Verdreifachung des europäischen Grundrechtsschutzes führen.100 3. Effektiver Grundrechtsschutz

Entscheidend bleibt, ob ein effektiver Grundrechtsschutz gewährleistet wird.101 Neuartige Gefährdungslagen sind beschrieben worden.102 Die grundrechtlichen Themen sind weit gestreut, aber auch durch die bisherige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs103 und durch die Charta der Grundrechte weitestgehend erfasst. Das gilt vor allem auch für die wirtschaftsbezogenen Grundrechte.104 Wünschenswert wäre es, wenn der Europäische Gerichtshof – ähnlich wie die deutsche Rechtsprechung – die Schutzbereiche der Grundrechte klar um97

Dazu ausführlich: Mayer (Fn. 74), S. 91 ff. Mayer (Fn. 74), S. 95. 99 Pache/Rösch (Fn. 70), S. 785 f. 100 Zutreffend: Pache/Rösch (Fn. 70), S. 785 f. 101 Mayer (Fn. 74), S. 97. 102 Mayer (Fn. 74), S. 99 ff. 103 Rengeling (Fn. 14), S. 16–170. 104 Carsten Nowak, Binnenmarktziel und Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union vor und nach dem Reformvertrag von Lissabon, in: Jürgen Schwarze/Armin Hatje (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR Beiheft 1/2009, 129 (159 ff.); Hans-Werner Rengeling, Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, DVBl. 2004, 453 ff. 98

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schreiben und die Einschränkungsmöglichkeiten, vor allem durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit105 exakt prüfen würde,106 insofern also die erforderliche Kontrolldichte wahrt.107 4. Prozedurale Fragen

a) Erweiterung der Individualklageberechtigung u. a. zum Rechtsschutz Ein oftmals diskutiertes eigenes Grundrechtsbeschwerverfahren108 wurde bisher nicht eingeführt. Allerdings ist der Wortlaut des Art. 263 Abs. 4 AEUV geändert worden. Nach dem Vertrag von Lissabon entfällt das Kriterium der individuellen Betroffenheit, es soll allein auf die unmittelbare Betroffenheit ankommen, die bei Verordnungen stets gegeben ist.109 Die Gerichtsbarkeit bei Verfahren gegen Beschlüsse nach Art. 7 EUV n. F. über die Gefährdung oder Verletzung der Werte der Union, insbesondere der Grundrechte, wird beschränkt. Nach Art. 269 AEUV ist in diesem Bereich nur der betroffene Mitgliedstaat klageberechtigt.110 b) Duales Rechtsschutzsystem und Zusammentreffen von Zuständigkeiten In der Union gibt es ein duales Rechtsschutzsystem. Die gemeinschaftsrechtliche Garantie des effektiven Rechtsschutzes gilt nicht nur für die Gemeinschaftsgerichte, sondern auch für die Gerichte der Mitgliedstaaten.111 Gemäß Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV n. F. schaffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Diesbezüglich ist von einer grundrechtlichen Garantie die Rede, die folgenreich sein könne.112 105

Jürgen Schwarze, Dimensionen des Rechtsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit, in: Festschrift für Hans-Werner Rengeling, 2008, S. 633 ff. 106 Schwarze (Fn. 105), S. 641 ff. 107 Dazu Selmer (Fn. 31), insbesondere S. 132 f.; Rengeling (Fn. 104), S. 462 f. 108 Zu den Möglichkeiten der prozessualen Durchsetzung der Unionsgrundrechte etwa: Eckhard Pache, in: Sebastian M. Heselhaus/Carsten Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 8; vgl. auch Hans-Werner Rengeling/Peter Szczekalla, Brauchen wir die Verfassungsbeschwerde auf Grundrechtsebene?, in: Festschrift für Ulrich Everling, 1995, Bd. II, S. 1187 ff. 109 Dazu Ulrich Everling, Rechtsschutz in der Europäischen Union nach dem Vertrag von Lissabon, in: Jürgen Schwarze/Armin Hatje (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR Beiheft 1/2009, 71(74); Mayer (Fn. 74), S. 87 f. 110 Everling (Fn. 109), S. 84. 111 Thomas von Danwitz, Aktuelle Fragen der Grundrechte, des Umwelt- und Rechtsschutzes in der Europäischen Union, DVBl. 2008, 537 (538) – m.w. N. vor allem auch aus der Rechtsprechung des EuGH. 112 Streinz/Ohler/Herrmann (Fn. 66), S. 72.

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Auf zwei Fragenkreise sei noch hingewiesen: einmal auf die Möglichkeiten der gerichtlichen Durchsetzung von Grundrechten der Europäischen Union und zum anderen auf den gerade in neuerer Zeit oft diskutierten Problembereich der Abgrenzung von Zuständigkeiten zwischen dem Europäischen Gerichtshof einerseits und dem Bundesverfassungsgericht sowie dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte andererseits.113 VIII. Die Europäische Agentur für Grundrechte als ergänzendes administratives Element des Grundrechtsschutzes 1. Zielsetzungen

Seit dem Jahre 2007 gibt es die Europäische Agentur für Grundrechte.114 Da durch den Lissabonner Vertrag die Grundrechtecharta, die von Anfang an im Zusammenhang mit der Agentur zu sehen ist, den Rang des Primärrechts genießt, erweiterte sich der Arbeitsbereich der Agentur durch die Aufnahme von Kompetenzen für die Justiz- und Innenpolitik in den AEUV in diesem Bereich, der besonders sensible Grundrechtsfragen beinhaltet.115 2. Kompetenzen und Aufgaben

Die Agentur soll gemäß Art. 2 der Verordnung „den einschlägigen Organen und Einrichtungen der Gemeinschaft (EU) und deren Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) in Grundrechtsfragen zur Seite stehen und ihnen Informationen und Fachkenntnisse bereitstellen, um ihnen die uneingeschränkte Achtung der Grundrechte zu erleichtern, wenn sie in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich Maßnahmen einleiten oder Aktionen festlegen“. Mit dieser Zielsetzung ist die Agentur gegründet worden.116

113 Dazu: Armin Hatje/Martin Nettesheim (Hrsg.), Grundrechtsschutz im Dreieck von nationalem, europäischem und internationalem Recht, EuR Beiheft 1/2008; Oliver Dörr, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen und europäischen Verfassungsgerichten, DVBl. 2006, 1088 ff.; Stefan Oeter/Franz Merli, Rechsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, VVDStRL 66 (2007), S. 361 ff. bzw. 392 ff. 114 Verordnung (EG) Nr. 168/2007 des Rates vom 15.2.2007 zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Grundrechte, ABl. L 53 v. 22.6.2007, 1. 115 Dazu insbesondere: Armin von Bogdandy/Jochen von Bernstorff, Die Europäische Agentur für Grundrechte in der europäischen Menschenrechtsarchitektur und ihre Fortentwicklung durch den Vertrag von Lissabon, EuR 2010, 141. 116 Vgl. dazu auch Ines Härtel, Die Europäische Grundrechteagentur: unnötige Bürokratie oder gesteigerter Grundrechtsschutz?, EuR 2008, 489 ff.

Entwicklungen des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union

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Die Agentur stellt somit ein Verwaltungsmodell der Europäischen Union dar, wie es seit längerem gebräuchlich ist.117 Sie hat keine hoheitlichen Kompetenzen. Gemäß Art. 3 der Gründungsverordnung ist es die Aufgabe der Agentur, sich mit Grundrechtsfragen in der EU und ihren Mitgliedstaaten zu befassen, und zwar im Zusammenhang mit der Durchführung des Gemeinschaftsrechts. Im Bereich der den Mitgliedstaaten allein verbliebenen Zuständigkeiten wird die Agentur nicht tätig, auch nicht beobachtend. Nachdem der Reformvertrag von Lissabon in Kraft getreten ist, hat sich das Tätigkeitsfeld der Agentur erheblich erweitert; es erstreckt sich nunmehr auch auf die besonders grundrechtsrelevanten Felder der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen. Dieser Politikbereich ist nach dem Reformvertrag aus dem EU-Vertrag a. F. in den Art. 82 ff. des AEUV aufgeführt. Insgesamt bestehen Aufgaben der Agentur vor allem in drei Bereichen118: – eine wissenschaftlich hochwertige Daten- und Informationsgrundlage für die Grundrechtspolitik bereitzustellen, – eine europäische Grundrechtskommunikation herbeizuführen, – Beratung der Politik. Hervorgehoben wird zu Recht der mögliche Einfluss der Agentur auf die „Verfassung Europas“ im weiteren Sinne, weil dabei auch die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Institutionen, der Europarat und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Teil des „europäischen Verfassungsraumes“ genannt werden.119 3. Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten

Besondere Fragen treten im Zusammenhang mit der „Verfassungsautonomie der Mitgliedstaaten“ auf. Für die Agentur kann sich die Frage stellen, inwieweit sie Akte der Mitgliedstaaten mit Blick auf etwaige Grundrechtsverletzungen überwachen darf. Dabei ist zu bedenken, dass die Grundrechtssituation nicht in allen Mitgliedstaaten europäischen Standards entspricht.120 Art. 3 Abs. 3 der Gründungsverordnung121 wird entnommen, dass sich die Agentur mit Grundrechtsfragen nur im Zusammenhang mit der „Durchführung“ des Gemeinschafts117 Vgl. allgemein: Dorothee Fischer-Apelt, Agenturen der Europäischen Gemeinschaft, 1999; Beispiele bei Uwe Hansmann, Organisation und Zuständigkeiten beim Verwaltungsvollzug im europäischen Stoffrecht, 2007, etwa S. 207 ff. 118 Vgl. etwa Art. 4, 6 und 8 der Verordnung Nr. 168/2007 (Fn. 114); im Einzelnen dazu von Bogdandy/Bernstorff (Fn. 115), S. 153 ff. 119 Bogdandy/Bernstorff (Fn. 115), S. 158 ff. 120 Bogdandy/Bernstorff (Fn. 115), S. 162. 121 Hinweis auf Fn. 114.

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rechts bzw. Unionsrechts befasst. Der Europäische Gerichtshof hat in neuerer Zeit u. a. dazu festgestellt, dass Mitgliedstaaten die EU-Grundrechte bei der Umsetzung von Unionsrecht zu beachten haben.122 In diesem Zusammenhag ist darauf hinzuweisen, dass generell auf EU-Ebene Unklarheiten darüber bestehen, was mit der „Durchführung“ von Unionsrecht einerseits und der ebenfalls gebräuchlichen Wendung „im Anwendungsbereich der Verträge“ gemeint ist.123 IX. Fazit und Ausblick Der Grundrechtsschutz hat durch den Reformvertrag von Lissabon einen gewissen „Schub“ erhalten.124 Gefragt wird nach einem Grundrechtsverbund oder einer Grundrechtsunion.125 Auch die Union ist „grundrechtsgeprägt“, wenn auch wohl weniger als die Bundesrepublik Deutschland; allerdings gibt es in diesem Bereich „Wechselwirkungen“.126 Wie sich der künftige Grundrechtsschutz in der Union entwickelt,127 hängt nach wie vor insbesondere von der Rechtsprechung des EuGH ab, auch angesichts der „Mega-Union“.128 Die Europäischen Gemeinschaften sind jedenfalls nicht nur Rechtsgemeinschaften, sondern auch Grundrechts- und damit Wertegemeinschaften.

122 Einzelheiten dazu bei Bogdandy/Bernstorff (Fn. 115), 162 f.; vgl. zu den Problemen ferner: Peter M. Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte – Zur Überprüfungsbedürftigkeit der ERT-Rechtsprechung, EuR 2008, 190; Johannes Masing, Vorrang des Europarechts bei der umsetzungsgebundenen Rechtsakten, NJW 2006, 264. 123 Dazu Rengeling (Fn. 104), S. 463 f. 124 Mayer (Fn. 74), S. 87 ff. 125 Thorsten Kingreen, Grundrechtsverbund oder Grundrechtsunion? – Zur Entwicklung der sujektiv-öffentlichen Rechte im europäischen Unionsrecht, EuR 2010, 338 ff.; Tade Matthis Spranger, Europäischer Grundrechtsschutz im Kontext vernetzter Rechtsordnungen, EuR 2009, 514 ff. 126 David Jungbluth, Überformung der grundgesetzlichen Wirtschaftsverfassung durch Europäisches Unionsrecht, EuR 2010, 471 ff.; Maike Susanne Krewet, Wechselwirkungen zwischen dem Grundgesetz und den Primärverträgen der Europäischen Union als ihrer Verfassung, 2009. 127 Vgl. z. B. Jürgen Schwarze, Der Grundrechtsschutz für Unternehmen in der Europäischen Grundrechtecharta, EuZW 2001, 517 ff. 128 Thomas Oppermann, Von der Gründungsgemeinschaft zur Mega-Union – Eine Europäische Erfolgsgeschichte?, DVBl. 2007, 329 ff.

Der menschenrechtliche Schutz des privaten Eigentums im universellen Völkerrecht – eine Zwischenbemerkung Von Burkhard Schöbener Zu den maßgeblichen materiellen Gewährleistungen für eine funktionierende Rechts- und Wirtschaftsordnung gehört – neben der Berufs- und Gewerbefreiheit – die Eigentumsgarantie. Ihre Verankerung finden diese Wirtschaftsfreiheiten in den Rechtsordnungen aller modernen Verfassungsstaaten, wenngleich aufgrund verschiedener Rechts- und Wirtschaftstraditionen in jeweils unterschiedlicher Akzentsetzung bei der Austarierung des Verhältnisses von Freiheit und gemeinwohlorientierter Regulierung. Auch im supranationalen Bereich der Europäischen Union hat die Eigentumsgarantie mittlerweile ein festes, rechtlich verbindliches Fundament erhalten (Art. 17 Grundrechtscharta); nichts anderes gilt für die regionalen Menschenrechtspakte in Europa (Art. 1 des ZP zur EMRK), in Amerika (Art. 21 AMRK) und Afrika (Art. 14 AfrMK). Außerdem ist auch die „Eigentumsschutzfunktion des WTO-Rechts“ nicht gering zu achten.1 I. Einleitung: Negation eines universellen Menschenrechts am Eigentum Stellt man die Frage nach der Existenz einer nicht nur regional, sondern weltweit als Menschenrecht geltenden völkerrechtlichen Eigentumsgewährleistung, dann ist die Antwort ausnahmslos ablehnend, wie die folgenden Stimmen belegen: Danach „ist im traditionellen Völkergewohnheitsrecht nur das Eigentum von Ausländern geschützt. Die ideologische Heterogenität in der Völkergemeinschaft [. . .] hat lange eine universelle Anerkennung der Eigentumsfreiheit als Menschenrecht gebremst“ 2; bzw.: „Durchgegend negativ ist der Befund, soweit es um

1 Dazu Petersmann, Wirtschaftliche Grundrechte, in: Merten/Papier, HGR VI/2, 2009, § 182, Rn. 18 f. 2 Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht, 8. Aufl., 2009, § 5, Rn. 16, der allerdings hinzufügt: „Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme in Osteuropa hat auch hier eine neue Entwicklung eingesetzt.“ Ähnlich Doehring, Gewohnheitsrechtsbildung aus Menschenrechtsverträgen, in: Klein (Hrsg.), Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht, 2003, S. 67 (73 ff., 76).

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den Schutz des Eigentums eigener Staatsangehöriger durch das universelle Völkerrecht geht“ 3. Und das BVerfG4 hat 2004 nicht minder eindeutig formuliert: „Das universelle Völkerrecht kannte und kennt eine Gewährleistung des Eigentums der eigenen Staatsangehörigen als menschenrechtlichen Schutzstandard nicht. Zwar wurde im Jahr 1948 in Art. 17 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen [. . .] festgelegt, dass ,[n]iemand [. . .] willkürlich seines Eigentums beraubt werden‘ darf, doch stellt die Allgemeine Erklärung kein verbindliches Völkerrecht dar. Wegen Meinungsverschiedenheiten zwischen West und Ost fand das Eigentum auch im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 [. . .] keine Erwähnung. Angesichts dieses Zögerns der Internationalen Gemeinschaft, eine vertragliche Bindung einzugehen, kann von einer weltweit geltenden gewohnheitsrechtlichen Norm menschenrechtlichen Eigentumsschutzes, also zu Gunsten nicht nur fremder Staatsangehöriger, sondern auch der eigenen Bürger, nicht gesprochen werden.“

Dagegen steht paradigmatisch, was Klaus Stern5 in einem seiner beeindruckenden Beiträge zum Handbuch der Grundrechte als die „großartige Konzeption eines Menschenrechtskonstitutionalismus“ bezeichnet hat, der zunächst zwar beschränkt war auf die verfassungsstaatlichen Ordnungen in Nordamerika und Westeuropa, heute aber mit einem universellen Rechtsgeltungsanspruch versehen ist. Er sieht den wesentlichen „Fortschritt des Völkerrechts darin [. . .], dass das Individuum wertmäßig in steigendem Maße in der internationalen Rechtsbildung berücksichtigt wird, in dem Sinne, dass die im einzelnen Menschen verankerten Werte international anerkannt, geschützt und gefördert werden. Dieser Entwicklung wird mit gutem Grund die Qualität einer ,Revolution des Völkerrechts‘ bzw. einer ,kopernikanischen Wende des Völkerrechts‘ zugesprochen. Mit Fug und Recht kann man sagen, dass ein ,Zeitalter der Menschenrechte‘ angebrochen ist.“ 6

Was aber ist ein solcher „Menschenrechtskonstitutionalismus“ auf der zwischenstaatlichen Ebene wert ohne eine als universelles Menschenrecht ausgestaltete Eigentumsgarantie? Ist ein „Zeitalter der Menschenrechte“ überhaupt vorstellbar ohne die völkerrechtliche Absicherung der Vermögenswerte des Einzelnen vor willkürlichem und konfiskatorischem staatlichen Zugriff? Rechtspolitisch betrachtet wird man beide Fragen zugunsten eines universellen Menschen3 Ohler, Der Schutz des privaten Eigentums als Grundlage der internationalen Wirtschaftsordnung, JZ 2006, S. 875 (879). 4 BVerfGE 112, 1 (34 f.) – Bodenreform III. Zur Begründung beruft sich das Gericht ausschließlich auf Tomuschat, Die Vertreibung der Sudetendeutschen, ZaöRV 56 (1996), S. 1 (29), der aber selbst über die oben zitierte, vom BVerfG übernommene Textpassage hinaus keine eigenständige völkerrechtliche Detailwürdigung vornimmt. 5 Stern, Menschenrechte als universales Leitprinzip, in: Merten/Papier, HGR VI/2, 2009, § 185, Rn. 7. 6 Stern (Fn. 5), § 185, Rn. 9 f. m.w. N. zu den Zitaten (insbesondere unter Bezugnahme auf Dietrich Schindler sen.).

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rechts am Eigentum beantworten wollen. Rechtsdogmatisch muss es deshalb darum gehen, zumindest einzelne Argumentationslinien aufzuzeigen, die einen Paradigmenwechsel zu begründen vermögen, um zugleich die zur Negation eines universellen Menschenrechts am Eigentum bisher vorgetragenen Gründe einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Der kleine Beitrag zu diesem Thema kann nicht mehr als eine Zwischenbemerkung in einem sehr viel umfassenderen und detailreicheren wissenschaftlichen Diskurs sein. Gewidmet ist er mit Klaus Stern einem hochverehrten Kollegen, der über seine staats- und verfassungsrechtlichen Arbeiten hinaus immer auch bestens mit den völkerrechtlichen Entwicklungen vertraut war und ist, und dessen besonderes Interesse gerade dem menschenrechtlichen Konstitutionalisierungsprozess der internationalen Ordnung gilt. II. „Eigentum“ als besondere Normkategorie Das Eigentumsrecht bildet bereits deshalb eine besondere Normkategorie, weil es in Entstehung und Fortbestand abhängig ist von der staatlichen Rechtsordnung. „Das Eigentum hat zwar im Sinne des Art. 1 Abs. 2 GG denselben menschenrechtlichen Rang wie andere Freiheitsrechte“, so hat das BVerfG7 über Art. 14 Abs. 1 GG hinaus in allgemeingültiger Weise formuliert, „aber es bleibt abhängig von einer bestehenden Rechtsordnung, die es ausgestaltet und gewährleistet.“ Die Aufgabe der Ausgestaltung des Eigentums fällt allein in den Kompetenzbereich der Staaten; das Völkerrecht enthält keine Vorgaben zu den Erwerbsund Übertragungstatbeständen des Eigentums.8 Dass sich das Völkerrecht aber auch mit der (Teil-)Gewährleistung des Eigentums schwertut, wenn es darum geht, Menschen (nicht nur Ausländer) vor einer Beeinträchtigung ihres Eigentums, sei es in Form einer klassischen (direkten) Enteignung oder einer indirekten Enteignung in Form von Nutzungsbeschränkungen etc., zu schützen, findet seinen Grund in der zentralen Bedeutung des Eigentums für die nationale Wirtschaftsordnung. Denn nur die Aufrechterhaltung ihrer Dispositionsbefugnis über die Eigentumsordnung sichert den Staaten den umfassenden Zugriff auf die Wirtschaftsordnung insgesamt.

7 BVerfGE 112, 1 (21) – Bodenreform III; vgl. auch BVerfGE 50, 290 (344), wo sich das BVerfG überzeugt zeigt von der „primären Bedeutung der Eigentumsgarantie als Menschenrecht“, um zugleich darauf hinzuweisen, dass „das Freiheitsrecht der Rechtseinrichtung Eigentum bedarf, damit der Einzelne am Aufbau und an der Gestaltung der Wirtschaftsordnung eigenverantwortlich, autonom und mit privatnütziger Zielsetzung mitwirken kann.“ 8 Gornig, Eigentum und Enteignung im Völkerrecht, in: ders. u. a. (Hrsg.), Eigentumsrecht und Enteignungsunrecht, Teil 1, 2008, S. 19 (25).

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Burkhard Schöbener 1. Nationale Dispositionsbefugnis über Eigentums- und Wirtschaftsordnung

Dass im Zusammenhang mit dem völkerrechtlichen Eigentumsschutz häufig der diesem eigentümliche „Pragmatismus“ 9 betont wird, kann nicht überraschen, ist dieser Pragmatismus doch nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass keine andere individualbezogene Rechtsgewährleistung im zwischenstaatlichen Bereich aufgrund der mit ihr verbundenen Vorgaben für die nationale und internationale Rechts- und Wirtschaftsordnung so von der jeweiligen politischen Großwetterlage abhängig ist wie das Eigentumsrecht. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang nur auf die kommunistische Machtübernahme in Russland 1917/18 und die Erweiterung des kommunistischen Wirtschafts- und Sozialsystems auf die Staaten Mittel- und Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg sowie an die mit der Dekolonisierung einhergegangenen Versuche, über die UN-Generalversammlung und UNCTAD das internationale Wirtschaftsrecht, und damit auch den völkerrechtlichen Schutz des Eigentums, einer fundamentalen Änderung zu unterziehen.10 Die staatliche Eigentumsverfassung steht – wie die gesamte Wirtschaftsordnung – aus der Sicht des Völkerrechts grundsätzlich zur Disposition des Inhabers der Gebietshoheit. Das damit einhergehende Recht eines Staates, auf seinem Territorium befindliches Eigentum zu enteignen bzw. zu nationalisieren, ist niemals in Zweifel gezogen worden. Vielmehr ging es durchweg um die Frage, unter welchen Voraussetzungen man von einer Enteignung sprechen kann, ob diese entschädigungspflichtig ist und – falls ja – in welcher Höhe. 2. Spezifische Eigentumsgewährleistungen und völkerrechtlicher Eigentumsbegriff

Die rechtsdogmatische und rechtspolitische Diskussion über ein etwaiges Menschenrecht am Eigentum mutet seltsam an. Denn das Völkerrecht kennt durchaus in seinen unterschiedlichen Regelungsbereichen spezifische Eigentumsgewährleistungen. Diese lassen sich zwar nicht ohne weiteres kraft Induktion zu einer menschenrechtlichen Eigentumsgarantie verdichten, doch geben sie zumindest normative Orientierungsmarken vor, die als wichtige Steine in einem „menschenrechtlichen Eigentumsmosaik“ relevant werden. Soweit es den Begriff „Eigentum“ anbelangt, ist dieser – außer in den regionalen Menschenrechtskonventionen (Art. 1 ZP EMRK, Art. 21 AMRK, Art. 14 AfrMK) – in einer Vielzahl von völkerrechtlichen Abkommen enthalten, z. B. im 9 Kämmerer, Der Schutz des Eigentums im Völkerrecht, Bitburger Gespräche 2004/I, S. 143; auch Ohler (Fn. 3), S. 875 (876), spricht von „den pragmatischen, auf spezifische wirtschaftliche Bedürfnisse zugeschnittenen Standards des Völkerrechts“. 10 Zur historischen Entwicklung des Eigentumsschutzes und des Enteignungsrechts vgl. Schöbener/Herbst/Perkams, Internationales Wirtschaftsrecht, 2010, Rn. 4/29 ff., insbesondere Rn. 4/31 ff. (Entwicklung unter dem Kommunismus) und Rn. 4/34 f. (Dekolonisierung); Kriebaum, Eigentumsschutz im Völkerrecht, 2008, S. 24 ff.

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Anwendungsbereich des Kriegsrechts11 in Art. 46 HLKO (Anlage zum IV. Haager Abkommen von 1907), der das „Privateigentum“ in Bezug nimmt, oder in Art. 31 Abs. 4 S. 1 WÜK12, der in der deutschen Übersetzung u. a. das „Vermögen der konsularischen Vertretung“ mit Immunität versieht, was in der authentischen englischen Fassung mit „property“ ausgedrückt wird.13 Bezeichnend für das Erkenntnisdilemma im internationalen Eigentums- und Enteignungsrecht ist die Antwort auf die Frage, ob es überhaupt einen eigenständigen völkerrechtlichen Eigentumsbegriff gibt. Dies wurde lange Zeit bestritten14; in den letzten Jahren setzt sich aber zunehmend die Erkenntnis durch, dass – unter Rückgriff auf die aus den nationalen Rechtsordnungen im Wege wertender Rechtsvergleichung gewonnenen Allgemeinen Rechtsgrundsätze (Art. 38 Abs. 1 lit. c) IGH-Statut) – das Völkerrecht durchaus eine eigenständige (weite) Definition des Eigentums kennt.15 Denn nur so kann es seiner Gewährleistungsfunktion gerecht werden, ohne sich in die definitorische Abhängigkeit von nationalen Rechtsordnungen zu begeben. Im Unterschied zu den sonstigen Allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die auf dem methodischen Weg der wertenden Rechtsvergleichung vornehmlich aus den nationalen Privatrechtsordnungen gewonnen werden, weil diese insoweit dem Charakter des Völkerrechts als Koordinationsordnung am ehesten entsprechen16, geht es bei Menschenrechten um subordinationsrechtliche Strukturen im Verhältnis des Menschen zur staatlichen, ggf. auch zur supranationalen Hoheitsgewalt. Rechtliche Bezugsordnung für die Erkenntnis der Allgemeinen Rechtsgrundsätze, hier: des Inhalts eines völkerrechtlichen Eigentumsbegriffs, ist deshalb das nationale Verfassungsrecht.17 Zum „Eigentum“ im Sinne des Völkerrechts gehören danach alle vermögenswerten Rechte Privater, die einen wirtschaftlichen Wert haben und veräußerungsfähig sind.18 Diese Definition gilt gleichermaßen für völkervertragsrechtliche wie völkergewohnheitsrechtliche Eigentumsgarantien, soweit der jeweilige Ver11 Außerdem beizieht sich Art. 23 S. 1 lit. g) HLKO auf „feindliches Eigentum“ und Art. 53 S. 3 HLKO auf „alles bewegliche Eigentum des [besetzten] Staates“. Zu diesen Vorschriften vgl. Dolzer, Eigentum, Enteignung und Entschädigung im geltenden Völkerrecht, 1985, S. 160. 12 Dazu Dolzer (Fn. 11), S. 160 f. 13 Weitere Beispiele bei Dolzer (Fn. 11), S. 75 ff. 14 Nachweise bei Dolzer (Fn. 11), S. 148 (mit Fn. 21), der es aber selbst unternimmt, einen eigenständigen völkerrechtlichen Eigentumsbegriff zu entwickeln. 15 Grundlegend Dolzer (Fn. 11), S. 149 ff., 171; vgl. zudem Schöbener/Herbst/Perkams (Fn. 10), Rn. 4/39 ff.; Kriebaum (Fn. 10), S. 43 f. 16 Vgl. Schöbener/Knauff, Allgemeine Staatslehre, 2009, § 7, Rn. 13 f., § 7, Rn. 20 ff. 17 Kriebaum (Fn. 10), S. 43 f., m.w. N.; Bleckmann, Zur originären Entstehung gewohnheitsrechtlicher Menschenrechtsnormen, in: Klein (Hrsg.), Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht, 2003, S. 29 (39). 18 Schöbener/Herbst/Perkams (Fn. 10), Rn. 4/42; Dolzer (Fn. 11), S. 167 ff.; Grabenwarter, in: Bonner Kommentar, Anhang zu Art. 14 GG (Europarecht), S. 3.

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trag nach Wortlaut oder Sinn und Zweck nicht ausnahmsweise eine Abweichung nahelegt.19 Sie enthält aber nur eine Klarstellung des Mindestinhalts im Hinblick auf den Schutz privatrechtlicher Vermögenspositionen; bei öffentlich-rechtlichen Ansprüchen ist es hingegen nicht möglich, im Wege wertender Rechtsvergleichung einen allgemein anerkannten sachlichen Schutzbereich zu ermitteln.20 III. Naturrecht und Völkerrecht – Legitimationszusammenhänge Im positivistisch geprägten modernen Völkerrecht ist nach verbreiteter Auffassung kein Raum mehr für naturrechtliche Normen. „Inzwischen führt das Naturrecht“, so hat Walter Leisner21 prägnant formuliert, „ein dogmatisches Schattendasein im rechtswissenschaftlichen Empyreum; die Menschenrechte haben ihren normativen Halt verloren“. Zutreffend ist diese Aussage ohne Zweifel, wenn man das Naturrecht als unmittelbar rechtlich verbindlichen Handlungs- und Kontrollmaßstab heranziehen möchte. Von einer solchen Legalitätsnorm zu unterscheiden ist eine Legitimationsnorm22, deren Funktion darin besteht, als materielle Rechtsquelle23 der Entstehung einer Legalitätsnorm, aber auch ihrer Auslegung und Anwendung, die notwendige ethische und rationale Rechtfertigung zu vermitteln24. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist, dass der Geltungsanspruch des gesamten Völkerrechts aus dem Konsens der Staaten erwächst, der Konsens also Grundvoraussetzung der völkerrechtlichen Rechtsgeltung ist25, unabhängig davon, aus welcher der in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut genannten drei Hauptrechtsquellen sich die konkrete Rechtsgeltung im Einzelfall ergibt26. Im Rahmen des Konsensprin19

Dolzer (Fn. 11), S. 171. Zur Rechtslage bei Art. 1 des ZP zur EMRK vgl. Grabenwarter (Fn. 18), S. 3 f. 21 Leisner, „Eigentum als Menschenrecht“ – weder nach deutschem noch nach Völkerrecht geschützt, GS für Blumenwitz, 2008, 195 (202); Hervorhebung im Original. Zur Verdrängung der Natur- und Vernunftrechtslehren durch den Positivismus vgl. auch Emmerich-Fritsche, Vom Völkerrecht zum Weltinnenrecht, 2007, S. 92; Kadelbach, Ethik des Völkerrechts unter Bedingungen der Globalisierung, ZaöRV 64 (2004), S. 1 (14 f.). 22 Zur Unterscheidung ethischer und soziologischer Legitimationstheorien zur Herrschaftsrechtfertigung vgl. Schöbener/Knauff (Fn. 16), § 4, Rn. 9 ff. Zumal die ethische und die rationale Legitimation lassen sich auch zur Rechtfertigung der Entstehung verbindlicher Rechtsnormen fruchtbar machen. 23 Zur Unterscheidung von formellen und materiellen Rechtsquellen: Bocek, Die völkerrechtlichen Wirkungen einseitiger Erklärungen der UN-Generalversammlung, 2011, S. 21 ff. 24 Ähnlich Kokott, Naturrecht und Positivismus im Völkerrecht – sind wir auf dem Weg zu einer Weltverfassung?, in: Meier-Schatz/Schweizer (Hrsg.), Recht und Internationalisierung, 2000, S. 3 (7 f.), zur Integration überpositiver Werte in die positive Völkerrechtsordnung. 25 Dazu ausführlich Bocek (Fn. 23), S. 85 ff.; außerdem Ipsen, in: ders., Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, § 1, Rn. 42 ff.; Schöbener/Knauff (Fn. 16), § 7, Rn. 21; Emmerich-Fritsche, Weltinnenrecht (Fn. 21), S. 91, 101 ff.; differenzierend Herdegen, Völkerrecht, 8. Aufl., 2009, § 3, Rn. 4 ff. 20

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zips ist aber auch das positive Völkerrecht durchaus offen für überpositive, vernunftrechtliche Einflüsse, z. B. bei der Bewertung der Staatenpraxis (Gewohnheitsrecht) und der innerstaatlichen Rechtsprinzipien (Allgemeine Rechtsgrundsätze), aber auch für die inhaltliche Rechtfertigung einer Legalitätsnorm unter Rückgriff auf naturrechtliche Grundsätze. Hier offenbaren sich deshalb auch die für das Völkerrecht insgesamt und vor allem für die Entstehung menschenrechtlicher Normen bedeutsamen Schnittbereiche zu natur-, insbesondere vernunftrechtlichen Überlegungen.27 Auch das Völkerrecht hat gewisse natürliche und soziale Zusammenhänge zu konstatieren, d.h. zwingende inhaltliche Maßgaben, die sich aus der „Natur der Sache“ 28 – und soweit es die Begründung von Menschenrechten betrifft: aus der „Natur des Menschen“ 29 – sowie der Ordnungsfunktion des Völkerrechts im Hinblick auf seine inhaltliche Widerspruchsfreiheit und rechtliche Konsequenz ergeben. Schon in der Verwendung des Begriffs „universelle Menschenrechte“ schwingt die Vorstellung der vorstaatlichen Begründung und Gewährleistung immer mit, die unabhängig ist von inner- oder zwischenstaatlicher Rechtsetzung.30 Überzeugend hat Klaus Stern31 diesen Zusammenhang auf den Punkt gebracht: „Der ,Grund‘ der Menschenrechte ist [. . .] kein positiv-rechtlicher, kein staatsgesetzlicher, er ist überpositiv. [. . .] Um den Grund zu erklären, bedarf es mithin anthropologischer, theologischer, philosophischer, historischer und naturrechtlicher Deutungen. Sowohl das christliche als auch das säkulare Naturrecht haben diese Rechte bejaht, nicht anders das Vernunftrecht. Welche Begründung auch immer man wählt, die Existenz dieser Rechte beruht auf vorstaatlichen Gegebenheiten. [. . .] Ihrer Herkunft aus der Natur des Menschen entspricht, dass sie nicht positiviert sein müssen, dass sie zeitlich und räumlich nicht begrenzt sind. Sie sind ewige Rechte.“

Heute kann es allerdings nicht darum gehen, auf das oder auf ein Naturrecht32 als völkerrechtliche Rechtsquelle im formellen Sinn zurückzugreifen; zu unter26 Zu den konkreten Ausprägungen des Konsensprinzips bei den drei (formellen) Hauptrechtsquellen s. Bocek (Fn. 23), 2011, S. 90 f. 27 Vgl. dazu Gornig, Menschenrechte und Naturrecht, GS für Blumenwitz, 2008, S. 409 ff. 28 Zur Zuordnung des Arguments aus der „Natur der Sache“ sowie der Eigentumsordnung bei Thomas von Aquin vgl. Breuer, Recht und Moral – Eine Auseinandersetzung zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus, FS für Listl, 1999, S. 935 (963 f.). 29 Vgl. nur Utz, Die Grundpositionen der Naturrechtstheorien, ARSP 83 (1997), S. 307: „Jegliche Rechtsordnung muss sich rechtfertigen können. Und wo anders sollte man diese Rechtfertigung finden als in der Natur des Menschen?“ 30 Vgl nur Emmerich-Fritsche (Fn. 21), S. 459 ff., S. 462 ff. (insb. S. 478 f.), S. 479 ff., S. 490 ff. (Beschränkung der vorstaatlichen Gewährleistung auf den menschenrechtlichen Menschenwürdegehalt), jeweils m.w. N.; zum Zusammenhang von Konsensprinzip und Legitimation der Menschenrechte ebd., S. 474. 31 Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, § 62 (S. 221). 32 Über die Jahrhunderte hat sich eine unüberschaubare Vielzahl an Naturrechtsverständnissen entwickelt, die nicht zuletzt aus einer notwendigen Zeitbedingtheit heraus

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schiedlich sind die geistesgeschichtlichen Wurzeln des Naturrechts33, zu sehr prägt der Positivismus auch die völkerrechtliche Methodik. Gleichwohl kann der naturrechtliche Rekurs Begründungsmuster aufzeigen, die nicht nur ein (völker-) rechtshistorisches Interesse zufriedenstellen, sondern mit einer gewissen zeitunabhängigen Transzendenz versehen sind. Während der Rekurs auf das Naturrecht als einer präpositiven Ordnung im 17. und 18. Jahrhundert noch vor allem Legitimations- und Komplementärfunktion hatte, bestand seine Aufgabe im 19. Jahrhundert dann im Wesentlichen noch in der Funktion einer Anleitung zu einer gerechten und zweckmäßigen Gesetzgebung.34 Auch das Völkerrecht hat diesen Wandel mit dem Übergang zum 19. Jahrhundert erfahren.35 Im 17. und 18. Jahrhundert war dies noch anders; Grundsätze des Naturrechts wurden nicht selten herangezogen, um die Geltung (auch) eines Rechtssatzes des Völkerrechts zu begründen.36 Zu nennen sind als namhafte Vertreter im Übergang zu einem säkularisierten, aus der Vernunft des Menschen entwickelten und erkannten Naturrechts insbesondere der spanische Scholastiker Francisco Suárez (1548–1617) und der niederländische Protestant Hugo Grotius (1583–1645). Zumal in der Schule von Salamanca, zu der auch Suárez gehörte, wurden die natürlichen Freiheiten des Menschen akzentuiert, zu denen – neben der Religionsfreiheit, dem Recht auf Leben und sonstigen Freiheiten – das Eigentumsrecht zählte. Auch der Eingriff in das Eigentumsrecht aus Gründen des Gemeinwohls und gegen eine Entschädigung wurde hier bereits anerkannt.37 John Lockes (1632–1704) klassischer Formel von „Leben, Freiheit und Eigentum“ 38 liegt – in Anlehnung an das lateinische „properietas“ – ein über unser sehr unterschiedliche Grundlagen und Inhalte aufweisen; vgl. dazu nur Utz (Fn. 29), ARSP 83 (1997), 307 ff.; Schöbener/Knauff (Fn. 16), § 5, Rn. 114 ff. Zur Unterscheidung zwischen dem (einen) Naturrecht und verschiedenen Naturrechtslehren, die sich mit verschiedenen Betrachtungsweisen der Ermittlung des Naturrechtsinhalts befassen, vgl. Breuer (Fn. 28), S. 935 (mit Fn. 1). 33 Dazu Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Merten/Papier, HGR I, 2004, § 1, Rn. 4 ff., 13. 34 Vgl. Klippe, Das 19. Jahrhundert als Zeitalter des Naturrechts, in: ders. (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert. Kontinuität – Inhalt – Funktion – Wirkung, 1997, S. VII (XI, XIV); Schröder, „Naturrecht bricht positives Recht“ in der Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts, FS für Mikat, 1989, S. 419 (429 f.). 35 Dazu Steiger, Völkerrecht und Naturrecht zwischen Christian Wolff und Adolf Lasson, in: Klippe (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1997, S. 45 ff. 36 Vgl. nur Scheuner, Internationale Verträge als Elemente der Bildung von völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht, FS für F. A. Mann, 1977, S. 409. Unter naturrechtlichem Einfluss setzte z. B. das Gewohnheitsrecht noch keine Überzeugung von der rechtlichen Gebotenheit des Handelns voraus, sondern stellte auf dessen Rationalität ab, ebd., S. 413 (mit Verweis auf Guggenheim). 37 Vgl. Köck, Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten, 1987, S. 59 f. 38 Locke, Two Treatises of Government (hrsg. von P. Laslett), 2. Aufl., 1967, Zweites Buch, Sect. 6: „The State of Nature has a Law of Nature to govern it, which obliges

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heutiges Verständnis hinausgehender property-Begriff zugrunde, der „die Gesamtheit der Freiheitsrechte einer Person“ 39 umfasst. In der Begründung eines naturrechtlichen „Rechts auf Eigentum“ war Locke der herausragende und wirkmächtigste Vertreter der sog. Arbeitstheorie, die in einem weiten Sinn verstanden auch die Aneignung von Gegenständen erfasste, während etwa Hugo Grotius die sog. Okkupationstheorie verfocht.40 Seine rechtspraktische – bzw. rechtspositivistische – Umsetzung erfuhr das Gedankengut des John Locke dann in der nordamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung.41 Als erstes Rechtsdokument proklamierte die Bill of Rights von Virginia (12. Juni 1776) bereits in ihrer Eingangsbestimmung: „That all men are by nature equally free and independent, and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot, by any compact, deprive or divest their posterity; namely, the enjoyment of life and liberty, with the means of acquiring and possessing property, and pursuing and obtaining happiness and safety.“

Die Menschenrechtserklärung war „der bis dahin reinste und konzentrierteste Ausdruck der Rechte des Menschen und Bürgers, unabhängig von den historischkonkreten Rechts- und Verfassungsverständnissen des jeweiligen Landes.“ 42 Die bereits kurze Zeit danach (4. Juli 1776) verlautbarte amerikanische Unabhängigkeitserklärung verzichtete zwar auf eine unmittelbare Bezugnahme naturrechtlicher Lehren („angeborene Rechte“); die von ihr als keines Beweises bedürftig behaupteten „Wahrheiten“ („We hold these truths to be self-evident . . .“) können aber angesichts des historischen Hintergrundes der Unabhängigkeitserklärung ebenfalls nur in einem naturrechtlichen Sinn verstanden werden. Nichts anderes gilt für die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (26. August 1789), die in Art. 17 das Eigentum ausdrücklich als „unverletzliches und geheiligtes Recht“ bezeichnete, das deswegen „niemandem genommen werden [kann], es sei denn, dass die gesetzlich festgestellte öffentliche Notwendigkeit dies eindeutig erfordert und vorher eine gerechte Entschädigung festgelegt wird.“ Schon

every one: And Reason, which is that Law, teaches all Mankind, who will but consult it, that being all equal and independent, no one ought to harm another in his Life, Health, Liberty, or Possessions.“ s. dazu auch Stern (Fn. 33), § 1, Rn. 19. 39 Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987, S. 82, m.w. N. 40 Zu den beiden Theorien und ihren Vertretern sowie zur Rezeption in Deutschland vgl. die differenzierte Darstellung von Ulmschneider, Eigentum und Naturrecht im Deutschland des beginnenden 19. Jahrhunderts, 2003, S. 40 ff. Kritisch zur – bislang üblichen – Zuordnung Lockes zur Arbeitstheorie: Hecker, Eigentum als Sachherrschaft, 1990, S. 165 ff. 41 Vgl. dazu Grimm, Europäisches Naturrecht und amerikanische Revolution – Die Verwandlung politischer Philosophie in politische Techne, in: ius commune (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte), Bd. III, 1970, S. 129 ff.; Überblick bei Schöbener/Knauff (Fn. 16), § 5, Rn. 134 ff. 42 Reibstein, Volkssouveränität und Freiheitsrechte, Bd. II, 1972, S. 326.

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aus dem Wortlaut ihrer Präambel („natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen“) und des Art. 1 Satz 1 („Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“) wird ihr naturrechtlicher Ursprung ersichtlich. Im Unterschied zu den nordamerikanischen Rechteerklärungen war die französische Deklaration zwar rechtlich unverbindlich und funktional anders ausgerichtet43; wie die amerikanischen Rechterklärungen, bei denen es „um die Verankerung von Rechten jedes Menschen gegen jede Staatsgewalt“ 44 ging, war aber auch die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte auf universelle Geltung angelegt45. IV. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Wendet man sich dem Naturrecht im Hinblick auf die dort zu findende Begründung eines Menschenrechts am Eigentum nicht nur unter rechtshistorischen Gesichtspunkten46 zu, sondern auch unter dem Aspekt aktueller Legitimationskriterien, dann ist zunächst zu fragen, ob das positivistisch geprägte Völkerrecht überhaupt noch zur Rezeption naturrechtlichen Gedankenguts als materielle Rechtsquelle und Legitimationsnorm bereit und fähig ist. 1. Zwischen naturrechtlicher Vergewisserung und positivrechtlicher Ausgestaltung

Dies wird man gerade im Bereich der bedeutsamsten universellen Menschenrechtsgarantien annehmen können, sind diese doch „größtenteils keine originären Neuschöpfungen des Völkerrechts, sondern Ergebnis lang andauernder, weltweiter Produktions- und Rezeptionsprozesse“ 47. Die naturrechtlichen Hintergründe bilden somit eine wesentliche materielle Rechtsquelle heutiger Menschenrechtsgarantien. Und die Präambel der von der UN-Generalversammlung am 10. Dezember 1948 mit 48 Ja-Stimmen (bei acht Enthaltungen) verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR)48 spricht bereits in ihrem Einlei43 Vgl. dazu Schöbener/Knauff (Fn. 16), § 5, Rn. 137 ff., 142; Gornig (Fn. 27), S. 409 (410 f.). 44 So Stern, Zur Universalität der Menschenrechte, FS für Zacher, 1998, 1063 (1065). Obwohl nicht mit rechtlicher Verbindlichkeit ausgestattet, „dachte“ auch die französische Deklaration, „wie schon der Titel sagt, universell, aber nicht in juristisch verstandenen Rechten, sondern in evidenten ,Wahrheiten‘ für die ganze Welt“ (ebd.). 45 Stern (Fn. 33), § 1, Rn. 81. 46 Dazu Utz, Die Grundpositionen der Naturrechtstheorien, ARSP 83 (1997), 307 ff., unter Bezugnahme u. a. auf das Eigentumsrecht begründende Naturrechtstheorien. 47 Kotzur, Zur originären Entstehung gewohnheitsrechtlicher Menschenrechtsnormen – Kommentar, in: Klein (Hrsg.), Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht, 2003, S. 57.

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tungssatz in einem naturrechtlichen Sinn von der „angeborenen Würde“ und den „gleichen und unveräußerlichen Rechten aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“, deren Anerkennung „die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet.“ Neben diese naturrechtliche Reminiszens tritt ihr politisch-programmatischer Charakter. Der Hinweis auf das „zu erreichende gemeinsame Ideal“ ist dem Positivismus geschuldet und drückt die Einsicht in die Realität moderner völkerrechtlicher Normentstehung aus. Die AEMR ist deshalb schon in ihrem Präambeltext ein Sinnbild moderner, universeller Menschenrechtsentwicklung, die auf dem „Grundgedanken“ beruht, so hat es Klaus Stern49 einmal auf den Punkt gebracht, „dass die Menschenrechte unmittelbar aus der Natur des Menschen folgen und unabhängig von jeder Positivierung durch eine staatliche Rechtsordnung bestehen. Sie sind der Idee nach ,überpositiv‘, sollen aber um ihrer rechtlichen Verfestigung und Bestimmtheit willen normativ festgelegt werden.“ Bedeutsam ist die AEMR in unserem Kontext wegen Art. 17, der explizit eine menschenrechtliche Gewährleistung des Eigentums normiert. 2. Wirkgeschichte der AEMR in den Menschenrechtspakten

Schon wenige Jahre nach Verabschiedung der AEMR trat die (Europäische) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) in Kraft (1953), welche die generelle politische Vorlage der UN-Generalversammlung aufgenommen hat und in ihren Erwägungsgründen die Entschlossenheit bekräftigt, „die ersten Schritte auf dem Wege zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung [der Menschenrechte] aufgeführter Rechte zu unternehmen“. Auch die sehr viel später (1978) in Kraft getretene Amerikanische Menschenrechtskonvention (American Convention on Human Rights)50 nimmt die AEMR mit hehren Worten in Bezug, indem sie in der Präambel betont, „that, in accordance with the Universal Declaration of Human Rights, the ideal of free men enjoying freedom from fear and want can be achieved only if conditions are created whereby everyone may enjoy his economic, social, and cultural rights, as well as his civil and political rights“. Die „Wirkgeschichte“ 51 der AEMR ließe sich um ein Vielfaches erweitern; genannt seien 48 Erwähnt sei zudem Art. 51 UN-Charta, der das individuelle und kollektive Recht der Staaten zur Selbstverteidigung ausdrücklich als „naturgegebenes Recht“ bezeichnet. 49 Stern (Fn. 44), 1063 (1065). Ähnlich Kotzur (Fn. 47), S. 57 (62 f.). 50 Vorausgegangen war im April 1948 eine Amerikanische Menschenrechtserklärung (American Declaration of the Rights and Duties of Man), die in Art. XXIII ebenfalls eine Eigentumsgarantie enthielt, die aber allein einen an der Menschenwürde ausgerichteten angemessenen Mindeststandard in ihren Schutzbereich einbezog. 51 Vgl. die umfassenden Nachweise zur Wirkgeschichte der AEMR bei Nettesheim, Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und ihre Rechtsnatur, in: Merten/Papier, HGR VI/2, 2009, § 173, Rn. 24 ff., dort insbesondere zum Niederschlag der AEMR in internationalen Abkommen (Rn. 25 f.), in den Entscheidungen des IGH (Rn. 27 f.) und nationaler Gerichte (Rn. 29 ff.) sowie ihre Rezeption in nationalen Verfassungen

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hier nur die Bezugnahmen in den Präambeln der beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966, nämlich des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) sowie des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR). Beide Pakte traten 1976 in Kraft, enthalten aber keine Eigentumsgewährleistung.52 Anders ist dies bei den menschenrechtlichen Regionalpakten. Zwar konnte man sich bei der Abfassung der EMRK noch nicht auf eine Regelung der Eigentumsgarantie einigen, doch wurde schon kurz nach Inkrafttreten der EMRK das Erste Zusatzprotokoll ausgearbeitet, dessen Art. 1 diese Schutzlücke 1954 geschlossen hat. Und auch die AMRK enthält mit Art. 21 und die afrikanische Banjoul-Charta in Art. 14 entsprechende – wenngleich im Wortlaut nicht unwesentlich voneinander abweichende – Verbürgungen. 3. Völkerrechtliche Bindungswirkung der AEMR

Hätte die AEMR als solche völkerrechtliche Bindungswirkung, dann wäre davon auch ihr das Eigentumsrecht regelnder Art. 17 erfasst. Das Meinungsspektrum zum Rechtscharakter der AEMR ist denkbar weit und reicht von einem Plädoyer für ihre unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit – teilweise sogar mit der Annahme eines ius cogens-Charakters – bis zur Leugnung jeglicher (auch mittelbarer) rechtlicher Relevanz.53 Nach Auffassung von Klaus Stern hat die AEMR „in den wesentlichen Bestandteilen den Charakter eines allgemeinen Völkerrechtssatzes erlangt“ 54; sie ist, „soweit es sich um den völkerrechtlichen Mindeststandard handelt, Bestandteil des verbindlichen völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts“ geworden55. In der Tat lässt sich eine am Rechtscharakter der Erklärung56 anknüpfende, jedwede völkerrechtliche Verbindlichkeit abstreitende Position heute nicht mehr halten. Zu sehr hat in den letzten sechs Jahrzehnten nicht nur das regionale, sondern auch das universelle Völkerrecht eine menschen-

(Rn. 32 ff.). Zur Bezugnahme auf den vorstaatlichen Charakter der Menschenrechte in den universellen und regionalen Menschenrechtspakten s. Gornig (Fn. 27), S. 409 (412). 52 Zu Entstehung und Inhalt der beiden UN-Menschenrechtspakte s. Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, § 62 (S. 261 ff.). 53 Vgl. den Meinungsüberblick bei Graf Vitzthum/Hailbronner, Völkerrecht, 4. Aufl., 2007, 3. Abschn., Rn. 223, m.w. N.; Bausback, 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte – Politisches Dokument mit rechtsgestaltender Wirkung?, BayVBl. 1999, 705 (706); ausführlich Nettesheim (Fn. 51), § 173, Rn. 38 ff. 54 Stern (Fn. 5), § 185, Rn. 12; Stern (Fn. 44), 1063 (1068); vgl. auch dens., Staatsrecht III/1, 1988, § 62 (S. 257). 55 Stern (Fn. 33), § 1, Rn. 82. 56 Vgl. generell zum Rechtscharakter von Empfehlungen der UN-Generalversammlung und ihrem Einfluss auf die drei Hauptrechtsquellen: Schöbener/Herbst/Perkams (Fn. 10), Rn. 2/39 ff.

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rechtliche Weiterentwicklung und Prägung erfahren, die auch und gerade als völkerrechtliche Erfüllung des in der AEMR gegebenen Versprechens zu verstehen ist.57 Neben den völkervertragsrechtlichen Konkretisierungen, z. B. in den beiden UN-Menschenrechtspakten, stehen als formelle Rechtsquellen auch das Völkergewohnheitsrecht und die Allgemeinen Rechtsgrundsätze zur Verfügung.58 4. Eigentumsgrundrecht als existentes Recht

Seit ihrer Proklamation stand die AEMR immer wieder im Zentrum wissenschaftlicher Überlegungen, inwieweit sich aus ihr – unabhängig von ihrer fehlenden vertraglichen Bindungswirkung – völkerrechtliche Maßgaben ableiten lassen zur Begründung menschenrechtlicher Gewährleistungen, die in den beiden UNMenschenrechtspakten nicht enthalten sind. Dabei kann es nicht um eine generelle Antwort gehen; vielmehr kommt es auf Inhalt und Funktion der jeweiligen Menschenrechtsnorm an59, vorliegend auf die in Art. 17 explizit enthaltene Regelung der Eigentumsgarantie: (1) Jeder hat das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft mit anderen Eigentum innezuhaben. (2) Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden.

Rudolf Dolzer60 hat nach eingehender Analyse der Genese des Eigentumsartikels klar formuliert, „dass kein Hinweis dafür vorliegt, dass mit Art. 17 die Grundlage für eine künftige Rechtsentwicklung geschaffen werden sollte; vielmehr sprechen die Diskussionen dafür, dass Art. 17 als Ausdruck des damals schon geltenden Rechts angesehen wurde. Gerade auch die Haltung der kommunistischen Staaten während der vorbereitenden Diskussionen stützt diese Auffassung.“ Die kommunistischen Staaten, voran die Sowjetunion, hatten in den Debatten die Aufnahme des Eigentumsrechts in den Menschenrechtskatalog niemals in Frage gestellt. Ihr Bestreben ging allein dahin, die völkerrechtliche Gewährleistung durch Anknüpfung an das nationale Recht zu domestizieren. Diesem Zweck sollte insbesondere ein Passus dienen, wonach das Eigentumsrecht „in 57 Die AEMR hat, so Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 1988, § 62 (S. 258), „eine gewaltige moralische, politische und rechtliche Außenwirkung für die völkerrechtliche (und nationale) Entwicklung der Menschenrechte gebracht, auch wenn ein weltweiter Durchbruch (noch) nicht erzielt worden ist.“ 58 Vgl. dazu Nettesheim (Fn. 51), § 173, Rn. 52, 54, m.w. N.; Bausback (Fn. 53), 705 f. Skeptisch zur Herleitung von Menschenrechten aus Allgemeinen Rechtsgrundsätzen: Bocek (Fn. 23), S. 122 f. 59 Ebenso Nettesheim (Fn. 51), § 173, Rn. 53, der dafür plädiert, von Fall zu Fall zu unterscheiden, „welche der in der Erklärung genannten Rechte und Freiheiten Teil des Völkerrechts sind.“ 60 Dolzer (Fn. 11), S. 79; zustimmend Kempen, Eigentum: ein universelles Menschenrecht?, WiVerw 2009, 19 (22), der die Frage nach einer völkergewohnheitsrechtlichen Geltung des Art. 17 AEMR aber offen lässt.

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Übereinstimmung mit den Gesetzen des Landes, in dem sich das Eigentum befindet“, zu bestimmen sei; außerdem sollte der für die völkerrechtliche Rechtswidrigkeit des Eigentumsentzugs maßgebliche Begriff „willkürlich“ durch die Hinzufügung „das heißt illegal“ offensichtlich ebenfalls eine nationale Konnotation erfahren. Beide Initiativen fanden allerdings nicht die erforderliche Mehrheit. Lediglich bei der Frage der Grundrechtsträgerschaft erreichten die kommunistischen Staaten das Zugeständnis, dass nicht nur jeder einzelne für sich („everyone . . . alone“), sondern „auch in Gemeinschaft mit anderen“ („in association with others“) Eigentümer sein könne.61 Bemerkenswert ist die einheitliche Einschätzung der grundsätzlichen Existenz eines Menschenrechts am Eigentum vor allem deshalb, weil bis zur Gründung der Vereinten Nationen menschenrechtliche Gewährleistungen dem Völkervertragsrecht kaum angehörten. Vereinzelte Abkommen zum Verbot des Sklavenhandels oder zur Unterbindung des Frauenhandels waren zwar schon in Kraft, doch bestand ihr zentraler Zweck vornehmlich in der Sicherung bestimmter Wirtschaftsinteressen oder im Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, nicht hingegen im Schutz der Menschen um ihrer selbst willen.62 Auch ein menschenrechtlich begründeter Eigentumsschutz hatte im Laufe des 19. Jahrhunderts im Völkervertragsrecht keinen Widerhall gefunden. Anders war dies allerdings im völkerrechtlichen Teilbereich des Fremdenrechts, der neben Regelungen in Treaties of Friendship, Commerce and Navigation zum Gegenstand des Völkergewohnheitsrechts geworden war.63 V. Fremden- und Investitionsrecht Der bis heute fest etablierte völkergewohnheitsrechtliche Schutz des Eigentums fremder Staatsangehöriger (Fremdenrecht)64 garantiert einen internationalen Mindeststandard. Da dieser Standard jedoch teilweise materiell-rechtliche Unsicherheiten aufweist und für den Fremden in Ermangelung einer von ihm selbst durchsetzbaren (subjektiven) Rechtsposition verfahrensrechtliche Defizite offenbart, haben die Staaten in zunehmendem Maße völkerrechtliche Abkommen geschlossen, allerdings beschränkt auf den Schutz ausländischer Investitionen.65 Den größten Verbreitungsgrad haben bilaterale Vereinbarungen zum Schutz von

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Dolzer (Fn. 11), S. 77 f. Vgl. Schöbener/Knauff (Fn. 16), § 7, Rn. 48. 63 Schöbener/Herbst/Perkams (Fn. 10), Rn. 1/27, 1/159, 4/24. 64 Zur historischen Entwicklung s. Perkams, Internationale Investitionsschutzabkommen im Spannungsfeld zwischen effektivem Investitionsschutz und staatlichem Gemeinwohl, 2011, S. 47 ff., m.w. N. 65 Dazu Schöbener, Der Rechtsrahmen des Internationalen Investitionsrechts: ein Überblick zu den bilateralen Investitionsschutzabkommen, WiVerw 2009, S. 3 (6 f.). 62

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Investitionen, die allerdings den Begriff „investment“ (dt.: Kapitalanlage) verwenden, selbst dann wenn es um die „Enteignung“ 66 geht. 1. Unterschiedliche Zwecksetzungen beider Bereiche?

Freilich wird das Fremdenrecht auf den ersten Blick von einer gänzlich anderen Intention getragen als menschenrechtliche Verbürgungen: Der für Ausländer gewohnheitsrechtlich gewährleistete Mindeststandard stellt einen Ausgleich dar zwischen der Gebietshoheit des Aufenthaltsstaates und der Personalhoheit des Heimatstaates des Betroffenen. Soweit von diesem Mindeststandard auch das Eigentum des Fremden erfasst wird, wurde dies ursprünglich damit begründet, dass das Eigentum des Fremden völkerrechtlich als Eigentum des Heimatstaates zu qualifizieren und deshalb dem Zugriff des Aufenthaltsstaates entzogen sei.67 Später ging man nicht mehr von einem vollkommenen Verbot der Eigentumsentziehung aus, die man aufgrund der Gebietshoheit des Aufenthaltsstaates für grundsätzlich zulässig erachtete, sondern knüpfte diese Maßnahme an bestimmte Voraussetzungen, insbesondere die Notwendigkeit der vermögensmäßigen Kompensation für den durch die Enteignung erlittenen Wertverlust. Jedenfalls für Friedenszeiten wurden diese fremdenrechtlichen Regeln so allgemein akzeptiert, dass die Staaten keine Notwendigkeit sahen für völkervertragliche Normierungen.68 Für Letztere bestand nur dann ein Bedürfnis, wenn es um die Behandlung ausländischer Vermögenswerte in Kriegszeiten ging.69 Dies entspricht auch der Zwecksetzung des Art. 46 Abs. 2 HLKO („Das Privateigentum darf nicht entzogen werden.“). Die Norm ist zwar in ihrem sachlichen Anwendungsbereich auf die Ausübung militärischer Gewalt auf besetztem feindlichem Gebiet (occupatio bellica) beschränkt. Gleichwohl verdeutlicht sie, dass die Teilnehmerstaaten der beiden Haager Konferenzen (1899 und 1907) ein Regelungsbedürfnis nur für den Kriegsfall sahen.70 Offensichtlich ging man für das Friedensvölkerrecht davon aus, dass sich insoweit ein völkergewohnheitsrechtlich gesicherter Eigentumsschutz bereits zur Jahrhundertwende verfestigt hatte.71 66 Vgl. Art. 4 des aktuellen deutschen Mustervertrages über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen, der überschrieben ist mit „Entschädigung bei Enteignung“ (compensation in case of expropriation), den Begriff „Enteignung“ aber nicht auf „Eigentum“ bezieht, sondern auf eine „Kapitalanlage“. 67 Dolzer (Fn. 11), S. 15, m.w. N. zu de Vattel, Wolff, Grotius. 68 Perkams (Fn. 64), S. 48. 69 Bindschedler, Verstaatlichungsmaßnahmen und Entschädigungspflicht nach Völkerrecht, 1950, S. 23. 70 Bis ins 19. Jahrhundert hinein war das in feindlichem Gebiet vorgefundene Feindvermögen als res nullius ohne jegliche Beschränkung dem Zugriff der Besatzungsmacht ausgesetzt; vgl. Uhler, Besetzung, kriegerische, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl., 1960, Sp. 195 (197); Honig, Beuterecht im Landkrieg, ebd., Sp. 198 (199). 71 Vgl. Dolzer (Fn. 11), S. 18.

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Bedenken gegen eine Einbeziehung des fremdenrechtlichen Mindeststandards und des Investitionsvölkerrechts in die Überlegungen zu einer menschenrechtlichen Garantie des Eigentums resultieren keineswegs zwingend aus der – auf den ersten Blick – unterschiedlichen Zwecksetzung beider Regelungsbereiche. So steht im Mittelpunkt menschenrechtlicher Gewährleistungen zweifellos das menschliche Individuum selbst, während im Investitionsrecht die wirtschaftliche Entwicklung im Gaststaat Priorität genießt.72 Doch belegt bereits der Titel des deutschen Mustervertrages – Mustervertrag über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Auslandsinvestitionen –, dass auch der individuelle Schutzaspekt dieser Verträge, der sich u. a. ausdrückt in den Enteignungsklauseln sowie in den Geboten der Inländergleichbehandlung und der Meistbegünstigung, nicht gering zu achten ist. Das Bezwecken von Individualschutz führt allerdings noch nicht zwangsläufig zur Annahme einer menschenrechtlichen Gewährleistung. Regelungskontext und inhaltliche Ausgestaltung von Inländergleichbehandlung und Meistbegünstigung als besondere Diskriminierungsverbote zugunsten fremder Investoren belegen vielmehr den spezifisch fremdenrechtlichen Grundansatz. Dasselbe gilt für die Enteignungs- und Entschädigungsregelungen in Investitionsschutzabkommen, die – wie auch im völkergewohnheitsrechtlich gesicherten universellen Fremdenrecht – nur ausländischen Staatsangehörigen zugutekommen. Bei genauerem Hinsehen nähern sich die Zwecksetzungen beider Bereiche jedoch deutlich einander an, ja überlagern sich. Denn die Präambel der AEMR stellt die Menschenrechte in einen übergeordneten Zusammenhang, indem sie gleich in ihrem ersten Satz hervorhebt, „die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte“ bildeten „die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“. Und Art. 55 lit. c) UNCharta begründet einen vergleichbaren „Friedenskonnex“ 73, indem er einen unmittelbaren Zusammenhang herstellt zwischen dem Weltfrieden und dem Wohlfahrtsstandard, deren gemeinsame Grundlage u. a. „die allgemeine Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle“ ist. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Zum einen besteht sowohl für die Menschenrechte als auch für das Investitionsrecht eine bedeutsame Gemeinsamkeit darin, dass sie einen wesentlichen Beitrag zur universellen ökonomischen Entwicklung unter Wohlfahrtsgesichtspunkten leisten und damit der Stabilisierung des Weltfriedens dienen sollen.74 Zum anderen drängt sich der Gedanke auf, dass ein universeller Wohlfahrtsstandard, wie er in dieser menschenrechtlichen Friedenskonzeption enthalten ist, ohne die – auch internationale – Gewährleistung von Eigentumsrechten nicht zu verwirklichen ist. Universeller Eigentumsschutz bildet

72 Kriebaum (Fn. 10), S. 175. Zu den Präambeln einzelner Muster-BIT vgl. Schöbener/Herbst/Perkams (Fn. 10), Rn. 4/128 ff. 73 Schöbener/Herbst/Perkams (Fn. 10), Rn. 2/5. 74 Ähnlich Perkams (Fn. 64), S. 308.

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damit die notwendige Konsequenz der wohlfahrtsorientierten menschenrechtlichen Friedenskonzeption. 2. Sachliche Überschneidungen der fremden- und menschenrechtlichen Mindeststandards

Zudem lässt sich nicht leugnen, dass der Kern fremdenrechtlicher Gewährleistungen – der sog. fremdenrechtliche Mindeststandard – heute auch als menschenrechtlicher Mindeststandard akzeptiert ist75 – überdies nach verbreiteter Ansicht noch versehen mit den Attributen von ius cogens mit erga omnes-Wirkung76. Zu diesem fremden- und menschenrechtlich identischen Kernbestand gehören u. a. das Recht auf Rechtsfähigkeit (Rechtssubjektivität) (Art. 6 AEMR), das Sklaverei- und Folterverbot (Art. 4, Art. 5 AEMR) und der Schutz vor willkürlicher Verhaftung (Art. 9 AEMR).77 Vor diesem Hintergrund wäre es nur konsequent, auch die Eigentumsgarantie dem universell geltenden menschenrechtlichen Mindeststandard zu unterstellen78. Ganz überwiegend wird hingegen der Eigentumsschutz allein dem fremdenrechtlichen Mindeststandard vorbehalten und die naheliegende Überführung in den Bereich des universellen Menschenrechtsschutzes nach wie vor abgelehnt.79 Als Grund für die völkergewohnheitsrechtliche Privilegierung von Ausländern gegenüber eigenen Staatsangehörigen im Falle von Enteignungen wird angeführt, dass die Fremden von der Willensbildung des enteignenden Staates ausgeschlossen seien und auch nicht zur staatlichen „Schicksalsgemeinschaft“ gehörten, „der die Vorteile einer wirtschaftlichen Neuordnung mit Enteignungen ebenso zuzurechnen sind wie die damit verbundenen Risiken“ 80. Da der Ausländer der fremden Gebietshoheit unterstehe, ohne auf deren Ausübung politischen Einfluss nehmen zu können, bedürfe er eines besonderen Schutzes.81 Diese Argumentation ist schon deshalb nicht tragfähig, weil sie unter dem Aspekt der „Willensbildung“ einen demokratisch verfassten Staat im Blick hat, also einen Staatstypus, wie er 75 Vgl. nur Stein/von Buttlar, Völkerrecht, 12. Aufl., 2009, Rn. 581, „dass eine Unterscheidung zwischen der Geltung universeller Menschenrechte und fremdenrechtlichen Mindeststandards zunehmend schwer fällt“; ebenso Kempen (Fn. 60), S. 19 (mit Fn. 3). 76 Vgl. Ipsen, in: ders., Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, § 50, Rn. 11. 77 Vgl. Ipsen (Fn. 76), § 50, Rn. 6, 11; Kempen (Fn. 60), S. 19, m.w.N. 78 Eindeutig Bleckmann (Fn. 17), S. 29 (51), der angesichts der Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes davon ausgeht, dass „es sich bei dem völkerrechtlichen Fremdenrecht um einen Mindeststandard handelt, der auch den eigenen Staatsangehörigen zusteht“; so ist wohl auch Brownlie, Principles of Public International Law, 7. Aufl., 2008, S. 534, zu verstehen im Hinblick auf das Eigentumsrecht. 79 Vgl. nur Tomuschat, Der fremdenrechtliche Mindeststandard im Völkerrecht, in: Merten/Papier, HGR VI/2, 2009, § 178, Rn. 20; Kempen (Fn. 60), S. 19 f. 80 Herdegen, Internationales Wirtschaftsrecht, 8. Aufl., 2009, § 19, Rn. 3. 81 Kempen (Fn. 60), WiVerw 2009, S. 19.

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weltweit keineswegs als Regelfall gelten kann. Überdies ist das Bild von der „Schicksalsgemeinschaft der Staatsangehörigen“ bei menschenrechtlichen Fragestellungen völlig irrelevant; es käme auch niemand auf die Idee, etwa die Religionsfreiheit oder die Meinungsfreiheit auf fremde Staatsangehörige zu beschränken, nur weil die eigenen Staatsangehörigen eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Dass es sich beim Eigentumsrecht um ein wirtschaftliches Freiheitsrecht handelt, ändert daran nichts. Maßgeblich ist vielmehr die gemeinsame Wurzel des fremdenrechtlichen und des menschenrechtlichen Eigentumsschutzes im Naturrecht.82 Dass beide Schutzaspekte sich seit dem 19. Jahrhundert in unterschiedlichem Maße im Völkerrecht entwickelt haben, findet seinen Grund in der Betonung der staatlichen Souveränitätsrechte, die einer Einschränkung nur bedurften, soweit eine Konkurrenz mit der Personalhoheit eines anderen Staates auftrat (s. o.). Dass das Völkerrecht auch die Rechte der eigenen Staatsangehörigen gegen ihren Staat regeln dürfe, lag zunächst außerhalb des Vorstellungsvermögens.83 Unser heutiges Völkerrecht ist von einer solchen Hypertrophie staatlicher Souveränität jedoch weiter entfernt denn je. In den Vordergrund gerückt ist in den letzten Jahrzehnten hingegen der internationale Schutz der Menschenrechte, der es nahelegt, auch diesen gemeinsamen normativen Ausgangspunkt von Menschen- und Fremdenrecht im Bereich des Eigentumsschutzes wieder ins Gedächtnis zu rufen. So erklärt sich auch, dass die Staaten bei der Abfassung der AEMR keine grundsätzlichen Bedenken gegen einen menschenrechtlichen Schutz des Eigentums geltend machten. Nichts anderes gilt für die Erarbeitung der beiden UN-Menschenrechtspakte, bei denen lediglich die Frage der Detailformulierung eine einvernehmliche Aufnahme in die Abkommen verhinderte. VI. Irrelevanz fehlender Eigentumsgarantie in den UN-Menschenrechtspakten Gerade im Kontext der beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966 wird oftmals behauptet, die Nichtaufnahme eines Menschenrechts am Eigentum in diese Dokumente sei als deutlicher Hinweis zu verstehen, dass die Staaten ein derartiges Recht bewusst abgelehnt hätten;84 eine Ablehnung die offensichtlich bis heute – 45 Jahre nach der Unterzeichnung der Pakte – nachwirken soll. Dabei wird allzu leicht übersehen, dass die Diskussion über die Inhalte der Pakte annähernd zeitgleich mit der AEMR begann und sich bis Mitte der 1960er Jahre hin82 Dazu Dolzer (Fn. 11), S. 83, m.w. N.; Perkams (Fn. 64), S. 308 f.; Schöbener/ Herbst/Perkams (Fn. 10), Rn. 4/443. Zur Entwicklung des Fremdenrechts aus dem Naturrecht s. a. Bleckmann (Fn. 17), S. 29 (48, 50 f.). 83 Bleckmann (Fn. 17), S. 29 (51). 84 So etwa Tomuschat (Fn. 79), § 178, Rn. 20; ähnlich BVerfG (Fn. 4).

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zog. Keiner der an den Verhandlungen beteiligten Staaten hat dabei ein menschenrechtlich fundiertes Recht am Eigentum grundsätzlich geleugnet.85 Auch war der Unterschied zum fremdenrechtlichen Eigentumsschutz jederzeit präsent. Dass zumal der IPbpR keine abschließende Aufzählung klassischer Bürger- und Menschenrechte bezweckte, wird in dessen Art. 5 Abs. 2 deutlich, in dem es heißt: „Die in einem Land durch Gesetz, Übereinkommen, Verordnungen oder durch Gewohnheitsrecht anerkannten oder bestehenden grundlegenden Menschenrechte dürfen nicht unter dem Vorwand beschränkt oder außer Kraft gesetzt werden, dass dieser Pakt diese Rechte nicht oder nur in einem geringen Ausmaß anerkenne.“

Neben der Aussage, dass der Pakt gerade keinen Exklusivkatalog der Menschenrechte begründen sollte, muss die Vorschrift, so hat Dolzer86 nach eingehender Analyse der Diskussionsprozesse klar festgestellt, „aber mindestens funktional als positiv-rechtlicher Beleg dafür verstanden werden, dass die Mitgliedstaaten ihre Auffassung über die Geltung einzelner Menschenrechte, die in den Pakten nicht ausdrücklich erwähnt sind, nicht etwa mit dem Abschluss der Vorarbeiten für die Pakte aufgegeben haben; gerade für den Bereich des Eigentumsschutzes zeigt sich die Bedeutung einer solchen rechtswahrenden Norm.“

VII. Fazit Völlig zu Recht hat Klaus Stern87 darauf hingewiesen, dass die weltweite Durchsetzung der Menschenrechtsidee „gewiss noch Ideal und Postulat [ist], aber an ihrem universellen Leitprinzip lässt sich angesichts einer Fülle von internationalen Erklärungen, Verträgen, Pakten, Konventionen und Verfassungen nicht mehr zweifeln. Die Menschenrechte sind mittlerweile ,Universaleigentum‘ geworden und damit ein erster Baustein einer zu schaffenden freiheitlichen und rechtsstaatlichen Weltordnung.“ Eine Weltordnung, dies sei nach den vorangegangenen Überlegungen hinzugefügt, die gerade aus Gründen der Freiheitlichkeit an einer universellen menschenrechtlichen Gewährleitung des Eigentums nicht vorbeikommt, und die aus rechtsstaatlichen Erwägungen heraus gar nicht anders kann, als willkürlichen Eingriffen den Schutz des Völkerrechts zu versagen und für rechtmäßige Eingriffe eine angemessene Entschädigung vorzusehen. Das gilt umso mehr, als menschenrechtliche Gewährleistungen üblicherweise nicht am Reziprozitätsverhältnis völkerrechtlicher Regeln teilhaben – insofern also atypi85

Zur Genese ausführlich Dolzer (Fn. 11), S. 85 ff. Dolzer (Fn. 11), S. 93, der zudem anmerkt, dass es angesichts der Gesamtumstände bei der Entstehung der Pakte und des Art. 5 Abs. 2 IPbpR nicht angezeigt ist, „die Pakte als einen historischen Wendepunkt zu werten, der das Ende des menschenrechtlichen Status des Eigentumsrechts mit sich brachte“, und ausdrücklich darauf hinweist, „dass die Pakte zwar zu keiner Stärkung dieses Rechts führten, aber auch keine Änderung der Rechtslage zur Folge hatten.“ 87 Stern (Fn. 5), § 185, Rn. 48. 86

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sches Völkerrecht88 darstellen. Ihr völkerrechtsatypischer Charakter muss nicht nur Auswirkungen haben auf die Interpretation menschenrechtlicher Gewährleistungen zugunsten der objektiven Auslegung89, sondern auch bei der Erkenntnis von Existenz und Inhalt derartiger Gewährleistungen Berücksichtigung finden. Das heißt nicht, den Willen einzelner Staaten oder sogar der Staatengemeinschaft aus der völkerrechtlichen Betrachtung auszublenden. Da der Staatenwille aber ohnehin regelmäßig eher vermutet als nachgewiesen wird, z. B. bei der opinio iuris im Hinblick auf eine einheitliche und dauerhafte Staatenpraxis, besteht bei der Erkenntnis dieses Willens eine hinreichende Offenheit für Rationalitätserwägungen, die auch und insbesondere ein universelles Menschenrecht am Eigentum rechtfertigen (Legitimationsnorm) und den Durchbruch zur weltweiten Anerkennung dieses Rechts vorbereiten können. Das bedeutet keineswegs, dass in diesem Entwicklungsprozess in kürzester Zeit „fertige“ Rechtsnormen (Regeln) entstehen. Zumal im Enteignungsrecht wird man zunächst nicht umhin kommen, über die Erkenntnis grundlegender Prinzipien erst im Laufe der Zeit differenzierte Konkretisierungen nach Maßgabe einzelner Eingriffsvarianten und einem daran orientierten Entschädigungsumfang vorzunehmen. Bereits 1963 konstatierte Karl-Heinz Böckstiegel 90 zutreffend, dass „gerade auf dem Gebiet des Enteignungsvölkerrechts die generellen Prinzipien ein von den Detailregelungen abgesondertes Eigenleben entwickelt [haben]. In Anbetracht der Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten, welche das moderne Eigentumsschutzrecht charakterisieren, gewinnt mehr und mehr eine Tendenz Bedeutung, wegen der anscheinenden Unmöglichkeit einer umfassenden Einigung wenigstens Übereinstimmung hinsichtlich der Prinzipien des Enteignungsvölkerrechts zu erzielen.“ Bei der Berufung auf naturrechtliche Legitimationsnormen ist überdies zu beachten, „dass das Naturrecht nur Grundsätze, aber keine Detailprogramme angeben kann“ 91. Auch das völkergewohnheitsrechtliche Fremdenrecht (Mindeststandard) war und ist in seinen Inhalten durchaus vage und unscharf und bedarf der Konkretisierung im Einzelfall92; das gilt noch heute etwa für die Fragen nach der Einbeziehung sog. schleichender bzw. faktischer Enteignungen in den Enteignungstatbestand oder nach der Höhe der zu leistenden Entschädigung93. Gleichwohl wird das Bestehen des fremdenrechtlichen Eigentumsschutzes nicht in Zweifel gezo88 Zum „völkerrechtsatypischen Charakter“ von Menschenrechtsgarantien vgl. Gaus, Materiell-rechtliche Gewährleistungen und verfahrensrechtliche Durchsetzbarkeit völkerrechtlich garantierter Menschenrechte, 2011, S. 11 ff. 89 Vgl. Riedel, Entschädigung für Eigentumsentzug nach Art. 1 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK, EuGRZ 1988, 333 (338 f.). 90 Böckstiegel, Die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts über Eigentumsentziehung, 1963, S. 50. 91 Gornig (Fn. 27), S. 409 (414). 92 Perkams (Fn. 64), S. 49.

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gen. Für ein universell als Menschenrecht verbürgtes Recht am Eigentum, d.h. zur Feststellung des sachlichen Schutzbereichs, der Eingriffsvarianten und der Rechtmäßigkeitsanforderungen, ist die wertende Rechtsvergleichung von enormer Bedeutung.94 Dabei wird bislang dem Aspekt der „Wertung“ zu wenig Gewicht beigemessen, obwohl darüber sowohl für die Universalität des zu beweisenden Rechtssatzes als auch für die Inhaltsfeststellung angesichts der innerstaatlichen Rechtsordnungen und der völkerrechtsrelevanten Staatenpraxis hinreichend Erkenntnisspielräume für Rationalitätserwägungen eröffnet werden.95 Auf diese Weise lässt sich – trotz aller Unsicherheit in Detailfragen – zumindest ein eigentumsrechtlicher Mindeststandard sichern, der dem menschenrechtlichen Schutzanspruch des Völkerrechts gerecht wird, ohne die Realität zwischenstaatlicher Beziehungen auszublenden.96

93 s. dazu Schöbener/Herbst/Perkams (Fn. 10), Rn. 4/52 ff., 4/66 ff.; vergleichbare Fragen stellen sich auch bei Investitionsschutzabkommen; ebd., Rn. 4/273 ff., 4/300 ff. 94 Zur Bedeutung der Rechtsvergleichung bei der Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht s. Kotzur, Menschenrechtsnormen (Fn. 47), S. 57 ff., der betont (S. 63): „Insgesamt steht das Gewohnheitsrecht im Dienste der Menschenrechtsoptimierung.“ Nichts anderes gilt für die Erkenntnis von Allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die schon definitorisch den Rechtsvergleich voraussetzen (vgl. Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut). 95 Ähnlich Kokott (Fn. 24), S. 3 (8), die angesichts der Einbeziehung „überpositiver Werte“ in Entstehung, Auslegung und Anwendung des Völkerrechts zu der Konsequenz kommt: „Für die völkerrechtliche Rechtsquellenlehre bedeutet dies: Relativierung der Bedeutung der Staatenpraxis bei der Rechtserzeugung, verbunden mit einer Aufwertung von Rechtsprechung und Wissenschaft.“ 96 Zur „realitätsnahen Prämisse eines ,minimum standard approach‘“ völkergewohnheitsrechtlicher Menschenrechtsgarantien s. Kotzur (Fn. 47), S. 57 (64).

Die sozialen Grundrechte in der Europäischen Union und deren kompetenzrechtliche Grenzen Von Rupert Scholz I. Entwicklungsstränge der Europäischen Sozialunion Die Europäische Union hat seit den Anfängen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einen weiten Weg durchmessen – einen Weg, der auch den Einstieg in eine Europäische Sozialunion einschließt.1 Die Anfänge lagen in der Präambel des EG-Vertrages, der zufolge sich die Mitgliedsstaaten zum gemeinsamen Handeln für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt bekannten (2. Erwägungsgrund). Schon hieraus hat der EuGH geschlossen, dass sich die Europäischen Gemeinschaften nicht nur auf die Entwicklung einer Wirtschaftsunion beschränkten, sondern auch sozialpolitische Ziele verfolgten. Der nächste Schritt lag in der Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. Der vorläufige Abschluss dieser Entwicklung liegt in der Entwicklung sozialer Grundrechte vor allem im Rahmen der Europäischen Grundrechtecharta (GrCh). Neben den in der GrCh enthaltenen und noch im Einzelnen zu diskutierenden sozialen Grundrechten hat der Vertrag von Lissabon auch weitere sozialrechtliche Regelungen statuiert: Nach Art. 2 Abs. 3 EUV gehören zum Wertekatalog der Europäischen Union u. a. die Nichtdiskriminierung, die Gleichheit von Männern und Frauen sowie Gerechtigkeit und Solidarität. Art. 3 EUV nennt ausdrücklich die Förderung von sozialer Gerechtigkeit und sozialem Schutz. Art. 9 AEUV nennt die Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, die Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, die Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie ein hohes Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung sowie des Gesundheitsschutzes. Art. 19 AEUV verpflichtet zur Antidiskriminierung. Art. 152 AEUV sucht den sozialen Dialog und die Rolle der Sozialpartner zu fördern. Art. 168 Abs. 2 AEUV sucht die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten im Bereich ihrer Gesundheitsdienste zu fördern und in Titel X AEUV erhält die „Sozialpolitik“ einen insgesamt eigenen Titel. Nimmt man die sozialen Grundrechte in der GrCh hinzu, so ist es durchaus gerechtfer1 Vgl. näher sowie m.w. N. bes. Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, 2010, S. 727 ff., 762 ff., 785 ff.; s. a. BVerfGE 123, 267 (362 ff.).

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tigt, heute schon von einer Europäischen Sozialunion zu sprechen, obwohl die Europäische Union damit noch längst über kein allumfassendes sozialstaatliches Regelungs- und Gestaltungsmandat verfügt. Alle sozialen Rechte, Gewährleistungen und Zielsetzungen der Europäischen Sozialunion unterstehen insbesondere den allgemeinen kompetenzrechtlichen Grenzen des Prinzips der abgeleiteten Einzelermächtigung (vgl. Art. 5 Abs. 1 EUV) einerseits und des Subsidiaritätsprinzips (vgl. Art. 5 Abs. 1–4) andererseits.2 II. Die sozialen Grundrechte der Europäischen Union Die grundlegende Kodifizierung sozialer Grundrechte im Europäischen Unionsrecht ist über die GrCh erfolgt. Hiernach finden sich die folgenden sozialen (Grundrechts-)Gewährleistungen:3 1. In sozial-freiheitsrechtlicher Richtung sind die Rechte der gewerkschaftlichen Vereinigungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1) und das Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, d. h. das kollektive Koalitionsrecht, zu nennen (Art. 28). 2. In gleichheitsrechtlicher Hinsicht sind neben dem allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 20 die Gleichheit von Männern und Frauen (Art. 23), das Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen (Art. 31), das Recht auf gleiche Arbeitsbedingungen (Art. 15 Abs. 3) und das (allgemeine) Diskriminierungsverbot gemäß Art. 21 zu nennen. 3. Neben diesen Freiheits- und Gleichheitsrechten mit sozialrechtlichem Bezug stehen die sozialen Rechte im engeren Sinne, die sich allerdings nicht sämtlich als subjektiv-rechtliche Grundrechtsgewährleistungen, sondern teilweise auch als objektiv-rechtliche Generalklauseln bzw. entsprechende Zielbestimmungen darstellen. Im Einzelnen sind das Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8), das Recht auf Bildung (Art. 14), das Recht auf Achtung der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen (Art. 22), die Rechte des Kindes (Art. 24), die Rechte älterer Menschen (Art. 25), das Recht auf Integration von Behinderten (Art. 26), das Recht auf Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Unternehmen (Art. 27), 2 s. dazu im Einzelnen sowie m.w. N. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 99 ff. 3 Vgl. dazu u. a. Iliopoulos-Strangas, a. a. O., S. 805 ff.; Lang, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 305 ff.; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung/Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Sozialrecht/Akademie der Diözese RottenburgStuttgart (Hrsg.), Soziale Grundrechte in der Europäischen Union, 2000/2001; Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen GrundrechteCharta, 2006, S. 532 ff.; Scholz, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/2, 2009, S. 63 (113 ff.).

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das Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst (Art. 29), der Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung (Art. 30), das Verbot der Kinderarbeit und der Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz (Art. 32), das Recht auf sozialen Schutz der Familie (Art. 33), das Recht auf Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit (Art. 34 Abs. 2), das Recht auf soziale Unterstützung und Wohnung (Art. 34 Abs. 3), das Recht auf Zugang zur Gesundheitsfürsorge und ärztlichen Versorgung (Art. 35), das Recht auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (Art. 36), der Umweltschutz (Art. 37), der Verbraucherschutz (Art. 38) und das Recht auf Prozesskostenhilfe (Art. 47 Abs. 3) zu nennen. Sieht man von den vorgenannten sozialen Freiheits- und Gleichheitsrechten ab, so handelt es sich bei allen diesen sozialgrundrechtlichen Gewährleistungen prinzipiell um solche rein objektiv- und nicht subjektiv-rechtlicher Art. Dies bedeutet, dass diese Gewährleistungen der einzelgesetzgeberischen Umsetzung, sei es durch die Mitgliedstaaten, sei es durch die Europäische Union, bedürfen.4 Diese prinzipielle systematische Unterscheidung zwischen (einklagbaren) subjektiven Rechten und (aktualisierungsbedürftigen) objektiven Rechtsgewährleistungen nimmt Art. 52 Abs. 5 GrCh mit der Unterscheidung zwischen Grundrechten und „Grundsätzen“ dahingehend auf, dass „die Bestimmungen dieser Charta, in denen Grundsätze festgelegt sind, durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch Akte der Mitgliedsstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeit umgesetzt werden“ (S. 1). Dies ist der übliche Charakter von sozialen Grundrechtsgewährleistungen, die in aller Regel kein unmittelbar-einklagbares, also klassisch-subjektives Recht zu verbürgen vermögen. Betrachtet man auf der anderen Seite die tatbestandliche Reichweite der in der GrCh aufgeführten sozialrechtlichen Gewährleistungen, so offenbart sich sehr rasch, dass diese sich vielfältig von den nationalen Grundrechtsordnungen unterscheiden, sei es, dass sie über diese hinausreichen, sei es, dass sie unter deren Standard bleiben. Betrachtet man nur das deutsche Grundgesetz, so ergibt sich ein klarer Qualitätsunterschied, da das GG kaum über soziale Grundrechte verfügt, sich vielmehr auf die ebenso prinzipale wie permanent konkretisierungsbedürftige Sozialstaatsklausel beschränkt.5 Ein ähnlich allgemeines Bekenntnis zur Sozialstaatlichkeit, vergleichbar dem Sozialstaatsprinzip in Art. 20/28 GG, kennt das europäische Unionsrecht jedoch nicht. Über die zitierten Bestimmungen der GrCh wird vielmehr der Weg über einzelne und spezielle Sozialrechtsgewährleistungen gewählt – ein zwar strukturell ganz anderer, methodisch aber ebenso schlüssiger Regelungsweg. 4 Vgl. Iliopoulos-Strangas, a. a. O., S. 932 ff.; Scholz, in: Handbuch der Grundrechte, a. a. O., S. 116. 5 Vgl. BVerfGE 123, 362; s. a. schon Scholz, Sozialstaat zwischen Wachstums- und Rezessionsgesellschaft, 1981, S. 24 f.

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III. Kompetenzrechtliche Abgrenzungen Kompetenzrechtlich verfügt die Europäische Union über keine Generalzuständigkeit für die Sozialpolitik. Die sozialpolitischen Regelungskompetenzen verteilen sich vielmehr auf die Europäische Union einerseits und deren Mitgliedsstaaten andererseits. In diesem Sinne statuiert Art. 4 Abs. 2 AEUV folgerichtig das Prinzip der geteilten Zuständigkeiten für die Sozialpolitik. Die Europäische Union verfügt gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. b AEUV über die Regelungszuständigkeiten für die „Sozialpolitik hinsichtlich der in diesem Vertrag genannten Aspekte“. Ergänzend tritt gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. c AEUV die geteilte Zuständigkeit für den „wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt“ hinzu. Daneben besteht gemäß Art. 5 Abs. 2 AEUV eine koordinierende Zuständigkeit der Europäischen Union für die „Beschäftigungspolitik der Mitgliedsstaaten, insbesondere durch die Festlegung von Leitlinien für diese Politik“. Da die Europäische Union über keine ausschließliche Zuständigkeit für die Sozialpolitik verfügt, sind für die Wahrnehmung der vorgenannten Zuständigkeiten das Prinzip der abgeleiteten Einzelermächtigung sowie das Subsidiaritätsprinzip maßgebend. Ergänzend tritt noch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hinzu (vgl. Art. 5 Abs. 1–4 EUV). Im Einklang mit diesen allgemeinen Grundsätzen bestimmt Art. 51 Abs. 1 GrCh für die Europäische Grundrechtecharta, dass diese „für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedsstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt“ (S. 1). Gemäß Art. 51 Abs. 2 GrCh „dehnt diese Charta den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union“, noch ändert sie die in den Verträgen „festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben“. Die konkrete Entwicklung und nähere Ausgestaltung der Europäischen Sozialunion ist wesentlich, sehr deutlich auch über den Rahmen der GrCh hinaus, durch die Rechtsprechung des EuGH vorgenommen worden. Der EuGH hat die soziale Dimension der Europäischen Union in ständiger Rechtsprechung ausgebaut und gestärkt.6 Hervorzuheben sind die Entscheidungen zum Arbeitnehmerschutz7, zum finanziellen Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit8, zu den Erfordernissen des Sozialhilfesystems9 und der Sozialordnung10, zum Schutz vor Sozialdumping11, zum Streikrecht12 und auch zur Tarifautonomie.13 Von be6

Vgl. näher hierzu m.w. N. Iliopoulos-Strangas, a. a. O., S. 785 ff. Vgl. EuGH, Slg. 2001, I-2189. 8 Vgl. EuGH, Slg. 2003, I-4509. 9 Vgl. EuGH, Slg. 1997, I-3395. 10 Vgl. EuGH, Slg. 1999, I-7289. 11 Vgl. EuGH, Slg. 2007, I-11767. 12 Vgl. EuGH, Slg. 2007, I-10779. 13 Vgl. EuGH, NJW 2010, 2563 ff. 7

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sonderer Bedeutung ist die sogen. Mangold-Entscheidung des EuGH, die die Vorschrift des § 14 Abs. 3 S. 4 TzBfG wegen angeblicher Altersdiskriminierung für rechtswidrig und damit unanwendbar erklärt hat, wobei der EuGH sich nicht nur auf das allgemeine Diskriminierungsverbot, sondern auch auf eine „Vorwirkung“ der im Zeitpunkt der Entscheidung in Deutschland noch nicht umgesetzten Richtlinie 2000/78/EG berufen hat.14 Obwohl der EuGH diese Entscheidung in einer weiteren Entscheidung (Kücükdeveci) bestätigt hat,15 ist diese MangoldEntscheidung – nach hiesiger Auffassung mit Recht – auf Kritik gestoßen16 – eine Kritik, der sich das BVerfG allerdings nicht angeschlossen hat.17 Ist hierauf noch im Einzelnen zurückzukommen, so bleibt an dieser Stelle jedenfalls und zunächst festzuhalten, dass der EuGH mit der richterrechtlichen Anerkennung eines Grundrechts auf Schutz vor Altersdiskriminierung eine eigene grundrechtliche Rechtsschöpfung vorgenommen hat. Die ggf. einschlägige Bestimmung des Art. 25 GrCh galt im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht und auch aus den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten“, auf die beispielsweise Art. 52 Abs. 4 GrCh Bezug nimmt, lässt sich ein solches Grundrecht nicht ableiten, gibt bzw. gab es eine vergleichbare Regelung doch nur in zwei der (seinerzeitigen) Mitgliedsstaaten. Die Notwendigkeit einer funktionstüchtigen Abgrenzung der Zuständigkeiten von Europäischer Union einerseits und Mitgliedsstaaten andererseits stellt sich folgerichtig und mit Nachdruck. Einen grundlegenden Ansatz hierzu hat das BVerfG in seiner Entscheidung zum Lissabon-Vertrag gesetzt, wonach das BVerfG auch für sich selbst das Recht einer Ultra-vires-Kontrolle gegenüber Hoheitsakten der Europäischen Union, Entscheidungen des EuGH folglich eingeschlossen, wesentlich in Anspruch nimmt, namentlich in Verbindung mit der staatlichen Identitätsgarantie für die Mitgliedsstaaten, hier also die Bundesrepublik Deutschland.18 Zur Europäischen „Sozialunion“ stellt das BVerfG ausdrücklich fest, dass „die verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine soziale Integration oder eine ,Sozialunion‘ deutlich begrenzt sind“.19 „Danach müssen die sozialpolitisch wesentlichen Entscheidungen in eigener Verantwortung der deutschen Gesetzgebungsorgane getroffen werden. Namentlich die Existenzsicherung des Einzelnen, eine nicht nur im Sozialstaatsprinzip, sondern auch in Art. 1 Abs. 1 GG gegründete Staatsaufgabe, muss weiterhin primäre Aufgabe der Mitgliedsstaaten bleiben, auch wenn Koordinierung bis hin zur allmählichen Angleichung nicht ausgeschlossen ist“.20 Im Ergebnis hat das BVerfG allerdings festgehalten, dass „der 14 15 16 17 18 19 20

Vgl. EuGRZ 2010, 483 ff. Vgl. EuGH, NJW 2010, 427 ff. Vgl. z. B. Thüsing, ZIP 2005, 2149 ff. Vgl. BVerfG, DVBl. 2010, 1229 (1230 ff.). Vgl. BVerfGE 123, 267 (339 ff.). Vgl. BVerfGE 123, 362. Vgl. BVerfGE 123, 362 f.

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Vertrag von Lissabon die sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestages nicht in einem solchen Umfang beschränkt, dass das Sozialstaatsprinzip (Art. 23 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Art. 79 Abs. 3 GG) in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise beeinträchtigt und insoweit notwendige demokratische Entscheidungsspielräume unzulässig vermindert wären“.21 Diese Feststellungen des BVerfG basierten allerdings auf einer Rechtslage, die noch keine eigenständige Schöpfung von sozialen Zuständigkeiten oder Grundrechten durch die Europäische Union bzw. den EuGH kannte. Diese Konstellation ist erst im Falle Mangold virulent geworden. In seiner Entscheidung zum Fall Mangold verneint das BVerfG allerdings einen entsprechenden Kompetenzverstoß des EuGH, obwohl in dieser Entscheidung ein deutliches Unbehagen mit jener Rechtsprechung des EuGH mitschwingt.22 Das BVerfG versucht die von ihm im Lissabon-Urteil entwickelten Kompetenzmaßstäbe dahingehend zu konkretisieren, dass eine eigene Ultra-vires-Kontrolle „nur dann in Betracht kommt, wenn ein Kompetenzverstoß der europäischen Organe hinreichend qualifiziert ist.23 Das setzt voraus, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zu Lasten der Mitgliedsstaaten führt“.24 Damit stellt das BVerfG zunächst und durchaus mit Recht fest, dass nicht jeder punktuelle Kompetenzverstoß von Organen der Europäischen Union zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit führt. Insoweit gilt es vielmehr, zwischen dem Gebot der europäischen Rechtseinheit einerseits und den nationalen Kompetenzvorbehalten andererseits abzuwägen.25 „Die Ultra-vires-Kontrolle darf nur europarechtsfreundlich ausgeübt werden“.26 „Dies bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedsstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt“.27 Im Einzelnen nimmt das BVerfG hierbei auf Äußerungen im Schrifttum Bezug, die entweder „erhebliche Kompetenzüberschreitungen“ 28, „drastische“ Ultra-viresAkte29, „krasse und evidente Kompetenzüberschreitungen“ 30, „schwerwiegende, evidente und generelle“ 31 Kompetenzverstöße bzw. solche von „offensichtlicher, 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31

Vgl. BVerfGE 123, 426. Vgl. DVBl. 2010, 1229 (1230 ff.). Vgl. DVBl. 2010, 1231. Vgl. DVBl. 2010, 1229 (LS. 1). Vgl. DVBl. 2010, 1230 f. Vgl. DVBl. 2010, 1230; s. a. BVerfGE 123, 354. Vgl. DVBl. 2010, 1231. Vgl. Kokott, AöR 119, 1994, 207 (220). Vgl. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 238. Vgl. Isensee, Stern-Festschrift, 1997, S. 1239 (1255). Vgl. Pernice, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 32.

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anhaltender und schwerwiegender“ 32 Art fordern. Dies ist sicher richtig, wie es ebenso richtig ist, dass das BVerfG den Organen der Europäischen Union eine gewisse „Fehlertoleranz“ einräumt.33 Problematisch ist jedoch die vom BVerfG weiterhin gezogene Konsequenz, derzufolge nur „strukturell bedeutsame (Kompetenz-)Verschiebungen zu Lasten der Mitgliedsstaaten“ den Tatbestand eines Ultra-vires-Verhaltens erfüllen sollen.34 Mit Recht ist gegenüber dieser Abgrenzung eingewandt worden, dass damit vor allem schleichende Kompetenzverschiebungen mittels richterrechtlicher Entscheidungen des EuGH nahezu grenzenlos werden könnten. Denn nur in außerordentlich seltenen Fällen wird eine richterliche Einzelfallentscheidung schon strukturverändernd wirken. „Strukturveränderungen durch Rechtsprechung vollziehen sich gewöhnlich schrittweise. Die Einzelfallentscheidung, oft aus unspektakulärem Anlass gefällt, setzt (aber) einen Trend in Gang, der meist erst bemerkt wird, wenn das Gericht sich später auf eine gefestigte Rechtsprechung beruft. Für einen Einhalt ist es dann gewöhnlich zu spät“.35 Folgerichtig kann es bei diesem Kriterium der (angeblich) notwendigen Strukturverschiebung nicht bleiben. Das BVerfG bleibt aufgefordert, seine Rechtsprechung weiterzuentwickeln und nach funktionstüchtigeren Abgrenzungskriterien auch und namentlich gegenüber der Rechtsprechung des EuGH zu suchen. Ein in diesem Zusammenhang hilfreiches Kriterium könnte das Prinzip der Präzedenzwirkung sein: Wenn eine im Einzelfall kompetenzwidrige Entscheidung des EuGH zugleich Präzedenzwirkung in allgemeinerer Hinsicht entfaltet, muss die Ultra-vires-Kontrolle des BVerfG zum Tragen gelangen; denn entsprechende Präzedenzwirkungen können durchaus von struktureller bzw. strukturverschiebender Qualität sein und müssen folgerichtig auch entsprechend ein- bzw. aufgefangen werden. Hätte das BVerfG diesen Aspekt in seiner Mangold-Entscheidung berücksichtigt, so hätte es die richterrechtliche Schöpfung eines Grundrechts auf Schutz vor Altersdiskriminierung, wie sie der EuGH im Fall Mangold vorgenommen hat, weder akzeptieren dürfen noch können. IV. Zur Europäischen Grundrechtecharta Die vorgenannten Maßstäbe zur Kompetenzabgrenzung sind auch und insbesondere für die GrCh wesentlich. Denn auch in ihrem Anwendungsrahmen werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit konkrete Probleme der Kompetenzabgrenzung stellen. Art. 51 Abs. 2 GrCh erklärt zwar, dass „diese Charta den Geltungs-

32 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 Rn. 40; ders., in: Handbuch der Grundrechte, a. a. O., S. 96. 33 Vgl. DVBl. 2010, 1232. 34 Vgl. DVBl. 2010, 1231. 35 Vgl. Grimm, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.09.2010, S. 8.

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bereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus ausdehnt und weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union begründet“. Betrachtet man die einzelnen sozialen Grundrechtsbestimmungen der GrCh jedoch im Einzelnen, so offenbaren sich sehr rasch ebenso akute wie zumindest virulente kompetenzrechtliche Schnittflächen.36 Im Einzelnen gilt dies vor allem im Bereich der in Art. 27 ff. GrCh vorgesehenen Gewährleistungen. Nach Art. 27 GrCh soll ein Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer im Unternehmen gelten, nach Art. 29 GrCh soll ein Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst bestehen, nach Art. 30 GrCh soll Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung gewährleistet werden, nach Art. 31 GrCh soll ein Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen gelten, nach Art. 32 GrCh soll der Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz gewährleistet werden, nach Art. 33 GrCh soll der Einklang von Familien- und Berufsleben gewährleistet werden, nach Art. 34 GrCh soll ein Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung gelten und nach Art. 35 GrCh soll der Gesundheitsschutz gewährleistet sein. Alles dies sind soziale Gewährleistungen, die – zumindest in der angesprochenen Allgemeinheit – weit über den regelungsrechtlichen Kompetenzrahmen der Europäischen Union hinausweisen. Das gleiche gilt beispielsweise für das in Art. 14 GrCh verbürgte „Recht auf Bildung“. Schließlich ist auch auf die Zielbestimmungen zum Umweltschutz und Verbraucherschutz hinzuweisen (Art. 37, 38 GrCh). Auch diese Bestimmungen sind von einer tatbestandlichen Reichweite, die weit über das Maß dessen hinausreicht, was der Europäischen Union an tatsächlichen Regelungsmöglichkeiten in diesen Kompetenzfeldern zusteht. Soll es in diesen Regelungsfeldern nicht zu Konflikten mit dem verfassungsrechtlichen Ultra-vires-Verbot kommen, so bedarf es einer außerordentlich strikten und engen Auslegung der vorgenannten sozialrechtlichen Gewährleistungen in der GrCh.37 Ein weiteres kompetenzrechtliches Problem stellt sich im Rahmen des zitierten Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh sowie des Art. 52 Abs. 5 S. 1 GrCh, wonach „die Bestimmungen dieser Charta, in denen Grundsätze festgelegt sind, nicht nur durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“, sondern auch „durch Akte der Mitgliedsstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten umgesetzt werden“.38 Problematisch ist hier vor allem der Begriff der „Durchführung des Rechts der Union“. Unproblematisch ist nur die Situation, in der die Mitgliedsstaaten Gesetzgebungen und unmittelbar anwendbare Richtlinien der Europäischen Union vollziehen. Hier gelten eindeutig und ebenso system- wie kompetenzgerecht die europäischen Grundrechte und deren prinzipiel36 37 38

Vgl. näher bereits Scholz, Handbuch der Grundrechte, a. a. O., S. 82 ff., 113 ff. Vgl. bereits Scholz, Handbuch der Grundrechte, a. a. O., S. 115 f. Vgl. näher bereits Scholz, Handbuch der Grundrechte, a. a. O., S. 86 f.

Soziale Grundrechte in der EU und deren kompetenzrechtliche Grenzen

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ler Vorrang vor den nationalen Grundrechten.39 Die Regelungen der Art. 51 Abs. 1 S. 1, 52 Abs. 5 GrCh sollen jedoch nach dem Willen des Europäischen Grundrechtskonvents – im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH – sehr viel weiter ausgreifen. So heißt es in den für die Auslegung der GrCh maßgebenden „Erläuterungen“ des Präsidiums des Europäischen Grundrechtskonvents, dass „der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig zu entnehmen ist, dass die Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedsstaaten (nur) dann gilt, wenn sie im Rahmen des Gemeinschaftsrechts handeln“.40 Diese Aussage beruht auf einer außerordentlich weiten Auslegung des Begriffs der „Durchführung“, wie sie vom EuGH seit langem vertreten wird.41 Der EuGH fordert die Bindung der Mitgliedsstaaten an die europäischen Grundrechte nämlich auch in den Fällen, in denen die Mitgliedsstaaten nur mittelbar mit dem Vollzug von Unionsrecht befasst sind, wo es mit anderen Worten um nationale Umsetzungen von Richtlinien ohne unmittelbare Rechtswirkung geht oder um die schlichte Beachtung bzw. Anwendung von Unionsrecht durch die Mitgliedsstaaten.42 In allen diesen Fällen kann man nicht von „Durchführung“ im engeren Sinne bzw. im Sinne von „unmittelbarer Vollziehung“ von Unionsrecht, sondern nur von „mittelbarer Durchführung“ bzw. von bloßer „Anwendung“ oder schlichter „Beachtung“ von Unionsrecht sprechen.43 Der EuGH verficht aber auch in allen diesen Bereichen den Vorrang des Unionsrechts, also auch den der unionsrechtlichen Grundrechte. Diese Rechtsprechung des EuGH ist indessen zu kritisieren – eingeschlossen den Europäischen Grundrechtskonvent und die genannten „Erläuterungen“. Denn in diesen Fällen handeln die nationalen Organe der Mitgliedsstaaten nicht auf der Grundlage von Unionsrecht, sondern – zumindest zunächst – auf der Grundlage des eigenen nationalen Rechts. Die schlichte „Anwendung“ oder „Beachtung“ von Unionsrecht, hier also der Grundrechte der GrCh, durch die Mitgliedsstaaten im Rahmen ihrer nationalen Regelungskompetenzen kann nicht als „Durchführung“ von Unionsrecht qualifiziert werden.44 Wollte man das Gegenteil vertreten, so lägen erneut massive Kompetenzkonflikte auf der Hand. Auch hier bedarf die Rechtsprechung des EuGH der Korrektur; auch hier müssen die Bestimmungen der Art. 51 Abs. 1, S. 1, 52 Abs. 5 GrCh restriktiv interpretiert werden. Die (sozialen) Grundrechte der GrCh können nur dann den Mitgliedsstaaten gegenüber maßgebend sein, wenn die Mitgliedsstaaten tatsächlich und unmittelbar Unionsrecht vollziehen. 39

Vgl. näher Scholz, Handbuch der Grundrechte, a. a. O., S. 86. Vgl. EuGRZ 2000, 559 (568). 41 Vgl. EuGH, Slg. 1978, 629; EuGH, Slg. 1989, 2609; EuGH, Slg. 1991, I-2925; EuGH, Slg. 1998, I-6307. 42 Vgl. die Nachw. in Fn. 41. 43 Vgl. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (9 ff.). 44 Vgl. Scholz, Handbuch der Grundrechte, a. a. O., S. 87; ders., Heldrich-Festschrift, 2005, S. 1311 (1318 f.). 40

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V. Fazit Zusammengefasst ergibt sich, dass die Europäische Union, vor allem über die GrCh, auf dem Wege zu einer ebenso kohärenten wie stabilen Sozialunion ist. Diese Europäische Sozialunion muss allerdings kompetenzrechtlich klar – nach Maßgabe der Grundsätze der begrenzten Einzelermächtigung und des Subsidiaritätsprinzips – eingegrenzt werden. Die Europäische Union verfügt über keine allgemeine sozialpolitische oder sozialrechtliche Regelungskompetenz. Demgemäß müssen auch die sozialen Grundrechte, vor allem die in der GrCh, kompetenzgerecht interpretiert und nur so zur Anwendung gebracht werden.

Das Recht auf gute Verwaltung bei mitgliedstaatlicher Durchführung des Unionsrechts Von Meinhard Schröder I. Ausgangslage Im Recht auf gute Verwaltung (Art. 41 GrCh) – so lässt sich in Anlehnung an Klaus Stern1 sagen – hat die „grundrechtliche Durchwirkung“ des Verwaltungshandelns einen augenfälligen Niederschlag auch im Unionsrecht gefunden. Zusammen mit den neuen, auf den Vertrag von Lissabon zurückgehenden Bestimmungen über die Verwaltungszusammenarbeit (Art. 197 AEUV) und den Vorgaben für eine offene, effiziente und unabhängige europäische Verwaltung (Art. 298 Abs. 1 AEUV) gehört das Recht zu den Kernelementen des europäischen Verwaltungsrechts. Seine Beschränkung auf Verwaltungsvorgänge in der alleinigen Hand der Union kann unbefriedigend erscheinen2, weil der Hauptfall der Verwaltung im Anwendungsbereich des Unionsrechts, die mitgliedstaatliche Durchführung, nicht erfasst ist. Deshalb kommt es zur Befürwortung der prinzipiellen Erweiterung des Anwendungsbereichs3 oder es wird jedenfalls die (analoge) Anwendung des Art. 41 GrCh bei einem Verwaltungsverbund zwischen Union und Mitgliedstaaten für möglich gehalten.4 Für Letzteres kann sprechen, dass Art. 41 GrCh die zunehmende, sich auf Organisation und Verfahren auswirkende Verschränkung zwischen Unionsverwaltung und mitgliedstaatlichen Verwaltungen nicht ab1

Staatsrecht Bd. III/2 (1994), S. 1168. So Lais, Das Recht auf eine gute Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, ZEuS 2002, 447 (457); Galletta, Inhalt und Bedeutung des Rechts auf eine gute Verwaltung, EuR 2007, 57 (79); in Bezug auf Situationen geteilter Verwaltungsverantwortung auch Ruffert, in: Calliess/ders., EU/AEUV, 4. Aufl. (2011) Art. 41 GrCh, Rn. 9. 3 Szczekalla, in: Rengeling/ders., Grundrechte in der Europäischen Union (2004), § 37, Rn. 1094; Bauer, Das Recht auf eine gute Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht (2002), S. 142; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht (2008), S. 531. 4 Kanska, Towards Administrative Human Rights in the European Union – Impact of the Charter of Fundamental Rights, ELJ 10 (2004), 296 (309); Galetta/Grzeszick, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte Charta (2006), Art. 41, Rn. 13; Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2010), Art. 41, Rn. 10; Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/ders./Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II (2008), § 27, Rn. 29. 2

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bildet: Weder geht es um Eigenverwaltung noch um indirekte mitgliedstaatliche Verwaltung im klassischen Sinn.5 Andererseits soll die Beschränkung des Art. 41 GrCh auf die unioniale Eigenverwaltung im Hinblick auf entsprechende mitgliedsstaatliche Standards6 oder (in der Rechtsprechung des EuGH entwickelte) Rechtsgrundsätze unschädlich sein.7 II. Struktur und Gewährleistungsinhalt Zur Klärung der umstrittenen Anwendung bei mitgliedsstaatlicher Durchführung des Unionsrechts sowie der Alternativen, die einen dem Art. 41 GrCh entsprechenden Schutz ergeben können, bedarf es zunächst einer genaueren Analyse der Struktur und des Gewährleistungsinhalts der Bestimmung. Dadurch treten Art und Umfang einer eventuellen mitgliedsstaatlichen Bindung sowie deren Alternativen deutlicher hervor. 1. Die Struktur des Rechts

Art. 41 GrCh erkennt objektiven Prinzipien und Standards des Verwaltungshandelns8 Grundrechtsqualität zu. Soweit diese im Abs. 1 und 2 verfahrensrechtlichen Grundsätzen zugute kommt, schlägt sich darin der Eigenwert des Verwaltungsverfahrens nieder, der das Unionsrecht im Unterschied zu mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen prägt, die von einer eher dienenden Funktion im Verhältnis zum materiellen Recht ausgehen.9 Das Grundrecht setzt implicite eine normativ abgesicherte, gut funktionierende Verwaltung voraus10 und gibt dieser als Konsequenz seiner Beachtung Auftrieb.11 Unter diesem Gesichtspunkt ver-

5 Dazu: Mager, Die europäische Verwaltung zwischen Hierarchie und Netzwerk, in: Trute/Gross/Röhl/Möllers, Allgemeines Verwaltungsrecht – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts (2008), 370 (392); Röhl, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Fn. 4), § 30, Rn. 48 ff.; v. Danwitz (Fn. 3), S. 609 ff. 6 So Frenz, Handbuch des europäischen Rechts, Bd. 4 (Grundrechte) 2009, § 2, Rn. 4537. 7 Grzeszick, Das Grundrecht auf eine gute Verwaltung – Strukturen und Perspektiven des Charta-Grundrechts auf die gute Verwaltung, EuR 2006, 161 (167); Magiera, in: Meyer, Charta der Grundrechte, 3. Aufl. (2011), Art. 41, Rn. 9; Voeth van Vormizeele, in: Schwarze, EU Kommentar, 2. Aufl. (2009), Art. 41, Rn. 5; Ladenburger, Evolution oder Kodifikation eines allgemeinen Verwaltungsrechts, in: Trute/Gross/Röhl/Möllers (Fn. 5), 107 (116); Pfeffer, Das Grundrecht auf gute Verwaltung (2005), S. 105. 8 Überblick bei Efstratiou, in: Trute/Gross/Röhl/Möllers (Fn. 5), 281 (285). 9 Dazu v. Danwitz (Fn. 3), S. 530; Kahl, Grundrechtsschutz durch Verfahren in Deutschland und in der EU, VerwArch 95 (2004), 1 (19 f.). 10 Vgl. Goerlich, Good Governance und gute Verwaltung – Zum europäischen Recht auf gute Verwaltung, DÖV 2006, 313 (318). 11 Vgl. Bullinger, Das Recht auf gute Verwaltung nach der Grundrechtecharta, in: Festschr. Brohm (2002), 25 (28).

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dient die Ansicht Zustimmung, dass Art. 41 GrCh auch eine objektivrechtliche Komponente aufweist.12 Für die genauere Charakterisierung der Grundrechtsqualität ist die Zuordnung zu den Grundrechten der dritten Generation13 irreführend, weil sie auf den Typus der Kollektivrechte des internationalen Menschenrechtsschutzes Bezug nimmt, der für Art. 41 GrCh nicht passt.14 Treffender ist die Einschätzung, die Art. 41 GrCh als Ausdruck einer neuen Dimension von Grundrechten versteht. Die Neuartigkeit wird damit erklärt, dass es in den mitgliedstaatlichen Verfassungen und im internationalen Menschenrechtsschutz an einem präzisen grundrechtlichen Vorbild fehlt.15 Ebenso bedeutsam ist aber das den Art. 41 GrCh prägende Grundverständnis der Beziehungen zwischen dem Einzelnen und der Verwaltung: Der Einzelne soll nicht (mehr) Objekt des Verwaltungsverfahrens und -handelns sein und erst mit der gerichtlichen Kontrolle eine verteidigungsfähige Rechtsstellung gewinnen. Er soll vielmehr der Verwaltung von Anfang an als Rechtssubjekt mit eigenen Rechten gegenüber stehen. Das stärkt nicht nur seine Stellung als Unionsbürger.16 Mit der Wahrnehmung des Grundrechts dient er zugleich dem allgemeinen Interesse an einem fairen rechtmäßigen Verwaltungshandeln.17 Er mobilisiert die Durchsetzung des Rechts – ein Gedanke, der dem europäischen Recht schon bisher nicht fremd ist.18 Die zum Teil beklagte „unsystematische“ Einordnung unter die Bürgerrechte der Charta19, obschon das Grundrecht sachlich überzeugend als Menschenrecht konzipiert ist, lässt sich jenseits entstehungsgeschichtlicher Ursachen und Ungereimtheiten20 mit der integrationspolitischen Bedeutung des Grundrechts für den Unionsbürgerstatus rechtfertigen.21 Allerdings geht es zu weit, Art. 41 GrCh deshalb als Grundrecht auf demokratische Mitbestimmung, fallweise durch demokratische Kontrolle ausgeübt, zu interpretieren.22 Für Drittstaatsangehörige kommt eine demokratische Mitbestimmung nicht in Betracht. 12

Heselhaus, in: ders./Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006), § 57, Rn. 5. 13 Vgl. Mitteilung der Kommission vom 13.9.2000 zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Kom (2000), 559 endg., S.4. 14 Herdegen, Völkerrecht, 9. Aufl. (2010), § 47, Rn. 6 f.; Stein/von Buttlar, Völkerrecht, 12. Aufl. (2009), Rn. 1002; zutreffend für Art. 41 GrCh: Classen, Gute Verwaltung im Recht der Europäischen Union (2008), S. 431. 15 Darauf abstellend etwa: Grzeszick/Galetta (Fn. 4), Rn. 1; Grzeszick (Fn. 7), S. 166; Classen (Fn. 14). 16 Kanska (Fn. 4), S. 302 f.; vgl. auch Ladenburger (Fn. 7). 17 Bullinger (Fn. 9), S. 32. 18 Dazu Ruffert (Fn. 2), Rn. 7; Goerlich (Fn. 10), S. 321. 19 Pfeffer (Fn. 7), S. 109; Szczekalla (Fn. 3), Rn. 1093; Frenz (Fn. 6), Rn. 4527. 20 Zu ihnen Pfeffer (Fn. 7), S. 108 f. 21 s. a. Ruffert (Fn. 2), Rn. 2. 22 So Bullinger wie Fn. 17.

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Meinhard Schröder 2. Gewährleistungsinhalt

Art. 41 GrCh erfasst in Abs. 1 und 2 als Teilgewährleistungen des Grundrechts auf gute Verwaltung ersichtlich verfahrensrechtliche Garantien, die als subjektive Rechte qualifizierbar23 und darüber hinaus so fundamental erscheinen, dass sie eine (Teil-)Grundrechtsqualität erlangen sollen.24 Da nicht alle Standards und Prinzipien einer guten Verwaltung diese Eigenschaften besitzen, können auch nicht alle im Rahmen von Art. 41 GrCh mit Grundrechtsqualität ausgestattet werden.25 Art. 41 GrCh ist entwicklungsoffen und konkretisierungsbedürftig, was insbesondere am Merkmal der „gerechten Behandlung“ (Abs. 1) und der beispielhaften Aufzählung der Garantien (Abs. 3) festgemacht wird. Die Konkretisierung soll aus dem nicht verbindlichen Europäischen Kodex für gute Verwaltungspraxis26 schöpfen.27 Weil dieser auch materiellrechtliche Grundsätze enthält (Art. 4: Rechtmäßigkeit des Handelns; Art. 5: Nichtdiskriminierung; Art. 6: Verhältnismäßigkeit; Art. 7: Missbrauch von Befugnissen) kann Art. 41 GrCh zum Einfallstor für materiellrechtliche Garantien der guten Verwaltung28 werden und sich damit als „Mindeststandard eines modernen Verwaltungsrechts.“ 29 erweisen. Einer materiellrechtlichen Aufladung ist jedoch zu widersprechen. Die in Abs. 1 garantierte „gerechte“ Behandlung taugt zu ihr nicht. Denn sie ist, wie der insoweit deutlicheren englischen Fassung „fairly handled“ zu entnehmen ist, als prozedurale Fairness zu verstehen.30 Abs. 1 und 2 enthalten damit ausschließlich verfahrensrechtliche Garantien zur Konkretisierung des neuartigen Ziels, dem Gerichtsschutz einen adäquaten verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundrechtsschutz zur Seite zu stellen. Das entspricht auch entstehungsgeschichtlich der Tatsache, dass sich der Grundrechtekonvent nur mit verfahrensrechtlichen Garantien befasst hat31 und, was aus der Sicht einer Bindung der Mitgliedstaaten an das Grund23

Classen (Fn. 14), S. 410 ff. Zur Fundamentalität des Grundrechtsgehalts Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Handbuch der Grundrechte, Bd. I (2004), § 1, Rn. 51. 25 Efstratiou (Fn. 8), S. 295 ff.; Classen (Fn. 14), S. 415 ff. 26 Fundstelle: http://www.ombudsman.europa.eu/resources/code.faces. 27 Der Europäische Bürgerbeauftragte zum Status des Kodex (Fn. 26), S. 2; im Schrifttum: Lais (Fn. 2), S. 480; Galetta/Grzeszick (Fn. 4), Rn. 40 ff.; Voeth van Vomizeele (Fn. 7), Rn.6; Szcekalla (Fn. 3) Rn. 1089 ff.; Frenz (Fn. 6), Rn. 4526; Jarass (Fn. 4), Rn. 8; abweichend Magiera (Fn. 7), Rn. 7: Maßstab ist Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. 28 Im Schrifttum dafür: Kanska (Fn. 4), S. 312 (not only relating to the procedure but also to the substance of the decision); wohl auch Streinz, in: ders., EU/EG Vertrag (2003), Art. 41, Rn. 12; Magiera (Fn. 27); Bauer (Fn. 3), S. 138, 139. 29 Hilf, Der Charakter der Grundrechte der Europäischen Union, Sonderbeil. zur NJW, EuZW, NVwZ und JuS 2000, S. 5 f. 30 Ausführlich Pfeffer (Fn. 7), S. 113 ff.; Classen (Fn. 14), S. 419 ff. 31 Heselhaus (Fn. 12), Rn. 116. 24

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recht auf gute Verwaltung bedeutsam ist, diese Bindung zum Schutz der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie abgelehnt hat.32 Außerdem lassen sich nicht alle Anforderungen an das Verwaltungshandeln als subjektive Rechte mit Grundrechtsqualität konstruieren, was für die Einbeziehung in Art. 41 GrCh notwendig wäre (oben 1.), und können sich unsichere Abgrenzungen zu anderen Grundrechten, etwa den Gleichheitsgeboten (Art. 20 ff. GrCh) ergeben.33 Im Ergebnis verdient deshalb die Ansicht Zustimmung, die Art. 41 Abs. 1 und 2 GrCh im Wesentlichen als verfahrensrechtliche Gewährleistungen versteht.34 III. Erweiterung des Anwendungsbereichs auf die Mitgliedstaaten Der beschriebene Grundrechtsschutz lässt sich auf mitgliedstaatliches Handeln nicht mit dem Argument erweitern, die Regelung des Art. 51 GrCh gelte uneingeschränkt auch für Art. 41 Abs. 1 und 2 GrCh. Das stehe in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des EuGH, die alle unmittelbar oder mittelbar mit der Anwendung von Gemeinschaftsrecht betrauten Stellen mitgliedstaatlicher Gewalt an die Grundrechte und andere Rechtsgrundsätze für gebunden halte.35 Die Ansicht ist mit der Entstehungsgeschichte und dem ihr folgenden Wortlaut nicht in Einklang zu bringen. Das Grundrecht auf gute Verwaltung geht maßgeblich auf den europäischen Bürgerbeauftragten zurück, der es aus seinem Mandat heraus als Instrument zur Bekämpfung von Missständen in der Europäischen Verwaltung der Union verstand. Bestrebungen, den Anwendungsbereich auf die Mitgliedstaaten wie in Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh zu erweitern, haben sich nicht durchsetzen können.36 Es blieb bei der spezielleren Regelung der Adressaten, die einer prinzipiellen Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten im Umfang des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh entgegensteht.37 Vor dem Hintergrund von Entstehungsgeschichte, Wortlaut und Spezialität der Regelung kann allein diskutiert werden, ob es Angelegenheiten von Personen gibt, bei deren Behandlung die Mitgliedstaaten funktionell als Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Union tätig sind38 und deshalb in den Anwen32

Pfeffer (Fn. 7), S. 102. Frenz (Fn. 6), Rn. 4586. 34 Jarass (Fn. 4), Rn. 14; Bullinger (Fn. 9), S. 29; Classen (Fn. 14), S. 423 ff.; mit Einschränkungen auch Heselhaus (Fn. 12), Rn. 116. 35 So Bauer (Fn. 3); für unbefangene Betrachtung des Verhältnisses von Art. 51 zu 41 GrCh auch v. Danwitz (Fn. 3); im Ergebnis auch (ohne Begründung) Bonk/Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. (2008), § 1, Rn. 26. 36 Classen (Fn. 14), S. 80 f.; Pfeffer (Fn. 7), S. 102 f. 37 Classen (Fn. 14), S. 81 ff. 38 Ansätze in diesem Sinne bei Szczekalla (Fn. 3): Mitgliedstaaten als „funktionelle Gemeinschaftsverwaltrungsbehörden“; Kanska (Fn. 4): „as agent for the Community“; Galetta/Grzeszick (Fn. 4): Mitgliedstaaten als „Vertreter der Gemeinschaft“. 33

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dungsbereich des Art. 41 Abs. 1 und 2 GrCh in einer Art Analogie39 einzubeziehen wären. Zutreffen kann dies von vornherein nicht im gesamten Anwendungsbereich des Unionsrechts. Denn damit würde eigenverantwortliches Handeln der Mitgliedstaaten im klassischen indirekten Vollzug oder bei grundfreiheitsbeschränkenden Maßnahmen kurzerhand zum Handeln der Union stilisiert und deren Bindung unterworfen.40 Wenn überhaupt, kann es nur um Konstellationen der Verwaltungskooperation zwischen Union und Mitgliedstaaten gehen, wie sie sich als europäischer Verwaltungsverbund etwa im Bereich der Produktsicherheit oder in Beihilfen-und Wettbewerbsrecht herausgebildet haben.41 Das Schrifttum bezeichnet denn auch diese Konstellationen als denkbare oder einleuchtende Sachverhalte für eine Einbeziehung der Mitgliedstaaten in Art. 41 GrCh.42 Stillschweigende Prämisse ist dabei, dass zur Überwindung der hier als problematisch empfundenen Trennung des Verfahrensregimes in einen europäischen und nationalen Teil43 die mitgliedstaatlichen Behörden und die Institutionen der Union gleichermaßen an gemeinschaftliche Prozessgrundrechte und Verfahrensgrundsätze gebunden sein sollen.44 Die Prämisse ist plausibel, findet aber in der bisherigen Rechtsprechung der Unionsgerichte noch keine Stütze. Urteile, die das rechtliche Gehör in der Verbundsverwaltung betreffen, unterwerfen nicht etwa die Mitgliedstaaten Verfahrensgrundsätzen der Gemeinschaft, sondern stellen auf die Letztverantwortung der Kommission für die nationale Verfahrensgestaltung ab.45 Jüngere Aussagen in der Rechtsprechung, die in Art. 41 GrCh eine Bestätigung dafür sehen, dass auch die Mitgliedstaaten das Prinzip der guten Verwaltung bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu beachten haben46, beziehen sich nicht eindeutig auf den Anwendungsbereich des Art. 41 GrCh und begründeten daher keine sichere Erwartung, dass die Rechtsprechung den grundrechtlichen 39 Jarass (Fn. 4); die angegebenen Belegstellen (Kanska wie Fn. 4) und GenAnw. Kokott in der Rs 393/98, Schlussanträge vom 10.12.2009, Rn. 16 tragen die analoge Anwendung nicht. 40 So Szczekalla (Fn. 3); zutreffend Kanska (Fn. 4), S. 309; Galetta/Grzeszick (Fn. 4), Rn. 14. 41 Dazu Schmidt-Aßmann, Der europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des europäischen Verwaltungsrechts, in: ders./Schöndorf-Haubold, Der europäische Verwaltungsverbund (2005), Einl. 1 ff. (3). 42 Nachw. in Fn. 4. 43 Nehl (Fn. 5), S. 81; Gundel, Justiz-und Verfahrensgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. (2009), § 20, Rn. 64. 44 Nehl (Fn. 5), S. 322. 45 EuG Rs T-450/93 – Lisretal – Slg. 1994 II – 1177, Rn. 42 bestätigt durch EuGH Rs C-32/95 Slg. 1996 I – 5373; EuG Rs T 147/99 – Kaufring – Slg. 2001 – II 1337, Rn. 150 ff.; dazu: Gundel (Fn. 43), Rn. 66; Jarass, Europäische Grundrechte (2005), § 36, Rn. 13. 46 GenAnw. Kokott, Schlussanträge in der Rs C-392/08 vom 10.12.2009, Rn. 16 unter Bezugnahme auf EuGH Rs C-428/05 – Laub – Slg. 2007 I – 5069, Rn. 25, bemerkenswerterweise im Urteil des EuGH Kommission ./. Spanien vom 25.3.2010 nicht aufgenommen.

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Maßstab auf die Konstellationen der Verbundsverwaltung erstrecken wird.47 Das muss umso mehr gelten, wenn sich Alternativen ergeben, die Art. 41 GrCh im Anwendungsbereich des Grundrechte Konvents belassen, andererseits zu angemessenen verfahrensrechtlichen Bindungen der Mitgliedstaaten gelangen – und dies nicht nur in Konstellationen eines Verwaltungsverbundes. IV. Alternativen 1. Grundrechtsbindung über Art. 6 Abs. 3 UV

Als Alternative zu einer Bindung an die in Art. 41 Abs. 1 und 2 GrCh enthaltenen Verfahrensgarantien bietet sich zunächst Art. 6 Abs. 3 UV an.48 Der daraus zu gewinnende Schutz wäre nach wie vor grundrechtlicher Schutz im (entwicklungsfähigen) Umfang des Art. 41 Abs. 1 und 2 GrCh, aber ohne die Beschränkung auf das Eigenverwaltungsrecht der Union. Eben deshalb bestehen auch keine Bedenken wegen eines Vorrangs der in der Charta normierten Grundrechte.49 Allerdings dürfte sich ein Grundrecht auf gute Verwaltung auf diesem Wege kaum gewinnen lassen. Diesbezügliche gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten bestehen in grundrechtlicher Art nicht. Nur die finnische Verfassung bietet neben dem rechtlichen Gehör, dem Recht auf Behandlung ohne Verzögerung und der Begründung von Verwaltungsentscheidungen eine Garantie guter Verwaltung, die durch Gesetz zu konkretisieren ist (§ 21). Im Übrigen enthalten die Verfassungstexte nur Teilgewährleistungen. Sie beziehen sich – und keinesfalls durchgängig – auf das rechtliche Gehör (Griechenland Art. 20 Abs. 2; Spanien Art. 105), die Information im Falle der Betroffenheit (Estland § 44 Abs. 3; Polen Art. 51 Abs. 3; Portugal Art. 268 Abs. 1) und die Begründung von Entscheidungen (Portugal Art. 268 Abs. 3). Dieser Textbefund darf gewiss nicht dahingehend missverstanden werden, dass Grundsätze der Verfahrensgestaltung im Umkreis der Thematik des Art. 41 Abs. 1 und 2 GrCh in anderen Mitgliedstaaten nicht existieren. Aber sie sind in der Regel allgemeine Rechtsgrundsätze (rechtsstaatlicher Art)50, Gesetzgebungsaufträge oder subjektive Rechte ohne grundrechtliche Qualität und besitzen deshalb nicht die für Art. 6 Abs. 3 UV notwendige 47 So aber Kanska (Fn. 4) mit nicht überzeugender Bezugnahme auf die in Fn. 45 erwähnte Rechtsprechung; ohne Bezugnahme Galetta/Grzceszick (Fn. 4) sowie unter Berufung auf die in Fn. 46 erwähnte Rechtsprechung; Jarass (Fn. 4); zutreffende Wertung demgegenüber bei Ruffert (Fn. 2), Rn. 4. 48 Erwogen von Heselhaus (Fn. 12), Rn. 133; Jarass (Fn. 45) § 2, Rn. 13 mit Fn. 42; s. a. Borowsky, in: Meyer (Fn. 7), Vor Titel VII Rn. 6. 49 Dazu Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der Europäischen Union (2006), Art. I/9, Rn. 12; Folz, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag (2007), Art. I/9, Rn. 9. 50 Vgl. EuG Rs T-54/99 – maxmobil – Slg. 2002 II – 313, Rn. 48.

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grundrechtliche Qualität der Verfassungstraditionen.51 Das mag auch der Grund dafür sein, dass in den Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechte Konvents zu Art. 41 GrCh auf Verfassungstraditionen nicht Bezug genommen wurde.52 Will man andererseits die Erkenntnisquelle der EMRK für ein Grundrecht auf gute Verwaltung nutzen, steht man vor der Tatsache, dass die Konvention ein solches nicht kennt. Hinzu kommt, dass sie nicht zwischen verwaltungsverfahrensrechtlichen und gerichtlichen Garantien bzw. dem fairen Verfahren trennt53, so dass unter Bezugnahme auf die Straßburger Rechtsprechung zu Art. 6 EMRK nur die Möglichkeit besteht, Vorwirkungen des Verwaltungsverfahrens auf den Gerichtsschutz grundrechtlich zu erfassen. Auf diese Weise lassen sich etwa die Dauer oder die Begründung von Verwaltungsentscheidungen als Elemente des Verwaltungsverfahrens in den Schutz des Art. 6 EMRK einbeziehen.54 Als Grundlage für ein dem Art. 41 GrCh entsprechendes Grundrecht werden solche Ergebnisse nicht ausreichen. Von den rechtsquellenbezogenen Problemen der richterlichen Gewinnung eines Grundrechts auf gute Verwaltung, das die Mitgliedstaaten im europäischen Verwaltungsverbund und darüber hinaus im indirekten Vollzug des Unionsrechts bindet, abgesehen, wäre zu bedenken: Alle Mitgliedstaaten würden auf einen grundrechtlichen Verfahrensschutz festgelegt und müssten womöglich von der bisher maßgeblichen dienenden Funktion des Verwaltungsverfahrensrechts im Verhältnis zum materiellen Recht Abstand nehmen (oben II. 1.). Auf dieser Basis, nicht durch Inanspruchnahme einer der Union zugewiesenen Kompetenz, entstünde ein unionsweites Verwaltungsverfahrensrecht im Gewährleistungsumfang des Art. 41 Abs. 1 und 2 GrCh – ein mehr als problematisches Ergebnis. 55 2. Rekurs auf andere Grundrechte der Charta

Der Versuch, auf andere Grundrechte der Charta auszuweichen, um eine Bindung der Mitgliedstaaten zu erzielen56, führt gleichfalls nicht weit. Er kann sich nur auf einzelne Elemente des Art. 41 GrCh beziehen – etwa die unparteiische Entscheidungsbildung. Hier lässt sich eine Verbindung zu Art. 20 f. GrCh herstellen.57 Bei anderen Grundrechten – so der Menschenwürde zur Absicherung 51

Zutreffendes Fazit bei Classen (Fn. 14), S. 179; Pfeffer (Fn. 7), S. 84 f. v. Danwitz, in: Tettinger/Stern (Fn. 4), Art. 52, Rn. 69; Borowsky, in: Meyer (Fn. 7), Art. 52, Rn. 44b; Classen (Fn. 51). 53 Gundel (Fn. 42), Rn. 6. 54 Gundel, Verfahrensrechte, in: Handbuch der Grundrechte Bd. VI/1, Europäische Grundrechte (2010), § 146, Rn. 43. 55 Classen (Fn. 14), S. 423. 56 Erwogen von Efstratiou (Fn. 8), S. 298; s. a. Ruffert (Fn. 2), Rn. 9. 57 Dazu Kanska (Fn. 4), S. 312; Galetta/Grzeszick (Fn. 4), Rn. 33; Ruffert (Fn. 2), Rn. 10; Pfeffer (Fn. 7), S. 124 ff. 52

Das Recht auf gute Verwaltung

941

des rechtlichen Gehörs58 – und des damit zusammenhängenden Akteneinsichtsrechts59 müsste akzeptiert werden, dass der in den einzelnen Freiheitsrechten der Grundrechtecharta aufgefächerte Grundrechtsschutz zur Vervollständigung und Absicherung einen das Verwaltungshandeln einschließenden Verfahrensschutz erfordert.60 Diese Akzeptanz ist, soweit ersichtlich, bisher für die Unionsgerichte nicht nachweisbar. Ob die in Ansätzen vorhandene Einbeziehung verfahrensrechtlicher Elemente in der Straßburger Rechtsprechung61 in das Unionsrecht Eingang findet, bleibt abzuwarten. 3. Anwendung der Rechtsprechungsgrundsätze zum Verwaltungsverfahren

Eine dritte Möglichkeit, die sich im Schrifttum für die Bindung der Mitgliedstaaten bei Durchführung des Unionsrechts findet, besteht in der Anwendung verfahrensrechtlicher Grundsätze, die inhaltlich Art. 41 Abs. 1 und 2 GrCh entsprechen. Sie sollen sich nach einer Ansicht aus dem Grundsatz der ordnungsgemäßen bzw. guten Verwaltung ergeben,62 den die Rechtsprechung als Sammelbegriff für ein geordnetes und faires Verwaltungsverfahren entwickelt hat.63 Häufiger wird bald allgemein auf Grundsätze der Rechtsprechung,64 auf die Rechtsstaatlichkeit65 oder den Grundsatz der „Rechtsgemeinschaftlichkeit“ i. S. von Art. 4 Abs. 3 UV verwiesen.66 Die unterschiedlichen Bezugnahmen spiegeln das unterschiedliche rechtliche Fundament der in Betracht kommenden Verfahrensgrundsätze wider (namentlich rechtliches Gehör, Akteneinsicht, angemessene Entscheidungsfristen und Begründungspflicht für Entscheidungen), was der als solcher nicht eigenständige Grundsatz der guten bzw. ordnungsgemäßen Verwaltung67 verdeckt.

58 Über den Zusammenhang von rechtlichem Gehör und Menschenwürde: Bonk/Kallerhoff, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 35), § 28, Rn. 2 m.w. N. 59 Galetta/Grzeszick (Fn. 4), Rn. 50; Ruffert (Fn. 2), Rn. 16. 60 Für die Bundesrepublik statt aller: Schmidt-Aßmann, Grundrechte als Organisations- und Verfahrensgarantien, in: Handbuch der Grundrechte Bd. II, Allgemeine Lehren (2006), § 45, Rn. 5 ff. 61 Vgl. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. (2009), § 19, Rn. 9; Gundel (Fn. 54), Rn. 158 ff. 62 So Magiera (Fn. 7); Voeth van Vormizeele (Fn. 7), Rn. 6. 63 Kanska (Fn. 4), S. 305; Pfeffer (Fn. 7), S. 51 f.; Classen (Fn. 14), S. 376. 64 So Ladenburger (Fn. 7), S. 116 f. 65 So Galetta/Grzeszick (Fn. 4), Rn. 14; Ruffert (Fn. 2), Rn. 9 (zuzüglich Grundrechte); s. a. Gundel (Fn. 43), Rn. 6: es wird auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückzugreifen sein; ihm folgend Jarass (Fn. 4). 66 So Lais (Fn. 2), S. 458. 67 Classen (Fn. 14), S. 374.

942

Meinhard Schröder

Bedeutsamer ist der unumgängliche Abgleich mit der Rechtslage beim Vollzug des Unionsrechts.68 Danach sind die Mitgliedstaaten vorbehaltlich sekundärrechtlicher Festlegungen für das anzuwendende Verwaltungsverfahren zuständig, müssen jedoch dafür Sorge tragen, dass der Vollzug des Unionsrechts effektiv und nicht anders praktiziert wird als der nationale.69 Soweit sich daraus in Verbindung mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen Bindungen der Mitgliedstaaten im Vollzug ergeben, modifizieren sie das anzuwendende nationale Verfahrensrecht oder verdrängen es im Einzelfall – bzw. sachverhaltsbezogen je nach Zustand des nationalen Rechts. Sie führen nicht zu einem im mitgliedstaatlichen Vollzug durchgängig anzuwendenden und transparenten70 europäischen Verfahrensschutz. Insofern bedarf die Bezugnahme auf die erwähnten Grundsätze der Präzisierung und Einschränkung. Die praktische Relevanz der Bezugnahmen ist bislang relativ gering, was an dem aus Sicht der Union nicht zu beanstandenden Zustand des nationalen Rechts liegen mag.71 Jedenfalls liefert die Rechtsprechung bisher kaum Anhaltspunkte für Modifikationen oder die Verdrängung nationalen Verfahrensrechts im thematischen Umfang des Art. 41 Abs. 1 und 2. Entwicklungen können vor allem durch die zunehmende „Verdichtung des Vollzugsvorgangs“ entstehen, die im europäischen Verwaltungsverbund zu beobachten ist,72 weil hier die Trennung des Verfahrensregimes in einen unionsrechtlichen und nationalen Teil besonders misslich erscheinen kann.73 Festzuhalten bleibt, dass die auf die Rechtsprechung verweisende Alternative verfahrensrechtlicher Bindungen der Mitgliedstaaten im Vollzug des Unionsrechts durch ihre nur im Einzelfall richterrechtlich zur Geltung gebrachte Maßstäblichkeit hinter normativen Vorgaben zurückbleibt. Die Kompetenz für solche vom Sekundärrecht unabhängige Vorgaben hat auch der Vertrag von Lissabon nicht begründet.74 V. Ausblick Orientiert man sich an Art. 41 Abs. 1 und 2 GrCh, kann eine entsprechende Bindung der Mitgliedstaaten nur für die administrative Durchführung des 68

Im Ansatz erkannt bei Szczekalla (Fn. 3), Rn. 1095. Näher Kahl (Fn. 9), S. 13 f. m.w. N. 70 Szczekalla wie Fn. 68; Classen (Fn. 14), S. 427. 71 Vgl. v. Danwitz (Fn. 2), S. 536 betreffend das rechtliche Gehör und die Akteneinsicht; Pfeffer (Fn. 7), S. 166 betreffend die zügige Entscheidung, aber auch EuGH Rs 222/86 – Heylens – Slg. 1987 I – 4097, Rn. 15 betreffend die Begründungspflicht. 72 Schmidt-Aßmann (Fn. 41), S. 7. 73 s. o. III. bei Fn. 43 ff. 74 Kahl, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts als Herausforderung an Systembildung und Kodifikationsidee, in: Axer/Grzeszick/ders./Mager/Reimer, Das europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, Beiheft 10 zu Die Verwaltung (2010), 39 (59 f.). 69

Das Recht auf gute Verwaltung

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Unionsrechts, nicht für dessen gesamten Anwendungsbereich diskutiert werden. In wieweit allerdings ein Bedarf für diese Bindung besteht, ist im Blick auf den einfachgesetzlichen und/oder richterrechtlich akzeptierten Verfahrensschutz in den Mitgliedstaaten fraglich.75 Deshalb ist auch nicht ohne weiteres damit zu rechnen, dass von Art. 41 GrCh in größerem Umfang Auftrieb für die Neu-oder Umgestaltung des Verwaltungsverfahrens ausgeht (oben II.1.). Eine spezifische Bedeutung der Bestimmung dürfte auch für die Bundesrepublik76 nicht bestehen.77 Nach geltendem Unionsrecht wäre eine Bindung der Mitgliedstaaten am ehesten im Kontext der Rechtsprechung zur wirksamen Durchführung des Unionsrechts und allgemeiner Rechtsgrundsätze zu erreichen.

75

Vgl. Classen (Fn. 14), S. 180 ff. m.w. N. So Sachs, in: Stelkens/Bonk/ders. (Fn. 35), Einl., Rn. 88 ohne Begründung. 77 Die von Kahl (Fn. 75), S. 83 ff. vorgeschlagen Änderungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes betreffen im wesentlichen Sonderfragen, die in Art. 41 GrCh nicht angesprochen sind. Zutreffend deshalb nach wie vor Classen (Fn. 14), S. 451; Pfeffer (Fn. 7), S. 84 f.; Pünder, in: Erichsen/Ehlers, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. (2010), § 13, Rn. 20; weitergehend: Klappstein, Das Recht auf eine gute Verwaltung – Art. 41 und 42 der Charta der Grundrechte (2006), S. 24 ff. 76

Der Schutz der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Von Jürgen Schwarze Es ist seit langem anerkannt, dass die Grundrechte zu den Grundlagen und leitenden Prinzipien des modernen Verfassungsstaates und der internationalen Staatengemeinschaft rechnen. Es liegt deshalb nahe, in einer Festschrift, die Werk und Person von Klaus Stern mit all ihren Verdiensten besonders um das Verfassungsrecht ehrt, den Schutz der Grundrechte in seinen vielfältigen Facetten zum Gegenstand der Betrachtung zu machen. Dieser Beitrag greift einen Aspekt auf, in dem sich die Grundlagen des Grundrechtsschutzes in jüngster Zeit verändert haben. Nach langem Ringen um die europäische Verfassungs- und Vertragsreform ist der Vertrag von Lissabon, der in Gestalt der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) einen kodifizierten Schutz der Grundrechte in der Europäischen Union einführt, am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten. Innerhalb des europäischen Vertragswerks, das seit langem den europäischen Binnenmarkt als Voraussetzung auch politischer Einigung in Europa in den Mittelpunkt rückt, kommt dem Schutz der unternehmerischen Freiheit eine besondere Bedeutung zu. Dies gilt umso mehr, als sich der Vertrag von Lissabon nun ausdrücklich zum wirtschaftsverfassungsrechtlichen Leitbild der sozialen Marktwirtschaft bekennt. Die unternehmerische Freiheit soll deshalb hier zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden. Dabei geht es darum, die zentralen Aussagen, die seit der Erarbeitung der Grundrechtecharta in deren Art. 16 enthalten sind und zu denen (verständlicherweise) höchstrichterliche Klärungen noch ausstehen, darzustellen und bewertend zu analysieren. I. Die Entstehung von Art. 16 GRC Der Schutz der unternehmerischen Freiheit durch Art. 16 GRC hat seinen Ursprung in der Grundrechtsjudikatur des Gerichtshofs. Schon im Jahr 1969 hatte der Gerichtshof in der Rechtssache Stauder richtungsweisend entschieden, dass es zu seiner Aufgabe gehöre, die Grundrechte auf europäischer Ebene zu schützen.1 Vor dem Hintergrund eines damals fehlenden geschriebenen Grundrechts1

EuGH, Rs. 29/69, Stauder/Stadt Ulm, Slg. 1969, S. 419 Rn. 7.

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katalogs in den europäischen Verträgen entwickelte der Gerichtshof im Wege wertender Rechtsvergleichung aus den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nach und nach eine Vielzahl von Grundrechten, die in Form von allgemeinen Rechtsgrundsätzen Bestandteil des Gemeinschafsrechts wurden.2 Der grundrechtliche Schutz wirtschaftlicher Betätigung wurde erstmals in der Entscheidung Nold aus dem Jahr 1974 anerkannt: Der Gerichtshof hatte dort die Vereinbarkeit einer Kommissionsentscheidung mit dem Eigentumsrecht und dem Recht auf freie Berufsausübung einer deutschen Kommanditgesellschaft überprüft.3 Seither hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung sowohl das Eigentumsrecht als auch die Berufsfreiheit als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts immer wieder zur Anwendung gebracht.4 Die Berufsfreiheit hat der Gerichtshof dabei stets in einem weiten Sinne verstanden und sie als umfassende wirtschaftliche Betätigungsfreiheit ausgestaltet.5 Die unternehmerische Freiheit stellt nach der Judikatur des Gerichtshofs eine Teilausprägung des Grundrechts der Berufsfreiheit dar.6 Neben der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellten die mitgliedstaatlichen Verfassungsgrundsätze eine Inspirationsquelle für die Regelung des Art. 16 GRC dar. Zwar wird die unternehmerische Freiheit in den Mitgliedstaaten auf verschiedene Weise gewährleistet,7 sodass sich aus rechtsvergleichender Sicht bei der Frage nach dem „Wie“ der Gewährleistung ein heterogenes Bild ergibt. Bei der Frage nach dem „Ob“ der Gewährleistung hingegen ist die Rechtslage homo-

2 Vgl. dazu T. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl., 2009, § 18 Rn. 1 ff.; R. Streinz, Europarecht, 8. Aufl., 2008, Rn. 759 ff.; G. Nicolaysen, Die gemeinschaftsrechtliche Begründung von Grundrechten, EuR 2003, S. 719, 722 ff. 3 EuGH, Rs. 4/73, Nold/Kommission, Slg. 1974, S. 491 Rn. 14. 4 Vgl. z. B. EuGH, Rs. 230/78, Eridiana u. a./Minister für Landwirtschaft und Forsten u. a., Slg. 1979, S. 2749 Rn. 20 ff.; EuGH, Rs. 44/79, Hauer/Rheinland-Pfalz, Slg. 1979, S. 3727 Rn. 17 ff. u. Rn. 31 ff. Aus jüngerer Zeit s. etwa EuGH, verb. Rs. C-184/ 02 u. C-223/02, Spanien u. Finnland/Parlament u. Rat, Slg. 2004, S. I-7789 Rn. 51; EuGH, verb. Rs. C-453/03, C-11/04, C-12/04 u. C-194/04, ABNA u. a./Secretary of State for Health u. a., Slg. 2005, S. I-10423 Rn. 87. s. zuletzt auch EuG, Urt. v. 02.03. 2010, Rs. T-16/04, Arcelor/Parlament u. Rat, Rn. 153, noch nicht in der amtl. Slg. 5 So z. B. EuGH, verb. Rs. C-143/88 u. C-92/89, Zuckerfabrik Süderdithmarschen/ Hauptzollamt Itzehoe u. Zuckerfabrik Soest/Hauptzollamt Paderborn, Slg. 1991, S. I415 Rn. 76 f.; vgl. auch N. Wunderlich, Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2000, S. 106 f. 6 N. Bernsdorff, in: J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl., 2011, Art. 16 GRC Rn. 1. Mitunter spricht der Gerichtshof anstelle von unternehmerischer Freiheit synonym auch von wirtschaftlicher Handlungs- oder Betätigungsfreiheit, ohne dass damit sachliche Differenzierungen verbunden wären, vgl. C. Nowak, Binnenmarktziel und Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union vor und nach dem Reformvertrag von Lissabon, EuR 2009, Beiheft 1, S. 129, 179 m.w. N. 7 Vgl. dazu den ausführlichen Überblick bei C. Nowak, in: F. S. M. Heselhaus/ders. (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 31 Rn. 10 ff.

Der Schutz der unternehmerischen Freiheit

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gen: In allen Mitgliedstaaten wird die unternehmerische Betätigungsfreiheit der Sache nach geschützt.8 Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland erwähnt die unternehmerische Freiheit zwar an keiner Stelle. Allerdings wird die sog. Unternehmerfreiheit nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt, soweit es sich um Tätigkeiten handelt, die vom Berufsbegriff erfasst werden.9 Die Unternehmerfreiheit umfasst vor allem die Freiheit der Gründung eines Unternehmens, die Freiheit des Marktzutritts, die Organisationsfreiheit, die Freiheit der Unternehmensführung einschließlich der Dispositions-, Produktions-, Investitions- und Entwicklungsfreiheit, die Freiheit der marktmäßigen Betätigung mitsamt der Preis-, Vertriebs-, Absatz-, Wettbewerbs-, Werbe- und Vertragsfreiheit sowie den Unternehmensbestand.10 Der vorrangig durch Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Schutz der Unternehmerfreiheit wird dabei durch eine Reihe weiterer Grundrechte ergänzt: Zu nennen sind insbesondere der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG), die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), die Unverletzlichkeit von Arbeits-, Betriebs- und Geschäftsräumen (Art. 13 Abs. 1 GG)11 sowie die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG). Schließlich wird die Unternehmerfreiheit auch durch Art. 2 Abs. 1 GG in Form der allgemeinen Handlungsfreiheit gewährleistet. Klaus Stern hat zu Recht auf die Bedeutung von Art. 2 Abs. 1 GG für den Schutz der Unternehmerfreiheit hingewiesen: Der Rückgriff auf die speziellen Grundrechte könne die unternehmerische Freiheit nicht in allen Fällen zufriedenstellend schützen.12 Ein „Bündelungsgrundrecht“ der Unternehmerfreiheit leiste in seiner Abwehrfunktion insbesondere in Fällen von staatlichem Dirigismus, der sich mitunter gegen freies Unternehmertum als solches wendet, die besseren Dienste.13 Der überzeugende Gedanke, dass der Grundrechtsschutz der unternehmerischen Freiheit zumindest in seinem Kerngehalt besser gebündelt durch ein eigenes Grundrecht gewährleistet werden kann als durch die Summe vieler einzelner

8 Vgl. N. Bernsdorff, a. a. O. (Fn. 6), Art. 16 GRC Rn. 2. Auch in den Rechtsordnungen derjenigen Mitgliedstaaten, die der Europäischen Union erst nach der feierlichen Proklamation der Grundrechtecharta (Dezember 2000) beigetreten sind, wird das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit gewährleistet. Vgl. im Einzelnen: C. Nowak, a. a. O. (Fn. 7), § 31 Rn. 17 ff. 9 Grundlegend dazu BVerfGE 50, 290, 363 f. 10 Ausführlich dazu F. Ossenbühl, Die Freiheiten des Unternehmers nach dem Grundgesetz, AöR 115 (1990), S. 1, 12 ff. 11 Vgl. dazu H.-J. Papier, in: T. Maunz/G. Dürig/R. Herzog/R. Scholz/M. Herdegen/ H. H. Klein, Grundgesetz, Kommentar, Art. 13 GG Rn. 10 (Stand: Oktober 1999). 12 In diesem Sinne K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band IV/1, 2006, S. 911 f. 13 K. Stern, a. a. O. (Fn. 12).

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Grundrechte, wurde auf europäischer Ebene durch die Schaffung von Art. 16 GRC fruchtbar gemacht. Allerdings war der Weg zur Verankerung des Grundrechts der unternehmerischen Freiheit in der Grundrechtecharta keineswegs von vornherein vorgezeichnet. Bereits bestehende internationale Verträge konnten dem Grundrechtekonvent, der die Charta unter dem Vorsitz von Roman Herzog im Zeitraum von Dezember 1999 bis Oktober 2000 erarbeitete, kaum als Orientierungsmaßstab dienen. So erwähnt etwa die EMRK die unternehmerische Freiheit nicht explizit. Allerdings schützt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zumindest Teilbereiche der unternehmerischen Freiheit über die Bestimmung zum Schutz des Eigentums (Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK).14 Auf weltweiter Ebene bietet allenfalls Art. 6 Abs. 1 des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR), der das „Recht jedes Einzelnen auf die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch frei gewählte [. . .] Arbeit zu verdienen“, gewährleistet, einen Anknüpfungspunkt für den Schutz der unternehmerischen Freiheit.15 Die ursprünglichen Entwürfe der im Grundrechtekonvent diskutierten Charta enthielten kein eigenständiges Grundrecht zum Schutz der unternehmerischen Freiheit, sondern lediglich ein (allerdings weit verstandenes) Grundrecht der Berufsfreiheit.16 Im Laufe der Beratungen forderten zahlreiche Mitglieder des Konvents die stärkere Berücksichtigung wirtschaftsverfassungsrechtlicher Elemente in der Grundrechtecharta, u. a. auch die Freiheit zur Gründung von Unternehmen.17 Andere Konventsmitglieder hingegen wandten sich gegen eine eigenständige Bestimmung zum Schutz der unternehmerischen Freiheit, da dadurch die Berufsgruppe der Unternehmer gegenüber anderen Berufsgruppen privilegiert werde.18 Das Ergebnis trug letztlich Kompromisscharakter: Zwar wurde die unternehmerische Freiheit in Gestalt von Art. 16 als eigenständiges Grundrecht in die Charta aufgenommen, allerdings wurde nur eine zurückhaltende Formulierung gewählt. Dem Wortlaut der Bestimmung, der eher auf die bloße Gewährleistung einer objektivrechtlichen Garantie denn auf einen subjektiven Anspruch hindeutet („wird anerkannt“), wurden – ähnlich wie bei den sozialen Rechten

14 Vgl. EGMR, Urt. v. 25.03.1999, Nr. 31107/96, Iatridis/Griechenland, Rn. 55, EuGRZ 1999, S. 316, 317. Die unternehmerische Freiheit wird durch die EMRK insgesamt betrachtet jedoch nur rudimentär geschützt, vgl. W. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, 2009, Rn. 2658. 15 Als klassische völkervertragsrechtliche Regelung ist Art. 6 Abs. 1 IPwskR jedoch eine lediglich an die Vertragsstaaten gerichtete Zielnorm, die dem Einzelnen keine einklagbaren Rechte gewährt. 16 N. Bernsdorff, a. a. O. (Fn. 6), Art. 16 GRC Rn. 4. 17 N. Bernsdorff, a. a. O. (Fn. 6), Art. 16 GRC Rn. 5. 18 N. Bernsdorff, a. a. O. (Fn. 6), Art. 16 GRC Rn. 8.

Der Schutz der unternehmerischen Freiheit

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der Charta – ausdrückliche Schranken im Tatbestand hinzugefügt („nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“). II. Die Bedeutung von Art. 16 GRC Die europäische Wirtschaftsverfassung ist seit jeher eng verknüpft mit dem Begriff der Marktwirtschaft. Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon sprechen die Verträge nicht mehr von einer „offene[n]“, sondern von einer „in hohem Maße wettbewerbsfähige[n] soziale[n] Marktwirtschaft“ (Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV).19 Die Betonung der sozialen Elemente der Marktwirtschaft ist dabei weder in politischer noch in rechtlicher Hinsicht zu unterschätzen. An den bisherigen tragenden Pfeilern der europäischen Wirtschaftsverfassung ändert das Leitbild der sozialen Marktwirtschaft jedoch wenig: Weiterhin charakteristisch für die europäische Wirtschaftsverfassung sind neben den Regelungen über die Grundfreiheiten und den Wettbewerbsregeln20 auch die Wirtschaftsgrundrechte, die in der nunmehr rechtsverbindlichen21 Grundrechtecharta normiert und in der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit langer Zeit anerkannt sind.22 Innerhalb der Grundrechtecharta stellt die unternehmerische Freiheit (Art. 16 GRC) – neben der Berufsfreiheit (Art. 15 GRC) und der Eigentumsfreiheit (Art. 17 GRC) – eine der zentralen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Garantien dar.23 19 Der bis zum 30.11.2009 gültige Art. 4 Abs. 1 EGV verpflichtete die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft auf den „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. 20 Der Grundsatz des freien Wettbewerbs wird seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nicht mehr an zentraler Stelle in den Verträgen erwähnt. Rechtlich ändert sich dadurch allerdings nichts: Das mit den Verträgen rechtlich gleichrangige Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb hebt die Bedeutung eines unverfälschten Wettbewerbs für den Binnenmarkt hervor und betont, dass die Union erforderlichenfalls nach den Bestimmungen der Verträge auf diesem Gebiet tätig wird. 21 Besonderheiten gelten allerdings aufgrund des Protokolls (Nr. 30) des Vertrags von Lissabon für Polen und das Vereinigte Königreich. Auf der Tagung des Europäischen Rates in Brüssel am 29./30.10.2009 haben die Staats- und Regierungschefs zudem in Bezug auf die Tschechische Republik vereinbart, zum Zeitpunkt des Abschlusses des nächsten Beitrittsvertrages und im Einklang mit den jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften der EU-Mitgliedstaaten dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ein Protokoll beizufügen, demzufolge das erwähnte Protokoll (Nr. 30) auch auf die Tschechische Republik Anwendung finden soll. Ausführlich zur Bedeutung des Protokolls (Nr. 30) J. F. Lindner, Zur grundsätzlichen Bedeutung des Protokolls über die Anwendung der Grundrechtecharta auf Polen und das Vereinigte Königreich – zugleich ein Beitrag zur Auslegung von Art. 51 EGC, EuR 2008, S. 786 ff. 22 Zur Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon vgl. C. Nowak, a. a. O. (Fn. 6), S. 166 ff. 23 J. Schwarze, Der Grundrechtsschutz für Unternehmen in der Europäischen Grundrechtecharta, EuZW 2001, S. 517, 518.

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Der Schutz der unternehmerischen Freiheit durch Art. 16 GRC korrespondiert dabei mit dem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft des EU-Vertrags. Jede Marktwirtschaft setzt konstitutiv voraus, dass Unternehmen ihre wirtschaftlichen Aktivitäten mit dem erforderlichen Freiraum entfalten können. Erhebliche wie unverhältnismäßige Beschränkungen der unternehmerischen Freiheit sind damit nicht nur eine Gefahr für die betroffenen Unternehmer selbst, sondern auch für die Wirtschaftsform der (sozialen) Marktwirtschaft als solche. Insofern dient das Grundrecht der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 GRC gleichsam zur Absicherung des selbst gesteckten Ziels der Europäischen Union, auf eine soziale Marktwirtschaft hinzuwirken. Art. 16 GRC ist eine Aufforderung an den europäischen Gesetzgeber, unternehmerische Belange bei der Setzung des Unionsrechts nicht aus dem Auge zu verlieren. Aller Erfahrung nach kann es nie gänzlich ausgeschlossen werden, dass sinnvolle Regulierungsvorhaben zu unnötigen Überregulierungen führen, die die unternehmerische Entfaltungsfreiheit unverhältnismäßig beschränken. Es ist ein Gewinn für die Unternehmen, dass ihnen Art. 16 GRC eine explizite Grundrechtsposition gewährt, auf die sie in Rechtsstreitigkeiten verweisen können. Der Gefahr, dass berechtigte Unternehmerinteressen allzu schnell beiseite geschoben werden, wird damit wirksam vorgebeugt. Der europäische Grundrechtsschutz von Unternehmen erschöpft sich allerdings keineswegs im „Bündelungsgrundrecht“ des Art. 16 GRC. Ähnlich wie das deutsche Grundgesetz enthält auch die Grundrechtecharta eine Reihe von Artikeln, die spezielle Aspekte unternehmerischer Betätigung grundrechtlich absichern. Neben der Berufsfreiheit (Art. 15 GRC), die sich von der unternehmerischen Freiheit nicht trennscharf abgrenzen lässt, sowie der Eigentumsfreiheit (Art. 17 GRC) sind hier vor allem die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit (Art. 11 Abs. 1 GRC), die Achtung der Freiheit und Pluralität der Medien (Art. 11 Abs. 2 GRC), die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 12 GRC), der allgemeine Gleichheitsgrundsatz (Art. 20 GRC), das Recht auf gute Verwaltung (Art. 41 GRC), das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union (Art. 42 GRC) sowie das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art. 47 GRC) hervorzuheben. Eine spezielle Regelung der unternehmerischen Freiheit findet sich zudem in Form der Freiheit zur Gründung von Lehranstalten in Art. 14 Abs. 3 GRC.

III. Der Schutzbereich von Art. 16 GRC Der Wortlaut des Art. 16 GRC suggeriert, dass die unternehmerische Freiheit eher als objektivrechtliche Garantie denn als subjektiver Anspruch gewährleistet werden soll. Gegen eine solche Relativierung des Schutzes der unternehmeri-

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schen Freiheit sprechen jedoch gleich mehrere Gründe: Zunächst ist auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs zu verweisen, der die Berufsfreiheit unter Einschluss der unternehmerischen Freiheit bislang stets auch als subjektives Grundrecht verstanden hat.24 Eine Herabstufung der Schutzintensität der unternehmerischen Freiheit auf der Grundlage der objektivrechtlichen Formulierung widerspricht zudem dem Gedanken der freiheitlichen Wirtschaftsverfassung sowie den Zielen und Aufgaben des Binnenmarkts.25 Schließlich ist es in der Entwicklung des europäischen Rechts durchaus kein Novum, dass aus objektiven Grundsätzen subjektive Rechtspositionen abgeleitet werden. Der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene wurde angesichts eines lange Zeit fehlenden Grundrechtskatalogs bekanntlich zunächst ausschließlich durch Richterrecht des Gerichtshofs sichergestellt. In methodischer Hinsicht lag der Rechtsprechung des Gerichtshofs dabei nicht die etwa aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannte Vorstellung zugrunde, höherrangige Grundrechtsgewährleistungen auf konkrete Sach- und Konfliktbereiche deduktiv zur Anwendung zu bringen.26 Nach dem Vorbild des französischen Verwaltungsrechts waren im Richterrecht der Gemeinschaft vielmehr seit jeher objektive Rechtsgrundsätze die typischen Anknüpfungspunkte für den Interessenausgleich zwischen der öffentlichen Gewalt und dem einzelnen (Markt-)Bürger.27 Im Ergebnis kam es dadurch vielfach zu einer Subjektivierung objektiver Rechtsgrundsätze. Dies zeigt, dass im europäischen Recht aus der objektivrechtlichen Formulierung eines Grundsatzes allein nicht zwingend auf einen fehlenden subjektiven Gewährleistungsinhalt dieses Grundsatzes geschlossen werden darf. Art. 16 GRC ist dafür ein Paradebeispiel. Die Gemeinschaftsgerichte haben sich bei der abstrakten Inhaltsbestimmung und Abgrenzung des grundrechtlichen Schutzbereichs weithin zurückgehalten; die Rechtsprechung ist durch die Konzentration auf die Eingriffsrechtfertigung geprägt.28 Es lassen sich jedoch aus der bisherigen Rechtsprechung verschiedene geschützte Teilbereiche ableiten, die sowohl sachlich als auch personell ein weites Schutzbereichsverständnis der unternehmerischen Freiheit nahe legen.29

24 Grundlegend insoweit EuGH, Rs. 4/73, Nold/Kommission, Slg. 1974, S. 491 Rn. 14. 25 H.-J. Blanke, in: P. J. Tettinger/K. Stern (Hrsg.), Europäische Grundrechte-Charta, 2006, Art. 16 GRC Rn. 2; S. Breitenmoser/B. Riemer/C. Seitz, Praxis des Europarechts – Grundrechtsschutz, S. 317. 26 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 41/21, S. 731. 27 Vgl. H. P. Ipsen, a. a. O. (Fn. 26) sowie J. Schwarze, Europäisches Wirtschaftsrecht, 2007, Rn. 415. 28 Exemplarisch vgl. EuGH, verb. Rs. C-184/02 u. C-223/02, Spanien u. Finnland/ Parlament u. Rat, Slg. 2004, S. I-7789 Rn. 50 ff.; C. Nowak, a. a. O. (Fn. 7), § 31 Rn. 28; M. Ruffert, Grundrecht der Berufsfreiheit, in: D. Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009, § 16.3 I Rn. 9. 29 C. Nowak, a. a. O. (Fn. 7), § 31 Rn. 28.

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Jürgen Schwarze 1. Sachlicher Schutzbereich

Im Einzelnen lässt sich die unternehmerische Freiheit in verschiedene Teilaspekte untergliedern, die jedoch nicht immer streng voneinander abgegrenzt werden können. Zum Schutzbereich gehören sowohl die Freiheit zur Ausübung einer Wirtschafts- und Geschäftstätigkeit, die Werbefreiheit sowie die Handelsund die Vertragsfreiheit.30 Darüber hinaus ist fraglich, ob auch die Wettbewerbsfreiheit unter wirtschaftsverfassungsrechtlichen Gesichtspunkten als Teilaspekt der unternehmerischen Freiheit anzusehen ist.31 a) Freiheit zur Ausübung einer Wirtschafts- und Geschäftstätigkeit In Gestalt der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit gewährt Art. 16 GRC die Freiheit, eine selbstständige Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit auszuüben, mithin auch Unternehmen zu gründen, zu beenden und alle weiteren Aspekte unternehmerischer Aktivität, die mit der Leitung der Unternehmung verbunden sind.32 Dies bedeutet, dass zunächst der Rechtsbegriff des Unternehmens bzw. der Unternehmung bestimmt werden muss.33 Dabei kann man sich an dem funktionalen Unternehmensbegriff des Wettbewerbsrechts orientieren, um einen umfassenden Schutz der selbstständigen Wirtschafts- und Geschäftstätigkeit zu gewährleisten.34 Im Interesse eines Gleichklangs mit der Berufsfreiheit wird teilweise als zusätzliches Kriterium für eine unternehmerische Tätigkeit im Sinne des Art. 16 GRC das Vorliegen einer Gewinnerzielungsabsicht verlangt.35 Dies ist allerdings zweifelhaft: Eine unternehmerische Tätigkeit liegt vielmehr bereits dann vor, wenn sie zu dem unmittelbaren Angebot von Waren und Dienstleistungen auf dem Markt gehört und mit einem gewissen Grad an Nachhaltigkeit betrieben wird.36 Die frei zu wählende Ausübung einer Wirtschafts- und Geschäftstätigkeit als Teilaspekt der unternehmerischen Freiheit gewährt neben der Freiheit zur Gründung eines Unternehmens und zur Aufnahme einer unternehmerischen Betäti30

J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., 2009, Art. 16 GRC Rn. 3. C. Nowak, a. a. O. (Fn. 7), § 31 Rn. 29. 32 H.-J. Blanke, a. a. O. (Fn. 25), Art. 16 GRC Rn. 10; H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 21 Rn. 7. 33 W. Frenz, Die Europäische Unternehmerfreiheit, GewArch 2009, S. 427, 428. 34 H.-J. Blanke, a. a. O. (Fn. 25), Art. 16 GRC Rn. 10. 35 H.-J. Blanke, a. a. O. (Fn. 25), Art. 16 GRC Rn. 10. 36 Vgl. u. a. EuGH, Rs. C-222/04, Ministero dell’Economia e delle Finanze/Cassa di Risparmio di Firenze, Slg. 2006, S. I-289 Rn. 108; EuGH, Rs. C-35/96, Kommission/ Italien, Slg. 1998, S. I-3851 Rn. 36; EuGH, Rs. 118/85, Kommission/Italien, Slg. 1987, S. 2599 Rn. 7. s. hierzu auch W. Frenz, a. a. O. (Fn. 33), S. 428, der zu Recht anmerkt, dass auch gemeinnützige oder verlustbringende Tätigkeiten eine Unternehmung sein können. 31

Der Schutz der unternehmerischen Freiheit

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gung die Organisationsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht über die eigene Rechtsform, den Inhalt der Unternehmenssatzung und das Verfahren der Willensbildung sowie die Führung der Geschäfte.37 Der weitreichende Schutz der Wirtschafts- und Geschäftstätigkeit findet seine Grenzen erst in solchen Tätigkeitsbereichen, deren Ungewissheit zum Wesen der wirtschaftlichen Tätigkeit gehört.38 Der Schutzbereich würde nämlich überdehnt, wenn auch bloße kaufmännische Interessen oder Aussichten, deren Realisierung stets mit einem Risiko behaftet ist, geschützt würden. Ein bestimmtes Geschäftsvolumen oder ein bestimmter Marktanteil ist daher nicht von der unternehmerischen Freiheit garantiert.39 b) Die Werbefreiheit Auch die Werbung ist ein wesentlicher Faktor der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Unternehmens; sie ist Bindeglied zwischen Angebot und Nachfrage.40 Folglich besteht zwischen der (Wirtschafts-)Werbung und der wirtschaftlichen Betätigung ein enger funktionaler Zusammenhang, sodass die Werbefreiheit als Teilaspekt der unternehmerischen Freiheit geschützt wird.41 c) Die Handelsfreiheit Neben der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit und der Werbefreiheit stellt die Handelsfreiheit eine weitere spezielle Ausprägung der unternehmerischen Freiheit dar. Diese ist durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ausdrücklich anerkannt,42 jedoch in ihrem Schutzbereich nicht näher konturiert worden.43 Gemeinhin ist unter der Handelsfreiheit der Vertrieb von Wirtschaftsgütern zu verstehen, der den gesamten Prozess von der Herstellung des Wirtschaftsgutes bis zu 37 Dies umfasst auch Maßnahmen zur Gestaltung der Unternehmens-, Investitions-, Personal-, Finanz-, Vertriebs- und Preispolitik eines Unternehmens. s. hierzu W. Frenz, a. a. O. (Fn. 33), S. 429. 38 So bereits EuGH, Rs. 4/73, Nold/Kommission, Slg. 1974, S. 491 Rn. 14. 39 EuG, Rs. T-521/93, Atlanta u. a./Rat u. Kommission, Slg. 1996, S. II-1707 Rn. 62. 40 A. Hatje, Werbung und Grundrechtsschutz in rechtsvergleichender Betrachtung, in: J. Schwarze (Hrsg.), Werbung und Werbeverbote im Lichte des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 37 ff. 41 J. Schwarze, Werbung im Gemeinschaftsrecht – Rechtsbestand und Grundfragen, in: ders. (Hrsg.), Werbung und Werbeverbote im Lichte des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 9 ff. Ob die Werbung darüber hinaus zu dem Bereich der Kommunikationsfreiheit zählt, ist insbesondere bedeutsam für die Frage, welche Einschränkungsmöglichkeiten für die Freiheit der Wirtschaftswerbung maßgebend sind. s. dazu näher A. Hatje, a. a. O. (Fn. 40). 42 Vgl. u. a. EuGH, Rs. 4/73, Nold/Kommission, Slg. 1974, S. 491 Rn. 14; EuGH, Rs. 240/83, Procureur de la République/ADBHU, Slg. 1985, S. 531 Rn. 9. 43 C. Nowak, a. a. O. (Fn. 7), § 31 Rn. 32.

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dessen Veräußerung an dritte Marktteilnehmer umfasst.44 Hiernach schützt Art. 16 GRC in Form der Handelsfreiheit vor Restriktionen, die sich auf den Anoder Verkauf von Wirtschaftsgütern auswirken.45 Im Rahmen der Schutzbereichsbestimmung stellt sich die Frage, ob von der Handelsfreiheit auch die Außenwirtschafts- bzw. Außenhandelsfreiheit und damit das Recht, mit Unternehmen aus Drittländern Handel zu treiben, umfasst ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Teilnahme eines Unternehmens insbesondere am Weltmarkt regelmäßig auch auf die Wettbewerbsposition auf dem Binnenmarkt auswirkt und folglich eine trennscharfe Abgrenzung – besonders vor dem Hintergrund der fortschreitenden Globalisierung – praktisch unmöglich ist.46 Infolgedessen liegt der Schluss nahe, die Außenhandelsfreiheit als Teil der allgemeinen wirtschaftlichen Betätigung und somit als Teilelement der unternehmerischen Freiheit zu begreifen.47 d) Die Vertragsfreiheit Die Vertragsfreiheit ist eine der zwingenden Voraussetzungen der (sozialen) Marktwirtschaft. Diese in der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte bereits langjährig anerkannte Freiheit48 ist auch durch Art. 16 GRC geschützt.49 Sie umfasst, wie der EuGH in den Rechtssachen Neu und Luxlait entschieden hat, als Ausdruck der Berufsfreiheit die freie Wahl des Geschäftspartners.50 Insoweit liegt eine Überschneidung der unternehmerischen Freiheit mit der Berufsausübungsfreiheit vor, die dem Unternehmer sowohl die Wahl seiner Vertragspartner als auch die „negative“ Freiheit, einen Vertrag mit einer bestimmten Person nicht 44

W. Frenz, a. a. O. (Fn. 33), S. 429. W. Frenz, a. a. O. (Fn. 33), S. 429. Hier ergeben sich zahlreiche Querbezüge zur Warenverkehrs- und der Zollfreiheit. 46 W. Frenz, a. a. O. (Fn. 33), S. 429. 47 S. Breitenmoser/B. Riemer/C. Seitz, a. a. O. (Fn. 25), S. 318; E. Grabitz/A. v. Bogdandy/M. Nettesheim, Europäisches Außenwirtschaftsrecht, 1994, S. 74; vgl. auch EuGH, Rs. C-124/95, Centro-COM/HM Treasury u. a., Slg. 1997, S. I-81 Rn. 40, wonach die Ausfuhrfreiheit in Drittstaaten ausdrücklich ein Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist. Kritisch zur fehlenden ausdrücklichen Regelung der Außenhandelsfreiheit in der Grundrechtecharta M. Nettesheim, EU-Recht und nationales Verfassungsrecht, EuR 2004, Beiheft 1, S. 7, 73. 48 Vgl. EuGH, Rs. 151/78, Sukkerfabriken Nykøbing/Landwirtschaftsministerium, Slg. 1979, S. 1 Rn. 19; EuGH, Rs. C-240/97, Spanien/Kommission, Slg. 1999, S. I-6571 Rn. 99. 49 s. hierzu aus jüngerer Zeit die Schlussanträge von Generalanwältin J. Kokott v. 17.09.2009, Rs. C-441/07 P, Kommission/Alrosa, noch nicht in der amtl. Slg., Rn. 225, die die Vertragsfreiheit mit der in Art. 16 GRC geschützten unternehmerischen Freiheit als „untrennbar verbunden“ ansieht. 50 EuGH, verb. Rs. C-90/90 und C-91/90, Neu u. a./Secrétaire d’État à l’Agriculture et à la Viticulture, Slg. 1991, S. I-3617 Rn. 13; EuGH, Rs. C-307/91, Association agricole Luxlait/Hendel, Slg. 1993, S. I-6835 Rn. 14. 45

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zu schließen, gewährleistet.51 Neben der Freiheit der Wahl des Geschäftspartners gewährleistet die Vertragsfreiheit dem Unternehmer ferner die freie Vertragsgestaltung und die privatautonome Gestaltung des Leistungsaustausches.52 e) Die Wettbewerbsfreiheit Die Freiheit des Wettbewerbs ist eine weitere grundlegende Voraussetzung für den Erfolg jeglicher unternehmerischer Tätigkeit. Ob damit die Wettbewerbsfreiheit als Teilaspekt der unternehmerischen Freiheit und auch im Sinne eines subjektiven Anspruchs verstanden werden kann, ist jedoch bisher ungeklärt und umstritten. Der freie bzw. unverfälschte Wettbewerb konstituiert ein Grundelement der unionsinternen Wirtschaftsordnung. Er erscheint dabei eher als objektivrechtlicher Grundsatz denn als subjektive grundrechtliche Gewährleistung.53 Zwar wurde die Wettbewerbsfreiheit vom EuGH in Fällen, die die unternehmerische Freiheit betrafen, teilweise erwähnt.54 Jedoch lässt sich bislang nicht eindeutig feststellen, ob der Gerichtshof der Wettbewerbsfreiheit auch einen subjektivrechtlichen Einschlag beimisst.55 2. Personaler Schutzbereich

Art. 16 GRC gewährleistet die unternehmerische Freiheit, ohne gleichzeitig eine Regelung bezüglich der Grundrechtsträger zu treffen. Gemeinhin wird eine unternehmerische Tätigkeit von natürlichen Personen, daneben sehr häufig aber auch von juristischen Personen oder vergleichbaren Organisationseinheiten ausgeübt. Zwar enthält weder Art. 16 GRC noch die Europäische Grundrechtecharta überhaupt – im Gegensatz etwa zu Art. 19 Abs. 3 GG – eine allgemeine Bestimmung, welche die Frage der Geltung der in der Charta verbürgten Grundrechte für juristische Personen regelt.56 An dieser Stelle erweist sich ein Rückgriff auf die allgemeine Intention der Charta als hilfreich. Sie sollte die Grundrechte in kodifizierter Form sichtbar machen, wie sie sich aus der weitverzweigten Judika51

C. Nowak, a. a. O. (Fn. 7), § 31 Rn. 33. H. D. Jarass, a. a. O. (Fn. 32); W. Frenz, a. a. O. (Fn. 33), S. 429. 53 H.-W. Rengeling, Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Grundrechtecharta, in: J. Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 331, 348. 54 Vgl. EuGH, verb. Rs. 133 bis 136/85, Rau Lebensmittelwerke u. a./Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung, Slg. 1987, S. 2289 Rn. 15; EuGH, Rs. C-280/93, Deutschland/Rat [Bananenmarktordnung], Slg. 1994, S. I-4973 Rn. 81. 55 So auch R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 16 GRC Rn. 5; H.-W. Rengeling, a. a. O. (Fn. 53); N. Bernsdorff, a. a. O. (Fn. 6), Art. 16 GRC Rn. 14. Weitergehend C. Nowak, a. a. O. (Fn. 7), § 31 Rn. 34; W. Frenz, a. a. O. (Fn. 14), Rn. 2711 ff. sowie N. Wunderlich, a. a. O. (Fn. 5), S. 109. 56 J. Schwarze, a. a. O. (Fn. 23), S. 518. 52

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tur der Gemeinschaftsgerichte ergeben. Nicht nur insoweit sind bei der Auslegung der Charta die Vorgaben der europäischen Rechtsprechung zu berücksichtigen. Diese hat seit jeher die Gemeinschaftsgrundrechte ohne nähere Einschränkung auf Unternehmen angewendet.57 Unter diesen Umständen steht außer Frage, dass auch juristische Personen Grundrechtsträger des Art. 16 GRC sind.58 Berücksichtigt man zudem die systematische Einordnung der unternehmerischen Freiheit als Teilaspekt der übergeordneten Berufsfreiheit, ist Art. 16 GRC, um einen einheitlichen Schutzstandard aufrechtzuerhalten, gleichfalls als potenzielles Jedermann-Grundrecht anzuerkennen.59 Da sich das Unionsrecht darüber hinaus in seinen Auswirkungen nicht auf Unionsbürger beschränkt, sondern auch Angehörige von Drittstaaten und Staatenlose in ihren Rechten beeinträchtigen kann, sind auch diese Träger des durch Art. 16 GRC gewährleisteten Grundrechts.60 Dies gebietet nicht zuletzt der Charakter der Union als Rechtsgemeinschaft,61 der eine umfassende Grundrechtsbindung der Union in ihrem Handlungsbereich voraussetzt.62 In der Praxis rechnen privatwirtschaftliche juristische Personen zu den Hauptakteuren der wirtschaftlichen Betätigung. Sie sind unbestritten Träger der unternehmerischen Freiheit. Ob daneben auch öffentliche Unternehmen unter den Schutz des Art. 16 GRC zu stellen sind, ist bisher durch die Rechtsprechung weitgehend ungeklärt geblieben. Teilweise wird aus dem Charakter der unternehmerischen Freiheit als Abwehrrecht gefolgert, dass die Gewährung von Grundrechten für öffentliche Unternehmen einer ungerechtfertigten Selbstbegünstigung der Mitgliedstaaten gleich komme.63 Dem Staat sei es untersagt, durch die Aufgabenerfüllung mittels von ihm beherrschter Unternehmen „ins Privatrecht zu flüchten“ und sodann als Grundrechtsträger aufzutreten.64 Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich Unternehmen – unabhängig von ihrer privatrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Organisationsform – als Marktteilnehmer auf Unionsebene grundsätzlich gleichen Wettbewerbsbedingungen ausgesetzt sehen.65 Da-

57

Vgl. auch H.-W. Rengeling, a. a. O. (Fn. 53), S. 338. Zum Ganzen J. Schwarze, a. a. O. (Fn. 23), S. 518. 59 W. Frenz, a. a. O. (Fn. 33), S. 428; H.-J. Blanke, a. a. O. (Fn. 25), Art. 16 GRC Rn. 15; J. Schwarze, a. a. O. (Fn. 30), Art. 16 GRC Rn. 4. 60 N. Bernsdorff, a. a. O. (Fn. 6), Art. 16 GRC Rn. 17. 61 N. Bernsdorff, a. a. O. (Fn. 6), Art. 16 GRC Rn. 17. 62 Der Einwand, die Erstreckung der unternehmerischen Freiheit auf Drittstaatsangehörige und Staatenlose führe faktisch zu einer personellen Ausweitung der ausschließlich den Unionsbürgern zustehenden Grundfreiheiten, überzeugt nicht vollständig, da der in Art. 16 GRC enthaltene Vorbehalt des Unionsrechts gewährleistet, dass der personelle Anwendungsbereich der Grundfreiheiten jedenfalls bei der Auslegung der unternehmerischen Freiheit berücksichtigt wird, vgl. C. Nowak, a. a. O. (Fn. 7), § 31 Rn. 40. 63 H.-J. Blanke, a. a. O. (Fn. 25), Art. 16 GRC Rn. 16. 64 H.-J. Blanke, a. a. O. (Fn. 25), Art. 16 GRC Rn. 16. 58

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durch verliert das Kriterium der „öffentlichen Aufgabe“ als Abgrenzungsmerkmal zur Privatwirtschaft an Relevanz. So kann sich für private wie öffentliche Unternehmen eine gleiche grundrechtstypische Gefährdungslage auf Unionsebene ergeben. Dies legt nahe, die Frage nach der Grundrechtsträgereigenschaft für alle am Wettbewerb teilnehmenden Unternehmen prinzipiell gleich zu beantworten.66 Zudem ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der Trennung zwischen Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten einerseits und der Union andererseits die Gefahr der Verquickung von Grundrechtsverpflichtung und Grundrechtsberechtigung, wie sie etwa in Deutschland gegen eine Grundrechtsberechtigung von juristischen Personen des öffentlichen Rechts ins Feld geführt wird, auf Unionsebene nicht oder jedenfalls nicht im gleichen Maße wie innerhalb einer nationalen Rechtsordnung besteht.67 Im Interesse eines umfassenden Grundrechtsschutzes auf Unionsebene erscheint deshalb die Erstreckung der unternehmerischen Freiheit auf juristische Personen des öffentlichen Rechts sinnvoll.68 Dies bedeutet freilich nicht, dass sich nicht aus der spezifischen Struktur und der Zwecksetzung öffentlicher Unternehmen Besonderheiten bei der Interpretation des Grundrechts ergeben können. IV. Grenzen der Gewährleistung der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 GRC Der Gerichtshof hat die unternehmerische Freiheit seit jeher als Teilgewährleistung der Berufsfreiheit verstanden und ihr ein gleichwertiges Schutzniveau eingeräumt.69 Die Grundrechtecharta hingegen scheint zu differenzieren. Während die Berufsfreiheit nach Art. 15 Abs. 1 GRC nur der allgemeinen horizontalen Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRC unterworfen ist,70 zieht der Wortlaut von Art. 16 GRC explizit eine zusätzliche Schranke ein: Die unternehmerische Freiheit wird nur „nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“ anerkannt. Dies deutet prima facie darauf hin, dass die unternehmerische Freiheit weniger weitreichend geschützt sein 65 N. Bernsdorff, a. a. O. (Fn. 6), Art. 16 GRC Rn. 16; N. Wunderlich, a. a. O. (Fn. 5), S. 122. 66 N. Wunderlich, a. a. O. (Fn. 5), S. 122. Kritisch hierzu W. Frenz, a. a. O. (Fn. 33), S. 428, der öffentliche Unternehmen nur dann als Grundrechtsträger ansieht, wenn bei der unternehmerischen Tätigkeit die staatliche Hoheitsfunktion nicht im Vordergrund steht. 67 N. Wunderlich, a. a. O. (Fn. 5), S. 122 f. 68 So auch N. Wunderlich, a. a. O. (Fn. 5), S. 122 f. 69 Vgl. etwa H.-W. Rengeling, a. a. O. (Fn. 53), S. 350 m.w. N. 70 Für die in Art. 15 Abs. 2 GRC enthaltenen Verbürgungen ist hingegen die spezielle Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 2 GRC einschlägig. Schwierig ist die Bestimmung der Schranken des Art. 15 Abs. 3 GRC. s. zum Ganzen N. Bernsdorff, a. a. O. (Fn. 6), Art. 15 GRC Rn. 18, 20 sowie 22.

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soll als die vorbehaltlos gewährte Berufsfreiheit.71 Bedeutet das Inkrafttreten der Grundrechtecharta aber tatsächlich, dass bei der Berufsfreiheit (im engeren Sinne) alles so bleibt wie gehabt, während das Schutzniveau der unternehmerischen Freiheit sinkt? Insofern muss zunächst in Erinnerung gerufen werden, dass die Formulierung des Art. 16 GRC auf einem Kompromiss zwischen den verschiedenen Lagern im Grundrechtekonvent beruht.72 Die Erläuterungen des Präsidiums des Konvents zur Charta der Grundrechte zeigen, dass die wesentliche Grundlage für die Bestimmung des Art. 16 GRC die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs gewesen ist.73 Die Untersuchung der Entstehungsgeschichte spiegelt zwar den Streit über das Für und Wider eines eigenständigen Grundrechts der unternehmerischen Freiheit wider. Es ist jedoch auf diese Weise nicht nachweisbar, dass der Konvent mit Art. 16 GRC im Ergebnis von dem Schutzniveau, das der Gerichtshof der unternehmerischen Freiheit schon lange eingeräumt hatte, abweichen wollte. Zwar tritt der Vorbehalt des Art. 16 GRC zugunsten des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten zur horizontalen Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRC hinzu, sodass gewissermaßen von „doppelten Schranken“ gesprochen werden kann.74 Fraglich ist jedoch, ob die horizontalen Schranken des Art. 52 GRC dadurch auch im Ergebnis durchlöchert werden.75 Die wegen der Bezugnahme auf die mitgliedstaatliche Ebene als „vertikal“ bezeichnete Schrankenklausel des Art. 16 GRC kann jedenfalls nicht so verstanden werden, dass das mitgliedstaatliche Recht der unternehmerischen Freiheit selbstständig Schranken setzen könnte.76 Vielmehr müssen sich die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten der unionsrechtlichen Rechtfertigung nach Art. 52 Abs. 1 GRC stellen.77 Der Hinweis auf die mitgliedstaatlichen „Gepflogenheiten“ in Art. 16 GRC führt deshalb auch nicht etwa dazu, dass der in Art. 52 Abs. 1 GRC verankerte Gesetzesvorbehalt obsolet wäre.78 Die Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union

71

J. Schwarze, a. a. O. (Fn. 23), S. 521; H.-W. Rengeling, a. a. O. (Fn. 53), S. 349. Vgl. bereits die Ausführungen zur Entstehungsgeschichte von Art. 16 GRC unter I. 73 ABl. v. 14.12.2007, Nr. C 303, S. 17, 23. Die Erläuterungen haben zwar explizit als solche „keinen rechtlichen Status“, stellen aber eine „nützliche Interpretationshilfe“ zur Auslegung der Charta dar, vgl. a. a. O., S. 17. 74 N. Bernsdorff, a. a. O. (Fn. 6), Art. 16 GRC Rn. 15; C. Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, DVBl. 2001, S. 1, 5. 75 So C. Grabenwarter, a. a. O. (Fn. 74). 76 J. Schwarze, a. a. O. (Fn. 30), Art. 16 GRC Rn. 6. 77 H.-W. Rengeling, a. a. O. (Fn. 53), S. 349; H.-W. Rengeling/P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, S. 624. 78 H.-W. Rengeling, Die wirtschaftsbezogenen Grundrechte in der Europäischen Grundrechtecharta, DVBl. 2004, S. 453, 459. 72

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wäre gefährdet, wenn sich die Schranken nicht aus einheitlichen unionsrechtlichen Regelungen ergeben würden.79 Neben Art. 52 Abs. 1 GRC ist Art. 52 Abs. 4 GRC auf die unternehmerische Freiheit nach Art. 16 GRC anwendbar,80 demzufolge diejenigen Grundrechte der Charta, die sich – wie die unternehmerische Freiheit – aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt werden müssen. Damit verweist Art. 52 Abs. 4 GRC auf die im Unionsrecht seit langer Zeit anerkannte Auslegungsmethode der „wertenden Rechtsvergleichung“.81 Treffend führen die „Erläuterungen“ des Präsidiums des Konvents dazu aus: „Anstatt einem restriktiven Ansatz eines „kleinsten gemeinsamen Nenners“ zu folgen, sind die Charta-Rechte dieser Regel zufolge so auszulegen, dass sie ein hohes Schutzniveau bieten, das dem Unionsrecht angemessen ist und mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen im Einklang steht.“ 82 Für die Bestimmung des Gewährleistungsinhalts und der Grenzen der unternehmerischen Freiheit schöpft der Gerichtshof demnach aus dem Reservoir der Grundsätze der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und formt daraus ein eigenständiges europäisches Grundrecht. Restriktive Bestimmungen einer einzelnen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung führen deshalb nicht dazu, dass sich der Gewährleistungsinhalt der unternehmerischen Freiheit auf europäischer Ebene zwangsläufig verengt. Gleichzeitig bleiben die in der Union gewährleisteten Grundrechte und ihre Schranken eingebettet in das Gesamtsystem der Verträge. Die Charta soll ersichtlich nicht zu einer Ausdehnung der Kompetenzen der Europäischen Union führen. Damit ergibt sich insgesamt folgendes Bild: Der unternehmerischen Freiheit nach Art. 16 GRC können sowohl das Unionsrecht als auch das mitgliedstaat79 J. Schwarze, a. a. O. (Fn. 30), Art. 16 GRC Rn. 6. Lediglich für Polen und das Vereinigte Königreich – sowie bald wohl auch für die Tschechische Republik (vgl. Fn. 21) – gelten aufgrund von Art. 2 des Protokolls (Nr. 30) des Vertrags von Lissabon theoretisch Ausnahmen. Allerdings spielen diese im Ergebnis zumindest bei der unternehmerischen Freiheit keine Rolle, da diese Mitgliedstaaten an die im acquis communautaire vereinigten allgemeinen Grundsätze einschließlich der Grundrechte, wie sie in der Rechtsprechung des Gerichtshofs etabliert sind, gebunden bleiben. s. dazu C. Nowak, a. a. O. (Fn. 6), S. 178 m.w. N. sowie J. Schwarze, Zukunftsaussichten für das europäische öffentliche Recht, 2010, S. 86. 80 Vgl. H.-J. Blanke, a. a. O. (Fn. 25), Art. 16 GRC Rn. 7; N. Bernsdorff, a. a. O. (Fn. 6), Art. 16 GRC Rn. 15; M. Borowsky, in: J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl., 2011, Art. 52 GRC Rn. 46d. 81 M. Borowsky, a. a. O. (Fn. 80), Art. 52 GRC Rn. 44a. Zur Methode der wertenden Rechtsvergleichung s. bereits H. P. Ipsen, a. a. O. (Fn. 26), 5/20, S. 113 sowie K. Zweigert, Der Einfluß des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, RabelsZ, Bd. 28 (1964), S. 601, 611. 82 ABl. v. 14.12.2007, Nr. C 303, S. 17, 34. Vgl. zum Status der „Erläuterungen“ des Präsidiums des Konvents Fn. 73.

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liche Recht Schranken setzen. Allerdings müssen diese Schranken die Vorgaben des Art. 52 Abs. 1 GRC beachten. Gerechtfertigt ist ein Eingriff in die unternehmerische Freiheit daher nur dann, wenn er gesetzlich vorgesehen ist und den Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit beachtet (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC) sowie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahrt (Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC). Letztlich entspricht die Regelung der Schranken und der Schranken-Schranken in der Charta damit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs.83 V. Fazit Die explizit in Art. 16 GRC verankerte unternehmerische Freiheit stellt eine der zentralen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Garantien der Grundrechtecharta dar. Als „Bündelungsgrundrecht“84 kommt dieser Bestimmung auch auf europäischer Ebene eine eigene Existenzberechtigung zu. Es schützt sowohl in Zeiten einer Finanz- und Wirtschaftskrise als auch in „normalen“ Zeiten davor, dass Überregulierungen den Kern unternehmerischer Freiheit treffen. Art. 16 GRC ist eine Aufforderung an den Unionsgesetzgeber, die unternehmerische Freiheit im Rahmen des Rechtssetzungsprozesses in seine Erwägungen einzustellen. Gleichzeitig sorgt diese Bestimmung als kodifiziertes und damit für jedermann sichtbares Grundrecht dafür, dass geschützte Rechtspositionen der Unternehmen auf Unionsebene nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Insofern trägt Art. 16 GRC in einer Komplementärfunktion dazu bei, das an zentraler Stelle im EUVertrag verankerte Leitbild einer sozialen Marktwirtschaft innerhalb der Europäischen Union zu schützen (Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV). Art. 16 GRC verdeutlicht schließlich, dass das Recht der Europäischen Union neben dem wichtigen Schutz der Interessen von Arbeitnehmern und Verbrauchern auch die Betätigungsfreiheit der Unternehmer im Blick hat. Trotz der zurückhaltenden Formulierung von Art. 16 GRC ist möglichen Tendenzen zu einer Relativierung des Grundrechtsschutzes für unternehmerische Freiheit in der Europäischen Union entgegenzutreten. Der Kompromisscharakter der Bestimmung ist auf die Entstehungsgeschichte und die grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten im Grundrechtekonvent zurückzuführen. Die Auslegung der Bestimmung ergibt jedoch, dass weder aus der objektivrechtlichen Formulierung noch aus der expliziten Schrankenregelung überzeugende Argumente für

83 Vlg. etwa EuGH, verb. Rs. C-184/02 u. C-223/02, Spanien u. Finnland/Parlament u. Rat, Slg. 2004, S. I-7789 Rn. 52: „[Die freie Berufsausübung und die unternehmerische Freiheit] gelten jedoch nicht schrankenlos, sondern müssen im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Folglich können sie Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die Freiheiten in ihrem Wesensgehalt antastet [. . .].“ 84 Vgl. K. Stern, a. a. O. (Fn. 12).

Der Schutz der unternehmerischen Freiheit

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zusätzliche Beschränkungsmöglichkeiten abgeleitet werden können, die weitreichender wären als bei der vorbehaltlos gewährleisteten Berufsfreiheit nach Art. 15 Abs. 1 GRC. Im Ergebnis müssen sich daher alle Eingriffe in die unternehmerische Freiheit an ihrer Vereinbarkeit mit der Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRC messen lassen. Dies entspricht der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach das Grundrecht der Berufsfreiheit mit allen Teilgewährleistungen ein einheitliches Schutzniveau garantiert. Auch der Grundrechtekonvent, der sich an der Rechtsprechung des Gerichtshofs orientiert hat, wollte mit der Schaffung von Art. 16 GRC die unternehmerische Freiheit in der Tendenz stärken und keinesfalls schwächen. Es wäre widersprüchlich, wenn mit dem Inkrafttreten der Grundrechtecharta – dem Erreichen einer weiteren Entwicklungsstufe des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union – der Schutz der unternehmerischen Freiheit in geringerem Maße gewährleistet sein sollte als zuvor durch die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs.

Der Kontrollvorbehalt des BVerfG gegenüber dem EuGH nach dem Lissabon-Urteil und dem Honeywell-Beschluss Von Rudolf Streinz I. Einleitung „Es war und ist eine der großen verfassungsrechtlichen Fragen des Grundgesetzes, die verfassungsrechtlichen Schranken des Übertragungsaktes und seiner Rechtsfolgen zu ermitteln“. Diese Feststellung von Klaus Stern aus dem Jahr 1984 in seinem monumentalen Werk zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland1 ist nach wie vor aktuell. Das BVerfG hat danach in den grundlegenden Entscheidungen Solange II2, Maastricht3, Bananenmarktordnung4 und zuletzt zum Vertrag von Lissabon5 und zum Mangold-Urteil des EuGH6 seinen auf den Schranken der Integrationsermächtigung (damals aus bzw. in Art. 24 Abs. 1 GG zu interpretieren, jetzt konkretisiert in Art. 23 Abs. 1 GG) beruhenden Kontrollvorbehalt gegenüber Begründungs- und Vollzugsakten von Gemeinschafts- bzw. jetzt Unionsrecht bekräftigt und im Hinblick auf die Erfordernisse der Europäischen Integration präzisiert und differenziert. Dies gibt Anlass zu einer Bestandsaufnahme im Sinne der von Klaus Stern gestellten permanenten Aufgabe.

1 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 535. 2 BVerfGE 73, 339 (274 ff.) und LS 2. 3 BVerfGE 89, 155 (188) und LS 7. 4 BVerfGE 102, 147, LS 1 und 2. 5 BVerfGE 123, 267 (347 ff., 396 ff.) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 226 ff., 331 ff. und LS 1. 6 BVerfG, EuGRZ 2010, 497 mit abwM Landau, ebd., S. 506 – Honeywell, zu EuGH, Rs. C-144/04 (Mangold/Helm), Slg. 2005, I-9981 aufgrund einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des BAG (BAGE 118, 76 – Honeywell), das dem EuGH ohne erneute Vorlage an diesen gefolgt ist. Vgl. zum Urteil des BAG Lüder Gerken/ Volker Rieble/Günter H. Roth/Torsten Stein/Rudolf Streinz, Mangold – ein „ausbrechender Rechtsakt“, 2009, S. 57 ff.

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II. Grundlage des Kontrollvorbehalts des BVerfG 1. Vorrang des Unionsrechts kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung

Der vom BVerfG in Anspruch genommene Kontrollvorbehalt basiert darauf, dass der – ungeachtet nach wie vor fehlender ausdrücklicher Verankerung in den Verträgen (EUV und AEUV)7 prinzipiell anerkannte – Vorrang des Gemeinschaftsrechts, jetzt des Unionsrechts auf der Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten in den Verfassungen der Mitgliedstaaten beruht und daher auch nur in den Grenzen dieser Ermächtigung besteht. Dies hat das BVerfG im LissabonUrteil ausdrücklich bekräftigt8. 2. Schranken der Integrationsermächtigung

Die Schranken der ursprünglich auch hinsichtlich der Europäischen Gemeinschaften in Art. 24 Abs. 1 GG enthaltenen Integrationsermächtigung wurden zunächst von der Rechtsprechung des BVerfG entwickelt.9 Sie wurden anlässlich des Vertrags von Maastricht in Art. 23 Abs. 1 GG fixiert. Deutschland darf – und muss („wirkt . . ., mit“)10 – nur einer Europäischen Union angehören, „die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“. Damit wird nicht nur „dokumentiert, welche Strukturen die Bundesrepublik Deutschland im vereinten Europa anstrebt“11, sondern die zuständigen deutschen Verfassungsorgane werden verfassungsrechtlich auf die Mitwirkung nur an einer solchen Union verpflichtet. Der Maßgabevorbehalt für das dabei bestehende politische Gestal-

7 Die Regelung in Art. I-6 des gescheiterten Verfassungsvertrags (ABl. 2004 L 310/ 1) wurde bewusst nicht in den Vertrag von Lissabon übernommen. Damit verbleibt es bei der bisherigen Rechtslage, die auf der ständigen und grundsätzlich anerkannten Rechtsprechung des EuGH seit dem grundlegenden Urteil im Fall Costa/ENEL (Rs. 6/ 64, Slg. 1964, 1251 (1269)) basiert, bestätigt durch die der Schlussakte der Regierungskonferenz, die den Vertrag von Lissabon annahm, beigefügten Erklärung (Nr. 17) zum Vorrang (ABl. 2010 L 83/344). 8 BVerfGE 123, 267 (347, 349 f., 400, 402) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 226, 233 f., 339, 343. 9 Ausdrücklich BVerfGE 58, 1 (40) – Eurocontrol. Vgl. dazu Rudolf Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 231 ff. 10 Klargestellt von BVerfGE 123, 267 (346 f.) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 225: „Der aus Art. 23 Abs. 1 GG und der Präambel folgende Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas . . . bedeutet insbesondere für die deutschen Verfassungsorgane, dass es nicht in ihrem politischen Ermessen steht, sich an der europäischen Integration zu beteiligen oder nicht. Das Grundgesetz will eine europäische Integration und eine internationale Friedensordnung.“ 11 So die Bundesregierung, BT-Drs. 12/3338, S. 4.

Der Kontrollvorbehalt des BVerfG gegenüber dem EuGH

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tungsermessen ist somit zugleich positiv-richtungsweisend und negativ-grenzziehend12. 3. Das BVerfG als „Hüter der Verfassung“

Diese Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG13 mit Art. 79 Abs. 3 GG als Mindestschranke ist der Prüfungsmaßstab, an dem das BVerfG die deutschen Grundlagen der europäischen Integration, die Integrationsgesetze, misst und als „Hüter der Verfassung“ messen muss. Es steht nicht in seinem Belieben, ob es sich dieser Aufgabe annimmt oder nicht. Es gibt in Deutschland keine „political question“ Doktrin. Das BVerfG wird nicht von sich aus tätig. Es muss alle Fragen behandeln und entscheiden, die ihm in einem der im Grundgesetz vorgesehenen Verfahren unterbreitet werden. Allerdings bestehen bereits insoweit, wie der im Maastricht-Urteil entwickelte Ansatz über Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG, der die Verfassungsbeschwerde für jedermann eröffnet14 und seither auch den Verfassungsvertrag15 und den Vertrag von Lissabon16 vor das BVerfG gebracht hat, Auslegungsspielräume. Ferner bedürfen die Schranken der Integrationsermächtigung der Konkretisierung und ist bei der Kontrolldichte die richtige Balance zwischen politischem Gestaltungsspielraum, gerade in außenpolitischen einschließlich europapolitischen Fragen, in denen die Interessen der jeweiligen Partner berücksichtigt werden müssen, und verfassungsrechtlicher Vorgabe zu treffen. Das BVerfG kommt dem durch richterliche Zurückhaltung („judicial self-restraint“) in außen- und europapolitischen Fragen nach.17 Prüfungsgegenstand können nur Akte der deutschen öffentlichen Gewalt, somit die deutschen Begründungs- und Vollzugsakte von Unionsrecht sein18. Soweit der deutsche Hoheitsakt aber unionsrechtlich determiniert ist, wird dieses zwangsläufig mittelbar überprüft19. Dies führt zu einem Konfliktpotential mit dem EuGH, 12

Ondolf Rojahn, in: Ingo von Münch/Philip Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 5. Aufl., 2001, Art. 23, Rn. 17. 13 So ausdrücklich BVerfGE 123, 267 (363) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 261. 14 BVerfGE 89, 155 (171 ff.) – Maastricht; zuletzt bestätigt in BVerfGE 123, 267 (328 ff.) = EuGRZ 2009, 339 Tz. 168 ff. – Lissabon. 15 Vgl. zu den Verfassungsbeschwerden EuGRZ 2005, 340. Kritisch zur Begründung der Verzögerung einer Entscheidung durch das BVerfG bis sich die Verfahren durch Scheitern des Verfassungsvertrags erledigt haben Rudolf Streinz/Christoph Herrmann, Missverstandener Judicial Self Restraint oder: Einmischung durch Untätigkeit, EuZW 2007, 289. 16 Verfassungsbeschwerden neben Organstreitverfahren, vgl. BVerfGE 123, 267 (268 ff.). 17 s. u. IV. 2. 18 Zutreffend bereits BVerfGE 22, 293 (295 ff.); unklar BVerfGE 89, 155 (LS 7 S. 1 und 2) – Maastricht. Vgl. dazu Rudolf Streinz, Europarecht, 8. Aufl., 2008, Rn. 242 ff. 19 Vgl. dazu Rudolf Streinz, Das Grundgesetz: Europafreundlichkeit und Europafestigkeit, ZfP 2009, 467 (470 ff.).

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der für die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (EUV und AEUV) und somit des Unionsrechts zuständig ist.20 4. Kein deutscher Sonderweg

Das BVerfG mag den Prüfungsvorbehalt, veranlasst durch entsprechende Verfassungsbeschwerden, Richtervorlagen und Organklagen, deutlicher und öfter formuliert haben. Eine bloße „querelle allemande“ 21, ein deutscher Sonderweg ist der Prüfungsvorbehalt gegenüber der Anwendung von Unionsrecht im nationalen Bereich nicht. Es war der italienische Verfassungsgerichtshof, der soweit ersichtlich zuerst einen solchen, ausdrücklich für einen „hypothetischen“ Fall gedachten Vorbehalt formulierte22. Die Verfassungen der Mitgliedstaaten kennen Schranken der Integrationsermächtigung und ihre Verfassungsgerichte machen dies deutlich23. III. Elemente des Kontrollvorbehalts 1. Die Grundrechtskontrolle

Die Grundrechtskontrolle war der erste Vorbehalt, den das BVerfG bereits 1973 im Solange I-Beschluss erklärte. Ansatzpunkt war ursprünglich ein mangels geschriebenen Grundrechtskatalogs als unzureichend empfundener Grund20

s. u. IV. 1. Vgl. z. B. Hans-Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 716 ff. zur Grundrechtsfrage. 22 Corte Costituzionale, Urt. v. 27.12.1973, Giurisprudenza Costituzionale 1973, 2401 (2420) – Frontini; deutsche Übersetzung in EuGRZ 1975, 311 (315) zu möglichen Kompetenzüberschreitungen der EWG mit Verletzung von Grundprinzipien der italienischen Verfassung: „in tale ipotesi sarebbe sempre assicurata la garanzia del sindacato giurisdizionale di questa Corte sulla perdurante compatibilità del Trattato con i predetti princìpi fondamentali“. Zu Parallelen zur Rechtsprechung des BVerfG in der aktuellen Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichtshofs hinsichtlich der Vermeidung von Konfliktpotenzialen, verbleibenden Vorbehalten (Theorie der „controlimiti“) und zum Erfordernis eines Kooperationsverhältnisses vgl. Antonio Tizzano, Der italienische Verfassungsgerichtshof (Corte costituzionale) und der Gerichtshof der Europäischen Union, EuGRZ 2010, 1 (2 ff.). 23 Vergleichende Übersicht auf der Basis von Landesberichten bei Peter M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: Armin von Bogdandy/Pedro Cruz Villalón/ders. (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II: Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht, 2008, § 26 (S. 403 ff.), Rn. 34 ff. Die differenzierende Übersicht bei Christoph Grabenwarter, Staatliches Unionsverfassungsrecht, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2. Aufl., 2009, S. 121 (123 ff.) zeigt, dass selbst in Staaten mit einem umfassenden Vorrang des Gemeinschaftsrechts wie Österreich für die „Grundprinzipien“ eine „Unterordnung“ unter das Gemeinschaftsrecht (jetzt Unionsrecht) verneint wird (ebd., S. 124). 21

Der Kontrollvorbehalt des BVerfG gegenüber dem EuGH

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rechtsschutz24. Dies wurde zunächst relativiert25 und im Solange II-Beschluss durch die Umkehrung der Solange-Formel aufgegeben26 und durch die Postulierung eines „Kooperationsverhältnisses“27 mit dem EuGH mit „Reservekompetenz“ des BVerfG ersetzt28. Der materielle Prüfungsmaßstab wurde reduziert29, die Anforderungen an die Befassung des BVerfG in europarechtlich determinierten Grundrechtsfällen wurden erheblich erschwert30. 2. Die Identitätskontrolle

Das BVerfG prüft, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist31. Dieses Postulat des Lissabon-Urteils ist nicht neu. Das BVerfG bezieht sich ausdrücklich auf das Darkazanli-Urteil32. An sich ist dies gefestigte Rechtsprechung, auch die Formel „Identität der Verfassung“ wurde schon verwendet33. Neu ist jedoch der Begriff „Identitätskontrolle“. Auch präzisiert das BVerfG, was es darunter versteht, und differenziert mehrere Aspekte. Erstmals nimmt das BVerfG im Lissabon-Urteil zur umstrittenen und von ihm im Maastricht-Urteil noch ausdrücklich offen gelassenen34 Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Integration Deutschlands in einen Europäischen Bundesstaat35 Stellung und postuliert, dass die Umbildung der Bundesrepublik Deutsch24 BVerfGE 37, 271 (LS 1). Zur Bedeutung dieses Beschlusses vgl. Stern (Fn. 1), S. 537 ff. 25 BVerfGE 52, 187 (202 f.) – sog. „Vielleicht“-Beschluss. Vgl. dazu Stern (Fn. 1), S. 539. 26 BVerfGE 73, 339 (LS 2). Die Anforderungen des Solange I-Beschlusses wurden angesichts der seitherigen Entwicklung, insbesondere der Rechtsprechung des EuGH als materiell erfüllt angesehen. Einen geschriebenen Grundrechtskatalog hat die Union erst seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1.12.2009 mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. 2010 Nr. C 83/389). Nach dem in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehenen Beitritt der EU zur EMRK kommt mit dieser ein weiterer hinzu. Bislang war die EMRK Rechtserkenntnisquelle für die vom EuGH entwickelten Gemeinschaftsgrundrechte, die gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als Unionsgrundrechte weiter gelten und zusammen mit der EU-Grundrechtecharta und der EMRK die Trias des unionalen Grundrechtsschutzes bilden. 27 Begriff in 89, 155 (LS 7 S. 3). 28 Begriff in BVerfGE 123, 267 (401) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 341. 29 Dies kommt auch in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zum Ausdruck. s. dazu unten IV. 2. b). 30 BVerfGE 102, 104 – Bananenmarktordnungsbeschluss. s. dazu unten IV. 2. c) aa). 31 BVerfGE 123, 267 (268, 400 f.) = EuGRZ 2009, 339 LS 4 und Tz. 340. 32 Hinweis in BVerfGE 123, 267 LS 4 S. 2 auf BVerfGE 113, 273 (296). 33 Vgl. BVerfGE 37, 271 (279) – Solange I: „Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht“. Vgl. dazu Streinz (Fn. 18), Rn. 230. Vgl. auch die Hinweise auf die eigene Rechtsprechung in BVerfGE 123, 267 (353 f.) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 240. 34 BVerfGE 89, 155 (188). 35 Vgl. zum Streitstand Rudolf Streinz, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 5. Aufl., 2009, Art. 23, Rn. 86 m.w. N.

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land zu einem „Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates“ einen „Identitätswechsel“ darstellen würde, der durch das Grundgesetz nicht mehr gedeckt sei, vielmehr eine Entscheidung der verfassungsgebenden Gewalt erfordere. Das BVerfG weist dabei auf Art. 146 GG hin, wonach das Grundgesetz seine Gültigkeit verliert, wenn eine Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist: „Art. 146 formuliert neben den materiellen Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die äußerste Grenze der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Integration“36. Gegen eine solche „Entstaatlichung“ könne im Rahmen des Grundgesetzes – über Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG – Verfassungsbeschwerde zum BVerfG erhoben werden37. Entscheidender Schritt für den Übergang zu einem Bundesstaat wäre wohl die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz, die das Grundgesetz untersage38. Das Grundgesetz ermächtige den Gesetzgeber zwar zu einer weitreichenden Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union. Die Ermächtigung stehe aber unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der verfassungsrechtlichen Identität als Mitgliedstaaten gewahrt bleibt und zugleich die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verlieren39. Das Demokratieprinzip setze der Übertragung von Hoheitsrechten auch inhaltliche Grenzen, die nicht bereits aus der Unverfügbarkeit der verfassungsgebenden Gewalt und der staatlichen Souveränität folgen. Den Mitgliedstaaten müsse in „einer Vertragsunion souveräner Staaten“, wie der im Maastricht-Urteil für den Charakter der Europäischen Union geprägte Begriff „Staatenverbund“ definiert wird40, ein ausreichender Raum zur politischen Ge36 BVerfGE 123, 267 (332) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 179. Den Rückgriff auf den „pouvoir constituant“ hielt bereits Peter M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Aufl., 2002, S. 48 ff. für erforderlich; vgl. auch Rojahn (Fn. 12), Art. 23, Rn. 16 m.w. N. 37 BVerfGE 123, 267 (332) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 180. 38 BVerfGE 123, 267 (349) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 233 unter Hinweis auf BVerfGE 89, 155 (187 f., 192, 199) – Maastricht, BVerfGE 58, 1 (37) – Eurocontrol und BVerfGE 104, 151 (210) – Neues Strategisches Konzept der NATO. 39 BVerfGE 123, 267 (347) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 226. 40 Ebd., LS 1: „Der Begriff des Verbunds erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.“ Vgl. zu Charakter und Rechtsnatur der Europäischen Union Rudolf Streinz, Die Verfassung Europas: Unvollendeter Bundesstaat, Staatenverbund oder unvergleichliches Phänomen?, in: FS Nehlsen, 2008, S. 750 (758 ff.). Zum supranationalen Recht und den Europäischen Gemeinschaften als „phénomène nouveau“, das neuer Denk- und Rechtsfiguren bedürfe, „um es aus den eingefahrenen Gleisen des nationalen Rechts mit seiner Stufenfolge von Rechtssätzen und dem Dualismus von nationalem Recht und Völkerrecht herauszubekommen“, vgl. bereits Stern (Fn. 1), S. 540, der zugleich die fortbestehende Bedeutung der Verfas-

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staltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse bleiben. Dies gelte insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politische Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten. Als wesentliche Bereiche demokratischer Gestaltung nennt das BVerfG „unter anderem die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei intensiven Grundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege oder bei Unterbringungsmaßnahmen“, aber „auch kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis“41. Die – nicht abschließende – Konkretisierung solcher „essentieller“ Staatsaufgaben ist auf Kritik gestoßen42. Für das BVerfG ist insoweit aber nicht die „Staatlichkeit“, sondern das Demokratieprinzip der Ansatzpunkt gewesen. Beides hängt jedoch wegen des Ansatzes der erforderlichen zweigleisigen demokratischen Legitimation der Europäischen Union zusammen. Das BVerfG greift zudem Angriffspunkte der Beschwerdeführer auf43 und begründet sodann, dass der Vertrag von Lissabon – nach Maßgabe der vom BVerfG ausgeführten Gründe, das heißt freilich auch in der Interpretation des Gerichts – diese Grenze verfassungsrechtlich zulässiger Integration noch nicht überschreitet44. Hält man aber wie das BVerfG die fortbestehende „Staatlichkeit“ für durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützt, muss man wenigstens umschreiben, was deren Essentialia sein sollen45. Gleiches gilt hinsichtlich der Forderung, dass dem Deutschen Bundestag noch Aufgaben und Befugnisse von „substantiellem politischem Gewicht“ versungsbestandsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG betont. Vgl. dazu auch Josef Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte – offener Dissens, in: FS Stern, 1997, S. 1239 (1239 ff., 1248 ff.). 41 BVerfGE 123, 267 (357 f.) = EuGRZ 2009, 339 Tz. 249. 42 Vgl. z. B. Christoph Schönberger, Lisbon in Karlsruhe: Maastricht’s Epigones at Sea, German Law Journal 2009, 1201 (1210 f.); Christian Calliess, Das Ringen des Zweiten Senats mit der Europäischen Union: Über das Ziel hinausgeschossen . . ., ZEuS 2009, 549 (570 ff.); Armin von Bogdandy, Prinzipien der Rechtsfortbildung im europäischen Rechtsraum. Überlegungen zum Lissabon-Urteil des BVerfG, NJW 2010, 1 (3 f.). 43 Vgl. BVerfGE 123, 267 (305 ff.) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 100 ff. 44 BVerfGE 123, 267 (369 ff.) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 273 ff. 45 Vgl. zu den Essentialia der „Staatlichkeit“ der deutschen Länder BVerfGE 34, 9 (19 f.) – Beamtenbesoldungsstruktur; BVerfGE 87, 181 (196 f.). Vgl. dazu Sachs, in: ders. (Fn. 35), Art. 79, Rn. 43 m.w. N.

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bleiben müssen46. Diese Forderung hat das BVerfG erstmals im Maastricht-Urteil aufgestellt47, und dies wohl angesichts der Tatsache, dass durch den Vertrag von Maastricht mit der Währungshoheit eine ganz wesentliche, bei Einhaltung der Rahmenbedingungen verfassungsrechtlich zulässige48 Souveränitätsübertragung erfolgt war. Die derzeitige Diskussion um die Sicherung der Währungsunion gegenüber der sie tatsächlich bedrohenden exorbitanten Staatsverschuldung wirft die Frage auf, inwieweit dabei der Union weitere Rechte bis hin zu Eingriffsrechten gegenüber der den nationalen Parlamenten obliegenden Haushaltshoheit übertragen werden dürfen49. 3. Die Ultra-vires-Kontrolle

Das BVerfG nimmt nicht nur eine Kontrolle über das verfassungsrechtlich Übertragbare, sondern auch über das durch die Zustimmungsgesetze zu den Gründungsverträgen und ihren Änderungen Übertragene in Anspruch50. Es erkennt und akzeptiert dabei die Besonderheiten einer Integrationsgemeinschaft: „Wer auf Integration baut, muss mit der eigenständigen Willensbildung der Unionsorgane rechnen. Hinzunehmen ist daher eine Tendenz zur Besitzstandswahrung (acquis communitaire) und zur wirksamen Kompetenzauslegung im Sinne der US-amerikanischen implied powers-Doktrin . . . Dies ist Teil des vom Grundgesetz gewollten Integrationsauftrags“51. Es setzt allerdings auch dem verfassungsrechtliche Grenzen: „Das Vertrauen in die konstruktive Kraft des Integrationsmechanismus kann allerdings von Verfassung wegen nicht unbegrenzt sein. Wenn im europäischen Integrationsprozess das Primärrecht durch Organe verändert oder erweiternd ausgelegt wird, entsteht eine verfassungsrechtlich bedeutsame Spannungslage zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und zur verfassungsrechtlichen Integrationsverantwortung des einzelnen Mitgliedstaates“. Unbestimmt und zur dynamischen Fortentwicklung übertragene Gesetzgebungs- oder Verwaltungszuständigkeiten bergen die Gefahr in sich, dass das vorherbestimmte Integrationsprogramm durch die Unionsorgane überschritten wird 46

BVerfGE 123, 267 (356) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 246. BVerfGE 89, 155 (LS 4). 48 Vgl. BVerfGE 89, 155 (203 ff.) – Maastricht. Kritisch zur Einschätzung der Konvergenzkriterien der Währungsunion Streinz (Fn. 18), Rn. 1056. 49 Vgl. zu den Vorschlägen der Kommission Ulrich Häde, Kommissionsentwürfe für offensichtliche Ultra-vires-Akte, EuZW 2010, 921, der dafür eine Vertragsänderung für erforderlich hält. Die Frage der Grenze für mögliche Einschränkungen der Haushaltshoheit und damit der politischen Gestaltungsfreiheit der nationalen Parlamente geht darüber hinaus. 50 So wohl bereits vor dem Maastricht Urteil BVerfGE 75, 223 (243 f.) – Kloppenburg. Vgl. dazu Rudolf Streinz, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, DVBl. 1990, 949 (954). Ablehnend Eckart Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 56 (68 f.). 51 BVerfGE 123, 267 (351 f.) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 237. 47

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und am Ende deren Kompetenz steht, über ihre Kompetenzen zu disponieren. „Eine Überschreitung des konstitutiven Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und der den Mitgliedstaaten zustehenden konzeptionellen Integrationsverantwortung droht, wenn Organe der Europäischen Union unbeschränkt, ohne eine – sei es auch nur sehr zurückgenommene und sich als exzeptionell verstehende – äußere Kontrolle darüber entscheiden können, wie das Vertragsrecht ausgelegt wird“ 52. Nach Ansicht des BVerfG wird „deshalb von Verfassung wegen gefordert“, dem durch entsprechende Gestaltung der Integrationsverträge präventiv zu begegnen53. Darüber hinaus müsse es aber innerhalb der deutschen Jurisdiktion möglich sein, „im Fall von ersichtlichen Grenzüberschreitungen bei Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch die Europäische Union“ eine Ultra-vires-Kontrolle vorzunehmen, „wenn Rechtsschutz auf Unionsebene nicht zu erlangen ist“ 54. IV. Entschärfung des Konfliktpotentials gegenüber dem EuGH 1. Grundlagen des Konfliktpotentials

Ein potentieller Konflikt zwischen dem BVerfG und dem EuGH kann dadurch entstehen, dass für die Feststellung eines Überschreitens der verfassungsrechtlichen Schranken der Integrationsermächtigung das BVerfG, für die verbindliche Auslegung des dabei mittelbar überprüften Unionsrechts der EuGH zuständig ist. Diese Zuständigkeit wurde ihm in Art. 164 EWGV bzw. nach dem Vertrag von Maastricht EGV, nach dem Vertrag von Amsterdam Art. 220 EGV, jetzt Art.19 Abs. 1 S. 2 EUV übertragen. Damit besteht für das BVerfG das „Letztentscheidungsrecht“ 55 in verfassungsrechtlichen, für den EuGH in unionsrechtlichen Fragen. Um keine Aporie zwischen verfassungsrechtlicher und unionsrechtlicher Bindung entstehen zu lassen, muss nach Wegen gesucht werden, einen solchen Konflikt im Vorfeld zu vermeiden. Dazu tragen das BVerfG und in jüngster Zeit zunehmend auch der EuGH bei56.

52

BVerfGE 123, 267 (352) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 238. BVerfGE 123, 267 (353) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 239. 54 BVerfGE 123, 267 (353) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 240. 55 So ausdrücklich BVerfGE 123, 267 (381) = EuGRZ 2009, 399, Tz. 299. Vgl. auch – ungeachtet der grundsätzlichen Vertrauens auf die entsprechende Aufgabenwahrnehmung des EuGH – BVerfGE 123, 267 (399) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 337 m.w. N. 56 Vgl. zum Erfordernis gegenseitiger Rücksichtnahme zur Entschärfung der „im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslage“ BVerfG, EuGRZ 2010, 497, Tz. 57. Zur europarechtlichen Verpflichtung und zur Rechtsprechung des EuGH s. u. IV. 4. 53

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Rudolf Streinz 2. Methoden des BVerfG

a) Kontrollvorbehalt als ultima ratio Das Lissabon-Urteil zeigt deutlich, dass sich das BVerfG der Folgen der von ihm in Anspruch genommenen Kontrollkompetenz bewusst ist. Da durch die verfassungsgerichtliche Kontrolle sichergestellt wird, „dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nur kraft und im Rahmen der fortbestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung gilt“57, somit nicht unbeschränkt ist, können sowohl die Ultra-vires-Kontrolle als auch die Identitätskontrolle dazu führen, „dass Gemeinschafts- oder künftig Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar erklärt wird“58. Das BVerfG bemüht sich daher, „zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung“ durch die gebotene „europarechtsfreundliche Anwendung von Verfassungsrecht“ dieses Auseinanderfallen von verfassungsrechtlicher und unionsrechtlicher Bindung möglichst zu vermeiden und erklärt seine Kontrolle in Europarechtsfällen ausdrücklich als „Reservekompetenz“ 59, „sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist“ 60. Die Realisierung des Kontrollvorbehalts ist nur ultima ratio. Die „europarechtsfreundliche“ 61 Anwendung des Kontrollvorbehalts erfolgt zum einen durch die Reduktion des Prüfungsmaßstabs, zum anderen durch prozessuale Vorkehrungen. b) Materiell: Reduktion des Prüfungsmaßstabs Materiell reduziert das BVerfG den Prüfungsmaßstab. Dies erfolgte zunächst hinsichtlich des Grundrechtsschutzes, der nicht dem des Grundgesetzes voll entsprechen, sondern diesem „im wesentlich vergleichbar“ sein muss, eine Formel, die in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG aufgegriffen wurde. Weitgehend ist die Relativierung der Grundrechte durchaus systemkonform durch die Einbeziehung des europäischen Gemeinwohls in die deutsche Grundrechtsdogmatik möglich62. Dieser Standard muss nach Ansicht des BVerfG auch nur „generell“ gewahrt sein, d.h. das BVerfG nimmt nicht nur eine bloße negative Evidenzkontrolle vor sondern verzichtet auf eine Einzelfallkontrolle63. Die Relativierung der Maßstäbe erfolgte 57 BVerfGE 123, 267 (397) = EuGRZ 2009, 339. Tz. 332. Vgl. zum Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung Streinz (Fn. 18), Rn. 212 ff. 58 BVerfGE 123, 267 (354) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 241. 59 BVerfGE 123, 267 (401) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 341: „verfassungsrechtlich gebotene Reservekompetenz des Bundesverfassungsgerichts“. 60 BVerfGE 123, 267 (400 f.) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 340 unter Hinweis auf seine Rechtsprechung zu völkerrechtlichen Verträgen, hier die EMRK im Fall Görgülü, BVerfGE 111, 307 (317 f.). 61 Begriff parallel zum geläufigen Begriff der Völkerrechtsfreundlichkeit ausdrücklich erstmals im Lissabon-Urteil, BVerfGE 123, 267 (347, 354, 400 f.) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 225, 241, 340 und LS 4 S. 3. 62 Vgl. dazu Streinz (Fn. 9), S. 247 ff., 295; ders. (Fn. 18), Rn. 233, 246.

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zu Recht hinsichtlich der für einen Staat passenden Anforderungen an das Demokratieprinzip. Denn in einer „Staatengemeinschaft“ wie der Europäischen Union „kann insoweit demokratische Legitimation nicht in gleicher Form hergestellt werden wie innerhalb einer durch eine Staatsverfassung einheitlich und abschließend geregelten Staatsordnung“ 64. Gefordert wird daher lediglich eine strukturangepasste Grundsatzkongruenz mit den Prinzipien des Grundgesetzes, was ebenfalls in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG („Grundsätze“) zum Ausdruck kommt65. Die vom BVerfG im Maastricht-Urteil geforderten zweigleisigen demokratischen Legitimation über das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente66 bestätigt übrigens der Vertrag von Lissabon durch die Betonung des „aktiven“ Beitrags der nationalen Parlamente „zur guten Arbeitsweise der Union“ (Art. 12 EUV) ausdrücklich. Da der Vorrang der Verfassung gegenüber europarechtlichen Verpflichtungen auf „grundlegende Fragen der eigenen Identität“ 67 beschränkt wird, dürfte auch die Identitätskontrolle entsprechend reduziert sein. Bemerkenswert ist insoweit die vom BVerfG angeführte Parallele zur Rechtsprechung des EuGH im Fall Kadi, wonach dem völkerrechtlichen Geltungsanspruch einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen grundlegende Rechtsprinzipien der Gemeinschaft entgegengehalten werden könnten68. 63 Deutlich BVerfGE 102, 147 (LS 1 und 2) – Bananenmarktordnung. s. dazu unten IV. 2. c) aa). Kritisch zum Verzicht auf Einzelfallkontrolle Streinz (Fn. 18), Rn. 247. 64 BVerfGE 89, 155 (182). Bestätigt in BVerfGE 123, 267 (371) = EuGRZ 2009, 399, Tz. 278 – Lissabon: „Die Europäische Union entspricht demokratischen Grundsätzen, weil sie bei qualitativer Betrachtung ihrer Aufgaben- und Herrschaftsorganisation gerade nicht staatsanalog aufgebaut ist.“ Kritisch dazu z. B. Matthias Jestaedt, Warum in die Ferne schweifen, wenn der Maßstab liegt so nah? Verfassungshandwerkliche Anfragen an das Lissabon-Urteil des BVerfG, Der Staat 48 (2009), 497 (510 f.) unter Hinweis auf BVerfGE 123, 267 (370) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 276 und 289. Es wäre in der Tat besser, noch deutlicher zu machen, dass die Ausgestaltung der demokratischen Legitimation der Europäischen Union durch die beiden, jetzt im Vertrag von Lissabon deutlich als notwendig postulierten Stränge, nämlich das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente, ihrer spezifischen Struktur entspricht und daher – was das BVerfG ja letztlich auch sagt – kein Demokratiedefizit besteht. Insoweit sollte auch die spezifische Rolle des Europäischen Parlaments nicht negativ, sondern positiv dargestellt werden, um der stereotypen Behauptung eines „demokratischen Defizits“ entgegenzuwirken. Insoweit zutreffende Kritik an der zu negativen Bewertung der Rolle des Europäischen Parlaments durch das BVerfG bei Christoph Schönberger, Die Europäische Union zwischen „Demokratiedefizit“ und Bundesstaatsverbot. Anmerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Der Staat 48 (2009), 535 (551 f.), der freilich die besondere Struktur der Europäischen Union, der gerade die modifizierten Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG gerecht werden, nicht berücksichtigt. Dazu, dass dies erforderlich wäre, bereits Stern (Fn. 1), S. 540. 65 Vgl. dazu Streinz (Fn. 18), Rn. 324. 66 BVerfGE 89. 155 (185 f.). 67 BVerfGE 123, 267 (400 f. ) = EuGRZ 2009, 399, Tz. 340. 68 Ebd. unter Berufung auf EuGH, verb. Rs. C-402/P und C-415/05/P, Kadi und Al Barakat/Rat und Kommission, Slg. 2008, I-6351, Rn. 278 ff. = EuGRZ 2008, 480 = EuR 2009, 80.

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Die Frage, wie die Ultra-vires-Kontrolle ausfallen soll, hat das BVerfG im Honeywell-Beschluss dahingehend beantwortet, dass ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann ersichtlich sei, „wenn die europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist“ 69. Dabei akzeptiert das BVerfG „unionseigene Methoden der Rechtsfindung“ und konzediert dem EuGH ausdrücklich einen „Anspruch auf Fehlertoleranz“ 70. Es sei nicht seine Aufgabe, „bei Auslegungsfragen des Unionsrechts, die bei methodischer Gesetzesauslegung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen“. Als zweites, kumulatives einschränkendes Kriterium postuliert das BVerfG, dass selbst dann auch Interpretationen der vertraglichen Grundlagen hinzunehmen seien, „die sich ohne gewichtige Verschiebung im Kompetenzgefüge auf Einzelfälle beschränken und belastende Wirkungen auf Grundrechte entweder nicht entstehen lassen oder einem innerstaatlichen Ausgleich solcher Belastungen nicht entgegenstehen“ 71. Mit anderen Worten: Der Kompetenzverstoß muss irgendwie „systemrelevant“ sein. Darin wurde nicht nur im abweichenden Sondervotum des Richters Landau72 ein Abweichen vom Lissabon-Urteil des Zweiten Senats gesehen73. Europarechtliche Eigenheiten einschließlich „eigenständiger Willensbildung der Unionsorgane“ und „wirksamer Kompetenzauslegung“ – offensichtlich eine Anspielung an die „effet utile“-Rechtsprechung des EuGH – wurden allerdings bereits dort ausdrücklich als notwendige Folgen der vom Grundgesetz gewollten Integration akzeptiert74. Auch der Ansatz einer Evidenzkontrolle überrascht nicht.75 Darüber hinaus geht aber in der Tat das kumulative Erfordernis einer „strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und supranationaler Organisation“ 76, das allerdings die Tendenz des zum Grundrechtsschutz ergangenen Bananenmarktordnungsbeschlusses des BVerfG bestätigt, das Letztentscheidungsrecht „nur noch auf dem Papier zu be-

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BVerfG, EuGRZ 2010, 497, Tz. 61. BVerfG, EuGRZ 2010, 497, Tz. 66. Für Fehlertoleranz ausdrücklich bereits Klein (Fn. 50) S. 66 f. 71 BVerfG, EuGRZ 2010, 497, Tz. 66. 72 BVerfG, EuGRZ 2010, 508, Tz. 95 ff., 102 ff. 73 Vgl. z. B. Claus Dieter Classen, Anmerkung, JZ 2010, 1186 (1186 f.). Vgl. dort auch als mögliche Erklärungen der Unterschiede, dass andernfalls das Lissabon-Urteil nicht – wie gewollt – einstimmig erlassen worden wäre. 74 BVerfGE 123, 267 (351 f.) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 237. 75 Vgl. die Literaturnachweise in BVerfG, EuGRZ 2010, 497, Tz. 61, die sich dafür aussprachen. 76 So Sondervotum Landau, EuGRZ 2010, 508, Tz. 102. 70

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haupten“ und vor der „praktisch wirksamen Vollziehung zurückzuschrecken“ 77. Dies wirft die Frage auf, ob auch hinsichtlich der Ultra-vires-Kontrolle die Anforderungen an die Befassung des BVerfG entsprechend verschärft werden78. c) Prozessuale Vorkehrungen aa) Erschwerung der Anforderungen für Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen Wohl auch um übertriebene Hoffnungen in die bundesverfassungsgerichtliche Kontrolle in „Europarechtssachen“ zu zerstreuen und insoweit auch die Arbeitslast des Gerichts zu reduzieren hat das BVerfG im Bananenmarktordnungsbeschluss die Anforderungen für Verfassungsbeschwerden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) und Richtervorlagen (Art. 100 Abs. 1 GG) erheblich erschwert. Danach sind Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend machen, von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des EuGH nach Ergehen der Solange II-Entscheidung im Jahr 1986 unter den geforderten Grundrechtsstandard abgesunken sei. Deshalb muss die Begründung der Vorlage oder einer Verfassungsbeschwerde im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist. Dies erfordert eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene in der Art und Weise, wie das BVerfG sie im Solange IIBeschluss geleistet habe.79 Mit dem Abstellen auf die generelle Gewährleistung des Grundrechtsschutzes hat das BVerfG klargestellt, dass es einen Einzelfall als solchen nicht prüfen wird. Die den Beschwerdeführern bzw. Fachgerichten auferlegte Darlegungslast führt praktisch dazu, dass die verfassungsgerichtliche Kontrolle von deutschen Vollzugsakten von Sekundärrecht, d. h. dem Vollzug von EU-Verordnungen und – dies hat das BVerfG in späteren Entscheidungen klargestellt80 – von deutschen Umsetzungsakten von EU-Richtlinien, soweit sie durch die europarechtliche Vorgabe determiniert sind, praktisch nicht mehr erfolgen wird81, der Kontrollvorbehalt allein das grundsätzliche Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten kennzeichnet und darin auch seine fortbestehende Bedeutung behält. 77

Ebd., Tz. 104. s. dazu unten IV. 2. c) aa) und IV. 3. 79 BVerfGE 102, 147 (LS 1 und 2) – Bananenmarktordnung unter Hinweis auf BVerfGE 73, 339 (378–381). 80 BVerfGE 118, 79 (95 ff.) m.w. N. – Treibhausgasemissionen. 81 Plastisch Udo Steiner, Richterliche Grundrechtsverantwortung in Europa, in: FS Maurer, 2001, S. 1005 (1013): Spieler auf der Ersatzbank mit geringer Einsatzchance. 78

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bb) Monopolisierung beim BVerfG Da sowohl die Ultra-vires-Kontrolle als auch die Identitätskontrolle dazu führen können, dass Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar erklärt wird, hat das BVerfG „zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung“ die Entscheidungen über eine Ultra-vires-Feststellung wie auch die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität – entsprechend dem Rechtsgedanken des Art. 100 Abs. 1 GG – bei ihm selbst monopolisiert.82 Dies ist zwar praeter legem,83 stellt aber durchaus eine Parallele zu Art. 100 Abs. 1 GG dar. Denn dadurch wird zum einen verhindert, dass es möglicherweise nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten, sondern sogar innerhalb eines Mitgliedstaates selbst zu uneinheitlicher Anwendung des Unionsrechts kommt. Zum anderen wird die Entscheidung über ein mögliches Abweichen von Entscheidungen der Unionsorgane dem höchsten deutschen Gericht vorbehalten, das darüber in Wahrnehmung seiner „Integrationsverantwortung“ 84 und entsprechend verantwortungsvoll zu befinden hat. Das BVerfG führt als mögliche Verfahren die abstrakte (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) und konkrete (Art. 100 Abs. 1 GG) Normenkontrolle, den Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), den Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG) und die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) an. Seine Erwägung („denkbar“), „ein speziell auf die Ultra-vires- und die Identitätskontrolle zugeschnittenes verfassungsgerichtliches Verfahren durch den Gesetzgeber zur Absicherung der Verpflichtung deutscher Organe, kompetenzüberschreitende oder identitätsverletzende Unionsrechtsakte im Einzelfall unangewendet zu lassen“ zu schaffen,85 führte eher zu Überlegungen, die Kompetenz des BVerfG in „Europarechtssachen“ einzuschränken oder ganz abzuschaffen,86 wurde aber nicht weiter verfolgt. cc) Vorherige Vorlage an den EuGH Im Honeywell-Beschluss betont das BVerfG nicht nur ausdrücklich, dass es die Entscheidungen des EuGH grundsätzlich als verbindliche Auslegung des Unionsrechts zu beachten habe, sondern stellt klar, dass deshalb vor der Annahme eines Ultra-vires-Akts der europäischen Organe und Einrichtungen dem Gerichtshof im 82

BVerfGE 123, 267 (354) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 241. Josef Isensee, Integrationswille und Integrationsresistenz des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht zum Vertrag von Lissabon, ZRP 2010, 33 (35). 84 Vgl. dazu Pascal Hector, Zur Integrationsverantwortung des Bundesverfassungsgerichts, ZEuS 2009, 599 (610 ff.). 85 BVerfGE 123, 267 (355) = EuGRZ 2009, 339, Tz. 241. Es handelte sich ausdrücklich um eine bloße Anregung. 86 Vgl. dazu Heiko Sauer, Kompetenz- und Identitätskontrolle von Europarecht nach dem Lissabon-Urteil. Ein neues Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht?, ZRP 2009, 195 (197 f.). 83

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Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Rechtsakte gegeben werden müsse. Zuvor dürfe es keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen87. Es verweist dabei auf das Lissabon-Urteil. Allerdings war dies dort jedenfalls nicht ausdrücklich festgestellt worden.88 Der darauf beruhenden Kritik wurde durch diese wichtige Klarstellung89 entsprochen, die Forderungen, eine entsprechende Vorlagepflicht ausdrücklich gesetzlich zu verankern,90 werden – auch aus europarechtlichen Bedenken, da durch die zwangsläufige Bezugnahme die Kontrollvorbehalte gesetzlich fixiert würden91 – zu Recht nicht weiter verfolgt. 3. Unterschiede hinsichtlich der Kontrollgegenstände

Die Grundrechtskontrolle und die Identitätskontrolle stellen auf das am Maßstab des Grundgesetzes Übertragbare, die Ultra-vires-Kontrolle stellt auf das durch das deutsche Zustimmungsgesetz Übertragene ab. Es ist daher fraglich, ob und inwieweit hier prinzipielle Unterschiede hinsichtlich der Kontrollgegenstände geboten sind. Die Monopolisierung beim BVerfG sowie die vorherige Vorlage an den EuGH treffen auf alle Kontrollgegenstände zu. Obwohl das BVerfG sich dazu nicht ausdrücklich geäußert hat, liegt nach dem Honeywell-Beschluss eine Parallele auch hinsichtlich der Erschwerung der Anforderungen für Verfassungsbeschwerden und Richtervorlagen nicht fern. Das würde bedeuten, dass das BVerfG in Zukunft den Ansatz des Bananenmarktordnungs-Beschlusses aufgreift und fordert, dass seitens des Beschwerdeführers im Verfassungsbeschwerdeverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) bzw. seitens der im konkreten Normenkontrollverfahren (Art. 100 Abs. 1 GG) vorlegenden Gerichte ein „hinreichend qualifizierter“ Verstoß dahingehend dargelegt wird, „dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaat und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung er87

Ebd., Tz. 60. Vgl. die zitierte Passage in BVerfGE 123, 267 (353) = EuGRZ 2009, 339 (363 f.), Tz. 239 ff. 89 Vgl. zur Bedeutung des Vorlageverfahrens für den notwendigen Rechtsprechungsdialog Thomas von Danwitz, Kooperation der Gerichtsbarkeiten in Europa, ZRP 2010, 143 (144 f.). Zum Erfordernis einer Vorlage vor einer beabsichtigten vom Gemeinschaftsrecht (jetzt Unionsrecht) bzw. der Rechtsprechung des EuGH abweichenden Entscheidung des BVerfG vgl. Streinz (Fn. 9), S. 157 m.w. N. 90 Vgl. den bei Jan Bergmann/Ulrich Karpenstein, Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht – Zur Notwendigkeit einer GESETZLICHEN VORLAGEVERPFLICHTUNG, ZEuS 2009, 529 (539) zitierten Aufruf (Hervorhebung im Original). 91 Vgl. dazu auch Carl Otto Lenz, Brauchen wir ein neues Kontrollverfahren für das Recht der Europäischen Union vor dem BVerfG?, ZRP 2010 22 (23 f.). 88

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heblich ins Gewicht fällt“. Dies wäre zwar insoweit konsequent, da das BVerfG nur in diesem Fall in die materielle Prüfung eintritt. Es würde aber den Beschwerdeführern bzw. den vorlegenden Gerichten einen erheblichen Begründungsaufwand abverlangen und nach der Grundrechtskontrolle auch die Ultra vires-Kontrolle praktisch fast unmöglich machen.92 4. Der Beitrag des EuGH: Gegenseitige Rücksichtnahme

Obwohl Art. 10 EGV allein die Pflichten der Mitgliedstaaten ansprach, wurde die Loyalitätspflicht vom EuGH bereits zutreffend als eine gegenseitige, somit auch die Union gegenüber den Mitgliedstaaten erfassende gesehen93. Der Vertrag von Lissabon stellt dies jetzt in Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV klar94. Das BVerfG als Gericht eines Mitgliedstaates und der EuGH als Organ der Union (Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV) sind somit zur gegenseitigen Rücksichtnahme verpflichtet. Zu den Aufgaben des EuGH, die sich aus den Verträgen ergeben und bei deren Erfüllung er die Mitgliedstaaten zu achten hat, gehört insoweit die Wahrung der im Vertrag von Lissabon besonders betonten95 und durch die Fixierung von Kompetenztypen sowie der Zuweisung jeweiliger Materien präzisierten96 Kompetenzordnung zwischen Union und Mitgliedstaaten sowie die Achtung der „jeweiligen nationalen Identität“ (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV) der Mitgliedstaaten. Die Kompetenz für die Interpretation und damit für die Bestimmung der Tragweite der die Union ermächtigenden Bestimmungen wurde ausdrücklich dem EuGH übertragen97. Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, insoweit „Partei“ zu sein und die Kompetenzen der Union extensiv, zum Teil „ultra vires“ auszulegen, und dabei zum Teil nachvollziehbare Begründungen vermissen zu lassen98, soll sich der Gerichthof jedenfalls insoweit nicht als „Motor der Integration“99, sondern 92

Vgl. auch Classen (Fn. 73), DVBl. 2010, 1186 f. Vgl. dazu Rudolf Streinz, in: ders., EUV/EGV, Kommentar, 2003, Art. 10 EGV, Rn. 6 m.w. N. 94 Vgl. dazu Rudolf Streinz, in: ders., EUV/AEUV, Kommentar, 2. Aufl., 2012, Art. 4 EUV, Rn. 4. 95 Vgl. die Hervorhebung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV, auf den u. a. auch Art. 4 Abs. 1 EUV verweist, sowie die im Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (ABl. 2010 Nr. C 83/206) präzisierten Kompetenzausübungsschranken des Subsidiaritätsprinzips und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 3 und 4 EUV). Vgl. dazu Streinz (Fn. 94), Art. 5 EUV, Rn. 2 ff. 96 Art. 2–6 AEUV. 97 Vgl. neben der Grundsatznorm des Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV z. B. Art. 263, Art. 264 AEUV (Kompetenz zur Nichtigerklärung von Sekundärrecht) und Art. 267 AEUV (Vorabentscheidung in Auslegungs- und Gültigkeitsfragen). 98 Vgl. zu diesem Vorwurf differenzierend Rudolf Streinz, Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH. Eine kritische Betrachtung, ZEuS 2004, 387 (398 ff.). 93

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als „Verfassungsgericht“ zur Wahrung der Balance zwischen den Kompetenzen der Union und den Kompetenzen der Mitgliedstaaten verstehen100. Denn nur dann wurde die Forderung nach der Errichtung eines „neutralen“ Kompetenzgerichtshofs101 im Vertrag von Lissabon zu Recht nicht aufgegriffen102. Während in der Kompetenzfrage manche Erwartungen nach dem durchaus grundlegenden Tabakwerbeverbots-Urteil103 enttäuscht wurden104, lassen sich in der Grundrechtsfrage durchaus Tendenzen der Rücksichtnahme auf Besonderheiten der Mitgliedstaaten105 und der Präzisierung und Intensivierung der Grundrechtsprüfung auch gegenüber dem Unionsgesetzgeber106 erkennen. V. Ergebnis Das BVerfG hat im Lissabon-Urteil und im Honeywell-Beschluss einerseits seinen verfassungsrechtlich radizierten Kontrollvorbehalt hinsichtlich der Einhaltung der Schranken der Integrationsermächtigung bestätigt, andererseits im Interesse der Einheitlichkeit des Unionsrechts für seine Aktivierung hohe Hindernisse errichtet und zur Konfliktvermeidung das Kooperationsverhältnis mit dem EuGH ausdrücklich auf die Ultra-vires-Kontrolle erstreckt und durch die Bestäti99 Vgl. zu dieser Rolle, die in der Aufbauphase der Gemeinschaften in mancher Hinsicht angebracht war, Peter M. Huber, Das Verhältnis des EuGH zu den nationalen Gerichten, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/2, 2009, § 172, Rn. 92. 100 Vgl. Rudolf Streinz, Die Rolle des EuGH im Prozess der Europäischen Integration. Anmerkungen zu gegenläufigen Tendenzen in der neueren Rechtsprechung, AöR 135 (2010), 1 (27). 101 Vgl. Siegfried Broß, Bundesverfassungsgericht – Europäischer Gerichtshof – Europäischer Gerichtshof für Kompetenzkonflikte – Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom ausbrechenden Rechtsakt und vom Kooperationsverhältnis, VerwArch 2001, 425 (429); Ulrich Goll/Markus Kenntner, Brauchen wir ein Europäisches Kompetenzgericht? Vorschläge zur Sicherung der mitgliedstaatlichen Zuständigkeiten, EuZW 2002, 101 (105 f.); für ein „Subsidiaritätsgericht“ Christian Koenig/Ralph Alexander Lorz, Stärkung des Subsidiaritätsprinzips, JZ 2003, 167 (172). 102 Vgl. dazu Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU. Einführung mit Synopse, 3. Aufl., 2010, S. 105. 103 EuGH, Rs. Deutschland/Europäisches Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 76 ff. – Tabakwerbeverbot I. 104 Nach EuGH, Rs. C-380/03, Deutschland/Europäisches Parlament und Rat, Slg. 2006, I-11573, Rn. 36 ff., 92 ff. – Tabakwerbeverbot II. Vgl. dazu z. B. Jörg Gundel, Die zweite Fassung der Tabakwerberichtlinie vor dem EuGH: Weitere Klärungen zur Binnenmarkt-Harmonisierungskompetenz der Gemeinschaft, EuR 2007, 251 (257 f.) m.w. N. 105 Vgl. insbesondere EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609 – Omega Spielhallenund Automatenaufstellungs-GmbH/Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn (Laserdrome), Rn. 30 ff. 106 Vgl. EuGH, Urteil vom 9.11.2010, verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 – Volker und Markus Schecke GbR und Hartmut Eifert/Land Hessen, EuGRZ 2010, 707.

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gung der unionsrechtlich gebotenen Vorlagepflicht bei einem möglichen Abweichen vom Unionsrecht bzw. der Rechtsprechung des EuGH präzisiert. Damit setzt das BVerfG seine – entgegen mancher Kritik – von Anfang an ungeachtet der Betonung verfassungsrechtlicher Schranken der Integrationsermächtigung „europarechtsfreundliche“ Rechtsprechung107 fort. Da sich auch der EuGH im Rahmen seiner Verpflichtung zur Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV) um Konfliktvermeidung bemüht108, wirken BVerfG und EuGH nicht gegeneinander, sondern gemeinsam im Rahmen eines „europäischen Verfassungsgerichtsverbunds“ 109. In diesem Geiste können auch durchaus vorhandene Problemfelder110 bewältigt werden. Nur dies entspricht auch einer Union, die gegenüber herkömmlichen Formen des Völkerrechts wie des Verfassungsrechts ein – in den Worten von Klaus Stern – „phénomène nouveau“ 111 ist und – wie gerade der Vertrag von Lissabon zeigt – auch nach den seitherigen Fortentwicklungen geblieben ist.

107 Vgl. dazu Michael Gerhardt, Europa als Rechtsgemeinschaft: Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts, ZRP 2010, 161 (162 f.). 108 Vgl. dazu Vassilios Skouris, Vorrang des Europarechts: Verfassungsrechtliche und verfassungsgerichtliche Aspekte, in: Winfried Kluth (Hrsg.), Europäische Integration und nationales Verfassungsrecht, 2007, S. 31 (39); Thomas von Danwitz, Funktionsbedingungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, EuR 2008, 769 (784); Peter M. Huber, Unitarisierung durch Gemeinschaftsgrundrechte – Zur Überprüfungsbedürftigkeit der ERT-Rechtsprechung, EuR 2008, 190 (199). 109 So Andreas Voßkule, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 (5 ff.). Ebenso Skouris (Fn. 108), S. 39 ff. Problematischer könnte angesichts dessen in jüngster Zeit zu verzeichnenden Tendenz zu „judicial activism“ das Verhältnis des BVerfG und möglicherweise nach dem Beitritt der Union zur EMRK auch des EuGH zum EGMR werden. Vgl. dazu EuGRZ 2010, 368: „Scheidender BVerfG-Präsident H.-J. Papier warnt EGMR vor bedrohlichen Erschütterungen der Akzeptanz seiner Urteile und der Befolgungsbereitschaft“. 110 Vgl. dazu von Danwitz (Fn. 89), ZRP 2010, 146 f. Vgl. zu im Bereich des Datenschutzes angesichts BVerfG, NJW 2010, 833 (839 f.) – Vorratsdatenspeicherung – zu entschärfendem Konfliktpotential Gerhardt (Fn. 107), ZRP 2010, 164 f. Diesem Bereich widmet der EuGH aber besonderes Augenmerk, sowohl gegenüber den Mitgliedstaaten (vgl. EuGH, Rs. C-518/07, Kommission/Deutschland, EuGRZ 2010, 58 – unzureichende Umsetzung der Datenschutzrichtlinie 95/46/EG) als auch gegenüber den Unionsorganen (vgl. EuGH, verb. Rs. C-92/09 und C-93/09 – Volker und Markus Schecke GbR und Hartmut Eifert/Land Hessen, EuGRZ 2010, 707). 111 Stern (Fn. 1), S. 540.

Grundrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem: Eine spanische Sichtweise Von Carlos Vidal Prado* I. Einleitung Vielleicht war es eine der wichtigsten Errungenschaften des Vertrages von Lissabon, die Charta der Grundrechte aus den Elementen des gescheiterten Vertrags über eine Verfassung für Europa heraus zu „retten“ und sie als verbindlichen Teil in das Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union aufzunehmen, wenn auch auf indirektem Wege (und trotz der kläglichen Ausschlussklauseln, die von Polen, Großbritannien und Tschechien geltend gemacht wurden). Aus symbolischer Sicht wäre es zwar wesentlich angemessener gewesen, die Charta – um sie den Bürgern sichtbar zu machen – in den Vertrag selbst aufzunehmen, aber immerhin wurde so ihr juristisch verbindlicher Charakter bestätigt1. Auf internationaler Ebene, als auch in Europa, hat sich nach und nach eine Menschenrechtskultur gebildet, die von einigen als „internationales Recht der Verfassungsstaaten“ bezeichnet und von Rawls als ,Law of peoples‘ umschrieben wurde2. Bei dieser Rechtskultur steht die Etablierung eines allgemeinen Bewusstseins über den nötigen internationalen Schutz des Rechts und der Freiheiten im Vordergrund, und genauer um deren gerichtlichen Schutz gehen, der so viel wirksamer ist als der diplomatische Schutz, der noch bis vor einigen Jahren vorherrschte. Dennoch lässt sich nicht von einer weltweit verbreiteten Kultur sprechen, weil die demokratischen Staaten weiterhin in der Minderheit sind und immer noch totalitäre Regime vorherrschen, in denen sehr oft die Menschenrechte verletzt werden. Diese Regimes sind eine Realität, die hartnäckig den mehr als hundert Maßnahmen wie Erklärungen und Verträgen, die seit 1945 zur Sicherung der Menschenrechte ergriffen wurden, und den unzähligen Institutionen zu deren Förderung trotzen.

* Universidad Nacional de Educación a Distancia (Staatliche Fernuniversität), Madrid. Herrn Prof. Dr. Johann Christian Pielow und Herrn PD Dr. Markus Thiel danke ich für die Unterstützung bei der Erstellung des deutschsprachigen Manuskripts. 1 Tajadura (2010), S. 25. 2 Rawls (1993), S. 36 ff.; Rawls (1999), § 2.

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Mit P. Nikken3 ließe sich sagen, dass die Summe aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966), dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950) eine Charta für internationale Menschenrechte darstellt. Außer der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die als dogmatischer Teil der „materiellen Verfassung“ der Europäischen Union betrachtet werden kann, sind dieser „Charta für internationale Menschenrechte“ viele weitere spezielle Erklärungen gefolgt, die Frauen, Kinder, Behinderte, Folter, Rassendiskriminierung u. a. betreffen. Derselbe Autor erklärt treffend, dass sich die diesbezügliche internationale Entwicklung eben durch ihre Weiterentwicklung definiert. Dies gilt sowohl für die Anzahl und den Inhalt der berücksichtigten Rechte als auch für die Wirksamkeit und Gültigkeit der Schutzmaßnahmen. Den Erklärungen folgten Verträge, diesen schloss sich die Bildung von Organen der Förderung und des Schutzes an, und schlussendlich bildeten sich juristische Organe – mit einer deutlich höheren Effizienz –. Trotzdem hängt diese Effizienz immer noch stark von der nationale Garantien der Grundrechte ab. Parallel zu der darauffolgenden Zunahme des Rechtsschutzes auf europäischer und internationaler Ebene hat sich in Spanien ein weiteres neues Phänomen entwickelt, das auch mit einem gewissen neuen Grad an Schutz einhergeht, den man in im Bereich der einzelnen autonomen Regionen beobachten kann. Die neuerlichen Reformen der Autonomiestatuten haben mit der Einbindung dieser statutengemäßen Texte einen neuen Absatz mit sich gebracht, der zuvor nicht existierte: der einer Erklärung der Rechte. Obwohl es sich hauptsächlich um soziale Rechte handelt, wurden auch die bürgerlichen Rechte eingeschlossen. Auf diese Weise sollte die Sicherheit dieser Rechte erhöht werden. Der spanische Autonomienstaat ist der Schlüssel zu unserem Sozialstaat, da die Zuständigkeit für die Bereiche Bildung, Gesundheit und Sozialwesen grundsätzlich bei den autonomen Regionen liegt. Mit dieser neuen Ausarbeitung sollte die eigene öffentliche Sozialpolitik gestärkt werden, von der persönliche – stets gesetzlich strukturierte – Rechte auf bestimmte Leistungen abgeleitet werden könnten. Die Debatte, die dadurch in Spanien ausgelöst wurde, geht grundsätzlich von der Befürchtung aus, dass dieser unterschiedliche Sicherheitsgrad in den einzelnen Gebieten des Landes eine ungleiche Behandlung der spanischen Bürger, je nachdem, in welchem Gebiet sie leben, bedeuten könne4. Darauf werden wir später genauer eingehen.

3 4

Nikken (1987). Vgl. Díez-Picazo (2006); Caamaño (2007).

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Hinsichtlich des oben Angeführten kann schließlich behauptet werden, dass die Rechte eine Art der öffentlichen nationalen, internationalen und überstaatlichen Ordnung bilden (einschließlich der unterschiedlichen nationalen Territorien zusammengesetzter Staaten wie Spanien). Diese Ordnung rechtfertigt die Entstehung von Institutionen und Rechtsprechungen in diesen Bereichen zu ihrem Schutz. Dies kann mögliche Einbußen der internen staatlichen Autonomie in dem jeweiligen Gebiet mit sich bringen, die bis zur Berechtigung zur internationalen Intervention in Staaten, die die Menschenrechte schwer verletzen, reichen können. Allerdings hängt die Wirksamkeit des internationalen Rechtsschutzes, konkret des gerichtlichen Rechtsschutzes, immer noch in mehr oder weniger großem Ausmaß von der internen Rechtssicherheit der Staaten ab. Entscheidend ist, ob dieser Internationalisierung ein Vertrag vorsteht, dem diese Staaten angeschlossen sind, oder ob es sich um eine Supranationalisierung handelt, die in einer obergeordneten Institution mündet, der die Staaten als Mitglieder verbunden sind. Aber noch ist die staatliche Sicherung der Rechte unersetzlich5. In diesem Sinne ist die Wirksamkeit des internationalen Schutzes ebenfalls vom internen Rechtssicherheitsgrad abhängig. So wird es in manchen Staaten einen höheren Rechtssicherheitsgrad als den von internationalen Normen bestimmten geben und der Einfluss, den der Schutz auf internationaler Ebene auf die interne Ebene haben kann, kaum merklich und damit unnötig sein. Mit Blick auf diese Entwicklung der Rechtssicherheit auf verschiedenen Ebenen wird häufig der Ausdruck „mehrstufig“ verwendet. Er lässt sich auch auf die Interaktion zwischen Verfassungsräumen und -ordnungen anwenden, besonders auf europäischer Ebene6. Dieser Beitrag wird näher auf die Klausel der Öffnung der Spanischen Verfassung für den internationalen Rechtsschutz (II.) und die europäischen Schutzbereiche, den Europarat (III.) und auf die Europäische Union (IV.) selbst eingegangen. Des Weiteren wird auf den neuen Ansatz der Autonomiestatute eingegangen, indem ein Rechtskatalog (V.) aufgegriffen wird, und schließlich wird eine Schlussfolgerung (VI.) formuliert. II. Die Öffnungsklausel des Artikels 10.2 der spanischen Verfassung Die spanische Verfassung gestaltet das Modell eines gegenüber den internationalen Kreisen offenen Staates. Dies erfolgt sowohl durch die Möglichkeit, die Wahrnehmung verfassungsgemäßer Zuständigkeiten (Art. 93) an supranationale Organisationen abzugeben, als auch durch die Übernahme des zeitgenössischen Paradigmas des Schutzes der Grundrechte, welches das internationale Recht der 5 „Der Staat ist weiterhin der Maßstab für die Anerkennung und den Schutz der Rechte“. Vgl. Balaguer (2008), S. 134. 6 Pernice (1999); Pernice/Kanitz (2004); D’Atena/Grossi (2004); Bilancia (2006).

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Menschenrechte in unsere Ordnung aufnimmt. Folglich handelt es sich um einen international integrierten Staat, wie es die Literatur richtig hervorgehoben hat7. Dies schlägt sich insbesondere im Bereich der Grundrechte nieder, zumal nach Art. 10.2 der spanischen Verfassung gilt: „Die Normen bezüglich der Grundrechte und der Freiheiten, welche die Verfassung anerkennt, sind gemäß der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den internationalen Verträgen und Abkommen zu den gleichen Themen auszulegen, die von Spanien ratifiziert wurden.“

Wie González Campos bereits gezeigt hat, ist diese Bestimmung ein „Mandat“ der Verfassung für eine korrekte Auslegung der in der Verfassung anerkannten Grundrechte8. Diese Auslegung dient der „Identifikation des Sinns von normativen Vorgaben, die fast ausnahmslos durch ihr umstrittenes Wesen, ihre Unbestimmtheit, Offenheit und Unschlüssigkeit gekennzeichnet sind“ 9. Was die Wirkung dieser Auslegungsvorschrift des Art. 10.2 der spanischen Verfassung betrifft, so sind die Literatur und das Verfassungsgericht der Auffassung, dass diese die Aufnahme neuer Grundrechte in unsere Ordnung erschwert (der angemessene Weg wäre Art. 96 der spanischen Verfassung, demzufolge die internationalen Verträge – einschließlich derer, die neue Rechte anerkennen – einen Teil unserer Ordnung bilden, wenngleich diese neu aufgenommenen Gesetze keine Grundrechte wären). Was durchaus möglich wäre, ist „nicht explizit in der Verfassung angeführte Aspekte“ 10 in bereits anerkannte (d. h. bereits im Verfassungstext enthaltene) Rechte aufzunehmen. Bezüglich dieses Punktes ist Díez-Picazo zu der Behauptung gelangt, dass „es angebracht ist, internationale Menschenrechtsverträge als Normen aufzufassen, die in gewisser Weise tatsächlich Titel I der Verfassung entwickeln“ 11. Bezüglich der Reichweite dieser hermeneutischen Klausel muss von der Feststellung ausgegangen werden, dass die Anwendung der in Art. 10.2 der spanischen Verfassung enthaltenen Norm bezüglich der Auslegung der schutzbedürftigen Grundrechte (welche sich in hohem Maße mit den politischen und Bürgerrechten decken) gänzlich außer Zweifel steht. Dies hat zur Folge, dass die Beachtung des Art. 10.2 der spanischen Verfassung bei dieser Auslegung dazu „befugt und sogar anrät“, sich an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) unter Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 zu wenden, wie es das Verfassungsgericht be-

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Vgl. Torres del Moral (2010), S. 109 ff. González Campos (1999), S. 42 und 47. 9 Sáiz Arnáiz (2008), S. 193. 10 Sáiz Arnáiz (2008), S. 196. 11 Díez-Picazo (2003), S. 153 und 154. 8

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reits früh festlegte12. Das bedeutet auch, dass bei der vom Verfassungsgericht während der 30 Jahre seines Bestehens verfolgten Aufgabe der Abgrenzung des Inhalts der einzelnen Rechte der Doktrin des Straßburger Gerichtshofs besondere Bedeutung zugekommen ist13, die in großen Teilen von unserem Verfassungsgericht in das konstitutionelle Verfassungssystem aufgenommen wurde. Es ist behauptet worden, das Verfassungsgericht habe die Auslegungsvorgabe von Art. 10.2 der Verfassung eher auf die Rechte von Kapitel 2 des o. g. Titels I eingeschränkt, insbesondere auf die des 1. Abschnitts, d.h. die durch Verfassungsbeschwerde zu schützenden Rechte angewendet14. Man könnte sie jedoch für die Auslegung aller in Titel I der Verfassung eingeräumten Rechte nutzen, die einem Recht entsprechen mögen, das durch einen von Spanien unterzeichneten internationalen Vertrag anerkannt wird, zumindest wenn dieser Vertrag einen Rechtsprechungsmechanismus aufweist (d. h. ein Organ, das zur Auslegung der genannten Rechte und zur verbindlichen Durchsetzung dieser Auslegung in den Staaten, die den entsprechenden Vertrag unterzeichnet haben, befugt ist). III. Der Schutz der Rechte im Rahmen des Europarats 1. Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des EGMR

Sowohl das Übereinkommen von Rom von 1950 als auch die Europäische Sozialcharta enthalten Rechtsprechungsmechanismen, die zur Garantie der in diesen Texten anerkannten Rechte beitragen und sich somit auch auf die Auslegung dieser Rechte innerhalb von Spanien auswirken können. In Spanien besteht kein Zweifel an der Stellung der Europäischen Menschenrechtskonvention innerhalb der Reichweite der Auslegungsvorschrift von Art. 10.2. Es wurde sogar behauptet, die Europäische Menschenrechtskonvention gebe eine „öffentliche europäische Ordnung“ vor15 oder besitze die Kraft, einen europäischen Raum zu schaf12 Vgl. beispielsweise das Urteil des spanischen Verfassungsgerichts 36/1984, Rechtsgrund 3: „Der Verweis, den Art. 10.2 der spanischen Verfassung auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die von Spanien unterzeichneten internationalen Abkommen und Vereinbarungen zu diesen Themen für die Auslegung der Verfassungsvorgaben über Grundrechte und öffentliche Freiheiten macht, befugt und rät sogar an, (. . .) auf die Doktrin des Europäischen Gerichtshofs für Menschrechte (EGMR) zurückzugreifen“. Allerdings bedeutet dies nicht, dass das Verfassungsgericht die Doktrin des EGMR stets und in allen Punkten übernommen hat. In diesem Sinne nennt das Urteil des Verfassungsgerichts 236/2007 vom 7. November in seinem Rechtsgrund 11 ausdrücklich Unterschiede in den von beiden Gerichten zugrunde gelegten Kriterien und hebt dabei den Kontrast zwischen den jeweiligen Rechtssprechungslinien bezüglich der Existenz eines „Rechts auf Familienleben“ hervor. 13 García de Enterría (1990); Vidal Prado (2001). 14 Sáiz Arnáiz (2008), S. 195. 15 Fernández Sánchez (1987), S. 56.

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fen, weil sie sich aus Rechten und Freiheiten zusammensetze und diese integriere16. In der Auslegung der durch das Übereinkommen von Rom anerkannten Rechte „hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Rolle als quasikonstitutionelles Organ für Menschenrechtsfragen in Europa übernommen“ 17. Dies liegt zum einen daran, dass die Entscheidungen des Straßburger Gerichts für die Staaten verbindlich sind, und zum anderen daran, dass der Gerichtshof mit seinen Entscheidungen den Inhalt und die Grenzen der Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention konturiert. In diesem Sinne hat das Gericht selbst ausdrücklich betont, dass „seine Entscheidungen nicht nur der Lösung der ihm vorgelegten Fälle, sondern im weiteren Sinne dazu dient, die Normen der Konvention zu verdeutlichen, zu verteidigen und zu entwickeln und auf diese Weise dazu beizutragen, dass die Staaten ihre als Vertragspartner eingegangenen Verpflichtungen einhalten“ 18. Diese Reichweite, die der EGMR seiner hermeneutischen Arbeit zumisst, verbindet diese mit dem Ziel der Konvention. So erklärt er: „Da es sich um einen normgebenden Vertrag handelt, muss man darüber hinaus die Auslegung finden, die dem Ziel am besten gerecht wird und den Zweck dieses Vertrages umsetzt, und nicht das, was die Verpflichtungen der Parteien am meisten einschränkt.“ 19 „Deshalb spricht man in der Lehre vom ,Auslegungseffekt‘ der Urteile des Straßburger Gerichts20. Dies bedeutet, dass „in den Ländern, die der EMRK angehören, die (nationalen) Verfassungsnormen in bezug auf Grundrechte nur insoweit eigenständig wirken können, als zu der betreffenden Frage noch keine Aussagen aus Straßburg getroffen wurden.“ 21

Demnach bindet die Rechtsprechung des EGMR die nationalen juristischen Akteure (angefangen beim Verfassungsgericht) an den wesentlichen Inhalt bzw. den Mindestgehalt der Grundrechte, die auch im Übereinkommen von Rom anerkannt wurden22. Wenngleich die Garantien der spanischen Verfassung naturgemäß höher sind als die des europäischen Übereinkommens, erklärt dieses Urteil die landesintern

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García Roca/Santolaya (2005), S. 21–23. Ripoll Carulla (2007), S. 33. 18 EGMR, Urt. v. 18.01.1978, Irlanda vs. Reino Unido. 19 EGMR, Urt. v. 27.06.1967, Wemhoff. 20 Fernández Sánchez (1987), S.138. Auf spanisch: „efecto de cosa interpretada de las sentencias“ (Die Bindungswirkung einer gerichtlichen Auslegung einer Streitigkeit). 21 Díez-Picazo (2006), S. 18. 22 Fossas (2008), S. 174. Gegen diese Meinung spricht sich Aláez aus, für den die Auslegung des EGMR die Grundrechtsdogmatik der Verfassung nicht ändern kann. Vgl. Aláez (2009). 17

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entwickelte Norm nach Tenorio doch für verfassungswidrig23, wenn eine spanische, der Verfassung untergeordnete Norm laut Urteil des Europäischen Gerichtshofs dem Übereinkommen widerspricht. Das Problem ist, dass das Straßburger Gericht formell nicht zur Kontrolle der „Vertragsgemäßheit“ befugt ist und seine Entscheidung damit nicht zum Ausschluss dieser Vorgabe aus der Verordnung führen kann. Das heißt, dass diese gültig bleibt, wenngleich die Gerichte sie nicht anwenden sollten, wenn das EGMR erklärt hat, dass sie dem Übereinkommen zuwider läuft. Falls diese spanischen Gerichtsorgane vor dem Fall einer möglichen Anwendung dieser Norm stünden, sollten sie die entsprechende Verfassungswidrigkeitsfrage unserem Verfassungsgericht vorlegen. Dann wäre es theoretisch möglich, dass sich das oberste spanische Gericht dem EGMR anschlösse. Es könnte aber auch anderer Meinung sein, womit die spanische Norm in der Verordnung bliebe und nicht nur weiterhin gültig, sondern auch anwendbar wäre, obwohl die Norm der Entscheidung des EMGR zuwiderläuft. Offensichtlich wären in einem solchen Fall spätere Verurteilungen des spanischen Staates von Seiten des EGMR wahrscheinlich. All dies käme nur in Frage, wenn der Gesetzgeber nicht vorher gehandelt hat, beide Rechtsordnungen miteinander in Einklang gebracht werden können, was noch wahrscheinlicher wäre. Obwohl Spanien bereits mehrfach durch den EGMR verurteilt worden ist, gibt es Länder, die weitaus mehr Verurteilungen haben hinnehmen müssen. Beispielhaft genannt sei Großbritannien, das wiederholt aufgrund der dort gelegentlich angeordneten Bestrafung mit Peitschenhieben verurteilt wurde. Eines der Ziele der Umsetzung des 11. Protokolls war die Vermeidung von ungerechtfertigten Verzögerungen bei der Bearbeitung der Klagen, aber schon bald merkte man, dass dieses Ziel nicht nur unerreichbar ist, sondern die Verzögerungen heute noch größer sind als zuvor, was wohl an der stetigen Zunahme von Klagen liegen dürfte. Dies führt paradoxerweise dazu, dass das EGMR Artikel 6.1 des Übereinkommens derzeit selbst nicht erfüllt, obwohl es die Staaten häufig für ihre übermäßigen Verspätungen bei der Entscheidung der Gerichtsverfahren verurteilt. Nun wird eine Linderung dieses Problems durch das Inkrafttreten des 14. Protokolls erwartet bzw. erhofft. 2. Die Europäische Sozialcharta

Man darf wohl der Meinung sein, dass die hermeneutische Klausel in Art. 10.2 der spanischen Verfassung auch insoweit für die in den von Spanien unterzeichneten Verträgen anerkannten sozialen Rechte zum Tragen kommt, als wir über ein Organ wie den Europäischen Ausschuss für soziale Rechte verfügen, das quasi Recht spricht und zumindest teilweise eine autorisierte Auslegung der in der Europäischen Sozialcharta anerkannten Rechte bietet. 23

Tenorio (1997), S. 166.

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Zu diesem Schluss lässt sich nach einer Lektüre der Europäischen Sozialcharta kommen, in der ein Mechanismus für Sammelklagen auf dem Gerichtswege vorgesehen ist. Nach diesem trifft der Europäische Ausschuss für soziale Rechte für die Staaten verbindliche Entscheidungen (die sogenannten Grundsatzentscheidungen). Zwar sind diese Entscheidungen nicht unmittelbar vollstreckbar, dies bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht quasirechtsprechenden Charakter haben24. So konnte gesagt werden: „der Europäische Ausschuss für soziale Rechte schafft Recht“ 25. Diese Entscheidungen des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte betreffen natürlich in erster Linie direkt den Staat, der Schuldner der Sammelklage war. Aber seine Auswirkung auf die Auslegung der von der Europäischen Sozialcharta anerkannten Rechte gilt für alle Unterzeichnerstaaten. Somit ist es – in diesem hermeneutischen Sinne der Verfassungsrechte – gewissermaßen unerheblich, ob ein Staat Vorbehalte gegen das System der Sammelklagen geäußert hat. Wie Jimena Quesada es im Zusammenhang mit unserer Regelung ausdrückt: „So wenig Spanien auch den Mechanismus der Sammelklagen akzeptiert hat, bedeutet dies doch nur, dass unser Land nicht Objekt einer direkten Verurteilung auf diesem Wege sein kann. Es bedeutet jedoch nicht, dass Spanien von den Entscheidungen, die im Zuge der Sammelklagen getroffen werden, unberührt bleiben wird.“ 26

Auf jeden Fall muss darauf hingewiesen werden, dass das Verfassungsgericht zwischen Verträgen und Abkommen, die echte verbindliche juristische Verpflichtungen festlegen (hard law), und internationalen Verträgen, die nur der Orientierung dienen (soft law27) unterschieden hat. Diese Differenzierung führt für das hier behandelte Thema dazu, einen Unterschied zwischen den Abkommen des Europarats (vor allem die Europäische Menschenrechtskonvention und die Europäische Sozialcharta)28 als echte Beispiele von internationalem hard law in Sachen Menschenrechte und den Urteilen und Empfehlungen des Europarats zu machen.

24

Belorgey (2007). Belorgey (2007), S. 360. 26 Jimena Quesada (2006), S. 65. 27 Nach Tammes ist das soft law ein Phänomen, das „bezüglich seiner angestrebten Wirkung, den Wunsch zu beeinflussen und die Freiheit derer, an die es sich wendet, einzuschränken, die Merkmale des Rechts aufweist“, aber den Eindruck erweckt, dass „dem Recht, so wie wir es im Alltag kennen, etwas an juristischer oder verbindlicher Art fehlt“. Vgl. Tammes (1983). 28 So hat der spanischen Staatsrat erklärt: „Die Verträge und Abkommen des Europarats haben, was die Auslegung der Grundrechte und öffentlichen Freiheiten angeht, insofern übergesetzgebenden Wert, als das Verfassungsgericht im Sinne von Artikel 10.2 der Verfassung die Normen bezüglich der in ihr anerkannten Grundrechte und Freiheiten gemäß den Vorgaben der zahlreichen Abkommen des Europarats ausgelegt hat.“ Vgl. Bericht des Staatsrats über die Aufnahme des europäischen Rechts in die spanische Ordnung vom 14. Februar 2008, S. 289. 25

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IV. Rechtsgarantien in der Europäischen Union: Die Europäische Charta der Grundrechte Das Fortschreiten und die Entwicklung der Europäischen Union warfen sehr bald die Notwendigkeit auf, einen Schutz der Grundrechte eigens für den Bereich der europäischen Ordnung vorzusehen. Der Gerichtshof sollte als erster darauf eingegangen29. Die folgenden Vertragsreformen nehmen nach und nach Schutzmechanismen auf, die schließlich zur Aufnahme der Europäischen Charta der Grundrechte führen30. Viel intensiver als die zuvor genannten internationalen Verträge bedeutet die Europäische Charta der Grundrechte ein weiteres Element im komplexen System zum Schutz der Grundrechte, auf das in Spanien wie in den anderen Mitgliedstaaten der Union zurückgegriffen werden kann. Es muss betont werden, dass die in der Spanischen Verfassung bzw. in der Europäischen Charta gewährten Rechte zwar inhaltlich identisch sein mögen, ihre Entwicklung und Ausübung auf nationaler und europäischer Ebene jedoch nach Art. 53.1 der spanischen Verfassung bzw. Art. 52 und 53 der Charta zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können. Dass die Rechte ihrer Definition nach gleich sind, ist keine Garantie dafür, dass man bei ihrer Auslegung auch zu ähnlichen Ergebnissen kommt. Angesichts von Art. 52 der Charta und Art. 53.1 der spanischen Verfassung ist es möglich, dass unterschiedliche Bereiche geschützt sind, und zwar nicht nur rein theoretisch. So hat der Luxemburger Gerichtshof im Fall Cordero gegen Fonds zur Lohnsicherung (Vorabentscheidung, AZ C-81/05 vom 7. September 2006) betont, dass eine nationale Regelung, sobald sie in den Anwendungsbereich europäischen Rechts fällt, mit den Grundrechten übereinstimmen muss, deren Wahrung der Gerichtshof garantiert. Das Problem liegt in diesem konkreten Fall darin, dass die nationale Regelung vom Verfassungsgericht für verfassungskonform erklärt wurde31. Damit würde der Richter die Regel nicht mehr anwenden, nicht weil sie gegen die spanische Verfassung, sondern weil sie gegen die europäische Regelung verstößt. Aus Sicht der Grundrechte ist es kein Problem, dass das nationale Recht europäisch kontrolliert wird. Problematisch ist allerdings, dass die Rechtssysteme untereinander konkurrieren und sich sogar teilweise gegenseitig ignorieren. Eine mögliche Lösung bietet möglicherweise der Anwendungsrahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention und konkret die Rechtsprechung des EGMR. Art. 6.3 der Charta verleiht den Rechten und Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention und denjenigen, die sich aus den gemeinsamen Ver29

Vittorino (2003), S. 111. Stern/Tettinger (2005); Stern/Tettinger (2006). 31 STC (Urteil des spanischen Verfassungsgerichts) 306/1993 vom 30. November 1993. 30

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fassungstraditionen der Mitgliedsstaaten ergeben, den Wert allgemeiner Prinzipien und macht sie zum Auslegungsmaßstab für die juristischen Akteure der Charta. Dies wird durch Art. 52.3 und 52.4 des Textes noch verstärkt. In der Europäischen Charta wird das Übereinkommen von Rom von 1950 zum unumstrittenen Kern und wesentlichen Inhalt der Rechte und Freiheiten der Charta. Unabhängig davon, wann das Übereinkommen von der EU ratifiziert wurde, muss der von europäischem Recht gewährte Rechtsschutz dem des Übereinkommen entsprechen, wie im Bosphorus-Urteil des EGMR vom 30. Juni 2005 deutlich wurde32. In der Charta von Nizza wird das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf eingeräumt (Art. 47), und der Vertrag von Lissabon schreibt dem EuGH die Aufgabe zu, diesen Schutz über seine Organisation in drei Institutionen zu gewährleisten: den Europäischen Gerichtshof, das Gericht Erster Instanz und das Gericht für den öffentlichen Dienst. Es lässt sich also sagen, dass die Europäische Union bereits über einen systematischen Katalog an Rechten verfügt, was der Lebensqualität der europäischen Bürger und dem Rechtsschutz in allen Lebensbereichen zugutekommen sollte. Während der Gerichtshof bisher die Vorlagen der nationalen Gerichte nutzen musste, um den Schutz bestimmter Grundrechte im Einzelfall richterrechtlich (bzw. im Wege der wertenden Rechtsvergleichung und in Orientierung an der EMRK) näher auszugestalten, kann er sich jetzt auf die positive und verbindliche Grundrechtecharta stützen; daneben kann er (weiterhin/wie schon zuvor) auf die Rechtsprechung des EGMR und der nationalen (Verfassungs-)Gerichte zurückgreifen. Die europäischen Justizinstitutionen stehen sowohl Staaten als auch natürlichen und Rechtspersonen offen, um einen wirksamen Rechtsbehelf zu fordern (die in der Europäische Charta verwendete Ausdrucksweise ist die gleiche wie in der Spanischen Verfassung, in deren Art. 24 ebenfalls das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf garantiert wird). Im Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union müssen die nationalen Gerichte vorzugsweise Gemeinschaftsrecht anwenden, auch im Bereich der Rechte, sofern es sich um Fragen europäischer Zuständigkeit handelt. Dieses Problem des anwendbaren Rechts hat den Gerichtshof jahrelang beschäftigt. Dabei wurde versucht, den Mangel einer spezifischen Gemeinschaftsrechtsordnung mit Rechtsprechung auszugleichen. Natürlich gelten die Gründungsverträge und die Verordnungen und Richtlinien der Gemeinschaft, die zu dem jeweiligen Thema beschlossen wurden. Aber Ende 1969 führte das Gericht eine Neuheit in seiner Rechtsprechungslinie ein, indem es bei der Entscheidung über einen Fall die all-

32

Rn. 155 und 156.

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gemeinen Grundsätze des europäischen Rechts zu den Grundrechten des Einzelnen berücksichtigte33. Der Kernpunkt der Frage dreht sich um die Ermittlung dieser Prinzipien. Das Gericht ist der Meinung, dass die Wahrung der Grundrechte fester Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des europäischen Rechts sei und ihr Schutz von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten ausgehen muss, wobei Maßnahmen, die gegen die von den Verfassungen der jeweiligen Länder anerkannten und garantierten Grundrechte verstoßen, unzulässig sein sollen34. Aber der Gerichtshof fügt noch ein weiteres integrierendes Element dieser Grundsätze hinzu: „Die internationalen Instrumente zum Schutz der Menschenrechte, die von den Mitgliedstaaten unterzeichnet wurden oder an denen sie mitgewirkt haben, können ebenfalls Hinweise enthalten, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind“ 35. Dadurch wurde die Frage aufgeworfen, ob die Europäische Menschenrechtskonvention Teil des Gemeinschaftsrechts sei oder nicht. Es darf nicht vergessen werden, dass die Staaten der Europäischen Union sich auch der Konvention angeschlossen haben. Nun hat der Gerichtshof die Konvention mindestens seit 1975 als Auslegungselement für den Schutz der wirtschaftlichen Rechte im Gebiet der Europäischen Union EU-Raum genutzt. Konkret hat die Forderung der Konvention, dass Einschränkungen von Rechten durch die Bedürfnisse einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt sein müssen, dem Gerichtshof der Europäischen Union dazu gedient, die Ausnahme im Sinne der öffentlichen Ordnung, die seine Mitgliedsstaaten bisweilen gegen die Umsetzung einiger Rechte in ihren Ländern anbringen, zu überwinden bzw. einzuschränken36. Nach Überwindung des Widerstands gegen die Deutung der Konvention als Bestandteil des Unionsrechts nahm das Luxemburger Gericht nun die Position ein, seine Zuständigkeit müsse sich auf die eigentlichen wirtschaftlichen Rechte der Union konzentrieren. Dennoch legte es bisweilen die Konvention als Mindestschutzgrad dieser wirtschaftlichen Rechte zugrunde. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union hat die Dinge vereinfacht, wenngleich die Konvention und die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs auch in Zukunft, wenn auch in noch geringerem Maße, weiterhin als Ergänzung und als Auslegungsorientierung genutzt werden. So greift der Gerichtshof auf alle genannten Quellen sowie den Unionsvertrag und den Vertrag über die Ar-

33

Urteil des EuGH vom 20.11.1969, Fall Stauder gegen City of Ulm. Urteile des EuGH vom 17.12.1970, Fall Internationale Handelsgesellschaft, und vom 14.5.1974, Fall Nold gegen die Kommission der damaligen EWG. 35 Urteil im Fall Nold s. Fn. 34. 36 Urteil des EuGH vom 28.10.1975, Fall Rutili gegen das französische Innenministerium. 34

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beitsweise der Europäischen Union zurück, die rechtsrelevante Grundsätze enthalten. Das Problem liegt nach alledem erkennbar darin, dass es in Europa zwei Rechtsgarantiesysteme mit ihren jeweiligen Gerichten gibt und dass beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte keine Berufung gegen eine Handlung der Union eingelegt werden kann, weil die Union sich dem Übereinkommen von Rom nicht angeschlossen hat. Ein erstinstanzliches Gericht entscheidet, ungeachtet einer späteren Berufung beim Gerichtshof, über direkte Klagen von natürlichen und juristischen Personen. Die Errichtung eines solchen Gerichts geht auf den Gedanken zurück, den Gerichtshof zu entlasten und ihm so zu ermöglichen, sich auf die einheitliche Auslegung des EU-Rechts zu konzentrieren, so dass die Angelegenheiten schneller erledigt werden. Wenn der mutmaßliche Rechtsverstoß auf eine Handlung der Union zurückgeht, kann die betroffene natürliche oder juristische Person direkt beim erstinstanzlichen Gericht oder aber bei einem nationalen Richter Berufung einlegen. In letzterem Fall leitet der nationale Richter die Eingabe als Vorabentscheidung an den Gerichtshof weiter, damit dieser die Gültigkeit der Norm bzw. der strittigen Gemeinschaftshandlung auslegt oder beurteilt. Keines der beiden Gerichte entspricht einem nationalen Berufungs- oder Kassationsgericht, und die nationale Zuständigkeit wurde nicht auf die Union übertragen – und ist nicht auf sie übertragbar. Dieses Schutzsystem ist im Zusammenhang mit dem zuvor beschriebenen anwendbaren Recht zu verstehen. Wird eine interne Handlung angefochten, geht der Weg über den nationalen Richter, ggf. mit späterer Weiterleitung als Vorabentscheidung in der o. g. Form. Aber der nationale Richter kann in einem Streitfall zwischen Privatpersonen auch direkt das EU-Recht anwenden, wenn es unzweifelhaft anwendbar ist. Die Aufnahme in diesen Kontext der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bedeutet mehr als die reine Hinzufügung eines eigenständigen Elementes zum Rechtsschutzsystem. Inhalt, Möglichkeiten und Grenzen der Rechte sind vielmehr das Ergebnis des Wechselspiels der gegenseitigen Öffnung der einzelnen Untersysteme. Die europäische Rechtsordnung muss sich die juristische Logik der Rechte zu eigen machen und zugunsten eines funktionierenden Systems einen vernünftigen Konsens anstreben. Aber nicht alle sind mit Blick auf die wirkliche Effizienz der Europäischen Charta optimistisch. So hat Favoreu die Rechtsgarantiemechanismen im spezifischen Bereich europäischen Rechts und mit Bezug auf das Handeln der Gemeinschaftsorgane als unzureichend bezeichnet. Damit verleiht er einem Eindruck der französischen Doktrin zum Thema Europa Ausdruck, die der Meinung ist, es gebe nicht genügend Mechanismen zur Kontrolle der Gemeinschaftshandlungen.

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Favoreu äußert sogar den Vorschlag, wenn man wirklich eine effiziente europäische Charta der Grundrechte wolle, die sich nicht nur auf nationale sondern auch auf EU-Organe anwenden lasse, solle man eine spezifische Beschwerde einlegen. Gleichzeitig zweifelt er jedoch selbst daran, dass der stark überlastete Gerichtshof diese Aufgabe übernehmen könne, und zeigt sich hinsichtlich der wirksamen Anwendung der Charta skeptisch37. V. Die Erklärungen von Rechten in den Autonomiestatuten Wie bereits angesprochen, haben die kürzlich überarbeiteten Autonomiestatute in Spanien eine Neuigkeit aufgenommen: eine Erklärung von Rechten. Auf diese Weise sollen die Garantien dieser Rechte gestärkt werden. Dabei soll es sich um persönliche Rechte für verschiedene Arten von Leistungen handeln, die jedoch stets rechtlich strukturiert sind, weil sie Organgesetze sind, die der Verfassung unterliegen38. Wie es Cruz Villalón ausdrückt, dürfen wir nicht vergessen, dass der Verfassungsgeber die Rechte vorformt und der Gesetzgeber sie ausgestaltet39. Mit der Vorformung legt der Verfassungsgeber den Rahmen fest, in dem sich der Gesetzgeber bewegen kann, wenn er den wesentlichen Inhalt des in der Verfassung vorgeformten Rechtes wahren möchte. Aber selbst wenn der Gesetzgeber das Recht nicht gesetzlich entwickeln würde, wäre es in seiner wesentlichen Verfassungsdimension bereits ausübbar und garantierbar. Die durch die Novelle der Autonomiestatute in Spanien ausgelöste Debatte geht grundsätzlich auf die Befürchtung zurück, dass dieser unterschiedliche Sicherheitsgrad in den einzelnen Gebieten des Landes eine ungleiche Behandlung der spanischen Bürger, je nachdem, in welchem Gebiet sie leben, bedeuten könne. Darum muss die Wahrnehmung von Kompetenzen in den Regionen an einen einheitlichen Grundrechtsstandard unabhängig vom „Lebensraum“ des betroffenen Bürgers gebunden sein (Art. 149.1.1 der spanischen Verfassung)40. Die meisten sozialen Rechte stehen in unserer Verfassung in Kapitel III des Titels I und sind keine eigentlichen Grundrechte, sondern „Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik“, mit Ausnahme des Rechts auf Bildung, das zu den Grundrechten gehört. Die übrigen Rechte entsprechen im Wesentlichen den in den Statutserklärungen entwickelten: Recht auf Gesundheit, auf Sozialdienste, Berufsrechte (außer das Streik- und Gewerkschaftsrecht), Rechte älterer Menschen und Minderjähriger, Rechte auf Leistungen bei Abhängigkeit von Betreuung und Behinderung, Recht auf einen garantierten Bürgerlohn und Recht auf 37

Favoreu (2005), S. 252–253. Gavara de Cara (2010a), S. 79–127 („La proyección social de la Constitución: una implementación multinivel“); Gavara de Cara (2010b). 39 Cruz Villalón (1991), S. 134. 40 González Pascual (2007), S. 106–107. 38

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Kultur und kulturelles Erbe. Diese Rechte werden zwar in den Statuten anerkannt, wirken jedoch in Funktion der Reichweite der jeweiligen Zuständigkeitsbefugnisse der einzelnen autonomen Regionen41, wie das Verfassungsgericht selbst betont hat. An dieser Stelle darf nicht vergessen werden, dass eine Erklärung von Rechten nicht die Übernahme neuer Zuständigkeiten der autonomen Regionen bedeuten kann42. Je nach den Zuständigkeitsbefugnissen der autonomen Region43 legt der regionale Gesetzgeber die Reichweite der statutarischen Rechte und ihren jeweiligen Grad normgebender Konkretisierung fest. Das Ziel der Aufnahme der Erklärungen von Rechten in die Autonomiestatute war ein Wandel der Leitprinzipien der in der Verfassung anerkannten sozialen und wirtschaftlichen Rechte hin zu persönlichen Rechten. Dies erfolgte durch die systematische Sammlung aller Rechte, die durch regionale sektorenspezifische Gesetzte geregelt werden, in einem einzigen Katalog und den Schutz neuer Rechte, die nicht durch die Verfassung geregelt sind, durch Zuständigkeiten der autonomen Region44. Das Verfassungsgericht hat bestätigt, dass die Festlegung von Rechten in den Statuten eine direkte Bindung der öffentlichen Gewalten der Region erzeugt, wie sie ausdrücklich in eben diesen Statuten gefordert wird. Aber streng genommen würde es sich weniger um Normen handeln, die Rechte nach sich ziehen, als vielmehr um an die öffentlichen Gewalten gerichtete Mandate, die zur Schaffung echter öffentlicher, persönlicher Rechte gesetzlicher Ausformung führen können45. Es wird deutlich, dass in allen Fällen, insbesondere jedoch bei Rechten wie dem Recht auf Bildung, das höchsten Schutz durch die Verfassung genießt, bei einem Konflikt zwischen der Regelung auf Ebene der autonomen Region und auf Verfassungsstufe immer zugunsten der Verfassung entschieden wird und die Entscheidung über den persönlichen Schutz in letzter Instanz stets dem Verfassungsgericht zukommt. In den Statuten sind diese sozialen Rechte daher als Mandate an den Gesetzgeber anzusehen, die zwar direkt mit Zuständigkeiten verknüpft sind, jedoch im Vergleich mit der bisherigen Rechtslage keine übermäßigen Neuheiten einbringen und auch keine neuen Funktionen zuweisen, die eine Ablösung des staatlichen Gesetzgebers in den genannten Bereichen bedeuten kann. Die Erklärung 41 Allgemein zu dem Verhältnis zwischen statutarischen Rechten und Zuständigkeitsbefugnissen im Fall Spaniens vgl. Gavara De Cara/Mateu Vilaseca/Vallès Vives (2010). 42 Balaguer (2008), S. 140. 43 Zu sozialen Rechten als Zuständigkeitsbefugnisse vgl. González Pascual (2007), S. 101 ff. Zu sozialen Rechten in Autonomiestatuten vgl. López Menudo (2009); De La Quadra-Salcedo (2008). 44 Castellá (2004), S. 168. 45 STC 247/2007 vom 12.12.2007, Entscheidungsgrund 15.

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von Rechten in den Statuten trägt aufgrund ihrer starken Abhängigkeit von den Zuständigkeitsbefugnissen weder juristisch noch aus Sicht der Zuständigkeiten zu einer neuen Sichtweise der sozialen Rechte bei. Dies liegt zum einen daran, dass ihre tatsächliche Wirksamkeit von einer ausreichenden finanziellen Rücklage abhängig ist, die übergreifenden staatlichen Zuständigkeitsbefugnisse, insbesondere im sozialen und bürgerlichen Bereich, zum anderen aber weiterhin als Ausgangspunkt oder Grundlage dafür dienen können, Kooperationsvereinbarungen mit den autonomen Regionen zu schließen, um eine möglichst hohe Gleichheit der sozialen Rechte zu erreichen. Trotz des Vorliegens der Erklärung von Rechten in den Statuten und ihre Funktion als Mechanismus zur Auslegung und Einbindung aller Zuständigkeitsbefugnisse können doch die Entwicklung, Anwendung und Auslegung der statutarischen Rechte nicht den verfassungsgemäß anerkannten Rechten zuwider laufen. Dies gilt in zweifachem Sinne, nämlich auf der einen Seite für die ausdrückliche Identifizierung in der Verfassung und auf der anderen Seite für die restlichen Grundrechte, die nicht durch die regionale Norm beeinträchtigt oder geschmälert werden dürfen, zumal einige Rechte sozialer Art häufig mit anderen Rechten wie dem auf Persönlichkeit oder auf Eigentum verknüpft werden46. VI. Schlussfolgerung Wir erleben derzeit auf nationaler und internationaler Ebene das Aufkommen einer Fülle von Rechtskatalogen, zu einem Zeitpunkt, an dem die Lösung von Konflikten zwischen den unterschiedlichen Rechtsquellen innerhalb einer komplexen Rechtsordnung ohnehin schon schwierig ist. Favoreu stellt die häufig vertretene Ansicht in Frage, derzufolge ein umso höheres Schutzniveau erreicht werde, je mehr rechtsschützende Normen verabschiedet werden. Er fragt sich gar, ob die Zunahme an Regelungen, die Rechte umfassen, nicht viel mehr eine Schwächung des Rechtsschutzes hervorrufen. Für den französischen Autor scheinen die unterschiedlichen Rechtsschutzgrade auch keine größere Garantie für die Wahrnehmung dieser Rechte und ihren Schutz darzustellen. Manchmal lässt sich, wie in den USA, mit einem einzigen Katalog ein vielleicht höherer Schutzstandard erreichen. Nicht zu vergessen ist, dass mehr Kataloge und eine damit möglicherweise verbundene höhere Zahl unterschiedlicher Schutzniveaus auch mehr Konflikte zwischen Gerichten zur Folge haben können. Wenn die unterschied46 So legt z. B. Art. 8.3 des Autonomiestatuts von Kastilien-León fest, dass die statutarischen Bestimmungen zu Rechten und Freiheiten (Titel I) nicht so entwickelt, angewendet und ausgelegt werden dürfen, dass Grundrechte, die durch die Verfassung und durch von Spanien unterzeichnete internationale Verträge und Abkommen gesichert sind, eingeschränkt oder begrenzt werden. Damit gehen ihre Funktionen und ihre Reichweite weit über ihre Nutzung als reine Parameter zur Kontrolle der Entwicklung der statutarischen Rechte hinaus.

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lichen Schutzniveaus auch noch mit spezifischen Rechtsprechungsgarantien einhergehen, führen sie zudem zu unterschiedlichen Rechtsschutzmöglichkeiten. In Spanien können etwa Rechtsbehelfe erhoben werden beim Gericht erster Instanz, beim Obersten Gerichtshof der autonomen Region, beim staatlichen Obersten Gerichtshof, beim Verfassungsgericht, beim Gerichtshof der EU und beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Wäre die Europäische Charta nicht, wenn sie, wie Favoreu sagt, nur auf nationaler Ebene und nicht für Handlungen der Gemeinschaftsorgane angewendet wird, eine juristisch gesehen im Wesentlichen nutzlose Norm?47 Wie eingangs erklärt, ist der Schlüssel nach wie vor das Garantieniveau, das jeder Staat auf seinem Hoheitsgebiet darbietet. Die Wirksamkeit des internationalen Rechtsschutzes hängt von den internen Garantien der Staaten ab. Und in diesem Sinne ist die Wirksamkeit dieses internationalen Schutzes auch von den internen Garantieniveaus der Rechte abhängig. So wird es in manchen Staaten einen höheren Rechtssicherheitsgrad als den von internationalen Normen bestimmten geben, und der Einfluss, den der Schutz auf internationaler Ebene auf die interne Ebene haben kann, kaum merklich und damit unnötig sein. Ein eindeutiges Beispiel dafür ist der Fall der Illegalisierung von Batasuna, dem politischen Arm der Terrororganisation ETA. Es handelt sich um eine europäische Fallstudie des „mehrstufigen“ Schutzes der Grundrechte. An diesem Fall lässt sich der Schutzgrad analysieren, den das Recht auf politischen Zusammenschluss auf spanischem Landesgebiet (wo zwei Stufen existieren: die Verfassung und das Gesetz) und auf übernationalem europäischem Gebiet hat (in diesem Fall die Europäische Menschenrechtskonvention). Die Spanische Verfassung verbietet nur strafrechtlich verbotene politische Parteien, untersagt jedoch andere Arten von Verboten nicht. Das Organgesetz der Politischen Parteien verbietet politische Parteien auch aus außerstrafrechtlichen Gründen (vor allem, wenn sie Gewalt und terroristische Verbrechen nicht verurteilen und diese mit ihrem Handeln schützen). Die Europäische Menschenrechtskonvention geht einen Schritt weiter und akzeptiert, innerhalb bestimmter Grenzen, sogar das Verbot von Parteien aus ideologischen Gründen. Damit bietet die Europäische Menschenrechtskonvention politischen Verbänden in diesem Fall weniger Schutz als die spanische Ordnung, und der Ausgang der von Batasuna beim EGMR eingereichte Berufungsklage gegen seine Illegalisierung war völlig logisch und im Einklang mit der Rechtsprechungslinie des EGMR48. Die Unterschiedlichkeit der Schutzstandards in einem Mehrebenensystem wie der Europäischen Union vor allem im Zuge des Integrationsprozesses muss nicht zwangsläufig nachteilig sein, sondern stellt ein strukturell notwendiges Element 47

Favoreu (2005), S. 254–255. EGMR, Urt. v. 30.06.2009, Nr. 25803/04 und Nr. 25817/04, Herri Batasuna y Batasuna vs. España. Vgl. Rodríguez-Vergara Díaz (2010). 48

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dieses Prozesses dar. Aber man darf nicht vergessen, dass jedes Schutzniveau seine eigenen Merkmale hat, die eine generelle, undifferenzierte Behandlung ausschließt. So wie in Spanien auf interner Ebene der (staatliche sowie regionale) Gesetzgeber den Schutzstandard anheben oder senken kann, sofern er den Rahmen der Verfassung nicht überschreitet, können die juristischen Akteure auf europäischer Ebene gleichermaßen vorgehen. Das Problem liegt nicht beim Zusammenleben oder Nebeneinander unterschiedlicher Schutzstandards, sondern darin, wie miteinander verbunden sind. Darum stellt die Aufnahme der Europäischen Charta in das europäische Primarrecht eine Herausforderung für die Zukunft dar, nämlich eine Möglichkeit zu finden, ein funktionierendes Nebeneinander und Miteinander der Charta und der EMRK sowie der nationalen Schutzstandards der einzelnen Mitgliedstaaten zu ermöglichen.

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Das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde Europas Identitäten Von Wolfgang Graf Vitzthum Auf einem langen Flug nach Neu Delhi vor fünfundzwanzig Jahren kam ich mit einem indischen Geschäftsmann ins Gespräch. Er pries die „asiatischen Werte“, deren sich damals die erfolgreichen Industrieländer Japan, Taiwan und Südkorea rühmten. China und Indien, die aktuellen Aufstiegsmächte Asiens, gehörten noch nicht zu den Konkurrenten Europas. „Und Ihr Europäer“, fragte der Inder ein wenig von oben herab, „was sind Eure Werte? Was ist die Besonderheit Europas?“ Wesentlich sei wohl die Prägung durch eine Jahrtausende alte gemeinsame Geschichte, improvisierte ich, kennzeichnend politisch erkämpfte Errungenschaften: Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie. Dies verdanke sich dem jüdischchristlich-römischen Erbe, dem Geschenk von Humanismus und Renaissance, der Erfahrung von konfessionellen Spaltungen und europäischen Bürgerkriegen, der Prägung durch Aufklärung und Moderne. Die sich vertiefende Integration Europas habe unser Denken weiter europäisiert. Meinen Gesprächspartner beeindruckte diese abstrakte Aufzählung offensichtlich nicht. Höflich wechselte er das Thema. Mich aber hat die Frage nach den „europäischen Werten“, letztlich also die nach dem Wesen Europas nicht mehr losgelassen. So organisierte ich an der Universität Tübingen eine deutsch-französische Identitäts-Tagung, dokumentiert in einem Sammelband, veröffentlicht von der Universität Aix-en-Provence1. Ein flammendes Bekenntnis zu einer französisch-deutschen, gar europäischen Identität wurde es nicht. Die Sprachen und damit die ja sprachlich vermittelten und strukturierten Rechtstraditionen, -begriffe und -systeme erwiesen sich als hohe Barrieren. Als Medium der Kommunikation und der Identitätsstiftung ist eine gemeinsame Sprache2 offenbar wichtiger als eine Gemeinschaftswährung, zumal 1 W. Graf Vitzthum/M. Pena (Hrsg.), L’identité de l’Europe. Die Identität Europas, Aix-en-Provence/Marseille 2002. 2 Vgl. W. Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, in: VVDStRL 65 (2006), S. 386 (393 ff.). Dabei kann die Sprache auch ein Instrument der Ausgrenzung und der Machtprojektion sein. „Deutsch ins Grundgesetz“ fordert eine beim Deutschen Bundestag eingereichte Massenpetition. Europäische Instanzen diskriminieren die deutsche Sprache, eine der gleichberechtigten Amts- und Arbeitssprachen in der EU (Deutsch ist die größte Sprachgruppe der Union), nicht.

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wenn Letztere, wie das hoch- und ausgreifende europäische Integrationsprojekt insgesamt, aktuell in einer Krise steckt. Wegen meines fortbestehenden Interesses an der Identitätsfrage ergreife ich gerne die Gelegenheit, das Thema erneut zu behandeln, schon aus Raumgründen freilich essayartig, zugespitzt. Dies erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu dem Europa sich nicht mehr im Mittelpunkt der Welt sehen kann. Die Welt ihrerseits ist mittlerweile multipolar, globalisiert, vernetzt. Die bevölkerungs-, raum- und ressourcenreichen neuen Führungsmächte China und Indien drängen, wie gesagt, stark nach vorn. Auch die wichtigsten Schwellenländer (politisch korrekt: die „emerging markets“) gewinnen an Bedeutung, Brasilien und Südafrika zumal, keineswegs nur bei Tourismus und Fußball. Dem Zusammenwachsen Europas ist dieser Außendruck womöglich förderlich. Die Integration ist, trotz ihres Preises, ohnehin unaufhaltsam. Zentrale Sachfragen, nicht zuletzt unsere ökonomische und ökologische Sicherheit, sind in selbstbezogener Isolierung nicht mehr lösbar. Die weltumspannenden elektronischen und sozialen Netze fordern, zumal in den Augen der Twitter- und Facebook-Generation, überkommene Konzepte wie „Souveränität“, „innere Angelegenheiten“ und „nationale Identität“ heraus. Die Identität der Mitgliedstaaten ist europäisch (und partiell auch atlantisch, mediterran und eurasisch) überlagert. Der individuelle Staat in Europa, ein Teil nur noch eines Ganzen, ist ohne diese Einbindung nicht dauerhaft überlebensfähig. I. Meine These vorab: Europas Identität ist seine Pluralität, in den Grenzen der Legalität. Es ist die in seinem Rechtssystem (im Hegelschen Sinn) aufgehobene, gehegte und fortentwickelte kulturelle und ethnische Vielfalt Europas, die seine Besonderheit ausmacht, für alle hier lebende Menschen. Europa hat, unter Abwehr extremistischer Kräfte, kraftvoll für seine Werte einzutreten, für Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit also, für eine unabhängige Justiz und eine egalitäre Demokratie. Eine über den Rechtsgehorsam hinausgehende („Leitkultur“-)Identifikation freilich, sollte sie trotz der Vielstimmigkeit Europas formulierbar sein – am ehesten wohl auf der Grundlage und in den Grenzen eines „europäischen Grundgesetzes“ –, darf niemandem abverlangt werden: keine Identifikation mittels Sanktion. Es sind demnach nicht die drei monotheistischen Buchreligionen, die Europas Identität konstituieren. Dies leisten vielmehr in erster Linie die Grund- und Menschenrechte. Im Eintreten für universale Werte ist Europa am einigsten mit sich selbst3.

3 W. Graf Vitzthum, Die Identität Europas, in: Europarecht 37 (2002), S. 1 (10): „Europa ist dort am europäischsten, wo es universalistisch ist.“ Die Begriffe, die Worte sind alle freilich nicht viel wert, wenn man nicht sagt, was universalistisch sein soll.

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II. 1. Bei der Analyse des undeutlichen Modebegriffs „Identität“ 4 ist zunächst an das vertraute Verfahren der Identitätsfeststellung zu denken, an die Klärung der Personalien etwa durch Verkehrspolizisten oder bei der Zulassung zu einer Prüfung. Stimmt die kontrollierte Person mit den im Ausweis aufgeführten Merkmalen überein? Identität ist demnach die Frage nach Gleichheit (idem: dasselbe), nach wesensmäßiger Übereinstimmung. So hat sich etwa die Bundesrepublik Deutschland staats- und völkerrechtlich von Anfang an als mit dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 identisch definiert (Identitätstheorie), sich also nicht als Nachfolge- oder „Fortsetzerstaat“ verstanden5. Jene (Art-)Gleichheit hat eine objektive und eine subjektive Dimension6. In ersterer Hinsicht geht es bei der Identitätsfeststellung um das Eigentümliche, das Wesen eines Individuums oder einer Vielzahl von Individuen (also eines Kollektivs), im Vergleich mit dem Besonderen anderer Personen, Gruppen, Völker. Insofern ist etwa die Muttersprache Heimat, die gemeinsame Sprache ein Stück Identität. In subjektiver Hinsicht handelt es sich um innere Einstellungen, um ein Gefühl des Übereinstimmens, des Dazugehörens: als Person zu anderen Personen, etwa zu einer Familie, als Gesellschaft zu anderen Gesellschaften, als Briten zum Beispiel in einer traditionsreichen „special relationship“ zu den Nordamerikanern, als Türken in Deutschland zu anderen (Deutsch-)Türken im firmeneigenen oder kommunalen „Türken-Treff“, als Franzosen zum einst von Frankreich kolonisierten und partiell annektierten Maghreb. Meine Skizze fragt nicht nach Identität allgemein, sondern nach Europas Identitäten. Dabei geht es primär um jene subjektive, psychische Bedeutung des Begriffs, um etwaige gleichgerichtete Befindlichkeiten, um ein gefühlsmäßiges Verankert-Sein oder dessen Verlust oder Fehlen. Ich erörtere zudem die objektive Dimension: die Ideengehalte, von denen Individuen oder Kollektive bewusst oder unbewusst geprägt sind7. Identifiziert sich die hier lebende Bevölkerung, auch 4 Hierzu und zum Folgenden L. Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Rheinbek bei Hamburg 2000; W. Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität Europas, Bonn 1985, S. 13 ff.; M. Delgado/M. Lutz-Bachmann (Hrsg.), Herausforderung Europa. Wege zu einer europäischen Identität, München 1995; Th. Meyer, Die Identität Europas. Der EU eine Seele?, Frankfurt/M. 2004. 5 Vgl. BVerfGE 36, 1 (16 f.); 40, 141 (171); K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., München 1984, S. 238 ff., 261. 6 Hierzu und zum Folgenden St. Korioth/A. von Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: VVDStRL 62 (2003), S. 117 ff., 156 ff. 7 Bei diesem Verständnis von Identität geht es um eine Kette von Ideen, die gekommen sind und gegangen, die zur allgemeinen Haltung wurden, zum common sense. Der Einzelne muss die Glieder dieser Kette gar nicht bemerken, muss die Ideen nicht kennen, sie müssen ihm nicht bewusst werden. Gleichwohl sind sie da, ständig wirksam, vielleicht nur in irgendwelchen Büchern niedergelegt. Jeder hat Anteil an ihnen, jeder spürt sie wie ein Sediment am Grund von Gewässern, das man nicht sieht und das doch

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angesichts ihrer durch Zuwanderung erhöhten Vielfalt, mit Europa? Folgt daraus gegebenenfalls das Bewusstsein einer gemeinsamen Besonderheit, eines Europäer-Seins8? Identität bildet sich in Bezug auf andere Menschen, Gruppen, Völker durch Vergleichen, durch Billigen oder Ablehnen. Das Erleben und Befördern von europäischer Identität verlangt Kenntnis der Eigengruppe und Identifikation mit ihr: „Das sind wir“. Zugleich wird Distanz zur „Fremdgruppe“ induziert: „Das sind die anderen, das sind Asiaten, wir dagegen sind Europäer“ (wobei leicht übersehen wird, wie stark „wir“, etwa in Wissenschaft, Bildender Kunst, Architektur oder Medizin, von den „Fremden“ beeinflusst worden sind). 2. Wirkmächtig bei der Identitätsbildung, aber nicht „erforderlich“ ist Feindschaft, am stärksten „Erbfeindschaft“. Die Identität, die einem ein Feind verschafft (der Einfall der Mongolen, „die Türken vor Wien“, „die gelbe Gefahr“ usw.), ist freilich eine abhängige, eine geborgte. Sie ist eine Identität der Unfreiheit, der Fixierung, der Feind definiert den verbleibenden Spielraum. Europa benötigt zu seiner Identität keine Abneigung gegenüber einem gemeinsamen Nachbarn (etwa im Süden oder Osten), kein „Zu den Waffen!“ gegen einen Feind (z. B. einen solchen „am Hindukusch“), keine Abgrenzung gegenüber einem politisch-wirtschaftlichen Konkurrenten (Stichwort „Antiamerikanismus“). Wir wollen keinen Feind haben müssen, um „wir“ sagen zu können. Wen sollte Europa auch als Feind identifizieren? Es ist darum ja noch nicht jeder gleich „Freund“. Ein gemeinsamer, wenn auch womöglich irrtümlicher Glaube an eine gemeinsame Herkunft („Daher kommen wir“) hilft der Identität ebenso auf wie eine gemeinsame (Glücks- oder Katastrophen-)Geschichte und eine korrespondierende Geschichtsbezogenheit. Hilfreich ist zudem eine gemeinsame Verfassung9: als Speicher des Erfahrenen, als Dokument der gemeinsamen Grundwerte, als Aufriss des Geplanten. Das Bonner Grundgesetz von 1949 etwa erlangte von Anfang an hohe Bedeutung für das deutsche Selbstverständnis. Beim Zusammenwachsen im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands hat sich der „Verfassungspatriotismus“ 10 trotz seiner Abstraktheit Einheit fördernd bewährt. Das verfassungsähnliche, durch den Reformvertrag von Lissabon nun neu geordnete europäische Primärrecht11 könnte im Laufe der Zeit ähnlich wirken, das gemeinsame Gedächtnis, Selbstgefühl und Programm des Alten Kontinents also stärken. Erst Grundlage von allem ist was wird, der Humus im Untergrund, aus dem alles wächst und blüht und der den Charakter des Wachsenden bedingt. Früher nannte man diese bestimmte Kette von Ideen die „Seele“ einer Gemeinschaft, eines Volkes, einer Gruppe von Völkern. „Identität“ ist terminologisch distanzierter, man kann leichter darüber reden, muss sich weniger engagieren und läuft nicht Gefahr, in Psychologie abzurutschen. 8 Weidenfeld (Fn. 4), S. 27: „Europa liegt dort, wo sich Europäer als Europäer empfinden.“ 9 Nachweise in: O. Depenheuer/Chr. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, Tübingen 2010, S. 560 ff: „Verfassung als Integrationsmedium“ (Depenheuer). 10 D. Sternberger, Verfassungspatriotismus, in: FAZ vom 23.5.1979; J.-W. Müller, Verfassungspatriotismus, Berlin 2010.

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recht würde dereinst eine Europäische Verfassung, wenn die Zeit dafür reif ist – was bei dem gescheiterten Verfassungsvertrag nicht der Fall war –, einen vergleichbaren Sog erzeugen, der Identität des ja nach wie vor recht heterogenen Europas also aufhelfen. Bis auf weiteres leisten dies die mitgliedsstaatlichen Verfassungen, die sich immer stärker einander angleichen und die ihrerseits, als Verfassungsverbund, dem Unionsrecht neue Impulse geben. Staatenübergreifende Organisationen wie die mit dem Vertrag von Lissabon neu fundierte Europäische Union (EU), der Europarat oder die Nato, ja ganze Kontinente, Asien etwa mit seinen eingangs erwähnten spezifischen Werten, von denen freilich selbst dort niemand mehr spricht (wohl aber von „islamischen Werten“) – sie alle können ebenfalls ein kollektives Empfinden entwickeln, lehren, befestigen. Voraussetzung bleibt freilich eine gewisse Gleichartigkeit der Mitglieder, entstanden aus gemeinsam erlebten und empfundenen „Lagen“, aus gemeinsamer politischer Ortsbestimmung und wirtschaftlich-sozialer Entwicklung, aus übereinstimmenden Wertgrundlagen, Erwartungen, Hoffnungen („Zukunft formt Identität“), aus gleichgerichtetem, rechtvergleichend und -angleichend stabilisiertem Wollen und Tun. Unversöhnliche religiöse, ethnische, kulturelle oder soziale Fragmentierungen, ja z. B. bereits eine dauerhafte Integrationsverweigerung von umfangreichen Gruppen von Zuwanderern, können den gegenteiligen Effekt haben und das Entstehen kollektiver Interessen und größerer politischer Einheiten verhindern. Wie oft haben in Europa Konflikte zwischen Religionen oder Ethnien zu Krieg und Völkermord geführt! 3. Eine kaum entbehrliche Voraussetzung stabiler Gesellschaften ist ein bewusstes, womöglich „erlerntes“ oder gar konstruiertes Gemeinschaftsgefühl. Das ist der Hauptgrund für die Identitätspolitik europäischer Institutionen. Innere Einstellungen und Überzeugungen sollen parallelisiert, europäische „Wir-Gefühle“ kreiert, Identitätsmuster etwa in Literatur oder Kunst vorgezeichnet werden. Nach dem Verblassen neuerer äußerlich integrierender Erfahrungen – die Fußball-„Sommermärchen“ etwa sind schon vergessen; die Gewinnerin des „Eurovision Song Contest“ wenigstens ist noch präsent – soll ein europäisches Bewusstsein gezielt gefördert und ein verwaltungsmürbes Integrationswerk revitalisiert werden: mittels gemeinsamer Rechtstexte, vermehrter Parlaments- und Bürgerbeteiligungen, sprechender politischer Slogans und Symbolen (Flagge, Hymne, Pass). Der im Bericht einer „Reflexionsgruppe“ jüngst skizzierte meinungsfrohe Ansatz überzeugt12. Ein noch so gutgemeintes identitätspolitisches 11 Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon legt in Art. 1 Abs. 3 S. 2 fest: „Die Union tritt an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft, deren Rechtsnachfolgerin sie ist“ – eine Nachfolgeregelung also, nicht das Postulieren reiner Kontinuität bzw. Identität. 12 Projekt Europa 2030. Herausforderung und Chancen, Bericht der Reflexionsgruppe über die Zukunft der EU 2030 an den Europäischen Rat, Brüssel 2010. Ebd., S. 47 wird „Achtung“ der „unterschiedlichen Kulturen, Sprachen, Religionen sowie der

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Nachhelfen darf freilich nicht überzogen werden: kein Umschlag von Identitätspolitik in Indoktrination! Worum geht es konkret? Offensichtlich sollen emotionale Konsensquellen die Legitimation durch Leistung ergänzen. Dem Integrationswerk soll sein „Ethos“, sein „Charisma“ wieder gewonnen werden (Vaclav Havel). Es soll „in den Herzen“ einen „Widerhall finden“ (Raymond Aron). „Einen Binnenmarkt kann man nicht lieben“, konstatierte Jacques Delors, damals Präsident der Brüsseler Kommission. Und in der Tat: Ökonomische Vernunft allein fundiert die Integration nicht hinreichend. Für Brüssel lässt sich, drastisch formuliert, niemand totschießen, nicht einmal ein dort Beschäftigter. Europabegeisterung, gar Europapatriotismus sucht man auch in Luxemburg und Straßburg vergebens. So soll die Politik der Identität dem Einigungswerk die unentbehrliche irrationale Substanz zuführen. „Irrational“ bedeutet dabei lediglich, dass es etwas gibt, das außer jeder Rechtfertigung und weiteren Diskussion steht: ein Bewusstsein und ein Verhalten des Dazu- und Zusammengehörens13. 4. Die menschen- und unionsrechtlichen Freiheits- und Gleichheitsverbürgungen, nicht anders als die Garantien der mitgliedsstaatlichen Verfassungen, ziehen der Identitätspolitik Grenzen14. „Identität“ ist kein Hebel zu forcierter Assimilierung, gar zu diskriminierender Ausgrenzung. Identitätspolitik darf weder auf jakobinische Egalität noch auf völkische Homogenität zielen. Gemeinschaftsgefühl und Unterschiedlichkeit sind – um meine Eingangsthese aufzugreifen – keine einander ausschließenden Gegensätze. Das zeigt schon die Geschichte Europas. Die bewusste Erfahrung der eigenen Vielfalt, das reflektierte Erleben der fehlenden Einheit erhöht das Verständnis für die Andersartigkeit anderer Menschen, anderer Kulturen, anderer Strukturen. Nie haben die Europäer eine gemeinsame Sprache gesprochen, nie unter einheitlichen sozialen, kulturellen oder ökonomischen Bedingungen gelebt. So besteht Europas Identität primär in seiner rechtlich gesicherten Offenheit, im bewahrten und bejahten Fehlen einer Einheitskultur, im Bewusst- und Gewolltsein dieser Besonderheit. Dies mag der (Plural-)

regionalen und lokalen Besonderheiten“ angemahnt: „Die Öffentlichkeit wird die EU erst dann wieder als eigenes Projekt annehmen, wenn unsere Völker darauf vertrauen, dass ihre Werte und Interessen von der Union besser vertreten werden.“ 13 Vgl. W. von Simson, Voraussetzungen einer Europäischen Verfassung, in: J. Schwarze/R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. Von der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union, Baden-Baden 1984, S. 91 ff. (108); ders., Was heißt in einer europäischen Verfassung „Das Volk“?, in: Europarecht 1991, S. 1 (4), fragt, „ob sich die Verfestigung des Ganzen herstellen lässt ohne die Wurzel im Unbestimmten, in erdichteter Vergangenheit und in erträumter Zukunft, wie der Staat in seiner Eigenart sie bietet.“ Ebd., S. 18: „Wir brauchen ein Europa. Aber es darf nicht so bedenkenlos eingerichtet werden, dass es seinen Halt verliert in denjenigen Elementen, die vorerst nur in einzelstaatlicher Verschiedenheit zu bewahren sind.“ 14 von Bogdandy (Fn. 6), S. 178 ff.

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Ausdruck „Identitäten“, der Pluralität und Differenz mit umfasst, am ehesten treffen. Dem Funktionieren eines Gemeinwesens ist ein einheitliches „Wir-Gefühl“, wie gesagt, förderlich. Es ist aber eben sowenig unentbehrlich wie ein hohes Maß an patriotischer Opferbereitschaft oder an sonstigem Gemeinsinn. Einer gemeinsamen Konzeption des guten, des richtigen, gar des „schönen Lebens“ (Stefan George) bedarf es ebenfalls nicht. Vielstimmigkeit, Dispute, Reibereien und Konflikte sind normal. Zumal in Europa gehören sie zum Leben. Sie führen keineswegs zwangsläufig zur Erosion der Grundlagen, jedenfalls so lange das Streiten rechtsförmig, die demokratische Willensbildung komplex und die Umsetzung effektiv ist15. Allenfalls in Zeiten existentieller Bedrohung, etwa in einem Krieg, ist eine über die Gesetzestreue hinausgehende Identifikation, ein Mehr an Kompromiss- und Integrationsbereitschaft etwa von Minderheiten oder Zuwanderern (nicht nur in der Form einer Kindergartenpflicht), notwendig und in Grenzen erzwingbar. Eine ausgrenzende Identifizierung der EU mit den christlichen Wurzeln Europas wäre unzulässig. Die EU ist keine Christenunion, mag auch das Christentum ein besonders prägender Faktor der Geschichte und, nachlassend, der Gegenwart Europas sein. Die Werte der Union sind, was man nicht von allen Glaubensinhalten sagen kann, universal. Sie sind nicht an eine bestimmte Region oder Religion gebunden, obwohl etwa die europäische Rechtskultur vielfältige christliche Wurzeln aufweist. Nichtchristen, Atheisten und Agnostiker gibt es in der EU in großer Zahl. Auch sie schützt die europäische Rechts- und Werteordnung. Gleiches gilt von den Millionen von Muslimen. Zu Recht hat Europa jeden religiösen, weltanschaulichen und ethnischen Zentralismus in Frage gestellt. Europas Identität lässt sich insoweit auch negativ definieren: Umfasst wird die Erfahrung des Scheiterns aller weltmissionarischen Überheblichkeiten und ethnischen Mythen. Nicht zuletzt daraus folgt Europas Menschenrechts- und Zuwanderungsagenda sowie die Notwendigkeit, der eigenen Identität aufzuhelfen und sich ihrer immer wieder selbst zu vergewissern. Identität ist auch ein Lernprozess. III. Europa, was ist das? Europa – das sind drei Begriffe in einem: ein geographischer, ein kultureller und ein juristischer, wobei die Terminologie jeweils politische Dimensionen mit umfasst. Um diese drei Europabegriffe geht es nun, um eine Befragung der Geographie, um eine Rekapitulation der wichtigsten geistigkulturellen Prägekräfte sowie um Europa als einer Kategorie des Rechts.

15

Ders., ebd.

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1. Der geographische Begriff hat für unser Thema die geringste Aussagekraft. Lediglich im Westen und (überwiegend) im Norden ist Europa, diese „Halbinsel Asiens“ (Paul Valéry), ein Raum mit natürlichen Grenzen. Erst der arabische Vorstoß im 7./8. Jahrhundert und die Dekolonisierung im 20. Jahrhundert machten im Süden das Mittelmeer zur Grenze, obwohl „mediterran“ das Gegenteil meint. Als geographisches Konzept umfasst „mittelländisch“ gleichermaßen die Nord- und die Südküste dieses ehemaligen Mare Nostrum. Ähnlich ist es mit der Grenze im Osten. Erst die Geographen des 18. Jahrhunderts haben nach der von Peter dem Großen vollzogenen Westöffnung Russlands die Ostgrenze zu Ural und Wolga vorgeschoben. So sieht es auch der Europarat, wenn er definiert: „Die (Ost-)Grenzen Europas verlaufen . . . am Ostrand des Ural . . ., im Süden entlang . . . der Ostküste des Asowschen Meeres“ 16. Der Kaukasus mit seinem höchsten Berg, dem Elbrus, gehört nicht zu Europa in diesem erdkundlichen Sinn, sondern zu Asien. Der geographische Mittelpunkt Europas liegt wohl in Litauen. Der Großraum von den Azoren im Atlantik bis Wladiwostok, dem Endbahnhof der Transsibirischen Eisenbahn, ist „Eurasien“. Von diesem Doppelkontinent ist EUEuropa nur der weitaus kleinere Teil, im Unterschied etwa zum OSZE-Europa mit seinen 56 Mitgliedstaaten. 2. Der kulturelle, vor allem kulturhistorische Europabegriff und damit die Frage nach unseren diesbezüglichen Wurzeln und Werten, mein zweiter Definitionsversuch, orientiert sich an einer über dreitausendjährigen Kette prägender Ideen, markiert, wie schon im einleitend erwähnten Gespräch improvisiert, durch die Benennung von Perioden: Scholastik – Humanismus – Renaissance – Aufklärung – Romantik – Moderne, um nur die jüngsten, für uns wichtigsten Epochen zu nennen. Für Europa ist es ein Weg, der sich aus der Tiefe des Glaubens bemüht durch Rationalität herauf zu finden, ohne die Emotionalität am Rande liegen zu lassen. Heute sehen wir, dass wir im postmodernen Zweifel gelandet sind, ob wir nun weiter oben sind oder unten oder zwischendrin. Und Freunde haben wir uns nicht gemacht bei den Nichteuropäern durch unser Klettern nach oben, das wohl manchen Steinschlag erzeugte und viele der Anderen, die jene Ideenkette nicht oder nicht vollständig durchliefen, rücksichtslos als Menschenleiter benutzte. „Europa beginnt bei den Griechen“ (Christian Meier), gewiss. Aber nicht auf jene hellenischen Wurzeln (500–200 v. Chr.) unserer Kultur, auch nicht auf das Rom der Antike (500 v. Chr.–350 n. Chr.) zielt meine Skizze, sondern auf unser Heute, unsre Lage, unsere Besonderheit, unser Bewusstsein. Mindestens bis zur Scholastik müssen wir gleichwohl zurückgehen, zu den Arabern. Sie waren uns überlegen an geistiger Toleranz und Ausdruckskraft. Durch ihre Übersetzer und Gelehrten lernten wir die griechische Philosophie kennen und ihr rationales Den16 E. C. Marchant, The Countries of Europe as Seen by their Geographers, Council of Europe, Straßburg 1970, S. 46.

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ken. Die Fremden regten uns an, die Tiefe unseres eigenen Glaubens, der aus dem Orient über die Römer in den Okzident gekommen war, rational zu zerlegen und so zu begreifen. Der christliche Glaube in der lateinisch nizäischen Form (die Germanen waren Arianer, der Vordere Orient entwickelte sich vielfältig und anders) wandelte sich in unseren ersten vier Jahrhunderten17 zu einem europäischen, unserem eigenen Christentum. Das hat das geschichtlich-politische Geschehen bestimmt, das gesellschaftliche Leben beeinflusst, die Kunst animiert, die Wissenschaft gegängelt und behindert, die Emotionalität blockiert, das Thema „Abendland“ intoniert (in Überfremdungsangst halten heute manche das Abendland bereits durch das Kopftuch für bedroht). Der Humanismus war die natürliche Reaktion, die Gegenströmung: eine Befreiung vom dogmatischen Abzählen der Elemente des Glaubens. Dieser wandelte sich zur bloßen, freilich weiterhin transnationalen und -ethnischen Religion: vom Inhalt, ja Zentrum des gesellschaftlichen Lebens zu einem Zusatz. Und schon ging es weiter, zur Renaissance (1400–1600). Aus Rationalem und Emotionalem und dem begeisterten Studium der Antike wurde die Entdeckung einer Welt „in ständiger Bewegung“ (Montaigne, 1580). Ideen- und identitätsgeschichtlich prägte besonders die Erzählung von der Würde des Menschen. Die Betonung lag nun auf der Individualität, auf dem zur freien Selbstbestimmung fähigen, ja berufenen Einzelnen18. Damit war sie plötzlich da, die Stelle, in der heute zumal die asiatische Welt, etwa beim Diskurs über die Menschenrechte, mit Nachdruck bohrt: Nicht die Gemeinschaft steht in Europa an erster Stelle, nicht das Einpassen des Einzelnen in die Gruppe, sondern das Individualitätsideal, die einzelne Person also, die sich, in den Grenzen des allgemeinen Gesetzes, gegen die Gemeinschaft wehren kann, darf, soll, mit allen Auswüchsen an Egozentrik und Rücksichtslosigkeit. Die anderen waren ja „unterentwickelt“, nicht so christlich-abendländisch. Sie durften missioniert und kolonisiert werden, notfalls mit Gewalt19. Damit hat die Renaissance das Doppelthema Autonomie und Abendland so richtig in die Welt gebracht (auch die Kunst wurde autonom, der Künstler nun als schöpfergleiches Individuum selbstbewusst in Erscheinung tretend). Heute bekommen wir die Wut der Welt zu spüren. Natürlich musste das alles auch geistig verarbeitet werden. Damit war, im 18. Jahrhundert (Deutschland damals ein Schwellenland, politisch zersplittert, ein Reichspatriotismus allenfalls in allerersten Ansätzen feststellbar), die Aufklärung 17 Vgl. B. Schneidmüller, Grenzerfahrung und monarchische Ordnung. Europa 1200– 1500, München 2011. 18 Vgl. den „Klassiker“ J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Leipzig 1860. P. Burke, Die europäische Renaissance, München 1998, S. 287, rät, „die Grenze zwischen den Perioden, wie sie Historiker ziehen, zu verwischen, indem man die Dinge von mehr als nur einem Standpunkt aus betrachtet.“ 19 Vgl. W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., Berlin 2010, S. 44 f. (Graf Vitzthum).

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geboren, war die Vernunft, das Gefühl verletzend, inthronisiert, waren Selbstdenken geboren und Eigenverantwortlichkeit gefordert. Was die Griechen an Rationalem durch Kontemplation aus ihren Gehirnen holten, suchten wir, die wir nie so recht unserem Gehirn trauten, aus dem Befragen der Natur zu erkennen, aus dem Experiment zu beweisen. Die europäische, die Wahrheit suchende, rationale Naturwissenschaft entstand, die positive intersubjektiv kontrollierte Wissenschaft, auf die wir ja so stolz sind20. Der einst alle und alles umfassende Glaube wird zur höchstpersönlichen Angelegenheit: Auf das Herz kommt es an, nicht auf die geistliche Beschwörung, nicht auf das gemeinschaftliche religiöse Ritual, die Säkularisierung ist unterwegs. Die Romantik (um 1800) reagiert dann wieder auf die Überbetonung des Rationalen: ein Versinken nun im Anverwandeln der Natur, im Rausch der Sonnenuntergänge, im Gefühl, in der Empfindung, im Heimatlichen, Volkstümlichen, Sinnlichen, Diffusen, ein Sehnen nach Leidenschaft, Spontaneität, Gesang und Einfachheit. Man sammelt jetzt, so Vieles hat sich in Bibliotheken und Galerien, die nun geöffnet werden, angehäuft, zu Vieles für den Überblick. Glauben und Religion sind nur noch Emotion, das Spirituelle ist etwas ganz Eigenes, Besonderes, fast ein Kunstwerk. Und dann die Moderne, unsere postindustrielle, religionskritische, kommunikationsversessene Epoche! Was Tiefe hatte, wird flach (nicht nur der Bildschirm), die Gesellschaft mit Struktur wird, jedenfalls in den Augen angstbeladener Kulturpessimisten, zur Masse. In den westlichen Demokratien wird der Staat zur Funktion der (Informations-)Gesellschaft, die Staatskunst zum populistischen Wohlfahrts- und politischen Kommunikationsmanagement, jedes Konzert zum Event. Die Bildungsreise wird zum Pauschaltourismus, die Bibliothek zur Bilderwelt des Fernsehens und zur Informationsflut der elektronischen Wissensspeicher, der sozialen Netzwerke. Religion wird in modern-liberaler Sicht Privatangelegenheit, das christliche Bekenntnis modisch oder auch nicht, wie es eben beliebt. Angst, das lebensnotwendige Reizmittel für das Gehirn, ist nun etwas für die Couch. Der selbstbezügliche moderne Mensch kann sich das leisten. Eine zusammenfassende, überwölbende Vernunftgestalt gibt es in dieser Epoche der Fragmentierung nicht mehr, erst recht nicht im „anything goes“ der gelenkigen sprach-, bild- und raumverliebten Hoch- und Nachmoderne mit ihrem digitalen Voyeurismus. So einfach ist das mit dem kulturgeschichtlich entwickelten Europabegriff? So einfach ist es natürlich nicht! Die skizzierten Epochen und Bewegungen waren 20 Weidenfeld (Fn. 4), S. 20: „Diese Verbindung spezifischer politischer Ordnungsformen mit dem Drang zu wissenschaftlichem Erkenntnisfortschritt und zur Entzauberung der sozialen Welt sowie dem ethisch begründbaren individuellen Engagement im Wirtschaftsleben hat die Modernisierungskräfte in Europa wesentlich befördert.“ Die Verbesserung des Wissens über die Natur, die „wissenschaftliche Revolution“, hatte bereits im 17. Jahrhundert mit Macht eingesetzt, vgl. H. Butterfield, Origins of Modern Science, 1300–1800, London 1949.

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bekanntlich weit weniger kohärent und voneinander separiert als vorstehend aufgelistet. Alles, was zur Herausbildung des Gefühls der Identität gehört, war komplex, und es ist weiterhin vieldeutig, verschränkt, verworren. So begannen schon die Griechen der Antike mit der dann von Max Weber auf den Begriff gebrachten „Entzauberung der Welt“ und mit ihrer gleichzeitigen Wiederverzauberung durch den Mythos, die Künste und den Eros. Wie ließe sich Europa da kulturell definieren! Alle Bestimmungsversuche nach kulturgeschichtlichen Perioden, religiösen Inhalten oder künstlerischen Manifestationen weisen, so üblich sie auch sind, Defizite auf. Zu unterschiedlich sind die geistlichen, geistigen und sozioökonomischen Entwicklungen der einzelnen Völker und Räume. Groß, ja angesichts der identitäts- und integrationspolitisch zu Recht speziell geschützten Minderheitensprachen sich fast noch vergrößernd ist die Zahl der Sprachen in Europa (wobei Sprachen ihrerseits, wie gesagt, auch Dominanzinstrumente sein können). Keineswegs einheitlich ist die Ausgestaltung von Demokratie und Sozialstaat in Europa, beeinflusst von der jeweiligen nationalen Geschichte, Kultur und Wirtschaft, ja auch dem Klima. Die EU umfasst mehrheitlich Republiken, aber auch einige Monarchien. Einige präsidiale Systeme stehen neben vielen parlamentarischen Regierungsformen, strikt laizistische Ausprägungen finden sich neben staatskirchlichen. Europa ist eben weit mehr als „die Bibel und die Antike“ 21. Dieses Mehr erschwert das Definieren eines gemeinsamen Nenners, mittels dessen sich ein kulturabgeleitetes Identitätsprinzip Europas bestimmen und dieses gegenüber den Imperialismen der neuen Globalkultur (Medien, Kommerz, Mobilität) verteidigen ließe. 3. Rechtlich-politisch ist Europa ebenfalls nicht einfach zu vermessen. Von diesen Schwierigkeiten leben wir Juristen, ähnlich wie die Soziologen und Psychologen vom Selbstbezug des modernen Ich. Ich muss mich hier, bei dem dritten Zugriff auf den Europabegriff, kurz fassen, obwohl schon die einschlägigen Termini, die etwa für Europarat und EU relevant sind, differieren. Zu unterschiedlich sind beide Institutionen, trotz zunehmender verfahrens- und materiellrechtlicher Verschränkung, in ihren formellrechtlichen Grundlagen und politischen Zielen: Verfassungsstaatlichkeit, Rechtsangleichung und Menschenrechtsschutz im Rahmen des bereits 60-jährigen Europarats (für 800 Millionen Menschen), wirtschaftliche, soziale und politische Integration im Rahmen der deutlich jüngeren Union. All die 47 höchst unterschiedlichen Staaten, die als Mitglieder im Europarat an die EMRK gebunden sind, darunter von Anfang an die Türkei und seit 1993 Russland, einschließlich seines viel größeren asiatischen Teils, als „europäisch“ zu qualifizieren, hat für die EU mit ihren 27 Mitgliedstaaten nur informationelle, keineswegs imperative Bedeutung.

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K. Jaspers, Vom europäischen Geist, München 1947, S. 9.

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Der EU-Vertrag kennt, respektiert und normiert zwei Formen der Identität: die europäische und die nationale. Diese beiden Typen schließen einander nicht aus. Es gibt bekanntlich multiple soziale Identitäten, häufig auch solche mit differenten Gehalten. Wir alle leben in verschiedenen „Communities“, Bindungen, Rollen22. Die Union und ihre Mitgliedstaaten koexistieren, kooperieren, konvergieren. Insofern lässt sich von Differenz und Identität sprechen, eben von Identitäten. Die Stabilität der Mitgliedstaaten ist Voraussetzung für die Stabilität der EU. Um der Union willen darf sich Deutschland in ihr nicht auflösen wie eine Brausetablette in einem Glas Wasser. Der EU-Vertrag schützt geradezu leitmotivisch nationale Identitätsgehalte, ja die mitgliedsstaatliche Identität als solche. In einer Art Arbeitsteilung gebietet er die Wahrung der kulturellen, nationalen und regionalen Vielfalt (dem korrespondiert Art. 22 der Charta der Grundrechte der EU: „Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“). Die Völker als Gruppen im identitätsrelevanten Sinn werden gewährleistet23. Zu Recht: Der Wald hat keine Wurzeln, nur die Bäume haben sie. Die europäische Einigung ist Ausprägung einer Erinnerungs-, Lern- und Überzeugungsgemeinschaft. Indem Europa seine gemeinsamen Werte konstitutionalisiert, konstruiert es seine Identität, aus sich heraus, mittels normativer Selbstbindung. Die Ende 2000 feierlich proklamierte Grundrechtecharta vor allem, seit 1. Dezember 2009 geltendes Recht, sichert eine spezifische, mit den Mitteln des Rechts geschaffene Ordnung24. Nicht die Geographie, nicht die Kultur – es ist in erster Linie das Recht, das letztlich Europa, jedenfalls EU-Europa, auf den Begriff bringt. Im Horizont seiner kulturellen und geographischen Gegebenheiten definiert, fundiert und stabilisiert das europäische Recht die Union, ihre Identität und Entwicklungsfähigkeit. Mythos und Kultur, Logos und Recht bieten dem Bedürfnis nach Selbstvergewisserung über die eigene Identität, nach Orientierung also und Zusammengehörigkeit mehr als Bürokratie und Geographie: den wieder gefundenen Stier (eine irrationale, fast mythische Bindungskraft) und eine Rechtsgemeinschaft. 22 Vgl. Reflexionsgruppe (Fn. 12), S. 50: „Wir alle besitzen eine mehrfache Identität mit lokalen, regionalen und nationalen Elementen. Ohne Zweifel werden für die Bürger noch lange Zeit in erster Linie diese Hauptidentitäten maßgeblich sein. Sie müssen jedoch einhergehen mit einer neu entstehenden ,europäischen‘ Identität, die auf einer gemeinsamen Sicht der Geschichte der EU, den praktischen Vorzügen der Unionsbürgerschaft sowie auf einer gemeinsamen Vorstellung von der Zukunft Europas und ihrem Platz in der Welt beruht.“ 23 So zielt der EU-Vertrag auf den „immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker“ in einer „immer engeren Union der Völker Europas“, und die Grundrechtecharta der EU betont bereits in ihrer Präambel (3. Erwägungsrund) die Bedeutung der „nationalen Identität der Mitgliedstaaten“. 24 J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl., Baden-Baden 2011; R. Bieber/A. Epiney/M. Haag, Die Europäische Union, 9. Aufl., Baden-Baden 2011; Th. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl., München 2009; J. Schwarze u. a. (Hrsg.), EU-Kommentar, 2. Aufl., Baden-Baden 2009.

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IV. Abschließend ist auf die herausfordernde Frage des asiatischen Geschäftsmanns nach den „europäischen Werten“ zurückzukommen. Seit jener Begegnung ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Heute würde ich einfach die Grundrechtecharta der EU präsentieren, die ich als identitätsbewusster Europäer, in Kenntnis der weltweiten Befragung Europas, immer unter dem Arm trage. Heute würde der Inder das Thema aber wohl gar nicht mehr anschneiden. Von außen betrachtet wirkt die Identitätsfrage fast schon verstaubt. Von draußen, etwa von Asien oder den USA aus, wird Europa in seiner Besonderheit, in seinem rechtlich gesteuerten Zusammenwachsen, in seinem krisenerprobten elastischen Zusammenhalt längst als Einheit begriffen. Europäische Vielfalt und Identität, wie gesagt, schließen einander nicht aus, gerade aus der Außensicht nicht. Das ist die von Europa zu lernende Lektion – geradezu ein Exportgut wie etwa auch die europäische Rechtskultur. Komplementäre Unterschiedlichkeit, eingefangen und fruchtbar gemacht in einem gemeinsamen Rechtsrahmen, ist anschlussfähiger als erzwungene Egalität. „Aber das Eigene“, skizzierte Friedrich Hölderlin im Jahr 1801 eine geradezu dialektische Programmatik25, „muss so gut gelernt sein wie das Fremde“: neben der Erfahrung des Fremden bedarf es des Erlernens26 des Eigenen. Dieses wird durch das Fremde begriffen, so wie der Tag erst durch die Nacht deutlich wird und das Glück durch das Unglück. Der Gang ins Offene, ins ferne Freie erschließt das Nahe, Geschlossene. Beim Erlernen des Fremden wird dieses nah und das Vertraute fremd, wird die Heimat ein utopischer Ort und das ferne Archipel zur Heimat. Das Eigene wird, ohne es mit dem Fremden gleichzusetzen, als Teil des Fremden erfahren, das Fremde als Element der eigenen Wirklichkeit. Das Fremde und das Eigene sind, hegelianisch verstanden, die beiden Koordinaten des Lebens – des Lebens und Denkens nicht nur dieses freiheitsbedürftigen und geradezu fremdheitssüchtigen Dichters. Ohne einfach als gegeben und als gleich vorausgesetzt werden zu dürfen, gehören sie zusammen, in einem dialogi25 Brief an C. U. Böhlendorff vom 4. Dezember 180l: „. . . Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen . . . Aber das eigene muß so gut gelernt seyn, wie das Fremde. Deßwegen sind uns die Griechen unentbehrlich. Nur werden wir ihnen gerade in unserem Eigenen, Nationellen nicht nachkommen, weil, wie gesagt, der freie Gebrauch des Eigenen das schwerste ist“ (wobei Hölderlin „freie“ und „Eigenen“ durch Sperrung hervorhebt). 26 Das Wort „Lernen“ hatte damals eine andere Bedeutung als heute nach einem Jahrhundert Psychologie und einem halben der Gehirnforschung. Das Eigene ist ja das Eigene, weil man es hat, man muss es sich nur bewusst machen. Das Fremde nur, das von außen Kommende, muss man lernen. Die Muttersprache hat man, eine Fremdsprache muss man erst lernen. Insofern meint Hölderlin primär, dass es schwierig sei, sich des Eigenen bewusst zu werden, vielleicht schwieriger als sich Fremdes anzueignen. Immer wieder ist das Eigene verstellt durch Hoffnungen, Wünsche, Illusionen, so dass man es nicht erkennen kann, nicht erkennen will. Doch bleibt es etwas deutlich anderes als das Erlernen des Fremden, weil es vorhanden ist, wenn auch in Teilen unbewusst.

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schen und dialektischen Verhältnis. Als solche lassen sie sich auf Europa übertragen, auf seine Einheit in Vielfalt. Die rechtlich geschützte Pluralität, haben wir gesehen, markiert Europas Identität. Die Europäer sind auf dem Weg zu einer „immer engeren Union“ ihrer Völker. Diese, die eigenen Völker, sind ihnen nahe, vertraut. Die politische Einigung ist demgegenüber noch unerschlossen, noch fern. Die Europäer müssen sich selbst, ihr Eigenes, stärker als ein Europäisch-Sein begreifen. Sie müssen es als solches, als den bloßen Teil eines gewachsenen Ganzen, erfahren, wollen, gebrauchen. Das schwerste aber, ergänzte Hölderlin vor zwei Jahrhunderten, das schwerste ist „der freie Gebrauch des Eigenen“ 27. Er formulierte damit ein europäisches Lernprogramm.

27 Das Eigene ist dabei nicht wertvoller als das Fremde, nicht besser, edler, größer, schöner, wahrer – aber es ist das Eigene, weil es nun mal vorhanden ist, und es „frei zu gebrauchen“ ist schwierig. Gleichwertigkeit des Eigenen und des Fremden: ja, aber Gleichsetzung: nein.

Die Konstitutionalisierung der Grundrechte-Charta und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten Von Jacques Ziller I. Die Konstitutionalisierung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Das Recht der Europäischen Union (EU-Recht) ist ein Rechtssystem, das auf völkerrechtlichen Verträgen beruht1. Das Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages am 1.12.2009 hat daran nichts geändert und es wäre auch daran nichts geändert worden, wenn der in Rom am 24. Oktober 2004 unterzeichnete Vertrag über eine Verfassung für Europa anstelle des Lissabonner Vertrages in Kraft getreten wäre. Bemerkenswert in dieser Hinsicht sind die Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rates vom 21./22. Juni 20072. Im Punkt 1. der Anlage I, die das Mandat für die Regierungskonferenz enthält, die dann den Lissabonner Vertrag zustande gebracht hat, heißt es (vom Verfasser hervorgehoben): „Das Verfassungskonzept, das darin bestand, alle bestehenden Verträge aufzuheben und durch einen einheitlichen Text mit der Bezeichnung ,Verfassung‘ zu ersetzen, wird aufgegeben. Mit dem Reformvertrag sollen in die bestehenden Verträge, die weiterhin in Kraft bleiben, die auf die RK 2004 zurückgehenden Neuerungen in der nachstehend im Einzelnen beschriebenen Weise eingearbeitet werden.“

Die Rechtsverbindlichkeit der EU Grundrechte-Charta, eine der auf die RK 2004 zurückgehenden Neuerungen, die vom Lissabonner Vertrag eingeführt worden sind, folgt aus Art. 6. Abs. 1 EUV. Dessen erste zwei Sätze lauten: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung niedergelegt sind; die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig. Durch die Bestimmungen der Charta werden die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert.“ 1 Zu den Folgen die daraus abzuleiten sind s. weiter Ziller, Jacques, Der Europäische Verfassungsverbund ohne Verfassungsvertrag, in: Stern, Klaus (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz – Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Verfassungsverbund, München 2010, S. 121–137. 2 Rat der Europäischen Union, Brüssel, den 20. Juli 2007 (23.07) (OR. en) 11177/1/ 07, REV 1, CONCL 2.

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Als wichtiger Ausgangspunkt soll an den Unterschied erinnert werden, der zwischen denjenigen Bestimmungen der Grundrechte-Charta besteht, für die es im EUV oder im AEUV korrespondierende Rechtsgrundlagen für die Tätigkeit der Union gibt – wie z. B. Art. 45. Abs. 1 der Charta Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit, die Art. 20 AEUV entspricht – und den anderen Bestimmungen – wie etwa Art. 22 betreffend die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen – für die es eben keine entsprechende Rechtsgrundlage in den Verträgen gibt. Was z. B. die Vielfalt der Religionen betrifft, erlaubt es der Wortlaut des Vertrages nicht Art. 17 AEUV als Rechtsgrundlage für eine Tätigkeit der Union zu betrachten, die weiter ginge als etwa eine Verordnung zu verabschieden, die dem regelmäßigen Dialog der Unionsorgane mit Kirchen und Gemeinschaften organisiert. Die Tatsache, dass es gegebenenfalls keine Rechtsgrundlage für die Tätigkeit der Union gibt, hat als Folge, dass der Unionsgesetzgeber – Parlament und Rat auf Vorschlag der Kommission – keine Rechtsakte verabschieden darf die das Ziel hätten eine entsprechende Bestimmung der Charta anzuwenden. Wenn dieser aber in einem besonderen Bereich handelt, wofür es im AEUV oder im EUV eine Rechtsgrundlage gibt, sollen die in der Charta eingebetteten Grundrechte vom Gesetzgeber natürlich geachtet werden. Weiterhin verweist Art. 6 Abs. 1 EUV auf die Erläuterungen der Charta: „Die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze werden gemäß den allgemeinen Bestimmungen des Titels VII der Charta, der ihre Auslegung und Anwendung regelt, und unter gebührender Berücksichtigung der in der Charta angeführten Erläuterungen3, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt.“

Auch die Präambel der Grundrechte-Charta verweist auf die Erläuterungen, und Art. 52 Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze der Charta lautet im Absatz 4: „Soweit in dieser Charta Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, werden sie im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt.“ 4

Im Vergleich zum Verfassungsvertrag von 2004 beinhaltet der Lissabonner Vertrag einen kleinen aber nicht unwichtigen Unterschied, nämlich die Andeutung, dass die Erläuterungen die Quellen dieser Bestimmungen angeben5. 3 Die „Erläuterungen“ sind nicht zusammen mit der konsolidierten Fassung der Verträgen im Amtsblatt der EU vom 30.3.2010 Nr. C 83/396 zusammen mit dem Text der Charta veröffentlicht worden; diese sind in Nr. C 303/17 vom 14.12.2007 des Amtsblattes zu finden. 4 Im Bezug auf diese Formulierungen in der Präambel und im Art. 52 der Charta, s. vor allem: Ladenburger, Clemens, Art. 52 Abs. 4–7, in: Tettinger, Peter J./Stern, Klaus (Hrsg.), Europäische Grundrechte-Charta, München 2010, S. 121–137; Ladenburger, Clemens, Fundamental Rights and Citizenship of the Union, in: Amato, Giuliano/Bribosia, Hervé/de Witte, Bruno, Genèse et destinée de la Constitution européenne, Bruxelles 2007, S. 287–310.

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Um die Folgen der Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte-Charta zu begreifen ist es wichtig zwischen den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einerseits und den Gesetzgebern, Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Mitgliedstaaten andererseits zu unterscheiden. Diesbezüglich verfügt Art. 51 der Charta Anwendungsbereich im Absatz 1. „Diese Charta gilt [. . .] für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“. In den Erläuterungen heißt es dazu: „Was die Mitgliedstaaten betrifft, so ist der Rechtsprechung des Gerichtshofs eindeutig zu entnehmen, dass die Verpflichtung zur Einhaltung der im Rahmen der Union definierten Grundrechte für die Mitgliedstaaten nur dann gilt, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln [. . .].“

Auf diesen Grundlagen können drei Arten von Folgen der Rechtsverbindlichkeit der Charta herausgestellt werden, die mit unterschiedlichen Nuancen sowohl für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, als für die Mitgliedsstaaten gelten, nämlich der Unterschied zwischen Grundrechten und anderen Rechte im EU-Recht, der Gesetzesvorbehalt und die Öffnung des Vorlageverfahrens. Erstens hat die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte-Charta zur Folge, dass es nun im positiven EU-Recht einen Unterschied zwischen Grundrechten und anderen Rechten gibt. Die Frage aber, ob daraus eine Hierarchie der Rechte entsteht, die den von der Charta bestätigten Grundrechten automatisch Vorrang über andere Rechte gibt, bleibt bisher unbeantwortet. Die Stichhaltigkeit einer solchen Fragestellung erscheint z. B. deutlich im Falle der sogenannten Grundfreiheiten – Freizügigkeit, freier Verkehr der Waren, der Dienstleistungen und des Kapitals – die seit Inkrafttreten des Vertrags von Rom den Kern des Gemeinsamen, bzw. Binnenmarktes formen, und die Quelle einer besonders reichhaltigen Rechtsprechung sind. Es muss zwischen Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Freiheit der Dienstleistungen, die mit einer Reihe von Charta-Grundrechten verbunden sind – wie z. B. Berufsfreiheit und Recht zu arbeiten (Art. 15 Charta), Unternehmerische Freiheit (Art. 16), Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst (Art. 29), Recht auf Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung (Art. 34) und vor allem Recht auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit (Art. 45) einerseits – und dem freien Verkehr der Waren und des Kapitals andererseits unterschieden werden – es sei denn, man wäre dazu bereit eine Verbindung dieser letzten Grundfreiheiten mit dem Eigentumsrecht (Art. 17) und der Unternehmerischen Freiheit (Art. 16) zu finden.

5 Betr. die Erläuterungen und deren Änderungen von 2000 bis 2007, s. Ziller, Jacques, Le Fabuleux destin des Explications relatives à la Charte des Droits fondamentaux de l’Union européenne, in: Chemins d’Europe, Mélanges en l’honneur de JeanPaul Jacqué, Paris 2010, S. 765–781.

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Unseres Erachtens ist es wenig wahrscheinlich, dass der EuGH eine formale Hierarchie zwischen Grundrechten und anderen in den Verträgen verankerten oder als allgemeine Grundsätze formulierbaren Rechten aufstellen wird, da die Dogmatik der Grundrechts- bzw. Verfassungsrechtskollisionen der Rechtsprechung die nötigen Instrumente liefert um die betreffenden Fragen zu lösen. Es erscheint eher wahrscheinlich, dass der EuGH, wenn es zu einer Abwägung zwischen verschiedenen Grundrechten und Freiheiten und deren Beschränkungen kommen wird, einfach der Charta der Grundrechte mehr Gewicht geben wird. Dies ist ja schon die Richtung die im Omega Urteil 6 angedeutet wurde: „Da die Grundrechte sowohl von der Gemeinschaft als auch von ihren Mitgliedstaaten zu beachten sind, stellt der Schutz dieser Rechte ein berechtigtes Interesse dar, das grundsätzlich geeignet ist, eine Beschränkung von Verpflichtungen zu rechtfertigen, die nach dem Gemeinschaftsrecht, auch kraft einer durch den EG-Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit wie des freien Dienstleistungsverkehrs, bestehen“. In demselben Urteil berief sich der EuGH auch darauf, dass jedenfalls der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in solch einen Fall anzuwenden ist7. Einen weiteren Hinweis der Rechtsprechung – nach Inkrafttreten des Lissabonner Urteils – findet sich im Urteil vom 1. Juni 2010 Blanco Pérez und Chao Gómez8, das die hier angedeutete Hypothese bekräftigt: „Im Einzelnen lassen sich Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit mit dem Ziel rechtfertigen, eine sichere und qualitativ hochwertige Arzneimittelversorgung der Bevölkerung sicherzustellen [. . .]. – Die Bedeutung des genannten Ziels wird durch Art. 168 Abs. 1 AEUV und Art. 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bestätigt, wonach insbesondere ein hohes Gesundheitsschutzniveau bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen sichergestellt wird“. Die auf Abwägung zwischen Grundrechten und anderen Rechten beruhende Argumentation soll nicht nur die Rechtsprechung des EuGH, sondern auch die Rechtsetzung durch Parlament und Rat leiten, sowie die Vorschlage- und Beratungsaktivitäten der Kommission und der anderen EU Institutionen, die bei der Gesetzgebung mitarbeiten; nur der EuGH kann aber deuten, wie diese Abwägung geführt werden soll. Zweitens soll auf dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts Nachdruck gelegt werden, der in Art. 52 der Charta Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze im Abs. 1 formuliert wird: „Jede Einschränkung der Ausübung der in

6 Urteil vom 14. Oktober 2000, Rechtssache C-36/02, Omega Spielhallen- und Automatenaufstellungs-GmbH gegen Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Slg. 2004, I-9609, Rn. 35. 7 Rn. 36. 8 Urteil vom 1. Juni 2010, Verbundene Rechtssachen C-570/07 und C-571/07, José Manuel Blanco Pérez, gegen Consejería de Salud y Servicios Sanitarios (C-570/07), María del Pilar Chao Gómez gegen Principado de Asturias (C-571/07) noch nicht veröffentlicht, Rn. 64 u. 65.

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dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen“. Die verwendete Wortfassung, nämlich „gesetzlich vorgesehen“ (auf Französisch prévu par la loi) verdeutlicht, dass der Grundsatz des Gesetzesvorbehalts von den Gesetzgebern in den Mitgliedstaaten zu beachten ist, wenn diese im Anwendungsbereich des Unionsrechts handeln. Im innerstaatlichem Recht wird so der in der Grundrechte-Charta festgelegte Gesetzesvorbehalt besonders relevant sein, wenn es im jeweiligen Verfassungsrecht kein dem EU Grundrecht entsprechenden Grundsatz gibt, wie etwa im Falle des Rechts auf eine Gute Verwaltung (Art. 41 Charta), oder des Rechts auf Zugang zu Dokumenten (Art. 42). Obwohl im Lissabonner Vertrag von der Benutzung des Wortes Europäische Gesetze abgesehen wurde, bleibt es unseres Erachtens unzweifelhaft, dass der Gesetzesvorbehalt auch für Rechtsakte der Union anzuwenden ist. Dieses folgt aus der Tatsache dass die Art. 289, 290 und 291 AEUV im Unionsrecht die Unterscheidung zwischen Gesetzgebungsakten, delegierten Akten und Durchführungsakten eingeführt haben. Drittens löst nun die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte-Charta Vorlageverfahren zur Auslegung der Charta selber aus. Schon ab Dezember 2009 hat sich gezeigt, dass solche Vorlagen sich entwickelt haben. Dazu ist es wichtig an die Rechtsrechung des EuGH seit dem Urteil Dzodzi vom 18.10.19909 zu erinnern, die Vorlagen als zulässig erklärt: „die eine Gemeinschaftsbestimmung in dem besonderen Fall betreffen, dass das nationale Recht eines Mitgliedstaats auf den Inhalt dieser Bestimmung verweist, um die auf einen rein internen Sachverhalt dieses Staates anwendbaren Vorschriften zu bestimmen“ da es „für die Gemeinschaftsrechtsordnung ein offensichtliches Interesse daran [besteht] eine einheitliche Auslegung [zu erhalten], damit künftige unterschiedliche Auslegungen verhindert werden.“

Ein Vorlageverfahren wurde z. B. im Oktober 2010 eingereicht, bei dem eine Auslegung von Art. 41 der Grundrechte-Charta vom Italienischen Rechnungshof angefragt wurde10.

9 Urteil vom 18. Oktober 1990, verbundene Rechtssachen 297/88 und C-197/89 Massam Dzodzi gegen Etat Belge, Slg. 1990, S. I-03763, Rn. 36 u. 37. 10 Sezione Giurisdizionale per la Regione Siciliana (Italien), eingereicht am 6. Oktober 2010 – Teresa Cicala/Region Sizilien, Rechtssache C-482/10, Amtsblatt 2010/C 328/42 vom 4.12.2010.

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II. Die Grundrechte, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, im Lichte der Konvergenzen und Divergenzen zwischen Mitgliedstaaten Art. 6 Abs. 3 EUV lautet „Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“, während Abs. 1 wie erläutert die Rechtsverbindlichkeit der Grundrechte-Charta erklärt. Im Vergleich zum vorher geltenden Wortlaut dieses Artikels – d. h. Art. F EUV in der Version des Maastrichter Vertrags von 1992 – liegt der Unterschied in der Formulierung „Die Grundrechte [. . .] sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“ anstatt „Die Union achtet die Grundrechte, [. . .] wie sie sich [. . .] als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“. Wichtiger als zu fragen, ob solch ein Wortlaut positivrechtlich eine Neuheit darstellt, ist deutlich zu machen, welches die Grundlagen der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten betreffende Grundrechte sind. Es fehlt nicht an Schriften, die sich mit dem Thema der Verfassungsüberlieferungen der europäischen Staaten befassen. Solche Schriften haben sich vor allem im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts nach dem Fall der Berliner Mauer und der Verabschiedung des Maastrichter Vertrages mit dessen Artikel F entwickelt. Die Idee gemeinsamer Verfassungsüberlieferungen war ja schon Grundlage der Verabschiedung der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet wurde. Die Worte gemeinsame Verfassungsüberlieferungen erscheinen zwar nicht im Text der Menschenrechtskonvention aber deren Gedanke steht im fünften Paragraphen dessen Präambel lautet: „in Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrunde liegenden Menschenrechte gesichert werden11“. Selbstverständlich bezog sich diese Präambel auf die Verfassungsüberlieferungen der Aufklärung und der Revolutionen des 1848, nicht aber auf die dunkle Seite der gemeinsamen europäischen Überlieferungen, d. h. die der autoritären Regime der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts. Da die größte Mehrheit der Schriften betreffend Verfassungsüberlieferungen auf den Gemeinsamkeiten den Nachdruck legen12, d. h. auf den Konvergenzen zwischen europäischen Staaten, erscheint es uns wichtig auch die 11 Deutsche Übersetzung vom Europarat bei http://conventions.coe.int/treaty/ger/ treaties/html/005.htm 12 Betrf. sämtlicher Aspekte der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen s. Weber, Albrecht, Europäische Verfassungsvergleichung, München 2010.

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Fortsetzung von Divergenzen zu unterstreichen, wobei wir uns auf die Grundrechte begrenzen und auf demokratische Überlieferungen, die die Menschenrechte schützen. Es handelt sich dabei um einen notwendigen Schritt um die Einberufung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen im EUV richtig zu verstehen und um auch die Stichhaltigkeit der Auslegungsmethode der vom EuGH gefolgt wird zu überprüfen, wenn es sich darum handelt, solche gemeinsame Überlieferungen zu identifizieren13. Eine Rechtsvergleichung der mitgliedstaatlichen Grundrechte soll nicht nur die Unterschiede im Wortlaut in Betracht ziehen, die aus der rein sprachlichen Vielfalt fließen, sondern auch die Vielfalt der rechtlichen Bezugskontexte. So bestehen nicht in allen Verfassungen der Mitgliedstaaten Grundrechtskataloge, wie etwa im deutschen Grundgesetz von 1949 oder in der italienischen Verfassung von 1947, und in den meisten Mitgliedstaaten. Es soll in Betracht gezogen werden, dass in manchen Mitgliedstaaten, wie etwa Österreich oder Schweden, die Verfassung eigentlich aus mehreren Gesetzen mit gleichem Verfassungsrang besteht, die aber in unterschiedlichen Zeitaltern verabschiedet worden sind: z. B. das schwedische Gesetz über Pressfreiheit, das aus dem Jahre 1766 stammt, wobei die anderen Verfassungsgesetze unter anderem aus 1809, 1810 und 1975 stammen; oder auch das österreichische Gesetz über die Grundrechte, das aus 1867 stammt, die Staatsverfassung aber aus 1920. Noch wichtiger erscheint uns die Tatsache dass es in manchen Mitgliedstaaten keinen richtigen Verfassungskatalog der Grundrechte gibt. Der offensichtlichste Fall ist der des Verfassungsrechts des Vereinigten Königreichs, das ja keine Hierarchie betreffend der Verfassungs- und Gesetzesnormen kennt und wo es bis 1998 keinen vollständigen Katalog der Grundrechte gab, obwohl es schon viel früher verbindliche Rechtstexte gab, die einzelnen Aspekten der Menschenrechte gewidmet waren, wie etwa der Bill of Rights von 1689 oder auch etwa die Magna Charta von 1215 und der Habeas Corpus Act von 1679. Auch das betreffende französische Verfassungsrecht bleibt in formaler Hinsicht bemerkenswert: das Fehlen eines Grundrechtekataloges in der Verfassung von 1958 hat zur Entwicklung des Konzepts des sog. Verfassungsblocks (bloc de constitutionnalité) geführt. Es handelt sich um eine Reihe von Rechtsquellen, die nicht nur die Verfassung von 1958 beinhaltet, sondern auch die Präambel der Verfassung von 1946 (ein im Wortlaut etwas knapper Grundrechtskatalog), die Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789 – auf diese beide Texte wird in der Präambel der Verfassung von 1958 explizit Bezug genommen – und auch sie sogenannten von den Gesetzen der Republik erkannten Grundsätzen (principes fondamentaux établis par les lois de la République) – worauf sich ein Absatz der Präambel der Verfassung von 1946 bezieht – es handelt sich um Gesetze der Perioden 1792–1804, 1848–1852 und 1870–1940. 13

s. dazu III.

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Wichtig ist nicht so sehr die Vielfalt der Formen der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Grundrechte, sondern eher die Tatsache, dass eine solche Vielfalt eine große Vielfalt der Auslegungsmethoden mit sich bringt, die die Gerichte gebrauchen, um ein Grundrecht zu „entdecken“ und es zu definieren. In Ermangelung einer einzelnen kodifizierten Grundrechtsverfassung ist es z. B. leichter und sogar unentbehrlich, für die Richter das Konzept der allgemeinen Rechtsgrundsätze zu benutzen. Dies kann am Beispiel des französischen Conseil Constitutionnel illustriert werden, der ab 1971 das Konzept der von den Gesetzen der Republik erkannten Grundsätzen „entdeckt“ hat, um den von einem Gesetz des Jahres 1901 geschaffenen Verfahrensgarantien des Vereinigungsrecht Verfassungsrang zu verschaffen14. Der Conseil constitutionnel hat so die vom französischen Staatsrat (Conseil d’Etat) überlieferte Methodik übernommen, die dieser während der III. Republik (1870–1940) besonders entwickelt hatte, da die damalige Verfassung nur aus drei Verfassungsgesetzen bestand, die die Organisation und Kompetenzen des Parlaments, bzw. des Präsidenten der Republik, sowie die Beziehungen zwischen diesen Staatsorganen regelten. Der Staatsrat berief sich als höchste Verwaltungsgerichtsbarkeit auf die Menschenrechtserklärung von 1789 – die damals nicht mehr verbindliches Gesetz war – sowie auf das Bürgerliche Gesetzbuch – das als verbindliches Recht nicht auf Handlungen der Staatsbehörden anzuwenden war – um allgemeine Rechtsgrundsätze zur Wahrung der Freiheiten sowie der Rechte des Bürgers und des Menschen zu „entdecken“. Daraus ergibt sich, dass die französischen Gerichte und die Rechtswissenschaft, da sie dem beständigen Gebrauch des Konzeptes der allgemeinen Rechtsgrundsätze seit mehr als einem Jahrhundert besonders gewöhnt sind, wahrscheinlich leichter die Auslegungsmethoden des EuGHs annehmen, als die Gerichtsbarkeiten und die Rechtswissenschaft von Mitgliedstaaten, in denen die Grundrechtsmethodik größtenteils auf der Auslegung eines vollständigen Katalogs der Grundrechte beruht. Über die Unterschiede in der Auslegungsmethodik die aus der Vielfalt der formellen Quellen der Grundrechte hinaus, sind für die Rechtsvergleichung auch die Vielfalt der Auslegungsmethoden, die aus unterschiedlichen rechtswissenschaftlichen Traditionen stammen, zu berücksichtigen, soweit diese einen wichtigen Einfluss auf den Gedankengang der höchsten Richtern haben, wie etwa in Deutschland oder in Italien. Es ist z. B. kein Zufall, dass die Konzepte des Gesetzesvorbehalts und des unantastbaren Kerns der Grundrechte sich erst in der deutschen und italienischen Verfassungsrechtsprechung entwickelt haben, in denen die vom römischen Recht stammenden Traditionen der Dogmatik besonders stark sind – man denke etwa an den Pandektisten – wobei in Frankreich die Bemühun14 Urteil des 16. Juli 1971 – n ë 71–44 DC – Loi complétant les dispositions des articles 5 et 7 de la loi du 1er juillet 1901 relative au contrat d’association, s. http:// www.conseil-constitutionnel.fr/.

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gen der Verwaltungsrechtsprechung und der Staatrechtslehre bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts vor allem darauf zielten, das Hindernis des von der 1789er Revolution überlieferten sakralen Charakters des Gesetzes zu umgehen. Ohne hier mangels Zeit und Platz auf die Unterschiede zwischen Mitgliedstaaten betreffend des Inhalts des Grundrechtskatalogs einzugehen, soll aber auf die Unterschiede betreffend des Rechtsschutzes hingewiesen werden. Relevant sind dazu das Bestehen oder die Entbehrlichkeit einer Verfassungsmäßigkeitskontrolle der Gesetze, sowie eines besonderen dem Einzelnen zugänglichen Rechtsweges zum Schutz der Grundrechte. So sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass es in zwei der EU-Mitgliedstaaten keinen solchen Rechtsschutz gibt: im Vereinigten Königreich z. B. wegen des Nichtvorhandenseins einer Hierarchie zwischen Verfassungs- und ordentlichen Gesetzen, und in den Niederlanden aufgrund einer bewussten Entscheidung während der Vorbereitung der Grundgesetznovellierung von 1983. Einen besonderen Rechtsweg für den Einzelnen, wie etwa die deutsche Verfassungsbeschwerde oder das spanische Amparo, gibt es z. B. weder in Frankreich noch im Italien. Ein Vorlageverfahren vor der Verfassungsgerichtsbarkeit gibt es in Frankreich z. B. erst seit März 2010 mit den sog. renvoi prioritaire de constitutionnalité15. Aus der Zusammenstellung zwischen der Vielfalt der Grundrechte-Chartas und betreffend des Rechtsschutzes ergibt sich nicht nur eine Vielfalt der Rollen der Richter sondern auch eine Vielfalt der Beziehungen zwischen innerstaatlichen und internationalen Quellen der Grundrechte16. In den Niederlanden z. B. ergibt sich der Rechtsschutz für Grundrechte vor allem aus der Anwendung der EMRK durch die ordentlichen Gerichte, da die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag gemäß Art. 94 des Grundgesetzes über niederländische Gesetze Vorrang genießt – eine Klausel die 1953 verabschiedet wurde; so sind die EMRK und die Straßburger Rechtsprechung die positivrechtlichen Hauptquellen der Grundrechte sowohl im quantitativen als auch im qualitativen Sinne, obwohl das niederländische Grundgesetz eigentlich seit 1983 ein dem deutschen GG § 1–19 ähnlichen Katalog der Grundrechte enthält. In Ländern wie etwa Deutschland oder Italien ist hingegen die Hauptquelle der Grundrechte ohne jeden Zweifel der Verfassungskatalog, da dieser nicht nur rechtsverbindlich ist, sondern auch mit einem besonderen Rechtsschutzsystem verbunden ist. In Frankreich hingegen waren 1981 mit der Anerkennung der Klagebefugnis des Einzelnen die EMRK und die Straß15 s. Gundel, Jörg, Verfassungsgerichtliche Gesetzeskontrolle in Frankreich mit der neuen „question prioritaire de constitutionnalité: Konsequenzen für den Status des Unionsrechts in der französischen Rechtsordnung?“, in: Bernreuther, Jörn, Festschrift für Ulrich Spellenberg zum 70. Geburtstag, Berlin 2010, S. 573–590. 16 s. von Bogdandy, Armin/Cruz Villalón, Pedro/Huber, Peter M., Handbuch Ius Publicum European, Bd. I: Grundlagen und Grundzüge des Verfassungsrechts, Heidelberg 2007.

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burger Rechtsprechung für die ordentlichen Richter, sowohl in zivil-, straf- oder handelsrechtlichen wie in verwaltungsrechtlichen Sachen eine der gegenüber Verfassung und Rechtsprechung des Conseil Constitutionnel gleichwertige, und quantitativ wahrscheinlich wichtigere Quelle – wenigstens vor der Anwendung des neuen Vorlageverfahrens ab März 2010. Die Wirkung einer solchen Vielfalt auf die Möglichkeit, dass die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten eine autonome und gemeinsame Quelle der Grundrechte darstellen, wird unserer Ansicht nach meistens sehr unterschätzt.

III. Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als Quelle der von der EU-Charta anerkannten Grundrechte Was die inhaltliche Vielfalt der Grundrechte in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten betrifft ist es von besonderem Interesse die von der EU-Charta gewährleisteten Grundrechte zu betrachten, bei denen die „in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind“ (Art. 6 EUV) ausdrücklich sagen, dass sie sich sowohl an die EMRK als auch an die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten „anlehnen“ (die englischen und französischen Fassungen benutzen das Konzept „Anregung“ finden – inspiration). Bei einer Rechtsvergleichung dieser Grundrechte wird deutlich, dass sich eine große Vielfalt von Interpretationen hinter dem Wortlaut verbirgt, den alle Mitgliedern des Konvents von 2000 für annehmbar hielten. Eine solche ausführliche Rechtsvergleichung ist aber im Rahmen eines Aufsatzes wie diesem schlicht unmöglich zu bewerkstelligen. Die Präambel der Grundrechte-Charta deutet im 7. Absatz auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten hin: „Diese Charta bekräftigt unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Union und des Subsidiaritätsprinzips die Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus der [EMRK], aus den von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben. In diesem Zusammenhang erfolgt die Auslegung der Charta durch die Gerichte der Union und der Mitgliedstaaten unter gebührender Berücksichtigung der Erläuterungen, die unter der Leitung des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der Charta formuliert und unter der Verantwortung des Präsidiums des Europäischen Konvents aktualisiert wurden.“

Art. 52 der Charta Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze unterstreicht wie wichtig diese Verfassungsüberlieferungen sind, um eine herabgesetzte Auslegung der Grundrechte zu vermeiden, indem dessen Absatz 4 besagt:

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„Soweit in dieser Charta Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, werden sie im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt.“

Bei gründlicher Prüfung der Erläuterungen entdeckt der Leser aber, dass diese nur in drei Fällen eine Bezugnahme auf gemeinsame Verfassungsüberlieferungen enthalten. Im Artikel 10 der Charta, betreffend (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) steht in Absatz 1: „(1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. – (2) Das Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wird nach den einzelstaatlichen Gesetzen anerkannt, welche die Ausübung dieses Rechts regeln.“

Es genügt darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des Laizismus als einer der Kerngrundsätze der französischen Verfassung gilt17, und dass dort die Trennung von Staat und Kirche einen ganz anderen Inhalt hat als etwa in Deutschland oder Italien; es kann auch auf das Vereinigte Königreich hingewiesen werden, in dem das Staatsoberhaupt auch Oberhaupt der anglikanischen Kirche ist, oder auf manche nördlichen Staaten, die eine Staatsreligion kennen. So wird die vielfältige Reichweite der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit deutlich. Dazu sagen die Erläuterungen folgendes: „Das in Absatz 1 garantierte Recht entspricht dem Recht, das durch Artikel 9 EMRK garantiert ist, und hat nach Artikel 52 Absatz 3 der Charta die gleiche Bedeutung und die gleiche Tragweite wie dieses. Bei Einschränkungen muss daher Artikel 9 Absatz 2 EMRK gewahrt werden, der wie folgt lautet: [. . .].“ „Das in Absatz 2 garantierte Recht entspricht den einzelstaatlichen Verfassungstraditionen und der Entwicklung der einzelstaatlichen Gesetzgebungen in diesem Punkt.“

Besonders zu beachten ist die Bezugnahme nicht nur auf die einzelstaatlichen Verfassungstraditionen sondern auch auf die Entwicklung der einzelstaatlichen Gesetzgebungen. Art. 14 der Charta Recht auf Bildung lautet: „(1) Jede Person hat das Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung. – (2) Dieses Recht umfasst die Möglichkeit, unentgeltlich am Pflichtschulunterricht teilzunehmen. – (3) Die Freiheit zur Gründung von Lehranstalten unter Achtung der demokratischen Grundsätze sowie das Recht der Eltern, die Erziehung und den Unterricht ihrer Kinder entsprechend ihren eigenen religiösen, weltanschaulichen und erzieherischen Überzeugungen sicherzustellen, werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen geachtet, welche ihre Ausübung regeln.“ 17 Der erste Satz des ersten Artikels der Verfassung von 1958 lautet, wie schon der erste Satz des ersten Artikels der Verfassung von 1946: „La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale.“

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Die Erläuterungen zu Art. 14 lauten dazu: „1. Dieser Artikel lehnt sich sowohl an die gemeinsamen verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten als auch an Artikel 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK an, der folgenden Wortlaut hat: [. . .]. Es wurde für zweckmäßig erachtet, diesen Artikel auf den Zugang zur beruflichen Aus- und Weiterbildung auszudehnen ([. . .]) und den Grundsatz der Unentgeltlichkeit des Pflichtschulunterrichts einzufügen. [. . .] – 2. Die Freiheit zur Gründung von öffentlichen oder privaten Lehranstalten wird als einer der Aspekte der unternehmerischen Freiheit garantiert, ihre Ausübung ist jedoch durch die Achtung der demokratischen Grundsätze eingeschränkt und erfolgt entsprechend den in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegten Einzelheiten.“

Bei rechtsvergleichender Analyse erscheint, dass es, abgesehen vom Grundsatz der unentgeltlichen Teilnahme am Pflichtschulunterricht, eigentlich wenig allen Mitgliedstaaten Gemeinsames gibt. Betreffend Frankreich sollte sogar erwähnt werden, dass das bereits erwähnte Konzept der von den Gesetzen der Republik erkannten Grundsätzen eigentlich vom letzten Satz des ersten Absatzes der Präambel der Verfassung von 1946 stammt, der in der verfassungsgebenden Versammlung als Kompromiss geschlossen wurde zwischen den laizistischen Parteien, die keineswegs bereit waren einen finanziellen Beitrag des Staates zu den sog. „freien Schulen“ (eigentlich vor allem katholische Schulen) zu leisten und den Christdemokraten, die umgekehrt eine Basis für eine solche Finanzierung in der Präambel festlegen wollten. Der Hinweis auf die Gesetze der Republik kann nicht nur als Hinweis auf das Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche von 1905, sondern auch auf die Haushaltsgesetze der zwanziger Jahre, die gewisse Finanzierungen der „freien Schulen“ ermöglicht hatten, gelesen werden. Unseres Erachtens spiegeln die Erläuterungen einen Kompromiss im Konvent 2000 wider, der dem französischen Kompromiss von 1946 ähnlich ist; auf europäischer Ebene handelt es sich aber um einen Kompromiss zwischen unterschiedlichen Verfassungsüberlieferungen der verschiedenen Mitgliedstaaten. Im Artikel 49 der Charta, Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen lautet Absatz 3 schlicht: „Das Strafmaß darf zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein.“ Die Erläuterungen sagen dazu: „In diesen Artikel ist die klassische Regel des Verbots der Rückwirkung von Gesetzen und Strafen in Strafsachen aufgenommen worden. Hinzugefügt wurde die in zahlreichen Mitgliedstaaten geltende und in Artikel 15 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte enthaltene Regel der Rückwirkung von milderen Strafrechtsvorschriften.“

Diesbezüglich ist tatsächlich auch auf rechtsvergleichender Basis die Konvergenz zwischen den EU-Mitgliedstaaten sehr stark. Selbstverständlich sind die Erläuterungen nicht eine maßgebende Auslegung der Grundrechte-Charta, die jegliche andere Auslegung ausschließen würde, aber sie spiegeln besonders gut die Debatten des Konvents 2000 wider sowie die Hin-

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tergedanken mancher Teilnehmer: Vertreter der Parlamente und Regierungen der damals 15 Mitgliedstaaten sowie des Europäischen Parlaments und der Kommission unter Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog. Sie beweisen einerseits die begrenzte Tragweite der mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen als autonome Quelle der EU Grundrechte-Charta, und im Gegenteil auch wie sehr die EMRK die Hauptquelle dieser Charta ist, nämlich als ein von allen Mitgliedstaaten unterzeichnetes Abkommen, dass als solches den einheitlichen Charakter der damals, d. h. in 1950, anerkannten Grundrechte bezeugt. Was neuere Grundrechte betrifft, wie etwa den Schutz personenbezogener Daten (Art. 8), das Verbot der auf Alter beruhende Diskriminierungen (Art. 21) oder etwa das Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art. 42) findet man in den Erläuterungen interessanter Weise keinen Hinweis auf gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, auf die einzelstaatlichen Verfassungstraditionen oder auf die Entwicklung der einzelstaatlichen Gesetzgebungen. Meistens deuten dabei die Erläuterungen entweder auf Rechte, die von den EG bzw. EU Verträgen gewährleistet werden, das sekundäre EG Recht oder auf die Rechtsprechung des EuGH hin. Deswegen sind die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten des EUV und der Grundrechte-Charta eher als Hinweis auf die Gemeinsamkeit der von der EMRK sowie von EUV und AEUV, EU Sekundärrecht oder der Rechtsprechung des EuGH gewährleisteten Rechte und Prinzipien zu verstehen und nicht als wichtige eigenständige Quelle der Grundrechte. Daraus ergibt sich auch der limitierte Nutzen einer exhaustiven rechtsvergleichenden Arbeit, wenn es sich darum handelt, Inhalt und Reichweite der EU Grundrechte zu identifizieren: leider, kann man aus der Sicht eines Rechtsvergleichers sagen.

IV. Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen als allgemeine Grundsätze des Unionsrechtes, die für alle Mitgliedstaaten gelten Wie schon vorher angedeutet, sind laut Art. 6 Abs. 3 AEUV„die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben [. . .] als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“. Es handelt sich also um Rechte und Prinzipien, die für alle 27 Mitgliedstaaten der EU ohne Ausnahme gelten. Von besonderer Bedeutung ist dabei Art. 52 der Grundrechte-Charta Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze, dessen Absatz 4 lautet: „Soweit in dieser Charta Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamenVerfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, werden sie im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt.“

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Diesbezüglich sagen die Erläuterungen: „Die Auslegungsregel in Absatz 4 beruht auf dem Wortlaut des Artikels 6 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union und trägt dem Ansatz des Gerichtshofs hinsichtlich der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen gebührend Rechnung [. . .]. Anstatt einem restriktiven Ansatz eines ,kleinsten gemeinsamen Nenners‘ zu folgen, sind die Charta-Rechte dieser Regel zufolge so auszulegen, dass sie ein hohes Schutzniveau bieten, das dem Unionsrecht angemessen ist und mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen im Einklang steht.“

Was den Ausdruck im Einklang betrifft ist es besonders hilfreich auf das bereits zitierte Urteil Omega des EuGH hinzuweisen18, sowie auf die Erläuterungen betreffend Artikel 1 Würde des Menschen der Grundrechte-Charta: „Die Würde des Menschen ist nicht nur ein Grundrecht an sich, sondern bildet das eigentliche Fundament der Grundrechte. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 verankert die Menschenwürde in ihrer Präambel: ,[. . .]‘ In seinem Urteil vom 9. Oktober 2001 in der Rechtssache C-377/98, Niederlande gegen Europäisches Parlament und Rat, Slg. 2001, I-7079, Rdn. 70–77 bestätigte der Gerichtshof, dass das Grundrecht auf Menschenwürde Teil des Unionsrechts ist. – Daraus ergibt sich insbesondere, dass keines der in dieser Charta festgelegten Rechte dazu verwendet werden darf, die Würde eines anderen Menschen zu verletzen und dass die Würde des Menschen zum Wesensgehalt der in dieser Charta festgelegten Rechte gehört. Sie darf daher auch bei Einschränkungen eines Rechtes nicht angetastet werden.“

Im Lichte dessen was bisher dargestellt worden ist kann man sich die Frage stellen wozu eigentlich Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich nützlich sein kann. Laut Art. 51 EUV sind Protokolle „Bestandteil der Verträge“, d. h. deren Inhalt ist für alle Mitgliedstaaten in gleicher Weise rechtsverbindlich. Besonders relevant sind in dieser Hinsicht die folgenden Ausschnitte der Erwägungen des Protokolls, die zum Verständnis deren Dispositive unentbehrlich sind (vom Verfasser hervorgehoben): „[. . .] in der Erwägung, dass der genannte Artikel 6 vorsieht, dass die Charta von den Gerichten Polens und des Vereinigten Königreichs streng im Einklang mit den in jenem Artikel erwähnten Erläuterungen anzuwenden und auszulegen ist; [. . .] dass die Charta die in der Union anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze bekräftigt und diese Rechte besser sichtbar macht, aber keine neuen Rechte oder Grundsätze schafft; eingedenk der Verpflichtungen Polens und des Vereinigten Königreichs aufgrund des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Unionsrechts im Allgemeinen; [. . .] in Bekräftigung dessen, dass dieses Protokoll die Anwendung der Charta auf andere Mitgliedstaaten nicht berührt; in Bekräftigung dessen, dass dieses Protokoll andere Verpflichtungen Polens und des Vereinigten Königreichs aufgrund des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Unionsrechts im Allgemeinen nicht berührt.“ 18

s. o. Fn. 6.

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Das Protokoll lautet weiterhin: „[. . .] in Kenntnis des Wunsches Polens und des Vereinigten Königreichs, bestimmte Aspekte der Anwendung der Charta zu klären; demzufolge in dem Wunsch, die Anwendung der Charta in Bezug auf die Gesetze und Verwaltungsmaßnahmen Polens und des Vereinigten Königreichs und die Frage der Einklagbarkeit in Polen und im Vereinigten Königreich zu klären.“

Deswegen sollte der Dispositiv des Protokolls nicht als eine Sondergenehmigung für die jeweiligen zwei Mitgliedstaaten verstanden werden. Dieser Dispositiv besteht aus zwei Artikeln. Artikel 1 erster Satz lautet: „Die Charta bewirkt keine Ausweitung der Befugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union oder eines Gerichts Polens oder des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung, dass die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen Polens oder des Vereinigten Königreichs nicht mit den durch die Charta bekräftigten Grundrechten, Freiheiten und Grundsätzen im Einklang stehen.“

Die englische und die französische Fassung verweisen dabei nicht auf die Zuständigkeit zu der Feststellung (competence to establish – compétence à constater), sondern auf „the ability to find that – la faculté d’estimer que“ (etwa die Fähigkeit einzuschätzen), also auf ein Konzept, das viel weniger präzise ist als das der Zuständigkeit: dies ist kein Zufall, da diese Formulierung mit dem Vereinigten Königreich auf englischer Sprache im Frühjahr 2007 verhandelt worden ist und die erste Fassung des zukünftigen Lissabonner Vertrags auf Französisch geschrieben war. Daraus folgt, dass wenn die Charta keine Ausweitung zur „ability to find – faculté d’estimer“ bewirkt, der EuGH seine grundsätzliche Zuständigkeit über die EU-Rechtmäßigkeit der Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die Verwaltungspraxis oder -maßnahmen aller Mitgliedstaaten zu entscheiden – Polen und Vereinigtes Königreich einbegriffen – behält. Wenn es in einem Vorlageverfahren nicht förmlich darum geht, dass der EuGH prüft, ob eine mitgliedstaatliche Rechtsnorm mit dem EU-Recht übereinstimmt, ist dies aber sehr oft der Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens; das Protokoll schließt aber die Ausübung eines solchen Verfahrens zur Achtung der Grundrechte durch diese zwei Mitgliedstaaten keineswegs aus. Im zweiten Satz des ersten Absatzes heißt es dann: „Insbesondere – und um jeden Zweifel auszuräumen – werden mit Titel IV der Charta keine für Polen oder das Vereinigte Königreich geltenden einklagbaren Rechte geschaffen, soweit Polen bzw. das Vereinigte Königreich solche Rechte nicht in seinem nationalen Recht vorgesehen hat“. Im Grunde genommen sagt dieser merkwürdige Satz das gleiche aus wie die Erwägungen des Protokolls, nämlich, „dass die Charta die in der Union anerkannten Rechte, Freiheiten und Grundsätze bekräftigt und diese Rechte besser sichtbar macht, aber keine neuen Rechte oder Grundsätze schafft“.

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Der britische Antrag solch ein Protokoll dem Reform-Vertrag hinzuzufügen war eigentlich die Folge der Angst, dass Art. 28 der Grundrechte-Charta Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen von britischen Gerichten oder vom EuGH so ausgelegt werden könnte, dass es die Gestaltungsmöglichkeiten des britischen Gesetzgebers in Sachen Streikrecht begrenzen könnte. Diese Angst erklärt den Wortlaut des zweiten Artikels des Protokolls: „Wird in einer Bestimmung der Charta auf das innerstaatliche Recht und die innerstaatliche Praxis Bezug genommen, so findet diese Bestimmung auf Polen und das Vereinigte Königreich nur in dem Maße Anwendung, in dem die darin enthaltenen Rechte oder Grundsätze durch das Recht oder die Praxis Polens bzw. des Vereinigten Königreichs anerkannt sind.“

Gegenüber Art. 1 des Protokolls hat aber die polnische Erklärung Nr. 62 wenig Sinn: „Polen erklärt, dass es in Anbetracht der Tradition der sozialen Bewegung der ,Solidarnos´c´‘ und ihres bedeutenden Beitrags zur Erkämpfung von Sozial- und Arbeitnehmerrechten die im Recht der Europäischen Union niedergelegten Sozial- und Arbeitnehmerrechte und insbesondere die in Titel IV der Charta der Grundrechte der Europäischen Union bekräftigten Sozial- und Arbeitnehmerrechte uneingeschränkt achtet.“

Die Ängste der damaligen polnischen Regierung werden eigentlich viel besser in Erklärung Nr. 61 deutlich: „Die Charta berührt in keiner Weise das Recht der Mitgliedstaaten, in den Bereichen der öffentlichen Sittlichkeit, des Familienrechts sowie des Schutzes der Menschenwürde und der Achtung der körperlichen und moralischen Unversehrtheit Recht zu setzen.“

Eine Diskussion dieses Protokolls Nr. 30 hätte keinen Sinn, wenn dieses nicht eben manche der Ängste einiger Mitgliedstaaten (nicht nur Polens und Großbritanniens) betreffend den nunmehr rechtsverbindlichen Charakter der EU Grundrechte-Charta deutlich machen würde. Was die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen betrifft ist Art. 2 des Protokolls eigentlich paradigmatisch. Das Streikrecht wird in einer Reihe von Verfassungen der Mitgliedstaaten gewährleistet. In Frankreich wird es in der Präambel der Verfassung von 1946 garantiert, bei der Art. 40 lautet „Le droit de grève s’exerce dans le cadre des lois qui le règlementent“ (das Streikrecht wird im Rahmen der Gesetze die es regeln ausgeübt); in der italienischen Verfassung von 1947 steht genau das Gleiche „Il diritto di sciopero si esercita nell’ambito delle leggi che lo regolamenta“; manch eine andere mitgliedstaatliche Verfassung enthält eine vergleichbare Klausel, die den britischen Gedanken, es gäbe in Kontinentaleuropa diesbezüglich eine übereinstimmende Verfassungsüberlieferung erklärt, obwohl eigentlich vergessen wird, dass die Verfassungsklauseln sich auf die Gesetze die es regeln berufen. Das deutsche Grundgesetz und manche andere Verfassung enthält hingegen keine ausdrückliche Garantie des Streikrechts, das am ehesten auf dem Umweg des im Vereinigungsrecht eingebetteten Gewerkschaftsrechts geschützt wird.

Die Konstitutionalisierung der Grundrechte-Charta

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Die Problematik des Streikrechts erklärt zum Großteil den Wortlaut des Art. 28 der Grundrechte-Charta, der lautet: „Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihre jeweiligen Organisationen haben nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten das Recht, Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen sowie bei Interessenkonflikten kollektive Maßnahmen zur Verteidigung ihrer Interessen, einschließlich Streiks, zu ergreifen.“

Bemerkenswert ist, dass das Streikrecht ausdrücklich erwähnt wird, obwohl die britischen Teilnehmer des Konvents 2000 probiert haben sich dagegen zu widersetzen. In den Erläuterungen heißt es zu Art. 28: „Dieser Artikel stützt sich auf Artikel 6 der Europäischen Sozialcharta sowie auf die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (Nummern 12 bis 14). Das Recht auf kollektive Maßnahmen wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als einer der Bestandteile des gewerkschaftlichen Vereinigungsrechts anerkannt, das durch Artikel 11 EMRK festgeschrieben ist. Was die geeigneten Ebenen betrifft, auf denen die Tarifverhandlungen stattfinden können, so wird auf die Erläuterung zum vorhergehenden Artikel verwiesen. Die Modalitäten und Grenzen für die Durchführung von Kollektivmaßnahmen, darunter auch Streiks, werden durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten geregelt; dies gilt auch für die Frage, ob diese Maßnahmen in mehreren Mitgliedstaaten parallel durchgeführt werden können.“

Diese Erläuterungen hätten im Grunde genommen sowohl der City als auch der britischen Regierung genügen sollen, um deutlich zu machen, dass Art. 28 kein unbegrenztes Recht auf Streik begründet. So ist es aber nicht gewesen. Die britischen Ängste erklären hingegen den Wortlaut von Art. 2 des Protokolls: auch wenn es andere Mitgliedstaaten gibt, in denen ein unantastbarer Kern des Streikrechts von der Verfassung geschützt wird, zielt diese Bestimmung darauf, dem britischen Gesetzgeber volle Freiheit zu geben das Streikrecht einzugrenzen. Inwieweit eine solche Auslegung aber mit dem Inhalt des Art. 52 der GrundrechteCharta betreffend Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze vereinbar ist, bleibt eine offene Frage.

4. Teil

Grundrechte in ausländischen Rechtsordnungen und ihr Vergleich zu Deutschland

Der Schutz individueller Positionen durch die Gewährleistung einklagbarer subjektiver Rechte im öffentlichen Recht der Türkei Von A. Ülkü Azrak I. Einleitung Der Begriff des subjektiven Rechts war seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts ein Streitobjekt der Staatsrechtstheorien. Man braucht nur an die scharfe Kritik des bedeutenden Vertreters der französischen Staatsrechtslehre Duguit an Einstellung seines deutschen Zeitgenossen Jellinek bezüglich des Verhältnisses der subjektiven Rechte zum Staat zu denken. Duguit’s Vorwurf bestand darin, daß die Gedanken Jellinek’s über die subjektiven Rechte auf die Personifizierung des Gemeinwesens, ja die Hypostasierung des Staates hinauslaufen würden1. Dem Gedankengang Duguit’s folgend kommt man zu dem Schluß, daß Jellinek in den Augen Duguit’s offensichtlich ein Nachfolger der deutschen Rechtstradition, nach der der Rechtsbegriff an Zwang,oder genauer gesagt, an die staatliche Garantie gebunden ist. Indes trennt Jellinek den Begriff der subjektiven Rechte von der Fiktion aus der Natur des Menschen sich ergebender Rechte ab2. Darin stimmt seine Einstellung mit der positivistischen Einstellung Kelsen’s überein, der eigentlich ein Gegner der Theorie der subjektiven Rechte war, weil diese sich grundsätzlich auf den Inhalt der Norm einstellte. Im übrigen gehörte auch Laband, der ebenso positivistisch eingestellt war, gleichsam zu den Gegnern der Theorie der subjektiven Rechte. Dennoch hat die Theorie der subjektiven Rechte in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts und auch später eine beachtenswerte Unterstützung seitens namhafter Wissenschaftler des öffentlichen Rechts gehabt3. 1 Duguit, Leon, L’État, le droit objectif et les lois positives, Paris, Neudruck 2003, S. 142. 2 s. Colliot-Thélène, Catherine, „Für eine Politik der subjektiven Rechte. Der Kampf um Rechte als politischer Kampf“ Trivium, 3-2009 (En ligne), mis en ligne le 15 avril 2009.URL: http://trivium.revues.org/index3316.html. 3 s. Thoma, Richard, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte und Pflichten, in „Handbuch des deutschen Staatsrechts“, 2. Bd., Tübingen, 1932, S. 607 ff.; Bühler, Ottmar, Altes und Neues über Begriff und Bedeutung der subjektiven öffentlichen Rechte, in „Forschungen und Berichte aus dem öffentlichen Recht – Gedächtnisschrift für Walter Jellinek“, München 1955, S. 269 ff.; Bachof, Otto, Reflexwirkungen und

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Was die aktuelle Einstellung der deutschen Lehre zu diesem Thema betrifft, so kann man sagen, daß man in der neueren staats- und verwaltungsrechtlichen Literatur darüber einig ist, daß erstens die Grundrechte subjektiv-rechtliche Funktionen haben und deswegen der Einzelne Rechte aus ihnen ableiten und einklagen kann und daß zweitens subjektive Rechte sich in diesem Sinn als Abwehrrechte, Leistungsrechte und Mitwirkungsrechte erweisen. Die Problematik, die sich bezüglich der Grundrechte und hiermit der subjektiven Rechte zeigt, ist die Beschränkung derselben. Über dieses Thema wird in der Lehre eine dauerhafte und konstruktive Diskussion geführt4. In der französischen Staats- und Verwaltungsrechtslehre waren zwei Verfechter der Theorie der subjektiven Rechte: Joseph Barthélemy5 und Roger Bonnard6. Beide waren darum bemüht, die Rechtsfigur des subjektiven öffentlichen Rechts in der französischen Lehre unterzubringen, die traditionell an dem objektiven Recht orientiert war. Bonnard hat sogar in seinem Lehrbuch des Verwaltungsrechts nachdrücklich betont, daß das Individuum ein subjektiv öffentliches Recht auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes hat7. Gleichwohl haben alle diesbezüglichen Bemühungen der beiden Wissenschaftler sozusagen wegen der systemimmanenten Blutunverträglichkeit seinerzeit nicht allzugroße Auswirkungen gehabt. Andererseits haben die subjektiven öffentlichen Rechte auch in der Verwaltungsrechtspraxis deshalb eine nebensächliche Rolle gespielt, weil bei den verwaltungsrechtlichen Anfechtungsklagen (le recours pour excès de pouvoir), die in der Lehre als objektive Klagen bezeichnet werden8, bezüglich der Klagesubjektive Rechte im öffentlichen Recht, ebd., S. 287 ff. Interessant ist auch, daß auch viel früher sich manche deutsche Wissenschaftler fanden, die dieses Thema ausführlich behandelt haben. Fritz Stier-Somlo gehört zu diesen Wissenschaftlern. Er hat schon 1906 ein zweibändiges kleines Buch mit dem Titel „Preußisches Staatsrecht“ (Sammlung Göschen – Leipzig) geschrieben, in dem er die subjektiven Rechte der Staatsangehörigen als Schutzrechte in Verbindung mit den Freiheits-und Grundrechten behandelt hat (Bd. 2, S. 22 ff.). Hans Helfritz hatte auch in seinem 1928 unter dem Titel „Allgemeines Staatsrecht“ erschienenen Buch dem Thema der „subjektiv-öffentlichen Rechte“ einen Abschnitt gewidmet, S. 51 ff. 4 Beispielsweise Höfling, Wolfram, zu Art. 9, in „Grundgesetz-Kommentar, hrsg. von Sachs, Michael, München 1999, S. 472 ff.; Hesse, Konrad, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg, 20. Aufl., 1995, S. 139 ff.; Maurer, Hartmut, Staatsrecht, München 1999, S. 290 f. Bei den Diskussionen in diesen Büchern geht es hauptsächlich um die Reichweite der Grundrechte bzw. der subjektiven Rechte und die Problematik der Schrankentrias. 5 Barthélemy, Joseph, Essai d’une théory sur les droits subjectifs des administrés, Paris 1899, S. 21 ff. 6 Bonnard, Roger, Les droits publics subjectifs des adminitrés, in „Revue de droit public“ 1932, S. 695, 710. 7 Vgl. Bonnard, Roger, Precis de droit aministratif, 4ème éd., Paris 1943, S. 91 ff. 8 Vgl. Waline, Marcel, Traité élémentaire de droit administratif, 5e éd., Paris, 1950, S. 101 f. Seinen Erklärungen zufolge müssen sich die subjektiven Rechte auf gesetzliche Grundlage stützen, um wirksam zu sein, weil sie sich von den Gesetzen ableiten: „Le droit subjectif est un droit né de la loi . . .“ Odent, Raymond, Contentieux adminis-

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befugnis – im Gegensatz zum deutschen Verwaltungsprozeß – nicht die subjektiven öffentlichen Rechte, sondern bloß die Interessen ausschlaggebend sind. Eine Ausnahme bilden in dieser Beziehung nur die Schadenersatzklagen (le recours de pleine juridiction), bei welchen es sich darum handelt, der Verwaltung wegen der Verletzung eines subjektiven Rechtes eine Geldleistung aufzuerlegen, einen Verwaltungsvertrag zu annulieren oder sogar einen Verwaltungsakt ex officio zu ändern9. Die türkische Verwaltungs- und Verfassungslehre hat in dieser Sache bedauerlicherweise das Schicksal der französischen Lehre geteilt. Der einzige Verwaltungswissenschaftler, der der Problematik der subjektiven öffentlichen Rechte in seinem dreibändigen Lehrbuch des Verwaltungsrechts ein ganzes Kapitel gewidmet hatte, war der 1972 verstorbene Prof. Dr. Sıddık Sami Onar. In Bezug auf die konstitutiven Elemente der subjektiven Rechte gibt er ausführliche Erklärungen ab und zeigte die subjektiven öffentlichen Rechte in der Verfassung und in den Gesetzen mit zahlreichen Beispielen auf. Nichtsdestoweniger stützt sich die Klagebefugnis bei den Anfechtungsklagen im türkischen Verwaltungsprozeß auch wie im französischen Verwaltungsprozeß auf die Verletzung eines Interesses des Klägers. Nur bei den Schadenersatzklagen (sc. die Klage der vollen Gerichtsbarkeit) gegen die Verwaltung muß sich der Kläger auf ein subjektives Recht berufen. Der Kläger muß daher als Klagegrund vorbringen, durch einen hoheitlichen Eingriff in einem ihm zustehenden subjektiven Recht einen unmittelbaren und bestimmten Schaden erlitten zu haben. Andererseits ist in der türkischen Lehre die von Jellinek vorgenommene Unterscheidung zwischen dem „negativen Status“, dem „positiven Status“ und dem „aktiven Status“ sowie die dementsprechende Teilung unter den subjektiven Rechte Anerkennung gefunden10. Im folgenden Kapitel wird die Entwicklung des Verständnisses der subjektiven Rechte unter dem Bezug auf die Entwicklung des Grundrechtsverständnisses dargestellt und zwar aus dem einfachen Grund, daß die subjektiven Rechte allenthalben grundsätzlich aus den Grundrechten abgeleitet werden. Die türkische Verfassungsgeschichte bildet in dieser Hinsicht auch keine Ausnahme.

tratif, Paris (3 fasc.), 1949/50, S. 333: „der contentieux de plein juridiction ist der klassische, normale Rechtsstreit, in dem sich eine Partei auf ein subjektives Recht einer anderen Partei (sc. der Verwaltung) gegenüber beruft . . .“ 9 Vedel, Georges/Delvolvé, Pierre, Droit administratif, 12e éd. tome 2, Paris 1992, S. 55; Chapus, René, Droit du contentieux administratif, éd., Paris 1999, S. 9, 198. 10 Vgl. Kapani, Münci, Kamu Hürriyetleri (Öffentliche Freiheiten), Ankara 1970, S. 6; Özbudun, Ergun, Türk Anayasa Hukuku (Das türkische Verfassungsrecht), Ankara 2000, S. 234 f. Gözübüyük, S¸eref, Anayasa Hukuku (Verfassungsrecht), Ankara 1998, S. 151, 166, 167.

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II. Geschichtlicher Überblick 1. Reformbewegungen und Anfänge des Anerkennungsprozesses der subjektiven Rechte im Osmanischen Reich

Die Befreiung der Individuen von der Abhängigkeit und Bevormundung vom Imperium war auch in der Türkei wie im Westen ein recht langwieriger Prozeß. Im Rahmen der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervortretenden Bestrebungen, die auf die Schaffung der rechtsstaatlichen Institutionen gerichtet waren, trugen der sehr langsam vorangehenden Entwicklung des Individuums vom vollkommen rechtlosen Untertan zum emanzipierten Rechtssubjekt bei. Bei den genannten Institutionen sind besonders die folgenden hervorzuheben: die Sicherheit der Individuen, die Garantie von Leben, Ehre und Besitz, die Steuergerechtigkeit, die Gleichheit aller, ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und ihre Glaubensbekenntnisse, besonders bei der Wehrpflicht. Der erste Abschnitt dieser Entwicklung hat sich in dem Reformwerk (Tanzimat), das mit dem kaiserlichen Erlaß (Hattischerif von Gülhane) vom 3. November 1839 begann, realisiert. In diesem Erlaß haben sich der Sultan und seine Regierung verpflichtet, allen Bürgern die oben genannten Grundrechte ohne Unterschied zuzuerkennen11. Die Regierung sollte alle nötigen Maßnahmen ergreifen, um diese Grundrechte im politischen Bereich zu verwirklichen. Es darf indessen nicht darüber hinwegtäuschen, daß dies eine Reform von oben war. Es ist auch nicht zu erwarten, daß in einer orientalisch-islamischen Gesellschaft jeweils eine auf das Erringen der Menschen- und Bürgerrechte gerichtete Revolution, wie sie 1789 in Frankreich zustande kam, oder gar revolutionsähnliche Vorgänge stattfinden12. 11 s. Schlosser, Friedrich Christoph, Schlossers Weltgeschichte, Berlin 1910, Bd. 16, S. 531: „Im sogenannten Hattischerif von Gülhane, in welchem sie allen ihren Unterthanen jeder Nation und jedes Glaubens Sicherheit des Lebens, der Ehre und des Vermögens verhieß, für die Mohammedaner, die allein Waffen tragen durften, die verhaßte Militärpflicht auf vier bis fünf Jahre beschränkte, die Mißbräuche der früheren Verwaltung – Monopole, Steuerverpachtung, Konfiskationen – in Worten abschaffte und zugleich bestimmte, was wenn es gehalten wurde, für ein orientalisches Reich ein ungeheurer Fortschritt war: daß die Todesstrafe fürderhin nur nach ordnungsmäßiger Untersuchung und richterlichem Erkenntnis verhängt werden dürfe.“ 12 Es ist darauf hinzuweisen, daß es in den unter der osmanischen Herrschaft stehenden Provinzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunders zwar zeitweise zu örtlichen Aufständen kam, die dann gewaltsam unterdrückt wurden, und daß sich wohl auch in der Hauptstadt des Osmanischen Kaiserreichs folgenschwere Unruhen ereigneten; diese hatten jedoch nicht den Charakter einer Revolution wie man sie in den zeitgenössischen souveränen Staaten Europas antreffen konnte. Überdies hatte die Französische Revolution bei der Führung des Osmanischen Reichs äußerst negative Aufnahme gefunden. Der Reichsaußenminister Ahmet Atıf Efendi, der vom Sultan damit beauftragt war, einen ausführlichen Bericht über die Ursachen, den Fortgang und die Auswirkungen der Großen Revolution vorzulegen, hatte den Sultan auf die Gefahr der Ausbreitung dieser auf andere europäische Länder, darunter auch auf das Osmanische Reich, aufmerksam gemacht. Für den Auszug dieses Berichts s. Lewis, Bernard, Modern Türkiye’nin Dog˘us¸u (The Emergence of Modern Turkey), Ankara 2000, S. 67 ff.

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Diese Grundrechte haben im zweiten Reformerlaß vom 21. Februar 1856 eine Fortentwicklung erfahren. Namentlich wurde mit diesem Erlaß jede Diskriminierung, sei es aus Gründen der Religion, der Sprache oder der Rasse, verboten. Die Ausübung jedes Glaubens wird in allen Territorien des Osmanischen Reichs frei sein. Niemand darf zum Religionsübertritt gezwungen werden. Bei dem Zugang zum öffentlichen Dienst soll ohne Rücksicht auf die Glaubenbekenntnisse nur die erforderliche Befähigung des Kandidaten in Betracht gezogen werden; gemischte Gerichtshöfe aus Vertretern aller Glaubensbekenntnisse sollen eingesetzt werden. Vor dem Gericht soll Rechtsgleichheit in vollem Umfang herrschen13. Der Reformerlaß v. 1856 versuchte auch das wichtige Problem der Steuergerechtigkeit zu lösen, indem er die islamische Kopfsteuer (cizre) für Christen und Juden aufgehoben hat. Statt deren wurde jedoch eine Wehrsteuer (bedel) eingeführt, die die Nichtmuslimen bezahlen müssen, wenn sie den Wehrdienst nicht ableisten wollen14. Es hieß nämlich im Reformerlaß: „Wie die Gleichheit der Steuern eine Gleichheit der übrigen Lasten im Gefolge hat, so rufen gleiche Rechte auch gleiche Pflichten hervor. Daher werden die Christen und die übrigen nichtmuslimischen Untertanen ebenso wie die muslimische Bevölkerung sich jenen Bestimmungen unterwerfen müssen, die in letzter Zeit über die Beteiligung am Militärdienste erlassen worden sind.“15

Daß das jahrhundertelang der muslimischen Bevölkerung vorbehaltene Recht, zu militärischen Schulen zugelassen zu werden, nun auch den Christen und den übrigen Andersgläubigen zuerkannt war, hatte nicht allzugrosse Wirkung in dieser Frage, weil die nichtmuslimische Bevölkerung ohnehin keine Lust hatte, als Berufssoldat am Militär teilzunehmen16. Aus diesen Gegebenheiten ist ersichtlich, daß der Schwerpunkt der Reformwerke von 1839 und 1856 darin bestand, die Gleichheit und die Rechtssicherheit aller Untertanen in Wege zu leiten. Ob dieses Ziel in der folgenden Zeitperiode erreicht wurde, ist sehr zweifelhaft. Jedenfalls war die muslimische Bevölkerung größtenteils mit diesen Regelungen im Reformerlaß nicht ganz zufrieden, weil sie völlige Gleichheit mit den Nichtmuslimen als eine enorme Schwächung ihrer Position betrachtete und nicht ohne weiteres akzeptieren wollte17. Eigentlich waren die Nichtmuslimen auch nicht 13 s. Kili, Suna/Gözübüyük, S ¸eref, Sened-i I˙ttifaktan GünümüzeTürk Anayasa Metinleri (Die Verfassungen des türkischen Staates von Sened-i I˙ttifak bis heute), Istanbul, 1985, S. 15 ff.; Peters, Richard, Geschichte der Türken, Stuttgart 1961, S. 111. 14 Vgl. Engelhardt, Eduard, La Turquie et leTanzimat, t1, Paris 1909, S. 126. 15 s. Kreiser, Klaus/Neumann, Christoph K., Kleine Geschichte der Türkei, Stuttgart 2003, S. 338. 16 s. Lewis, a. a. O., S. 116. 17 In den Augen der stark ihrer Tradition anhängenden islamischen Bevölkerungsteile war es direkt eine skandalöse Beleidigung. In bestimmten Kreisen der muslimischen Bevölkerung herrschte die Überzeugung, daß die ganze Reformbewegung die Folge der kolonialen Konfrontation des christlichen Westens und des muslimischen Ostens ist. „So wurden bereits im 19. Jahrhundert die Ansätze des Identitätskonfliktes zwischen islamischer Tradition und westlicher Moderne sichtbar“. s. Meier, Andreas,

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damit zufrieden, weil sie nach den steuerrechtlichen Regeln die sogenannte Wehrsteuer bezahlen mußten, um keinen Militärdienst leisten zu müssen. Ihr Ziel war in Wirklichkeit, wie oben dargelegt, von dieser Pflicht gänzlich entbunden zu sein. Die Folge war, daß die ganze Last des Wehrdienstes den bedürftigen muslimischen Bevölkerungsteilen aufgebürdet wurde, die oft für ihr Vaterland kämpfen und sterben mußten. Andererseits war die herkömmliche feudale Struktur insbesondere in den ländlichen Gebieten trotz der neuen Regelung immer noch vorherrschend. Die gönnerhaften Beteuerungen des Sultans und seiner Regierung, daß die Neuordnung die Rechte aller fördern werde, haben sich nicht so sehr bewahrheitet wie erwartet. Diese Situation war ja auch ein Grund für die Unzufriedenheit der Bevölkerungsteile, die den wirtschaftlichen und sozialen Druck der herrschenden Klasse zu beklagen hatte. Außerdem fanden die osmanischen Intellektuellen die Reformen in vielen Bereichen lückenhaft und unzulänglich. Insbesondere bemängelten sie Meinungs- und Pressefreiheit. Dennoch darf man der Tatsache nicht die Augen verschließen, daß die genannten Reformbestrebungen der späteren staatsrechtlichen Reformen den Weg geebnet haben18. Was nun die Frage des Schutzes der Individuen vor willkürlichen Staatshandlungen betrifft, muß man sich vor Augen halten, daß am Anfang dieses Zeitabschnittes sich im Osmanischen Reich das Rechtsschutzsystem noch nicht richtig gebildet hatte. Den Einzelnen war nur die Möglichkeit eingeräumt, sich gegen die Handlungen der Staatsbeamten, die ihre Rechte beeinträchtigen, sich an ihren Vorgesetzten zu wenden. Andererseits herrschte im osmanischen Rechtssystem eine Staatshaftungstheorie, die ähnliche Züge trug wie die Fiskustheorie, die im deutschen Staatsrecht der spätabsolutistisch-polizeistaatlichen Epoche herrschte19. Die osmanische Staatshaftungstheorie teilte den Staat, wie im deutschen Staatsrecht, in zwei selbständige Rechtssubjekte, nämlich den Staat als alleinigen Politische Strömungen im modernen Islam, Bonn 1995, S. 39. Der Verfasser weist auch darauf hin, daß die Beobachtung der Entwicklungen im zweiten Abschnitt des 19. Jahrhunderts zeigt, wie sehr die ideologische Auseinandersetzung von der Kollision materieller Interessen bestimmt ist. 18 Manche der westlichen Historiker finden die Tanzimat-Reformen eine durchaus positive Entwicklung des Osmanischen Reichs des 19. Jahrhunderts. Davison, der ein ausgezeichneter Kenner der Tanzimat-Bewegung war, bemerkte einmal, daß kein Staat sich von seiner Geschichte losreißen kann und deswegen die dualistische Struktur von Tanzimat als eine ganz normale Genese zu betrachten sei. s. Davison, R. H., Reform in the Ottoman Empire 1856–1876, Princeton 1963, S. 37–42. Andererseits wird jedoch die gelegentlich anzutreffende Benennung der Dokumente (sog. Edikte) von 1839 und 1856 als die Ottomanische Magna Charta (s. dazu Peters, 1963, S. 111) mit der Begründung verneint, daß sie im Gegensatz zu dem englischen Magna Charta Libertatum von 1215, die zwischen dem König und den Magnaten (Lehnsträgern) auf eine Widerstandsbewegung folgend abgeschlossener Herrschaftsvertrag war, als einseitig aufgestellte bzw. oktroyierte Urkunden sind. 19 Vgl. Forsthoff, Ernst, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, München 1973, 112 ff.

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Hoheitsträger, der als solcher rechtlich unangreifbar war und den Staat als Vermögensträger, den der Untertan wegen dem ihn schädigenden Eingriff der Obrigkeit verklagen konnte. Bis zur Errichtung der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Jahre 1868 hat sich dieser Notbehelf bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten als eine völlig geignete Lösung erwiesen20. Die rechtliche Kontrolle der Verwaltung im Osmanischen Reich wurde 1839 einem bei dem seit 1837 bestehenden Hohen Gericht (Meclis-i Vaˆlaˆ-yı Ahkaˆm-ı Adliye) eingerichteten Senat anvertraut. Das Hohe Gericht befasste sich bis dahin nur noch mit den privat- und strafrechtlichen Streitigkeiten. Es behielt aber seine Beschaffenheit als Oberste Justizbehörde auch nach der Neuorganisierung noch bei, obwohl einer seiner Senate nunmehr mit der Verwaltungsrechtsprechung betraut wurde. Diese Situation hat bis zur Errichtung einer von der Justiz unabhängigen Staatsrats (S¸ûra-yı Devlet) mit einer 1868 vom Sultan erlassenen Ordonnanz nach dem französischen Vorbild (Conseil d’Etat) gedauert21. Der Staatsrat trat als Verwaltungsgerichtshof und zugleich als Beratungsorgan des Reichs auf. Die Bürger konnten in den Fällen, in denen ihre subjektiven Rechte durch eine Verwaltungsentscheidung verletzt wurden, den Staatsrat anrufen. Die Rechtsprechungsfunktion des Staatsrats wurde jedoch durch eine Ordonnanz von 1870 auf die der Entscheidung der Verwaltung vorangehende Bearbeitung des Streitfalles beschränkt22. Hinsichtlich des Schutzes der subjektiven Rechte stellte also diese Regelung im Vergleich zu der Regelung der Ordonnanz von 1868 einen ominösen Rückschritt dar. Im Gegensatz zu den Reformerlassen von 1839 und 1856 wurde am 23. Dezember 1876 als Ergebnis des ständigen politischen Drucks von unten, den die Anhänger der Freiheitsbewegung auf den Thron ausübten, die erste Verfassung des Osmanischen Reichs, die als Grundgesetz (Kanun-ı Esasî) bezeichnet wurde, vom Sultan verkündet23. Dieses verfassungsrechtliche Dokument hat die Ära der absoluten Monarchie beendet und die Regierungsform in eine konstitutionelle 20 s. Onar, Sıddık Sami, I˙dare Hukukunun Umumi Esasları (Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, Istanbul 1966, S. 1813. 21 So wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit von der ordentlichen Gerichtsbarkeit getrennt. Auf diese Weise ist auch die Voraussetzung für die Befriedigung der allgemeinen Forderung nach Verselbständigung des Verwaltungsrechts geschaffen worden. Die Ausübung der Verwaltungsrechtsprechungsfunktion durch die ordentliche Gerichtsbarkeit, die mit dem Verwaltungsrecht nicht in erforderlichem Maße vertraut war, wurde nämlich mit der Begründung ständig kritisiert, daß dies einerseits die Verwaltung daran hindert, ihre Aufgaben richtig und effektiv durchzuführen. Andererseits würde aber auch durch die Trennung von Verwaltungs- und ordentlicher Gerichtsbarkeit einen besseren Rechtsschutz für die Bürger geschaffen. 22 Diese Lösung entsprach gewissermaßen dem in Frankreich bis 1872 geltenden sog. System der vorbehaltenen Gerichtsbarkeit (système de la justice administrative retenue), nach welchem der Conseil d’Etat den Streitfall gutachtlich beurteilte und dem Staatschef eine Entscheidung vorschlug, die dieser in der Praxis grundsätzlich billigte, s. dazu Chapus, Renè, a. a. O., S. 58. 23 Vgl. Jäschke, Gotthard, Die Entwicklung des Osmanischen Verfassungsstaates von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin 1917, S. 14 f.

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Monarchie umgewandelt. Die Legislative bestand aus zwei Kammern, nämlich dem Abgeordnetenhaus und dem Senat. Das Grundgesetz enthielt einen Grundrechtsteil, der aus 15 Artikeln bestand. Der Freiheitsbegriff des Grundgesetzes ist der klassische; er ist in Art. 9 folgenderweise formuliert: „Sämtliche Osmanen besitzen die Freiheit der Person und sind verpflichtet die Freiheitsrechte anderer nicht zu verletzen.“ In den darauf folgenden Artikeln sind weitere Grundrechte und Freiheiten geregelt, die man folgenderweise formulieren kann: Gleichheit vor dem Gesetz, Religionsfreiheit, Gewerbefreiheit, Freiheit der Presse, Petitionsrecht bei beiden Kammern, Versammlungsfreiheit, Unterrichtsfreiheit, Recht auf Zulassung zu allen Beamtenstellen nach Maßgabe der Eignung und Befähigung, Erziehungsrecht, Wohnungsrecht, Eigentumsrecht, Gesetzmäßigkeit und Gerechtigkeit der Steuerpflicht. Andererseits schrieb Art. 85 des Grundgesetzes vor, daß „die Prozesse zwischen Privatpersonen und Regierung zur Zuständigkeit der allgemeinen (d. h. ordentlichen) Gerichte gehören“. Folglich entstand der berechtigte Zweifel, ob sich diese Formulierung des Art. 85 doch nicht auf die privatrechtlichen Prozesse bezöge oder der Verfassunggeber davon abgekommen sei, die verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten im Kompetenzbereich des Staatsrats zu belassen. Jedenfalls ging die Praxis im folgenden Zeitabschnitt dazu über, alle Streitigkeiten zwischen Privatpersonen und der Verwaltung, ohne Rücksicht darauf, ob sie aus verwaltungsrechtlichen oder privatrechtlichen Verhältnissen entstanden sind, den ordentlichen Gerichten zu überlassen24. Ab 1897 war der Staatsrat schließlich nur zur Beurteilung der strafrechtlichen Klagen gegen Staatsbeamte berufen. Die Errichtung einer echten Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Türkei erfolgte erst nach der Ausrufung der Republik im Jahre 1923. Art. 51 der Verfassung der ersten Republik von 1924 schrieb vor, daß „ein Staatsrat zu bilden ist, der über die Verwaltungsklagen und -streitigkeiten zu verhandeln und zu entscheiden hat“. Dieses Hohe Verwaltungsgericht konnte jedoch erst nach der Verabschiedung des diesbezüglichen Gesetzes v. 23.10.1925 in Tätigkeit treten. Mithin wurde in der Türkei das sogenannte Verwaltungsregime eingeführt25.

24 Onar wies schon einmal darauf hin, daß durch mehrere hoheitliche Erlasse, die auf Wortlaut des Art. 85 des Grundgesetzes zurückgingen, die Kompetenz des Staatsrats, über die Verwaltungsstreitigkeiten zu entscheiden, drastisch beschnitten wurde. Vgl. Türkiye’de ˙Idarenin Kazai Murakabesi (Die richterliche Prüfung der Verwaltung in der Türkei), I˙.H.F.M., Istanbul 1935, S. 33 ff. 25 In Anlehnung an den in der französischen Verwaltungsrechtswissenschaft verwendeten Begriff „régime administratif“ (s. dazu: Hauriou, Maurice, Précis de droit administratif et de droit public, 11ième èdition, Paris 1927, S. 1) wurde in der türkischen Verwaltungswissenschaft der Begriff idarî rejim (Verwaltungsregime) verwendet (s. Onar, a. a. O., Bd. I, S. 50 ff.).

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2. Die Regelung der subjektiven Rechte in der republikanischen Ära

a) Die Grundrechte und Freiheiten bzw. die subjektiven Rechte der türkischen Bürger sind in den Verfassungen der drei republikanischen Perioden nahezu komplett geregelt26. In dieser Beziehung bestehen wesentliche Unterschiede zwischen der osmanischen Monarchie und der republikanischen Ära. Erstens waren diesbezügliche Regelungen in den staatsrechtlichen Urkunden des Osmanischen Reiches ziemlich unvollständig, was ja auf die damals herrschenden, trotz der vorhandenen Rezeptionsfreudigkeit nicht genug entwickelten politischen und staatsrechtlichen Auffassungen zurückzuführen ist27. Zweitens hat schon die Verfassung v. 1924 den Rechtsweg gegen rechtswidrige Eingriffe der Verwaltung in die subjektiven Rechte vorgesehen (Artt. 51 u. 59). Drittens ist in allen republikanischen Verfassungen ein für alle Grundrechte geltender Gesetzesvorbehalt enthalten, während das osmanische Grundgesetz von 1876 den Gesetzesvorbehalt nur für bestimmte Grundrechte wie Freiheit der Person (Art. 10), Eigentumsrecht (Art. 21), Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 22) und Steuerpflicht (Art. 25) vorgesehen hatte. Bezüglich der subjektiven Rechte ist in der Geschichte der türkischen Verfassungsordnung seit der Gründung der Republik im Grunde genommen eine positive Entwicklung erkennbar. Allerdings vollzog sich diese Entwicklung, wie unten noch zu zeigen ist, langsam und erhob keineswegs Anspruch auf Vollkommenheit. In der ersten republikanischen Verfassung von 1924 waren die Spuren der französischen Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte zu registrieren. Die Formulierung des Art. 68 der Verfassung stimmte sinngemäß mit dem Wortlaut des Art. 4 der genannten Deklaration überein28. Der namhafte türkische 26 Es muß allerdings bemerkt werden, daß es auch die Betrachtungsweise der Verfassunggeber von allen drei Republiken bezüglich der Grundrechte und Freiheiten recht unterschiedlich ist. 27 Die in der Tanzimat-epoche immer stärker gewordene Tendenz, westeuropäischen Normbestand zu rezipieren führte dazu, daß ab 1850 insgesamt fünf Gesetze, die sich stark an die französischen Vorbilder anlehnten, angenommen wurden. Außerdem war das erste echte Verfassungsgesetz des Osmanischen Reiches von der belgischen Verfassung von 1831 und der Preußischen Verfassung von 1851 stark beeinflußt. Vgl. Azrak, A. Ülkü, Die Entstehung des modernen Rechtssystems in der Türkei, in „Werdegang der modernen Türkei“, Istanbul, 1983, S. 36. Der Rezeptionsprozeß ging auch in der republikanischen Ära weiter. Er unterschied sich jedoch von derjenigen der Tanzimatperiode dadurch, daß er einen umfangreichen und radikaleren Charakter hatte. Vgl. Rumpf, Christian, Das Rechtsstaatsprinzip in der türkischen Rechtsordnung, Bonn/Berlin 1992, S. 33. Das ist auch aus der Äußerung vom damaligen Justizminister der ersten Republik zu der Rezeption des fremden Normbestandes, daß was die republikanische Rechtsordnung brauche, sei nicht eine Reform, sondern eine Revolution, ersichtlich. s. dazu: Üçok, Cos¸kun-Mumcu, Ahmet-Bozkurt, Gülnihal, Türk Hukuk Tarihi (Die Türkische Rechtsgeschichte), 10. Aufl., Ankara 2002, S. 308. 28 Zum Vergleich der beiden Vorschriften: Art. 4 der französischen Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte lautet wie folgt: „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet: Die Ausübung der natürlichen Rechte eines

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Wissenschaftler Yavuz Abadan hat einmal im Zusammenhang mit Art. 68 bemerkt, daß die Grundrechte der Türken nicht entsprechend der bürgerlichen Auffassung vom Rechtsstaat Rechte, die unabhängig von und vor dem Staat existieren, sondern bloß vom Staat eingeräumte Rechtspositionen sind29. Er führte weiter aus: „Eine solche Freiheitsauffassung beläßt bei einer gewalteneinheitlichen Verfassung dem Einzelnen nur einen beschränkten, kontrollierbaren Freiheitsraum und eröffnet dem Staat die Möglichkeit unbeschränker Eingriffe. Aus diesem Grund läßt die türkische Verfassung (sc. Verf. von 1924) weder eine Unterscheidung zwischen absoluten und relativen Rechten noch deren unterschiedliche Behandlung zu. Die Grundrechte der türkischen Verfassung haben also keinen Wert als sichere Positionen im Kampf ,man versus state‘ 30.“

Diese Kritik, so scharf sie auch sein mag, scheint insoweit berechtigt zu sein, als der türkische Gesetzgeber von der Möglichkeit, besonders die politischen Grundrechte wie Rede- und Publikationsfreiheit, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit einzuschränken, sehr oft Gebrauch gemacht hat. Dies wirkte sich hinsichtlich des Rechtsschutzes der Einzelnen deshalb besonders negativ aus, weil in der Verf. von 1924 bei den Grundrechten weder die sogenannten Schranken-Schranken, noch die Schrankengründe existierten, so daß der Gesetzgeber in dieser Beziehung vollkommen freie Hand hatte31. Die hier dargestellte Unkontrollierbarkeit der gesetzgeberischen Akte stellte durch die Tatsache, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht vorhanden war, nicht nur in materiellrechtlicher, sondern auch in organisatoricher Hinsicht einen jeden Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss eben dieser Rechte sichern. Diese Grenzen können nur durch das Gesetz bestimmt werden“ und der Wortlaut des Art. 68 der türkischen Verfassung von 1924: „Jeder Türke wird frei geboren und lebt frei. Freiheit bedeutet, in jeder, andere nicht schädigenden Weise zu handeln. Die Schranken der Freiheit, die zu den natürlichen Rechten gehört, sind für jedermann die Schranken der Freiheit der anderen. Diese Schranken werden allein durch Gesetz festgelegt und bestimmt.“ 29 s. Abadan, a. a. O., S. 414. 30 Abadan, a. a. O., S. 415. 31 In der türkischen Lehre wurde diese Situation folgenderweise gerechtfertigt: Die klassische Konzeption der persönlichen Freiheiten geht davon aus, daß der Gesetzgeber nur in den Fällen, in denen für den Schutz der öffentlichen Sicherheit und der wesentlichen öffentlichen Aufgaben erforderlich ist, in die Grundrechte und Freiheiten eingreifen. Das trifft jedoch für ein Land (gemeint ist die Türkei) nicht zu, in dem die Einzelnen unter dem Druck der Erfordernisse des modernen Lebens stehen. In einem solchen Land muß der Staat als Leistungsträger, um seine Verwaltungsobliegenheiten zu bewältigen, unter Umständen die Freiheiten eingreifen. vgl. Bas¸gil, Ali Fuat, La Constitution et le Régime politique, in „La Vie juridique des Peuples“, sous la direction de H. Levy – Ullman et B. Mirkine – Guetzévitch, tome VII-Turquie, Paris 1939, S. 37. Wenn man sich veranschaulicht, durch wieviele staatliche Monopolunternehmen, die den Einzelnen Leistungen und Vorteile gewährten, die Berufsfreiheit der Privatinitiative in den Dienstleistungsbereichen eben dieser staatlichen Unternehmen beschnitten war, muß man dem Verfasser beipflichten.

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schwerwiegenden Mangel an der Rechtsstaatlichkeit dar. Diese Situation wirkte sich logischerweise auch auf die subjektiven Rechte insoweit negativ aus, als sie dadurch nur auf der Ebene des Verwaltungsrechts einklagbar waren und das auch in begrenztem Umfang, weil dem Hohen Verwaltungsgericht (sc. dem Staatsrat) angesichts des ziemlich weiten Zuständigkeitsbereichs des Gesetzgebers, den ihm die Verfassung hinsichtlich der Grundrechtsbeschränkung eingeräumt hat, eine ziemlich bescheidene Kontrollmöglichkeit belassen war. b) Der Verfassungsgeber der zweiten Republik, der nach dem in der türkischen Verfassungsgeschichte zum ersten Mal ereignete Militärputsch am 27. Mai 1960 damit beauftragt wurde, eine neue Verfassung zu verabschieden, hatte sich bereits in der Präambel der Verfassung, die am 20.7.1961 in Kraft trat, zum Ziel gesetzt, „den demokratischen Rechtsstaat mit allen seinen rechtlichen und sozialen Grundlagen zu errichten“. Diese Intention des Verfassungsgebers fand auch imVerfassungstext von dem Prinzip des Vorrangs der Verfassung (Art. 8) bis hin zum Schutz der Grundrechte und zur Verwaltungsgerichtsbarkeit (Art. 114) sowie zur Verfassungsgerichtsbarkeit (Artt. 145–152) ihren Niederschlag. Beachtenswert ist dabei die Fortentwicklung der Konzeption der Grundrechte und des Schutzmechanismus derselben. Während die vorhergehende Verfassung, wie oben dargelegt wurde, keinen Maßstab für die Einschränkung der Grundrechte und Freiheiten angelegt hatte, waren in der Verfassung von 1961 in dieser Beziehung drei Grundsätze vorgesehen: erstens mußten die Grundrechte nur durch ein Gesetz oder durch eine Rechtsverordnung mit Gesetzes Kraft (Vorbehalt des Gesetzes), zweitens durfte eine Grundrechtseinschränkung nur verfassungskonform erfolgen, mußte also dem Wortlaut und dem Sinn der Verfassungsvorschriften entsprechen und drittens den Kern des Grundrechts nicht antasten. Offenbar folgte der Verfassungsgeber hinsichtlich des Prinzips der Unantastbarkeit des Kerns der Grundrechte und Freiheiten dem Vorbild des Deutschen GG (Art. 19). Dieser Schutz ist insoweit absoluten Charakters, als Art. 11 Abs. 2 zufolge dem Gesetzgeber verwehrt ist, ein Grundrecht oder eine Freiheit selbst im Hinblick auf das öffentliche Wohl, die allgemeinen Sitten, die öffentliche Ordnung, die soziale Gerechtigkeit, die nationale Sicherheit oder aus ähnlichen Gründen in ihrem Kern anzutasten. Es besteht kein Zweifel darüber, daß es sich bei dieser verfassungsgesetzlichen Regelung um einen allgemeingültigen Freiheitsschutz mit subjektiv-rechtlicher Funktion handelt. Diese auf dem positivrechtlichen Bestand beruhenden Erwägungen haben beträchtliche Auswirkungen auf die Praxis gehabt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Verfassungsgericht hat in einem Fall unter Bezugnahme auf Art. 12 des Versammlungsgesetzes das Vorhandensein eines einklagbaren subjektiven Rechts bestätigt32. 32 Das türkische Verfassungsgericht (TVerfG) hat in seiner Entscheidung v. 4.1.1963 betont, daß die Vorschrift des Art. 12/f des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge, wonach der Präfekt die Versammlungen, die eine besondere Absicht (?) verfolgen, verbieten kann, verfassungswidrig sei, da dieses Verbot erstens zu vage sei, zweitens auch

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c) Die dritte Republik begann nach dem erneuten Eingriff des Militärs am 12. September 1980, dem eine neue Verfassung (die Verfassung von 1982) folgte. An dieser Verfassung macht sich ein autoritärer Drall (um nicht zu sagen Rechtsdrall) im gewissen Sinne bemerkbar. Zum einen haben sich die Machtverhältnisse geändert, indem die Exekutive im Gegensatz zu der vorhergenden Verfassung als eine unmittelbar auf Verfassung beruhende, originäre Macht wie Gesetzgebung und Rechtsprechung qualifiziert worden ist33. Zum anderen wurde in Art. 13 eine doppelte Beschränkung der Freiheiten, d.h. einmal direkt in Art. 13 und dazu noch für jede in den Artikeln, in denen die einzelnen Grundrechten und Freiheiten geregelt sind, vorgesehen. Allerdings wurde dieses Beschränkungssystem in 2001 geändert und nur den allgemeinen Freiheitsbeschränkungen im Sinne des Art. 13 Geltung verschafft. Der autoritäre Charakter der Verfassung von 1982 machte sich auch an den Fällen der Ausschließung des Verwaltungsrechtswegs bemerkbar. Schon zu Beginn der 3. Republik herrschte bei den maßgebenden politischen Stellen die Meinung, daß eine umfassende, lückenlose gerichtliche Kontrolle des Verwaltungshandelns mit dem Erfordernis eines reibungslosen Ablaufs der Verwaltungsgeschäfte unvereinbar ist. Schon vor der Ausarbeitung der Verfassung waren Stimmen laut geworden, die die Schuld an der Staatskrise in den siebziger Jahren in erster Linie auf den Übermaß der gerichtlichen Kontrolle der Exekutive geschoben haben. Es wurde behauptet, daß der Staat sich zu einem „Rechtswegestaat“ bzw. „Richterstaat“ entwickelt hat. Diese Betrachtungsweise hat dann in den Regelungen der Verfassung und in den maßgeblichen Gesetzen ihren Niederschlag gefunden34. In der Lehre sind erstaunlicherweise Versuche anzutreffen, die unter Hinweis auf die einzelnen Fälle der Rechtswegausschlüsse in fremden Rechtsordnungen (sc. Frankreich und USA) die zahlreichen Rechtswegausschlüsse in der eigenen Rechtsordnung verharmlosen35.

den Kern der Versammlungsfreiheit antaste. Durch diese Entscheidung ist nachgewiesen worden, daß es sich hier um ein einklagbares subjektives Recht handelt. 33 Prof. Dr. Ernst E. Hirsch, mit dem ich als Habilitant von 1965 bis 1967 zusammengearbeitet habe, hat für die Verfassung von 1961 das Gegenteilige mit diesen Ansatzpunkten erklärt. Vgl. Änderungen der türkischen Verfassung von 1961, JöR, Bd. 23, 1974, S. 368. 34 Unter Anlehnung solcher Argumente vorgenommene Rechtswegausschlüsse kommen gegen folgende Maßnahmen der Exekutive in Betracht: – Verwaltungsakte, die der Staatspräsident allein erläßt (Art. 125 Abs. 2), – Entscheidungen des Hohen Militärrates (Art. 125 Abs. 2), – Entscheidungen des Hohen Richter und Staatsanwälterates (Art. 159 Abs. 5), – Entscheidungen des Hohen Wahlrats (Art. 79 Abs. 2), – das Gesetz kann den Rechtsweg gegen die bei weniger bedeutsamen Pflichtverstöße in Frage kommenden Disziplinarstrafen im Beamtenrecht wie Verwarnung und Verweis verschließen (Art. 129, Abs. 3). 35 Für den Vertreter dieser Einstellung s. Gözübüyük, S ¸eref, Yönetsel Yargı (Verwaltungsgerichtsbarkeit), 6. Aufl., Ankara 1982, S. 27 f.

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3. Konzeption und Entwicklung des subjektiven Rechts im türkischen öffentlichen Recht

a) Position der Lehre: Der Begriff subjektives Recht nimmt in der Theorie des türkischen öffentlichen Rechts einen besonderen Platz ein. Bereits in der öffentlich-rechtlichen Literatur aus den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts kann man den Auseinandersetzungen mit den klassischen Theorien bezüglich des subjektiven Rechts und vor allem mit der Frage, woraus die subjektiven Rechte abgeleitet werden können, nachgehen36. Bas¸gil, der als ein profilierter Verfassungsrechtler an der Istanbuler Universität bis 1960 lehrte, hat schon in seinem Lehrbuch aus dem Jahre 1945 Duguit’s Ansichten im Hinblick der objektivistischen Theorie und des Systems der subjektiven Rechte kritisch analysiert37. Er weist besonders darauf hin, daß sich die subjektiven Rechte nach Duguit’s Konzeption aus dem objektiven Recht ableiten, das wiederum das Produkt der sozialen Solidarität ist, die im Grunde genommen ein metaphysischer Begriff ist38. Demzufolge knüpfen sich die subjektiven Rechte an die Pflichten an, die aus dem objektiven Recht hervorgehen39. Bas¸gil schließt sich einem Teil der Gegner der diesbezüglichen Auffassung Duguit’s an, indem er betont, daß Duguit’s Versuch, das subjektive Recht auf solchen Grundlagen zu stützen, heißt eigentlich den Anhängern des Naturrechts eine gewichtige Konzession zu machen, wodurch sich bei seinen Thesen ein eklatanter Widerspruch zeigt. Dagegen zeigt sich die Stärke der Bas¸gil’schen Ansicht m. E. daran, daß er die Rechtsfigur des subjektiven Rechts unter dem realistischen Gesichtspunkt auf die positivrechtliche Basis, insbesondere auf die verfassungsrechtlichen Schutznormen der Grundrechte- und Freiheiten stützt. Die Erörterung der Frage des subjektiven öffentlichen Rechte ist in den neueren systematischen und monografischen Arbeiten im verfassungsrechtlichen Bereich so gut wie nicht zu finden40. Im Verwaltungsrecht wurde eine aufschlußreiche theoretische Untersuchung über das Wesen, die rechtliche Quelle und den Gehalt sowie die Grenzen der subjektiven öffentlichen Rechte von Onar angestellt. Die in die Tiefe dringende Ab36 s. Onar, S. S., I˙dare Hukuku (Verwaltungsrecht), Istanbul 1938, S. 295 ff., 316 ff., 328 ff.; Bas¸gil, A. F., La Constitution, S. 37. 37 Bas ¸gil, A. F., Anahukuk, Istanbul 1945, S. 172 ff., 211 f. 38 Duguit folgte den Gedanken Émile Durkheim’s bezüglich „solidarité sociale“ sowie „division du travail social“ und benutzte diese Begriffe als Grundlage seiner verwaltungsrechtlichen Theorie über „service public“. 39 Diese Einstellung Duguit’s kann man sich am deutlichsten an seiner Begriffsbestimmung des Eigentums veranschaulichen: „Aujourd’hui, la propriété cesse d’etre le droit subjectif de l’individu et tend à devenir la fonction sociale de détenteur de capitaux mobiliers et immobiliers“. Duguit, Manuel de droit constitutionnel, Paris 1923, 4 éd., S. 295. 40 Nur hat ein Verfassungsrechtler jüngerer Generation das Thema an Hand einiger Beispiele behandelt. s. Kabog˘lu, ˙Ibrahim, Özgürlükler Hukuku (Das Recht der Freiheiten), Istanbul 1993, S. 99 ff.).

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handlung von Onar über dieses Thema, die in einigen Punkten gewisse Ähnlichkeit mit der deutschen Theorie erweist, geht schon auf das Jahr 1938 zurück41. Onar unterscheidet vorerst die subjektiven Rechte von den „Reflexrechten“, um dann die Existenz eines subjektiven Rechts von einer Grundrechtsnorm, die den einzelnen konkret begünstigt und ihm die Klagemöglichkeit gewährt, abhängig zu machen42. Abgesehen von der klassischen Einteilung der subjektiven Rechte in Abwehrrechte, Leistungsrechte und Teilnahmerechte 43, untersucht der Autor die Existenz eines subjektiven öffentlichen Rechts nach unterschiedlichen Positionen des einzelnen vor der Verwaltung. Diese Positionen lassen sich wie folgt unterscheiden: die Position als Benutzer einer öffentlichen Leistung44, als Bediensteter einer Verwaltungsinstitution und als Träger einer öffentlichen Pflicht, worauf hier nicht näher eingegangen wird, weil es die Rahmen dieser Arbeit sprengen würde45. b) Was die türkische Verfassungs- und Verwaltungsrechtsprechung zu den einzelnen subjektiven öffentlichen Rechten für Erkenntnisse herausgearbeitet hat, wird hier an einigen Beispielen kurz dargestellt. aa) Das Recht auf Gleichbehandlung: Dieses Grundrecht, aus dem sich ein subjektives Recht herleitet, nimmt im ersten Teil der Verfassung einen wichtigen Platz . Gemäß Art. 10, der die Überschrift „Gleichheit vor dem Gesetz“ hat, ist zweifellos ein gerichtlich durchsetzbares Grundrecht. Dieses kann, entgegen der verbreiteten Ansicht, ein Abwehrrecht oder aber auch ein Leistungsrecht sein. Denn der Staat muß nicht nur darauf achten, daß er die Betroffenen gleichbehandelt, wenn er in ihren rechtlich geschützten Bereich eingreift, sondern auch bei den Leistungen, die er den einzelnen gewährt, das Gleichheitsprinzip nicht verletzt. In den meisten Fällen hat das Verfassungsgericht die maßgeblichen Gesetzesvorschriften wegen „Ungleichbehandlung“ hinsichtlich der Begünstigungen

41 s. I˙dare Hukuku (Das Verwaltungsrecht), Bd. 1, Istanbul 1938, S. 328 ff. Der Autor hat sein Werk in den folgenden Jahren wesentlich erweitert und unter anderem Namen publiziert. s. bereits vorher zitiertes „I˙dare Hukukunun Umumi Esasları“. Im Zusammenhang mit der Theorie der subjektiven Rechte gibt es in diesem Werk zahlreiche Hinweise auf R. v. Jehring, B. Windscheid und G. Jellinek. 42 Onar, I˙dare Hukukunun Umumi Esasları, Bd. 1, S. 498. 43 Onar, I˙dare Hukukunun Umumi Esasları, Bd. 1, S. 499. 44 Sie werden von Forsthoff als „öffentliche Daseinsvorsorge“ benannt. Derselbe Begriff trägt im türkischen Verwaltungsrecht die Bezeichnung „öffentlicher Dienst“, wie es in Frankreich, als dem Musterland der Türkei im Bezug auf das Verwaltungsrecht, „service public“ heißt. 45 Mukbil Özyörük, ein Verwaltungsrechtler jüngerer Generation hat einmal die Meinung geäußert, daß die Theorie der subjektiven öffentlichen Rechte im Gegensatz zu der längst überholten naturrechtlichen Theorien auf dem rechtspositivistischen Boden beruht. Er knüpft sogar die das ganze System der subjektiven Rechte an die Theorie der „Autolimitation“ an, die er als realistisch bezeichnet. s. Hukuka Giris¸ (Einführung in die Rechtswissenschaft), Ankara 1959, S. 251.

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bzw. Leistungen verfassungswidrig befunden46. Wie man an den beispielhaften Gerichtsentscheidungen sieht, wirkt sich der Gleichheitsbegriff im allgemeinen sozusagen als ein „Schlüsselbegriff“ aus. Das heißt, seine effektive Bedeutung kommt erst zur Geltung, wenn man ihn mit den anderen einzelnen Normen zusammen berücksichtigt. Das ändert allerdings nichts daran, daß der Gleichheitssatz als solcher ein selbständiger Grundsatz ist. bb) Freiheit der Wissenschaft und Kunst: Als ein typisches Abwehrrecht haben die Freiheit und Kunst in der Rechtsprechung eine besonders wichtige Stellung. Das Hohe Verwaltungsgericht (Danıs¸tay) hatte oft die Gelegenheit sich zu dem Gehalt und den Grenzen dieser Freiheit zu äußern. Ein interessanter Fall betrifft das Verbot eines Fernsehprogramms im öffentlichen Sender (sc. TRT) wegen eines Lieds, das in einer Fernsehserie wiederholt gesendet wird, durch einen Regierungsbeschluß wegen des Verstoßes gegen die moralischen Grundsätze. Das Hohe Gericht hat in seiner Entscheidung festgelegt, daß dieses Lied eigentlich, in der Erwartung einer glücklichen Zukunft für die ganze Menschheit, die Gleichheit zwischen allen Völkern und Menschen propagiert. Nach der Meinung des Hohen Gerichts stellt dieses Verbot einen Verstoß gegen die verfassungsgesetzlich geschützte Freiheit der Kunst dar47. cc) Das subjektive Recht auf eine gesunde Umwelt: In einem Fall ging es darum, ob die Verwaltung eine Genehmigung, die sie einem Unternehmer, der sich mit der Deponierung von Baumaterial beschäftigt, gewährte, wegen des Lärms, der von der Nachbarschaft nicht mehr zu ertragen ist, widerrufen darf. Die Arbeitsgenehmigung war an sich rechtmäßig erteilt. Nur hat es sich später herausgestellt, daß die Aktivität dieses Betriebes umweltschädliche Folgen hat. Das Gericht hat die wirtschaftlichen Interessen des Betriebsinhabers mit den Interessen der Nachbarschaft abgewogen und ist zu der Überzeugung gekommen, daß in diesem Fall dem subjektiven öffentlichen Recht der Nachbarn auf die gesunde Umwelt (TVerf Art. 56) gegenüber dem subjektiven Recht des Betriebsinhabers Vorzug zu geben sei, weil das erstere mit dem öffentlichen Wohl identisch sei, und hat die Anfechtungsklage des Betriebsinhabers zurückgewiesen48.

46 In einem Fall hat TVerfG einige Artikel des Sozialversicherungsgesetz wegen der ungleichen Behandlung der Teilnehmer der öffentlichen Versicherung verfassungswidrig befunden: 6.1.2005, 2001/479–2005/1. In einem interessanten Fall handelte es sich darum, daß Artt. 195 u. 432 der Zivilprozeßordnung gegen das sog. „Waffengleichheitsprinzip“ verstieß. In Art. 36/Abs. 1 heißt es nämlich: „Jedermann hat des Recht auf ein faires Verfahren“: TVerfG 2.12.2004, 2001/216–2004/120. 47 VerwG 28.12.1977. D 12, 1976/311–1977/2977. 48 In solchen Fällen ist die Behörde vepflichtet, den Betroffenen auf Antrag für den Vermögensnachteil zu entschädigen, weil er ein subjektives Recht auf den Bestand der Genehmigung hat.

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III. Schluß Es ist eine notorische Tatsache, daß die Entwicklung der subjektiven Rechte mit der Entwicklung der Grundrechte und Freiheiten gewissermaßen synchron ist, weil die Grundrechte offensichtlich die subjektiven Rechte begründen. Da, wo ein Grundrecht ein subjektives Recht begründet, besteht natürlich kein Zweifel, daß dem Staat die Verpflichtung aufgebürdet ist, dem Erfordernis der Zurückhaltung gegenüber den Abwehrrechten oder der Erteilung einer Begünstigung Folge zu leisten. Es ist aber nicht immer so einfach, die Existenz eines subjektiven Rechts aus der Begriffsbestimmung einer gesetzlichen Norm zu folgern. Insbesondere in den Fällen, in denen es nicht ausdrücklich formuliert ist. Andererseits ist es unvermeidlich, daß der Anwendungsbereich der subjektiven öffentlichen Rechte in verschiedenen Rechtsordnungen inhaltlich variabel sind, weil die Grundrechte, die arten-, zahlen- und umfangmäßig unterschiedlich sind, eine Grundlage für subjektive Rechte bilden. Folglich ist der Raum für diese in einer freiheitlich-individualistischen Rechtsordnung deutlich größer als in der Rechtsordnung eines autoritären Regimes. Was die Türkei angeht, so kann man zusammenfassend sagen, daß sich die türkische öffentlich-rechtliche Lehre seit der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit der Problematik der einklagbaren subjektiven öffentlichen Rechte befaßt und bei der Entfaltung der Rechtsprechung bis zu einem gewissen Grade eine richtungweisende Rolle gespielt hat.

Recht auf eine gute Verwaltung und Fehlerfolgenlehre nach dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages: Der Fall Deutschlands und Italiens Von Diana-Urania Galetta I. Das Recht auf eine gute Verwaltung vor und nach der Europäischen Grundrechtscharta: Einführende Bemerkungen Nach neun Monaten intensiver Debatten und breitgefächerter Anhörungen billigte der Konvent in seiner feierlichen Abschlusssitzung am 2. Oktober 2000 den Entwurf der Europäischen Charta der Grundrechte (GRC). Wie allgemein bekannt, wurde diese Charta schon zur Eröffnung der Regierungskonferenz von Nizza am 7. Dezember 2000 feierlich proklamiert1; sie erlangte aber erst am 1. Dezember 2009 gemeinsam mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Rechtskraft.2 Auch wenn das Recht auf gute Verwaltung in internationalen Dokumenten schon früher erwähnt wurde3 und auch wenn einzelne Grundsätze und Garantien, die in Art. 41 GRC genannt werden, schon im EG-Vertrag verankert waren4, ist es wichtig zu betonen, dass dieses Recht erst mit der Aufnahme in die Grund1 Die erste Fassung der Europäischen Charta der Grundrechte wurde im Abl. Nr. C 364 vom 18.12.2000 veröffentlicht. s. dazu Kai-Dieter Classen, Gute Verwaltung im Recht der Europäischen Union. Eine Untersuchung zu Herkunft, Entstehung und Bedeutung des Art. 41 Abs. 1 und 2 der Europäischen Grundrechtecharta, Berlin 2008, S. 41 ff. 2 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007, in Abl. Nr. C 306 vom 17. Dezember 2007. 3 So kommt ein Anspruch auf gute Verwaltung bereits in Dokumenten des Europarates und der OECD zum Ausdruck. s. Jürgen Schwarze, Der Beitrag des Europarates zur Entwicklung von Rechtsschutz und Verfahrensgarantien im Verwaltungsrecht, in: EuGRZ 1993, S. 377 ff. Das Recht auf ein faires Verfahren, das eine wichtige Ausprägung des Rechtes auf eine gute Verwaltung ist, wird zudem bereits in Art. 6 EMRK insbesondere für den Bereich des Strafrechtes verbürgt. s. dazu Diana-Urania Galetta/ Bernd Grzeszick, Kommentar zu Art. 41 Grundrechtecharta, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Europäische Grundrechtecharta, Kölner Gemeinschafts-Kommentar, Köln 2006, S. 661 ff. (663). 4 s. insbes. in Art. 253 EG (Pflicht zur Begründung) Art. 288 Abs. 2 EG (Schadensersatzanspruch); Art. 21 Abs. 3 EG (Sprachengarantie bzw. Kommunikationsrecht).

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rechtscharta explizit in einer internationalen Menschenrechtserklärung verbürgt worden ist. Das Recht auf eine gute Verwaltung war in der ursprünglichen Liste des Präsidiums nicht enthalten und ist erst im Laufe des Konventsverfahrens hinzugekommen5. Seine Einbeziehung6 ist vor allem den Bemühungen des damaligen Europäischen Bürgerbeauftragten, Jacob Söderman, zu verdanken, der den ermutigendsten Aspekt der Arbeit an der neuen Grundrechtscharta darin sah „. . . die Möglichkeit, modernen Entwicklungen der Menschenrechtsnormen und der Beziehungen zwischen dem Bürger und der öffentlichen Verwaltung Rechnung zu tragen“ 7. Deshalb sprach er sich in seiner Rede vor dem Konvent dafür aus, auch das Recht des Bürgers auf gute Verwaltung in der Charta als Grundsatz zu verankern8. Auch die Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, soweit es mir bekannt ist, sehen kein ausdrückliches Recht auf gute Verwaltung vor. Man findet aber in einigen nationalen Verfassungen Grundsätze vor, die unter das „Recht auf gute Verwaltung“ fallen9. Ein Beispiel dafür ist der Anspruch auf ein faires Verfahren, das vom Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 des deutschen Grundgesetzes umfasst wird10. Nach Art. 266 und 268 der portugiesischen Verfassung von 197611 handelt die Verwaltung unter Wahrung der Grundsätze der Gleichheit, Proportionalität, Gerechtigkeit und der Unparteilichkeit; u. a. werden Informationsrechte der Bürger und die Begründungspflicht ausdrücklich genannt.

5 s. Europäische Kommission: Mitteilung zur Grundrechtscharta der Europäischen Union, KOM (2000) 559 endg. von 13.09.2000, S. 7 ff. 6 Ursprünglich lautete die Überschrift der Regelung „ordnungsgemäße“ Verwaltung, was später in „gute“ Verwaltung geändert wurde. Das Recht auf Schadensersatz wurde erst später hinzugefügt. s. dazu Galetta/Grzeszick (Fn. 3), S. 664. 7 Jacob Söderman, Öffentliche Anhörung zu dem Entwurf einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Brüssel, 02.02.2000, Einleitende Bemerkungen, unter http://www.euro-ombudsman.eu.int/speeches/de/default.htm, Abs. 2, Ein pragmatischer Vorschlag. 8 „In der eigentlichen Charta sollte das Recht des Bürgers auf gute Verwaltung als Grundsatz genannt werden . . . (omissis) . . . Die Aufnahme dieses Rechtes in die Charta könnte umfassende Auswirkungen auf alle derzeitigen und künftigen Mitgliedstaaten haben und dazu beitragen, das 21. Jahrhundert zum ,Jahrhundert der guten Verwaltung‘ zu machen.“ Söderman (Fn. 7), Abs. 3, Das Grundrecht auf eine offene, rechenschaftspflichtige und dienstleistungsorientierte Verwaltung. 9 Für weitere Hinweise s. Classen (Fn. 1), S. 95. 10 s. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1: Allgemeine Lehre der Grundrechte, München 1988, S. 1470 ff. 11 s. unter http://www.parlamento.pt/Legislacao/Paginas/ConstituicaoRepublicaPortu guesa.aspx.

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In Art. 103, 105 und 106 der spanischen Verfassung von 197812 wird herausgestellt, dass die öffentliche Verwaltung in objektiver Weise dem Interesse der Allgemeinheit dient; ferner werden einige Aspekte – wie die Unparteilichkeit, die Anhörung von Bürgern und der Zugang zu Verwaltungsarchiven – ausdrücklich genannt, die auch in Art. 41 Grundrechtscharta hervorgehoben werden. In diesem Zusammenhang muss man Bezug auch auf Art. 97 der italienischen Verfassung von 1948 nehmen13, der verlangt, dass „Ordnungsmäßigkeit und Unparteilichkeit der Verwaltung gewährleistet werden“. Die Ähnlichkeiten zwischen dem Recht auf eine gute Verwaltung der Grundrechtscharta und dem Grundsatz der „Ordnungsmäßigkeit“ (buon andamento) der italienischen Verfassung sind aber weniger bedeutend als die Divergenzen die festzustellen sind: Der Grundsatz der „Ordnungsmäßigkeit“ (manchmal auch als Grundsatz des „guten Geschäftsgangs“ übersetzt) setzt eine völlig andere Perspektive als das „Recht auf eine gute Verwaltung“ voraus. Bei der Ordnungsmäßigkeit (buon andamento) des Art. 97 it. Verfassung handelt es sich um eine Handlungsmaxime für die Verwaltung. Er stellt einen Grundsatz dar, der die Machtausübung der Verwaltung regelt und der nur dazu dient, diese Machtausübung zu legitimieren14. Vom diesem Gesichtspunkt aus stellt die Vorschrift des Art. 41 GRC eine komplette Umkehrung der Perspektive für den italienischen Jurist dar, da es sich bei der Vorschrift des Art. 41 GRC um ein ganz neues einklagbares Recht handelt15. II. Das Recht auf eine gute Verwaltung in der Europäischen Grundrechtscharta Die Grundrechtscharta ist nicht mehr Teil des Vertrags, wie es in dem gescheiterten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ 16 der Fall war17. Art. 6 des 12 s. unter http://www.boe.es/aeboe/consultas/bases_datos/doc.php?coleccion=iber lex&id=1978/31229. 13 s. unter http://www.governo.it/Governo/Costituzione/2_titolo3.html. 14 s. dazu Antonio Andreani, Il principio costituzionale di buon andamento della pubblica amministrazione, Padova, 1979, passim; Carlo Marzuoli, Carta europea dei diritti fondamentali, „amministrazione“ e soggetti di diritto: dai principi sul potere ai diritti dei soggetti, in: Vettori, Carta europea e diritti dei privati, Padova 2002, S. 255 ff. (265 f.); Alberto Zito, Il „diritto ad una buona amministrazione“ nella Carta dei diritti fondamentali dell’Unione europea e nell’ordinamento interno, in: Rivista italiana di diritto pubblico comunitario, 2002, S. 433 ff.; Diana-Urania Galetta, Il diritto ad una buona amministrazione europea come fonte di essenziali garanzie procedimentali nei confronti della Pubblica Amministrazione, in: Rivista italiana di diritto pubblico comunitario, 2005/3, S. 819 ff. (854). 15 s. Diana-Urania Galetta, Inhalt und Bedeutung des europäischen Rechts auf gute Verwaltung, in: Europarecht, Heft 1, 2007, S. 57 ff. (58). 16 Weitere Informationen unter http://europa.eu/scadplus/constitution/index_de.htm. 17 Die geltende Fassung des Art. 41 Grundrechtscharta ist aber die Fassung, die im Art. II-101 des Vertrages über eine Verfassung für Europa enthalten war und die im Amtsblatt der Europäischen Union vom 14.12.2007 veröffentlicht worden ist.

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EUV (nach den Modifizierungen vom Lissabonner Vertrag) verweist so darauf: „Die Union erkennt die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepaßten Fassung niedergelegt sind“; er stellt aber klar, dass „die Charta der Grundrechte und die Verträge rechtlich gleichrangig“ 18 sind. Das „Recht auf eine gute Verwaltung“ befindet sich in Kapitel V der Grundrechtscharta, welches unter dem Titel „Bürgerrechte“ steht. Dazu zählen ebenfalls das allgemeine Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art. 42 GRC), das Recht auf Befassung des Bürgerbeauftragten (Art. 43 GRC) und das Recht auf Petition beim Europäischen Parlament (Art. 44 GRC)19. Art. 41 GRC enthält eine Zusammenfassung elementarer Verfahrensgrundrechte im Verwaltungsverfahren. Er enthält in Abs. 1 ein generelles Recht auf eine gute Verwaltung, in Abs. 2 Beispiele dieses Rechts, in Abs. 3 einen Haftungsanspruch und in Abs. 4 eine Sprachengarantie. Was den Inhalt von Art. 41 GRC angeht, handelt es sich einerseits um eine Vorschrift, die in der Sache im wesentlichen nicht neu ist: Die Haftungsregelung des Abs. 3 entspricht Art. 288 EGV (jetzt Art. 340 AEUV); die Sprachengarantie des Abs. 4 ist ganz wesentlich an Art. 21 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 24 Abs. 3 AEUV) angelehnt; und auch das in Abs. 1 und 2 zusammengefasste allgemeine Recht auf eine gute Verwaltung ist ganz überwiegend Ausdruck der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte20. In diesem Sinne stellen die durch Art. 41 GRC garantierten Rechte ganz überwiegend eine Kodifizierung der von den Gemeinschaftsgerichten entwickelten Grundsätze und Rechte dar, die in der Rechtsprechung als „Grundsätze der ordnungsgemäßen Verwaltung“ und „Grundsätze einer guten Verwaltungsführung“ bezeichnet werden21. Der EuGH hat dabei einzelne Verfahrensgrundsätze, wie beispielsweise den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder den des Vertrauensschutzes als Ausfluss der Rechtsstaatlichkeit bereits zu einer Zeit entwickelt, als er den Bestand von Gemeinschaftsgrundrechten noch nicht ausdrücklich anerkannt hatte22. 18 s. die konsolidierte Fassungen der Verträge, geändert durch den Vertrag von Lissabon, unter http://www.consilium.europa.eu/showPage.aspx?id=1296&lang=de. 19 Allgemein dazu s. u. a. Christoph Grabenwarter, Die Charta der Grundrechte für die Europäische Union, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 2001, S. 1 ff.; Ingolf Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 2000, S. 847 ff.; Peter Tettinger, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: NJW 2001, S. 1010 ff.; Albrecht Weber, Die Europäische Grundrechtscharta – auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, in: NJW 2000, S. 537 ff. 20 s. dazu insbes. Galetta (Fn. 14), S. 210 ff. 21 Vgl. Loïc Azoulay, Le principe de bonne administration, in: Auby/Dutheil de la Rochere (Hrsg.), Droit administratif européen, Bruxelles 2007, S. 493 ff. 22 Vgl. EuGH, Rs. 8/55 („Fédération Charbonnière de Belgique“), in: Slg. 1955/ 1956, 297 (S. 311); verb. Rs. 7/56 und 3-7/57 („Algera“), in: Slg. 1957, 83 (S. 117 ff.).

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Andererseits muss man auch gleichzeitig feststellen, dass Art. 41 GRC keine abschließende und erschöpfende Aufzählung der zu beachtenden Grundsätze enthält23. Die Aufzählung in Art. 41 Abs. 2 gilt nur beispielhaft, wie sich aus dem „insbesondere“ zu Beginn von Abs. 2 ergibt. Mit der Aufnahme des Rechtes auf gute Verwaltung in die Grundrechtscharta wird jedoch nicht nur bereits durch EG-Vertrag und Rechtsprechung vorhandenes Recht kodifiziert. Die Vorschrift geht insoweit darüber hinaus, als nun allgemein das Recht auf gute Verwaltung als „entwicklungsoffenes“ Recht festgeschrieben wurde; insbesondere wird in Art. 41 Abs. 1 der Anspruch auf eine gerechte Behandlung genannt und dieses Recht ist ohne jedes konkrete Vorbild: Weder die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte noch andere nationale oder internationale Rechtsgewährungen kennen ein Recht des Bürgers auf eine gerechte Behandlung seiner Angelegenheiten. Die Grundrechtscharta geht mit diesem Recht über den bestehenden Rechtszustand hinaus und öffnet das Recht auf eine gute Verwaltung damit für neue Entwicklungen des europäischen Verwaltungsrechts. Ziel dieser Untersuchung ist es aber nicht eine allgemeine Darstellung des Inhaltes der von Art. 41 GRC anerkannten Rechten neu auszuführen: Dazu reicht es hier auf die viele Beiträge zu verweisen, die sich damit ausführlich beschäftigt haben24. Unser Fokus wird hier anstatt auf der Auswirkung der von Art. 41 GRC anerkannten Rechte auf der Fehlerfolgenlehre liegen. Insbesondere geht es um die Anwendbarkeit von Heilungs- und Unbeachtlichkeitsvorschriften des mitgliedstaatlichen Rechts, die potentiell den besonderen Stellenwert in Frage stellen, den das Verwaltungsverfahrensrecht in der EURechtsordnung einnimmt25. III. Der Anwendungsbereich des Art. 41 Grundrechtscharta und insbesondere die umstrittene Frage des Kreises der Verpflichteten Bevor man sich mit der obengenannten wichtigen Frage beschäftigen kann, ist es aber nötig, zuerst auf die vorgeschaltete Frage des Anwendungsbereiches von 23 So auch Meinhard Hilf, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: Sonderbeilage zu NJW, EuZW, NVwZ und JuS, NVwZ 2000, Heft 1, S. 5 ff. (6); Peter Szczekalla, Allgemeine Rechtsgrundsätze, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum Europäischen und Deutschen Umweltrecht, 1998, Online-Zwischen-Update v. 13.12.2000, unter http://www.jura.uos.de/institut/EUR/EUDUR_11_akt.htm, Rn. 64; Tettinger (Fn. 19), S. 1014; Martina Lais, Das Recht auf eine gute Verwaltung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in: Zeus, 2002, S. 447 ff. 24 Für eine tiefergehende Analyse des Inhaltes von Art. 41 GRC s. insbes. Galetta (Fn. 14), S. 210 ff.; Galetta/Grzeszick (Fn. 3), S. 668 ff.; Classen (Fn. 1), S. 235 ff. 25 So Thomas von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, Berlin/Heidelberg 2008, S. 541.

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Art. 41 GRC eine Antwort zu geben: Hier ist insbesondere auf die vorgeschaltete Frage des Kreises der von Art. 41 GRC verpflichteten Verwaltungen einzugehen. Was die Frage der Berechtigten angeht, ist die Auslegung der Vorschrift kaum problematisch: Nach Art. 41 GRC kann „jede Person“ berechtigt werden. Das heißt, dass die Vorschrift damit nicht auf die Unionsbürger beschränkt ist, sondern ein Menschenrecht26 ist. Unter den Begriff der Person fallen natürliche und juristische Personen27. Was dagegen die Frage der durch Art. 41 GRC Verpflichteten angeht, ist die Auslegung problematischer und in der Lehre bestehen diesbezüglich verschiedene Auffassungen. Der allgemeine Anwendungsbereich der Grundrechte der Charta wird grundsätzlich in Art. 51 Abs. 1 S. 1 Grundrechtscharta bestimmt. Danach gilt die Charta für die Organe und Einrichtungen der Union, sowie für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Die Frage, ob darin auch die vor Lissabon intergouvernementalen Säulen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit enthalten sind, muss meines Erachtens bejaht werden. Was dann das Verhältnis zu den Mitgliedstaaten angeht, werden im Gegensatz zu Art. 51 im Art. 41 GRC explizit nur die Organe und Einrichtungen der Union erwähnt, nicht aber die Mitgliedstaaten. Die Hypothese eines redaktionellen Versehens wird in der Lehre meistens deswegen ausgeschlossen, weil es sich diesbezüglich um eine der wichtigen Aspekte in der Diskussion des Konvents handelte28. Auch deswegen wird die Auffassung des lex-specialis Prinzips besonders vertreten29. Diese Auffassung ist aber meines Erachtens noch immer abzulehnen. Wie ich es schon anderswo behauptet habe30, findet man keine plausiblen Gründe für eine

26 Diesbezüglich gab es eine Debatte in der italienischen Lehre, da die erste vom Konvent verabschiedete Fassung des Art. 41 auf Italienisch Bezug auf „jedes Individuum“ (ogni individuo), statt an „jede Person“ (ogni persona) nahm. s. dazu Galetta (Fn. 14), S. 824 f. 27 s. Jürgen Schwarze, Der Grundschutz für Unternehmen in der Europäischen Grundrechtscharta, in: EuZW 2001, S. 517 ff. (518 f.); Matthias Mahlmann, Die Grundrechtscharta der Europäischen Union, in: ZEuS, 2000/4, S. 419 ff. (437); Lais (Fn. 23), S. 460 f. 28 s. dazu m.w. N. Classen (Fn. 1), S. 80 ff. 29 s. u. a. Siegfried Magiera, Kommentar zu Art. 41 GRC, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Aufl., Baden-Baden 2006, Rn. 9; Rudolf Streinz (Hrsg.), EUV/EGV, München 2003, Rn. 14. Anderer Auffassung Rudolf Bauer, Das Recht auf eine gute Verwaltung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2002, S. 142; Szczekalla (Fn. 23), § 11, Rn. 64; Lais (Fn. 23), S. 447, 457 f. 30 s. Galetta (Fn. 15), S. 79 f.

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Beschränkung des Anwendungsbereiches des Art. 42 GRC 31, die eine ähnliche Beschränkung des Anwendungsbereiches des Art. 41 GRC rechtfertigen können. Es gibt ganz im Gegenteil viele Gründe, die dazu führen, die restriktive Auslegung des Anwendungsbereiches des Rechts auf eine gute Verwaltung heftig abzulehnen. Zuerst würde eine Beschränkung des Anwendungsbereiches des Rechtes auf eine Gute Verwaltung zu einer unzulässigen Differenzierung zwischen den Fällen führen, bei denen es um direkten Vollzug durch EU Organe und Einrichtungen (und sonstige Anlagen) geht, und den Fällen bei denen es sich dagegen um indirekten Vollzug durch die Mitgliedstaaten handelt. Diese Differenzierung würde auch direkt mit den Vorschriften des Titels II GRC mit der Überschrift „Gleichheit“ verstoßen. Zweitens soll man nicht vergessen, dass die in Art. 41 GRC enthaltenen Garantien als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts anzuerkennen sind (von der Rechsprechung der EU-Gerichte schon lange anerkannt). Die Vorschriften der Grundrechtscharta dürfen auch nicht zu einer Verkürzung des bereits erreichten Schutzniveaus führen32: in der Rechsprechung findet man jedoch keine solche Differenzierung zwischen Fällen von direktem Vollzug und Fällen von indirektem Vollzug. Eine vernünftige und plausible Auslegung des Hinweises des Abs. 1 S. 1 zum Anwendungsbereich des Art. 41 besteht meiner Meinung einfach darin, dass die Vorschrift für die Organe, Einrichtungen (und sonstigen Stellen) der Union eine weitere Pflicht vorsieht, die den Mitgliedstaaten nicht obliegt: Und zwar die Verpflichtung, spezifische Maßnahmen zu treffen, um das Recht auf eine gute Verwaltung wirksam zu machen33. Das gilt selbstverständlich auch für die Sprachengarantie des Art. 41 Abs. 4, die sich nur an die Organe, Einrichtungen (und sonstigen Stellen) der Union richtet.

31 s. Guy Braibant, La Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne (témoignages et commentaires de), Le Seuil, Paris, 2001, S. 211 ff. (220 f.); Jacques Ziller, Article II-102, in: Burgorgue-Larsen/Levade/Picod (Hrsg.), Traité établissant une Constitution pour l’Europe. Partie II/2, La Charte des droits fondamentaux de l’Union, commentaire article par article, Bruylant, Bruxelles 2005, S. 538 ff. 32 So auch Magiera (Fn. 29), Rn. 14. 33 Z. B. durch die Übermittlung des von Bürgerbeauftragten veröffentlichten „Kodex für Gute Verwaltungspraxis“ in einer Verordnung, die die konkrete Ausführung des in der Charta verankerten Rechts auf eine gute Verwaltung darstellen würde. s. dazu Diana-Urania Galetta, Das Recht auf gute Verwaltung in der Europäischen Charta der Grundrechte und in der Rechtsprechung der EG-Gerichte, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertender Verfassungsvergleich, Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin, 2005, S. 207 ff. (226 ff.); Joana Mendes, Good Administration in EU Law and the European Code of Good Administrative Behaviour, in: EUI Working Paper, Law 2009/09.

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IV. Die Konsequenzen der Anwendbarkeit des Art. 41 Grundrechtscharta für die Fehlerfolgenlehre und die Verwaltungen der Mitgliedstaaten Vorausgesetzt – wie ich es oben erklärt habe – dass der Anwendungsbereich von Art. 41 GRC dem von Art. 51 GRC entspricht, der festlegt, dass die Grundrechtscharta auch „für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ gilt, muss man sich jetzt die Frage stellen, was die Auswirkungen der von Art. 41 GRC anerkannten Rechte auf die Fehlerfolgenlehre sind: Oder besser was sie sein sollten. Insbesondere geht es um die Anwendbarkeit beim indirekten Vollzug von Heilungs- und Unbeachtlichkeitsvorschriften des mitgliedstaatlichen Rechts, wovon man wichtige Beispiele sowohl im deutschen als auch im italienischen Verwaltungsverfahrensgesetz findet. Ich beziehe mich, was das deutsche Recht angeht, auf die heftig debattierten Vorschriften des § 45 (Heilung von Verfahrens- und Formfehlern) und des § 46 VwVfG (Folgen von Verfahrens- und Formfehlern). Beide Vorschriften sind von dem Gedanken geprägt, dass ein Verwaltungsakt, trotz fehlerhaftem Zustandekommen, im Ergebnis mit dem materiellen Recht in Einklang stehen kann und deshalb seine Wirksamkeit behalten soll34. § 45 VwVfG lässt unter gewissen Voraussetzungen die Heilung von Verfahrens- und Formfehlern im Wege der Nachholung der gebotenen Verfahrenshandlung zu; und das zwar – nach der Modifizierung des Abs. 2 durch das GenBeschG vom 1996, in Verbindung mit dem 3. VwVfÄndG vom 21.8.2002 – nicht bloß bis zum Abschluss des Verwaltungsverfahrens, sondern noch bis zum Abschluss der letzten Tatsacheninstanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens35. Gemäß § 46 VwVfG scheidet die Aufhebbarkeit des Bescheides aufgrund eines Verfahrens- oder Formfehlers aus, wenn der Verfahrensfehler keine Auswirkungen auf die Sachentscheidung hat. Auch dem italienischen Verwaltungsverfahrensgesetz n. 241/199036 ist mit dem Gesetz Nr. 15/200537 eine Vorschrift hinzugefügt worden, die die Idee der Irrelevanz der Form- und Verfahrensfehler anspricht. Es handelt sich um die Vorschrift des neuen Art. 21-octies, die eine „Mischform“ zwischen § 46 des deutschen VwVfG vor und nach der Reform durch das GenBeschG von 1996 ist38. 34 So Michael Schemmer, Heilung von Verfahrens- und Formfehlern, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar VwVfG, München, Stand 01.01. 2011, Rn. 1. 35 Vgl. dazu Michael Sachs, § 45 Heilung von Verfahrens- und Formfehlern, in: Stelkens/Bonk/ders., Verwaltungsverfahrensgesetz, München 7. Aufl., 2008; ders., § 46 Folgen von Verfahrens- und Formfehlern, ibidem. 36 Gesetz vom 07.08.1990, Nr. 241, im Internet abrufbar (www.parlamento.it). 37 Gesetz vom 25.01.2005, Nr. 15, im Internet abrufbar (www.parlamento.it). 38 Laut Art. 21-octies Abs. 2-1: „Die Aufhebung eines gebundenen Verwaltungsaktes kann nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften

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Wenn man die oben genannten Vorschriften der nationalen Rechtsordnungen Deutschlands und Italiens in Betracht zieht und sie mit der grundrechtlichen Bedeutsamkeit des Verfahrens im EU-Recht vergleicht39, taucht meiner Meinung nach eine Evidenz auf: Vorschriften, die im Grunde die Verfahrensgarantien der Privaten im Verwaltungsverfahren von praktischer Bedeutung entleeren können, gehen in die entgegengesetze Richtung der Garantien des Art. 41 GRC. Vom diesem Gesichtspunkt aus hat es in der Tat keine Bedeutung herauszufinden, ob es dabei im EU-Recht um eine völlig andere Konzeption des Verfahrens und der Richtigkeitsgewähr durch Verfahren geht oder bloß um die Abwesenheit des deutschen Konzepts des strikt gebundenen Verwaltungsaktes40. Das Recht auf eine gute Verwaltung des Art. 41 GRC besteht grundsätzlich aus Verfahrensrechten der Privaten in Verwaltungsverfahren41, die eine Relevanz an sich haben und nicht nur im Bezug auf den zu erlassenden Verwaltungsakt. Diese Verfahrensrechte der Privaten dürfen selbstverständlich nicht gekürzt werden, wenn es sich um unionsrechtlich relevante Tatbestände handelt. Konsequenterweise müssen die oben genannten Heilungs- und Unbeachtlichkeitsvorschriften des mitgliedstaatlichen Rechts in einer unionsrechtlich konformen Weise ausgelegt werden: Da, wie bekannt ist, sich die Durchführung des materiellen EU-Rechts durch die Behörden der Mitgliedstaaten auf die nationalen Verfahrensnormen stützen darf, sind nur insoweit die Grundsätze der Effektivität und Äquivalenz eingehalten42. In diesem Zusammenhang geht es sic et sempliciter um die Effektivität der von Art. 41 GRC anerkannten Verfahrensrechte der Privaten und nicht um die Dis-

über das Verfahren oder die Form zustande gekommen ist, wenn es wenn offensichtlich ist, daß es keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können“. Laut Art. 21-octies Abs. 2-2: „Die Aufhebung eines Verwaltungsaktes kann jedenfalls nicht wegen Verletzung der Vorschriften zur Mitteleilung des Anfanges eines Verfahrens beansprucht werden, wenn die Verwaltung im Gerichtsverfahren beweist, daß es keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können“. s. dazu Diana-Urania Galetta, L’annullabilità del provvedimento per vizi del procedimento, Milano 2003, passim. 39 Bezüglich der Frage einer möglichen grundrechtlichen Bedeutsamkeit des Verfahrens im deutschen Recht s. Stern (Fn. 10), 953 ff. s. a. die Überlegungen von Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee. Grundlagen und Aufgaben der verwaltungsrechtlichen Systembildung, Berlin/Heidelberg 1998, S. 61 f. Was die diesbezügliche Debatte im italienischen Recht angeht s. zuletzt Nino Longobardi, Il principio del „giusto procedimento“ come limite al legislatore, unter www. amministrazioneincammino.luiss.it, 2004; Giuseppe Colavitti, Il „giusto procedimento“ come principio di rango costituzionale, unter: http://www.associazionedeicosti tuziona listi.it/dibattiti/amministrazione/colavitti.html, 2005. 40 s. dazu Ulrich Stelkens, Der Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 2010, S. 1078 ff. 41 Braibant (Fn. 31), S. 217. 42 s. dazu Diana-Urania Galetta, Procedural Autonomy of EU Member States: Paradise Lost? A Study on the „Functionalized Procedural Competence“ of EU Member States, Heidelberg/Dordrecht/London/New York 2010.

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kussion über die dienende oder Eigenwert habende Funktion des Verwaltungsverfahrens43. In diesem Sinne findet sich der Teil der Lehre, der sich für die grundsätzliche Abwesenheit einer unionsrechtlichen Dimension der Problematik ausgesprochen hat44, nach dem Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages mit noch weniger Argumenten vor. Jetzt da Art. 41 GRC bindendes Recht ist und den Privaten spezifische Verfahrensrechte zuerkennt, die Wert an sich haben, ist die Auffassung wonach die Heilungs- und Unbeachtlichkeitsvorschriften des mitgliedstaatlichen Rechts unproblematisch sind, schwer zu verteidigen. Die These einer bedeutenden Auswirkung des EU-Rechtes auch in diesem Bereich wächst dagegen in Argumenten und an Bedeutung45. Schließlich kann man behaupten, dass nach Lissabon die Lage noch klarer ist. Zwar können solche nationalrechtlichen Vorschriften wie §§ 45 u. 46 VwVfG und Art. 21-octies ital. VwVfG nur ausnahmsweise Anwendung finden. Im EURecht sind Heilung und Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern grundsätzlich nicht möglich und können nur als seltene Ausnahme in Betracht gezogen werden46: Dies gilt erst recht, wenn es sich um Verfahrensrechte des Art. 41 GRC handelt. V. Der Anwendungsbereich von Art. 41 Grundrechtscharta, zwischen spill-over effect der allgemeinen Rechtsgrundsätze des EU-Rechts und direktem Bezug darauf durch Vorschriften des nationalen Rechts: Der Fall Italiens Die konservative Position des Teils der Lehre, der die Beschränkung des Anwendungsbereiches des Rechtes auf eine Gute Verwaltung auf Organe, Einrichtungen (und sonstige Stellen) der Union befürwortet und sich für eine Unterscheidung zwischen Art. 51 Abs. 1 S. 1 und Art. 41 Abs. 1 GRC ausspricht, ver43

So wie es z. B. von Stelkens (Fn. 40), S. 1078 ff., behauptet wird. s. insbes. Elena Bülow, Die Relativierung von Verfahrensfehlern im Europäischen Verwaltungsverfahren und nach §§ 45, 46 VwVfG, Nomos Verlag, Baden-Baden, 2007, passim. s. aber auch zuletzt Stelkens (Fn. 40), S. 1078 ff. 45 s. insbes. Armin Hatje, Die Heilung formeller Fehler im Verwaltungsprozeß als Mittel der Verfahrensbeschleunigung, in: DÖV 1997, S. 477 ff. (480 ff.); Juliane Kokott, Europäisierung des Verwaltungprozessrechts, in: Die Verwaltung, 1998, S. 335 ff. (365 ff.); Eberhard Schmidt-Aßmann, Europäisches Verwaltungsverfahrensrecht, in: Müller-Graff (Hrsg.), Perspektiven des Rechts in der Europäischen Union, 1998 S. 131 ff. (149 f.); Rainer Wahl, Das Verhältnis von Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht in europäischer Sicht, in: DVBl., 2003, S. 1285 ff. (1290 ff.); Wolfgang Kahl, Grundrechtsschutz durch Verfahren in Deutschland und in der EU, in: VerwArch 95 (2004), S. 1 ff.; Classen (Fn. 1), S. 298 ff. 46 So von Danwitz (Fn. 25), S. 541. Vgl. dazu auch Kahl (Fn. 45), S. 17, 20 ff.; Classen (Fn. 1), S. 298 ff., der diesbezüglich eine interessante Analyse der Rechsprechung der EU Gerichte anbietet. 44

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birgt meines Erachtens kaum die Besorgnis, dass sich durch Art. 41 GRC eine weitgehende Harmonisierung der nationalen Verwaltungsrechtsordnungen ergeben kann. Es ist in der Tat schon lange bekannt, dass die vom EU-Recht anerkannten Rechte sich immer mehr auf die nationalen Rechtsordnungen erstrecken, und zwar nicht nur in den unionsrechtlich relevanten Fällen, sondern auch in den Fällen, die völlig zur Kompetenz der Mitgliedstaaten gehören47. Das gilt selbstverständlich auch für die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die von der Rechtsprechung erschaffen werden: Es ist kaum möglich, in Bezug auf die von der EuGH-Rechtsprechung erschaffenen allgemeinen Rechtsgrundsätze, die sich durch Art. 41 GRC in Rechte umwandeln48, den sog. „spill over effect“ zu vermeiden. Was dann den spezifischen Fall Italiens angeht, wie ich jetzt kurz erklären werde, ist es jetzt nicht einmal mehr nötig, auf diesen spill-over-Effekt Bezug zu nehmen: das Gesetz Nr. 15/200549, das das italienische allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz Nr. 241/90 modifiziert hat, statuiert in Art. 1 italienisches Verwaltungsverfahrensgesetzes, dass „die Verwaltungstätigkeit . . . . . . von den Grundsätzen der EG-Rechtsordnung regiert ist“ 50. Das heißt, dass die ganze Verwaltungstätigkeit der nationalen Verwaltungen von den Grundsätzen der EGRechtsordnung regiert ist und nicht nur diejenige, die mit unionsrechtlichen Angelegenheiten zu tun hat. Da diese Grundsätze jetzt teilweise in Art. 41 der (nach Lissabon rechtlich verbindlichen) Grundrechtscharta ihren Platz gefunden haben, wird es jetzt viel einfacher sein, für die nationalen Verwaltungsgerichte darauf Bezug zu nehmen51. Dies muss selbstverständlich auch für die Fehlerfolgenlehre prägnante Konsequenzen haben, wenn es stimmt – wie ich es hier behauptet habe – dass Heilung und Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern im EU-Recht grundsätzlich nicht möglich sind und nur als seltene Ausnahme in Betracht gezogen werden können. VI. Schlussbemerkungen Wie es richtig betont worden ist, im Kontext des „europäisierten“ Verwaltungsrechts charakterisiert sich die Beziehung zwischen Verwaltung und Verwal47 s. dazu die vielen Beispiele in Mario Pilade Chiti, Diritto amministrativo europeo, Milano 2011, passim. 48 So zuletzt Sabino Cassese, Il diritto alla buona amministrazione, unter: http:// www.irpa.eu/, S. 7. 49 Gesetz vom 25.01.2005, Nr. 15, im Internet abrufbar (www.parlamento.it). 50 Art. 1 Abs. 1: „L’attività amministrativa è retta . . . . . . dai principi dell’ordinamento comunitario“. 51 s. weiter Diana-Urania Galetta, Diritto ad una buona amministrazione e ruolo del nostro giudice amministrativo dopo l’entrata in vigore del Trattato di Lisbona, in: Diritto Amministrativo, 2010/3, S. 601 ff.

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tungsgerichten für die Anerkennung – im Vergleich zum deutschen Recht – eines weiteren Vertretbarkeitsspielraums für die Entscheidungen der Verwaltung und einer dementsprechend geringeren gerichtlichen Kontrollintensität. Die starke „Prozeduralisierung“ des EU-Rechtes und die Verstärkung des subjektiven Rechtsschutzes gegen Verfahrensverstöße gilt deshalb auch kompensatorisch für die geringere gerichtliche Kontrollintensität52. Die Regel im EU-Recht ist deshalb eher die Beachtlichkeit von Verfahrensfehlern und keine Heilung im gerichtlichen Verfahren53. Die Folge dieser unionsrechtlich induzierten Stärkung des Verfahrens – die weit weg von der Idee einer dienenden Funktion dessen ist – ist eine notwendigerweise unionsrechtskonforme Auslegung der Vorschriften des nationalen Rechts, die – so wie es im deutschen und italienischen Recht der Fall ist – die Heilung und Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern erlauben. Das Problem sind aber im Grunde nicht die Vorschriften über Heilung und Unbeachtlichkeit von Verfahrensfehlern in sich, sondern die Art und Weise wie diese Vorschriften von den nationalen Gerichten angewendet werden: in diesem Sinne genügt der Rechtsschutz gegen Verfahrensverstöße des deutschen und des italienischen Verwaltungsrecht den unionsrechtlichen Grundanforderungen, die jetzt zum großen Teil im Art. 41 GRC rechtsverbindlich festgelegt worden sind, nicht54. Das Vorabentscheidungsersuchen vom 6. Oktober 2010 des italienischen Rechnungshofs (Corte dei Conti) im Fall Cicala55 ist ein wichtiger Beweis dafür, dass auch die nationalen Gerichte sich langsam dessen bewusst werden.

52 So Wolfgang Kahl, über einige Pfade und Tendenzen in Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft. Ein Zwischenbericht, in: Die Verwaltung, 2009/4, S. 463 ff. (473). 53 s. m.w. H. von Danwitz (Fn. 25), S. 541 ff.; Classen (Fn. 1), S. 298 ff. 54 Für die Lage im deutschen Recht vgl. u. a. von Danwitz (Fn. 25), S. 543; Wolfgang Kahl, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts als Herausforderung an Systembildung und Kodifikationsidee, in: Die Verwaltung, Beiheft 10, 2010, S. 39 ff. (74). Für die Lage im italienischen Recht vgl. Galetta (Fn. 15), S. 81; dies. (Fn. 51), passim. 55 Corte dei Conti, Sezione Giurisdizionale per la Regione Siciliana (Italien), Teresa Cicala/Region Sizilien, Rechtssache C-482/10, unter http://eur-lex.europa.eu/LexUri Serv/LexUriServ.do?uri=OJ:C:2010:328:0025:0025:DE:PDF. Es ist wichtig hier zu betonen, dass das Vorabentscheidungsersuchen im Fall Cicala auf der im Par. V erwähnten Vorschrift des Art. 1 des ital. Verwaltungsverfahrensgesetzes basiert, der vorsieht, dass auch die rein nationale Verwaltungstätigkeit „von den Grundsätzen der EG-Rechtsordnung regiert ist“.

From the “Rule of Law Revolution” to an Illiberal Democracy in Hungary By Gábor Halmai* In the academic year 1988–1989, which was the most important period of the Hungarian democratic transition I was a fellow of the Alexander von Humboldt Foundation at the University of Cologne, and enjoyed the hospitality of Professor Klaus Stern. I very much remember that in the spring of 1989 at the conference “40 Jahre Grundgesetz”, organized by Professor Stern, I reported about the very idea of establishing a constitutional court in Hungary based on the experiences of the German Federal Constitutional Court and advises of many excellent German constitutional scholars, among them first of all Professor Klaus Stern. Now, after more than 20 years I try to look at the core of the democratisation process and evaluate the role that constitutions and the constitution-making processes played in Hungary. To achieve this aim I would like to discuss (1) the relationship between transition and democratization in general (2) the characteristics of the Hungarian transition to democracy (3) the constitution as the instrument of system change (4) the status of consolidation after twenty years of transition. Comparisons to different other models of transition to democracy as well as of constitutionalisation are planned to help the assessment of the developments, challenges and failures in the process of democratic consolidation. I. Transition and Democratisation Martin Seymour Lipset using Max Weber’s research, discusses two major preconditions of democracy, the institutional and the societal. The institutional or procedural one requires a constitution, a political elite in power, which makes the most important decisions, and a legitimate alternative group, aiming at running for the power. Concerning the societal or substantive preconditions for the stability of democracy, Lipset differentiates between two dimensions: the economic situation and the legitimacy of the political system. In the Weberian approach by Lipset, “legitimacy involves the capacity of the system to engender and maintain the belief that the existing political institutions are the most appropriate ones for the society”.1 * Professor of Law, Eötvös Loránd University, Budapest. 1 S. M. Lipset, Political Man, Anchor/New York 1963, p. 64.

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In his famous article, Transitions to Democracy, which later became one of the emblematic works of transitology, Dankwart Rustow differenciates between three phases of the emergence of democracies: the rise of the new elite beeing the preparatory, the second in which the decision on the new political system is beeing made, and the stabilisation of the new institutions as the third one.2 Following Rustow, Robert Dahl investigated the preconditions of the emergence of democracy, and similar to Lipset separated the institutional and the societal dimensions. The aims of the institutions are first to enable the citizens to work out their preferences, like freedom of assembly, speech and information, second to make them possible to express these preferences, like free elections, and third guaranteeing that the preferences influence the political decisions.3 Among the societal dimensions there are some which are preferable, like a plural economic system, and which are disadvantages for democracy, like a centralized economy.4 The study of Guillermo O’Donnell and Philippe Schmitter uses the more sophisticated terminology of transition, liberalisation, and democratisation. Transition means the change of the political system, while liberalisation means the broadening of human rights, which does not necessarily influences the political decision-making process. Another theory for post-conflict societies suggests a more gradual process, where liberalisation is being delayed rather than rapidly implemented. In order to do this, certain political and economic freedoms should be limited in the short run.5 Democratisation is defined from the perspective of the citizen’s rights and duties. According to the authors the democratic character of a system means not only the citzens’ equal rights in the decision-making process of the community, but also their readiness to obey these decisions.6 The novelty provided by O’Donnell and Schmitter is that they try to define the decisive elements which influence the emergence of the new political system not only at the very beginning but also during the transition. One of these elements is the way of dealing with the past. Another important aspect of democratisation was emphasized by Adam Przeworski, who investigate the division of the elites differenciates between hardliners and reformers within the old elite, and between moderates and radicals within the new one.7 2 Dankwart A. Rustow, Transitions to Democracy: Toward a Dynamic Model, Comparative Politics, Vol. 2, No. 3 (Apr., 1970), pp. 337–363. 3 See Robert A. Dahl, Polyarchy, Yale University Press, 1971, p. 3. 4 Ibid, p. 203. 5 Roland Paris, At War’s End: Building Peace After Civil Conflict. New York 2004: Cambridge University Press. 6 Guillermo O’Donnel/Philippe Schmitter, Tentative Conclusions about Uncertain Democracies, in: Guillermo O’Donnel/Philippe Schmitter/Laurence Whitehead (eds.), Transitions from Authoritarian Rule: Prospects for Democracy, Baltimore 1986: The John Hopkins University Press. 7 Adam Przeworski, Democracy and the Market. Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America, Cambridge 1991: Cambridge University Press.

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In their comprehensive book8, Juan Linz and Alfred Stepan introduce the term of consolidated democracy, which is based both on the procedural, institutional and substantive, behavioural elements. According to Linz and Stepan the criteria of the consolidated democracy are not only the democratic institutions, but also the absent of political actors which aim at overthrow these democratic institutions, and the democratic decisions are generally accepted by the public opinion. Similar to Lipset, Linz and Stepan’s structural view conceptualises the processs of democratic consolidation as taking place on two levels, the first one being procedural/structural and the second more substantive. On the first, institutional level, those political institutions that have been created during the transitions must be strengthened. Linz and Stepan single out three such institutions. First, without what they call a ‘useable bureaucracy’, a democratic state cannot effectively exercise its claim to a monopoly of the legitimate use of force in its territory.9 Second, democratic consolidation must involve the strengthening of the core institutions of a democratic ‘political society’: political parties, elections, political leadership and interparty alliances.10 Thirdly, the structures that ensure horizontal accountability, constitutionalism, and the rule of law must be strengthened. A particularly vital element for the consolidation of democracy is therefore a state governed by the rule of law. Besides these political institutions, a strong civil society and an institutionalised economic society need to be present in order for democracies to consolidate. The second level concerns the normative commitment to democracy on a behavioural and attitudinal level. The two levels are interrelated because the legitimation of democracy that is necessary among political actors and the citizenry at large (the second level) cannot be achieved without some degree of effective governance by the new democratic institutions (the first level). This is the basis of the definition given by Larry Diamond, who construes consolidation as “the process of achieving broad and deep legitimation, such that all significant political actors, at both the elite and mass levels, believe that the democratic regime is the most right and appropriate for their society, better than any other realistic alternative they can imagine”.11 In a consolidated democracy, the rules, institutions, and constraints of democracy come to constitute ‘the only game in town’

8 Juan J. Linz/Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation, Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, Baltimore 1996: The John Hopkins University Press. 9 Juan J. Linz/Alfred Stepan, Toward Consolidated Democracies, in: Larry Diamond/ Marc Plattner/Yun-han Chu/Hung-mao Tien (eds.), Consolidating the Third Wave Democracies: Themes and Perspectives, p. 20, Baltimore 1997: John Hopkins University Press. 10 Ibid, p. 17. 11 Larry Diamond, Developing Democracy: Toward Consolidation. Baltimore 1999: John Hopkins University Press.

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for political competitors, the only viable framework for governing the society and advancing their own interests. Linz and Stepan stress that legitimation must be more than a commitment to democracy in the abstract. By positing overlapping behavioural (i. e. when no significant political group threatens to overthrow the democratic regime), attitudinal (when the citizens prove a strong degree of commitment to democracy) and constitutional dimensions of consolidation, they claim that legitimation must also involve a shared normative and behavioural commitment to the specific rules and procedures of the country’s constitutional system.12 All these elements reveal the extended nature of the consolidation process: it is related not only to the development, strengthening and good functioning of democratic institutions, but also to the entrenchment and deepening of democratic attitudes, both by the elites and by the masses. Consolidation of democracy thus implies, and indeed requires, the emergence of a democratic political culture, which Larry Diamond posits as a central factor in the consolidation of democracy.13 Political culture – both among the masses and especially among the elites – is a crucial issue in post-communist East Central Europe. Indeed, if there is no doubt that the countries in East Central Europe are consolidated on the procedural level, full consolidation on the substantive level leaves to be desired mainly because the political culture in these country is not strong enough. On the other hand Linz and Stepan – similar to O’Donnell and Schmitter – take both the situation before and during the transition into consideration. The most important pre-transitional elements influencing democratisation are the national and state unity of power, the original political system and the economic situation, while during the transition the decisive factors are as follows: the behaviour of the old elite, the strategy of the new one, the external influences, the change of legitimacy of the political system and the way of the constitutionmaking.14 Due to the efforts in the international relations first formulated by Woodrow Wilson in WW I to spread democracy in the whole world, besides these more or less descriptive definitions of democracy, more and more value-based definitions were used. One of them is the concept of liberal democracy, which sets the following requirements: protection of the rights of minorities, the independent judiciary and the rule of law, as well as the respect for basic human rights and the civil society. In contrast with this the illiberal democracy is characterised by 12

Linz and Stepan, 1997, pp. 15–16. Larry Diamond, Introduction: Political Culture and Democracy, in: Larry Diamond (ed.), Political Culture and Democracy in Developing Countries, Boulder 1994: Lynne Rienner. 14 Juan J. Linz/Alfred Stepan, Towards Consolidated Democracies, Journal of Democracy 7.2 (1996), pp. 14–33. 13

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the violence use by the state power, and the ignorance of fundamental rights.15 Francis Fukuyama’s value-based democracy concept is based on the universality of democratic values. Although he argues that national and religious ideologies, strong social tensions and the lack of civil society can hinder the emergence of democracy, but democracy can strike roots all over the world.16 In contrast with this, Samuel Huntington thinks that the definition of democracy is bound to the Christian-Western civilization.17 Without answering the question of universality versus particularily our main focus in this paper is, what role the way of dealing with the past and the making of the constitution played in consolidating the democracy in the countries of East Central Europe.18 The extreme polarisation that exist in these countries twenty years after the transition is partly a result of the lack of political culture. II. The “Hungaricum” of Transition? The common characteristic of the system-change in Hungary was that the country had to achieve the independent nation-state, a civil society with a private economy and democratic structure at the same time. In other words the constitutionalization here was part of a transition to both a Western model of democracy and a market economy. This “dual transition”19 scenario of constitutionalization is significantly different from the scenario of “single transition”, where the only aim to achieve was a transition from a quasi-democratic or authoritarian regime to democracy, as happened in the middle of the 1970s in Southern Europe (Greece 1975, Portugal 1976, and Spain 1978), or in South Africa with the making of the interim Constitution in 1993 and the final one in 1996, and even more different from constitutional reforms that have been neither accompanied by nor the result of any apparent fundamental changes in political or economic regimes, like in the case of Israel. The very first question to be investigated is, how the different categorizations of some political scientists fit to the transitions in Hungary. How can we, for 15 See the concept of liberal and illiberal democracy in Larry Diamond, Developing Democracy, Toward Consolidation, Baltimore 1999: The John Hopkins University Press, and Fareed Zakaria, The Future of Freedom. Illiberal Democracy at Home and Abroad, New York 2003: W. W. Norton and Company. 16 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, London 1992: Penguin Books. 17 Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, London 1997: Touchstone Books. 18 East Central Europe is here used as including the Czech and Slovak Republics, Hungary, Poland and until 1990 the German Democratic Republic. 19 This terms of “single” and “dual” transitions are used by Ran Hirsch, Towards Juristocracy, pp. 7–10, Harvard 2004: Harvard University Press.

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instance, put the countries, representing unique solutions of transition into one of the categories (replacement, transformation, transplacement) used by Samuel Huntington when studying thirty-five so-called third wave transitions that had occurred or that appeared to be underway by the end of the 1980s. He calls the overthrow replacement, while the two less radical types of transition, between which the line is fuzzy, transformation and transplacement. 20 The problem with this kind of categorization starts when we try to put the different countries, representing unique solutions of transition into one of the categories. Evaluating the East Central European transitions, Huntington for instance puts Hungary into the category of transformation, while the events in Poland and Czechoslovakia are characterized as transplacements. In his book, the Magic Lantern, Timothy Garton Ash keeping alive “the revolution of ’89” as he witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin and Prague has coined the term “refolution” for the events of Warsaw and Budapest, because they were in essence reforms from above in response to the pressure for revolution from below, though he uses revolution freely for what happened in Prague, Berlin, and Bucharest.21 The changes in Hungary and Poland were not triggered by mass demonstrations like in Romania, in the former GDR or in Czechoslovakia, and reforms of revolutionary importance interrupted the continuity of the previous regime’s legitimacy without any impact on the continuity of legality. Ralf Dahrendorf another Western observer, argues that “the changes brought about by the events of 1989 were both extremely rapid and very radical (which is one definition of revolutions), at the end of the day, they led to the delegitimation of the entire ruling class and the replacement of most of its key members, as well as a constitutional transformation with far-reaching consequences”.22 But the forces that for instance in Poland helped liberate the society, the church and the labor unions were not present in Hungary, so instead of civil society organization only a reformist elite contributed to the changes. III. The Constitution as the Instrument of System Change The more future oriented issue of transitions is the role of the constitutions in the process of change of system in some post-communist countries, illustrating how constitutions were exclusively political documents before 1989, and how newly established constitutions and institutions, like constitutional courts can serve as both political and legal instruments of change. History shows that while laws change, written constitutions containing fundamental values must remain, 20 See Samuel P. Huntington, The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, Norman 1991: University of Oklahoma Press. 21 See Timothy Garton Ash, The Magic Latern: The Revolution of ’89 Witnessed in Warsaw, Budapest, Berlin and Prague, Random House, 1990. 22 Ralf Dahrendorf, Reflections on the Revolution in Europe, p. 8, Random House, 1990.

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contravening the notion that “Higher Law” is not law at all. Basically this doctrine lies at the root of all natural law theories. Such theories continually revive, especially in moments of acute crisis, such as the collapse of both fascism and communism. When the Nazi-Fascist era shook their faith in legislatures, people began to reconsider the judiciary as a check against legislative disregard of principles that had customarily been considered immutable, and sought to realize those principles. As Mauro Cappelletti formulated in his book23, this process took place in three stages. The first was the adoption of a written constitution. The second was the “rigid” character accorded to modern constitutions. The final stage was the provision of a means for implementing the guarantees contained in the constitution, separate from the legislative power; this would be made operational by the judiciary in some systems by a special constitutional court. Through modern constitutionalism, natural law, placed on a historical and realistic footing, has found a new place in legal thought. The same process occurred in 1989–90, when the communist system changed in Eastern and Central Europe, including the countries of the former SovietUnion. In almost all of these countries, new constitutions were enacted and separate constitutional courts were established. Latvia was the only state in post-communist Europe to return to independence while retaining its pre-World War II constitution of 1922.24 As Eivind Smith states, the different forms of constitution-making that took place in the early 1990s can only be understood as expressions of these countries’ will to rid themselves of the past and enter a new era. In countries such as Estonia, Latvia and Lithuania, the constitution was evidently regarded as an instrument of transformation of their status from having been Soviet republics. In countries with a less painful past, it was rather seen as a symbol of past achievements, as in Norway, or as an expression of how the polity sees itself being governed, shown by the example of Sweden. A better-designed constitution has many advantages, among others it can indeed bring political stability.25 As a counter-example one can mention the case of Latvia, where a large number of formal amendments to its 1922 constitution could be enacted in a short period of time, due to the procedural easy of adopting amendments in the Parliament. The same concern can be raised about the stability of the Hungarian and the Polish constitution, the latter at least until 1997. A very paradoxical aspect of the whole history of East-Central Europe is, that those two countries, i. e. Hungary and Poland, which were the most developed countries, did not enact a new constitution. Poland did it in 1997. But those

23

Mauro Cappelletti, Judicial Review in the Contemporary World, New York 1971. See Eivind Smith (ed.), The Constitution as an Instrument of Change, p. 87, Oslo 2003: SNS Förlag. 25 See Janis Penekis, Amend or Adjust the Constituion, in: Smith (ed.), ibid. p. 82. 24

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countries where the obstacles of a new democracy were seemingly more present, enacted new constitutions very rapidly, e. g. Russia, Bulgaria, Romania. A common negative consequence of the frequent amendments to the constitution both in Latvia and Hungary are the temptations to harness constitutional changes to a popular cause and to exploit both for partisan gain, as for instance the ongoing agitations in both countries for a president elected by “all the people”, which involves the risk that a “strong hand” will solve the endless problems of today’s politics.26 One of the well known examples of the old dilemma of amending or adjusting a constitution, and the rigidity of constitutional amendment procedures is that of Norway, where the constitution dates back to 1814. It is the people’s foremost piece of national and political heritage. In some important aspects the wording seems at odds with what is actually going on; therefore one often has to refer to “constitutional customs” some of which seem to stand in direct contradiction to the written constitution. The way of constitution-making very much depends on the power relations at the time the transition towards democracy starts. The most radical, revolutionary way of transition is the violent overthrow or collapsing of the repressive regime; there is then a clear victory of the new forces over the old order. Democracy can also arrive at the initiative of reformers inside the forces of the past or as a result of joint action by and the negotiated settlement between governing and opposition groups. The different forms of constitution-making that took place in the early 1990s can be understood as expressions of these countries’ will to rid themselves of the past and enter a new era, but through different ways. By now, after twenty years of the transition the constitutionalization can be deemed as more or less closed in all of the East Central European countries, probably with the exception of Hungary. These processes represent three different types of constitution-making: 1.

The earliest, even too early closure with significant legitimation problems happened in Bulgaria and Romania, where the first freely elected parliaments have been elected as a sovereign constituent assembly, like the French one in 1789–1791 and in 1945, or the Weimar Assembly in 1918.

2.

In the Czech and the Slovak Republics the democratically elected normal legislature closed the process in 1992 after the collapse of the formal federal state, had contributed very much to the end of the federation27.

26 See Penekis, in: Eivind Smith (ed.), The Constitution as an Instrument of Change, p. 96, Oslo 2003: SNS Förlag. 27 Andrew Arato, Dilemmas Arising Out of the Power to Create Constitutions in Eastern Europe, in: Michel Rosenfeld (ed.), Constitutionalism, Identity and Difference, City 1994: Duke University Press.

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3.

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In Hungary and Poland formally also the normal, but the illegitimate legislature enacted the comprehensive modifications of the old constitution, but after the peaceful negotiations between the representatives of the authoritarian regimes and their democratic opposition. Similar “pacted constitution-making”28 process happened in Spain in the end of the 70s and in South Africa from the beginning through the middle of the 90s. Even though in Poland the constitution-making process was closed in 1997 by a final constitution, the constitutional courts have played an important role with their activist interpretation in the not finalized constitution-making process.

In Hungary, concepts of transforming the 1949 Stalin-inspired Rákosi-Constitution into a rule of law document were delineated in 1989 in the National Roundtable Talks by the participants of the Opposition Roundtable (OR), the socalled third side and the representatives of the state-party. Afterwards, the illegitimate Parliament only sealed the comprehensive amendment to the Constitution, which entered into force on the anniversary of the Revolution and which is since then – with minor-major changes – the basic document of the “constitutional revolution”. The minutes of the OR and the Tripartite Negotiations29 enable us to receive a better idea what the intention of the “founding fathers” were, and then we can examine how these ideas have been implemented and altered. As the immediate antecedent of the establishment of the OR in March 1989 the concept of the new constitution written by the Hungarian Socialist Worker’s Party (Magyar Szocialista Munkáspárt – MSZMP) had been submitted to the Parliament. Thus, they were afraid that those being in power would create the “new” constitutional framework themselves. During the National Roundtable talks, which started in mid-June, initially the OR tried to prevent this, and considered the adoption of the new constitutional order to be the task of the new Parliament set up after the Parliamentary elections. For example, they did not want to negotiate about creating the institution of the president of the republic at all; instead they recommended that the speaker of the Parliament should be vested temporarily with the powers of the president. Moreover, the participants of the OR had agreed on establishing the Constitutional Court prior to the new Constitution only three days before the negotiations were closed.

28 The term is used by Michel Rosenfeld: The Identity of the Constitutional Subject, London 2009: Taylor & Francis. 29 Bozóki András (szerk.), A rendszerváltás forgatókönyve. Kerekasztal-tárgyalások 1989-ben. I–IV. volumes [The Screenplay of the System-Change. Round-Talks in 1989], Magveto˝ 1999. On the constitution-making procedure see for details: Halmai Gábor, Az 1949-es alkotmány jogállamosítása [Transforming the 1949 Constitution into a Rule of Law Document], in: Bozóki András (szerk.), A rendszerváltás forgatókönyve. Kerekasztal-tárgyalások 1989-ben. Volume VII, pp. 180–199, Új Mandátum Kiadó, 2000.

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Giving up the idea of adopting a new constitution by the democratically elected new Parliament was influenced by various factors. One of them definitely was the fact that the opposition could not be sure that the MSZMP would not win by absolute majority against its rivals who were far less known among the voters. But several signs indicated that they could not exclude, even in case of a relative win, the MSZMP’s ability to form a government. Of course, the MSZMP could not be sure of its success either, thus they were not able to ignore the possibility of the “advance constitution-making”, certainly in exchange of promises to guarantee some of their positions. Such a promise could be on the part of the parties at the end signing the agreement to directly elect the president before the parliamentary elections, which held forth the win of the communist reformer Imre Pozsgay. This was prevented by the success of the referendum initiated by the Alliance of Free Democrats (Szabad Demokraták Szövetsége – SZDSZ) and the Federation of Young Democrats (Fiatal Demokraták Szövetsége – Fidesz). As a result of this the president was elected only after the first democratic elections, by the new Parliament. The published minutes prove: the split between the signatories of the agreement and those who initiated the referendum was caused by the fact that one of the parties pursued a consistent plan to change the regime, while on the other side – allegedly – Antall and Pozsgay agreed on an MSZMP and MDF (Hungarian Democratic Forum, Magyar Demokrata Fórum – MDF) pact. Antall was obviously motivated by the fear that the MSZMP could win, and that is why he wanted to have assurance to receive share in power, so they could win even if they actually loose on the first democratic elections. From the point of view of the transition the happy end of this is that the referendum freed the MDF from the pact with the communists, and this made it possible to come to an agreement with the SZDSZ, which initiated the referendum. This shows that both the state-party and the opposition were motivated not to leave the establishment of the transition’s constitutional framework to a new constitution by the fear that they could loose the democratic elections. Thus the 1989 constitutional amendment inserted new content into the 1949 framework, which can be considered as a rule of law document, even if the Rákosist-Kádárist skeleton lolls out sometimes.30 Apparently the negotiation-based drafting explains that the old-new constitution principally follows the model of a consensual 30 Surprisingly a contrary approach is reflected in the reasoning of the Decision 3/ 2004. (II. 17.) on the possibility of interpellation of the Attorney General, where the justices fifteen years after the transition resulting in a practically new Constitution, perceived the Hungarian constitutional development as a continuum starting from 1949. This is supported by the fact that the Court established periods in the following way: its first stage is the Rákosist. Constitution, the Act no. XX of 1949 (marked as Constitution 1 by the Court, even though in this partition only one exists of this), its amendment during Kádár by Act I of 1972 (the marking of the Court for this is Amendment 1), the second stage is the Constitution of the transition, elaborated by the Roundtable talks, the Act no. XXXI. of 1989 (this is called as Amendment 2).

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democracy widely accepted in the continental European systems. The system of government, which assumes the presence of more than two parties in the Parliament and a coalition-governance, at the same time meant that the parties knowingly rejected both the semi- or full presidential regime that was preferred by the MSZMP and is applied in many post-communist countries even today, and also the English Westminster-type of two-party parliamentarism. If compared to the Western European solutions, the decision-making process set up in 1989–90 has another distinctive characteristic that obviously could be explained by the legacy of the forty-year long totalitarian regime: it is not only based on the consensus among the coalition parties, but in some cases it requires the involvement of the opposition, and it significantly strengthens the checks on the governmental powers. The acts requiring two-third of majority, hence the support of the opposition, in their original forms as “acts with the force of the Constitution” practically called for a two-third quorum in all questions concerning the structure of the government and fundamental rights. The “pact” in 1990 between the biggest governing and opposition party radically reduced the number of the qualified acts. In exchange of this and of the acceptance of the constructive vote of confidence the SZDSZ received the right to nominate a “moderately weak” president of the republic. In 1989 the OR was able to prevent to include the institution of a “moderately strong” president – a position designed for Imre Pozsgay – and with this a semi-presidential system in the Constitution, but the presidential powers of Árpád Göncz were undeniably stronger than those set out in the Act no. I of 1946 with its representative president serving as an example. The rather “neutral” powers of the president mean that he belongs neither to the executive nor to the legislative branch, but rather has an equilibrant role between those. The extremely broad powers of the Constitutional Court compared to other European solutions and the complicated system of parliamentary commissioners can also be traced back to the idea of limiting the executive. The parties of the OR accepted the MSZMP’s plan to set up the Constitutional Court as an institution counterbalancing the executive, like it is prevalent in the consensual democracies of Europe, even for the temporary period prior to the elections. However, instead of a body for preserving the state-party’s power, the opposition insisted on a Court, which radically limits the Parliament and the government and the decisions of which cannot be overturned by the Parliament – as initially proposed by the MSZMP, and where anyone is entitled to submit a petition to review the constitutionality of a piece of legislation. The MDF-SZDSZ “pact” signed after the 1990 spring elections is also the result of the decision-making procedure based on consensus, which was also introduced in the Hungarian political culture by the roundtable talks. Actually, the minutes of the roundtable talks tangibly prove that the preparation of the Hun-

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garian transition was carried out in a consensual way and the participants – obviously feeling the absence of their legitimacy – tried to shape the new constitutional system as a consensual democracy. For this reason, they tried to include the utmost checks on the executive power. At the same time, the technical implementation of the next constitutional amendment showed that the political actors treated the task of defining the relationship among the constitutional institutions as part of a political bargaining process, and for the time being they did not aim at creating final constitutional solutions, what would have meant the adoption of the new Constitution. This is indicated by the fact that József Antall, who had been arguing in favor of a president who is the head of the executive branch and the commander-inchief, as a prime minister during the media war in 1991–92 he requested from the Constitutional Court an opposite interpretation of the Constitution’s provisions on the president’s powers. The Court led by László Sólyom – supplementing the missing provisions of the Constitution – declared that the president in parliamentary systems similar to the Hungarian is not the head of the executive branch, and on the basis of the Constitution and the act on national defense he practically does not have commander-in-chief powers; those are shared by the government and the minister of defense. While the pact of 1990 represented probably the last institutional sign of a consensus between the governing parties (or at least the bigger party) and their opposition (or at least one of them), the constitutional amendment following the pact itself also narrowed the checks on the executive. In the coming parliamentary periods it seemed that the governments would have gladly restricted the constitutional institutions of the consensus-based exercise of governmental powers, first of all the Parliament’s means to control the executive. However, they did not have either the courage or the necessary support to carry out the required constitutional amendments. The Hungarian “constitution-making” of 1989 was criticized by many authors. The American law professor, Bruce A. Ackerman states in his book published in 1992: “the constitutional guarantees of a liberal rule of law state can be established only if a new constitution is adopted, and the possibility to adopt a new basic law fades as the time passes”.31 According to him, there would have been a possibility, and indeed a need, for the adoption of a new constitution in Hungary at the beginning of the political transition, which would have solved the legiti31 Bruce Ackerman, The Future of Liberal Revolution, New Haven 1992. In the beginning of the 1990’s in the Legal Institute of the Hungarian Academy of Science András Sajó prepared the draft of a new constitution, which apart from the reaction by experts did not have any political impact. Sajó András, Egy lehetséges alkotmány [A Possible Constitution], Bence György, Halmai Gábor, Pokol Béla és Sós Vilmos bíráló megjegyzéseivel. A Társadalomtudományi Társaság Füzetei. Bp. 1991.

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macy deficit of the “system change”, similar to what was done with respect to the German Basic Law (Grundgesetz) of 1949. In an interview given a decade later he not only repeats this opinion, but talks about the disadvantages too: “Hungary did not grab the opportunity to pass a constitution. The roundtable of 1989 did not adopt a new constitution. The Constitutional Court by elaborating on fundamental principles in its decision, tried to substitute the new constitution. But it is to be feared that this had been finished when the mandate of László Sólyom expired. Because the appearance of the constitutionalism is not supported by a modern, new constitutional text, but it is based on the interpretation of the current Constitutional Court, the Hungarian constitutional achievements are too fragile and uncertain.”32 After more than twenty years the question remains whether the consolidated constitutional regime in Hungary, which seemed to work, until about 2010, really needed another constitution, or as Ackerman argues, the window of opportunity is already closed, when the “Easter-Constitution” was enacted in April 2011. IV. Democratic Consolidation One of the most important questions is, what role the making of the constitution in 1989–90 and in 2011 played in consolidating the democracy in Hungary and whether the extreme polarisation that exist in this country, more than twenty years after the transition, is the result of the lack of political culture. As it is certain that the criteria of the consolidated democracy are not only the democratic institutions, that were introduced by the early constitutional amendments, but also the absence of political actors aiming to overthrow these democratic institutions, and that the democratic decisions are generally accepted by the public opinion. One as to differentiate between the two levels of the democratic consolidation process, namely the procedural/structural as well as the more substantive one: 1.

The prime question in need of an answer regarding the first, i. e. the institutional level is: How did the structures that ensure horizontal accountability, constitutionalism, and the rule of law get strengthened? Did the institution building established by a new constitutional order lead to a state governed by rule of law? And, besides the political institutions, have strong civil society and an institutionalised economic society been created in order consolidate democracy?

2.

The question concerning the second level, which relates to the normative commitment to democracy on a behavioral and attitudinal level, is: whether a

32 “A magyar alkotmányos vívmányok túlságosan sérülékenyek.” [“The Hungarian Constitutional Achievements Are Fragile.”] Gábor Halmai’s interview with Bruce A. Ackerman, Fundamentum, 2003/2, p. 52.

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broad and deep legitimation has been achieved? In other words, whether or not all significant political actors, at both the elite and mass levels, are convinced that the democratic regime is the right and appropriate one for society, better than any other realistic alternative they can imagine? The recent growth of populism in both the center and the far right, the different movements for geopolitical destabilisation in Europe and the high nostalgia in the country for the old communist regime as well as the easy dismantling of many institutional guaranties of the rule of law after the 2010 parliamentary elections before and in the Constitution by the populist center right government enjoying two-third majority of the mandates reveal the lack of the extended nature of the consolidation process, the emergence of a democratic political culture. The institution building of 1989–90 did not seem to go hand in hand with behavioral development, the entrenchment and deepening of democratic attitudes, both by the elites and by the masses. The center-right government of FIDESZ, the Alliance of Young Democrats, with its tiny Christian democratic coalition partner received more than two-third of the mandates in the 2010 Parliamentary elections, outing a socialist government widely perceived as corrupt and mendacious. The extreme nationalist party, Jobbik, gathered almost as many votes as the socialists, while the Liberal party of former dissidents, which had long been allied with the socialists, disappeared altogether. After the election the government of Viktor Orbán got rid of the highly respected president of the country, the first president of the Constitutional Court, László Sólyom, even though he had originally been nominated by FIDESZ. He has been replaced by a former Olympic medal winner in fencing, whose prime qualification was his de facto promise to rubber stamp the government’s laws. Partly to emasculate Jobbik, Orbán keeps stoking nationalist passions, while confronting his liberal critics with the claim that he is merely carrying out the united people’s will.33 With this overwhelming majority the government was able to amend the Constitution without the votes of the weak opposition parties. In the first two month in office the new Parliament enacted six constitutional amendments, dismanteling important elements of the institutions of rule of law.34 The most controvertial amendment was proposed by the head of the FIDESZ parliamentary fraction, on October 26, 2010, some hours after the Constitutional Court issued its unanimous decision concerning the unconstitutionality and annulment one of the new government’s first laws about the 98% retroactive extra tax on any income over two million forints received either 33 Jan-Werner Müller, Europe needs to send Hungary a signal. It’s time the EU made some noise about Hungary’s attacks on democracy and the rule of law Guardian, 23rd November 2010. 34 See Alice Bota, Und morgen ein König. Premier Orbán versprach Ungarn die Revolution. Seine ersten 100 Tage zeigen: Er meint es ernst. Die Zeit, Nr. 47. 9. September 2010. S. 8.

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as a retirement package or as severence pay. As an immidiate reaction to the decision of the Court a constitutional amendment bared the Court from rendering decisions on budgetary, tax and other economic subjects. After this amendment, the Court has no jurisdiction to make decisions such as they just made concerning the 98% extra tax. And, at the same time, the government passed the “unconstitutional ” law in an almost unaltered form, but even changing the retroactivity period of the regulation from the original one to five years. Prime Minister Orbán’s comment on the affair was “that the old constitution is unable to give proper answers to the problems of the people”, while his minister of economy emphasized the necessary constitutional restraints concerning the economy. But even the unusually issued statement of the Constitutional Court was unable to avoid the reduction of the jurisdiction. The Court stated that “the preservation of the unaltered legal competence of the Constitutional Court is the guarantee of the Hungarian constitutional order. The Hungarian court’s practice of constitutional control of legislation agrees fully with that of other European constitutional courts. There are two requirements the court must keep in mind. The control must be applied to all pieces of legislation equally and those it deems unconstitutional are declared null and void.” As for changing the competence of the Court, the statement “would like to call the attention of the government to the fact that the legislative body must consider the possibility of control emanating from the European Court of Justice and the Euroepan Court of Human Rights on issues that it now wants to take away from the Constitutional Court.” Of course the two-third majority also entitles the governing parties to enact a totally new Constitution, which they announced to prepare in 2011. But this constitutionalist exercise aimed at an illiberal constitutional sort. The basic ideology of his Constitution is based upon Hungary’s thousand years old unwritten historical constitution, and the doctrine of the Holy Crown of St. Stephen. They point to a long historical record of debates over the constitutional basis of the Hungarian state, in which the Holy Crown, given in the year 1000 by the Pope to Stephen, the first Christian king of Hungary, is the central symbol.35

35 The doctrine of the Holy Crown is a serious subject; early medieval sources confirm that Hungarians achieved a constitutionalization of the political structure by locating the sovereignty of the country in this Crown while understanding that the king only held temporary control over the exercise of this sovereignty. As a result, Hungarian constitutional law recognized the temporary and contingent hold over state power that the Hungarian king had long before such limitations were recognized farther to the west in the later theory of the king’s two bodies. See Ernst Kantorowitz, The King’s Two Bodies: A Study in Mediaeval Political Theory, Princeton, NJ, 1995: Princeton University Press. Kantorowicz notes that the Hungarians understood the separation between king and office quite differently, but did not elaborate. Late medieval accounts of the Holy Crown posited it to be the physical instantiation of a set of bargains between the nobility and the king, limiting the king’s power by giving the nobility a right of rebellion in the event that the king reneged on his promises to respect the rights of the

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Current Crown defenders, from the center to the far right of Hungarian politics believe that the comprehensively amended 1949 Constitution of Hungary, forged out of the political changes in 1989 and 1990, is illegitimate. This Constitution, the Crown defenders complain, does not represent the distinctiveness and historical specificity of the Hungarian people. As a result, for the last 20 years, various elements of the Hungarian political right have argued that the new Constitution should be thrown out and the Holy Crown along with its traditions and history should substitute the liberal constitution instead. Indeed, as a result of this the new Constitution declares that Hungary does not accept the legal continuity of the 1949 Constitution, which served as “the basis of a tyrannical rule”. Also the document does not accept any suspension of Hungary’s historical Constitution, and declares that the constitutional state continuity of Hungary is personified by the Holy Crown, a symbol of national unity. Also the “basic law” states that the text of the new Constitution must be interpreted in connection with the preamble and the achievements of Hungary’s historical, unwritten constitution. My conclusion is that even if Hungary was consolidated on the procedural level, full consolidation on the substantive level leaves to be desired mainly because the political culture in the country is not strong enough. At the same time, although some positive examples of certain aspects of consolidation are present in the other countries of the region, they are hardly ever making an influence cross border. Despite the introduction of rule of law and its institutions in the country in 1989 there is still no consensus on constitutional values among the political actors, some actors do not even fully respect these values, and there is no full respect within the society, either.36 What are the reasons that after two decades of the transition in a post-totalitarian country the constitution, the parliament and the constitutional court, especially by deciding the most important issues of the transitional justice (lustration, retroactive justice, compensation, access to the files of the former secrete police) could not achieve full consolidation of democratic values among the members of society. The main reasons for this lack of full democratic consolidation are as follows: 1. There was no real parliamentary democracy in Hungary, only elements of a representative system existed before WW II during governor Horthy’s regime, with strong nationalism and anti-Semitism, and without any kind of human rights nobility. In short, the doctrine of the Holy Crown is a serious business, identified with the history of constitutionalism over centuries. 36 That time opposition leader Viktor Orbán in a speech delivered on November 10, 2009 said the following about the Constitution of the 1989: “There is nothing in the old Constitution to be respected.” The Spring 2010 Parliamentary elections, which lifted him in the position of the Prime Minister he called a “polling booth revolution”, which ended the 20 years of confused transition.

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culture. During the 1920s and 1930s, when Hungary had a far-right government that flirted seriously with fascism, Miklós Horthy governed not only as admiral without a sea, but also as a regent without a king. Horthy relied for some of his authority on his public reverence for the Holy Crown, with which he associated himself whenever possible. He also organized a major national celebration for the Crown in 1937 and took full propaganda advantage of touring the country with the Crown in an open train. While he himself could not claim the title of king, he appeared nonetheless in the place of a king governing the country with a toxic mix of nationalism, xenophobia and disrespect for basic legality and constitutionalism. 2. There was a lack of consensus about democratic values at the time of the transition. The split of the anti-communist coalition partners after the disappearance of the danger of Communist restoration in the countries of the region demonstrate that Anti-communism does not necessarily mean commitments to democratic values and human rights. In the 1998–2002 legislative period the central right government of FIDESZ used the far-right-wing opposition party, MIÉP, the Hungarian Justice and Life Party to frustrate the ability of the opposition to carry out its constitutional tasks. After the 2006 Parliamentary elections Hungary witnessed the even more spectacular rise of extremist right-wing parties. While an undertow of right-wing extremism operated throughout the 1990s, this new extremism has gained a great deal of public political traction in the last five years. A new political party, Jobbik, won 15% of the vote in the European parliamentary election in 2009 and 17% of the vote in the parliamentary elections in April 2010, campaigning on a platform of Euroscepticism, anti-cosmopolitanism and Hungarian nationalism. Operating with its own paramilitary group, the Hungarian Guard, that has been officially banned using militant democratic tactics (but which the party reports is operating anyway), Jobbik has promised to provide police protection to fearful Hungarians who are afraid of “political crime, Gypsy crime and economic crime.” 37 Political crime refers to the self-dealing of politicians, which Jobbik has relentlessly exposed (sometimes accurately, other times with breathtaking disregard of evidence). The party has campaigned against all other parties which Jobbik portrays as being corrupt. They therefore play off the widespread sense in Hungary that all politicians are in the political game only for themselves. (This of course may be most true of Jobbik itself, whose origins date to the time when some politicians on the far-right side of the political spectrum were not supported for key political posts that they wanted both at home and abroad.) Economic crime taps anger about the current economic crisis. Many Hungarians are in dire straits at the moment because their foreign-currency-denomi37 Jobbik’s 2010 electoral program – see http://jobbik.com/temp/Jobbik-RADICAL CHANGE2010.pdf for the English version.

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nated debt suddenly ballooned as the value of the national currency fell relative to other currencies in the recent economic crisis. With many home mortgages denominated in Euros and Swiss francs while salaries were paid in forints, Hungarians suddenly found themselves in deep trouble when the bottom fell out of the national economy. Jobbik tells such people that they have been robbed by foreign interests. “Gypsy crime,” however, is the most dangerous target of Jobbik and their paramilitary alter-ego, the Hungarian Guard. With its thinly veiled racist platform, targeting Roma, Jews and others who are not ethnically Hungarian but who nonetheless live within the borders of the country, Jobbik has been capitalizing on this sense of insecurity among economically precarious Hungarians. Fear is mobilized for political gain when Jobbik argues that the Roma (“gypsies”) simply live off state handouts paid for by the taxes of hard-working Hungarians and that their children turn to crime because their parents don’t share the work ethic or Christian values of “real” Hungarians. In addition, according to Jobbik, the indebted Hungarians who can barely keep their homes were bankrupted by clever Jews running the international banking system. A key feature of the Jobbik political platform is therefore a “Bank for Hungary” (with the implication that it would be run by “real” Hungarians as opposed to the international banks, dominated by Jews). Moreover, Jobbik argues, the multinational companies that are highly visible in the country have come to Hungary to take its national resources in exchange for paying the population lower wages than similarly educated West Europeans, so Hungarians should insist on its own economic independence. It’s a potent and toxic nationalist mix, but it is not a positive political platform. It is only a list of grievances whose underlying causes are cynically mis-portrayed. The program is all dressed up in polite language on the internet, especially in the English translation, but the activities of the group indicate that its program is far less civil. The fact that the Hungarian Guard has already been banned indicates that some militant democratic tools have already been used against Jobbik. Jobbik, however, claims to have a political vision – perhaps best summarized as “Hungary for the Hungarians.” But many of its claims rest on aggressively false portrayals of the situation in which Hungary finds itself. Whipping up nationalist sentiment by blaming Hungary’s predicament on the usual suspects – Jews, Roma and Non-Hungarian foreigners – the Jobbik political platform is not a constitutionalist vision; it consists primarily of fear-mongering and fingerpointing.38

38 See Erich Follath, Europe’s Capital of Anti-Semitism. Budapest Experiences A New Wawe of Hate. Spiegel, Online, 10.14.2010, http://www.spiegel.de/international/ europe/0,1518,722880,00.html. Also a recent statistical survey shows that the radicalism of Jobbik’s supporters can be explained not so much with economic, but more with ideological reasons. See Tamás Rudas, A Jobbik törzsszavazóiról. (About Jobbik’s

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3. The unsolved problems of dealing with the communist past weakened the process of reconciliation in the new democracies. The lack of retributive justice against perpetrators of grave human rights violations and decommunisation through a strong vetting procedure and the lack of restitution of the confiscated properties, as well as the kind of Marshall-plan and an economically and politically independent bourgeoisie with the hope for a speedy economic growth and better living standard, could also contribute to the disappointments. The sound of the losers of the transition could easily cause populism, nationalism, anti-Semitism, anti-secularism, anti-Europeanism, and help to the political actors using these feelings. The question for the future of a fragile democracy, like the Hungarian, whether its democracy can be consolidated or it will fall back into authoritarian systems, or at best into an illiberal democracy, similar to that of the Latin-Americans or the one in Putin’s Russia. The new Constitution adopted in April 18, 2011 seems to strengthen the illiberal elements on the procedural/institutional level of the constitutional system. The most importants of these elements are as follows: a) If both the current institutions of the text and the historical constitution with the concept of the Holy Crown are basis of the constitutional interpretation, we can not be certain that this is still a republican constitutional system, based on rule of law, or instead a feudal one based on nobler prerogatives. If the 1949 Constitution is no more valid, what happens to the jurisprudence of the Constitutional Court between 1990 and 2011, and how can the constitution-making power of the current Parliament, elected according to the rules of the current Constitution be grounded? b) According to the new text the constituant power, in other words the subject of the constitution-making is not the political, but the ethnical-cultural nation, i. e. not the citizens of the country, but the united, since WWI divided nation. c) Through the forced identification with the religious content of the anthem and the reference to the nation-preserving role of Christianity this constituent, ethnic nation is connected with the religiosity, which rejects the very principle of secularism, and contradicts the separation of state and church. d) By declaring that the core values of society are the nation and the family, the latter meaning marriage, which is between a man and a woman, the new constitution tries to regulate the private sphere ideologically not in a neutral way. e) The chapter on fundamental rights has been changed to “liberty and responsibility”, which indeed formulates some new obligations, like the parents’ to Strain-Voters, in: Tamás Kolosi/István György Tóth (eds.), Társadalmi riport, 2010 (Social Report, 2010), TÁRKI, Budapest 2010. 523.

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educate their children, as well as the children’s to take care of their parents, which seem to be conditions for enjoying rights. f) The state structure is basically unchanged, keeping the institutions of a parliamentary democracy, weakening the guarantees of the separation of power. The most important of these limitations is the curtailed competence of the Constitutional Courts, not being able to review legislation on budget and tax matters, unless they were challenged on grounds of some unrelated rights. This means that the Basic Law won’t necessarily be the highest law of the country. The unique institution of the popular action initiating abstract norm control without any personal interest has also been abolished by the new text, and the abstract norm control can only be initiated by the Government, 1/4 of the MPs of the Parliament or by the ombudsman. This means in the current Parliamentary composition that none of the opposition parties will be able to submit alone such a notion. On the other hand the text introduces the German-type constitutional complaint, which means that in the future not only the unconstitutionality of the implemented norm, but also that of the judgment’s can be basis for a challenge. The new Constitution abolishes the current ombudsman system, consisting of four different independent ombudspersons (for data protection and freedom of information, for minority rights, for rights of the future generations, and a general one for all other rights), and place all related matters under the control of a single person.

Grundrechte, due process und die Reform des Verwaltungsverfahrens in Transformationsländern – Das Beispiel Kroatien Von Ulrich Karpen I. Einleitung: Die Transformation in EU-Beitrittsländern Dass der Zusammenbruch des Sowjetsystems und der vielen Staaten, die durch den Einparteienstaat und die kommunistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung geprägt waren, zu einem gewaltigen Gesellschafts- und Rechtstransformationsprozess geführt hat und das noch tut, ist bekannt. Hier soll es nur um einige Probleme gehen, welchen sich die Länder Südeuropas, vornehmlich des Balkans, gegenübersehen, die in eine erweiterte Europäische Union aufgenommen werden wollen und deren Beitrittsvoraussetzungen – zu denen die Standards guter Verwaltung gehören – erfüllen müssen, also Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Mazedonien, jüngst auch das Kosovo. Sie alle gehörten dem zerbrochenen Jugoslawien an. Die hohe Dynamik der EU-Erweiterung, die auch Island, Albanien und die Türkei erfasst, ist der Hintergrund. Das Sicherheitsbedürfnis der meisten Beitrittsstaaten, die Erwartung wirtschaftlicher Entwicklung, aber auch das Interesse der Union an der Erweiterung des Binnenwirtschaftsraumes führen dazu, dass der dringende Vertiefungsbedarf,1 den die Staatengemeinschaft hat, auf mittlere Sicht dem Erweiterungsdruck weichen muss. Gegenstand dieser Darstellung sind Verfahrensprinzipien und Methoden des Entwurfs eines kroatischen Verwaltungsverfahrensgesetzes, der 2006–2007 als ein Element der von der EU für den Beitritt geforderten Verwaltungsreform geschrieben worden ist, mit Veränderungen das folgende Gesetzgebungsverfahren im kroatischen Sabor passiert hat und nach Ausfertigung durch den Staatspräsidenten am 1. Januar 2010 in Kraft getreten ist. Der Entwurf darf insofern über Kroatien hinausgehendes Interesse beanspruchen, als er die vorhergehende einschlägige Gesetzgebung in Slowenien beachtet hat, von einer internationalen Expertengruppe ausgearbeitet wurde und Grundlage gleich- oder ähnlichlautender Entwürfe in Serbien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien usw. ist.

1 Mathias Knauff, Die Erweiterung der Europäischen Union auf der Grundlage des Vertrages von Lissabon, DÖV, 2010, S. 631.

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II. Regeln für gute Verwaltung in den Transformationsländern 1. Voraussetzungen für den Beitritt zur Europäischen Union

Die materiellen Voraussetzungen für einen Beitrittsantrag sind in Art. 49 des Vertrages über die Europäische Union (Vertrag von Lissabon, im Folgenden: EUV) geregelt. Der antragstellende Staat muss die in Art. 2 genannten Werte beachten und sich für ihre Förderung einsetzen (Art. 49 I 1). Nach Art. 2 sind die Werte, auf die sich die Union gründet, nämlich die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, wichtige Beitrittskriterien. Nach Art. 49 I 4 EUV werden bei der Behandlung des Beitrittsgesuches ferner die vom Europäischen Rat vereinbarten Maßstäbe berücksichtigt. Dazu zählen insbesondere die Kopenhagener Kriterien. Sie wurden vom Europäischen Rat am 22. Juni 1993 auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen in Vorbereitung auf die EU-Osterweiterung beschlossen. Sie wurden wiederholt überarbeitet, haben aber – was ihren politischen Teil angeht – weitgehend in Art. 2 EUV Eingang gefunden. Da es hier nur um die grundrechts- und rechtsstaatsgesteuerten Standards guter Verwaltung geht, verdient noch Art. 5 EUV Erwähnung: Abgrenzung der Zuständigkeiten, Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit sind zweifellos bei der nationalen Gesetzgebung zu beachten. Das Gleiche gilt für Art. 11: eine offene, transparente und partizipative Verwaltung ist ein Ziel sowohl der Union wie aller Mitgliedsstaaten. Was das Beitrittsverfahren angeht, braucht hier nur auf Art. 49 ff. verwiesen zu werden.2 Darüber hinaus müssen Staaten, die Mitglied der Union werden wollen, die Standards eines sich entwickelnden europäischen Verwaltungsrahmens beachten.3 Es gibt einen Trend, Institutionen und Verfahren der Verwaltung auf supra- und internationaler Ebene zu vereinheitlichen. An dieser Entwicklung sind nicht nur die Behörden der EU beteiligt, sondern auch Organisationen wie die OECD, die OSCE u. a. Auch die Verwaltungsformen der Mitgliedsstaaten wachsen zu einem einheitlichen europäischen Verwaltungsverbund zusammen. Rechtsvergleichung geht mehr und mehr in Rechtsvereinheitlichung über, unter dem Einfluss von Menschenrechten und Demokratie, Rechtsstaat und seiner spezifischen Ausprägung im Prinzip des due process, des fairen Verfahrens, wie es in Art. 6 der Eu-

2

Knauff (Fn. 1), S. 635 f. Draft Law on General Administrative Procedures of the Republic of Croatia, Projekt „Support to the Civil Service and Public Administration Reform in Croatia“, within the European CARDS 2003 Programme for Croatia, Abschnitt „Introduction and arguments of the legal text, elaborated and submitted to the Central State Office for Administration by the project team of law drafters“, Version: Dezember 2007, S. 22; vgl. http://www.delnrv.ec.europa.eu/index.php?lang=en&content=287 . 3

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ropäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt ist und für alle Staatsgewalten gilt, vor allem für die Verwaltung und die Gerichtsbarkeit. 2. Standards guter Verwaltung

Über die Standards guter Verwaltung herrscht bei den Behörden der EU und der Mitgliedsstaaten weitgehender Konsens: klare Gewaltenteilung, freier Zugang zur Verwaltung, Unbestechlichkeit der Verwaltungsmitarbeiter, Transparenz, Beachtung der Verantwortlichkeit der Organe, Vermeidung von Interessenkonflikten, Einheitlichkeit und Multiethnizität der Erledigung öffentlicher Aufgaben, rechtliches Gehör, willkürfreier Einschätzungsspielraum der Verwaltungsmitarbeiter, Verhältnismäßigkeit der Mittel, Effektivität und Effizienz des Verwaltungshandelns usw. Diese Standards eines fairen Verfahrens4 – due process – sind in der Rechtsstaatlichkeit verankert, die letztlich dem Schutz der Freiheitsrechte des Individuums dient. Gute Verwaltung ist ein Ausschnitt aus dem übergreifenden Prinzip von good government.5 „Good government“ umfasst alle drei Staatsgewalten. In einer Definition der Weltbank6 bedeutet „good government“ die rechtshistorischen Traditionen und Institutionen, die der Durchsetzung staatlicher und substaatlicher Autorität zum Zweck der Verwirklichung des Gemeinwohls dienen. Der Begriff umfasst (a) das Verfahren, in dem Verwalter ausgewählt, kontrolliert und versetzt werden, (b) die Fähigkeit der Regierung, die vorhandenen Ressourcen effektiv einzusetzen und eine wohl abgewogene Politik zu verfolgen, und (c) den Respekt von Bürgern und Staat gegenüber den Institutionen, die die wirtschaftlichen und sozialen Interaktionen zwischen ihnen bestimmen. Hier geht es in erster Linie um die verfahrensrechtliche Dimension von „good government“, also die unter (b) und (c) genannten Aspekte, und zwar bezogen auf die zweite Staatsgewalt, obwohl gerade eine gut funktionierende Gerichtsbarkeit – Verwaltungsgerichtsbarkeit – ein wesentlicher Garant einer guten Verwaltung ist. Das Hauptmerkmal einer guten Verwaltung in Europa besteht in der Verbindung und teilweisen Überschneidung von Rechtmäßigkeit und außerrechtlichen Aspekten. Was die rechtliche Seite angeht, sind in erster Linie die allgemeinen Grundsätze des europäischen Verwaltungsrechts heranzuziehen: Gesetzmäßigkeit, Gleichbehandlung, Verhältnismäßigkeit, Beachtung der legitimen Erwartungen der Bürger gegenüber der Verwaltung, Transparenz, Kontrolle usw. Darüber 4 Friedrich Schoch, Das letzte Mittel, FAZ vom 9. September 2010, S. 8; zu den Einzelheiten vgl. Michael Fehling, Der Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht, Referat auf der Staatsrechtslehrertagung 2010, bisher unveröff. Manuskript von 2010; ferner Ulrich Stelkens, Der Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht, DVBt 2010, S. 1078 f. 5 Ulrich Karpen, Good Governance, in: European Journal of Law Reform 12 (2010), S. 24 f. 6 http://goworldbank.org/MKOGR258VO, 2009-10-25.

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hinaus gelten die wesentlichen Rechte und Pflichten von Verwaltung und Bürgern im Bezug auf das Gemeinschaftsrecht der Union (vgl. zu beidem unten 3.). Letztlich sind die wesentlichen Vorschriften und Regeln der Verwaltungspraxis im Bezug auf den Gedanken der guten Dienstleistung für die Öffentlichkeit zu beachten (vgl. 4.). Die Regeln eines guten Verwaltungsverfahrens haben subjektive und objektive Funktionen. Primär geht es um rechtliche Garantien zum Schutz der Rechte der Bürger in ihren Beziehungen zur Verwaltung und die Konsequenzen von Rechtsverletzungen: Aufhebung von Verwaltungsakten, gerichtlicher Rechtsschutz, Schadensersatz usw. Regeln des Rechts gelten aber auch in Bezug auf das objektive Interesse an guter Anwendung des europäischen und internationalen Rechts und die Definition des öffentlichen Interesses. Außerjuristische Prinzipien guter Verwaltung – wie Effektivität, Effizienz, Qualität, Bürokratieabbau – sind Maßstäbe zur Beurteilung einer guten Verwaltung, deren Ausformung als subjektive öffentliche Rechte – die einklagbar sind – (noch) nicht hinreichend konkretisierbar oder politisch nicht gewünscht ist. Standards guter Verwaltung richten sich an den Bürger – die Verwaltung ist für den Bürger da! –, an Institutionen und an Beamte. 3. Rechtliche Regeln guter Verwaltung

Rechtliche Regeln guter Verwaltung fließen aus verschiedenen Quellen. Zunächst ist Art. 4 EUV zu beachten, welcher die Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedsstaaten verteilt. Artikel 5 ergänzt diese Regelung um Rechtsprinzipien der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Artikel 73 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag) stellt es den Mitgliedsstaaten frei, untereinander und in eigener Verantwortung Formen der Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den zuständigen Dienststellen ihrer für den Schutz der nationalen Sicherheit verantwortlichen Verwaltungen einzurichten. Wichtigste Quellen eines Rechts auf gute Verwaltung sind Artt. 41 und 43 der Europäischen Grundrechtecharta. Artikel 41 I gibt jeder Person ein Recht darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden. Nach Art. 41 II umfasst dieses Recht insbesondere die Rechte, gehört zu werden, Zugang zu den Akten zu erhalten und die Verpflichtung der Verwaltung, ihre Entscheidungen zu begründen.7 Artikel 41 III und IV statuieren Schadensersatzrechte und das Recht auf die eigene Sprache im Verkehr mit den Unionsorganen. Vor ihrer Erhebung zu europäischen Grundrechten wurden diese Verfahrensrechte als Bestandteile guter Verwaltung als allgemeine Rechtsgrundsätze der europäischen Rechtsprechung entwickelt. Sie waren immer mehr als 7 Veith Mehde/Stefanie Hanke, Gesetzgeberische Begründungspflichten und -obliegenheiten, ZG 2010, S. 381 ff.

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programmatische Ziele, nämlich verbindliche Verfahrensgarantien, deren Verletzung zu Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts führt und/oder Schadensersatzansprüche nach sich zieht. Nach Art. 43 Grundrechtecharta haben Unionsbürger das Recht, im Fall von Missständen bei der Tätigkeit der EU-Organe den Europäischen Bürgerbeauftragten anzurufen. Der Bürgerbeauftragte hat in einem vom Europäischen Parlament im September 2001 angenommenen Kodex8 genauer ausgeführt, was das in der Charta verankerte Recht auf gute Verwaltung in der Praxis bedeutet. Die Wirkungskraft des Kodex ist nicht auf Organe und Institutionen der Union beschränkt geblieben. Er wurde vielmehr von einer Reihe von Mitgliedsstaaten und Beitrittskandidaten aufgenommen. Das ist auch weiterhin der Fall. In Art. 8 der Charta ist der Schutz personenbezogener Daten gewährleistet. – Eine weitere Rechtsquelle ist das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, das – als Ausprägung von Grundrechten und Rechtsstaatsprinzip – nicht nur auf zivil- und strafrechtliche Verfahren beschränkt ist, sondern auch auf verwaltungs(prozessuale) Verfahren Anwendung findet. Letztlich sind spezialgesetzliche Bestimmungen des Europarechts zu beachten, wie etwa die Dienstleistungsrichtlinie von 20069 mit der Empfehlung der Einrichtung von one-stop-shops, dem Recht auf Information und Regelungen für die elektronische Verwaltung. 4. Außerjuristische Standards guter Verwaltung

Abgesehen von den allgemeinen Grundsätzen des europäischen Verwaltungsrechts und den durch den Kodex zumindest interpretierten geschriebenen Verfahrensvorschriften des europäischen Rechts gibt es auch außerjuristische Standards eines fairen Verfahrens. Solche Regeln für ethisches, professionelles Verhalten der Verwaltung und für guten Verwaltungsservice entsprechen eher einer „Kultur des öffentlichen Dienstes“ als einer Rechtspflicht. Das trifft zu auf die Pflicht der Beamten, gewissenhaft zu sein, in den Beziehungen mit der Öffentlichkeit ansprechbar zu sein und sich für Fehler, die den Rechten oder Interessen einer Person Schaden zufügen, zu entschuldigen. Manche dieser Regeln sind in einigen Mitgliedsstaaten zwingendes Recht, wie das Erteilen einer Eingangsbestätigung, der Hinweis auf die zuständige Behörde und das Recht auf Begründung jedes Verwaltungshandelns. Normativ könnten sowohl der Kodex wie solche nicht ausformulierten Standards guten Verwaltungshandelns mögliche Entwicklungen des europäischen Verwaltungsrechts (Gewohnheitsrecht?) andeuten.10 Die Grenze 8 http://www.ombudsman.europa.eu/coe/de/default/htm; Joana Mendes, La bonne administration en droit communautaire et le code européen de bonne conduite administrative, in: Revue française d’administration publique 131 (2010), S. 555 ff. 9 Directive 2006/123/EC vom 12. Dezember 2006, Off. Journal L376/36. 10 Vgl. OECD/Sigma (Support for Improvement in Governance and Management)/ EU (Phare) paper Nr. 27: European Principles for Public Administration, CCNM/ Sigma/Puma (99) 44/Rev 1 vom November 1999 und OECD/Sigma/EU paper Nr. 46:

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zwischen rechtlichen und nicht-rechtlichen Standards ist nicht leicht zu ziehen, vor allem dann nicht, wenn die Verletzung ungeschriebener, dennoch gewissermaßen „selbstverständlicher“ Regeln disziplinarisch geahndet wird.11 III. Neue Verwaltungsverfahrensgesetze in Beitrittsländern, insbesondere auf dem Balkan, näherhin in Kroatien 1. Gesetzgebung im Verwaltungsverfahrensrecht zwischen europäischem Umsetzungsdruck und nationalem Gestaltungswillen12

Die Länder des Balkans bereiten sich auf den Beitritt vor und befinden sich in verschiedenen Phasen der Entwicklung. Mit dem Beitritt Kroatiens ist 2013 zu rechnen; es folgen Serbien, Mazedonien, Montenegro; das Kosovo und Albanien möchten sich anschließen. Alle diese Länder haben die Entwicklung des Rechtsstaates und insbesondere einen Umbau ihrer Verwaltung auf die Tagesordnung gesetzt und Hilfe in Anspruch genommen, nicht nur der Institutionen der EU, die auch die Umsetzung der von der Kommission gesetzten Beitrittskapitel überwacht. Ebenso stehen ausgewählte Mitgliedsstaaten der EU bereit und vor allem die OECD, zu deren einem Schwerpunktgebiet der Balkan gehört. Zur Renovierung der Verwaltung, die Kernbestandteil der Beitrittsvoraussetzungen ist, gehören überall in erster Linie zwei Komponenten: der Umbau des öffentlichen Dienstes und – eben – die demokratisch-rechtsstaatliche Gestaltung des Verwaltungsverfahrens. Dabei kann es nicht um die schlichte Übertragung europäischer Standards auf die Rechtsordnung eines Beitrittslandes gehen, geschweige denn um den „Export“ des Verwaltungsverfahrensgesetzes etwa eines Beratungslandes. Export und Import sind eigentlich Begriffe der wirtschaftlichen Terminologie. Hier geht es um den Austausch eines Kulturgutes. Wenn man bei Rechtsund Politikberatung im Ausland auf das Recht des eigenen oder anderer Länder zurückgreift und die Übernahme gewisser Teile oder gar ganzer Gesetze empfiehlt, so sollte von vornherein dreierlei klar sein:13 (a) Fremdes Recht kann niemals eins zu eins übernommen werden. Regelmäßig werden Elemente fremden Rechts mit dem Recht des Beitrittslandes verbunden. Das übernommene Recht The Right to Open Public Administration in Europe: Emerging Standards on Administrative Transparency, GOV/Sigma (2010) 2; Georg Nolte, General Principles of German and European Administrative Law – A Comparison in Historical Perspective, in: Modern Law Review 57 (1994), S. 191. 11 Joana Mendes (Fn. 8), S. 40 f. 12 So – fast gleichlautend – der Titel des Beitrages von Martin Burgi in: ders./Klaus Schönenbroicher (Hrsg.), Die Zukunft des Verwaltungsverfahrensrechts. Zukunftswerkstatt Verwaltungsverfahren: Staat und Wirtschaft, Wissenschaft und Praxis im Dialog, Baden-Baden 2010, S. 31 f. 13 Ulrich Karpen, Das Grundgesetz als „Exportartikel“, in: Rainer Pitschas/Arnd Uhle (Hrsg.), Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, Festschrift für Rupert Scholz zum 70. Geburtstag, Berlin 2007, S. 615 f.

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wird immer angepasst, assimiliert und also verändert. (b) Recht ist kein stofflicher Gegenstand, der einfach „weitergegeben“ oder „aufgenommen“ werden kann. In Wirklichkeit vollzieht sich eine kulturelle Integration von höchst verwikkelter und wandelbarer Schichtung. Ein Gefüge vielfältiger geschichtlicher und sozialer, intellektueller und psychologischer Gruppenprozesse kommt in Gang. (c) Dabei ist die rezipierende Rechtsgemeinschaft nicht Objekt, sondern Subjekt der Rezeption, weil ein Volk Recht nur übernehmen kann, wenn es dieses zu einem Element des eigenen Lebens und Denkens macht. Das alles gilt in ausgeprägtem Maße für die Grundbedingungen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens eines Beitrittslandes, wie die – hergebrachten und in neuen Beitrittsländern oft eben „neuen“ – Auffassungen von Grundrechten, Rechtsstaat, Verwaltung und ihrer Organisation sowie ihres Verfahrens. Das soll an einem Beispiel konkret erläutert werden, nämlich der Ausarbeitung eines Entwurfes eines Verwaltungsverfahrensgesetzes für den Beitrittskandidaten Kroatien.14 Das Projekt war Teil eines Verwaltungsreformvorhabens, das auch die Reform des öffentlichen Dienstes umfasste. Dieses Vorhaben war der OECD übertragen worden und wurde von der EU mit insgesamt 1,7 Mio. A finanziert. Die Entwurfsarbeit begann im Frühjahr 2006 und wurde Ende 2007 abgeschlossen. Mitarbeiter waren zwölf Wissenschaftler und Verwaltungspraktiker, je zur Hälfte aus Kroatien und den Beratungsländern Großbritannien, Deutschland, Österreich und Slowenien. Die Arbeitssprache des Teams war Englisch. Einzelteile des Entwurfs, die vor Abschluss des Projektes in weiteren staatlichen und gesellschaftlichen Kreisen des Landes beraten werden sollten, wurden schrittweise ins Kroatische übersetzt, ebenso wie – natürlich – der fertiggestellte Entwurf. Vorweg sei erwähnt, dass Übersetzungs-, Definitions- und terminologische Probleme bei der Arbeit eine erhebliche Rolle spielten. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass eine Reform des kroatischen Verwaltungsverfahrens keine Übertragung eines „Modells vom Bücherregal“ sein konnte, also nicht als technokratische Prozedur angelegt sein konnte, wurde von Anfang an eine breite Beteiligung der Öffentlichkeit angestrebt und verwirklicht: Verwaltung, Gerichte, Rechtsanwälte, Handel und Wirtschaft, die Universitäten, auch die Ausschüsse des Parlaments und einzelne Abgeordnete wurden regelmäßig unterrichtet und um Vorschläge und Kritik gebeten. Es bestätigte sich die allgemein bei der Auslandsrechtsberatung gemachte Erfahrung, dass es ohne eine Unterstützung von höchsten politischen Entscheidungsträgern aus dem Parlament und dem Kabinett, einschließlich des Ministerpräsidenten, nicht geht. Beträchtlicher Widerstand, gespeist aus Beharrung, Routine, auch politischen Gründen, war 14 Vgl. Fn. 3. Am 25. Juni 2011 feierte die Republik Kroatien den 20. Jahrestag ihrer Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1991. Am selben Tag beschlossen die Staats- und Regierungschefs der EU den Beitritt Kroatiens als 28. Unionsmitglied zum Jahre 2013.

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zu überwinden. Die Einbeziehung politischer Entscheidungsträger wurde durch ein Drei-Stufen-Verfahren sichergestellt. Zunächst wurde ein zweiseitiges policy programme geschrieben, das die Prinzipien einer guten Verwaltung und die Ziele eines grundrechte-rechtsstaatlich bestimmten Verwaltungsverfahrens darlegte. Dieses Papier wurde vom Kabinett gutgeheißen. Sodann wurde ein fünfzehnseitiger Strategie-Entwurf verfasst, der die politischen Leitlinien des allgemeinen Verwaltungsverfahrens erläuterte. Dieses Papier wurde von den Politikern akzeptiert, die mit der Verwaltung näher zu tun haben: dem Justizminister, dem Innenminister und – in erster Linie – denjenigen, die für die gesetzliche Umsetzung zuständig sind, also vom Parlament, vom Innenausschuss und vom Rechtsausschuss. Auf einer dritten Stufe wurde der Gesetzentwurf ausgearbeitet, der dann den gesetzgebenden Instanzen, also der Regierung und durch sie dem Parlament, übergeben wurde. 2. Änderung des geltenden Verwaltungsverfahrensgesetzes oder Neufassung?

Die erste Frage, die sich dem Arbeitsteam stellte, war die, ob man es bei einer Novellierung des geltenden Verfahrensgesetzes15 belassen könne oder ob eine grundlegende Neufassung notwendig sei. Das bisher geltende jugoslawische Verfahrensgesetz, das 2009 abgelöst wurde, stammte im Grunde aus dem Jahre 1930 und war stark vom österreichischen Verwaltungsrecht bestimmt. Zwar waren in der Endphase des Staates Jugoslawien 1986 einige Änderungen vorgenommen worden, ebenso wie bei der 1997 erfolgten Übernahme durch die Republik Kroatien, die sich 1991 für unabhängig erklärt hatte. Vorschriften wurden gestrichen, hinzugefügt, modifiziert usw. Aber alle diese Änderungen haben die wesentliche Struktur des alten Gesetzes nicht verändert. Es umfasste 303 Artikel, war äußerst detailliert und galt nur subsidiär gegenüber Spezialregelungen des Verfahrens in anderen Gesetzen. Vor allem war es im Geiste der vergangenen Staats- und Gesellschaftsordnung geschrieben, spiegelte also die Einheit der Staatsgewalt, das Einparteiensystem, die Orientierung der Verwaltung auf die Bedürfnisse des Staates, nicht der Bürger, wider. Auf der anderen Seite haben die zahlreichen Novellierungen seit 1930 dem Gesetz manche positiven Elemente hinzugefügt, die grundrechtlich und rechtsstaatlich geprägt sind und die es bei einer Neukonzeption unbedingt zu bewahren galt. Dazu gehören das Beschwerderecht, das Legalitätsprinzip, das Prinzip der materiellen Wahrheit, die Garantie von Rechtshilfe im Verfahren für die Beteiligten, die Einrichtung einer mündlichen Verhandlung usw. Das ändert allerdings nichts daran, dass der schiere Umfang des Gesetzes, seine unzulängliche Struktur und mangelnde Transparenz und die man15 Law on General Administrative Procedure, Zakon o opc ´ em upravnom postupku (ZUP), Gesetzblatt von Yugoslawien, Nr. 47/1986, von Kroatien übernommen, Gesetzblatt Nr. 53/1997; dazu vgl. Ivan Kopric, Administrative Procedures on the Territory of Former Yugoslavia, Zagreb 2006, S. 4.

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gelnde Berücksichtigung der neuen europäischen Standards sich als Hemmschwellen für eine moderne effektive und effiziente Verwaltung erwiesen. Diese Auffassung hatte sich 199616 auch der Verfassungsgerichtshof von Kroatien zu eigen gemacht. So entschied sich die Regierung auf Empfehlung der Arbeitsgruppe für die Ausarbeitung eines neuen Entwurfs, wie es übrigens auch Slowenien vor seinem Beitritt getan hatte. Zusammengefasst waren es die folgenden Argumente, die diese Weichenstellung veranlassten. Die Komplexität und Aufsplitterung der Verfahrensregeln machten es der nach der Unabhängigkeitserklärung und der mit ihr folgenden Reform veränderten Verwaltung in personellen wie organisatorischen Fragen schwer, Kenntnisse zu erwerben, Routine einzuüben, sich mit der Kultur verantwortungsbewusster, selbständiger, professioneller Verwaltung vertraut zu machen. Unter dem alten Gesetz war es schon schwer bis unmöglich, überhaupt einen Überblick über die Struktur einer rechtsstaatlichen Rechtsordnung zu gewinnen, etwa inhaltlich und formal gesetzliche Vorschriften17 von Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften18 zu unterscheiden: das Gesetz enthielt Vorschriften aller Kategorien. Die Anlage des Gesetzes war formalisiert und detailliert. Im Unterschied zum Gewaltenteilungsprinzip in einem demokratischen Rechtsstaat handelte es sich bei dem alten Verfahren eher um ein gerichtsförmiges Verfahren, nicht jedoch um ein Verwaltungsverfahren, das schnelle Entscheidungen erlaubte. Ferner war das Gesetz gesetzestechnisch mangelhaft.19 Es hatte nicht die hinreichende Abstraktionshöhe, so dass viele Sonderregelungen in Spezialgesetzen notwendig waren. Auch waren die lokale und regionale Selbstverwaltung nicht in ausreichendem Maße mit der Staatsverwaltung verbunden. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das alte Verfahrensgesetz den Anforderungen an eine moderne Verwaltung nicht genügte. Die europäischen Verwaltungsstandards, der wachsende Bestand europäischen Rechts, gute europäische Verwaltungspraxis, weitgehende Erfolge der Verwaltungsvereinfachung sowie die Verbesserung gesetzgebungstechnischer Instrumente sollten sich in einem neuen kroatischen Verwaltungsverfahrensgesetz niederschlagen. So ist es etwa Allgemeingut, dass der Gesetzgeber nicht alle Verwaltungskonstellationen voraussehen kann, eine eher generelle und abstrakte Regelung also detaillierten Vorschriften vorzuziehen ist. Eines der Kernprobleme der kroatischen Verwal16

US – 248/94 vom 13.12.1996. Vgl. jetzt Tatijana Temelkoska-Milenkovicz/Ulrich Karpen, OSCE-Manual on Secondary Legislation for the Republic of Macedonia, Skopje 2011. 18 Felix Uhlmann/Iris Binder, Verwaltungsverordnungen in der Rechtssetzung: Gedanken über Pechmarie, in: LeGes, 2009, Heft 2, S. 151 (153). 19 Ortlieb Fliedner, Sigma Report on the Law on General Administrative Proceedings, August 2005, S. 4. 17

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tung kann auch nur durch eine völlige Neuregelung bewältigt werden: die umfassende Hierarchisierung des Entscheidungsprozesses. Der Umstand, dass die Letztentscheidung nur durch den Behördenchef – Minister, Präsident, Direktor – getroffen werden kann, führt zu enormen Verzögerungen des Verwaltungsverfahrens und – was schlimmer ist – zur Entscheidungsunfähigkeit und Verantwortungsscheu der nachgeordneten Verwalter. Ferner muss die Verwaltung – nicht nur, aber eben auch – durch ein neues Verfahrensgesetz, mit neuen Instrumente der Verwaltung vertraut gemacht werden: I-und-K-Technik, e-government, onestop-shops usw. Das ganze Handwerkszeug des New Public Management20 muss das Land instandsetzen, mit der Verwaltung der EU-Behörden und anderer Mitgliedstaaten Schritt zu halten und mit der Neuordnung zugleich Bürokratie abzubauen. 3. Prinzipien, rechtlicher Rahmen und Methodik des Entwurfs

Das neue Verfahrensgesetz ist ein wichtiger Beitrag zu einer umfassenden Reform der kroatischen Verwaltung. Der Entwurf stellt eine Balance her zwischen den Notwendigkeiten einer objektiven und schnellen Verwaltungsentscheidung einerseits und dem rechtsstaatlichen Schutz der Grundrechte und Interessen der Verfahrensbeteiligten andererseits. Das neue Gesetz steht im Einklang mit der Verfassungsordnung und bewährten Prinzipien und Werten der Rechtsordnung des Landes, ferner mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und den internationalen Verpflichtungen Kroatiens, u. a. dem acquis communautaire und den Qualitätsstandards einer modernen öffentlichen Verwaltung und guter Gesetzgebungstechnik. Die rechtlichen Grundlagen des Verwaltungsverfahrens liegen vor allem in den Grundrechten, der Demokratie und dem Rechtsstaatsprinzip. Menschenwürde und Freiheitsrechte bestimmen das (neue) Verhältnis des Bürgers zur Verwaltung: die Verwaltung ist für den Bürger da, nicht umgekehrt. Gleichheit ist ein Element sowohl des Grundrechte-Rechtsstaats wie der Demokratie. Im Gesetzentwurf finden Daten- und Geheimnisschutz ebenso Niederschlag wie transparente und zugängliche Organisation, ebenso die Teilnahme, faire Anhörungsrechte und Rechtsmittel als Verfahrenselemente. Das demokratische Prinzip muss in Beitrittsländern gewährleisten, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und 20 Ulrich Karpen, Staatsmodernisierung und Bürokratieabbau, in: Norbert Röttgen/ Bernhard Vogel (Hrsg.), Bürokratieabbau in Deutschland, Entstehung, Praxis und Perspektiven, Baden-Baden 2010, S. 231 ff.; vgl. auch „Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung“, Diskussionspapier der Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2008; kritisch zu dieser Entwicklung Wolfgang Drechsler, The Re-Emergence of „Weberian“ Public Administration After the Fall of New Public Management: The Central and Eastern European Perspective, in: Haldu˘s Kultu˘u˘r, 2005, Nr. 6, S. 94 ff.; ebenfalls kritisch Jon Pierre/B. Rothstein, Reinventing Weber: The Role of Institutions in Crating Social Trust, in: Per Lagreid/Tom Christensen (Hrsg.), The Ashgate Research Companion to New Public Management, Burlington (Ashgate) 2010, S. 407 ff.

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vom Parlament und anderen repräsentativen Körperschaften durch Rechtsakt legitimiert ist; die Verwaltung ist – zweitens – Bewahrer des öffentlichen Interesses, zugleich aber Dienstleister für den Einzelnen und die Gesellschaft. Die praktische Seite des demokratischen Umbaus der Verwaltung sind – drittens – Bürgerbeteiligung und eine offene, transparente und objektive Verwaltung, die frei ist von illegaler und illegitimer Einflussnahme. Das Rechtsstaatsprinzip muss in Organisation und Verfahren der Verwaltung seine Konkretisierung erfahren. Es gelten Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Vertrauensschutz und Vorhersehbarkeit von Verwaltungshandeln, klare Kompetenzverteilung und Rechtsmittel. Einige Elemente rechtsstaatlicher Verwaltung sind im Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention als due process (faires Verfahren) aufgelistet. Zusätzlich zu den durch die Grundrechte und das Demokratieprinzip herausgehobenen garantierten (und bereits erwähnten) Grundsätzen guter Verwaltung sind zu nennen: Schutz vor rückwirkenden Gesetzen, Rechtshilfe, Recht auf sprachliche Verständlichkeit des Verwaltungsablaufes, das Recht, an der Befragung von Zeugen und Sachverständigen teilzunehmen, Informationsrecht, Vermeidung von Interessenkonflikten, Recht auf Entscheidung innerhalb eines vertretbaren Zeitraums, Staatshaftung bei rechtswidrigem Verwaltungshandeln. Alle diese Verfahrensregeln gewährleisten „Waffengleichheit“ von Verwaltung und Beteiligten. Letztlich gilt der überwölbende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Methodisch musste der Entwurf in Aufbau, Gliederung, Sprache usw. den Regeln moderner Legistik folgen.21 Regierung und Verwaltung Kroatiens hatten sich schon vor der Entwurfsausarbeitung in Theorie und Praxis mit dem Stand der Gesetzesfolgenabschätzung in Europa vertraut gemacht.22 Zur Erleichterung von Ausbildung, Studium und Verständnis durch den Bürger wurden Definitionsartikel aufgenommen (was sind das Verfahren, Beteiligte, Dokumente, Zeugen, Verwaltungsakt usw.). Nicht zuletzt durch klare Struktur, konzise Terminologie und großzügigen Gebrauch der (Binnen-)Verweisungstechnik ist es gelungen, den Gesetzentwurf auf 140 Artikel zu beschränken. 4. Kernpunkte des Inhalts und der Struktur des Entwurfs

Der Entwurf nimmt sich explizit – und hat insofern auch eine edukatorische Seite – folgender Grundfragen des Verwaltungshandelns an: Funktion des Verfahrens, die Rolle des Bürgers im Verfahren, besondere Verwaltungsentscheidungen, neue Organisationsformen und I-und-K-technische Hilfsmittel, und versucht, 21 Ulrich Karpen, Instructions for Law Drafting, in: European Journal of Law Reform, Nr. 10, Heft 2 (2008), Sir William Dale Memorial Issue, Utrecht 2008, S. 163 ff. 22 Ulrich Karpen, Gesetzesfolgenabschätzung, in: Sabih Arkan et al. (Hrsg.), Prof. Dr. Tugrul Ansay, A Armagan, Ankara, 2005, S. 173 ff.; ferner Ulrich Karpen/Iris Breutz/Anja Nünke, Gesetzescheck, Die Gesetzgebung der Großen Koalition in der ersten Hälfte der Legislaturperiode des 16. Deutschen Bundestages (2005–2007), Veröffentlichungen der Fachhochschule des Mittelstandes (FHM), Bielefeld 2008.

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durch eine neue Struktur des Gesetzes Transparenz und Rechtssicherheit zu befördern. Zunächst zu den Funktionen des Verfahrens. Als Ziel des Gesetzes nennt Art. 1 die wirksame Erfüllung öffentlicher Aufgaben. Das wird im Einzelnen ausgeführt. Das Verfahren soll die unkomplizierte, angemessene und zügige Entscheidung von Verwaltungsagenden ermöglichen (Art. 2). Das alte Gesetz galt subsidiär, mit der Folge, dass Spezialverfahrensregeln in nicht weniger als 65 Gesetzen enthalten waren. Das Allgemeine Verwaltungsverfahrensgesetz lief auf weite Strecken leer. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis dreht der Entwurf um. Natürlich kann das Gesetz das Parlament nicht binden, keine Sonderregelungen zu treffen, aber es ist (Art. 3) ausdrücklich Ausgangspunkt für eine dynamische Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrens, mit allen Konsequenzen der Verwaltungsvereinfachung, Kostenreduzierung und Effektivitätssteigerung. Der Entwurf macht ferner durchgehend deutlich, dass die Verwaltung dem Bürger dient, um ihm Zugang zu Behörden und Rechtsschutz zu verschaffen. Due process gewährt nicht nur Schutz durch die Verwaltung, sondern auch vor ihr. Unter „besondere Verwaltungsentscheidungen“ rubriziert der Entwurf Ermessens- und Beurteilungsentscheidungen (Art. 5), Rücknahme und Widerruf (Artt. 73 und 74), Zustellung und Vollstreckung (Teile V und VI). Organisatorisch und technisch neu sind die explizit geregelte Einrichtung von one-stop-shops (Art. 22) und der Hinweis auf Mittel des e-government (Art. 38). Die Struktur des Entwurfs ist übersichtlich in acht Teile gegliedert. Teil I befasst sich – wie deutlich wurde – mit sehr prinzipiellen Fragen des Neubaus der kroatischen Verwaltung. Teil II, der umfangreichste, geht in die Einzelheiten des Verfahrens: Behördenbegriff, Beteiligte, Verfahrensphasen (Eröffnung, Beweisverfahren usw) des nichtförmlichen und des förmlichen (öffentlichen) Verfahrens. Teil III regelt neben dem Verwaltungsakt neue Verfahrensarten, etwa den öffentlich-rechtlichen Vertrag. Artikel 66 führt den „fiktiven Verwaltungsakt“ ein. Wenn die Verwaltung eine von ihr selbst gesetzte Frist für die Entscheidung nicht einhält, gilt der Verwaltungsakt als erlassen.23 Ebenso sind public-privatepartnerships ausdrücklich geregelt (Art. 84). Teil IV ist den Rechtsmitteln gewidmet. Ein Widerspruchs- und Beschwerdeverfahren ist dem Verwaltungsgerichtsverfahren vorgeschaltet. Teil V regelt die Bekanntgabe von Entscheidungen und die Zustellung, Teil VI die Kosten, Teil VII die Vollstreckung, Teil VIII die Übergangs- und Schlussbestimmungen.

23 Vgl. Art. 13, Abs. 3 und 4 der EU-Richtlinie 2006/123/EC (Dienstleistungsrichtlinie).

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IV. Abschließende Bemerkung: Drei Beobachtungen Bei der Mitwirkung an einem so umfassenden Gesetzgebungsprojekt in einem Beitrittsland aus der Gruppe der Transformationsstaaten auf dem Balkan lassen sich – wie in den Nachbarländern – drei Beobachtungen machen. Zunächst eröffnet der Neuanfang die Möglichkeit, manche moderne Regelungen frisch zu formulieren, die in alten Mitgliedstaaten über die Jahre durch Änderungsgesetze in bestehende Gesetze hineingeflickt worden sind. Das gilt insbesondere für europarechtliche Entwicklungen. Hier ist das deutsche Verwaltungsverfahrensgesetz nicht ausgenommen, das 1976 in Kraft getreten ist und natürlich auch in die Jahre gekommen ist. Zweitens wird in einem Land, dessen Verwaltung einen großen Sprung machen will und muss, besonders deutlich, dass es ohne entschiedene Unterstützung, gar Druck, von höchster politischer Stelle nicht geht. Eine konservative Grundhaltung gibt es in jedem Land, und die Verwaltung gilt im allgemeinen als nicht besonders innovationsgeneigtes Segment von Gesellschaft und Staat. Drittens und letztens hat es ein Gesetzentwurf, der „nur“ ein Gebiet der Verwaltung regelt – eben das Verfahren – natürlich immer mit dem Stand, den Zielen, den Aufgaben und der gesamten Verwaltung zu tun. Und da zeigt es sich, dass das Recht ein wichtiger, aber letztlich nicht der entscheidende Faktor der Transformation, der Angleichung, des Beitritts ist: Wichtiger sind vielmehr die Auswahl, die Ausbildung, die Weiterbildung, das Führungsklima des gesamten Personalkörpers der Verwaltung und die Akzeptanz der Neuerungen durch die Gesellschaft, angeleitet durch eine kluge und modernisierungswillige Politik. Letztlich kommt es also auch hier – in einem etwas anderen Sinne als vorher ausgeführt – doch auf die Menschen an.

Demokratisierung, Gewaltenteilung und Staatlichkeit Eine verfassungsrechtliche Betrachtung der politischen Entwicklung und Verfassungsreformen in Taiwan seit dem Zweiten Weltkrieg Von Chien-liang Lee* I. Einleitung und Ausgangspunkte Aus der verfassungsrechtlichen Sicht zieht der vorliegende Beitrag eine Zwischenbilanz und Zukunftsbetrachtung der politischen Entwicklung in Taiwan seit dem Zweiten Weltkrieg. Es wird eine Analyse anhand der taiwanischen Verfassungsrechtsprechungen (Verfassungsauslegungen), die von den Hohen Richtern des Justiz-Yuans1 gemacht werden, vorgenommen. Dabei wird auch die Frage erörtert, in welchem Maße die deutsche Verfassungsrechtsprechung und Verfassungslehre die Praxis der taiwanischen Verfassungsreformen und politischen Entwicklung beeinflusst haben. Die politische Entwicklung in Taiwan lässt sich unter drei Aspekten betrachten: (1) Demokratisierung, (2) Gewaltenteilung, (3) Kampf um Staatlichkeit; all diese Aspekte sind eng miteinander verzahnt und beeinflussen sich gegenseitig. Zunächst gehe ich von den folgenden Überlegungen bezüglich des Verhältnisses zwischen Verfassung und Staat aus, bevor ich auf die Einzelheiten der politischen Entwicklung in Taiwan eingehe. Die Verfassung, der das Prinzip der Volkssouveränität zugrunde liegt, sieht die Funktionen und Organisationen der verschiedenen Staatsgewalten vor und hält die individuellen Rechte des Bürgers fest. Das Prinzip der Volkssouveränität bestimmt das Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt. Die Verfassung, als politisch-rechtliche Grundlage eines Staates, beruht danach auf der verfassungsgebenden bzw. -ändernden Gewalt des Volkes. Diese Überlegungen werden dann weitergeführt, um Entwicklung und Reform * Research Professor, Institutum Iurisprudentiae, Academia Sinica, Taipei, Taiwan; Professor of Law, College of Law, National Taiwan University, Taipei, Taiwan. Für die sprachlichen Korrekturen des vorliegenden Beitrages gilt der Dank des Autors Frau Jenny Döge (wissenschaftliche Mitarbeiterin von Professor Siekmann). 1 Die Hohen Richter des Justiz-Yuans gleichen den Bundesverfassungsrichtern in Deutschland. Das Wort „Yuan (院)“, das dem Wort „Hof“ gleicht, in der taiwanischen Verfassung ist eine Art von „Staatsrat“, der die Funktion eines „Verfassungsorgans“ wahrnimmt. Die Entscheidungen der Hohen Richter werden nicht als „Urteile“ oder „Beschlüsse“, sondern als „Auslegung“ verkündet.

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der Regierungssysteme in Taiwan zu beleuchten. Zu fragen ist allerdings, welcher Art das in Taiwan entwickelte Verfassungsverhältnis ist. Geht vom ihm die integrative und identitätsstiftende Wirkung aus, die Merkmal erfolgreicher Verfassungen ist? Wurde bzw. wird die Verfassung bewusst als Integrationsmittel eingesetzt? Diese Fragen sollen in dem folgenden Beitrag untersucht werden. Dabei werden vor allem die verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte, Verfassungsdokumente und Verfassungsjudikatur im Mittelpunkt stehen.

II. Hintergrund der Verfassungsentwicklung und -reformen in Taiwan Die Verfassung, auf der Taiwan heute beruht, geht auf die am 25. Dezember 1946 durch die Nationalversammlung, die von der damaligen Regierungspartei der Chinesischen Nationalpartei (Kuomintang, KMT, 國民黨 ) beherrscht wurde, gebilligte, am 1. Januar 1947 verkündete und am 25. Dezember desselben Jahres dann in Kraft getretene „Verfassung der Republik China“ zurück. Als diese Verfassung 1946 in Kraft trat, sprach die Kommunistische Partei Chinas (CKT, 中國共⫶黨 ) von ihrer Bereitschaft, am demokratischen Aufbau des Landes teilzuhaben, nahm jedoch nicht an den anschließend stattfindenden Wahlen für die Nationalversammlung und den Legislativ-Yuan im Jahr 1947 teil. Die gewählte Nationalversammlung beschloss am 18. April 1948 als erste Maßnahme „Die vorläufigen Bestimmungen während der Periode der Mobilisierung zur Unterdrückung der kommunistischen Rebellion“ (The Temporary Provisions Effective During the Period of Communist Rebellion, 動員戡亂時期臨時條款 , abgekürzt: „Interim-Bestimmungen“), die dem Präsidenten große Vollmachten zubilligten und gesamtchinesische Wahlen auf die Zeit danach verschoben. Diese quasi konstitutionellen Bestimmungen waren bis 1991 in Kraft und verhinderten demokratische Entwicklungen in Taiwan. Anfang 1948 brach der Bürgerkrieg zwischen den beiden Parteien erneut aus. Nach dem verlorenen Bürgerkrieg 1949 gegen die CKP floh die KMT nach Taiwan, wo sie die Republik China formell fortführte und bis 1990 diktatorisch regierte. Außer den „Interim-Bestimmungen“ wurde dann in Taiwan im Jahr 1949 der Ausnahmezustand verhängt. Es dauerte 38 Jahre bis dieser Ausnahmezustand am 14. Juli 1987 endlich aufgehoben wurde. Bis dahin befand sich Taiwan unter der autoritären Herrschaft der KMT. Während dieser Zeit war Taiwan de facto keine echte Demokratie, vielmehr eine Diktatur. In Taiwan stellte also die Aufhebung des Ausnahmezustands in etwa die Wasserscheide der politischen Entwicklung dar.

III. Demokratisierungsprozesse in Taiwan Die Demokratisierungsprozesse in Taiwan lassen sich in vier Phasen aufteilen und anhand von vier Verfassungsauslegungen der Hohen Richter beleuchten:

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1. „Langes Parlament“ und Pseudo-Demokratie (1949–1980)

Nachdem die CKP in China die Macht übernommen hatte und die Volksrepublik China am 1. Oktober 1949 gegründet wurde, bemühten sich die 1947 letztmalig gesamtchinesisch gewählten Abgeordneten, weiterhin mit kleinerer Besetzung ab 1950 in Taiwan zu tagen2. Weil freie Wahlen in Taiwan damals nicht möglich waren, wurde es so lange von den letzten (mehr oder weniger) frei gewählten Abgeordneten vertreten, bis wieder freie Wahlen möglich waren. Verfassungsrechtlich wurde dies zuerst bezüglich des Legislativ-Yuans und des Kontroll-Yuans durch die Auslegung Nr. 31 vom 19. Januar 1954 bestätigt, in der die Hohen Richter argumentierten: „Unser Staat ist in schwere Kalamitäten geraten, die die Wiederwahl der zweiten Periode beider Yuans de facto unmöglich gemacht haben. Es würde dem Zweck der Verfassung, ein Fünf-Yuan-System zu etablieren, widersprechen, wenn die Mitglieder des Legislativ-Yuans und des Kontroll-Yuans aufhören würden, ihre Kompetenzen auszuüben. Infolgedessen sollen die Erstperiode-Abgeordneten der beiden Yuans ihre Kompetenzen weiter ausüben, bis die Zweitperiode-Abgeordneten der beiden Yuans gesetzesgemäß gewählt werden und tagen.“

Die gleiche Argumentation findet sich auch in der Auslegung Nr. 85 vom 12. Februar 1960, die sich auf das Problem der Kalkulation der „gesamten Zahl der Abgeordneten der Nationalversammlung“ bezog, die für die Wahl des Staatspräsidenten zuständig war. In der Begründung führten die Hohen Richter wie folgt aus: „(. . .) Unser Staat hat die Territorialität auf dem Festland China verloren und ist in schwere Kalamitäten von mehr als einem Jahrzehnt geraten. Ein Teil der Abgeordneten ist dadurch verhindert, an der Sitzung teilzunehmen. Ihre Sitze sind auch nicht von anderen zu ersetzen. (. . .) Dass die obengenannten Situationen, die verfassungsrechtlich vorgesehenen Funktionen der Nationalversammlung schließlich verhindert haben, konnte der Verfassungsgeber nicht ahnen. Die gegenwärtige Situation stellt eine schwerwiegende Änderung dar, die noch gravierender als zuvor ist. Damit der Verfassungszweck zur Etablierung der Nationalversammlung respektiert werden kann, ist die ,gesamte Zahl der Abgeordneten der Nationalversammlung‘ die Zahl der gesamten Abgeordneten, die gesetzesgemäß gewählt und in der Lage sind, an der Sitzung teilzunehmen. (. . .).“

Nach den verfassungsrechtlichen Auslegungen Nr. 31 und Nr. 85 wurden die gewaltige Mehrheit der Parlamentssitze für das Festland China von den Abgeordneten der KMT eingenommen, die in der letzten gesamtchinesischen Wahl vor 1949 gewählt und dann nach Taiwan geflohen waren. Dadurch entstand das sog. „Lange Parlament“. Diese Konstruktion führte dazu, dass bis 1992 die Bürger in Taiwan immer nur die wenigen Abgeordneten Taiwans durch die sog. „Zusatz2 Die Auslegung Nr. 76 erklärt, dass die Mitglieder des Legislativeyuans, des Kontrollyuans und der Nationalversammlung quasi Abgeordneten des westlichen Parlaments gleichen, die qualifizierte Repräsentanten für die Teilnahme an den Tätigkeiten der Inter-Parliamentary Union sind.

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wahlen“ zur Nationalversammlung und zum Legislativ-Yuan wählen oder abwählen konnten. Diese Zusatzwahlen boten aber zugleich eine politische Bühne für die Opposition, die dem spätestens ab 1986 einsetzenden Demokratisierungsprozess in Taiwan Impulse gegeben hat. 2. Oppositionsbewegung und Kampf um Demokratie (1980–1991)

Seit Mitte der 1980er Jahre wuchs im Zuge der stürmischen wirtschaftlichen Entwicklung und Industrialisierung die neue Unternehmerschicht und die häufig akademisch gebildete Mittelschicht in Taiwan an. Dazu kam eine zunehmende internationale Verflechtung, und es entstand inzwischen ein neues politisches Bewusstsein, das auf die Einlösung demokratischer Reformen drängte. Politische Demokratisierung, wirtschaftliche Liberalisierung und soziale Veränderung erzeugten bei den Bürgern das starke Bedürfnis nach einer verfassungsrechtlichen Reform. Im September 1986 wurde die Demokratische Fortschrittspartei bzw. die Demokratische Progressive Partei (DPP, Mínjìndang, 民進黨) aus der Oppositionsbewegung heraus, entgegen dem bestehenden Parteienverbot, gegründet. Im selben Jahr noch nahm sie (als illegale Partei) an den Zusatzwahlen teil und erlangte dabei einen Achtungserfolg. Erst mit der Aufhebung des Ausnahmezustands im Jahr 1987 öffnete sich die Politik in Taiwan de jure hin zu einem Parteienpluralismus. Das lange nicht wiedergewählte Parlament und das damit verbundene Politiksystem waren nicht mehr von den Bürgern zu ertragen. Außer den demokratischen und sozialen Bewegungen spielte die Auslegung Nr. 261 vom 21. Juni 1990 für die demokratische Transition Taiwans eine ausschlaggebende Rolle. Ohne diese Verfassungsauslegung wäre die Demokratisierung in Taiwan kaum möglich gewesen. Diese, auf den vom damaligen Legislator Chen Shui-bian und anderen gestellten Antrag gefällte Auslegung, hat folgende Grundsteine zur Demokratisierung und Herausbildung des Staates als Rechts- und Verfassungsstaat festgelegt: (1) periodische Wahl der Repräsentanten ist eine wesentliche Avenue, den Willen der Bürger zu reflektieren und das demokratische Verfassungssystem umzusetzen. (2) die Auslegung Nr. 31 beabsichtigte nicht eine unbefristete Ausübung der Kompetenzen der letzten gewählten Abgeordneten zuzulassen. (3) In der Tat haben seit 1969 regelmäßige Wahlen im sog. „Freien Gebiet“ stattgefunden, um schrittweise die Repräsentation der staatlichen Organe zu verstärken. (4) Um mit der gegenwärtigen politischen Situation zurechtzukommen, haben die Abgeordneten, die in der letzten Wahl vor 1949 gewählt waren, bis zum 31. Dezember 1991 mit ihrer Amtsausübung aufzuhören3.

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(5) Allerdings sind die Bestimmungen der Verfassung betreffend die Wahl der „gesamtstaatlichen Repräsentanten“ bis heute noch nicht völlig anzuwenden. Angesichts dessen soll die Regierung die angemessenen Maßnahmen planen, die dem Sinn der Verfassung und dem Wesen dieser Verfassungsauslegung entsprechen, und rechtzeitig die nächste Wahl der „gesamtstaatlichen Repräsentanten“ einschließlich der bestimmten Zahl der Repräsentanten aus dem landesweiten Wahlkreis abhalten, um das weitere Funktionieren des Verfassungssystems abzusichern. Durch die Auslegung Nr. 261, der der Kerngedanke der freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung zugrunde lag, auch wenn es noch nicht ausdrücklich erwähnt ist, wurde der Flaschenhals des taiwanischen Verfassungssystems heruntergefahren und der soziale Konflikt zwischen den Bürgern wegen des „Langen Parlaments“ einigermaßen gelöst. Die Hohen Richter haben also mit ihrer Verfassungsentscheidung den „Alten Abgeordneten“ die Dienstausübung untersagt und die politische Krise, die Taiwan seit Jahren erschütterte, auf juristischem Wege beendet. Obwohl in der Auslegung Nr. 261 keine Verfassungsbestimmung für verfassungswidrig erklärt wurde, hatten die Hohen Richter die „Interim-Bestimmungen“, die die Verfassungsbestimmungen über die regelmäßigen Wahlen suspendiert haben, als Gegenstand zu prüfen. Sie prüften, ob sie gegen den Sinn des Demokratieprinzips verstießen, und haben dann doch quasi ein „Amtsverbot“ für die Alten Abgeordneten verhängt. Damit wurde zugleich ein wichtiges Präjudiz festgelegt, dass Bestimmungen mit verfassungsrechtlichem Rang auch von den Hohen Richter geprüft werden dürfen. Bemerkenswert ist auch, dass die Hohen Richter in der Begründung der Auslegung die Institution der sog. „Repräsentanten aus dem landesweiten Wahlkreis“ (全國不分區代表 ) erfunden haben. Mit dieser Institution sollte ursprünglich das Problem der „Parlamentssitze für das Festland China“, die zwar von der Verfassung vorgesehen sind, aber tatsächlich nicht realisierbar waren, überwunden werden. Die Bestimmungen der „Parlamentssitze für das Festland China“ wurden dann durch Zusatzbestimmungen der Verfassung „eingefroren“. Das Konzept wurde aber noch vom Verfassungsgeber aufgenommen und zur Verhältniswahl umgewandelt. Am 22. April 1991 schaffte die Nationalversammlung die „Interim-Bestimmungen“ ab. Am 30. April desselben Jahres verkündete Präsident Lee Teng-hui, 3 Obwohl der Wortlaut des Art. 171 Abs. 1 der taiwanischen Verfassung so eindeutig sagt, dass das Gesetz, das gegen Verfassung verstößt, nichtig ist, sehen die Hohen Richter in einigen Fällen von einer Nichtigkeitserklärung ab und bestimmen eine Frist; bis dahin ist das Gesetz weiterhin gültig, aber nicht mehr anwendbar, so z. B. Nr. 224, 251. Eine solche Verfassungswidrigkeitserklärung mit Fristsetzung verwendeten die Hohen Richter in der Auslegung Nr. 261 jedoch etwas anders. In der Auslegung haben die Hohen Richter kein Gesetz für verfassungswidrig erklärt, sondern den amtierenden Abgeordneten eine befristete „Rücktrittsanordnung“ gegeben.

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dass die „Periode der Mobilisierung zur Unterdrückung der kommunistischen Rebellion“ ab 1. Mai desselben Jahres aufzuhören hätte. Sämtliche Abgeordnete traten zurück und machten den Weg für allgemeine Wahlen frei. 3. Verfassungsbewegungen und demokratische Transformation (1991–2005)

Die Auslegung Nr. 261 hat nicht nur zum Rücktritt der Abgeordneten beigetragen, sondern auch die taiwanischen Verfassungsreformen in Gang gesetzt. Nach der Verkündung der Auslegung änderte die Nationalversammlung unter der Wirkung von Präsident Lee Teng-hui nach dem sog. „ein Organ, zwei Stufen“ 4 Modell schrittweise die taiwanische Verfassung. Am 30. April 1991 verkündete Präsident Lee Teng-hui die Zusatzartikel zur Verfassung (憲法增修條文 ), die von der Nationalversammlung durch das verfassungsrechtlich vorgesehene Verfahren zur Verfassungsänderung gebilligt wurden, was als die „Erste Verfassungsänderung“ bezeichnet wird. Die Neuwahlen 1992, die aufgrund der Neufassung stattfanden, waren die ersten Wahlen, bei denen die alteingesessenen Taiwaner die Mehrheit der Wahlberechtigten stellten. Am 27. Mai 1992 wurden die weiteren Zusatzartikel zur Verfassung von der „Neuen“ Nationalversammlung verabschiedet und am 28. Mai desselben Jahres vom Präsidenten verkündet (bekannt als die „Zweite Verfassungsänderung“), welche sich im Wesentlichen auf die Rahmenbedingungen der direkten Präsidentschaftswahl bezogen. Die Art und Weise den Präsidenten zu wählen wurde erst durch die Zusatzartikel vom 1. August 1994 festgelegt (bekannt als die „Dritte Verfassungsänderung“). Seit 1996 wird der Präsident für jeweils vier Jahre nach dem Mehrheitswahlprinzip mit einfacher Mehrheit direkt vom Volk gewählt. Die Amtszeit ist auf zwei Wahlperioden, also acht Jahre, beschränkt. Damit ist die Demokratisierung in Taiwan noch einen Schritt weiter gekommen. Durch die am 18. Juli 1997 verabschiedeten und am 21. Juli desselben Jahres verkündeten Zusatzartikel (bekannt als die „Vierte Verfassungsänderung“), wurden das taiwanische Regierungssystem und die Staatsstruktur grundlegend geändert. Zu nennen ist zuerst, dass die „Provinz“ quasi abgeschafft wurde. „Taiwan“ kann nunmehr als Staatsname angenommen werden. Darüber hinaus wird der Wahl des Premierministers seitdem nicht mehr vom Legislativ-Yuan zugestimmt, sondern er wird nur allein vom Staatspräsidenten nominiert, während dem Legislativ-Yuan ein Misstrauensvotum gegen den Premierminister eingeräumt wird. 4 „Ein Organ“ bedeutet, dass die Nationalversammlung als einziges verfassungsänderndes Organ funktionierte. „Zwei Stufen“ bedeutet, dass sich die Prozesse der Verfassungsänderung in zwei Stufen teilen ließen. In der ersten Stufe hob die Nationalversammlung die „Interim-Bestimmungen“ auf und zugleich schuf sie die verfassungsrechtliche Grundlage für Neuwahlen (sog. Formelle Verfassungsänderung). Erst in der zweiten Stufe änderte dann die neugewählte Nationalversammlung den Inhalt der Verfassung (sog. Materielle Verfassungsänderung).

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Mit dieser Rekonstruktion des Regierungssystems hatte die Verfassungsreform in Taiwan ihren Höhepunkt erreicht5. Die Nachteile und Nebenwirkungen des bisherigen Verfassungsänderungsmechanismus tauchten auch allmählich auf. Nachdem der Staatspräsident direkt vom Volk gewählt wird, blieb der Nationalversammlung im Wesentlichen nur noch die Verfassungsänderungskompetenz. Die Abgeordneten der Nationalversammlung als einziges für die Verfassungsänderung zuständiges Organ, versuchten daher oft bei jedem Zusammentreffen, ihre Kompetenzen zu erweitern, wie z. B. das Anklagerecht des Präsidenten einzuführen oder eine Zustimmungskompetenz über die Hohen Richter, was immer wieder auf öffentliche Kritik stieß. Daran ließ sich erkennen, dass die Reform des Parlaments hinsichtlich der Nationalversammlung bereit war. Am 4. September 1999 stimmte die Nationalversammlung anlässlich der Parlamentsreform der „fünften Verfassungsänderung“ durch ein geheimes Abstimmungsverfahren zu, die die Amtszeit der Abgeordneten der Nationalversammlung und des Legislativ-Yuans um jeweils etwa 2 Jahre und 5 Monate verlängerte. Darüber empörten sich alle Parteien und Bürger. Eine Verfassungsstreitigkeit wurde vor den Hohen Richtern geführt. Hierbei handelte es sich um die Frage, ob die Zusatzartikel zur Verfassung von 1999 gegen die Verfassung verstoßen und damit unwirksam oder wegen Verfassungswidrigkeit aufhebbar sind, also ob die „fünfte Verfassungsänderung“ ein verfassungswidriges Verfassungsrecht wäre. Am 24. März 2000 verkündeten die Hohen Richter die Auslegung Nr. 499, die die „fünfte Verfassungsänderung“ in toto für verfassungswidrig und ex nunc unwirksam erklärte. Im Tenor stellten die Hohen Richter wie folgt fest: (1) Nach dem Präjudiz von Auslegung Nr. 216 und der ratio legis der Verfassung dürfen die Hohen Richter prüfen, ob eine Verfassungsänderung mit der Verfassung vereinbar ist. (2) Die Verfassung ist die lex fundamentale des Staates. Die Verfassungsänderung, die für die Stabilität der Verfassungsordnung und das Gemeinwohl des Gesamtvolks so von Bedeutung ist, muss vom Verfassungsänderungsorgan durch ein faires Verfahren (due process) durchgeführt werden. Nicht zuletzt stellt die Verfassungsänderung eine unmittelbare Aktion dar, die die Volkssouveränität verkörpert. So muss das Verfassungsänderungsverfahren öffentlich und transparent geführt werden, um den Bedingungen der rationalen Kommunikation zu entsprechen, und dann die Legitimität des Verfassungsstaates zu garantieren (3) Die Nationalversammlung ist das einzige Organ, das für die Verfassungsänderung zuständig ist. Diese Kompetenz ist nur aufgrund des Prinzips der Öf5 Auf die Problematik des taiwanischen Regierungssystems und der Gewaltenteilung ist noch zurückzukommen.

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fentlichkeit und Transparenz auszuüben, um der rationalen Erwartung und dem Vertrauen des Gesamtvolkes entgegenzukommen. (4) Die Verfassungsänderung kann keine Rechtswirkung entfalten, soweit sie an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist (Gravitäts- bzw. Evidenztheorie). (5) Die Verfassungsänderung, die am 4. September 1999 von der Nationalversammlung durch ein geheimes Abstimmungsverfahren verabschiedet wurde, hat gegen das obengenannte Prinzip der Öffentlichkeit und Transparenz verstoßen, indem die Bürger nicht verfolgen konnten, wie die Nationalversammlung ihre Kompetenz ausgeübt hat, und auch die Abgeordneten der Nationalversammlung die Verantwortung für ihre Wähler und zugehörige Parteien nicht übernehmen konnten. Dieser Fehler war zu schwerwiegend und offenkundig, so dass diese Verfassungsänderung verfassungswidrig ist und in toto keine Rechtswirkung besitzt. (6) Die Bestimmungen der Verfassungsänderung sind zwar mit den Verfassungsbestimmungen gleichrangig. Wenn aber Bestimmungen der Verfassung, die von wesentlicher Wichtigkeit sind und als Grundlage der Normenordnung gelten, wie z. B. das Prinzip der demokratischen Republik (Art. 1 TwV), das Prinzip der Volkssouveränität (Art. 2 TwV), Grundrechtsschutz (Kap. 2 TwV) und das Prinzip der Gewaltenteilung, durch Verfahren der Verfassungsänderung ändern werden, wird die gesamte Verfassungsnormenordnung durchbrochen, so dass solche Änderungsbestimmungen ihre Legitimität verlieren müssen. Die durch die oben genannten Grundprinzipien geformte freiheitliche demokratische Verfassungsordnung ist die Basis, auf der die geltende Verfassung existiert. Ihre Wahrung obliegt jedem Verfassungsorgan. (7) Die demokratischen Repräsentanten üben die Kompetenzen aus, die ihnen von den Wählern gegeben wurden, und müssen den Vertrag mit ihren Wählern einhalten. Es muss eine Neuwahl stattfinden, bevor die Amtszeit der Repräsentanten abgelaufen ist, es sei denn, dass es sachlich berechtigte Gründe gibt, die eine Neuwahl verhindern würden. Dass sich die Repräsentanten die Amtszeit verlängern, ohne eine Neuwahl stattfinden zu lassen, verstößt gegen den Grundsatz der Ablehnung aufgrund eines Interessenkonflikts und ist auch mit der freiheitlichen demokratischen Verfassungsordnung unvereinbar. Aus der Begründung ergibt sich offensichtlich, dass die deutsche Rechtslehre und -praxis die taiwanische Verfassungsentwicklung insoweit beeinflusst hat, als die Hohen Richter die Evidenztheorie, die sich eigentlich auf die Nichtigkeit des Verwaltungsaktes bezieht, aufgegriffen haben, um die Fehlerhaftigkeit und Unwirksamkeit der Verfassungsänderung hinsichtlich des Verfahrens zu argumentieren. Andererseits ist zu erkennen, dass es einen unabänderlichen Kernbestand un-

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serer Verfassung gibt, den die Hohen Richter anerkannt haben und dessen Gedanke auf die deutsche Verfassung, nämlich die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG, und auch auf die Lehre von den Verfassungsrevisionsschranken von Carl Schmitt 6 zurückzuführen ist7. Danach sollen bestimmte Verfassungsprinzipien auf ewig einer Verfassungsänderung entzogen und bestimmte materielle Verfassungsänderungen unzulässig sein. Kommt es dennoch – selbst unter Beachtung der Anforderungen des Gesetzgebungsverfahrens – zu einer solchen Änderung, so sind das Änderungsgesetz und der Änderungseffekt verfassungswidrig und nichtig. Kurz nach der Verkündung der Auslegung Nr. 499 trafen die Abgeordneten der Nationalversammlung wieder zusammen. Am 8. April 2000 fand der Sechste Verfassungskonvent statt und es wurde daraufhin am 24. April desselben Jahres die „Sechste Verfassungsänderung“ verabschiedet, wonach die Nationalversammlung in die sog. „Nationalversammlung für eine bestimmte Aufgabe“ umgewandelt wurde und die Kompetenzen zur Verfassungsänderung, zur Anklage des Präsidenten und zur Zustimmung der Hohen Richter auf den Legislativ-Yuan übertragen wurden. Danach blieb der Nationalversammlung, deren Mitglieder dann durch die Verhältniswahl zu bestimmen waren, nur noch eine Aufgabe, die darin bestand, der vom Legislativ-Yuan verabschiedeten Verfassungsänderung zuzustimmen. Im Zuge der Demokratisierung gab die Nationalversammlung ihre Kompetenzen schrittweise an den 1992 erstmals frei gewählten Legislativ-Yuan ab, bis sie sich 2005 endgültig auflöste. Am 7. Juni 2005 verabschiedete die Nationalversammlung, die am 14. Mai 2005 durch eine Verhältniswahl zustande gekommen war, die „Siebte Verfassungsänderung“, die vom Legislativ-Yuan beschlossen worden war. Bei dieser Verfassungsrevision, bei der die Parlamentsreform im Mittelpunkt stand, wurde die Nationalversammlung abgeschafft. Dieses die „Verfassung der Republik China“ symbolisierende Verfassungsorgan ging in die Geschichtsbücher ein. Bis zu ihrer Auflösung 2005 hatte die Nationalversammlung das alleinige Recht Verfassungsänderungen vorzunehmen. Seitdem müssen vom Legislativ-Yuan gebilligte Verfassungsänderungen, die eines Vorschlages von einem Viertel der Mitglieder des Legislativ-Yuans, der Anwesenheit von drei Vierteln der gesamten 6 Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 106. Dagegen kam in einer 1947 veröffentlichten Untersuchung der Schweizer Hans Haug zu dem Ergebnis, Revisionsverbote stellten nur eine Warnung dar. Die Revisionsgewalt sei der Souverän im Staat und könne daher nicht absolut gebunden sein. Bestünden ausdrückliche Schranken der Verfassungsrevision, sei der Verfassungsgeber an diese nur bis zu ihrer formell korrekten Beseitigung gebunden. Vgl. Hans Haug, Die Schranken der Verfassungsrevision, 1947, S. 182 f. 7 Vgl. Hauke Möller, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes und die Schranken der Verfassungsrevision: Eine Untersuchung zu Art. 79 Abs. 3 GG und zur verfassungsgebenden Gewalt nach dem Grundgesetz, 2004, S. 121. Dazu vgl. auch Peter Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, in: Hangartner/Trechsel, Festschrift für Haug, 1986, S. 81 ff.

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Mitglieder und der Zustimmung von drei Vierteln der anwesenden Mitglieder des Legislativ-Yuans bedürfen, in einem Referendum mit über 50 Prozent der wahlberechtigten Stimmen bestätigt werden. Dieser gigantische Umbau des taiwanischen Verfassungssystems, das als eine „mission impossible“ bezeichnet wurde, beinhaltete zwei Schritte von Maßnahmen. Zuerst löste sich die Nationalversammlung, die das alleinige Recht der Verfassungsänderungen besaß, auf. Ein solcher „institutionelle Selbstmord“, der einerseits anlässlich der Auslegung Nr. 499 und andererseits unter Druck der Öffentlichkeit ausgeübt wurde, bereitete dann den Weg zu Schritt zwei, bei dem die Institution des Referendums für Verfassungsänderungen eingeführt wurde8. Bei einer so hohen Schwelle für ein Referendum – 50 Prozent –, was einen weitgehend politischen Konsens voraussetzt, war allerdings anzunehmen, dass in absehbarer Zeit keine Verfassungsänderung mehr stattfinden würde. Die Politik und die verfassungsrechtliche Lage in Taiwan traten in eine ganz neue Entwicklungsphase ein. 4. Formelle Demokratie und „Politikstaat“ (2005)

In einer Reihe von Prozessen der demokratischen Transition in Taiwan haben die bisherigen 7 Verfassungsrevisionen die politischen Krisen seit den 1990er Jahren einigermaßen gelöst. Mit einigen fundamentalen Veränderungen in Bezug auf das Verfassungssystem bzw. das politische Klima in Taiwan, kann die letzte Verfassungsänderung von 2005 als „Abschied“ von den vorherigen angesehen werden. Abgesehen davon, ob und wie die politischen Parteien von dieser Verfassungsreform profitiert haben oder nicht, lässt sich genau untersuchen, welche Auswirkungen bzw. Nebenwirkungen sie langfristig mit sich bringt. Zwei grundlegende Veränderungen waren in der 2005er Verfassungsreform eingebettet, nämlich die Parlamentsreform und die Einführung des Referendums in das Verfahren der Verfassungsänderung. Die Parlamentsreform zielte darauf ab: (1) die Sitze des Legislativ-Yuan zu reduzieren und die Legislaturperiode zu verlängern9, (2) das „Einer-Wahlkreis“-System (Einpersonenwahlkreise), wonach pro Wahlkreis ein Sitz vergeben und vom Bewerber mit den meisten Stimmen 8 Es ist natürlich fraglich, wie so eine großangelegte Verfassungsrevision erreicht werden konnte, vor allem unter den harschen Umständen der politischen Konfrontation. Es wird oftmals behauptet, dass die Bürger die berüchtigten Legislatoren bzw. Politiker im Legislativ-Yuan nicht mehr ertrugen und ihnen sozusagen eine „Rote Karte“ gaben. In der Tat wurde aber die Verfassungsrevision nicht unmittelbar von den Bürgern angelegt. Nicht zuletzt lag die Wahlbeteiligung (Quote) in der Verhältniswahl der Nationalversammlung von 2005 nur bei ca. 23%, die niedrigste Wahlbeteiligung seit freien Wahlen. Davon erlangten die KMT und die DPP über 80% Stimmen, die dann die Verfassungsänderung dominierten. So ist diese große Verfassungsrevision m. E. eher eine politische Kalkulation unter den Parteien und ein Kompromiss der politischen Elite als eine Bürgeraktion. 9 Die Zahl der Parlamentssitze war dabei von 225 auf 113 Sitze verringert und die Legislaturperiode von drei auf vier Jahre verlängert worden.

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gewonnen wird, und (3) das „Zwei-Stimmen“ Wahlsystem, wobei die Erststimme für einen Wahlkreiskandidaten nach Mehrheitswahl und die Zweitstimme für die Parteien nach dem Prinzip des Verhältniswahlrechts abzugeben sind, einzuführen10, um das politische Klima und die Funktionsfähigkeit bzw. Effizienz des Legislativ-Yuans zu verbessern. Unter dem vorherigen Wahlsystem mit Mehrmandatswahlkreisen, d. h. dass in ihnen mehr als ein Mandat zu gewinnen gab11, kamen oft Manipulationen vor, weil ein Bewerber nicht die meisten Stimmen zu gewinnen brauchte, um gewählt zu werden. Das „Einer-Wahlkreis“-System soll für die mäßigen Bewerber zur Erhöhung der Chance gewählt zu werden beitragen, die damit ihre Kompetenzen im Legislativ-Yuan rational ausüben können. Mit dem „Zwei-Stimmen“-System soll die Einflusskraft der politischen Parteien verstärkt werden und mehr Parteipolitik in das demokratische politische System einbezogen werden. Außerdem ist zu erwarten, dass die sog. Superstar Kandidaten, die schlechthin immer nur bestimme Gruppen zu erfreuen versuchten, bei der Verhältniswahl nicht mehr im Vordergrund stehen werden, sondern die politische Debatte zwischen den Parteien bzw. den politischen Gruppierungen. Nicht zuletzt soll die Verkürzung der Sitze, die mit den Reformen von „Einer-Wahlkreise“ und „Zwei-Stimmen“ zusammenhängt, die Lokalisierung des staatlichen Parlaments und auch der staatlichen Politik vermeiden. Denn zu viele Sitze im Legislativ-Yuan würden dazu führen, dass die Wahlkreise sehr kleinformatig eingeteilt würden, wenn man das kleine Staatsgebiet Taiwans vor Augen hat, so dass sich der Parlamentswahlkampf mehr an lokalen Angelegenheiten orientieren würde, was letztlich dem Zweck der Einführung des „Einer-Wahlkreis“-Systems zuwiderlaufen würde. Die Veränderung der parlamentarischen Struktur und des Wahlsystems haben die politische Struktur und das Bild der Parteien in Taiwan ganz tiefgreifend und andauernd beeinflusst. Mit der Einführung des „Einer-Wahlkreis“-Systems wurde schon verbreitet spekuliert, dass die kleinen Parteien, wie z. B. People’s First Party und Taiwan Solidarity Union, nach der Neuwahl an den Rand gedrängt werden und sich das Dual-Parteien-System formen wird, nämlich eine Konkurrenz zwischen DPP und KMT. Zugleich bestand die Befürchtung unter der damalig regierenden Partei DPP, dass sie doch mit dem neuen Wahlsystem die Parlamentswahl nicht gewinnen konnte, weil die vorhandene kommunale Pra10 Das „Zwei-Stimmen“-System ist nach dem Grabenwahlsystem eingerichtet, wobei mehrere Wahlverfahren nebeneinander und ohne Verrechnung miteinander angewandt werden (Parallelwahl ohne Ausgleich). Für Deutschland ist die Einführung des Grabenwahlsystems auch im Gespräch. Vgl. Eric Linhart, Mögliche Auswirkungen von Grabenwahlsystemen in der Bundesrepublik Deutschland: theoretische Überlegungen und Simulationen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 40 (2009), S. 637 ff. 11 Dies ist eine Wahlmethode, die als „Einfache nicht-übertragbare Stimme“ (engl. single non-transferable vote, abgekürzt SNTV) bezeichnet wird, wonach in Wahlkreisen mehr als ein Amtsträger bestimmt wird (Mehrpersonenwahlkreise).

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xis immer noch die KMT der DPP vorzog12. Dies geschah. Am 12. Januar 2008 fand die 7. Legislativ-Yuan-Wahl statt. Von 113 Sitzen erlangte die KMT 81 Sitze, die DPP 27, die Anderen 5. Die KMT besaß insgesamt über 70% der Sitze im Legislativ-Yuan13. Ungeachtet der Wahlsysteme und -ergebnisse stellte die Einführung des Referendums in den Verfassungstext, d.h. ein Verfassungsreferendum, das sich auf Teile oder die Gesamtheit der Verfassung bezieht, eine strukturelle Wandlung, sogar einen Paradigmenwechsel in der taiwanischen Verfassungsgeschichte dar. Wie oben gezeigt, basierten die vorangegangenen Verfassungsänderungen und -reformen überwiegend auf den politischen Verhandlungen zwischen Parteien und politischen Leitern und Eliten, ohne dass die Bürger den Inhalt der Reformen zur Kenntnis genommen haben. Es fehlte offensichtlich die Beteiligung der Öffentlichkeit. Dies hat letztendlich zur Entfremdung in Bezug auf die konstitutionellen Themen und Streitfragen geführt. Die siebte Verfassungsrevision von 2005 mit der Einführung des Verfassungsreferendums beendete das Leben der Nationalversammlung und zugleich ging die Verfassungsänderungsgewalt und sogar auch die verfassunggebende Gewalt an die Bürger selbst zurück14. Statt der politischen Parteien können die Bürger nunmehr ihren Willen unmittelbar durch das Referendum zum Ausdruck bringen und die taiwanische Verfassung kann daher besser widerspiegeln, was das Volk in Taiwan will. Die Verwirklichung des Ideals vom stark „bürgerzentrisch“ ausgerichteten Verfassungssystem hängt aber sehr stark von den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Von 2000 bis 2008 regierte der nicht der KMT angehörende Präsident Chen Shui-bian. Im Januar 2008 erreichte die KMT bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit. Im März desselben Jahres wurde ihr Kandidat Ma Ying-jeou zum Staatspräsidenten gewählt. Die beiden Wahlen brachten die KMT zurück an die Macht, die seitdem eine Annäherungspolitik mit der Volksrepublik China verfolgt und sich nicht mehr traut, irgendeine Verfassungsreform zu betreiben. Das Ideal des „bürgerzentrisch“ ausgerichteten

12 Die Gewinnzahl der Abgeordneten hängt auch von der Einteilung der Wahlkreise ab. Ob bei der Wahlkreiseinteilung das Prinzips der Gleichheit der Wahl beachtet ist, d.h. alle Wahlkreise die gleiche Anzahl von Wahlberechtigten erhalten, vor allem keine Möglichkeit der manipulativen Wahlkreiseinteilung besteht, ist in Taiwan immer noch ein umstrittenes Problem. 13 Die Wahlen erfolgten in einem Grabenwahlsystem aus relativem Mehrheitswahlrecht in 73 Einzelbewerber-Wahlkreisen und Verhältniswahl für 34 Sitze, die entsprechend dem prozentualem Stimmenanteil der Parteien von den landesweiten Listen der Parteien besetzt wurden, darunter auch Kandidaten von im Ausland lebenden Taiwanern. Weiter wurden 6 Kandidaten direkt von Ureinwohnern gewählt. 14 So wie das Wort Referendum aus dem Lateinischen, das sich aus der Vorsilbe re („zurück“) und dem Verb ferre („tragen“, „bringen“) zusammensetzt, bedeutet, dass die Entscheidung über einen politischen Gegenstand an das Volk zurückgetragen bzw. zurückgebracht wird.

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Konstitutionalismus in Taiwan dürfte in absehbarer Zeit nur noch auf dem Papier stehen und nur in der Theorie Bestand haben. Außer dem Verfassungsreferendum können alle wahlberechtigten Bürger in Taiwan aber noch im Rahmen des „Referendumsgesetzes“ unmittelbar über eine vom Parlament, von der Regierung, oder auch von der Bevölkerung initiierte Vorlage abstimmen. Nach Art. 17 der taiwanischen Verfassung hat jeder das Recht auf Wahl, Abberufung, Initiative und Referendum. Um das Grundrecht auf ein Referendum zu verwirklichen, hat der Legislativ-Yuan das „Referendumsgesetz“ am 23. November 2003 verabschiedet15, das aber wegen des Widerstandes der damaligen Oppositionspartei KMT mehrere unnötige Beschränkungen beinhaltet und als ein „Vogelbauergesetz“ für ein Referendum verspottet wird. Trotzdem fanden von 2004 bis 2008, in der Zeit in der die DPP regierte, 6 Referenden statt, die parallel zur Präsidentenwahl von 200416, Parlamentswahl von 200817 und Präsidentenwahl von 200818 abgehalten wurden. Gemäß dem Referendumsgesetz müssen sich 50% (bzw. 8,66 Millionen) der registrierten Wahlberechtigten 15 Die Initiative des Referendumsgesetzes, die von der DDP vorbereitet wurde, begann seit den 1990er Jahren in Folge der Demokratisierung. 16 Parallel zur Präsidentenwahl 2004 wurden zwei Referenden durchgeführt, die vom amtierenden Staatspräsidenten Chen Shui-bian initiiert wurden und als das erste Volksreferendum in Taiwan galten. In diesen beiden Referenden, die als sog. „Verteidigungsreferenden“ bekannt waren, ging es einerseits um die Verstärkung der Streitkräfte aufgrund der militärischen Drohung aus China (1. Referendum) und anderseits um die Verhandlung zwischen Taiwan und China und den friedlichen Dialog beider Seiten, der zu einer dauerhaften Entspannung der Situation an der Taiwan-Straße führen sollte (2. Referendum). 17 Gleichzeitig mit der Parlamentswahl 2008 wurden zwei Volksreferenden durchgeführt. Das erste wurde von der derzeitigen Regierungspartei DPP initiiert für ein Gesetz zur Behandlung von Vermögen, das sich politische Parteien, nämlich die KMT, unlauter angeeignet haben (3. Referendum). Nach DPP-Angaben soll dieses Sondergesetz die rechtliche Grundlage dafür bieten, die jetzige Oppositionspartei Kuomintang dazu zu zwingen, ihr Parteivermögen, das sie sich während ihrer Regierungszeit in Taiwan unlauter angeeignet hatte, an den Staat zurückzugeben. Ein zweites Referendum, das von der derzeitigen Oppositionspartei KMT initiiert wurde, zielte auf den Staatspräsidenten Chen Shui-bian ab, der wegen Veruntreuung von Staatsgeldern angeklagt worden war, aber aufgrund seines Präsidentenamtes politische Immunität genoss. Darin sollte über ein neues Gesetz entschieden werden, auf dessen Basis Nachprüfungen erlaubt wären, ob die jeweiligen Staatsoberhäupter und deren Angehörige, ob mit Absicht oder wegen Nachlässigkeit, dem Staat großen Schaden zugefügt haben. Das Parlament soll auf der Basis des Gesetzes einen Sonderuntersuchungsausschuss gründen können, um einen solchen Fall zu untersuchen. Die in den Fall verwickelten Personen sollen nach dem Gesetz bestraft werden. Vermögen, das sie sich illegal angeeignet haben, soll an den Staat zurückgegeben werden (4. Referendum). 18 Zusammen mit der Präsidentenwahl 2008 wurden zwei Referenden abgehalten, bei denen es um den Beitritt des Landes zu den Vereinten Nationen (UN) ging, der von beiden großen Parteien gewollt war. Das von der damaligen Regierungspartei DPP eingebrachte Referendum strebte einen Beitritt des Landes unter dem Namen „Taiwan“ an (5. Referendum) und das von der Kuomintang initiierte Referendum wollte einen Wiederbeitritt unter dem Namen „Republik China“ (6. Referendum).

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an der jeweiligen Abstimmung beteiligen, damit die erste Hürde überwunden werden kann. Diese Hürde ist höher als in anderen demokratischen Ländern. Alle Referenden sind dann aufgrund der geringen Beteiligung gescheitert19, was aber auch daran lag, dass die KMT, die Abneigung gegen das Referendum empfindet, zur Nichtannahme des Wahlzettels für die Referenden aufrief 20. Noch am 2. Januar 2004, dem Tag an dem das Referendumsgesetz in Kraft trat, stellten 85 Mitglieder des Legislativ-Yuans, die der DPP angehörten und die Bestimmung des Referendumsgesetzes über die Organisation der „Referendum Review Committee“ für verfassungswidrig hielten, einen Antrag bei den Hohen Richtern auf abstrakte Normenkontrolle des Gesetzes aufgrund eines Verstoßes gegen das Gewaltenteilungsprinzip. Die Bestimmung besagte, dass Mitglieder von politischen Parteien, die Sitze im Legislativ-Yuan innehaben, nach der Fraktionsproportionalität nominiert und gewählt werden. Höchstwahrscheinlich wegen der politischen Sensibilität entschieden die Hohen Richter den Fall bis 2008 nicht. In der am 11. Juli 2008 verkündeten Auslegung Nr. 645 erklärten die Hohen Richter die betroffene Bestimmung für verfassungswidrig. In der Begründung führten die Hohen Richter zu Sinn und Zweck des Referendums zu Recht aus: „Laut der Verfassung können sich die Bürger durch Ausübung ihrer Grundrechte auf Initiative und Referendum an der staatlichen Willensbildung beteiligen. Soweit die Grundstruktur der Repräsentativdemokratie nicht geändert wird, kann der Gesetzgeber das Referendumsgesetz erlassen, um den Bürgern einen Weg zu geben, direkt ihre Meinungen zu wichtigen Politikfragen zu äußern, und um der Ausübung der Grundrechte auf Initiative und Referendum zu assistieren.“

Aus der verfassungsrechtlichen Auslegung ergibt sich, dass Volksentscheide und Bürgerbegehren zu allen wichtigen Themen ohne große bürokratische Hürden möglich sein müssen. Wenn es darum geht, die Ausübung des Grundrechts auf ein Referendum zu verwirklichen, müssen sich die Staatsorgane während des Prozesses des Referendums in den Dienst der Bevölkerung stellen und allen Bür-

19

Die Wahlbeteiligungen lagen bei Referenden bei folgenden Prozenten:

Referendum Datum Beteiligung

1.

2.

März 2004 März 2004 45,17%

45,12%

3.

4.

Jan. 2008

Jan. 2008

26,34%

26,08%

5.

6.

März 2008 März 2008 35,82%

35,74%

20 Dass die KMT oftmals zur Nichtannahme des Wahlzettels für die Referenden aufrief, ist ein Hauptgrund für die geringe Wahlbeteiligung. Um dem entgegenzuwirken, muss eine Vorkehrungsmaßnahme aufgebaut werden. Dazu gibt es mehr technische Möglichkeiten um die Umsetzung des Referendums, z. B. mittels hochmoderner, elektronischer und computergesteuerter Mittel die direkte Beteiligung und Stimmabgabe zu erleichtern.

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gern die Möglichkeit einräumen, ihre Vorschläge vorzustellen. Leider sieht die Realität jedoch ganz anders aus. In der Praxis lehnt das seither vom ExekutivYuan allein nominierte „Referendum Review Committee“ die von den Bürgern initiierten Anträge des Referendums immer ab. Als aktuelles Beispiel bietet sich gerade an, dass am 3. Juni das Referendum Review Committee vom ExekutivYuan mit 12 zu 4 einen Antrag von der taiwanischen Solidaritätsunion (Taiwan Solidarity Union, TSU) für ein Referendum über das „Economic Cooperation Framework Agreement“ (ECFA) mit China ablehnte, obwohl der Antrag von mehr als den notwendigen 86.000 Unterschriften unterstützt wurde. Beim Referendum der TSU geht es um die Frage: „Stimmen Sie zu, dass die Regierung mit China das ECFA für beide Seiten der Taiwan-Straße schließt?“ Der Antrag mit über 86.000 Unterschriften wurde zuerst von der Central Election Commission im Hinblick auf die Zulässigkeit geprüft, dann dem Referendum Review Committee weitergeleitet, das zu prüfen hat, ob es sich um etwas handelt, was nicht zum Gegenstand des Referendums gemacht werden kann, wie z. B. Steuern, Staatshaushalt. Wenn das Referendum Review Committee den Antrag annimmt, muss der Antragsteller noch weitere 866.000 Unterschriften sammeln bevor das Referendum stattfindet, um auf die erforderlichen 5 Prozent der Wahlberechtigten an der letzten Präsidentenwahl zu kommen. Bei dem Antrag der TSU geht es offensichtlich nicht um die Steuern oder den Staatshaushalt, sondern um die wichtige politische Frage, die mit der Änderung des Status quo Taiwans eng zusammenhängt. Gemäß dem Gesetz liegt kein Grund vor, den Antrag zurückzuweisen. Trotzdem blockierte das Referendum Review Committee den Bürgern den Weg, direkt ihre Meinung zu wichtigen Politikfragen zu äußern, und zwar mit der unrelevanten Begründung, dass die Frage, die den Wählern gestellt wird, zu „positiv“ sei und nicht die negative Stellung der TSU zum ECFA reflektiere. Die Wurzel dieses Unrechts liegt in der Regierungsmannschaft und der dahinterstehenden politischen Partei, die nur noch aus Parteiführung und Spitzenpolitikern besteht, die von den Bedürfnissen und Interessen des Volkes weit entfernt sind. Es ist deutlich zu sehen, dass der ganze Staatsapparat von der Annäherungspolitik mit der Volksrepublik China beherrscht wird. In der Parteimaschinerie bestimmen die Parteiführer den politischen Kurs. Von einem Rechtsstaat kann in Taiwan nicht mehr die Rede sein, sondern nur noch von einem „Politikstaat“. Die Regierungspartei KMT hat den „demokratischen Rechtsstaat“ in einen „demokratischen Politikstaat“ umgewandelt. Insgesamt betrachtet ist die politische Situation in Taiwan in diejenige der 1970er Jahre zurückgefallen. Obwohl Taiwan von sich sagen kann, dass es einen hohen demokratischen Standard aufweist, hat das Gebäude der Demokratie ernsthaften Schaden erlitten. Sein Fundament hat Risse bekommen. Seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts ging man davon aus, dass sich ein einziger Vorgang zwischen der Wahl und dem Mandatsabschluss der Volksvertreter abspielt. Mit der Zeit wurde aber deutlich, dass zwei voneinander unabhängige

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Vorgänge ablaufen, indem diese Mandatsträger mandatsferne Interessen vertreten. Dies zeigt eine tiefe Krise im Konzept und in der Verwirklichung der Repräsentativität. IV. Gewaltenteilung in Taiwan Die Demokratie als eine Staatsform, die geeignet ist, das Zusammenleben der Menschen zu regeln, stellt nicht nur die Repräsentativität der Völker dar, sondern muss einige grundlegende Anforderungen erfüllen, wie die Garantie der Grundrechte jedes Einzelnen gegenüber dem Staat, vor allem Meinungs-, Presse- und Rundfunkfreiheit, und Gewaltenteilung zwischen den Staatsorganen. Darunter kann die Gewaltenteilung zum Zwecke der Machtbegrenzung und der Sicherung von bürgerlichen Freiheit und Rechte als ein erforderlicher Stützpfeiler der Demokratie gelten und wird überwiegend als Bestandteil jeder Demokratie betrachtet. Der Rechtsgrundsatz der Gewaltenteilung für die effektive Garantie der Menschenrechte ist so wichtig, dass es zutreffend in Art. 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte heißt: „Toute société dans laquelle la garantie des droits n’est pas assurée, ni la séparation des pouvoirs déterminée, n’a point de constitution,“ also „ohne Gewaltenteilung, keine Verfassung“. Die Verfassung der Republik China von 1947 basiert auf den politischen Lehren Sun Yat-sens und wurde noch 1946 auf dem Festland entwickelt. Danach wird die Staatsgewalt in fünf Gewalten untergeteilt, die von je einem Yuan (Staatsrat) ausgeübt wird: nämlich Legislative, Exekutive, Judikative, Prüfung und Kontrolle, sog. „Fünf-Gewalten-Verfassung“. Nach dem Gedanken von Sun Yat-sen sollen aber diese fünf Regierungsgewalten eher zusammenarbeiten als sich gegenseitig hemmen und kontrollieren, was der Idee der Gewaltenteilung eigentlich nicht entspricht21. Glücklicherweise hat der Verfassungsgeber die Lehre von Sun Yat-sen lediglich in modifizierter Form aufgenommen. Der Entwerfer der Verfassung der Republik China Zhang Jun-mai, der in Frankreich und Deutschland studiert hatte, nahm doch die wichtigen Elemente der Gewaltenteilung im westlichen Sinne in die Verfassung auf und baute ein System der Gewaltentrennung und -hemmung auf. Dank dessen besteht die Spielart der Gewaltentrennung bzw. die Struktur der „Fünf-Gewalten-Verfassung“ zwar weiterhin in der taiwanischen Verfassung22, jedoch ist eine gegenseitige Hemmung und Kontrolle der Gewalten noch zu verwirklichen, die für den Grundrechtsschutz des Einzelnen unentbehrlich ist. Nicht zuletzt haben die Hohen Richter das Prinzip der Gewaltenteilung als Maßstab für die verfassungsrechtliche Kontrolle der Ausübung der Staatsge21 Vgl. ausführlich Tzong-li Hsu, Die Idee der Gewaltenteilung in China, in: Christian Starck (Hrsg.), Staat und Individuum im Kultur- und Rechtsvergleich, 2000, S. 115 ff. 22 In Taiwan wird die Gewaltenteilung in der Verfassung zwar nicht ausdrücklich vorgesehen, aber sicherlich vorausgesetzt, sowohl auf der horizontalen Ebene, als auf der vertikalen. Dieser Beitrag bezieht sich aber nur auf die erstere Ebene.

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walten herangezogen. Im Folgenden wird anhand der Auslegungen des taiwanischen Verfassungsgerichts die Wechselwirkung der politischen Entwicklung und des Systems der Gewaltenteilung in Taiwan dargestellt. 1. Gewaltenteilung unter dem autoritären Regime

Wie oben schon geschildert, befand sich Taiwan in den 1980er Jahren unter der autoritären Herrschaft der KMT. In dieser Periode gab es kaum Konfliktfälle zwischen verschiedenen Staatszweigen, die verfassungsrechtlich erklärungsbedürftig gewesen wären. Nennenswert sind die Auslegungen Nr. 3 vom 21. Mai 1952 und Nr. 175 vom 25. Mai 1982, wobei es sich jeweils um die Frage handelte, ob dem Kontroll-Yuan und dem Justiz-Yuan ein Gesetzesinitiativrecht zukommt, auch wenn dies in der Verfassung nicht vorgesehen ist. Die Hohen Richter bejahten beide Fragen und versuchten den Gedanken der Gewaltenteilung so wie folgt zu formulieren: „Da der Prüfungs-Yuan nach Art. 87 der Verfassung beim Legislativ-Yuan einen Gesetzentwurf insoweit zur Abstimmung vorlegen kann, als es um seine Kompetenz geht, dann kann aufgrund vom System der Trennung der Fünf-Gewalten und der gleichwertigen Interdependenz (. . .) der Kontroll-Yuan auch innerhalb seiner Zuständigkeit beim Legislativ-Yuan einen Gesetzentwurf zur Abstimmung vorlegen, um der Seele der Verfassung zu entsprechen.“ (Hervorhebung vom Verfasser) „Aufgrund des Verfassungssystems der Trennung der Fünf-Gewalten und der gegenseitigen Interdependenz kann der Justiz-Yuan als höchstes Justizorgan des Staates beim Legislativ-Yuan einen Gesetzentwurf insoweit zur Abstimmung vorlegen, als es um die Sache der Justizorganisation und die Ausübung der rechtsprechenden Gewalt geht.“ (Hervorhebung vom Verfasser)

Aus den Auslegungen ergibt sich zwar, dass die Hohen Richter die Idee der Gewaltenteilung erkannt haben. Unter dem autoritären Regime trauten sich sie jedoch nicht, den Gedanken der gegenseitigen „Hemmung“ und „Kontrolle“ zwischen Gewalten, also „checks and balances“ zum Ausdruck zu bringen, sondern ließen es genügen, die „Trennung“ und das institutionelle „Gleichgewicht“ der Gewalten zu betonen. 2. Gewaltenteilung unter der Parteiendemokratie

Erst nach der Aufhebung des Ausnahmezustands im Jahr 1987 rauschte in Taiwan ein freier Blätterwald und man legte die Basis des Mehrparteiensystems fest. Der politische Liberalisierungsprozess und die demokratischen Bewegungen haben vor allem auch die Liberalisierung der Medien vorangetrieben. Trotzdem beherrschte die KMT immer noch den Staatsapparat, bis die DPP im Jahr 2000 durch den Gewinn der Präsidentenwahl die KMT an der Macht ablöste. Da einerseits die KMT sowohl die Exekutive als auch die Legislative dominierte und andererseits eine Gewaltenverschränkung zwischen der Regierung und dem Le-

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gislativ-Yuan von der Verfassung festgelegt wurde, indem die Nominierung des Regierungschefs der Zustimmung des Legislativ-Yuans bedurfte, wurde die institutionelle Gewaltenteilung in der Praxis zum großen Teil durch eine Gewaltenteilung zwischen Oppositionskoalition und Regierungskoalition im Parlament ersetzt. Nicht zuletzt im Rahmen des Mehrparteiensystems und demokratischer und freier Wahlen kann die Rolle von Regierung und Opposition zwischen den Parteien wechseln. Im Laufe der Legislaturperiode kommen den Oppositionsparteien vor allem Kontrollfunktionen bezüglich der Regierung zu, wobei die Auseinandersetzungen oft durch die Verfassungsauslegungen der Hohen Richter, die wesentlich von den Parlamentariern der Oppositionspartei durch Anträge eingeleitet wurden, beigelegt worden sind. Die Sicherung der Gewaltenteilung wurde einigermaßen durch die Auslegungen der Hohen Richter gewährleistet. Unter den freiheitlich, demokratischen Verfassungsrahmenbedingungen war es kein Tabu mehr für die Hohen Richter den Gedanken der Gewaltenteilung zu präzisieren und auch zu praktizieren. Das augenfällige Beispiel ist die Auslegung Nr. 391 vom 21. August 1995, die vom damaligen Legislator Chen Shui-bian u. a. initiiert und vom Legislativ-Yuan beantragt wurde. Sie bezieht sich auf die Frage, ob der Legislativ-Yuan bei der Budgetkontrolle befugt ist, im Rahmen des totalen Budgetbetrags des jeweiligen Verwaltungszweiges den designierten Betrag zwischen verschiedenen Kapiteln und Titeln beliebig zu verschieben. Die Hohen Richter führten aus: „Eine beliebige Verschiebung des Budgetbetrags zwischen verschiedenen Budgetkapiteln und -artikeln bedeutet nichts anderes als die Veränderung und Umstellung des Inhaltes der geplanten Politik, was dazu zu führen pflegt, dass die Zuordnung der politischen Verantwortung für den Erfolg oder Misserfolg der Politik nicht zu beurteilen ist und ein politisches Verantwortlichkeitssystem dann schwer zu etablieren ist und es deshalb gegen das Prinzip der Trennung der Exekutive und Legislative und das Prinzip der gegenseitigen Hemmung und Kontrolle der Gewalten verstößt und verfassungswidrig ist.“ (Hervorhebung vom Verfasser)

Durch diese Auslegung haben sich die Hohen Richter an die wichtigen Elemente der Gewaltenteilung im westlichen Sinne angeschlossen und die originäre Lehre von Sun Yat-sen offenbar aufgegeben, der das Gewicht auf die Zusammenarbeit zwischen den Regierungsgewalten legte. Kurz danach fand die erste Präsidentenwahl in Taiwan statt. Lee Teng-hui wurde im Jahr 1996 mit 54% der Stimmen der erste direkt und demokratisch gewählte Präsident Taiwans. Der derzeitige Premierminister Lien Chan wurde als Vizepräsident gewählt und wollte allerdings das Amt des Premierministers weiter führen, was ohne weiteres zu einem Verfassungsstreit darum, ob der Vizepräsident gleichzeitig das Amt des Premiers vom Exekutiv-Yuan führen darf, vor den Hohen Richtern führte. In der Auslegung Nr. 419 vom 31. Dezember 1996 wurde wie folgt festgestellt: „Ob der Vizepräsident gleichzeitig das Amt des Premiers des Exekutiv-Yuans führen darf, ist zwar nicht in der Verfassung ausdrücklich vorgesehen. Das Amt des Vize-

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präsidenten ist der Natur nach mit dem des Premiers vom Exekutiv-Yuan auch nicht anscheinend inkompatibel. Aber wenn der Präsident aus seinem Amt versetzt würde oder nicht in der Lage wäre, sein Amt zu führen, würde die Situation, dass zwei Ämter von einer Person geführt würden, die Konstruktion der Verfassungsbestimmungen über den Nachfolger oder den Vertreter des Präsidenten beeinträchtigen und wäre dann mit dem Sinn und Zweck der Verfassungsbestimmungen, wonach die Ämter des Vizepräsidenten und des Premierministers von verschiedenen Personen zu besetzen sind, nicht ganz vereinbar. Der Sachverhalt, der den vorliegenden Auslegungsfall verursacht hat, muss nach dem Sinngehalt dieser Auslegung passend zurechtgelegt werden.“ (Hervorhebung vom Verfasser)

Trotz der unscharfen Aussage „nicht anscheinend inkompatibel“ von den Hohen Richtern, die sehr unterschiedliche Interpretationen zur Bedeutung dieser Auslegung von allen Seiten ausgelöst hat, ist als Grundlinie klar zu lesen, dass der Vizepräsident nicht gleichzeitig das Amt des Premiers des Exekutiv-Yuans führen darf. Nach der Verkündung der Auslegung legte Lian Chan sofort das Amt des Premierministers nieder. Also scheiterte der Versuch von Lian Chan, seine Kompetenz zu erweitern, an den Hohen Richtern. 3. Gewaltenteilung unter dem „divided government“

Am 18. März 2000 wurde der DPP-Präsidentschaftskandidat Chen Shui-bian mit 39,3% der Stimmen zum Präsidenten gewählt. In der Parlamentswahl 2000 erreichte die DPP jedoch nicht die Mehrheit im Parlament. Die KMT und die von ihr abgespaltene PFP beherrschten immer noch den Legislativ-Yuan, was während der Amtszeit Chen Shui-bians unverändert blieb. Seitdem wird die Parteienlandschaft sowohl im Parlament als auch im politischen Felde hauptsächlich von zwei politischen Blöcken, der „pan-grünen Koalition“, bestehend aus der DPP und TSU, und der pan-blauen Koalition“, bestehend aus der KMT, PFP und der Neuen Partei (NP), geprägt. Wenn Chen Shui-bian einen DPP-Kameraden zum Premierminister ernannte, machten sich die „grüne“ Regierung und die „blaue“ Legislative gegenseitig die Macht streitig. Dies hatte oftmals die Lähmung der Exekutive und letztendlich eine zunehmende Polarisierung der Politik und Gesellschaft zur Folge. Es stand dann auch eine „echte“ gegenseitige Hemmung und Kontrolle der Gewalten in der taiwanischen Politik- und Verfassungsgeschichte. Nach der taiwanischen Verfassung muss der Wahl des Premierministers seit 1997 nicht mehr der Legislativ-Yuan zustimmen, sondern er wird allein vom Staatspräsidenten nominiert und bestellt23. Der Premierminister ist aber weiterhin dem Legislativ-Yuan verantwortlich. Nachdem Chen Shui-bian bei der Präsidentschaftswahl von 2000 seine Rivalen besiegt hatte, fing er an, die seit langem von der DPP vertretene antiatomare 23

Es wird allgemein als ein „semi-präsidentielles System“ bezeichnet.

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Energiepolitik zu betreiben. Der von ihm ernannte Premierminister forderte die Taiwan Power Company, die vollständig vom Staat beherrscht ist, auf, den Bau des Kernkraftwerks Nr. 424 stillzulegen. Der von der KMT beherrschte Legislativ-Yuan war der Meinung, dass die Regierung nicht ohne Zustimmung des Legislativ-Yuans die Stilllegung des KKW Nr. 4 entscheiden könne, weil der Legislativ-Yuan bereits vor einigen Jahren das Budget für den Bau des KKW Nr. 4 gebilligt habe und die Regierung von Verfassungs wegen verpflichtet sei, diesen Beschluss auszuführen, und behauptete die Verfassungswidrigkeit der Entscheidung der Regierung. Die Regierung war hingegen der Auffassung, dass der Bau des KKW Nr. 4 nicht gesetzlich vorgesehen sei und dementsprechend im Ermessen der Exekutive stehe. Zudem sei die Exekutive nicht an den parlamentarischen Budgetbeschluss gebunden. Um diese Meinungsverschiedenheit verfassungsrechtlich zu klären, machte die Regierung einen Organstreit bei den Hohen Richtern anhängig. Daraufhin verkündeten die Hohen Richter die Auslegung Nr. 520 am 15. Januar 2001 und führten aus, dass die Staatsorgane nach pflichtmäßigem Ermessen zwar Ausgaben des beschlossenen Budgets verkürzen oder verändern können, soweit die Verkürzung oder Veränderung des Ausgaben nicht das ordnungsmäßige Funktionieren der gesetzlich eingerichteten Staatsorgane und die Durchführung gesetzlich festgesetzter Kompetenzen beeinträchtigten. Soweit allerdings der Budgetansatz wichtige politische Fragen betrifft, soll der ExekutivYuan nicht ohne Konsultation des Legislativ-Yuans einseitig entscheiden können. Die Entscheidung, den Bau der KKW Nr. 4 zu stoppen, sei eine wichtige politische Frage, bei der die die Mitwirkung des Legislativ-Yuan nachzuholen sei. Nach dieser Auslegung, die beide Seiten für sich als Triumph des Organstreits interpretierten, holte die Regierung die Konsultation des Legislativ-Yuans nach. Es entstand aber kein Konsens zwischen beiden Seiten, ob die Bauarbeiten des KKW Nr. 4 weiter fortgesetzt werden sollten oder nicht. Am 31. Januar 2001 fasste der Legislativ-Yuan den Beschluss für einen Weiterbau des KKW, den die Regierung aber nicht akzeptieren wollte. Nach dem Tauziehen zwischen der Regierung und dem Legislativ-Yuan kamen beide Seiten am 13 Februar 2001 überein, die Bauarbeiten am KKW fortzusetzen. Obwohl der Streit geschlichtet wurde, bleibt jedoch das Spannungsverhältnis zwischen der Legislative und der Exekutive immer noch unklar. Vor allem die Frage, was unter der „vorherigen Mitwirkung der Legislative“ zu verstehen ist und ob nach dem jetzigen Verfassungssystem ein Zustimmungsrecht oder ein Vetorecht für die sog. „wichtige politische Frage“ für den Legislativ-Yuan besteht, ist bislang nicht geklärt worden. Anscheinend wird jedenfalls die Macht der Legislative gegenüber der Exekutive gestärkt, auch wenn eine vorherige Mitwirkung der Legislative bei der Entscheidung „wichtiger politischer Fragen“ verfassungsrechtlich nicht vorgesehen ist. Man muss sich nicht wundern, dass während der Amtszeit Chen Shui24

Der Bau des AKW Nr. 4 wurde am 17. März 1999 angefangen.

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bians die Politik der Regierung im Parlament immer von der Opposition blockiert wurde. Am 20. März 2004 wurde der amtierende Präsident Chen Shui-bian mit 50,1 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. An dem Tag vor den Präsidentschaftswahlen, also am 19. März 2004, wurde auf ihn während einer Wahlkampfveranstaltung ein Attentat verübt. Chen, der die Wahl knapp gewann, wurde bei dem Attentat am Bauch verletzt. Sein Rivale Lien Chan warf ihm nach den Wahlen vor, das Attentat inszeniert zu haben, um einen Wahlsieg zu erringen. Lien Chan verlangte eine erneute Auszählung der Stimmzettel und reichte bei dem Oberen Gericht eine Klage wegen Wahlbetrugs ein. Nach einer Neuauszählung der Stimmen wurde der knappe Wahlsieg Chen Shui-bians bestätigt. Die Klage wegen Wahlbetrug ist dann von dem Oberen und dem Obersten Gericht zurückgewiesen worden. Lien Chan wollte sich nicht damit abfinden und forderte weiterhin eine unabhängige Untersuchung des Attentats auf den Präsidenten. Daraufhin verabschiedete der von Oppositionsparteien beherrschte Legislativ-Yuan das „Gesetz über den Untersuchungsausschuss zur Ermittlung der Wahrheit im Hinblick auf das Attentatsereignis vom 19. März 2004“ (Abk.: „319 UntersuchungsausschussGesetz“). Laut dem „319 Untersuchungsausschuss-Gesetz“ sollte ein Untersuchungsausschuss gebildet werden, welches als einziges Staatsorgan für die Aufklärung des Attentatsereignisses zuständig ist. Hinzu kommt, dass sämtliche Mitglieder des Ausschusses von den Fraktionen des Legislativ-Yuans nach der Fraktionsproportionalität nominiert werden und der Staatspräsident verpflichtet ist, alle vom Legislativ-Yuan nominierten Kandidaten zu ernennen. Um den Zweck der Ermittlung erreichen zu können, erteilte das Gesetz dem Untersuchungsausschuss sämtliche Befugnisse der Staatsanwaltschaft. Der Untersuchungsausschuss kann allen betroffenen Staatsorganen (einschl. Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei) Anordnungen erteilen. Darüber hinaus bleiben im Zuge der Amtsausübung des Untersuchungsausschusses das Strafprozessgesetz, das Gesetz zum Schutz der Staatsgeheimnisse, das Gesetz zum Schutz der Betriebsgeheimnisse und weitere Bestimmungen außer Kraft. Die Regierung und die Regierungspartei hielten das „319 Untersuchungsausschuss-Gesetz“ aufgrund eines Verstoßes gegen das Gewaltenteilungsprinzip und einer Verletzung der Grundrechte für verfassungswidrig25. Die Fraktion der Regierungspartei stellte zudem bei den Hohen Richtern einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle des Gesetzes. In der am 15. Dezember 2004 verkündeten Auslegung Nr. 585 erklärten die Hohen Richter viele Bestimmungen des Gesetzes für

25 Die Regierungspartei lehnte es ab, Mitglieder des Untersuchungsausschusses zu benennen. Der Untersuchungsausschuss bestand dann ausschließlich aus von den Oppositionsparteien empfohlenen Mitgliedern.

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verfassungswidrig26. Indem die Hohen Richter den Untersuchungsausschuss als ein dem Legislativ-Yuan untergliedertes Hilfsorgan des Parlaments, nämlich als parlamentarischen Untersuchungsausschuss, klassifizierten, um die Organisation des 319 Untersuchungsausschusses als solche in seiner Verfassungsmäßigkeit zu bestätigen, wurden die Bestimmungen über die Befugnisse des Untersuchungsausschusses wegen Überschreitung der Kompetenz eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses für verfassungswidrig erklärt. Zugleich wurde zum Erstaunen des Legislativ-Yuans das parlamentarische Untersuchungsrecht zur Klärung von Amtsvergehen der Regierung und Verwaltung zuerkannt27. Die folgende Ausführung ist über diesen Fall hinaus verfassungsrechtlich von Bedeutung: „Um seine durch die Verfassung zugewiesene Gesetzgebungsfunktion effektiv wahrnehmen zu können, muss der Legislativ-Yuan naturgemäß bestimmte Untersuchungsrechte besitzen, um aus eigener Initiative alle Informationen zu erhalten, die für seine Amtsausübung unerlässlich sind. Erst dadurch wird er in die Lage versetzt, bei Erfüllung der Aufgaben eines Volksvertretungsorgans und bei der Wahrnehmung seiner Kontrollfunktion genügend zu denken und wohlüberlegt zu entscheiden.“

Aus der Sicht der Verfassung betrachtet, übt der 319 Untersuchungsausschuss zweifellos Exekutivfunktionen aus, da er nach dem Vorbild des US-amerikanischen special prosecutor bzw. Independent Counsel errichtet wurde. Eine solche Organisation ist jedoch wegen eines Verstoßes gegen das Prinzip der Gewaltenteilung von vornherein verfassungswidrig, weil die Exekutive überhaupt keinen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Ausschusses hat. Diese verfassungsrechtlichen Zweifel wurden erst zwei Jahre später von der Auslegung Nr. 613 geklärt. Am 4. Januar 2004 verabschiedete die Legislative das „Rahmengesetz für Kommunikation und Medien“, das auf Anpassung der ständig stärker werdenden Konvergenz der Kommunikation, Förderung der normalen Entwicklung der Medien und gleichzeitig auf den Rechtsschutz der Bürger, Berücksichtigung der Interessen der Verbraucher und auch auf Sicherung der kulturellen Vielfalt setzt (§ 1). Unter „Kommunikation und Medien“ sind die Übertragung von Ton, Bild, Schrift oder Daten durch Kommunikationsträger wie Kabel, Funk, Satellit oder andere Einrichtungen der elektronischen Übertragung zu verstehen (§ 2 Nr. 1 Rahmengesetz für Kommunikation und Medien)28. Nach § 3 I dieses Gesetzes

26 Vgl. kritisch Tzong-li Hsu, Die Sicherung der Gewaltenteilung durch das Verfassungsgericht, in: Werner Heun/Christian Starck (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit im Rechtsvergleich, 2008, S. 46 f. 27 Ob der Legislativ-Yuan ein Untersuchungsrecht besitzt, war noch in der Auslegung Nr. 325 nicht geklärt. 28 Das Postwesen fällt nicht darunter, so unterliegt es weiterhin der Aufsicht der „Ministry of Transportation and Communication“ (MOTC) (vgl. § 2 Postgesetz). Im Vergleich dazu ist die österreichische Kommunikationsbehörde Austria (Abk.: Komm-

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soll eine Nationale Kommission für Kommunikation (National Communication Commission, abk: NCC) eingerichtet werden, welcher die effektive Aufsicht über den gesamten Bereich Kommunikation und Medien obliegt und welche ihre Kompetenzen in unabhängiger Weise ausübt. Darum verabschiedete die Legislative Ende 2005 das Gesetz der Organisation der „National Communication Commission“ (Abk.: NCC-Gesetz). Die mit den Verwaltungsorganisations- und Medienreformen in das taiwanische Mediensystem eingeführte NCC ist international kein Einzelfall, da sie nämlich an Stelle des Informationsbüros des Exekutiv-Yuans (sic. Regierung), der herkömmlich für die Regulierung der Massenkommunikation zuständig war, nach dem Vorbild der US-amerikanischen „Independent Regulatory Commission“ (IRC) insb. der Federal Communications Commission (FCC)29 und des britischen Office of Communications (Ofcom)30 konstruiert ist. Das Verfahren der Aufstellung und Nominierung der NCC-Mitglieder („NCC-Commissioners“) war aber einzigartig und international unvergleichbar. Nach dem NCC-Gesetz werden die Mitglieder der NCC von den politischen Parteien, die Sitze im Legislativ-Yuan innehaben, nach der Fraktionsproportionalität nominiert und gewählt und der Exekutiv-Yuan übt beinahe keinem Einfluss auf die Zusammensetzung der NCC aus, was zugleich heftige verfassungsrechtliche Bedenken auslöst. Der Exekutiv-Yuan hielt das NCC-Gesetz wegen eines Verstoßes gegen das Gewaltenteilungsprinzip für verfassungswidrig und stellte bei den Hohen Richtern einen Antrag auf abstrakte Normenkontrolle des NCCGesetzes. Gleichwohl wurde die NCC am 22.2.2006 mit 13 hauptamtlichen Mitgliedern gegründet und nahm als „eine staatsferne Superbehörde“ ihre Tätigkeit auf. Am 21. Juli 2006 verkündeten die Hohen Richter die Auslegung Nr. 613, in der die betroffenen Gesetzesbestimmungen für verfassungswidrig erklärt wurden. In der Begründung haben die Hohen Richter wie folgt argumentiert: „Aufgrund des Prinzips der Einheit der Verwaltung und des Demokratieprinzips muss der Exekutiv-Yuan für die gesamte Leistung aller ihm unterstehenden Verwaltungsorgane die Verantwortung gegenüber dem Legislativ-Yuan tragen. Die Übernahme der politischen Verantwortung setzt die Innehabung der Personalgewalt hinsichtlich der Bestellung der Amtsträger der Exekutiv-Organe sowie die Weisungsgewalt hinsichtlich der Amtsausübung der Exekutiv-Organe voraus.“

Da die betroffenen Gesetzesbestimmungen dem Exekutiv-Yuan die Personalgewalt hinsichtlich der Bestellung der Mitglieder der NCC beinahe total entzoAustria), die 2001 gegründet wurde, eine Regulierungsbehörde für Rundfunk, Telekommunikation und Postwesen. 29 Die FCC wurde durch den Communications Act, ein US-Bundesgesetz von 1934, gegründet und agiert inneramerikanisch und international. 30 Die Ofcom wurde 2002 durch den Office of Communications Act begründet.

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gen und infolgedessen eine offenkundige Unausgewogenheit zwischen der Exekutiv- und der Legislativ-Gewalt zur Folge hatten, erklärten die Hohen Richter sie auch wegen einer Verletzung des Prinzips der Gewaltenteilung für verfassungswidrig31. Im Zusammenhang mit dem Gewaltenteilungsprinzip erwähnten die Hohen Richter mehrmals die Freiheit der Kommunikation (Kommunikationsfreiheit): Die Personalgewalt hinsichtlich der Bestellung der Mitglieder der NCC, die dem Exekutiv-Yuan durch die betroffenen Bestimmungen entzogen wurde, ging wesentlich auf den Legislativ-Yuan über, so dass die Bestellung der Mitglieder des NCC wesentlich von den Fraktionen des Legislativ-Yuans beschlossen wurde. Dies würde daher das Vertrauen der Bürger auf die Unparteilichkeit und Glaubwürdigkeit des NCC beeinträchtigen. Der Sinn und Zweck der Einrichtung der NCC als eine unabhängige Behörde wird dann dadurch gefährdet. Dies würde mit der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Kommunikationsfreiheit nicht vereinbar sein. Hervorzuheben ist es, dass die Hohen Richter aufgrund der Konzeption der sog. „Funktionsgerechtigkeit“32 die staatlichen Kompetenzen zu formen und zuzuordnen versuchten, wenn es in der Begründung wie folgt heißt: „Alle Staatsaufgaben sind solchen Staatsorganen zuzuweisen, die nach ihrer Organisation, Struktur und Funktion usw. für die betreffenden Aufgaben gerüstet sind und angemessene und effiziente Entscheidungen erwarten lassen.“

Daraus lässt sich eine wichtige Grundlinie ableiten, die die Kontur der Gewaltenteilungskonzeption deutlich umreißt und einen bedeutenden Schritt zur Vertiefung und Verfeinerung der Gewaltenteilung darstellt33, abgesehen davon, dass immer noch nachvollziehbare Maßstäbe fehlen, womit man im jeweiligen konkreten Fall beurteilen kann, wie eine funktionsgerechte Zuordnung der staatlichen Kompetenzen, eine komplexe Entscheidung, unter Berücksichtigung aller einschlägigen Umstände stattfindet, geschweige denn wann von der taiwanischen Konzeption der Gewaltenteilung die Rede ist. 4. Gewaltenteilung unter dem „dominant-party system“

Bei dem Gewaltenteilungsprinzip geht es nicht nur um eine Trennung der Staatsgewalten, sondern auch um eine gegenseitige Hemmung und Kontrolle. Sie zielt auf die Bändigung der Staatsmacht ab und zwar durch ein System des Miteinanders und des Gegeneinanders, des Zusammenwirkens und des Kontrollie-

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Ausführlich vgl. Hsu (Fn. 26), S. 41 (48 ff.). Zu der aus der Gewaltenteilungslehre abzuleitenden Theorie der Funktionsgerechtigkeit vgl. Thomas von Danwitz, Der Grundsatz funktionsgerechter Organstruktur: Verfassungsvorgaben für staatliche Entscheidungsstrukturen und ihre gerichtliche Kontrolle, in: Der Staat 35 (1996), S. 329 ff. 33 So auch Hsu (Fn. 26), S. 52. 32

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rens von und durch diejenigen, denen die Macht anvertraut ist. Darüber hinaus gilt die Gewaltenteilung als Ordnungsprinzip, um ein System der Verantwortungsteilung zu bezwecken, wenn die Staatsgewalt in Exekutive, Legislative und Judikative gegliedert wird34. Dies alles setzt aber voraus, dass es einen Kernbereich der Funktionen der jeweiligen Staatsgewalt gibt und der Inhalt des zugriffsfesten Kernbereiches im Sinne der für jede Staatsgewalt typischen Aufgaben zu bestimmen ist35. Im 2008 erreichte die KMT bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit, gewann die Präsidentschaftswahl und beendete zugleich das „divided government“. Die Oppositionsparteien im Parlament waren zu schwach, die Rolle der Regierungskontrolle zu spielen. Seitdem die KMT wieder an die Macht gekommen ist, gab es keinen einzigen Fall von Organstreitigkeiten, den die Hohen Richter zu entscheiden hatten. Mit anderen Worten hatten die Hohen Richter keine Chance, anhand des Gewaltenteilungsprinzips die Ausübung der Staatsgewalt zu kontrollieren. Die verfassungsrechtliche Situation der Gegenwart ist meines Erachtens noch schlechter als die in den 1980er Jahren. Auf das Wiederaufleben und die Operationalisierung des Gewaltenteilungssystems kann man noch warten, bis wieder ein „divided government“ entsteht oder eine starke Oppositionspartei im Parlament besteht. V. Staatlichkeit Taiwans Staaten bedürfen, so die klassische Definition, eines Staatsvolkes, eines Territoriums und einer Verfassung. Ohne Verfassungen gibt es keinen legitimierten, den Bürger schützenden, Gleichheit aller und Demokratie gewährleistenden Staat. Das Verhältnis zwischen Staat und Verfassung ist jedoch ein Thema, welches in der Staatsrechts- und der Politikwissenschaft häufig auftaucht und welches in seiner Bedeutung mehrdeutig ist. Je nach zeitlichem und räumlichem Kontext kann es verschiedene Dinge bezeichnen, was zu Interpretationen führt, die in ihrer temporalen und lokalen Gebundenheit in unterschiedlicher Weise auf unterschiedliche Phänomene verweisen. Nach dem verlorenen Bürgerkrieg 1949 gegen die CKP floh die KMT nach Taiwan und dort wurde die Republik China weiterhin formell fortgeführt. Seit der Gründung der Volksrepublik China 1949 beschränkte sich das effektive Staatsgebiet der „Republik China“ nur noch auf die Provinz Taiwan sowie auf die Inselgruppen Kinmen und Matsu. Von der Verfassung der „Republik China“ und auch der Quasi-Verfassung der „Interim-Bestimmungen“ her wurde die Volksrepublik China „de jure“ als „Pseudo-Staat“ bzw. „Rebellen-Regierung“ angesehen. 34 Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Gewaltengliederung und Verantwortungsteilung als Ordnungsprinzip, in: Verfassungen – zwischen Recht und Politik: Festschrift zum 70. Geburtstag für Hans-Peter Schneider, 2008, S. 183–196. 35 Vgl. Fritz Ossenbühl, Aktuelle Probleme der Gewaltenteilung, DÖV 1980, 545 (548).

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Durch die seit 1991 in Gang gesetzten Verfassungsreformen, vor allem durch die Abschaffung der „Interim-Bestimmungen“ und die Verkündung der Zusatzartikel, entwickelte sich ein besonderes Verhältnis der „Republik China“ gegenüber der Volksrepublik China (Verhältnis zwischen Staaten sui generis, Zwei-StaatenTheorie). Dies ist daran klar zu erkennen, dass in der Präambel der Zusatzartikel steht, dass die Zusatzartikel deswegen erlassen wurden, „um dem Bedürfnis der Wiedervereinigung des Staates zu entsprechen“. Das Wort „Wiedervereinigung des Staates“ kann nicht anders interpretiert werden, als dass die Spaltung des Staates von der Verfassung vorausgesetzt wird. Verfassungsrechtlich also hat sich die Volksrepublik China seither durch die Zusatzartikel der Verfassung von der „Republik China“ „abgespalten“. Dazu kommt auch, dass in Art. 1136 der Zusatzartikel vorgesehen ist, dass Rechte und Pflichten zwischen den Völkern in dem Freigebiet und im Festlandchina und die weiteren einschlägigen Angelegenheiten durch Gesetz geregelt werden sollen. Diese verfassungsrechtliche Bestimmung bedeutet eine Umstellung der rechtlichen Position von beiden Seiten der Taiwan Straße und schafft eine verfassungsrechtliche Ermächtigung für den Gesetzgeber zur Regelung der Rechtssache der beiden Staaten. Dementsprechend wird in dem Zusatzartikel absichtlich der Begriff „Freigebiet der Republik China“ (the free area of the Republic of China) benutzt, um es vom Festlandchina zu unterscheiden. Daraufhin erließ der Gesetzgeber im Jahr 1992 das „Gesetz über das Verhältnis zwischen den Völkern des Taiwan Gebietes und des Festland Gebietes“ (abk. Zweitseitiges Gesetz). Bemerkenswert ist, dass der Gesetzgeber statt des verfassungsrechtlichen Begriffs „Freigebiet der Republik China“ den Begriff „Taiwan Gebiet“ (The Taiwan Area) verwendet. d.h. der Gesetzgeber die „Republik China“ mit „Taiwan“ ersetzt. Unter dem „Taiwan Gebiet“ wird dann das Gebiet verstanden, das der Herrschaftsmacht der Regierung unterliegt (§ 2 Nr. 1 Zweitseitiges Gesetz). Da die „Provinz“ durch die „Vierte Verfassungsänderung“ seit 1997 quasi nicht mehr besteht, ist „Taiwan“ seither nicht nur de facto sondern auch de jure die Staatlichkeit zugewiesen, was nicht nur deswegen, dass Taiwan einer der bedeutendsten internationalen Verkehrsknotenpunkte im westlichen Pazifik ist, sondern auch es ist im Interesse der 21 Millionen Taiwaner von großer Wichtigkeit ist. Gründe für die Nichtanerkennung sind zumeist wirtschaftlicher Natur und die weltweit überwiegend akzeptierte Ein-China-Politik der Volksrepublik China führt dazu, dass der „Republik China“ die Anerkennung seit 1971 verweigert wird. Gerade unter der sog. Ein-China-Politik ist Taiwan doch sowohl de facto als auch de jure ein eigenständiger Staat, da es außer der Volksrepublik China kein anderes China mehr gibt. Es lässt sich feststellen, dass Taiwan ein Land ist, in dem sich der moderne Konstitutionalismus entwickelte. Es verfügte seit langem über ein formalisiertes Gesetzgebungsverfahren. Es gibt eine Verfassung und weitere konstitutionelle 36

Zuerst in Art. 10.

Demokratisierung, Gewaltenteilung und Staatlichkeit

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Dokumente wie die Zusatzartikel der Verfassung, die die Funktionen und Organisationen der verschiedenen Staatsgewalten vorsehen und die individuellen Rechte des Bürgers festhalten. Das Prinzip der Volkssouveränität, das in Art. 2 der taiwanischen Verfassung festgelegt ist, bestimmt das Volk zum souveränen Träger der Staatsgewalt. Die Verfassung als politisch-rechtliche Grundlage eines Staates beruht danach auf der verfassungsgebenden bzw. -ändernden Gewalt des Volkes. Die Verfassungsrevision von 1991 hat nicht nur die Basis eines Mehrparteiensystems geschaffen, sondern auch endlich die Tatsache des Verlustes von Festlandchina reflektiert. Taiwan ist im Hinblick auf sein Staatswesen ein Verfassungsstaat, auch wenn nur in einem weiten formellen Sinne, in dem die Staatsgewalt an eine Verfassung gebunden ist, welche ihre Herrschaftsmacht begrenzt37, so wie in der Gerichts- und Politikwissenschaft bezeichnet wird. Im Staatsrecht wird der Begriff Verfassungsstaat aber überwiegend in einem engen inhaltlichmateriellen Sinne verwendet: er bezieht sich auf einen bestimmten Idealtypus des Verfassungsstaates, nämlich den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat westlicher Prägung. VI. Schlussbemerkungen und Perspektiven Die Hohen Richter haben folgende Merkmale zu den obersten Wertprinzipien unserer Demokratie bestimmt: Achtung vor den in der Verfassung konkretisierten Menschenrechten38, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteienprinzip, Chancengleichheit für alle politischen Parteien, Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition. Der Weg der Verfassungsreform und der damit zusammenhängenden politischen Entwicklung in Taiwan zeigen sich immer sehr kompliziert und manchmal auch spektakulär. Die Abwechselungen der Regierung in verschiedenen Zeiten, d.h. von der japanischen Besatzungszeit über die diktatorische Regierung der KMT, bis zum zweimaligen Regierungswechsel, einmal von der KMT zur Oppositionspartei DPP in 2000, und wiederum zurück zur KMT 2008, hatten großen Einfluss auf die Entwicklung des taiwanischen Konstitutionalismus. Insbesondere die Demokratisierungsreformen, die Mitte der 1980er Jahre begannen, und dann im Laufe der Zeit die Auseinandersetzungen über den Nationalismus und die staatliche Identität hervorgebracht haben, haben auch die politische Entwicklung in Taiwan mehr 37 Ein Sonderfall ist das Vereinigte Königreich, ein Land, das bis heute über keine geschriebene Verfassung verfügt und das dennoch als Verfassungsstaat gilt. Vgl. HansChristoph Schröder, Ancient Constitution. Vom Nutzen und Nachteil der ungeschriebenen Verfassung Englands, in: Hans Vorländer (Hrsg.), Integration durch Verfassung, 2002, S. 137 ff. 38 Vgl. Chien-liang Lee, Die Verfassungsgerichtsbarkeit und Grundrechtsentwicklung in Taiwan (1949–1999) im Vergleich mit Deutschland, in: Christian Starck (Hrsg.), Staat und Individuum im Kultur- und Rechtsvergleich, 2000, S. 135 ff.

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dynamische und tiefgreifende Stoßwirkung als die Demokratisierungsprozesse der anderen Länder zu gleichen Zeiten gegeben, was von einigen Autoren als „third wave“ bezeichnet wird39, wie z. B. in den osteuropäischen Ländern. Vor diesem Verfassungsverhältnis entfaltet sich jedoch noch nicht die integrative und identitätsstiftende Wirkung, die Merkmal erfolgreicher Verfassungen ist. Es fehlen immer noch die allgemeine Verbreitung und die politische Wirkung von Verfassungsdenken und „Verfassungsgefühlen“. Alles in allem ist es eine objektive Tatsache, dass Taiwan ein Staat mit einer Verfassung ist. Trotz aller Probleme der Gegenwart scheint Taiwan, sowohl im Vergleich mit früheren Epochen seiner Geschichte als auch im Vergleich mit anderen Staaten, als ein bemerkenswert demokratisch-plurales und mit einem vitalen Verfassungsverhältnis ausgestattetes Land. Es ist aber nicht zu übersehen, dass seit 2008 die KMT als Regierungspartei eine Annäherungspolitik mit der Volksrepublik China verfolgt. Nach dem Auftakt entscheidender Gespräche zwischen KMT und CKT sprachen beide Seiten von einer Annäherung, auch wenn die Kernforderung heftig umstritten bleibt. Für Taiwan scheint der Point of no Return schon erreicht zu sein. Die neue Entwicklung zwischen Taiwan und China wird oft als „eisbrechende Fähre“ bezeichnet. Bei Lichte besehen ist es doch anders. Es besteht dabei so dünnes Eis, dass man aufpassen muss. Es ist, als befände man sich auf einem zerbrechlichen Dach über einem Abgrund. Taiwaner näheren sich der äußersten Grenze, nach der eine andere Welt oder eine andere Dunkelheit anfängt. Hierfür gibt es nur noch einen richtigen und einen falschen Weg. Ob die Taiwaner sich für den falschen Weg entscheiden, wird sich in kurzer Zeit zeigen.

39 Z. B. Samuel P. Huntington, The Third Wave: Democratization in the Late Twentieth Century, 1991.

Polens Beitritt zur Europäischen Union im Gefüge von Umweltrechtsprinzipien Von Konrad Nowacki I. Einführung Der römische Vertrag von 1957 zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft enthielt vor Erlassung der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 keine Regelung auf dem Gebiet der Umweltschutzproblematik. Die jetzige Fassung des Vertrags von Rom (konsolidierter Text mit Änderungen zum Vertrag von Maastricht über die Europäische Union von 1992, Vertrag von Amsterdam, Vertrag von Nizza von 2000 und letztlich von Lissabon) sieht u. a. eine nachhaltige und ausgewogene Entwicklung und den Schutz der natürlichen Umwelt als wichtige Grundsätze und Zielsetzungen im Bereich Politik und Funktion der Europäischen Gemeinschaften vor. Obwohl es in römischen Vertrag ursprünglich keine ausdrücklichen Regelungen zum Umweltschutz gab, wurden Aufgaben, Ziele und Verfahrensmaßnahmen wie auch rechtliche Instrumente zum Schutz verschiedener Umweltkompartimente vor Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (Art. 130 entsprechend) von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bis Mitte der 80-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts durch sekundäre Rechtsvorschriften in Form von Verordnungen und vorwiegend Richtlinien des Rates bestimmt.1 Mit politischen, konzeptionellen und orientierten Aktionsprogrammen, die seit 1972 innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1973, 1977, 1983, 1987) und seit 1992 innerhalb der Europäischen Gemeinschaft (1992 und 2002) aufgestellt werden, wurde die Möglichkeit zur Umsetzung und Umgestaltung der Schutzkonzepte in rechtliche Instrumente von Richtlinien, Entscheidungen und anderen EG-Rechtsakten geboten.2 1 s. K. Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutchland, Bd. I: Umweltschutz als Staatsziel, 2. Aufl., 1984; A. Kiss/D. S. Shelton, Manual of European Environmental Law, Cambridge 1993, S. 19; F. J. Peine, Aktueller Stand der Europäisierung des Umweltrechts und deutsche Umsetzungsprobleme, in: Lothar Knopp (Hrsg.), Neues Europäisches Umwelthaftungsrecht und seine Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft, Heidelberg 2003, S. 1–8. 2 Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, 2. Aufl., 2000; L. Krämer, European Environmental Law, London 1994, S. 305 ff.; P. J. Tettinger, Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. 1, 7., neu bearb. Aufl., Heidelberg 2004, S. 23 ff.; A. Rest, Abkommen über den Schaden-

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Man darf eine Behauptung wagen, dass es mit dieser stufenweisen und evolutionären Entwicklung immer ausführlicherer und umfassenderer rechtlicher Regelungen zum Umweltschutz seit Beginn der 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Union möglich war, den Umweltschutz als eins der wichtigsten Ziele, Prinzipien und Grundrechte von EG-Angehörigen in den Entwurf der gescheiterten Europäischen Verfassung und in die in Nizza verabschiedete Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2000) aufzunehmen.3 Mit der vom Europäischen Rat und den Organen der Europäischen Union in den 90-er Jahren angestrebten Erweiterung der EU um neue Mitgliedstaaten, zuerst aus Mitteleuropa (Polen, Ungarn, Tschechien), Südeuropa (Zypern, Malta, Slowenien) und anschließend um Baltenländer und die Slowakei, wurden diesen Ländern zahlreiche politische, rechtliche und wirtschaftliche Verpflichtungen auferlegt, um den Integrationsanforderungen gerecht zu werden. Viele Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens wie auch rechtliche Regelungen waren veraltet oder dem wirtschaftlichen und rechtlichen Mechanismus der Europäischen Gemeinschaft nicht angepasst. In Polen trat dieses Problem in manchen Bereichen besonders krass zum Vorschein, wie z. B. in der Landwirtschaft, im Umweltschutz, der Wettbewerbs- und Steuerpolitik wie auch der Telekommunikation. Die Integration mit Europäischen Gemeinschaften war mit radikalen Änderungen im jeweiligen Kandidatenstaat und mit der notwendigen Anpassung von Institutionen und Systemen verbunden. Die Beitrittsvorbereitungen erforderten zahlreiche Entsagungen und einen tief greifenden Wandel des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen Systems der Kandidatenstaaten wie auch die Abtretung eines Teils der staatlichen Hoheitsgewalt an die Organe der Europäischen Union nach dem EU-Beitritt. II. Konstitutionelle Voraussetzung des Beitritts und Umweltrechtsprinzipien Durch Verabschiedung der neuen Verfassung der Republik Polen am 2. April 1997 hat die Nationale Versammlung die Möglichkeit zur Integration mit supranationalen Strukturen durch Bildung eines verfassungsrechtlichen Mechanismus für die Übertragung eines Teils der staatlichen Hoheitsgewalt auf diese Strukturen geregelt. Der Inhalt von Art. 90 der Verfassung wurde gewöhnlich als eine ersatz bei grenzüberschreitenden Umweltschäden, Berlin 1976, S. 183 ff.; R. Paczuski, Prawo ochrony s´rodowiska Unii Europejskiej [Umweltschutzrecht der Europäischen Union im Umriss], Torun´ 1999, S. 51 ff.; P. Korzeniowski, Prawo i polityka ochrony s´rodowiska w procesie integracji z Unia˛, Europejska˛ [Umweltschutzrecht und -politik im Prozess der Integration mit der Europäischen Union], Lodz 2001, S. 69 ff. 3 Peter J. Tettinger/Klaus Stern (Hrsg.), Europäische Grundrechte-Charta, Kölner Gemeinschafts-Kommentar, München 2006, S. 611 ff.

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Möglichkeit zur Einschränkung der Staatskompetenzen zugunsten der Europäischen Union interpretiert. Ferner wurde auch vorgebracht, dass „diese Vorschrift nur deswegen in die Verfassung aufgenommen wurde, weil Polen den EU-Beitritt angestrebt hatte“ 4. Zu den Prinzipien und Zielsetzungen, nach denen sich die Republik Polen richtet, gehört das Prinzip der nachhaltigen (ausgewogenen) Entwicklung (Art. 5) und der Pflicht der Staatsorgane zum Umweltschutz wie auch das Prinzip betreffend den Zugang aller Staatsbürger zu Informationen über die Umwelt (Art. 74)5 und die Haftung der Staatsbürger für den Umweltzustand und für die Verschlechterung des Umweltzustands (Art. 86). Diese Prinzipien und Aufgaben wurden in der ordentlichen Gesetzgebung zur Regelung des Umweltschutzes, insbesondere aber im umfassenden Umweltschutzgesetz vom 27. April 2001 und im Abfallgesetz,6 Wassergesetz von 2001 im Naturschutzgesetz von 2004 als auch im Gesetz von 2008 über Zugang zu Umweltinformationen, gesellschaftlichen Anteil an Entscheidungsprozess und Umweltverträglichkeitsprüfung, und in vielen anderen Gesetzen und Durchführungsverordnungen, entwickelt. Mit allen diesen Rechtsvorschriften wurde der gemeinschaftliche Besitzstand der Europäischen Union ins polnische System umgesetzt, der seit einigen Jahrzehnten in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft zur Anwendung kommt. III. Schilderung von EU-Beitrittsverhandlungen Da sich in Polen alle politischen Parteien und demnach auch fast alle Regierungen seit Beginn der 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts darin einig waren, dass der Integration mit europäischen Strukturen absolute Priorität in der Innenpolitik einzuräumen war, wurde ein beachtlicher Fortschritt auf dem Gebiet der Vorbereitung Polens auf die Mitgliedschaft erzielt. Die Mitgliedschaftsverhandlungen wurden am 31. März 1998 angebahnt (durch die rechtsgerichtete Regierung) und am 13. Dezember 2002 auf der Tagung des Europäischen Rates in Kopenhagen abgeschlossen (durch die linksgerichtete Regierung). Die Meinung wird offiziell vertreten, dass die Erzielung eines so spektakulären Erfolgs, d.h. Verringerung des Entwicklungsabstands zwischen Polen und EU-Staaten und Erfüllung der Mitgliedschaftskriterien in einer so kurzen Zeit, nicht möglich gewesen wäre, wenn Polen viele Zwischenziele nicht erreicht hätte, die für die Erklärung des 4 J. Boc ´ (Red.), Konstytucja Rzeczypospolitej oraz komentarz do Konstytucji RP z 1997 roku [Verfassung der Republik Polen und Kommentar zur Verfassung der Republik Polen von 1997], Wrocław 1998, S. 159 ff. 5 Boc ´ (Fn. 4), S. 134 ff., 150–151; s. K. Nowacki/M. Mucha, Problemy regulacji prawnej doste˛pu do informacji w Polsce [Probleme der rechtlichen Regelung zum Informationszugang in Polen], „Przegla˛d Sa˛dowy“ Nr. 2, 2002, S. 3–25. 6 GBl. Nr. 62 Pos. 627 und 628 m. Änd.; vgl. näher hierzu K. Nowacki, Aktueller Stand der Umweltrechtsentwicklung in Polen vor dem EU-Beitritt, in: Knopp (Hrsg.) Neues Europäisches Umwelthaftungsrecht und seine Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft, Heidelberg 2003, S. 145 ff. und M. Görski, ebd., S. 193.

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Landes durch die Europäische Union für verhandlungsbereit erforderlich waren. Die Verbreitungsidee bedeutete für die EU-Staaten wie für Polen vor allem die Abschaffung der in Jalta vereinbarten Teilung Europas und die Rückkehr zur Normalität auf dem Kontinent, um den Völkern den wirtschaftlichen Fortschritt und die zivilisatorische Entwicklung in Aussicht zu stellen.7 Im angeführten Regierungsbericht und in anderen Studien werden interne und externe Faktoren deutlich hervorgehoben, die es den Kandidatenstaaten ermöglicht haben, Verhandlungen erfolgreich zu beenden und die Mitgliedschaft zu erwerben8. Nach dem Regierungsbericht von 2003, in dem der Verlauf der Verhandlungen mit Europäischen Kommission besprochen und analysiert wird, hat Polen seinen Standpunkt folgendergestalt geäußert: „Als ein Land, das künftig den Strukturen der Europäischen Gemeinschaften beitreten wird, erwartet Polen, dass seine Mitgliedschaft in der EU die Entwicklung des Landes erheblich beschleunigen und die Wirtschaft unter Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Schaffung neuer Arbeitsplätze dauerhaft stärken wird. Unser Land hat erklärt, dass es den gemeinschaftlichen Besitzstand der Europäischen Union im Ganzen annehmen und umsetzen und sich an allen Integrationsbereichen einschließlich der gemeinsamen Landwirtschafts- und Fischereipolitik der Europäischen Union beteiligen wird.“ 9 Polen hat anerkannt, dass die polnische Ostgrenze (als künftige EU-Grenze) des wirksamen Schutzes bedarf, dass die Aufgaben auf dem Gebiet der Visum – Asyl – und Immigrationspolitik und die Mitwirkung der Gerichts – und Polizeiorgane in zivil- und strafrechtlichen Angelegenheiten von Bedeutung sind. Überdies hat Polen eine Erklärung abgegeben, dass es Zielsetzungen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union verfolgt und sich an ihrer Entwicklung und Durchführung aktiv beteiligen möchte. Um die EU-Mitgliedschaft zu erwerben, musste Polen den gemeinschaftlichen Besitzstand auch auf dem Gebiet des Umweltschutzes im Ganzen annehmen. In Bezug auf viele Bereiche konnte dies nicht sofort erfolgen, sodass Anpassungsfristen vereinbart wurden, die bei Polen grundsätzlich nicht über das Jahr 2017 hinausgehen. Die Verhandlungen wurden auf der Internationalen Beitrittskonferenz geführt und die Parteien waren durch Außenminister vertreten. Im Hinblick auf Arbeitsbereiche wurden Vereinbarungen von stellvertretenden Delegationschefs getroffen.10

7 Der Regierungsbericht über Ergebnisse der Verhandlungen über die Mitgliedschaft der Republik Polen in der Europäischen Union. Außenministerium, Amt des Komitees für Europäische Integration, Dezember 2002, Warschau 2003. 8 Detailliert s. in Europäische Grundrechte-Charta . . ., Anmerkung 2. zu Art. 37, S. 631 ff. 9 s. Regierungsbericht, S. 74. 10 Vgl. G. Grabowska, Europejskie prawo ochrony S ´ rodowiska [Europäisches Umweltschutzrecht], Warszawa 2001.

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Wie bereits erwähnt, wurde im Hinblick auf Polen das EG-Recht durchgesehen und mit polnischem Recht verglichen. Demnach hat unser Land im Verhandlungsstandpunkt eine Erklärung über die Bereitschaft zur Annahme des gemeinschaftlichen Besitzstands im jeweiligen Bereich vor Erwerb der Mitgliedschaft abgegeben. Diskussionen gab es fast bis zum letzten Augenblick, z. B. über den freien Verkehr von Personen und über die Landwirtschaft; dabei wurden Vereinbarungen auf der Gipfelkonferenz in Kopenhagen Mitte Dezember 2002 getroffen. Im Rahmen der Umweltproblematik wurden 9 Übergangsfristen für die Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzbestandes erst nach Erwerb der EUMitgliedschaft durch Polen und neun andere Länder der Region vereinbart. Übergangsfristen, die Polen für die Umsetzung der EG-Vorschriften11 eingeräumt wurden, sind sehr unterschiedlich. Dies sind Zeiträume von 8 bis 13 Jahren (für Kläranlagen), 5 Jahren (Wasserverunreinigung durch gefährliche Stoffe), ca. 1,5 Jahren (Anpassung von Kesselwagen und Auslieferungsbedingungen in großen Tankstellen) oder Zeiträume von 10 und 12 Jahren für die Anpassung großer Kraftwerke an zulässige Konzentrationen für Schwefel-, Staub- und Stickstoffmonoxidemissionen. In Anhängen zu diesen Vereinbarungen sind detaillierte Listen polnischer Betriebe oder Ballungsgebiete (Kläranlagen) enthalten, für die diese Übergangsfristen gelten. Nach Ansicht der polnischen Regierung über die Vereinbarungsphase und die künftige Möglichkeit zur Implementierung der Umweltschutzproblematik gemäß Anhang XII (Polen) zum zweiten integrierten Teil des Beitrittsvertrags von Athen (2003) gehört die „Umwelt“ zu denjenigen Verhandlungspunkten, wo Meinungen der Europäischen Union und Polens ursprünglich völlig auseinander gingen.12 Enorme Investitionskosten für die Implementierung mancher Richtlinien haben bewirkt, dass Polen langfristige Übergangsfristen beantragt hat. Die EU-Länder hingegen, die unter dem Druck der öffentlichen Meinung und der Diskussionen im Europäischen Parlament standen, waren daran interessiert, möglichst geringe Emissionsmengen und kurze Übergangsfristen zu billigen.13

11 Veröffentlicht z. B. in: EU-GBl. L 135 von 1991; EU-GBl. L 126/76; EU-GBl. L 257, S. 26 von 1996; EU-GBl. L 365, S. 24 von 1994; EU-GBl. L 333, S. 1 von 1994; EU-GBl. L 365, S. 10 von 1994; EU-GBl. L 30, S. 1 von 1993; EU-GBl. L 336, S. 1 von 1988; EU-GBl. L 121, S. 13 von 1999. 12 Regierungsbericht, S. 118. 13 Ebd.

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IV. Grundprinzipien und -konzepte von Umweltrecht und -politik in Polen Die in Nizza angenommene Charta der Grundrechte der EU, die als Teil II des Entwurfs zum Verfassungsvertrag galt, hat bewirkt, dass „das hohe Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität mit EU-Politiken zu integrieren und nach dem Prinzip der ständigen Entwicklung zu garantieren sind“ (Art. II-37 der polnischen Fassung der Charta). Mit den oben genannten Vereinbarungen werden auch Verpflichtungen den Mitgliedstaaten auferlegt. Während der Verhandlungen im Rahmen des größten Erweiterungsprozesses, den es je in der Geschichte der Europäischen Gemeinschaften gab, wurde das EG-Recht von unserem Land durchgesehen. Mit der Erledigung aller festgelegten Bereiche für die Anpassung des polnischen Rechts an den gemeinschaftlichen Besitzstand konnten Arbeiten am Entwurf eines multilateralen völkerrechtlichen Vertrags, d.h. des Beitrittsvertrags, zum Abschluss gebracht werden. Der Vertragsentwurf wurde dem Rat und der Europäischen Kommission durch Vertreter der Mitgliedstaaten am 16. April 2003 in Athen vorgelegt. In diesem Entwurf wurde die Aufnahme neuer Staaten in die Europäische Union ab 1. Mai 2004 vorgesehen. An diesem Tag ist auch die Republik Polen zu einem vollberechtigten Mitglied der Europäischen Union geworden.14 In der Literatur wird hervorgehoben, dass die Umsetzung des EG-Rechts ein komplizierter und mehrseitiger Prozess war und ist, an dem solche Teilnehmer wie die Öffentlichkeit (z. B. Beteiligung der Bürger an Verwaltungsverfahren, Begutachtung der Pläne und Strategien, Beurteilung der Handlung öffentlicher Gewaltorgane), Organe der öffentlichen Verwaltung, gesellschaftliche Organisationen und Wirtschaftsunternehmen mitwirken. Die Beteiligung öffentlicher Organisationen an der Umsetzung von Bestimmungen mancher Richtlinien kann von großer Bedeutung sein, z. B. bei Arbeiten an der Bestimmung von Gebieten, die in das europäische Schutzgebietsnetz NATURA 2000 aufzunehmen sind. Ökologische Organisationen mögen auf Entscheidungen örtlicher Behörden über die Bestimmung des Standortes von Objekten und Umweltanlagen, Organisation und Finanzierung örtlicher Abfallwirtschaftssysteme einschließlich Verpackungen und Verpackungsabfällen Einfluss nehmen.15

14 Vgl. J. Boc ´ /K. Nowacki/E. Samborska-Boc´, Ochrona s´rodowiska [Umweltschutz], Wrocław 2005, S. 130. 15 J. Radziejowski/S. Niesyto/J. Jeziorski, Integracja europejska a ochrona s ´rodowiska [Europäische Integration und Umweltschutz], Fundacja * Rozwój GGG, Warszawa 2002, S. 83 ff.

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Bei Umsetzung des EG-Rechts obliegen den Wirtschaftsunternehmen weitgehende Verpflichtungen. Zur Anpassung an die EG-Standards auf dem Gebiet des Umweltschutzes müssen von Unternehmen viele Investitionen vorgenommen werden. Daher werden sie in den Jahren 2001–2015 einen Investitionsaufwand von ca. 100 Mrd. Zl auf sich nehmen müssen. Weiterhin in diesem Aufsatz werden kurz die wichtigsten Grundsätze des polnischen Umweltrechts und Umweltpolitik erörtert sowie breiter das Prinzip und Institut des Zugangs zu Umweltinformationen dargestellt.

1. Abriss des geltenden Umweltschutzrechts

Im Effekt vieler Vorbereitungsarbeiten entstand in Polen seit 2000 ein neues Rechtssystem, dem das Umweltschutzrecht der EU zugrunde liegt. Die wichtigsten Rechtsakte in diesem Bereich sind wie folgt (sie gelten mit späteren Änderungen): – Umweltschutzgesetz vom 27. April 2001 (GBl. Nr. 62 Pos. 627 mit Änd.); – Abfallgesetz vom 27. April 2001 (GBl. Nr. 62 Pos. 628 mit Änd.); – Wassergesetz vom 18. Juli 2001 (GBl. Nr. 115 Pos. 1229 mit Änd.); – Naturschutzgesetz vom 16. April 2004 (GBl. Nr. 92 Pos. 880 mit Änd.), das ab 1. Mai 2004 in Kraft getreten ist; – Gesetz über Verpackungen und Verpackungsabfälle vom 11. Mai 2001 (GBl. Nr. 63 Pos. 638 mit Änd.); – Gesetz über die Pflichten der Unternehmer zur Verwertung mancher Abfälle wie auch über die Produktgebühr und die Depotgebühr (GBl. Nr. 63 Pos. 639 mit Änd.); – Gesetz über genetisch modifizierte Organismen vom 22. Juni 2001 (GBl. Nr. 76 Pos. 811 mit Änd.); – Gesetz zur Verfahrensweise mit ozonschichtschädigenden Substanzen vom 2. März 2001 (GBl. Nr. 52 Pos. 537); – Atomgesetz vom 29. November 2000 (GBl. von 2001 Nr. 3 Pos. 18 mit Änd.); – Gesetz über den Handel mit Berechtigungen zur Emission von Treibhausgasen und anderen Schadstoffen vom 22. Dezember 2004 (GBl. Nr. 281 Pos. 2784) und andere. Vorher erlassene Rechtsakte die mit weitereichenden Novellierungen gelten sind meistens an die von Polen ratifizierten völkerrechtlichen Verträge und das Europarecht angepasst. Ein Teil dieser Regelungen und ihre grundlegenden Rechtsinstrumente zum Umweltschutz werden in diesem Aufsatz nur erwähnt.

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Wie in der deutschen Literatur16 betont wird, stellt auch das polnische Umweltschutzrechtssystem vorwiegend einen erheblichen Teil des Verwaltungsrechts dar. In diesem System des Umweltschutzrechts, kommt jedoch die führende Rolle dem Umweltschutzgesetz vom 27. April 2001 zu. Das Umweltschutzgesetz (USG) gilt in unserer Rechtsordnung als sui generis eine „Umweltschutzverfassung“, obwohl es formell nicht den Rang der Verfassung hat.17 Die Rolle des USG in der Rezeption und Umsetzung der europäischen Rechtsnormen und des gemeinschaftlichen Besitzbestandes ist auf diesem Gebiet nicht zu überschätzen. Die Kommentatoren des USG weisen darauf hin, dass die Konstruktion des Gesetzes ziemlich klar und im Allgemeinen dem Konzept eines Rechtsaktes, dem das Rechtssystem zum Schutz der Umwelt zugrunde liegt, angepasst ist. Das Gesetz ist in neun Titel gegliedert: 1. Allgemeine Vorschriften, 2. Schutz der Umweltressourcen, 3. Verschmutzungsverhütung, 4. Große Störfälle, 5. Finanzrechtliche Umweltschutzmittel, 6. Verantwortlichkeit im Umweltschutz, 7. Für den Umweltschutz zuständige Verwaltungsorgane und -einrichtungen, 8. Anpassungsprogramme, 9. Schlussvorschrift. Diese Titel zerfallen dann in Abschnitte und Kapitel. Eine solche Gliederung ist unerlässlich, da das Gesetz eine umfangreiche Materie regelt.18 „Allgemeine Vorschriften“ im Titel I des Gesetzes von 2001 beziehen sich auf die gesamte umweltschutzrechtliche Regelung, die nach neuen Voraussetzungen 16 Tettinger (Fn. 2), S. 179 ff., 191 ff., anlässlich von Polizei- und Ordnungsrechtsfragen; s. a. R. Breuer, Umweltschutzrecht, in: v. Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 8. Aufl., Berlin/New York 1988, S. 601 ff. 17 s. Nowacki, Europäische Vorgaben im polnischen Umwelt- und Naturschutzrecht, in: Ennuschat/Geerlings/Mann/Pielow in Verbindung mit Klaus Stern (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft im Staat der Gegenwart, Gedächtnisschrift für Peter J. Tettinger, Köln/München 2007, S. 747 ff. 18 Jendroska (Red.), Nowe regulacje prawne ochrony s ´rodowiska w Polsce – dostosowanie do wymagan´ Unii Europejskiej [Neue umweltschutzrechtliche Regelungen in Polen – Angleichung an EU-Anforderungen], Wrocław 2001, S. 103 ff.; s. a. J. Jendroska (Red.), Ustawa – Prawo ochrony s´rodowiska. Komentarz [Umweltschutzgesetzlicher Kommentar], Wrocław 2001, S. 1045.

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aus mehreren Gesetzen besteht. Dabei wird der allgemeinrechtliche Systemrahmen gesetzt. Im Titel I ist neben grundlegenden umweltschutzrechtlichen Prinzipien auch eine umfassende Sammlung von fünfzig Legaldefinitionen vorhanden, die für die Auslegung und Anwendung des gesamten Umweltschutzsystems von entscheidender Bedeutung sind. 2. Umweltschutzrechtliche Prinzipien

Die wichtigsten umweltschutzrechtlichen Prinzipien und Konzepte sind: a) Integrationsprinzip (Art. 5) Dieses Prinzip besagt, dass beim Schutz eines oder mehrerer Elemente der Natur andere Elemente zu schützen sind. Gleichzeitig wird in diesem Prinzip die integrierte Einstellung zum Naturschutz betont, die dem gesamten Gesetz ihr besonderes Gepräge verleiht.19 b) Vorsorge- und Vorbeugungsprinzip (Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2) Im Art. 6 Abs. 1 des USG heißt es u. a.: Wer eine Tätigkeit aufnimmt, die auf die Umwelt negativ einwirken könnte, hat dieser Einwirkung vorzubeugen. c) Verursacherprinzip – „Polluter pays principle“ Nach diesem Prinzip hat jeder, der die Umwelt verschmutzt, Kosten für die Beseitigung von Umweltschäden und jeder, der die Umwelt verschmutzen könnte, Kosten für die Vermeidung der Umweltbelastung zu tragen. In diesem Grundsatz wird das Prinzip der Verantwortlichkeit für Umweltschäden nach Art. 86 der Verfassung der Republik Polen entwickelt. Die Anwendung dieses Prinzips ist mit einer umfangreichen Verantwortlichkeitsproblematik verbunden. d) Ökopolitik, Umweltschutz- und Sanierungsprogramme Die Ökopolitik des Staates, vom Umweltminister entwickelt, dann vom Ministerrat gebilligt und vom Parlament verabschiedet, gilt nach dem USG als ein grundlegendes Dokument das auf dem Gebiet des Umweltschutzes vor allem politischen Charakter aufweist. Das ist mehr ein Entwicklungskonzept. Die Ökopolitik wird jedes Mal für vier Jahre ausgearbeitet, hierin vorgesehene Maßnahmen beziehen sich indes auf weitere vierjährige Zeiträume, wobei Anforderungen an die Ökopolitik gesetzlich festgelegt werden. Der Umweltminister hat alle vier 19

Vgl. Boc´ /Nowacki/Samborska-Boc´ (Fn. 14).

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Jahre Berichte über die Erfüllung der Ökopolitik dem Parlament vorzulegen. Zur Erfüllung der staatlichen Ökopolitik werden auch Umweltschutzprogramme auf Woiwodschaft-, Kreis- und Gemeindeebene angenommen; über die Implementierung dieser Programme sind ebenfalls Berichte zu erstatten. e) Zugang zu Informationen über die Umwelt Der Zugang zu Informationen steht jedem ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit oder seines rechtlichen Interesses zu. Verwaltungsorgane (auch andere Einrichtungen, die kraft Gesetzes oder nach entsprechenden Verträgen zur Erfüllung öffentlicher Umweltschutzaufgaben bestellt sind), die weit verstandene Informationen über die Umwelt in ihren Besitz bringen (darunter Informationen über den Umweltzustand, Tätigkeitspläne und -programme, Emissionsgenehmigungen), stehen in der Pflicht, diese Informationen auf Antrag des Betroffenen (einer natürlichen oder juristischen Person oder einer anderen Organisationseinheit) zugänglich zu machen. Das Gesetz sieht die Errichtung öffentlich zugänglicher Register vor, in denen Informationen über solche Dokumente wie Politikvorgaben, Strategien, Pläne usw. wie auch umweltschutzbezogene Beschlüsse und Bescheide geführt werden. f) Beteiligung der Öffentlichkeit am Umweltschutzverfahren Ziel dieser Regelung ist es, Verfahrenskategorien zur Annahme oder Erteilung des jeweiligen Dokuments, normativen Aktes oder Verwaltungsbescheides zu nennen, an denen die Beteiligung der Öffentlichkeit zu sichern ist. Zu Entscheidungsverfahren, die der Beteiligung der Öffentlichkeit bedürfen, zählen, z. B.: – Entwicklung von Politikvorgaben, Strategien, Plänen und Programmen, die eines Verfahrens zur Umweltverträglichkeitsprüfung bedürfen; – Erteilung integrierter ökologischer Genehmigungen. g) Umweltverträglichkeitsprüfung Nach EU- und internationalem Recht ist die Umweltverträglichkeitsprüfung als eine rechtlich vorgeschriebene Prozedur zu verstehen, bei der ein Verfahren zur Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt wird in Bezug auf einen Konzeptentwurf zur Raumordnungspolitik des Landes, in Bezug auf Entwürfe zu Bauleitplänen, Politikvorgaben, Strategien sowie Plänen oder Programmen für die Entwicklung und Umstrukturierung, sog. strategischen Verträglichkeitsprüfungen, wie auch in Bezug auf geplante Vorhaben, die auf die Umwelt erheblich einwirken könnten. Die Beteiligung der Öffentlichkeit am Verfahren ist zu si-

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chern. Vorhaben, auf die sich das Verfahren zur Umweltverträglichkeitsprüfung bezieht, werden in zwei Klassen eingeteilt: für die Erstere ist ein Bericht über die Umweltverträglichkeit verpflichtend, für die Letztere kann sich die Berichterstattungspflicht aus dem Beschluss des zuständigen Organs ergeben.20 V. Verfassungsrechtlicher Grundsatz von der Öffentlichkeit der Informationen Die neue Verfassung, seit dem 17. Oktober 1997 in Kraft, enthält Regelungen zum Prinzip der Öffentlichkeit. Sie hat auch zum ersten Mal das Recht auf Information über die Tätigkeit der Organe der öffentlichen Gewalt statuiert, während die eingehende rechtliche Regelung des Zugangs zu Informationen in Rechtsvorschriften im Gesetzesrang aufzunehmen ist. Das Öffentlichkeitsprinzip der Tätigkeit von Organen der öffentlichen Gewalt und von Personen, die öffentliche Funktionen bekleiden, wie auch Öffentlichkeit der Information über die Tätigkeit der Selbstverwaltungsorgane wurde klar und unmittelbar zum Ausdruck gebracht. Im Titel „Freiheiten und politische Rechte“ ist Art. 61 enthalten, der dieses Prinzip eingehend regelt. Dieses Recht darf nur eingeschränkt werden, um Freiheiten und Rechte anderer Personen und Wirtschaftsunternehmen, die öffentliche Ordnung, die Sicherheit oder ein wichtiges wirtschaftliches Interesse des Staates nach Maßgabe der Gesetze zu schützen. Organe der öffentlichen Gewalt sind zur Erteilung der Information über ihre Tätigkeit verpflichtet; dies ist dahin gehend zu deuten, das es sich dabei um Organe der gesetzgebenden, rechtsprechenden und vollziehenden Gewalt, im letztgenannten Falle um die öffentliche Verwaltung, handelt.21 Unter der Tätigkeit sind hingegen alle Formen der Aktivität zu verstehen, die diese Organe ausüben, um auf sie rechtmäßig übertragene Aufgaben auszuführen, soweit diese Aktivität mit der Ausübung der öffentlichen Gewalt in Zusammenhang steht.22 Das Recht auf Information über die Tätigkeit der Organe der öffentlichen Gewalt, das in der Fachliteratur immer häufiger als Informationsrecht bezeichnet wird, umfasst den Eintritt in Sitzungen und den Zugang zu Unterlagen; letztgenannte Berechtigungen sind als vorhanden anzusehen, soweit von ihnen ohne allzu große Erschwernisse Gebrauch gemacht werden kann. Der Zugang zu Un20

Naher Nowacki (Fn. 6). I. Lipowicz, in: Konstytucje Rzeczypospolitej oraz komentarz do Konstytucji RP z 1997 roku [Verfassungen der Republik Polen und Kommentar zur Verfassung der Republik Polen von 1997], S. 114. 22 Vgl. A. Piskorz-Ryn ´, Czy prawo do uzyskania informacji od władz administracyjnych jest publicznym prawem podmiotowym? [Ist das Recht auf Erlangung der Information von Verwaltungsbehörden ein öffentliches subjektives Recht?], Materialien für die Konferenz der Lehrstühle für Verwaltungsrecht und Verwaltungsverfahren, Lodz 2000. 21

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terlagen ist somit dann gegeben, wenn der Bürger ihren Inhalt zur Kenntnis nehmen kann; die Möglichkeit hingegen, Abschriften und Auszüge anzufertigen, mag nach Maßgabe der Gesetze, aber immer unter Einhaltung der Verfassungsprinzipien beschränkt sein.23 Art. 74 Abs. 3 der Verfassung verbürgt überdies jedem das Recht auf Information über den Zustand und Schutz der Umwelt. Das Recht auf Information über die Umwelt fällt unter das im Art. 54 der Verfassung enthaltene allgemeine Recht des Menschen auf Information, man kann demnach zum Schluss kommen, dass der Gesetzgeber in der Zeit, da Umweltgefahren drohen und abzuwenden sind, bei Regelung der Frage des Zugangs zu Informationen über die Umwelt besonderes Gewicht gerade auf dieses Problem legte. In Verbindung mit Art. 61 der Verfassung, der dem Bürger den Zugang zu Informationen verbürgt, garantiert diese Vorschrift jedem Menschen das Recht auf alle Umweltinformationen. Während aber die autonome Anwendung von Art. 61 der Verfassung möglich ist, was seine Formulierung zulässt, kann Art. 74 der Verfassung – nach Art. 81 der Verfassung – nur nach Maßgabe der Gesetze zur Anwendung kommen, sodass das hierin enthaltene Recht unbedingt einer gesetzlichen Regelung bedarf, um dessen Inanspruchnahme geltend machen zu können.24 1. Recht auf Informationen über die Umwelt

Es ist zu unterstreichen, dass zuletzt die Problematik des Zugangs zu Informationen nach Maßgabe der von unserem Land ratifizierten völkerrechtlichen Verträge zum Umweltschutz eingehend geregelt wurde. In Anlehnung an das von Polen ratifizierte Assoziationsabkommen mit Europäischen Gemeinschaften von 1991 hat der Sejm der Republik Polen am 9. November 2000 ein Gesetz über den Zugang zu Informationen über die Umwelt und über den Umweltschutz wie auch über Umweltverträglichkeitsprüfungen verabschiedet,25 wodurch eigentlich zwei Richtlinien der EG implementiert wurden, und zwar die Richtlinie vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (337/85 EWG) und die Richtlinie vom 7. Juni 1990 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt (313/90 EWG). Es ist hervorzuheben, dass Polen in dieser Hinsicht Verpflichtungen aus dem Assoziationsvertrag mit der Europäischen Union erfüllt hat, ohne selbst ein EU-Mitglied zu sein. Dieses Gesetz wurde als Bestandteil ins Umweltschutzgesetz vom 27. April 2001 einbezogen.26 23

Lipowicz (Fn. 21). Es wird mehr analysiert in: Boguslaw Banaszak/Jerzy Machnacz (Hrsg.), Lex divina et civitatis, Festschrift für Prof. H. Schambeck zum 75. Geburtstag, Wrocław 2009, S. 191 ff. 25 GBl. Nr. 109 Pos. 1157a. 26 GBl. Nr. 62 Pos. 627. 24

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Vorschriften des Umweltschutzgesetzes enthielten Bestimmungen über den Zugang zu Informationen über die Umwelt und über den Umweltschutz wie auch über Umweltverträglichkeitsprüfungen, namentlich im Teil betreffend den Zugang des Bürgers zu Informationen und der Beteiligung der Öffentlichkeit am Umweltschutz; sie verdienen es, hier kurz dargestellt zu werden. Diese Vorschriften wurden 2008 im neuen Gesetz, im Wesentlichen aber wenig verändert, geregelt (das Gesetz von 3. Oktober 2008 GBl. Nr. 199 Pos. 1227).27 Im Gesetz heißt es, dass jeder nach Maßgabe des Gesetzes das Recht auf Information über die Umwelt und den Umweltschutz hat. Der Informationsgegenstand wird eingehend in weiteren Artikeln beschrieben. Freigabepflichtig sind demnach: bestimmte Bescheide und Anträge wie auch Materialien, die mit der Erlassung dieser Bescheide in Zusammenhang stehen; Register für Bescheide und Unterlagen, z. B. über Arten und Mengen der Luftverschmutzung, Arten und Zusammensetzung der in Gewässer eingeleiteten Abwässer; Politikprojekte, Planstrategien oder Programme und Berichte über die Umweltauswirkung von Anlagen (Vorhaben) wie auch Forschungs- und Analyseergebnisse im Umweltschutz. Die wichtigsten Bescheide, über die Informationen zu erteilen sind, wurden im Gesetz genannt. Dies sind etwa Bescheide über die Zulässigkeit der Emission von Schadstoffen in die Luft, über den zulässigen Lärmpegel, Genehmigungen zur Beseitigung von Bäumen und Sträuchern, Genehmigungen zur Freisetzung oder zum Inverkehrbringen genetisch modifizierter Organismen, Bescheide über Strafen für das Fällen von Bäumen, Luftverschmutzung, Lagerung von Abfällen an unerlaubten Orten, wasserrechtliche Genehmigungen und Genehmigungen für die Wasserentnahme, Baugenehmigungen, Bergbaugenehmigungen und Bescheide über die Bauleitplanung wie auch Bescheide über den Autobahnverlauf u. a. Verwaltungsorgane sind verpflichtet, Verzeichnisse von Dokumenten, die an die Öffentlichkeit zu bringen sind, wie auch gesetzlich genannte Verzeichnisse (Register) mit Angaben zum Umweltzustand zu führen (z. B. Arten und Mengen der in Gewässer eingeleiteten Abwässer und der in die Luft emittierten Schadstoffe). Der Umweltminister hat Muster für Register festzulegen, die freizugeben sind. Daten werden auf verschiedenen Datenträgern freigegeben, und zwar als Unterlagen, als Daten in Schrift, Bild und Ton und als Datenbänke wie auch Handkarteien oder Computerdaten. Eine Information, die keiner Suche bedarf, kann mündlich erteilt werden. Es ist nicht nötig, Anträge auf Erteilung von Informationen zu begründen. Ein öffentliches Verwaltungsorgan hat die Information ohne Aufschub innerhalb eines Monats zu erteilen. Ist die Angelegenheit kompliziert, so gilt die zweimonatige Frist. Beschränkungen des Zugangs zu Informationen über die Umwelt und den Umweltschutz entsprechen der europäischen Richtlinie 27 s. a. M. Bar/J. Jendros ´ka, Investitionen und Umwelt – Neue Regelungen, „Wspólnota“ [Gemeinschaft], Nr 2/904, 2009 S. 10, 24.

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313/90 über den Zugang zu Umweltinformationen und geltenden Standards in den nordamerikanischen Lander.28 Nach polnischem Recht werden vor allem Informationen, die im Gesetz zum Schutz nichtöffentlicher Informationen29 vom 22. Januar 1999 als streng geheim, geheim und vertraulich bezeichnet werden, und Kenndaten nach dem Gesetz über die öffentliche Statistik vom 29. Juni 1995 nicht freigegeben, soweit dadurch zu einem Verstoß gegen Vorschriften über den Schutz nichtöffentlicher Informationen kommen könnte (also u. a. im Hinblick auf Verteidigungsbereitschaft, Staatssicherheit und internationale Verhandlungen). Es sind viele Ausnahmen gelistet. Da erhebt sich die Frage, ob durch die Vielzahl dieser Ausnahmen gegen europäische Richtlinien über den Zugang zu Informationen und gegen völkerrechtliche Verträge, nach denen das Öffentlichkeitsprinzip der Verwaltungstätigkeit eingeführt wird, wie auch gegen oben erwähnte Bestimmungen der Verfassung der Republik Polen nicht verstoßen wird. Eine derartige Situation hat in mehreren Ländern der Europäischen Union stattgefunden, u. a. in Großbritannien, wo die Richtlinie 313/90 bis zum 31. Dezember 1992 implementiert und dann bis zum 31. Dezember 1996 überprüft worden ist.30 Das Problem der Implementierung der Richtlinie 313/90 in EU-Mitgliedsländern wurde umfangreich abgehandelt.31 2. Einschränkungen des Rechts auf Information

Die direkte Anwendung der Verfassung hat auch zur Folge, dass Verfassungsnormen unmittelbar auf jeden Fall angewandt werden, auch dann, wenn das Recht auf Information ist in jeder Rechtsordnung mehr oder weniger beschränkt. Der Katalog von Einschränkungen ist ähnlich in allen Ländern. In Richtlinien des EG-Rates, insbesondere in der Richtlinie vom 7. Juni 1990, werden folgende Gründe für die Verweigerung der Information genannt: Bedürfnis nach der Vertraulichkeit, Schutz internationaler Beziehungen, Landesverteidigung, öffentliche Sicherheit, Schutz des gerichtlichen Verfahrens, Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und personenbezogenen Daten.32 Die Einschränkung des Rechts auf Information wird auch in völkerrechtlichen Verträgen vorgesehen. Diese Verträge gehören zum internen Rechtssystem und sind bindend für Bürger wie auch für Organe der öffentlichen Verwaltung. 28 K. Nowacki, Poland, in: Ralph E. Hallo (Hrsg.), Access to Environmental Information in Europe, Directive, 313/90/EEC, London/The Hague/Boston 1996, S. 372. 29 GBl. Nr. 11 Pos. 95 m. Änd. 30 P. Roderick, Freedom of Access to Information on the Environment in the United Kingdom, A User’s Guide SNM, FIELD, Utrecht/London 1994. 31 R. E. Hallo, Directive 313/90/EEC on the Freedom of access to information on the environment: its implementation and implications, in: Access to environmental information in Europe, S. 17. 32 K. Nowacki (Fn. 28), S. 372.

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In der Fachliteratur wird hervorgehoben, dass das Recht auf Information nicht absolut ist. Dieses Recht ist auch seinem Wesen nach eingeschränkt, was darauf zurückzuführen ist, dass nicht alles öffentlich ist, dass es keine Öffentlichkeit für alle gibt und dass keine neutrale Öffentlichkeit vorliegt, weil die Information kein neutrales Gut ist.33 Ob einer im Besitz der Information ist oder nicht, das hängt oftmals mit Erwerbung oder Verlust eines bestimmten Vorteils zusammen.34 Art. 31 der Verfassung schreibt Möglichkeiten und Bedingungen für die Einführung von Beschränkungen der Rechte und Freiheiten, die in der Verfassung der Republik Polen genannt sind, vor. Hier heißt es, dass die Freiheit des Menschen unter Rechtsschutz steht und dass jeder verpflichtet ist, Freiheiten und Rechte anderer zu respektieren, und dass keiner dazu gezwungen werden darf, das zu tun, was ihm rechtlich nicht geboten ist. Beschränkungen, in der Verfassung bezeichnete Freiheiten und Rechte in Anspruch zu nehmen, dürfen nur dann und nur in Gesetzesform sanktioniert werden, wenn sie in einem demokratischen Staate erforderlich sind, um die Staatssicherheit und die öffentliche Ordnung zu garantieren oder Umwelt, Gesundheit und öffentliche Moral bzw. Freiheiten und Rechte anderer zu schützen; dabei dürfen aber diese Beschränkungen die Natur von Freiheiten und Rechten nicht verletzen.35 VI. Fazit Am 1. Januar 2002 ist das Gesetz über den Zugang zur öffentlichen Information vom 6. September 2001 (GBl. Nr. 12 Pos. 1198) in Kraft getreten. Nach diesem Gesetz wird jedem das Recht auf die öffentliche Information verliehen, das durch das Öffentlichkeitsprinzip bezüglich dieser Information und durch die Sicherstellung des Informationszugangs implementiert wird. Unter den Zugang zur öffentlichen Information fällt das Recht, eine Information kostenlos und innerhalb einer Zeit, die den Interessenten die Gewinnung aktueller Kenntnisse von öffentlichen Angelegenheiten garantiert, zu erlangen, amtliche Unterlagen einzusehen, den Zugang zu Sitzungen kollegialer Organe der öffentlichen Gewalt zu gewinnen und dergestalt verarbeitete Informationen zu erlangen, wie dies für das öffentliche Interesse von Belang ist.36 Organe der öffentlichen Gewalt und andere Organe und Rechtsträger, die nach Gesetz zur Freigabe von Informationen verpflichtet sind, geben sämtliche Informationen über Institutionen, Personen, Prozeduren, öffentliches Vermögen und 33 E. Jarze ˛cka-Siwik, Tajemnica ustawowo chroniona [Gesetzlich geschütztes Geheimnis], „Kontrola Pan´stwowa“ 1998, Nr. 3 und 4; A. Piskorz-Ryn´ (Fn. 33), S. 96. 34 III ARN 57/95, OSNAP 1996 Nr. 13 Pos. 179. 35 A. Piskorz-Ryn ´ (Fn. 33), S. 95. 36 Näher hierzu M. Mucha (Fn. 5).

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Politik wie auch Pläne öffentlicher Behörden mit Ausnahme nichtöffentlicher Informationen im Sinne des vorgenannten Gesetzes zum Schutz nichtöffentlicher oder nach anderen Gesetzen geschützter Informationen vom 22. Januar 1999 frei. Nach Maßgabe dieses Gesetzes sollen öffentliche Informationen im amtlichen DFÜ-Blatt (Mitteilungsblatt für Öffentliche Informationen) veröffentlicht werden. Öffentliche Informationen, die im Mitteilungsblatt für Öffentliche Informationen freigegeben worden sind, werden Interessenten auf Antrag freigegeben, offen gelegt oder an allgemein zugänglichen Orten ausgehängt oder dadurch bekannt gemacht. Einer Person, der der Zugang zur öffentlichen Information verweigert wurde, weil diese Information oder ein Teil hiervon unter Dienst-, Staats-, Finanz- oder Statistikgeheimnis fällt, steht das Recht zu, eine Klage dagegen, dass die Öffentliche Information geheim gemacht wird, beim Verwaltungsgericht ersten Rechtszuges (Abteilung für die Prüfung solcher Angelegenheiten) zu erheben. Der Person, der der Zugang zur öffentlichen Information wegen Ausschließung der Öffentlichkeit zum Schutz personenbezogener Daten, des persönlichen Guts, des Bankgeheimnisses, des Unternehmergeheimnisses oder des Rechts zum Privatleben verweigert wurde, steht das Recht zu, eine Klage auf Feststellung des Rechts auf diese Information (Feststellung, dass diese Information öffentlich ist) beim ordentlichen Gericht zu erheben.

Menschenwürde und Medienfreiheiten in den USA und in Deutschland – am Beispiel des Romans „Esra“1 Von Karl-Nikolaus Peifer I. Menschenwürde und mediale Freiheiten – Synonyme Begriffe für ein einheitliches Schutzanliegen? Mit Stellung und Bedeutung der Menschenwürde als Rechtsprinzip hat sich Klaus Stern nicht nur vielfach in seinem mehrbändigen Staatsrechtslehrbuch, sondern auch in einem lesenswerten Beitrag aus dem Jahr 1983 befasst.2 Die rechtliche Tragweite der Verfassungsgarantie der Menschenwürde sieht er dort darin, dass das Grundgesetz dem Menschen seine Würde nicht erst verliehen, sondern sie vielmehr als vorrechtlichen Wert anerkannt habe.3 Die abendländische Tradition der „antiken, christlichen, naturrechtlichen, aufklärungsphilosophischen Auffassung vom Menschen“ sei lediglich Spross einer „Entwicklung, die in den europäischen und amerikanischen Grundrechtsurkunden ihren Niederschlag gefunden habe“. Aufgrund seiner Würde sei dem Menschen personale Freiheit gewährt. Sie sei das Fundament für die individuelle wie soziale Personalität.4 Diese Ausführungen könnte man dahingehend interpretieren, dass Menschenwürde als Idee und Wert einer abendländischen Grundüberzeugung entspricht, die in der westlichen Welt ungeteilt ist. Daraus müsste man schließen, dass Menschenwürde in der gesamten abendländischen Rechtskultur nicht nur eine philo1 Die Forschungen, die Teilen dieses Artikels zugrunde lagen, wurden durch eine großzügige Unterstützung der Fritz Thyssen-Stiftung ermöglicht. Sie ermöglichte einen längeren Aufenthalt an der University of California at Berkeley und dort zahlreiche Gespräche mit Professor Paul Schwartz, dem ich für seine vielen Anregungen zum USamerikanischen Recht sehr dankbar bin. 2 Menschenwürde als Wurzel der Menschen- und Grundrechte, FS Scupin, Berlin 1983, S. 627–642. 3 A. a. O., S. 630. So auch BVerfGE 39, 1, 67; BVerfGE 88, 203, 252; Maunz/Dürig, GG (Erstkommentierung 1958), Art. 1 Rn. 6, 20; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 58 I 1, S. 6; Isensee AfP 1993, 619, 626; Jarass, NJW 1989, 857, 859; Kirchhof, NJW 1996, 1497, 1498; dagegen Maunz/Dürig/Herdegen, GG, 55. Lfg. 2009, Art. 1 Abs. 1, Rn 19: „zähe(s) Festhalten am überpositiven Charakter der Menschenwürdegarantie . . . muss überraschen“. 4 A. a. O., S. 640.

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sophiegeschichtliche Idee, sondern auch ein Rechtsprinzip ist. Im interkulturellen Vergleich ist der Stellenwert der Menschenwürde dagegen nur schwer mit vorrechtlichen Erwägungen zu begründen, denn jedenfalls die islamische Welt und der asiatische Kulturkreis verstehen Menschenrechte (und auch die individuelle Menschenwürde) nicht als Festungen zur Verteidigung eines Kern- oder Mindestbestandes an Rechten, die dem Individuum unentziehbar zustehen.5 Aber selbst in der westlichen (abendländischen) Welt ist die Überzeugung von einem unantastbaren Kern der Menschenwürde keinesfalls ungeteilt. Für das US-amerikanische Recht hat Edward Eberle in einer verfassungsvergleichenden Studie darauf hingewiesen, dass die deutsche Verfassung eine der Würde, die US-amerikanische hingegen eine der Freiheit sei.6 Und auch für die deutsche Verfassungslage wird jüngst verstärkt argumentiert, dass der Verfassungsgeber das Prinzip Menschenwürde erst durch normative Setzung zu einem Rechtsgrundsatz erhoben habe.7 Unbestritten ist hierzulande und in den USA dagegen, dass Menschenwürde Freiheitsspielräume schützen und eröffnen soll. Denn dem Menschen wird „auf Grund seiner Würde . . . wesenstypisch personale Freiheit gewährt“ und „Freiheit (ist) das Urelement der Personalität, das spezifische Humanum“.8 Das scheint dafür zu sprechen, dass man mit Freiheit und Menschenwürde nur verschiedene Begriffe für einen inhaltlich gleich intensiven Schutz der Persönlichkeit verwendet. Doch zeigt sich bei genauem Hinsehen, dass es in der Anwendung durchaus einen Unterschied macht, ob Würde oder Freiheit den Ausschlag gibt, ob nämlich die Berufung auf Freiheit die Werte der Personalität und Würde in der Abwägung übertrumpfen kann oder ob das Prinzip Würde umgekehrt Freiheitswerte aussticht. Dieser Unterschied offenbarte sich jüngst bei der Lösung zweier vom Sachverhalt her nahezu identischer medienrechtlicher Fälle, die in Deutschland und den USA zu entscheiden waren. In Deutschland wurde die Verbreitung des 2003 veröffentlichten Romans „Esra“ von Maxim Biller wegen eines Eingriffs in die zum Kern der Menschenwürde gehörende Intimsphäre einer der dort beschriebenen Protagonistinnen untersagt.9 In den USA ist in einem sehr ähnlichen Fall der 2001 erschienene autobiographische Bericht von Susanna Kaysen unter dem Titel „The Camera My Mother Gave me“10 dagegen ungeachtet der gleichfalls sehr 5

Näher Peifer, Individualität im Zivilrecht, 2001, S. 24. Eberle, Dignity and Liberty, London 2002, S. 7: „We can speak of a German constitution of dignity as compared to an American constitution of liberty“ unter Bezugnahme auf Donald Kommers, ZaöRV 58 (1993), 711, 724. 7 Hain, Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: Sandkühler, Menschenwürde als Fundament der Grund- und Menschenrecht, 2007, S. 85. 8 Stern, FS Scupin, S. 640 m.w. N. 9 Vgl. BGH GRUR 2005, 788, teilweise bestätigt von BVerfGE 119, 1 = GRUR 2007, 1085; BGH GRUR 2008, 931. 10 Hardcoverausgabe bei Alfred A. Knopf, New York 2001. 6

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intime Vorgänge betreffenden Schilderungen über einen der Protagonisten geduldet worden, weil der Verfasserin nicht die Freiheit genommen werden dürfe, „ihre Geschichte zu erzählen“.11 Das Ergebnis rechtfertigt die Einschätzung, dass Menschenwürde als Rechtsprinzip ausschlaggebend in der Rechtsanwendung sein kann. Es weckt gleichzeitig Zweifel daran, dass Menschenwürde nur ein Synonym für Freiheit und Autonomie des Individuums ist. Die erwähnten Fälle sollen zunächst näher vorgestellt werden. Anschließend soll der Frage nachgegangen werden, warum Menschenwürde in der einen und Freiheit in der anderen Rechtsordnung den Ausschlag gegeben hat, obgleich beide Rechtsordnungen zum abendländischen Kulturkreis zählen, also gleichen philosophiegeschichtlichen Wurzeln entspringen. Dieser Beitrag geht von der These aus, dass das Prinzip der Unantastbarkeit der Menschenwürde, mag seine Absolutheit auch im öffentlichen Recht mittlerweile diskutiert werden,12 im Privatrecht wichtige Grenzziehungen erlaubt, die in der Rechtsvergleichung besonders wahrnehmbar werden. Diese Grenzziehungen zeigen auch, wie sich das Verhältnis von Individuum und Kollektiv verändern kann, wenn eine Rechtsordnung Freiheit dem Menschenwürdeschutz überordnet. Freiheit wird nämlich keineswegs nur individualistisch verstanden, ihr Schutz kann durchaus auch dazu benutzt werden, ein im Ansatz kollektivistisches Verständnis von gesellschaftlicher Kontrolle des Einzelnen durch die Blicke und die Beobachtung der Anderen durchzusetzen, eine Kontrolle, die individuelle Entfaltung nicht nur fördert, sondern auch behindern kann. II. Menschenwürde in der medienrechtlichen Praxis – Esra und Bonome 1. Sachverhalte

Der Roman „Esra“ von Maxim Biller gehört zum Typus des „Schlüsselromans“. Er nennt die tatsächlichen Namen der Protagonisten nicht und enthält auch den schon üblichen „Disclaimer“, der dem Leser mitteilt, dass Personen und Handlungen frei erfunden und Ähnlichkeiten rein zufällig und nicht beabsichtigt seien. Tatsächlich lassen die auftretenden Personen ihre Urbilder leicht erkennbar werden. Gegenstand des Romans ist die als fiktive Geschichte erzählte Liebesbeziehung des Autors zu einer türkischen Schauspielerin, die in der Vergangenheit für einen ihrer Filme einen renommierten Filmpreis erhalten hat. Deren Mutter, die im Roman eine wesentliche Rolle spielt, wird (nicht nur für ihr persönliches Um11 Bonome v. Kaysen, No. 03-2767, 2004 WL 1194731, S. 1 = 17 Mass. Law Reports 695 = 32 Media Law Reporter 1520 (Superior Court of Massachusetts v. 3. März 2004). 12 Vgl. hierzu Maunz/Dürig/Herdegen, GG, Lfg. 55, 2009, Art. 1 Abs. 1 Rn. 47, 49 einerseits und Böckenförde, Die Menschenwürde war unantastbar, FAZ v. 3.9.2003 (Feuilleton) andererseits.

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feld) erkennbar, weil sie als Gewinnerin des alternativen Nobelpreises und Betreiberin eines Hotels an der ägäischen Küste vorgestellt wird. Für die vorliegenden Ausführungen sind die Darstellungen über die jüngere der beiden Frauen von Belang. Über sie heißt es in der Sachverhaltszusammenfassung durch das Bundesverfassungsgericht: „Die Romanfigur der Esra wird als eine von dem Willen ihrer Mutter abhängige, unselbstständige Frau geschildert (. . .). Die Beziehung zu dem Ich-Erzähler ist durch einen fortdauernden Wechsel von Zuneigung und Ablehnung und die enttäuschte Liebe des Ich-Erzählers gekennzeichnet. Der Roman enthält an mehreren Stellen die Schilderung sexueller Handlungen zwischen Esra und dem Ich-Erzähler.“

Es sind vor allem diese Schilderungen, die den Kernbereich der Persönlichkeit der Betroffenen berührten. Sie geben im Detail intime Sexualpraktiken wieder, die gerade wegen der erkennbar realen Bezüge des Romans den Eindruck des Authentischen, des so Geschehenen vermitteln können. Im US-amerikanischen Fall Bonome ging es gleichfalls um die Schilderung sexueller Vorgänge im Rahmen einer autobiographischen Erzählung. Die in den USA nicht unbekannte Autorin unterhielt mit dem Kläger Bonome eine Liebesbeziehung. Im persönlichen Umfeld war der im Buch nicht namentlich genannte Kläger aufgrund dieser Beziehung auch erkennbar.13 Das Werk berichtet über erhebliche vaginale Beschwerden der Autorin und ihre endlos erscheinenden Bemühungen, diese Beschwerden durch verschiedenste medizinische Behandlungen zu beseitigen oder zu lindern. Die Beschwerden führten zu Spannungen zwischen den Protagonisten, welche die Erzählerin vor allem auf das nach ihrer Darstellung sexuell rücksichtslos fordernde Verhalten des Klägers zurückführte. In der Tat wird der „boyfriend“ als eine Person beschrieben, welche die Autorin ständig sexuell bedrängte („always pestering to have sex“).14 In dem Werk werden, wie in dem Roman Esra auch, sexuelle Begegnungen der Protagonisten im Detail beschrieben. Der „boyfriend“ wird äußerst marginal charakterisiert, stattdessen im Ergebnis auf eine Person reduziert, die nur über ihre eigenen (sexuellen) Bedürfnisse spricht und für die physischen Probleme der Autorin wenig bis kein Verständnis aufbringt. Auch insoweit wäre nach deutschem Verständnis jedenfalls der Bereich der Intimsphäre, also auch der Kern der persönlichen Würde,15 betroffen. Hinzu kommt, dass die Schilderung des „boyfriends“ im Werk stark

13 Die Erkennbarkeit im persönlichen oder familiären Umfeld genügt nach den Standards des deutschen Rechts, vgl. nur BVerfGE 119, 1 Tz. 75 – Esra; BGH GRUR 2005, 788 – Esra und vorher bereits BGH, NJW 2004, 3619, 3620. 14 Vgl. Bonome v. Kaysen, a. a. O., S. 5; im Werk selbst vgl. Ausgabe New York 2001, z. B. S. 93, 102, 107. 15 Zum (absoluten) Schutz der Intimsphäre als Bestandteil des Kernbereichs der Menschenwürde vgl. nur BVerfGE 34, 239, 245; BGH, NJW 1971, 698, 699 – Pariser Liebestropfen; NJW-RR 1988, 733 – Intime Beziehungen; NJW 1974, 1947, 1949 – Nacktaufnahmen.

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reduziert erfolgt, also die Person nicht in ihrer Individualität, sondern eindimensional dargestellt wird. 2. Entscheidungen

Im Fall Esra hatte der Bundesgerichtshof auch nach Abwägung der persönlichen Interessen mit der Reichweite der künstlerischen Freiheiten des Autors die intimen Schilderungen als schwere Verletzungen des Kernbereichs der Persönlichkeit der Dargestellten angesehen. Entscheidend für diese Wertung war, dass die Protagonistin erkennbar blieb und sie gerade nicht durch künstlerische Verfremdung von einer existierenden Person zum bloßen Typus geworden ist. Sie erscheine nicht als „Abbild“ gegenüber dem „Urbild“. Sie sei nicht „durch die künstlerische Gestaltung des Stoffs und seine Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks so verselbstständigt . . ., dass das Individuelle, Persönlich-Intime zu Gunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der ,Figur‘ objektiviert ist.“16 Das BVerfG hat diese Einschätzung in seiner Mehrheitsentscheidung geteilt. Es hat bekräftigt, dass „wegen der besonderen Nähe zur Menschenwürde ein Kernbereich privater Lebensgestaltung . . . absolut unantastbar geschützt ist“ und zu diesem „absolut geschützten Kernbereich . . . insbesondere auch Ausdrucksformen der Sexualität gehören.“17 Der Respekt hiervor ist auch bei der Ausübung künstlerischer Freiheiten zu beachten.18 Das US-amerikanische Gericht, das den Fall Bonome v. Kaysen zu entscheiden hatte, hat dies im Ansatz ähnlich gesehen, im Ergebnis aber anders entschieden. Auch dort ging es um eine Klage unter Privaten, die nach den deliktsrechtlichen Vorschriften des Common Law, dem sog. right of privacy in der Ausprägung der Aufdeckung privater Fakten („public disclosure of private facts“),19 zu beurteilen war. Bei der Frage, ob eine rechtswidrige Beeinträchtigung vorliegt, wägen auch die US-amerikanischen Gerichte die persönlichen Interessen des Betroffenen am Schutz seiner Privatsphäre („privacy“) gegen die Freiheit zur Meinungsäußerung, insbesondere in Fragen von öffentlichem Interesse, ab.20 Das Gericht ging einer16 BGH GRUR 2005, 788, 790 – Esra; ebenso in diesem Punkte bereits BVerfGE 30, 173, 195 = NJW 1971, 1645 – Mephisto. 17 BVerfGE 119, 1 Tz. 88. 18 Die Entscheidung ist mit einer 5:3-Mehrheit ergangen. Insbesondere zur Frage der Reichweite der Kunstfreiheit gibt es abweichende Voten der Richter Hohmann-Dennhart, Gaier und Hoffman-Riehm. 19 Das Recht ist in Massachusetts kodifiziert (General Laws, 214 Section 1B), aber auch in der Gerichtspraxis der übrigen Staaten überwiegend anerkannt. Zu den deliktsrechtlichen Besonderheiten insofern ausführlich Schwartz/Peifer, Prosser’s Privacy and the German Right of Personality: Are Four Privacy Torts Better than One Unitary Concept?, 98 Cal.L.Rev. 1926 (2010). 20 Vgl. Cox Broadcasting Corp. v. Cohn, 420 U.S. 469, 492 (1975) und in jüngerer Zeit The Florida Star v. B.JF., 491 U.S. 524, 533 (1989).

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seits zwar davon aus, dass sexuelle Vorgänge in die Privatsphäre fallen,21 entscheidend sei jedoch, dass auch die Autorin „her own right to disclose intimate facts about herself“ habe. In der Abwägung mit dem Interesse des Klägers, solche intimen Tatsachen zu verbergen, setze sich das Recht der Klägerin im Zweifel durch. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass dem Werk der Wahrheit entsprechende Tatsachen zugrunde liegen. Und an dieser Stelle spielt eine, im Ansatz eher kollektivistische Begründung eine Rolle: „[T]he welfare of the public is better subserved by maintaining the liberty of speech and of the press than by allowing an individual to assert his right of privacy in such a way as to interfere with the free expression of one’s sentiments and the publication of every matter in which the public may be legitimately interested.“ 22

Die abweichenden Ergebnisse zu zwei Sachverhalten, in denen es um identische Schutzzonen des Privaten geht, bestätigt die Einschätzung von Eberle. Im deutschen Fall setzt sich auch nach Abwägung im Zweifel die Menschenwürde als Grenze literarischer Freiheiten, in den USA die Freiheit durch, die eigene Geschichte zu erzählen. Da beide Rechtsordnungen sich aus der eingangs erwähnten abendländischen philosophiegeschichtlichen Tradition nähren, stellt sich die Frage, warum es zu solchen Unterschieden in der rechtlichen Behandlung kommen kann. Diese Unterschiede sind nicht auf die Lösung des vorgestellten Rechtsfalls beschränkt. Sie reichen insbesondere weit über das Privat- und Medienrecht hinaus. Die Behandlung des Folterverbots in den Guantánamo-Fällen und die rechtliche Beurteilung der Todesstrafe zeugen von gravierenden transnationalen Brüchen. Aber auch die abermals in den USA gefährdete Idee, dass zum menschenwürdigen Leben ein Anspruch auf Versicherung von Krankheitsrisiken gehört, mag hier genannt werden, um zu veranschaulichen, welchen Einfluss der Stellenwert des Prinzips Menschenwürde in der Verfassungsordnung auf die Lösung von grundsätzlichen Fragen in einer Gesellschaft haben kann. III. Menschenwürde – Idee, Prinzip oder Grundrecht? 1. Schlüsseltexte zum Verständnis des Stellenwerts der Menschenwürde

Bereits zwei Schlüsseltexte zur Rechtfertigung des Stellenwerts der Menschenwürde genügen, um das Thema zu fassen. Mit seinem kategorischen Imperativ hat Kant bis heute die Quintessenz auch des rechtlichen Schutzes der Menschenwürde geprägt. „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als 21 Bonome v. Kaysen, a. a. O., S. 10 unter Bezugnahme auf Prosser, Privacy, 48 Cal.L.Rev. 383, 422 f. (1960). 22 Bonome v. Kaysen, a. a. O., S. 9.

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Mittel brauchest.“23 Dürig hat aus diesem moralischen Postulat eine Rechtsregel geformt, indem er eine durch subjektive Rechte des Einzelnen abwehrbare Menschenwürdeverletzung vom Eingriff her definierte. Ein Eingriff liegt nämlich vor, wenn der einzelne zum Mittel für Zwecke anderer gemacht und somit zu einem bloßen Objekt degradiert wird.24 Es fehlte bei Kant noch das „soziale Öl“ (von Gierke25). Dieses steuerte Fichte bei, indem er einerseits ausführte, „Freiheit (sei) . . . nur dadurch möglich, dass jedes freie Wesen es sich zum Gesetze mache, seine Freiheit durch den Begriff der Freiheit der übrigen einzuschränken“,26 und andererseits betonte: „Es ist Grundsatz jeder vernünftigen Staatsverfassung: Jedermann soll von seiner Arbeit leben können“ und für den Fall, dass dies nicht mehr gewährleistet sei, „(müssen) Alle von Rechtswegen . . . abgeben von dem Ihrigen, bis er leben kann“.27 2. Konstitutionalisierung

Den entscheidenden Schritt von der philosophiegeschichtlich ableitbaren Idee zu ihrer Anwendung im rechtlichen Kontext vollzieht die Konstitutionalisierung in Art. 1 Abs. 1 GG. „[D]ie Setzung durch den Verfassungsgeber (macht) die Norm zu einem Bestandteil des geltenden positiven (Verfassungs-)Rechts der Bundesrepublik Deutschland. Der Akt der Setzung könnte aus der praktisch-philosophischen Perspektive als Abbruch eines infiniten Begründungsregresses in Bezug auf praktische Entscheidungen durch Dezision gedeutet werden“.28 Es ist bekannt, dass die Gründe für diese Konstitutionalisierung vordergründig in der bewussten Reaktion auf die Relativierungen der Menschenwürde in der Zeit vor 1945 zu suchen sind.29 Die Verfassungsväter haben vor allem die prominente Platzierung des Prinzips und seine damit vorgeprägte Rolle als Grundlage und Basisnorm für die nachfolgenden Grundrechte hiermit ohne weiteres rechtferti23 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Akademie-Ausgabe (hrsg. von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften), Berlin 1900, Bd. IV, S. 429. 24 Dürig JR 1952, 259, AöR 81 (1956) 117, 127. 25 Vgl. Otto v. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889, S. 28 f. 26 Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 1796 in: Sämtliche Werke, Berlin 1845/46, Neudruck Berlin 1971, Bd. 3, § 8, S. 92. 27 A.a.O., § 18 S. 213; zu dem darin zum Ausdruck kommenden Zusammenhang mit sozialstaatlichen (aus der Menschenwürde genährten) Grundsätzen vgl. Georg Mohr, Ein „Wert der keinen Preis hat“ – Philosophiegeschichtliche Grundlagen der Menschenwürde bei Kant und Fichte, in: Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde als Fundament der Grund- und Menschenrechte, Bremen 2007, S. 13. 28 Hain (Fn. 7), S. 85 m.w. N. 29 So Stern, FS Scupin, S. 627, 629, dort auch mit Hinweis auf die völkerrechtliche Verankerung In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10.12.1948. Vgl. auch Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl., 1967, S. 41: „Rückkehr zu dem vom abendländischen Geist erarbeiteten Wissen um den ewigen Wert des Allgemeinmenschlichen“.

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gen können. Nur der rhetorisch ungeheuer starke und auch in jeder US-amerikanischen Gründerurkunde vorstellbare Satz „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“30 ist nicht übernommen worden. An einer vergleichbaren Konstitutionalisierung des Prinzips Würde fehlt es in den USA. Bekanntlich erwähnt die Verfassung das Prinzip „dignity“ nicht. Kodifiziert sind zwar einzelne Grundrechte in den zehn Zusatzartikeln, darunter etwa die Äußerungsfreiheit, Teile der (häuslichen) Privatsphäre und des Eigentumsschutzes sowie Justizgrundrechte, nicht aber das Persönlichkeitsrecht oder die Menschenwürde. In der Unabhängigkeitserklärung von 1776 werden zwar „life, liberty and the pursuit of happiness“ genannt, nicht aber „dignity“. Dagegen wurde „liberty“ prominent jedenfalls im Ersten Zusatzartikel in Form der Glaubens- und Äußerungsfreiheit mit Verfassungsrang ausgestattet. 3. Würde und Persönlichkeitsentfaltung

In den frühen Texten der Stoiker, in denen von einem Schutz der Menschenwürde die Rede ist, wird bereits betont, dass die Besonderheit des Menschen gegenüber allen anderen Kreaturen darin besteht, dass der Mensch zur freien und vernünftigen Entscheidung fähig ist.31 Die freie und vernünftige Willensbetätigung steht also am Beginn der philosophischen Erörterungen über die Menschenwürde. Daraus könnte man den Schluss ziehen, dass die freie Entfaltung erst Würde begründet, Würde also ein Aspekt der Freiheitsausübung ist. Auch die 1496 veröffentlichte und oft als Zeugnis für die christliche Deutung der Menschenwürde genannte Oratio de hominis dignitate32 von Giovanni Pico della Mirandola charakterisiert die Anlage zur Selbstbestimmung und Selbstgestaltung als für die dignitas wesenstypisch. Damit kommt man der US-amerikanischen Interpretation des Prinzips nahe. Eine eindeutige Trennung zwischen den Fähigkeiten und Anlagen des Menschen und dem Wert seines Soseins nimmt dagegen Kant vor. Für ihn ist „(d)ie Menschheit selbst . . . eine Würde: denn der Mensch kann von keinem Menschen (weder von Anderen noch sogar von sich selbst) bloß als Mittel, sondern muss jederzeit zugleich als Zweck gebraucht werden, und darin besteht eben seine Würde (die Persönlichkeit), dadurch er sich über alle anderen Weltwesen, die nicht Menschen sind und doch gebraucht werden können, mithin über alle Sa30 So der Formulierungsvorschlag für Artikel 1 Satz 1 GG durch den Herrenchiemseer Konvent Stern, FS Scupin, S. 627, 630. 31 Hilpert, Die Idee der Menschenwürde aus der Sicht christlicher Theologie, in: Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde als Fundament der Grund- und Menschenrechte, 2007, S. 39, 44 unter Hinweis auf Cicero und Seneca. 32 Giovanni Pico della Mirandola: De hominis dignitate / Über die Würde des Menschen, in: Philosophische Bibliothek, Bd. 427, Hamburg Meiner 1990 (hrsg. von August Buck und übersetzt von Norbert Baumgarten.

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chen erhebt.“33 Würde und Freiheit mögen einander bedingen, die Würde ist jedoch etwas, was dem Menschen unabhängig von seiner Individualität und seinen Verdiensten zukommt. Von dieser Deutung aus ist der Schritt nicht mehr groß zu der Überzeugung, dass die Achtung der Würde eine Vorbedingung für die Fähigkeit zur Selbstentfaltung und nicht nur Synonym für die Selbstentfaltung ist.34 Daher ist das Prinzip der Menschenwürde Basis und Auslegungsgrundlage für die Grundrechte. IV. Menschenwürde als Grenze der Freiheit – eine deutsche Idee? In der anglo-amerikanischen Literatur ist die Trennung von Würde und Freiheit zum Teil als eine „deutsche Idee der Freiheit“ interpretiert worden. So hat der US-Historiker Leonard Krieger eine Schrift genannt, in der er das behauptete deutsche Konzept einer regulierten und auf Ideale gegründeten Freiheit auf die geschichtliche Besonderheit zurückführt, dass die territoriale Zersplitterung des Reichs das Aufkommen kollektiver, nämlich in korporativen Strukturen gebundener Freiheiten begünstigt habe.35 Anders als im anglo-amerikanischen Kulturraum hätten sich hierdurch gewerbliche Freiheiten in Deutschland erst sehr viel später entwickelt. In einem vielbeachteten Aufsatz aus neuerer Zeit hat der USamerikanische Rechtshistoriker James Whitman diese Deutung aufgegriffen und gleichfalls argumentiert, die deutsche Entwicklung sei einerseits sehr viel stärker „nach innen gekehrt“, andererseits habe sie die staatliche Regulierung von Freiheiten generell begünstigt.36 Whitman geht so weit zu argumentieren, dass die Idee von Würde mit einem Bedürfnis nach der Verteidigung individueller Ehre einhergeht, die ein Anliegen gerade der nationalsozialistischen Rechtspolitik gewesen sei, nämlich in dem Sinne, dass die in früheren Zeiten dem Adel vorbehaltene Differenzierungsmöglichkeit von dieser Zeit an auch den einfachen Bürgern und Arbeitern zugestanden wurde. Das Konzept der Ehre sei dadurch gewissermaßen „in die Fläche getragen“ („levelling up“) worden. Dahinter stecke die für Europa charakteristische neuzeitliche Tendenz, ein ursprünglich exklusives Konzept zu generalisieren.37 Hiergegen lässt sich manches sagen. Gegen die Deutung von Whitman spricht zunächst, dass er Würde und Ehre offenkundig miteinander vermischt. Gerade in Deutschland ist der Schutz der Ehre allerdings – wie durchaus schon beklagt 33 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (1797), Akademie-Ausgabe, Bd. VI, § 38 S. 462. 34 Vgl. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 210. 35 Krieger, The German Idea of Freedom, Chicago 1957, S. 6: „chartered liberties“ als korporative Freiheiten mittelalterlicher Stände und Gilden. 36 Whitman, The Two Western Cultures of Privacy: Dignity versus Liberty, 113 Yale L.J. 1151, 1181 (2004). 37 Whitman (Fn. 36), S. 1166.

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wurde – in eine defensive Position gerückt.38 In der Gerichtspraxis beschränkt er sich vielfach auf den Schutz gegen Schmähkritik und Formalbeleidigungen.39 Die Zuerkennung von Würde hingegen ist weder von der sozialen Bewertung durch andere noch von dem bloßen Ehrgefühl des Betroffenen abhängig. Sie ist ein objektives Rechtsprinzip. Zudem übersieht Whitman, dass auch im angloamerikanischen Deliktsrecht die Ehre („reputation“) seit langem geschützt wird,40 während weitere Interessen der Persönlichkeit (etwa das am Schutz der Intimsphäre) dort stärker notleidend sind.41 Die begriffliche Trennung von Würde und Freiheit ist allerdings eine Besonderheit, die auch freiheitsordnende Funktionen hat. Interessanterweise nimmt das Prinzip, wie gezeigt, jedoch gerade in den hier betrachteten Fällen eine individualschützende Form an, während das US-amerikanische Verständnis der Äußerungsfreiheit die „Wachhund“-Funktion von einander kontrollierenden Freiheiten der Individuen als kollektiven Wert stärkt. Es ist daher eher verschleiernd, von einer deutschen Idee zu sprechen, wenn man dem Würdeprinzip kollektive, dem Freiheitsprinzip hingegen individualistische Tendenzen zumisst. V. Freiheit als Ausdruck von Würde – Individualismus oder Kollektivismus? Freiheit und Würde bedingen einander, die ergänzende Betonung der Menschenwürde fügt dem Schutz der Freiheit aber etwas hinzu, was die persönliche 38 Vgl. nur Hillgruber/Schemmer, JZ 1992, 946, 949; Redeker, NJW 1993, 1835, 1836; Kriele, NJW 1994, 1897; Ossenbühl, JZ 1995, 633; Starck, JuS 1995, 689, 692; Schmitt Glaeser, NJW 1996, 873; Stern, FS Hübner, 1984, S. 815, 816; Zuck, NJW 1996, 361. 39 Vgl. BVerfGE 86, 1, 13 f. = NJW 1992, 2073: Bezeichnung eines querschnittsgelähmten Soldaten als „Krüppel“ in einem Satiremagazin. Als exemplarisch für den Bedeutungsschwund wird oft angesehen BVerfGE 93, 266 = NJW 1995, 3303 – Soldaten sind Mörder. 40 Insbesondere durch die torts gegen libel and slander, vgl. nur Holdsworth, History of English Law, Bd. V, 3. Aufl., 1945, S. 208, der auf die mittelalterlichen Ursprünge der beiden torts verweist. 41 In den USA kam es zu einem Schutz der sonstigen Persönlichkeitsinteressen erst im Zuge einer allmählichen Rezeption des Aufsatzes von Warren/Brandeis, The Right to Privacy, 4 Harv. L. Rev. 193–220 (1890), möglicherweise auch erst aufgrund des Ansatzes von William Prosser, der die zahlreichen Fallgruppen, die in der Rechtsprechung aufgetreten waren, systematisierte, vgl. Prosser, Privacy, 48 Calif. L. Rev. 383, 383 (1960) und zu der hier vertretenen Deutung ausführlich Schwartz/Peifer, 98 Cal.L.Rev. 1926, 1937 (2010). In England kommt es zu einer sehr schrittweisen Anerkennung erst in jüngerer Zeit aufgrund mehrerer Rügen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, vgl. Peck v. United Kingdom (2003) 36 EHRR 719 (Filmaufnahme von Kl. Peck, der auf einem öffentlichen Platz einen Selbstmordversuch unternahm und dabei durch eine CCTV (close circuit TV) Kamera gefilmt wurde, die Teil des britischen Überwachungssystems zur Beobachtung von Straßen und öffentlichen Plätzen ist. Das Vereinigte Königreich wurde vom EGMR verurteilt, weil kein angemessenes Mittel existierte, um die Veröffentlichung der Aufnahme zu verhindern).

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Entfaltung zunächst erleichtert. Dazu passt allerdings auch die von den US-amerikanischen Gerichten betonte Idee, dass das Individuum keine allzu hohen Schutzzäune um die Kontrolle seines öffentlichen Auftritts bauen soll. Dieser Gedanke kann allerdings auch in einer Verfassungsordnung anerkannt werden, welche die Menschenwürde betont. Es ist in der Tat heute auch im deutschen Recht unbestritten, dass das Individuum kein Einsiedler ist, sondern in seinem sozialen Kontext zu begreifen ist. „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit.“ 42 Die Befürchtungen, dass sich die Person mit Duldung der Gerichte hinter ihrer Würde verstecken und Herr der Kritik über ihre eigenen Handlungen bleiben darf, hat sich als unbegründet erwiesen. Sie betraf tatsächlich auch eher den Schutz eines überempfindlichen Ehrgefühls als den der Würde. Auch der Verdacht, das Prinzip Menschenwürde trage die Gefahr in sich, zur kleinen Münze zu degenerieren und eine uferlose Flut von Kleinstrechten erzeugen,43 hat sich nicht bewahrheitet. Die Fälle, in denen es um den Schutz des Kernbereichs der Persönlichkeit geht, sind keineswegs zahlreich. Stets ging es um intime Mitteilungen, insbesondere aus dem Bereich des Sexualverhaltens,44 oder um die öffentliche Mitteilung von (stigmatisierenden) Krankheiten oder Leiden.45 Keineswegs aber ist die Menschenwürde dadurch zum umfassenden Kontrollinstrument oder zum Abschottungsmittel gegen Kritik durch andere degeneriert. An dieser Stelle wirkt sich auch das „sozial Öl“ aus, welches Johann Gottlieb Fichte mit dem Konzept der Menschenwürde verbindet: Freiheit kommt ohne Verantwortung nicht aus. Die Ausübung von Äußerungsfreiheiten ohne Rücksicht auf das Äußerungsopfer erzeugt gerade in den beiden vorgestellten Fällen Zweifel daran, dass Individualität angemessen geschützt wird, wenn es ein kor42 BVerfGE 12, 45, 51; 28, 175, 189; 33, 1, 10; ebenso Stern, FS Scupin, S. 627, 637: „mittlere Linie des Personalismus“. 43 Vgl. Hoppe, Die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) und der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, in Erichsen, Recht der Persönlichkeit, 1996, S. 73, 87. 44 Vgl. etwa BGHZ 24, 72, 79 = NJW 1957, 1146 (Weitergabe von Krankenakten); BGH, NJW-RR 1988, 733 = AfP 1988, 34 – Intime Beziehungen (Wahrheitswidriger Bericht über die angebliche Beziehung eines Geistlichen zu einer verheirateten Frau); BGH, NJW 1974, 1947 (Nacktaufnahmen einer Minderjährigen dürfen nicht auf einer Fotokunstausstellung zur Schau gestellt werden, selbst wenn sie mit Einwilligung der Minderjährigen angefertigt wurden); OLG Hamm, NJW-RR 2004, 919 (satirischer Fernsehbericht über eine Minderjährige mit sexuellen Anzüglichkeiten); LG Hamburg, NJW-RR 2000, 978 – Susan Stahnke (satirischer, sexuell anzüglicher Fernsehbeitrag über die angebliche Absicht einer Moderatorin, in einem Pornofilm mitzuspielen, auch wenn der Zuschauer erkennt, dass der Streifen inszeniert ist); LG München I, Urt. v. 21.7.2005 – 7 O 4742/05 (Offenlegung der Homosexualität durch die Veröffentlichung eines Fotos, welches den Kläger auf offener Straße in „inniger Umarmung“ mit einem Mann zeigt. Das Foto trug die Überschrift: „So leben die Schwulen und Lesben in . . .“). 45 BVerfGE 80, 367, 373 = NJW 1990, 563 (Verwendung von Tagebuchaufzeichnungen mit Niederschriften über psychosomatische Störungen im Strafverfahren).

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respondierendes Würdeprinzip nicht gibt. Freiheit als Prinzip alleine genügt dafür offenbar nicht. Diese Deutung ist – in gewisser Hinsicht überraschenderweise – nicht kollektivistisch, sie ist zutiefst individualistisch, weil sie bei aller Anerkennung der Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums doch eine Oase des Alleinseins zulässt, nämlich dort, wo es um den Schutz des Kerns der Persönlichkeit geht, die es nicht dulden muss, dass dieser Kernbereich an die Öffentlichkeit gezerrt wird. VI. Einige Anwendungen Während die freiheitsbetonte Sichtweise des US-amerikanischen (Medienzivil-) Rechts einerseits die Freiheit zur Entfaltung des Äußernden betont, lässt sie es andererseits auch zu, dass diese Freiheit Grenzen überschreitet und auch dort eine „Wachhundfunktion“ übernimmt, wo der Kernbereich des Intimen beeinträchtigt wird. Die betroffene Person muss es sich daher gefallen lassen, mit ihrer Vergangenheit auch noch konfrontiert zu werden, wenn diese Konfrontation künftige Entfaltung behindert, ohne dass die kontrollierende Öffentlichkeit noch angebracht ist. So durfte die Presse einen in seiner Kindheit und Jugend als Wunderkind bekannt gewordenen Mann auch Jahre nach seiner zum Schutz gegen psychische Verletzungen selbstgewählten Einsamkeit wieder in das Licht der Öffentlichkeit ziehen, obgleich das Berichtsinteresse nicht mehr für sich reklamieren konnte als Antwort auf die Frage zu geben: „Was ist aus ihm geworden?“ 46 Die Haltung, dass jemand, der in den Blick der Öffentlichkeit geraten ist, es auch künftig dulden muss, dass über ihn namentlich berichtet wird, gefährdet aber auch die Rehabilitation Straffälliger, die ihre Strafe verbüßt haben.47 Das gilt vor allem für minderjährige Straftäter.48 Aber auch Opfer von Straftaten, deren Namen in die Öffentlichkeit geraten ist, müssen es dulden, dass über sie identifizierend berichtet wird.49 Demgegenüber spielt in deutschen Gerichtsentscheidungen stets eine Rolle, ob durch die Ausübung von Äußerungsfreiheiten der Kernbereich der Persönlichkeit und damit der Menschenwürde betroffen ist. Dieser Kern gilt noch immer als abwägungsfest. Das gilt, wie der „Esra“-Fall zeigt, selbst gegenüber der ein46

Sidis v. F-R Publishing Co., 113 F.2d. 806 (2d Cir. 1940). Vgl. Gates v. Discovery Communications, Inc., 34 Cal. 4th 679, 684 (2004): „any state interest in protecting for rehabilitative purposes the long-term anonymity of former convicts falls similarly short“. 48 Oklahoma Publishing v. District Court, 430 U.S. 308, 310 (1975): (Pressebericht über Gerichtsprozess gegen 11-jährigen Täter): „the press may not be prohibited from truthfully publishing information released to the public in official court records.“ 49 Cox Broadcasting Corp. v. Cohn, 420 U.S. 469, 495 (1975) (zum Fall der Veröffentlichung des Namens eines 17-jährigen Vergewaltigungsopfers): „the States may not impose sanctions on the publication of truthful information contained in official court records open to public inspection.“ 47

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schränkungslos gewährten Kunstfreiheit. Bei Straftätern verbraucht sich das Interesse der Öffentlichkeit an identifizierenden Berichten, wenn diese Berichte nach Strafverbüßung erfolgen und die Resozialisierung des Täters gefährden.50 VII. Ergebnis Der Schutz der Menschenwürde und der Menschenrechte ist in aller Munde. Auch das Abendland ist jedoch noch uneins, wenn es um die Aktivierung des Rechtsschutzes in der Praxis geht. Insbesondere gibt es noch einen Gegensatz zwischen dem rechtlichen Schutz der Menschenwürde in Kontinentaleuropa einerseits und der US-amerikanischen Welt andererseits. So betont das US-amerikanische Recht bis heute „liberty“ stärker als „dignity“. Das dürfte vor allem mit der fehlenden Konstitutionalisierung der Menschenwürde zusammenhängen. Die Konstitutionalisierung hierzulande hat nicht nur individuelle Rechte gestärkt. Sie hat auch erst die Basis dafür geschaffen, dass Menschenwürde ein Bestandteil der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes und damit der gesamten Rechtsordnung geworden ist. Erst hieraus haben sich Drittwirkungs- und Schutzpflichtenlehre entwickelt. An dieser Stelle wird das Europäische Recht unter der Rechtsprechung des EGMR nicht ohne Einfluss auf die Entwicklung des Prinzips Menschenwürde auch in der anglo-amerikanischen Welt bleiben. Das zeigt die Öffnung des englischen Rechts für den Schutz der Individualsphäre der natürlichen Person,51 das allerdings auch erst unter dem Einfluss der Europäischen Menschenrechtskonvention, also einer Form der Konstitutionalisierung, stärker kontinentale Züge aufnimmt.

50 BVerfGE 35, 202, 235 – Lebach I; NJW 2000, 1859 – Lebach II; OLG Frankfurt ZUM 2007, 546 (Identifizierende Berichterstattung anlässlich der bevorstehenden Haftentlassung im Mordfall Sedlmayr); BVerfG NVwZ 2008, 306 und KG Berlin AfP 2007, 376 (Identifizierende Berichterstattung über ein Mitglied der Roten Armee-Fraktion im Zusammenhang mit einer Diskussion um die vorzeitige Entlassung eines der Täter). Allerdings dürfen auch bei Straftätern Archivbeiträge über die damalige Tat nach wie vor zugänglich gehalten werden, vgl. BGH, NJW 2010, 757 und GRUR 2010, 549 – Spiegel-online; AfP 2010, 261 – Mannheimer Morgen. 51 Vgl. Markesinis/O’Cinnide/Fedtke/Hunter-Henin, 52 Am.J.Comp.L. 133, 182 (2004): „It would be more intellectually honest, as well as doctrinally more satisfying, if the emgergence of a distinct law of privacy on firm principled foundations from the chrysalis of the law of confidence were to be recognised and developed by our courts.“

Grundrechte in der Verfassung Südafrikas Von Hans-Peter Schneider I. Einleitung Die Republik Südafrika, die der Jubilar mehrfach besucht hat und deren staatsrechtlichem Schicksal stets sein besonderes Interesse galt1, hat mit ihrer am 18. Dezember 1996 verkündeten und am 4. Februar 1997 in Kraft getretenen Verfassung2 nicht nur eine Zeitenwende erlebt und den Systemwandel von der Apartheid zur Demokratie vollzogen, sondern erstmals in ihrer Geschichte auch einen weit ausgreifenden Grundrechtskatalog erhalten, der insgesamt 34 Artikel umfasst und zweifellos das „Herzstück der neuen Verfassung“ 3 bildet. Denn abgesehen davon, dass sich Südafrika hierbei von den meisten Staaten des Commonwealth nach britischem Vorbild unterschied, verfolgte das 2. Kapitel, in dem die Menschen- und Bürgerrechte enthalten sind, neben dem Individualrechtsschutz zwei weitere wichtige Ziele: die Überwindung der Rassentrennung in Staat und Gesellschaft sowie die Gewöhnung des überwiegenden Teils der Bevölkerung an die Strukturen und Anforderungen eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Dass beides inzwischen weitgehend gelingen konnte und von den bisher 16 Verfassungsänderungen keine den Bestand oder Wortlaut eines Grundrechts auch nur angetastet hat, ist weniger das Verdienst der ANC-Regierungen unter den beiden letzten Präsidenten Thabo Mbeki und Jacob Zuma, als vielmehr das Ergebnis der Wachsamkeit des Justizapparats, namentlich des südafrikanischen Verfassungsgerichts, auf dessen segensreiche Tätigkeit bei der Aktualisierung und Fortbildung von Grundrechten später noch eingegangen wird. Da im Rahmen dieses Beitrags naturgemäß nicht jedes Grundrecht im Einzelnen behandelt werden kann, sollen nur diejenigen Aspekte näher in den Blick genommen 1 Die Biographie Klaus Sterns verzeichnet Aufenthalte und Vorträge in Johannesburg (Witwatersrand University), Stellenbosch (University of Stellenbosch), Kapstadt (University of Cape Town – UCT), Bloomfontein (University of the Freestate), Potchefstroom (North-West University), Durban (University of Kwa-Zulu-Natal) und Pretoria (University of South Africa – UNISA). 2 „Constitution of the Republic of South Africa, 1996“. Government Gazette of South Africa (Cape Town) 378 (17678). 18 December 1996. 3 So Schneider, Hans-Peter (zus. mit Jutta Kramer), Das Fundament des Regenbogens. Ein Zeugnis der Verständigung – die Verfassung des neuen Südafrika, in: Mitteilungsheft Nr. 6 des Deutschen Instituts für Föderalismusforschung e.V., Hannover 1996, S. 17–28.

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werden, bei denen Südafrika neue Wege zu gehen bemüht war und sich daher von anderen Staaten mit deren Grundrechtsbestimmungen, vor allem also von Deutschland, unterscheidet. II. Entstehung Schon der Entstehungsprozess des Grundrechtsteils weicht erheblich von dem des Grundgesetzes ab. Während sowohl für den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee als auch für den Parlamentarischen Rat von vornherein feststand, dass den Menschen- und Bürgerrechten ein eigener Abschnitt gewidmet werden sollte und nur noch über ihre Bindungswirkung sowie über ihre Platzierung gestritten wurde, stand in Südafrika anfangs nicht nur das Wo und Wie, sondern vor allem das „Ob überhaupt“ zur Diskussion. Nachdem zunächst die zur Vorbereitung der neuen Verfassung einberufene „Konferenz für ein demokratisches Südafrika“ (CODESA) keine Lösung gefunden hatte, gelang es erst im Rahmen der sog. Mehrparteien-Verhandlungen (Multi-Party Negotiation Process – MPNP), sich auf 34 Prinzipien (Constitutional Principles) zu verständigen, die der ebenfalls beschlossenen Übergangsverfassung (Interim Constitution)4 als Anhang 4 beigefügt waren und für die von einer aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden verfassunggebenden Versammlung zu verabschiedende endgültige Verfassung verbindlich sein sollten. Die Prinzipien II und III lauteten: „Jedermann soll alle universell anerkannten Grundrechte, Freiheiten und Bürgerrechte genießen, die in der Verfassung durch fest verankerte und gerichtlich überprüfbare Bestimmungen vorgesehen und geschützt werden müssen, wobei unter anderem die bereits in Kapitel 3 dieser (Interim-)Verfassung enthaltenen Grundrechte gebührend in Erwägung zu ziehen sind. Die Verfassung soll alle Formen rassischer und geschlechtlicher Diskriminierung verbieten sowie die Gleichheit der Rassen und Geschlechter und die nationale Einheit fördern“ 5. Obwohl danach bereits die Übergangsverfassung von 1993 einen ausführlichen Grundrechtskatalog enthielt, verwandte der von der Verfassunggebenden Versammlung (Constitutional Assembly – CA) zur Ausarbeitung eines Entwurfs der endgültigen Verfassung eingesetzte, aus 46 Mitgliedern bestehende Verfassungsausschuss (Constitutional Committee – CC)6 einen Großteil seiner Beratungs4 Constitution of the Republic of South Africa Act 200, 1993 („Interim Constitution“, published in Government Gazette 15864 of 18 July 1994). 5 „II. Everyone shall enjoy all universally accepted fundamental rights, freedoms and civil liberties, which shall be provided for and protected by entrenched and justiciable provisions in the Constitution, which shall be drafted after having given due consideration to inter alia the fundamental rights contained in Chapter 3 of this Constitution. III. The Constitution shall prohibit racial, gender and all other forms of discrimination and shall promote racial and gender equality and national unity.“ 6 Etwa dem „Hauptausschuss“ des Parlamentarischen Rates vergleichbar.

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und Sitzungszeit auf eine intensive, wiederholte Erörterung eben jenes Grundrechtskapitels. Es ist insgesamt mehr als zwanzigmal aufgerufen und bei einzelnen Artikeln zunächst mit immer neuen Alternativen, Optionen, Randbemerkungen und Fußnoten versehen worden, wobei die Democratic Party (DP) mit 1,7 v. H. der Mandate, der Pan-African Congress (PAC) mit 1,2 v. H. oder die Freedom Front (FF) mit 2,7 v. H. die gleichen Möglichkeiten und Redezeiten hatten, um ihre Vorschläge einzubringen, wie der African National Congress (ANC) mit 62,6 v. H. der Mandate. Nach und nach fielen dann Alternativen fort, wurde auf Optionen verzichtet, hatten sich Randbemerkungen erledigt und Fußnoten verflüchtigt, bis schließlich der endgültige Verfassungstext im Konsens erarbeitet war. Es hat während der gesamten zweijährigen Beratungen im Verfassungsausschuss keine einzige Abstimmung stattgefunden, in der der ANC seine annähernde Zweidrittelmehrheit leicht gegen die übrigen Parteien hätte ausspielen können. Stattdessen wurden in unendlich mühsamen und langwierigen Prozeduren und Debatten die einzelnen Teile der neuen Verfassung – so auch die Grundrechte – immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt, von Anfang bis Ende durchgesprochen und mehr diskutiert oder kommentiert als ausgefochten und definitiv entschieden. Die erste formelle Abstimmung fand dann nur im Plenum statt: Von 435 anwesenden Abgeordneten votierten lediglich zwei gegen die Verfassung; zwölf enthielten sich und 421 stimmten dafür – ein überwältigender Erfolg dieses von Anbeginn auf Konsens ausgerichteten Verhandlungsprozesses. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Konsensprozesse bildeten die Auseinandersetzungen über ein zentrales Grundrecht der Wirtschaftsordnung. Während in Art. 26 Abs. 1 der Übergangsverfassung lediglich vorgesehen war, dass jedermann das Recht hat, sich wirtschaftlich frei zu betätigen und überall im Inland für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, verlangten die konservativen Kräfte (NP, DP, FF) eine klare und feste Verankerung der klassischen Handelsund Gewerbefreiheit (freedom of trade and commers). Dem widersetzte sich der ANC und schlug stattdessen für die abhängig Beschäftigten ein Recht auf Arbeit vor. Ein Kompromiss in dieser Frage, der beiden Positionen gerecht geworden wäre, war nur schwer denkbar. Daher einigte man sich schließlich auf das deutsche Vorbild in Art. 12 Abs. 1 GG, der die Berufsfreiheit in einer Form garantiert, die sowohl die selbständige als auch die abhängige Arbeit erfasst, ja sogar Unternehmen und Unternehmer einbezieht. Die Bestimmung des Art. 22 der südafrikanischen Verfassung ist überschrieben mit: „Freiheit von Handel oder Gewerbe, Beschäftigung und Beruf“ und lautet: „Jeder Bürger hat das Recht, Handel, Gewerbe und Beruf frei zu wählen. Die Ausübung von Handel, Gewerbe und Beruf kann durch Gesetz geregelt werden“ 7.

7 Art. 22: „Freedom of trade, occupation and profession. Every citizen has the right to choose their trade, occupation or profession freely. The practice of a trade, occupation or profession may be regulated by law.“

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Trotz jenes intensiven Bemühens aller Seiten um Verständigung waren bis kurz vor der für den 8. Mai 1996 geplanten Verabschiedung der neuen Verfassung wichtige Grundrechtsfragen noch offen geblieben: Es ging dabei um die Todesstrafe, das Recht zur Aussperrung, den Eigentumsschutz (mit dem Vorbehalt einer Landreform), die Amtssprachen, den einsprachigen Schulunterricht und die kommunale Selbstverwaltung. Auf einer Klausurtagung am 22. April einigte man sich aber auch über diese Streitpunkte. Die Frage eines Verbots der Todesstrafe blieb offen, wobei einige meinten, eine ausdrückliche Regelung in der Verfassung erübrige sich, weil sie bereits mit dem Recht auf Leben unvereinbar sei. Die Aussperrung wurde weder ausdrücklich erlaubt noch untersagt. Bei der Eigentumsgarantie sollten für die Frage, ob und unter welchen Umständen im öffentlichen Interesse enteignet werden kann, auch der gegenwärtige Gebrauch des Objekts und die Geschichte seines Erwerbs in Betracht gezogen werden; darüber hinaus wurde bestimmt, dass Enteignungen nur gegen angemessene Entschädigung zulässig sind und dass das öffentliche Interesse auch die Verpflichtung der Nation zur Landreform und zu Reformen einschließt, die allen Südafrikanern gleichberechtigten Zugang zu den natürlichen Ressourcen verschaffen. In der Sprachenfrage ließ sich indes keine Einigung erzielen, so dass als kleinster gemeinsamer Nenner nur die Anerkennung von nicht weniger als 11 Amtssprachen übrig blieb. Einsprachiger Schulunterricht, an dem die Afrikaans sprechende Bevölkerung ein gesteigertes Interesse hatte, wurde zwar nicht verboten, aber an strenge Bedingungen geknüpft: Bei seiner Einführung müssten die Grundsätze der Gleichberechtigung, der Praktikabilität und die Notwendigkeit berücksichtigt werden, die Ergebnisse rassisch diskriminierender Gesetze und Praktiken der Vergangenheit zu beseitigen. Das Problem der kommunalen Selbstverwaltung auf der unterhalb der neun Provinzen angesiedelten „dritten“ Regierungsebene (third tier of government) klammerte man schließlich aus und überließ es späterer Gesetzgebung. So kam am Ende doch noch ein respektabler und für alle Beteiligten akzeptabler Grundrechtskatalog zustande. III. Bedeutung Schon der das 2. Kapitel einleitende Art. 7 Abs. 1 hebt die überragende Bedeutung der Grundrechte hervor. Die „Bill of Rights“ wird als der „Eckstein“ (corner stone) der Demokratie in Südafrika bezeichnet. Sie verankere die Rechte aller Menschen in diesem Land und bekräftige die demokratischen Werte der Menschenwürde, der Gleichheit und der Freiheit8. Betrachtet man die Grundrechte der südafrikanischen Verfassung im Einzelnen, so mag zunächst verwundern, dass im Grundrechtskatalog die Gleichheit an erster Stelle steht – noch vor der 8 Art. 7 Abs. 1 lautet: „This Bill of Rights is a cornerstone of democracy in South Africa. It enshrines the rights of all people in our country and affirms the democratic values of human dignity, equality and freedom.“

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Menschenwürde und der Freiheit. Das ist vor allem historisch zu erklären und hängt mit der völligen Missachtung und Negierung des Gleichheitsgedankens durch das Apartheidregime zusammen. Die besondere Sensibilität gegenüber jeder Form von Diskriminierung kommt auch in dem umfangreichen Katalog absoluter Differenzierungsverbote zum Ausdruck: Eine Ungleichbehandlung ist nicht nur wegen des Geschlechts, der Sprache, Rasse, Herkunft oder Heimat und wegen politischer oder religiöser Anschauungen untersagt, sondern auch wegen des Alters, einer Krankheit oder Behinderung, wegen sexueller Orientierung, Schwangerschaft9, des Personenstands, Glaubens, Gewissens, der Geburt oder Kulturzugehörigkeit. Darüber hinaus wird der Staat verpflichtet, das Ziel der Gleichheit durch gesetzliche oder andere Maßnahmen zu erreichen, die dazu bestimmt sind, Personen oder Personengruppen zu schützen und zu fördern, die bisher benachteiligt waren oder unter unfairer Diskriminierung gelitten haben. Auf diese Weise wurden Vergünstigungen vor allem für die schwarze Mehrheit der Bevölkerung, gelegentlich auch als „affirmative actions“ bezeichnet, verfassungsrechtlich abgesichert. Von besonderer Bedeutung sind für Südafrika und seine sozio-ökonomische Entwicklung naturgemäß die sozialen Grundrechte: das Recht auf eine begabungsgemäße Erziehung, auf bezahlbaren Wohnraum, auf faire Arbeitsverhältnisse und auf Daseinsvorsorge hinsichtlich medizinischer Betreuung, ausreichender Nahrung, Zugang zu sauberem Wasser und Elektrizität sowie zu sozialer Sicherung. Trotz ihrer offenkundigen Auswirkungen auf das staatliche Leistungsvermögen und seine Grenzen waren diese Rechte nie ernsthaft umstritten. Zu lange hatte ein Großteil der schwarzen Bevölkerung unter den Entbehrungen dieser Rechte gelitten, als dass jemand ihre Verankerung in der neuen Verfassung auch nur andeutungsweise hätte in Frage stellen können. Inzwischen hat das südafrikanische Verfassungsgericht dafür gesorgt, dass diese Rechte bis zu einem gewissen Grade auch einklagbar sind10. Außerdem bürgt zur Zeit noch das (mit auswärtiger Unterstützung finanzierte) landesweite „Reconstruction and Development Programme“ (RDP), das inzwischen auf wirtschaftlichem Gebiet durch das „Black Economic Empowerment Programme“ (BEE) ergänzt wird, für eine Minimalerfüllung dieser Rechte. Neu sind dagegen das Recht auf eine intakte Umwelt sowie die Rechte von Kindern und ihren Grundbedürfnissen. Ersteres ist nicht als Staatsziel, sondern sogar als Individualrecht gefasst: Nach Art. 24 hat jedermann das Recht, 1. auf eine Umwelt, die seiner Gesundheit oder seinem Wohlbefinden nicht schadet und 2. auf deren Schutz zum Nutzen gegenwärtiger oder künftiger Generationen 9 Ein Abtreibungsverbot ist übrigens entgegen zahlreicher Forderungen nicht aufgenommen worden; es blieb bei der schlichten Gewährleistung des Rechts auf Leben in Art. 11. 10 Dazu Liebenberg, Sandra, Socio-Economic Rights – Adjudication Under a Transformative Constitution, Kapstadt (Juta) 2010.

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durch angemessene gesetzliche oder andere Maßnahmen, die Umweltverschmutzung oder ökologischen Rückschritt verhindern, die Erhaltung der Umwelt fördern und eine nachhaltige ökologische Entwicklung gewährleisten. Damit stellt sich naturgemäß sofort die Frage, wie ein solch weitreichender Anspruch tatsächlich eingelöst und erfüllt werden kann. Ohne bereits hier auf Details näher eingehen zu können, hat das Verfassungsgericht – wie unter VI. exemplarisch dargelegt wird – diese und ähnliche „Individualrechte“ in Verpflichtungen des Staates umgedeutet, entsprechende Programme zu entwickeln, die jenen Zielen dienen, und damit aus deutscher Sicht das Konzept der „Schutzpflichten“ fruchtbar gemacht. Ähnliches gilt auch für die Rechte der Kinder in Art. 28, wozu alle Personen unter 18 Jahren zählen. Danach hat jedes Kind von Geburt an das Recht auf einen Namen und eine Staatsbürgerschaft, auf familiäre und elterliche Fürsorge, auf Grundnahrung, Unterkunft sowie Gesundheits- und Sozialvorsorge, auf Schutz vor Misshandlung, Vernachlässigung, Missbrauch, ausbeuterischer Kinderarbeit und vor Zwang zum Einsatz in bewaffneten Konflikten. Bei Rechtsstreitigkeiten steht dem Kind ein Pflichtanwalt zu. In allen Angelegenheiten, die das Kind betreffen, soll das Kindeswohl oberster Maßstab sein. Man darf durchaus feststellen, dass diese Regelungen nicht nur vielen der neuesten, namentlich osteuropäischen Verfassungen als Vorbild gedient haben, sondern auch dem Grundgesetz gut anstehen würden und künftig darin ebenfalls ihren Platz haben sollten. Für den Prozess der demokratischen Willensbildung besonders bedeutsam ist die ausdrückliche Gewährleistung politischer Rechte, darunter das Recht zur Bildung von und zur Betätigung in Parteien, zur Werbung von Parteimitgliedern, zur Mitwirkung an Kampagnen und Wahlkämpfen, zur Teilnahme an freien, fairen, geheimen und regulären Wahlen sowie zur Übernahme und Ausübung öffentlicher Ämter. Bemerkenswert an dieser Regelung in Art. 19 ist zweierlei: Sie ist erstens ein Indiz für die Notwendigkeit einer verfassungsrechtlichen Erwähnung bzw. Aufzählung all jener politischen Beteiligungsrechte, welche die schwarze Mehrheit der südafrikanischen Bevölkerung Jahrzehnte lang unter dem Apartheidregime entbehren musste. Andererseits verblüfft, dass im Zusammenhang mit dem Wahlrecht das Prinzip der allgemeinen und gleichen Wahl nicht erwähnt wird. Zwar ist in Art. 190 f. eine Wahlkommission (Electoral Commission) vorgesehen, zu deren Aufgaben auch die Gewährleistung freier und fairer Wahlen gehört. Aber auch hier ist von Wahlrechtsgleichheit nicht die Rede. Vermutlich hielten die Schöpfer der Verfassung den Grundsatz der gleichen Wahl für so selbstverständlich, dass sie auf eine ausdrückliche Verankerung in der Verfassung verzichten zu können glaubten, zumal sich fast alle verfassungsrechtlichen Probleme, die dabei auftreten können, mit Hilfe des allgemeinen Gleichheitssatzes in Art. 9 lösen lassen. Innovationen gegenüber dem Grundgesetz stellen letztendlich die Regelungen in drei weiteren Artikeln dar, welche in erster Linie die öffentliche Verwaltung betreffen: das Recht auf Privatheit, auf Zugang zu Informationen und auf Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns. Jedermann, so heißt es in Art. 14, hat das Recht

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auf Privatheit (privacy), welches ausschließe, dass die Person sowie ihre Wohnung oder ihr Eigentum durchsucht, auf ihren Besitz zugegriffen oder die Vertraulichkeit ihrer Kommunikation beeinträchtigt werde. Obwohl sich hinter dieser Vorschrift eigentlich das Recht auf Datenschutz verbirgt, ist im südafrikanischen Alltag davon allerdings wenig zu spüren. So kann beispielsweise jeder ohne Nachweis eines besonderen Interesses das Liegenschaftsregister einsehen und dabei erfahren, zu welchem Kaufpreis das Grundstück des Nachbarn erworben wurde, wie hoch die darauf beruhenden Belastungen sind und welche Bank bis zu welchem Betrag einen Hypothekenkredit gewährt hat. Auch das in Art. 32 enthaltene Recht auf freien Zugang zu Informationen, über die der Staat oder jemand verfügt, der für den Schutz oder die Ausübung eines (Grund-)Rechts verantwortlich ist, spielt in der Praxis nur eine untergeordnete Rolle, weil das betreffende Ausführungsgesetz eine Vielzahl von Ausnahmen vorsieht. Sobald das Wohl des Staates in Gefahr ist, wie dies beispielsweise bei der Aufdeckung eines in höchste politische Kreise reichenden Korruptionsskandals beim Kauf von Waffen behauptet wurde, kann die Herausgabe von Dokumenten sogar gegenüber parlamentarischen Untersuchungsausschüssen verweigert werden. In Hinblick darauf, dass Südafrika inzwischen auch eine wirksame richterliche Verwaltungskontrolle eingeführt hat, gewinnt demgegenüber Art. 33 weitaus größere Bedeutung. Danach hat jedermann ein Recht auf gesetzmäßiges, vernünftiges und im Verfahren faires Verwaltungshandeln. Wer durch eine hiervon abweichende Verwaltungsentscheidung betroffen ist, kann dafür eine schriftliche Begründung verlangen. Im Wege nationaler Gesetzgebung ist diesen Rechten unter anderem dadurch Geltung zu verschaffen, dass die Überprüfung der jeweiligen Maßnahme durch ein Gericht oder ein unabhängiges Tribunal ermöglicht wird. IV. Auslegung Eine weitere Besonderheit der südafrikanischen Verfassung besteht darin, dass dem Grundrechtskatalog in Art. 39 eine ausdrückliche Interpretationsanweisung beigefügt ist. Wer auch immer die Grundrechte auslegt – sei es ein Gericht, ein Tribunal oder ein sonstiges Forum – habe dabei die Werte zu beachten, die einer offenen und demokratischen Gesellschaft zugrunde liegen, welche auf Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit beruht. Darüber hinaus müsse er aber auch internationales und auswärtiges Recht in Betracht ziehen. Das Gleiche gelte für die Auslegung von Gesetzen oder für die Fortentwicklung des „common law“ und des Gewohnheitsrechts. Jedes Gericht, Tribunal oder Form sei gehalten, dabei Geist, Intention und Ziele der Grundrechte fördern11. Obwohl das Grund11 Art. 39 lautet: „Interpretation of Bill of Rights (1) When interpreting the Bill of Rights, a court, tribunal or forum a. must promote the values that underlie an open and democratic society based on human dignity, equality and freedom;

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gesetz keine entsprechende Auslegungsregel enthält, klingt vieles darin vertraut und erinnert an längst allgemein anerkanntes deutsches Grundrechtsverständnis. So werden die Grundrechte in ihrer objektiven Dimension etwa als Ausprägungen einer „Wertordnung“ betrachtet. Auch die Auslegung einfachen Rechts „im Lichte“ der Grundrechte ist geläufig. Anderenfalls kann bei Urteilsverfassungsbeschwerden das Verkennen von Gewicht und Tragweite eines Grundrechts für den konkreten Fall zur Aufhebung der fachgerichtlichen Entscheidung führen. Weniger selbstverständlich ist dagegen die Pflicht, bei der Grundrechtsinterpretation internationales oder ausländisches Recht zu berücksichtigen. Zwar hat Häberle die Rechtsvergleichung zur „fünften“ Auslegungsmethode erklärt (in Ergänzung zu Savignys klassischem „Viererkanon“)12. Dennoch blieben Gerichte und Verwaltungen in Deutschland über Jahrzehnte im nationalen Recht gefangen. Erst in jüngster Zeit hat sich in dieser Hinsicht vor allem bei den Obergerichten ein Sinneswandel vollzogen. So wird beispielsweise die Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), obwohl nur im Range einfachen Bundesrechts, zunehmend auf der gleichen Ebene wie die Grundrechte angesiedelt und damit vorbehaltlos als konstitutionell verbindlich betrachtet. Diese Ausweitung und Öffnung des Horizonts verdankt das deutsche Rechtswesen zum einen dem rapiden Anwachsen des mit Geltungs- und Anwendungsvorrang versehenen europäischen Rechts, zum anderen zweifellos auch dem zunehmenden Interesse an fremden Rechtsordnungen – zumal dann, wenn sich darin auch umgekehrt Spuren deutschen Rechtsexports finden. So darf man feststellen, dass die Auslegungsmaxime in Art. 39 der südafrikanischen Verfassung mit dem Verweis auf internationales und auswärtiges Recht inzwischen nicht nur als ungeschriebene Regel der Verfassungsinterpretation zu betrachten ist, sondern immer stärker auch das Alltagsgeschäft in der forensischen Praxis prägt. Eigene Wege geht die Verfassung Südafrikas auch bei der Bestimmung von Grundrechtsschranken. Während das Grundgesetz zwischen schrankenlosen Grundrechten, die nur durch die Verfassung selbst begrenzt werden, speziellen Grundrechtsschranken und allgemeinen oder besonderen Gesetzesvorbehalten unterscheidet, verzichtete Südafrika nach langen Debatten im Verfassungsausschuss auf eine solche Differenzierung und begnügt sich mit einer generellen Schrankenklausel, die für alle Grundrechte gleichermaßen gilt: Nach Art. 36 b. must consider international law; and c. may consider foreign law. (2) When interpreting any legislation, and when developing the common law or customary law, every court, tribunal or forum must promote the spirit, purport and objects of the Bill of Rights. (3) The Bill of Rights does not deny the existence of any other rights or freedoms that are recognised or conferred by common law, customary law or legislation, to the extent that they are consistent with the Bill.“ 12 Häberle, Peter, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation. Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode, in: JZ 1989, S. 913 (916 ff.).

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kann ein Grundrecht nur durch oder aufgrund eines allgemeinen Gesetzes insoweit eingeschränkt werden, als die Begrenzung vernünftig und in einer offenen demokratischen Gesellschaft, die auf Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit beruht, gerechtfertigt ist. Dabei sind alle relevanten Faktoren in Rechnung zu stellen, nämlich die Natur des Rechts, die Bedeutung des Ziels der Begrenzung, deren Art und Ausmaß, das Verhältnis zwischen der Begrenzung und ihrem Zweck sowie der Aspekt, ob auch weniger einschneidende Mittel geeignet sind, das gleiche Ziel zu erreichen13. Abgesehen davon, dass die Anknüpfung an die Werte einer offenen, demokratischen Gesellschaft, gerade weil sie pluralistisch strukturiert ist, etwas nebulös wirkt und daher kaum als zentraler Maßstab einer klar umrissenen, unmittelbar anwendbaren Grundrechtsschranke in Betracht kommen kann, solange er nicht durch die Verfassungsrechtsprechung hinreichend konkretisiert ist, klingt die Bezugnahme auf die Eignung und Erforderlichkeit einer Begrenzung sowie auf die Relation von Mittel und Zweck sehr vertraut. Denn es handelt sich dabei um nichts anderes als um die Einführung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Bedenkt man ferner, dass auch in Deutschland die Schrankensystematik von Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht wird, ja mit Blick auf die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts beinahe schon in ihm aufgeht, scheinen die Unterschiede zwischen Ländern mit speziellen oder generellen Grundrechtsschranken zu schwinden und die erregten Debatten darüber, wie sie im südafrikanischen Verfassungsausschuss geführt worden sind, weitgehend müßig. Ausschlaggebend war hier letztlich offenbar der Umstand, dass man sich bei der Fülle auch neuartiger Menschen- und Bürgerrechte, wie sie in die südafrikanische Verfassung Eingang gefunden haben, einfach nicht zugetraut hat, für jedes einzelne Grundrecht die passende Schranke zu finden und sie so formulieren zu können, dass sie auf jeden denkbaren Fall zutreffen kann. Ohnehin lagen bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung noch keine gesicherten Erfahrungen darüber vor, wie sich einklagbare Grundrechte in einer Rechtsordnung auswirken, die zumindest in prozessualer Hinsicht noch ganz der „common-law“-Tradition verpflichtet ist. Auch in diesem Punkt erhoffte man sich wohl nähere Erkenntnisse aus der Kasuistik des Verfassungsgerichts. 13 Art. 36 lautet: „Limitation of rights (1) The rights in the Bill of Rights may be limited only in terms of law of general application to the extent that the limitation is reasonable and justifiable in an open and democratic society based on human dignity, equality and freedom, taking into account all relevant factors, including a. the nature of the right; b. the importance of the purpose of the limitation; c. the nature and extent of the limitation; d. the relation between the limitation and its purpose; and e. less restrictive means to achieve the purpose. (2) Except as provided in subsection (1) or in any other provision of the Constitution, no law may limit any right entrenched in the Bill of Rights.“

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V. Anwendung Für Vorsicht und Zurückhaltung bei der Bestimmung von Grundrechtsschranken sprachen aber auch noch andere Gründe, die ebenfalls mit Neuerungen in der südafrikanischen Verfassung zusammenhängen, nämlich erstens eine umfassende Grundrechtsbindung nicht nur aller staatlichen Gewalt, sondern auch natürlicher und juristischer Personen (unmittelbare Drittwirkung) und zweitens die lückenlose Einklagbarkeit dieser Grundrechte. Die in Art. 8 Abs. 1 verankerte Verpflichtung von Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung sowie sämtlicher Staatsorgane zur Anwendung der Grundrechte entspricht der Grundrechtsbindung aller drei Gewalten „als unmittelbar geltendes Recht“ nach Art. 1 Abs. 3 GG. Das Grundgesetz hütet sich jedoch davor, Rechtspositionen, die für das Verhältnis von Bürger und Staat maßgeblich sind, in ihrer unmittelbaren Wirkung auch auf den privatrechtlich geregelten Bereich auszudehnen. Die einzige Ausnahme bildet aus Gründen erhöhter Schutzbedürftigkeit abhängig Beschäftigter bekanntlich das Arbeitsrecht. Dass man in Südafrika einen anderen Weg gegangen ist und sich für eine direkte Drittwirkung (horizontal application) entschieden hat14, hängt mit dem Vermächtnis der Apartheid zusammen, die tiefe Wunden nicht nur im politischen Leben, sondern vor allem auch im gesellschaftlichen Bereich hinterlassen hat. Die Unterdrückung und Benachteiligung der großen Mehrheit des südafrikanischen Volkes, insbesondere der schwarzen Bevölkerung, beschränkte sich keineswegs nur auf staatliche Ein- und Übergriffe, sondern fand in weitem Umfang gerade in der Gesellschaft statt. Daher ist es nicht nur verständlich, sondern erscheint fast zwingend, die Grundrechte als Instrumente und Vehikel zur Überwindung auch der ökonomischen, sozialen und kulturellen Spaltung der Gesellschaft einzusetzen. Ob und inwieweit dies inzwischen gelungen ist, muss allerdings mit einem Fragezeichen versehen werden. Trotz der bereits in Art. 8 Abs. 1 statuierten Bindung der Judikative an den Grundrechtskatalog hat man es in Südafrika für sinnvoll und nötig gehalten, zur Verstärkung des Grundrechtsschutzes noch eine eigene Bestimmung zur Durch-

14 Art. 8 lautet: „Application (1) The Bill of Rights applies to all law, and binds the legislature, the executive, the judiciary and all organs of state. (2) A provision of the Bill of Rights binds a natural or a juristic person if, and to the extent that, it is applicable, taking into account the nature of the right and the nature of any duty imposed by the right. (3) When applying a provision of the Bill of Rights to a natural or juristic person in terms of subsection (2), a court a. in order to give effect to a right in the Bill, must apply, or if necessary develop, the common law to the extent that legislation does not give effect to that right; and b. may develop rules of the common law to limit the right, provided that the limitation is in accordance with section 36(1). (4) A juristic person is entitled to the rights in the Bill of Rights to the extent required by the nature of the rights and the nature of that juristic person.“

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setzung (enforcement) der „Bill of Rights“ vorzusehen. Nach Art. 38 hat jedermann das Recht, mit der Begründung, eines seiner Grundrechte sei beeinträchtigt oder gefährdet, ein zuständiges Gericht anzurufen, das für Abhilfe zu sorgen hat, und zwar einschließlich einer Erläuterung des jeweiligen Grundrechts. Zugang zu Gericht hat jeder, der im eigenen Interesse oder der im Namen einer anderen Person handelt, die nicht selbst tätig werden kann, oder der als Mitglied einer Interessen- bzw. Betroffenengruppe tätig ist oder eine Vereinigung, die im Interesse ihrer Mitglieder agiert15. Damit hatte man die Schleusen des Zugangs zu Gericht in Grundrechtsangelegenheiten weit geöffnet. Antrags- bzw. klagefähig sind somit in Südafrika nicht nur alle Grundrechtsträger, sondern auch Verbände und Personenmehrheiten, die in gleicher oder ähnlicher Weise durch einen für grundrechtswidrig gehaltenen Akt der Staatsgewalt oder privater Organisationen berührt sind. Ohne Zögern wurde die aus den Vereinigten Staaten bekannte und in Deutschland erst in Ansätzen zulässige16 Gruppenlage (class action) übernommen. Dies verwundert umso mehr, als alle Grundrechte in der südafrikanischen „Bill of Rights“ – wie bereits erwähnt – als einklagbare Individualrechte ausgestaltet sind und nun durch Art. 38 in prozessualer Hinsicht mit einem Federstrich sogar zu Kollektivrechten ausgeweitet wurden. Dagegen hilft zur Eingrenzung nur wenig, dass in Art. 8 Abs. 4 – ähnlich wie bei Art. 19 Abs. 3 GG – die Rechtsträgerschaft (und somit zugleich die Antragsbzw. Klagefähigkeit) juristischer Personen immerhin von der Natur des jeweiligen Rechts und vom Wesen der juristischen Person abhängig gemacht wird. Auch soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte haben zumindest dem Wortlaut nach den Charakter von direkt durchsetzbaren, justiziablen und einklagbaren Ansprüchen. Im Unterschied zu vielen neuen süd- und osteuropäischen Verfassungen kennt das südafrikanische Recht weder Staatszielbestimmungen noch explizite Gesetzgebungsaufträge oder sonstige Verfassungsdirektiven. Auch hierfür liegt der Grund auf der Hand: Nach den Jahrzehnte langen Entbehrungen der fundamentalen Menschen- und Bürgerrechte wollte man offenbar nicht länger darauf vertrauen, dass die Politik sich der Verwirklichung jener Ansprüche nach eigenem Gutdünken annimmt, sondern jeden einzelnen Bürger in die Lage ver15 Art. 38 lautet: „Enforcement of rights Anyone listed in this section has the right to approach a competent court, alleging that a right in the Bill of Rights has been infringed or threatened, and the court may grant appropriate relief, including a declaration of rights. The persons who may approach a court are – a. anyone acting in their own interest; b. anyone acting on behalf of another person who cannot act in their own name; c. anyone acting as a member of, or in the interest of, a group or class of persons; d. anyone acting in the public interest; and e. an association acting in the interest of its members.“ 16 Vgl. § 8 des „Gesetzes über Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten (Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz – KapMuG – )“ vom 16. August 2005 (BGBl. I S. 2437).

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setzen, sich seine Rechte selbst zu verschaffen und notfalls auch zu erstreiten. Damit gerät nunmehr das südafrikanische Verfassungsgericht ins Blickfeld, das nach dem Vorbild des Bundesverfassungsgerichts schon von der Übergangsverfassung geschaffen wurde und an das abschließend die Frage gestellt werden soll, wie es in einigen exemplarischen Fällen mit dieser schwierigen und – angesichts der begrenzten staatlichen Ressourcen – fast hoffnungslosen Verfassungslage umgegangen ist. VI. Fortbildung Das „Constitutional Court of South Africa“ (CCT) – so der offizielle Name – hat seit Beginn seiner Spruchpraxis im Februar 1995 (noch unter der Übergangsverfassung) in weitestem Umfang für sich die Befugnis in Anspruch genommen, die Grundrechte fortzubilden, das „common law“ grundrechtskonform umzubilden, ja sogar im Wege verfassungskonformer Auslegung den Wortlaut eines Gesetzes im Einklang mit einem bestimmten Grundrecht zu ergänzen. Eine der entsprechenden Leitentscheidungen (landmark decisions) aus dem Jahre 2001 betraf die Verpflichtung der Fachgerichte, das „common law“ im Sinne der Grundrechte weiterzubilden. Ein Sexualtäter, der – während er auf sein Strafverfahren wegen Vergewaltigung wartete – eine andere Frau wiederum brutal angegriffen hatte, war ohne Kaution von einem Gericht auf freien Fuß gesetzt worden. Die betroffene Frau verklagte wegen des Gerichtsbeschlusses die Minister für Sicherheit und Justiz und bekam vor dem Verfassungsgericht Recht. Der Fall wurde an die Fachgerichte zurückverwiesen. Obwohl der Motor für Reformen des Rechts, so das CCT in der Begründung, eigentlich der Gesetzgeber sei, obliege den Instanzgerichten die allgemeine Pflicht, das „common law“ fortzuentwickeln, wenn und soweit es von Geist, Absicht und Ziel der Grundrechte abweiche. In dieser Sache seien leider die verfassungsrechtlichen Aspekte des Falles von diesen Gerichten nicht in Betracht gezogen worden17. Bei anderer Gelegenheit ging das CCT sogar noch weiter und übernahm selbst die Rolle des Gesetzgebers. Das südafrikanische „Fremdenkontrollgesetz“ gestattete den Familiennachzug zu permanent dort lebenden Ausländern lediglich Eheleuten, nicht aber Partnern, die in einer dauerhaften gleichgeschlechtlichen Beziehung lebten. In diesem Fall reparierte das CCT den offenkundigen Verstoß gegen das ausdrückliche Diskriminierungsverbot wegen sexueller Orientierung in Art. 9 Abs. 3 gleich selbst und fügte der betreffenden Vorschrift die Worte „oder Partner in einer dauerhaften gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft“ ein. Ein solches verfassungskonformes „Hineinlesen“ (reading in) knüpfte es allerdings 17 Alix Jean Carmichele v The Minister for Safety and Security and the Minister of Justice and Constitutional Development (CCT 48/00) [2001] ZACC 22; 2001 (4) SA 938 (CC); 2001 (10) BCLR 995 (CC) (16 August 2001).

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an strenge Voraussetzungen: Erstens müsse es mit der Verfassung und ihren fundamentalen Werten übereinstimmen; zweitens sollte das erzielte Ergebnis so wenig wie möglich in das vom Parlament beschlossene Gesetz eingreifen; drittens müsse das CCT in der Lage sein, mit hinreichender Präzision zu bestimmen, in welcher Weise das Gesetz zu ergänzen sei, um im Einklang mit der Verfassung zu stehen; viertens sollte ein Gericht die Intentionen des Gesetzgebers im Rahmen der Verfassung zur Wirkung bringen können; fünftens dürfe eine solche Gesetzesergänzung nicht vorgenommen werden, wenn sie zu zusätzlichen Staatsausgaben führe; und sechstens schließlich sei ein solches „Hineinlesen“ unzulässig und die Vorschrift insgesamt für verfassungswidrig zu erklären, wenn sie eine seit langem gepflegte oder verfassungsrechtlich sogar angeregte politische Praxis aufrechterhalte 18. Wenig später hatte sich das CCT mit der Frage zu befassen, ob homosexuelle Paare heiraten dürfen. Das Gericht erklärte zunächst, dass der Ausschluss solcher Paare von den Vorzügen und Pflichten der Ehe keineswegs nur eine kleine und nebensächliche Unannehmlichkeit darstelle, die aus wenigen noch verbliebenen Vorurteilen der Gesellschaft resultiere und dazu bestimmt sei, „sich aufzulösen wie der Morgentau“. Vielmehr komme in dieser Rechtslage eine schroffe, wenn nicht gar unaufrichtige Einstellung des Gesetzgebers zum Ausdruck, dass gleichgeschlechtliche Paare Außenseiter seien. Daher müssten homosexuellen Partnern dieselben Chancen und Möglichkeiten eingeräumt werden wie heterosexuellen Paaren, also auch das Recht zu heiraten19. Weitere wichtige Entscheidungen zum Gleichheitssatz betrafen diskriminierendes Handeln im Arbeitsrecht. Die Fluggesellschaft South African Airways (SAA) hatte sich geweigert, HIV-positive Personen als Flugbegleiter einzustellen. Das CCT erklärte diese Praxis für verfassungswidrig und forderte die SAA auf, dem Betroffenen unverzüglich eine entsprechende Stelle anzubieten – ein besonders anschauliches Beispiel für unmittelbare Drittwirkung20. Mit dem Gleichheitssatz für unvereinbar erklärt wurde ferner eine Regelung, wonach nur südafrikanische Staatsbürger und nicht auch permanent in Südafrika lebende Ausländer Dauerstellen in Bildungseinrichtungen erhalten konnten. Die Sicherheit des Arbeitsplatzes sei für beide Gruppen in gleicher Weise von existentieller Bedeutung21. In zahlreichen weiteren Diskri-

18 National Coalition for Gay and Lesbian Equality and Others v Minister of Home Affairs and Others (CCT10/99) [1999] ZACC 17; 2000 (2) SA 1; 2000 (1) BCLR 39 (2 December 1999). 19 Minister of Home Affairs and Another v Fourie and Another (CCT 60/04) [2005] ZACC 19; 2006 (3) BCLR 355 (CC); 2006 (1) SA 524 (CC) (1 December 2005). 20 Hoffmann v South African Airways (CCT17/00) [2000] ZACC 17; 2001 (1) SA 1; 2000 (11) BCLR 1235; [2000] 12 BLLR 1365 (CC) (28 September 2000). 21 Larbi-Odam and Others v Member of the Eexecutive Council for Education (North-West Province) and Another (CCT2/97) [1997] ZACC 16; 1997 (12) BCLR 1655; 1998 (1) SA 745 (26 November 1997).

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minierungsfällen hatte es das CCT in der Anfangszeit mit Vorschriften aus der Apartheid-Ära zu tun, die es im Lichte der neuen Verfassung für korrekturbedürftig hielt. Dazu gehörte etwa § 44 des Versicherungsgesetzes von 1943, der unter bestimmten Umständen einer verheirateten Frau als Begünstigte gewisse Erträge aus einer Lebensversicherung ihres Mannes vorenthielt. Dies sei – so das Gericht – ein klarer Verstoß gegen den in Art. 8 der Verfassung enthaltenen Grundsatz der Gleichberechtigung von Mann und Frau, der auch nicht damit gerechtfertigt werden könne, dass auf diese Weise betrügerische Absprachen zwischen Eheleuten verhindert werden sollten22. Besonders gespannt war auch in Südafrika die Fachwelt, wie das Verfassungsgericht mit den zahlreichen Grundrechten der sog. 2. und 3. Generation, also den sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen und kulturellen „Ansprüchen“ von Individuen und Gruppen umgehen würde. Das CCT löste diese Verfassungsversprechen dadurch ein, dass es den Staat für verpflichtet erklärte, entsprechende Programme zu verabschieden und die zu deren Durchführung erforderlichen Mittel bereitzustellen. Eine der Leitentscheidungen zum Grundrecht auf angemessenen Wohnraum (housing) in Art. 26 beginnt mit dem Satz. „Das Volk von Südafrika hat sich darauf verpflichtet, soziale Gerechtigkeit zu erlangen und die Qualität des Lebens für jedermann zu verbessern“ 23. Gegenstand war ein Wohnungsbauprogramm des Rates für den Großraums Kapstadt, das im Lichte des Art. 26 als unzureichend betrachtet wurde, weil es keine vernünftige Vorsorge für Menschen getroffen habe, die weder Zugang zu Land noch ein Dach über ihrem Kopf hätten und die daher unter untragbaren Bedingungen oder in Krisensituationen lebten. Das Recht auf angemessenen Wohnraum verlange vom Staat die Entwicklung und Durchführung eines umfassenden und koordinierten Programms innerhalb der verfügbaren Ressourcen, welches fortschreitend für alle das Recht auf Zugang zu angemessenem Wohnraum verwirkliche24. Mit ähnlicher Begründung wandte sich das Gericht gegen Zwangsräumungen ohne Nachweis einer Ersatzwohnung25, im Zusammenhang mit Art. 27 Abs. 1 lit. b (Zugang zu ausreichendem Wasser) gegen Projekte, welche zur Installation von Wasserzählern für vorauszahlungsabhängige Liefermengen (prepaid meters) verpflichteten26 oder 22 Brink v Kitshoff NO (CCT15/95) [1996] ZACC 9; 1996 (4) SA 197; 1996 (6) BCLR 752 (15 May 1996). 23 „The people of South Africa are committed to the attainment of social justice and the improvement of the quality of life for everyone“ (sc. Government of the Republic of South Africa and Others v Grootboom and Others (CCT11/00) [2000] ZACC 19; 2001 (1) SA 46; 2000 (11) BCLR 1169; (4 October 2000)). 24 Ebd. 25 Occupiers of 51 Olivia Road, Berea Township and 197 Main Street Johannesburg v City of Johannesburg and Others (24/07) [2008] ZACC 1; 2008 (3) SA 208 (CC); 2008 (5) BCLR 475 (CC) (19 February 2008). 26 Lindiwe Mazibuko and Others v City of Johannesburg and Others (CCT 39/09) [2009] ZACC 28; 2010 (3) BCLR 239 (CC) ; 2010 (4) SA 1 (CC) (8 October 2009).

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gegen Stromabschaltungen bei Zahlungsverzug ohne ausreichende „physische“ (d.h. durch eine präsente natürliche Person ausgesprochene) Vorwarnung27. Von weitaus größerer Bedeutung für die Vielzahl von HIV-Kranken in Südafrika war ein Urteil des Gerichts aus dem Jahre 2002, bei dem über die Frage entschieden wurde, ob der Staat – entgegen der damaligen Politik der Regierung Mbeki – verpflichtet ist, alle Restriktionen gegen „Nevirapine“, ein Arzneimittel zur Verhütung einer Mutter-Kind-Übertragung des Virus, aufzuheben und dieses Medikament nicht nur zuzulassen, sondern auch seinen Gebrauch zu fördern und zu unterstützen. Das CCT bejahte dies einmütig, und zwar mit folgender, wegweisender Begründung: Das Problem sei hier nicht die Frage, ob die Beachtung sozio-ökonomischer Rechte gerichtlich überprüft werden könne, was zweifellos der Fall sei, sondern ob die Maßnahmen, welche der Staat ergriffen habe, um HIV-positiven Müttern und ihren Kindern Zugang zu entsprechenden Gesundheitsdiensten zu verschaffen, in Anbetracht seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtungen zu kurz griffen. Art. 27 Abs. 1 und 2 verlangten nicht nur ein Unterlassen von Behinderungen, sondern positives Handeln, nämlich Programme, welche schwangeren Müttern und ihren neugeborenen Kindern Zugang zu Gesundheitsdiensten eröffneten, mit denen die Mutter-Kind-Übertragung von HIV bekämpft werden könne. Diese Programme müssten HIV-Tests ebenso vorsehen wie HIV-Aufklärung der Schwangeren über die verschiedenen Möglichkeiten der Verhütung und vor allem eine geeignete Behandlung mit dem Ziel der Vorbeugung. Dazu gehöre insbesondere die Förderung und beschleunigte Verteilung des Medikaments „Nevirapine“ 28. In der südafrikanischen Öffentlichkeit wurde diese Entscheidung übrigens als „schallende Ohrfeige“ für die Regierung von Thabo Mbeki gewertet, der bis zuletzt behauptet hat, HIV sei lediglich ein Armutsphänomen. Zutreffend ist auch, dass sie nichts mit sozialen Rechten zu tun hat, sondern ebenso in Deutschland unter Hinweis auf staatliche Schutzpflichten für das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG hätte getroffen werden können. Neuland betrat das südafrikanische Verfassungsgericht bei der Frage nach der Vereinbarkeit von Stammesrecht (customary law) mit den Grundrechten. Immerhin bestimmt die Verfassung in Art. 39 Abs. 3 selbst, dass mit der „Bill of Rights“ keineswegs das Vorhandensein anderer Rechte und Freiheiten ausgeschlossen werden soll, seien sie durch „common law“, Stammesrecht oder einfache Gesetzgebung anerkannt oder verliehen. Ein Hauptstreitpunkt war schon seit 27 Leon Joseph and Others v City of Johannesburg and Others (CCT 43/09) [2009] ZACC 30; 2010 (3) BCLR 212 (CC); 2010 (4) SA 55 (CC) (9 October 2009). 28 Minister of Health and Others v Treatment Action Campaign and Others (No 2) (CCT8/02) [2002] ZACC 15; 2002 (5) SA 721; 2002 (10) BCLR 1033 (5 July 2002). Vom selben Tag datiert auch eine zweite Entscheidung in dieser Angelegenheit: Minister of Health and Others v Treatment Action Campaign and Others (No 1) (CCT9/02) [2002] ZACC 16; 2002 (5) SA 703; 2002 (10) BCLR 1075 (5 July 2002).

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Inkrafttreten der Übergangsverfassung im Jahre 1995 die von vielen Stämmen als Gewohnheitsrecht praktizierte und von Frauengruppen vehement bekämpfte männliche Primogenitur als Erben von schwarzem Landbesitz oder als Stammeshäuptlinge. Im ersten Fall erklärte das Gericht auf Antrag mehrerer Betroffener die entsprechenden Bräuche des überlieferten Stammesrechts, die zusätzlich noch durch Apartheid-Gesetze legalisiert worden waren, für verfassungswidrig; sie diskriminierten auf unfaire Weise Frauen und uneheliche Kinder und verstießen damit gegen den Gleichheitssatz in Art. 9 Abs. 329. Einige Jahre später musste sich das Gericht mit der umgekehrten Variante des Falles beschäftigen. Diesmal klagte ein Mann, der von der Primogenitur in eine Häuptlingsposition ausgeschlossen worden war, nachdem zuvor der betreffende Stamm sein Gewohnheitsrecht geändert und der neuen Verfassung angepasst hatte. Das Gericht entschied, dass traditionelle Autoritäten durchaus die Befugnis hätten, Stammesrecht fortzubilden und abzuändern – umso besser, wenn dies im Einklang mit der Verfassung geschähe –, und wies angesichts der Tatsache, dass in der Erbfolge eine ältere Frau vorhanden war, das Begehren, als erster männlicher Nachfahre zum Häuptling bestellt zu werden, einmütig ab30. Aus der Vielzahl weiterer Grundrechtsfälle, mit denen sich das CCT bisher beschäftigt hat, seien noch fünf Entscheidungen näher betrachtet, die sich sämtlich dadurch auszeichnen, dass sie mit historischen und kulturellen Vorurteilen in der Gesellschaft „aufräumen“. Obwohl die Verfassung kein ausdrückliches Verbot der Todesstrafe enthält, sondern in Art. 11 lediglich das Recht auf Leben schützt, hat das Gericht bereits in seiner zweiten Entscheidung noch unter der Übergangsverfassung die Verhängung und Vollstreckung von Todesurteilen und alle dazu ermächtigenden Vorschriften des früheren Apartheid-Rechts für verfassungswidrig erklärt31. Es griff damit in eine heftige gesellschaftliche Debatte ein, die wie in Deutschland immer dann wieder aufflammt, wenn Kapitalverbrechen in der Bevölkerung Rachegelüste wecken. In einem weiteren Fall ging es um die 29 Bhe and Others v Khayelitsha Magistrate and Others (CCT 49/03) [2004] ZACC 17; 2005 (1) SA 580 (CC); 2005 (1) BCLR 1 (CC) (15 October 2004); Shibi v Sithole and Others (CCT 50/03, CCT 69/03, CCT 49/03) [2004] ZACC 18; 2005 (1) SA 580 (CC); 2005 (1) BCLR 1 (CC) (15 October 2004); Zondi v MEC for Traditional and Local Government Affairs (CCT 73/03) [2004] ZACC 19; 2005 (3) SA 589 (CC); 2005 (4) BCLR 347 (CC); (15 October 2004). 30 Shilubana and Others v Nwamitwa (CCT 03/07) [2008] ZACC 9; 2008 (9) BCLR 914 (CC); 2009 (2) SA 66 (CC); (4 June 2008). 31 The State v Makwanyane and Another (CCT3/94) [1995] ZACC 3; 1995 (6) BCLR 665; 1995 (3) SA 391; [1996] 2 CHRLD 164; 1995 (2) SACR 1 (6 June 1995). In einer weiteren Entscheidung kritisierte das Gericht die „Übergabe“ eines Terrorverdächtigen, dem der Anschlag auf die amerikanische Botschaft in Dar es Salaam zur Last gelegt wurde, an das amerikanischen FBI, ohne sich zu vergewissern, dass der Betroffene in den USA nicht zum Tode verurteilt wird (cf. Mohamed and Another v President of the Republic of South Africa and Others (CCT 17/01) [2001] ZACC 18; 2001 (3) SA 893 (CC); 2001 (7) BCLR 685 (CC) (28 May 2001)).

Grundrechte in der Verfassung Südafrikas

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Frage, ob Schülerinnen Nasensticker tragen dürfen. Was in Deutschland als Problem der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) behandelt worden wäre, wurde in Südafrika dem Normbereich der Religionsfreiheit (Art. 15) zugeordnet. Das entsprechende Verbot sei als mittelbarer Eingriff in das Recht Lernender zu betrachten, ihre religiöse und kulturelle Identität frei zum Ausdruck zu bringen. Denn die Absicht, freiwillig Nasenschmuck zu tragen, sei als Teil der südindischen Tamil-Hindu-Kultur ein untrennbarer Bestandteil der Hindu-Religion. Wörtlich heißt es weiter: „Unsere Verfassung verlangt von der Gemeinschaft, die Verschiedenheit zu bejahen und sich in vernünftiger Weise darauf einzustellen, nicht aber nur sie als letzten Ausweg zu tolerieren“ 32. Ebenfalls der Freiheit des religiösen Bekenntnisses (und nicht der Berufsfreiheit) zugeordnet wurde ein Vorgang, dessen Besonderheit darin bestand, dass einem Rechtsanwalt die Zulassung zur Kammer mit der Begründung verweigert worden war, er sei drogenabhängig, weil er regelmäßig Cannabis konsumierte. Sein Gegenargument, als Anhänger der Rastafari-Religion sei er nach deren Riten sogar dazu verpflichtet, fand überraschend bei Gericht Gehör. Die einschlägigen Vorschriften des Gesetzes gegen Drogen und Drogenhandel, auf die man die Ablehnung gestützt hatte, wurden insoweit für verfassungswidrig erklärt, jedoch verbunden mit einer Weitergeltungsanordnung für ein Jahr bis zur Korrektur durch den Gesetzgeber33. Die Meinungsfreiheit gemäß Art. 15 war durch eine Regelung im Verhaltenskodex der „Unabhängigen Rundfunk(aufsichts)behörde“ (Independent Broadcasting Authority – IBA –) berührt, wonach Programme untersagt sind, die „höchst wahrscheinlich zu Vorurteilen zwischen Gruppen der Bevölkerung“ führen können. Daraufhin beanstandete die Behörde einzelne Sendungen einer von der „Islamic Unity Convention“ (IUC) betriebenen lokalen Rundfunkstation, die sich dagegen vor dem Verfassungsgericht zur Wehr setzte. Das CCT hielt den Verhaltenskodex insgesamt für verfassungsgemäß, weil er auf die Wahrung der nationalen Einheit und auf die Erhaltung grundlegender Werte der Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit gerichtet sei. Im konkreten Fall gehe das Verbot jedoch zu weit und eröffne folgenreiche Einfallstore in das Recht auf Meinungsfreiheit34. Abschließend ist noch von einem Fall zu berichten, in dem die bereits oben behandelte Berufsfreiheit des Art. 22 eine zentrale Rolle spielte. Angestellte einer bis 11 Uhr nachts geöffneten Ladenkette hatten nach 20 Uhr bzw. an Sonntagen noch Alkohol verkauft und waren dafür nach dem Alkoholgesetz von 1989 (Liquor Act) bestraft worden. Der CCT hielt im Ergebnis die Urteile auf32 MEC for Education: Kwazulu-Natal and Others v Pillay (CCT 51/06) [2007] ZACC 21; 2008 (1) SA 474 (CC); 2008 (2) BCLR 99 (CC) (5 October 2007). 33 Prince v President of the Law Society of the Cape of Good Hope (CCT36/00) [2002] ZACC 1; 2002 (2) SA 794; 2002 (3) BCLR 231 (25 January 2002). 34 Islamic Unity Convention v Independent Broadcasting Authority and Others (CCT36/01) [2002] ZACC 3; 2002 (4) SA 294; 2002 (5) BCLR 433 (11 April 2002).

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recht und qualifizierte die Straftatbestände als zulässige Regelung der Berufsausübung, obwohl es einräumen musste, dass mit derartigen zeitlichen Restriktionen der Alkoholkonsum insgesamt kaum wirksam eingedämmt werden kann35. VII. Zusammenfassung Obwohl die „Bill of Rights“ in der südafrikanischen Verfassung soeben erst das Alter der Volljährigkeit erreicht hat, ist sie heute aus dem Verfassungsleben des Landes nicht mehr wegzudenken. Schon die Tatsache, dass sie überhaupt existiert, gibt vielen Menschen Hoffnung und ermutigt sie, sich in bisher nie gekannter Weise gegen staatliche Übergriffe ebenso zur Wehr zu setzen wie gegen fortgesetzte Diskriminierungen im gesellschaftlichen Bereich. Dass der Grundrechtskatalog darüber hinaus auch soziale, wirtschaftliche, kulturelle und ökologische Rechte enthält, die für uneingeschränkt justitiabel erklärt werden, hat bisher seiner Geltungskraft keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: Dank behutsamer Fortbildung durch das Verfassungsgericht hin zu Verpflichtungen des Staates, entsprechende Förderprogramme zu entwickeln und so jene Rechte schrittweise zu realisieren, ist die allgemeine Wertschätzung der „Bill of Rights“ eher noch gestiegen. Fast jeder in Südafrika ist deshalb davon überzeugt, dass das Land eine gute Verfassung hat (manche meinen sogar: die beste der Welt), zugleich aber auch darüber unglücklich, dass die politische Wirklichkeit immer noch zu stark davon abweicht. Unter diesen Umständen fällt dem Verfassungsgericht eine Schlüsselrolle zu. Es ist, ob gewollt oder ungewollt, in hohem Maße ein politisches Gericht, das in der von einer einzigen Partei, dem ANC, beherrschten Demokratie nicht selten den maßgeblichen Counterpart spielt und die staatlichen Gewalten nicht nur in ihre Schranken weisen, sondern vor allem zu aktiver Grundrechtsverwirklichung anhalten muss, wenn der Staat nicht willens oder in der Lage ist, die notwendigen materiellen Voraussetzungen zu schaffen, damit aus Grundrechten erfahrbare Grundrealitäten werden. Das Verfassungsgericht ist dieser Aufgabe bisher überzeugend gerecht geworden. Man kann nur hoffen, dass es auch in Zukunft so bleibt, damit das berühmte Preußenwort des Windmüllers von Sanssouci auch für Südafrika gilt: „Il y a des juges à Johannesburg!“

35 State v Lawrence, State v Negal; State v Solberg (CCT38/96, CCT39/96, CCT40/ 96) [1997] ZACC 11; 1997 (10) BCLR 1348; 1997 (4) SA 1176 (6 October 1997).

Die Beziehung zwischen Selbstkontrolle und staatlicher Kontrolle in der japanischen Rundfunkordnung Von Hidemi Suzuki* I. Problemstellung Wer Rundfunk (Hôsô)1 betreiben will, bedarf einer Erlaubnis, die vom Minister erteilt wird, der das „Ministry of Internal Affairs and Communication (MIC)“ leitet. Das MIC (Sômushô) ist, neben anderen Zuständigkeiten, für die Rundfunkaufsicht zuständig. In Japan errichtet jeder Rundfunkveranstalter, der sein Programm terrestrisch überträgt, seine eigenen Rundfunkanlagen. Solche Rundfunkveranstalter haben eine Erlaubnis für die Einrichtung der Rundfunkanlagen nach dem Funkgesetz (Denpahô)2. Wer diese Erlaubnis hat, kann auch Rundfunk betreiben. Den Begriff der Rundfunkveranstaltung normiert das Rundfunkgesetz (Hôsôhô)3. Das Funkgesetz, das telekommunikationsrechtliche Grund* Dieser Beitrag ist ein Ergebnis meiner von der „Japan Society for the Promotion of Science“ Grants-in-Aid for Scientific Research unterstützten Forschung. Ich danke Frau Jenny Döge, wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Siekmann, für ihre Mühe bei der Korrektur dieses Beitrags. 1 Für den Begriff „Rundfunk“ wird auf Japanisch das Wort „Hôsô“ benutzt, das als Übersetzung des englischen Begriffes „broadcasting“ entstanden ist. Zum Begriff „Hôsô“ im japanischen Rundfunkrecht vgl. Hiroshi Shiono, Rundfunk als Rechtsbegriff – Entstehung und Zukunft des Begriffes im japanischen Recht, in: Verfassungsstaatlichkeit, FS zum 65. Geburtstag von Klaus Stern, 1997, S. 321 ff. 2 Für den Bereich des Rundfunks bestehen einfachgesetzliche Regelungen, nämlich das Rundfunkgesetz und das Funkgesetz, die gleichzeitig am 2. Mai 1950 erlassen wurden. Das Funkgesetz und das Rundfunkgesetz wurden Ende November 2010 geändert, um sie an die technische Entwicklung anzupassen. Das Zulassungssystem wurde teilweise vereinfacht. In der gültigen Rundfunkordnung gibt es zwei Zulassungssysteme für den terrestrischen Rundfunk, ein altes und ein neues. Weil die Rundfunkveranstalter, die zur Zeit tätig sind, die Erlaubnis nach dem alten Zulassungssystem haben, die bis Ende Oktober 2013 gültig ist, ist die Beschreibung des Zulassungssystem in diesem Beitrag auf das alte Zulassungssystem beschränkt. 3 Als Überblick über das japanische Rundfunkordnung vgl. Hiroshi Shiono, Landesbericht Japan, in: Martin Bullinger (Hrsg.), Rundfunkorganisation und Kommunikationsfreiheit, 1979, S. 143 ff.; dens., Prinzipien der Neuordnung des Rundfunks in Japan, in: Ernst-Joachim Mestmäcker (Hrsg.), Offene Rundfunkordnung, Gütersloh 1988, S. 121 ff. Vgl. auch Hidemi Suzuki u. a. (Hrsg.), Hôsôhô wo yomitoku (RundfunkgesetzKommentar), 2009; Kaoru Kanazawa, Hôsôhô Chikujôkaisetsu (Rundfunkgesetz-Kommentar), 2006.

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regelungen enthält, definiert den technischen Bereich des Rundfunks. Die Erlaubnis nach dem Funkgesetz ist für fünf Jahre gültig. Diese Erlaubnis muss alle fünf Jahre erneuert werden. Es fehlt der japanischen Rundfunkaufsicht durch das MIC an einer organisatorischen Voraussetzung zur Wahrung der Staatsfreiheit, die eine beherrschende Einflussnahme des Staates ausschließt4, da der Minister des MIC als Mitglied des Kabinetts an der Entscheidung der Regierung mitwirkt. Um das Problem zu lösen oder möglichst abzumildern, wurden Versuche durch das MIC, den Gesetzgeber und die Rundfunkveranstalter unternommen. Zum Ersten zögert das MIC bei einem Verstoß gegen rundfunkrechtliche Verpflichtungen der Rundfunkveranstalter rechtliche Maßnahmen gegenüber dem betroffenen Rundfunkveranstalter zu treffen. Wenn das MIC zu dem Ergebnis kommt, es liegt ein Verstoß gegen rundfunkgesetzliche Regelungen oder auf dieser Grundlage erlassenen Anordnungen oder Verfügungen vor, so kann das MIC nach § 76 Abs. 1 Funkgesetz die Schließung der Rundfunkanlage für einen Zeitraum von drei Monaten gegenüber dem betroffenen, terrestrischen Rundfunkveranstalter anordnen oder die Nutzung von Frequenzen zeitweise beschränken. Wenn der betroffene Rundfunkveranstalter diese Anordnung oder Beschränkung nicht befolgt, kann das MIC die Erlaubnis widerrufen (§ 76 Abs. 4 Nr. 3 Funkgesetz). Diese Anordnungen, Beschränkungen und Widerrufe nach dem Rundfunkgesetz, sind Verwaltungsakte. Aber das MIC bemüht sich mit „Gyôseishidô“, die Erfüllung der rundfunkrechtlichen Verpflichtungen durch die Rundfunkveranstalter durchzusetzen. Bei Gyoseishido geht es um eine Verwaltungsanleitung, die eigentlich unverbindlich ist. Als Gyoseishido gibt das MIC Hinweise oder Warnungen gegenüber dem Rundfunkveranstalter ab. Weil Aufsichtsmaßnahmen sehr sensibel gehandhabt werden müssen, um die Staatsfreiheit des Rundfunks abzusichern5, ist diese Tendenz des MIC einerseits begrüßenswert. Aber Gyoseishido funktioniert andererseits in Wirklichkeit als Zwangsmaßnahme gegenüber dem betroffenen Rundfunkveranstalter. In diesem Sinne muss Gyoseishido durch das MIC nur auf evidente Verstöße beschränkt werden. Zum Zweiten mildert der Gesetzgeber das oben erwähnte, grundrechtliche Problem der staatlichen Rundfunkaufsicht einigermaßen dadurch, dass er großes Gewicht auf die Rundfunkfreiheit und die Autonomie der Rundfunkveranstalter im Rundfunkgesetz legt. Insbesondere für die Einhaltung der Programmgrundsätze verlangt das Rundfunkgesetz von jedem Rundfunkveranstalter die Selbstkontrolle durch die Einrichtung des Programmbeirats (§ 6) und die Programmsatzung, die von jedem Rundfunkveranstalter aufgestellt wird (§ 5). Das Rundfunkgesetz kombiniert die staatliche Regulierung und die Selbstregulierung durch die Rundfunkveranstalter mit der inhaltlichen Programmkontrolle. Hier kann man 4 5

Vgl. Albrecht Hesse, Rundfunkrecht, 3. Aufl., 2003, S. 219 ff. Vgl. Klaus Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, 2006, S. 1701.

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eine Art der „regulierten Selbstregulierung“ 6 im japanischen Rundfunkgesetz finden, die bei der Novellierung des Rundfunkgesetzes im Jahr 1959 eingeführt wurde. Darüber hinaus wurde eine Selbstkontrolleinrichtung im Jahr 2003 gegründet, die „Broadcasting Ethics & Program Improvement Organization (BPO)“ heißt, um die inhaltliche Programmkontrolle durch Gyoseishido zu vermeiden. Das ist der dritte Versuch zur Sicherung der Staatsfreiheit des Rundfunks. Die BPO hat heute drei Beschwerdeausschüsse, den Beschwerdeausschuss für den Persönlichkeitsschutz, den Beschwerdeausschuss für den Jugendschutz und den Beschwerdeausschuss zur Ermittlung der Rundfunkethik. Jede Person kann sich bei jedem Beschwerdeausschuss der BPO über das Rundfunkprogramm beschweren. Seit ihrer Gründung spielte und spielt die BPO eine entscheidende Rolle bei der Einhaltung der Programmgrundsätze und bei der Verbesserung der Rundfunkethik. Im Folgenden soll nach einem Überblick über die japanische Rundfunkordnung dieser oben erwähnte Versuch durch das MIC, den Gesetzgeber und die Rundfunkveranstalter ausführlich geschildert werden. II. Japanische Rundfunkordnung In Japan hat der terrestrische Rundfunk, insbesondere Fernsehsendungen, eine sehr große Bedeutung. Wenn man ein Fernsehgerät kauft, kann man in Tokyo mit einer Antenne kostenlos zwei öffentlich-rechtliche und sieben private Programme empfangen. Obwohl es die privaten Rundfunkveranstalter gibt, die ihre Programme über Kabel oder Satellit ausstrahlen, sollen diese im Folgenden nicht weiter erwähnt werden, weil die Programme über Kabel oder Satellit nicht so hohe Einschaltquoten haben. Die NHK (Nippon Hôsô Kyôkai), welche die einzige öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Japans ist, strahlt terrestrisch zwei landesweite Fernsehprogramme und noch zwei andere Fernsehprogramme über Satellit aus. Die NHK wurde durch das Rundfunkgesetz errichtet und wird zum größten Teil (98.1% der gesamten Einnahmen im Haushaltsjahr 2009)7 durch Rundfunkgebühren finanziert (nur für den terrestrischen Fernsehempfang monatlich Yen 1,395)8, die der Empfänger aufgrund eines mit der NHK geschlossenen Vertrages bezahlen 6 Zu diesem Begriff vgl. Martin W. Nell, Beurteilungsspielraum zugunsten Privater, 2010, S. 34 ff.; Inken Witt, Regulierte Selbstregulierung am Beispiel des Jugendmedienschutzstaatsvertrages, 2008, S. 78 ff.; Dorit Bosch, Die „Regulierte Selbstregulierung“ im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, 2007, S. 68 ff.; Mark D. Cole, Das Zusammenwirken von Selbstkontrolle und hoheitlicher Kontrolle im Jugendmedienschutz, RdJB 2006, 299 ff. 7 NHK, NHK-Gyômu Hôkokusho (Geschäftsbericht) für das Haushaltsjahr 2009. 8 Wenn man nicht nur terrestrischen Rundfunk, sondern auch über Satellit Programme empfängt, muss man monatlich Yen 2,340 bezahlen.

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muss. Wer ein Fernsehgerät besitzt, muss mit der NHK nach § 64 Rundfunkgesetz einen entsprechenden Vertrag über den Empfang schließen. Ein Hörfunkgerät ist dagegen nicht gebührenpflichtig. Der private Rundfunk wird von verschiedenen privaten Rundfunkveranstaltern verbreitet, die als Aktiengesellschaften gegründet und aus Werbesendungen finanziert werden. Sendegebiet der privaten Rundfunkveranstalter, die terrestrisch ihre Programme ausstrahlen, sind grundsätzlich die Präfekturen, in denen sie sich befinden.9 Fünf private Fernsehsender, die ihren Sitz in Tokyo haben, haben als „Key Stations“ ein flächendeckendes Netzwerk von privaten Fernsehsendern aufgebaut und nehmen daher konkurrenzmäßig eine sehr starke Stellung ein. Das Netzwerk ermöglicht auch den privaten Fernsehsendern die Ausstrahlung der landesweiten Programme. Die privaten Rundfunkveranstalter, die terrestrisch oder per Satellit ihre Programme ausstrahlen, haben den Verband Privater Rundfunk (Nihon Minkan Hôsô Renmei) gegründet, der die Anliegen der privaten Rundfunkveranstalter vertritt. 201 Rundfunkveranstalter sind Mitglied. Art. 21 Abs. 1 Japanische Verfassung (JV) gewährleistet die „Freiheit der Versammlung, der Vereinigung sowie die Redefreiheit (Genron no Jiyû), die Pressefreiheit (Shuppan no Jiyû) und die Ausdrucksfreiheit (Hyôgen no Jiyû) in allen sonstigen Formen“. Die Redefreiheit, die Pressefreiheit und die Ausdrucksfreiheit in allen sonstigen Formen werden oft pauschal als das „Grundrecht der Ausdrucksfreiheit“ bezeichnet. Diese Freiheit umfasst auch die Rundfunkfreiheit. Die Rundfunkfreiheit verlangt von der Rundfunkaufsicht die Staatsfreiheit des Rundfunks. Aber das MIC führt die Aufsicht über die NHK und die privaten Rundfunkveranstalter. Es gibt keine staatsferne Rundfunkaufsicht in Japan, wie die Landesmedienanstalten in Deutschland sie führen. In Deutschland diente die Einrichtung der Landesmedienanstalten der Gewährleistung der Staatsfreiheit des privaten Rundfunks. Im Gegensatz dazu kontrolliert das MIC unmittelbar die Rundfunkveranstalter. Hier gibt es ein verfassungsrechtliches Problem, das das deutsche Rundfunkrecht nicht kennt. III. Programmgrundsätze und Gyoseishido Das MIC beobachtet die Tätigkeit der Rundfunkveranstalter, insbesondere ihre Programmgestaltung. Die Programmgrundsätze, die § 4 Abs. 1 Rundfunkgesetz regelt10, verlangen von den privaten und öffentlich-rechtlichen Rundfunkveran9 In Japan gibt es 47 Präfekturen. Im Januar 2011 gab es 127 private terrestrische Fernsehsender. In einer Präfektur sind zwei NHK-Fernsehprogramme und zwei bis sieben Fernsehprogramme der privaten Fernsehsender terrestrisch empfangbar. 10 Die Rundfunkordnung wurde Ende November 2011 novelliert. Das war die weitgreifendste Novellierung seit dem Inkrafttreten des Funkgesetzes und des Rundfunkgesetzes im Jahr 1950. Die Programmgrundsätze gelten in der neuen Rundfunkordnung weiter. Sie sind lediglich vom § 3-2 Abs. 1 zu § 4 Abs. 1 Rundfunkgesetz verschoben

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staltern die Einhaltung der öffentlichen Sicherheit und der guten Sitten in der Sendung (Nr. 1), politische Unparteilichkeit bei der Redaktionsarbeit (Nr. 2) und Richtigkeit der Berichterstattung (Nr. 3). Bei politischen Streitfragen müssen die Rundfunkveranstalter die relevanten Punkte in ihrem Programm aus möglichst vielen Sichtweisen darstellen (Nr. 4). Diese Programmgrundsätze gelten auch für die NHK. Aber für die NHK normiert das Rundfunkgesetz noch ausführlichere Programmgrundsätze (§ 81 Abs. 1). Die meisten Medienrechtler legen die Programmgrundsätze so aus, dass die inhaltlichen Regelungen des Rundfunkgesetzes keine zwangsweise durchsetzbaren „Mussvorschriften“ darstellen, sondern eher den Charakter von appellhaften „Sollvorschriften“ haben. Nach dieser Meinung ist die Schließungsanordnung der Rundfunkanlagen oder die Beschränkung der Frequenznutzung nach § 76 Abs. 1 Funkgesetz bei Verstößen gegen die Programmgrundsätze insoweit verfassungsrechtlich bedenklich, als das MIC direkt die Rundfunkveranstaltung kontrolliert und § 4 Abs. 1 Rundfunkgesetz die Programmgrundsätze nur mit sehr abstrakten, nicht eindeutigen Begriffen umschreibt. Das ehemalige Postministerium, das vor der Umstrukturierung der Ministerien im Jahr 2001 für die Aufsicht über den Rundfunk zuständig war, teilte diese Meinung. Allerdings änderte das Postministerium seine Meinung im Jahr 1993 anlässlich eines Fernsehskandals über Sendungen zu den politischen Wahlen11. Seitdem behauptet das MIC, dass es nach § 76 Abs. 1 Funkgesetz die Schließung der Rundfunkanlage für einen Zeitraum von drei Monaten gegenüber dem betroffenen Rundfunkveranstalter anordnen oder die Nutzung von Frequenzen zeitweise beschränken kann, wenn das MIC zu dem Ergebnis kommt, es liege ein Verstoß gegen die Programmgrundsätze vor. Aber das Postministerium und auch das MIC haben diese Kompetenz seit dem Inkrafttreten des Funkgesetzes und Rundfunkgesetzes niemals ausgeübt, obwohl es fragliche Fälle gab. Wenn eine Sendung nach Ansicht des MIC gegen Programmgrundsätze verstieß, wies das MIC in der Praxis zuerst den betroffenen Rundfunkveranstalter auf die Einhaltung der Programmgrundsätze im Rahmen von Gyoseishido hin. Bei einem gravierenden Verstoß warnte das MIC den betroffenen Rundfunkveranstalter vor der Schließungsanordnung oder der Beschränkung der Frequenznutzung im Falle eines Wiederholungsfalles. Das MIC legt § 76 Abs. 1 Funkgesetz bei der Verletzung der Programmgrundsätze dahingehend aus, dass wenn ein Rundfunkveranstalter einmal gegen die Programmgrundsätze verstoßen hat, das MIC ihm einen Hinweis oder Warnung geben soll. Wenn der betroffene Rundfunkveranstalter den Hinweis oder die Warnung ignoriert und noch einmal gegen die Programmworden. Vgl. Hidemi Suzuki, Programmgrundsätze im neuen Rundfunkgesetz in Japan, FS Rainer Wahl 2011. 11 Vgl. Hidemi Suzuki, Rundfunk- und Presserecht in Japan – aktuelle Probleme, Verfassung und Recht in Übersee, 2008, 450 ff., 460 f.

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grundsätze verstößt, so kann das MIC anordnen, die Rundfunkanlage für einen Zeitraum von drei Monaten zu schließen, oder es kann die Frequenznutzung beschränken. Aber § 76 Funkgesetz schreibt diese konkreten Voraussetzungen gar nicht vor. Meines Erachtens ist die Regelungsdichte dieser Vorschrift unzureichend. Das MIC hat ein weites Ermessen bei der Auslegung und Anwendung12. Weil es um die Beschränkung der Rundfunkfreiheit geht, müssen diese Voraussetzungen ausdrücklich im § 76 Funkgesetz normiert werden. Der Hinweis oder die Warnung als Gyoseishido hat zwar keine rechtliche Bedeutung, wirkt jedoch sehr wohl einschüchternd auf die Rundfunkveranstalter. Ohne dass hierfür eine ausdrückliche Rechtsgrundlage bestünde, verlangt das MIC eventuell bei einem Hinweis oder bei einer Warnung, dass der betroffenen Rundfunkveranstalter ihm einen Bericht darüber vorlegt, was dieser innerhalb von drei Monaten nach Ausspruch der Warnung im Hinblick auf die Einhaltung der Programmgrundsätze unternommen hat13. Obwohl Medienrechtler vom MIC Zurückhaltung bei der inhaltlichen Programmkontrolle fordern, hat das MIC vom 1993 bis zum 2009 wiederholt die betroffenen Rundfunkveranstaltern selbst bei kleinen Fehlern auf die Einhaltung der Programmgrundsätze hingewiesen oder gewarnt14. Wie ich schon oben erwähnt habe, ist Gyoseishido durch das MIC einerseits begrüßenswert, weil Aufsichtsmaßnahmen sehr sensibel gehandhabt werden müssen, um die Staatsfreiheit des Rundfunks zu versichern15. Aber Gyoseishido funktioniert andererseits in Wirklichkeit als Zwangsmaßnahme gegenüber dem betroffenen Rundfunkveranstalter16. Gyoseishido durch das MIC muss nur auf evidente Verstöße beschränkt werden. Im Rundfunkgesetz gibt es zum Beispiel 12 Zum Beispiel waren die Online-Tätigkeiten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt von der „Richtlinie über die Nutzung des Internets durch die NHK“ vom 8. März 2002 geregelt, die das Ministerium erließ. Vgl. Hidemi Suzuki, Zulässigkeit und Grenzen von Onlineangeboten öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten in Japan, in: Klaus Stern u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift f. Joachim Burmeister, 2005, S. 425 ff.; dies., Rundfunk und Internet, in: Kazushige Asada u. a. (Hrsg.), Das Recht von den Herausforderungen neuer Technologien, 2006, S. 83 ff. Im Jahr 2007 wurde eine Bestimmung über die Online-Tätigkeiten der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt ins Rundfunkgesetz eingefürt (9 Abs. 2. Nr. 2). 13 Im 2007 gab es einen großen Fernsehskandal, den sogenannten „Aruaru-Fernsehskandal“. Nach der Sendung vom 7. Januar 2007 wurde festgestellt, dass ein Großteil der Informationen der Wissenschaftssendung von einem Mitarbeiter erfunden war. Das MIC warnte den betroffenen Fernsehsender und verlangte von ihm einen Bericht. Vgl. Suzuki (Fn. 11), 462 f.; dies., Rundfunk in Japan zwischen verfassungsrechtlichen Anforderungen und gesellschaftlicher Realität, in: Peter Gottwald (Hrsg.), Recht und Gesellschaft in Deutschland und Japan, 2009, S. 1 ff. 14 Zur Liste von Gyoseishido angesichts der Programmangelegenheiten s. Suzuki (Fn. 3), S. 83 ff. 15 Vgl. Stern (Fn. 5), S. 1701. 16 Vgl. Yuji Onishi, Die Grundprobleme des japanischen Verwaltungsrechts, in: Pitschas/Kisa, Internationalisierung von Staat und Verfassung im Spiegel des deutschen

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Regelungen über die Medienkonzentration (§ 93 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2). Danach kann ein Unternehmen oder eine natürliche Person nur einen privaten Rundfunkveranstalter beherrschen. Was die Beherrschung bedeutet, ist nach dem Beteiligungsverhältnis oder der Zusammensetzung der Vorstandsmitglieder bestimmt. Das MIC kann das Beteiligungsverhältnis oder die Zusammensetzung der Vorstandsmitglieder der privaten Rundfunkveranstalter objektiv beurteilen. Im Gegensatz dazu ist es sehr schwierig zu entscheiden, was die politische Unparteilichkeit oder die inhaltliche Richtigkeit der Sendung bedeutet. Weil Beamte des MIC keine Fachkenntnis für solche Entscheidungen haben, behaupten die Medienrechtler, dass die Programmgrundsätze keine zwangsweise durchsetzbaren Mussvorschriften darstellen. Sie sind auch dagegen, dass das MIC Gyoseishido angesichts der Verletzung der Programmgrundsätze anwendet. Am 5. Juni 2009 wies das MIC einen privaten Fernsehsender, der TBS (Tokyo Broadcasting System Television) heißt, auf die Einhaltung der Programmgrundsätze hin. Das ist der aktuellste Hinweis durch das MIC. Nachdem die Demokratische Partei durch die Wahl des Unterhauses Ende August 2009 die Regierungsmacht übernommen hatte, behielt sich das MIC Gyoseishido angesichts der Verletzung der Programmgrundsätze noch vor. Ob das MIC diese Zurückhaltung weiter beibehält, ist unsicher. IV. „Regulierte Selbstregulierung“ im Rundfunkgesetz Obwohl das MIC die Einhaltung der Programmgrundsätze überwacht und Hinweise oder Warnungen als Aufsichtsmaßnahmen handhabt, legt das Rundfunkgesetz Wert auf die Autonomie der Rundfunkveranstalter. Schon Im Jahr 1959 wurde eine Art der „regulierten Selbstregulierung“ ins Rundfunkgesetz eingeführt17. In Japan gibt es Fernsehsendungen seit dem Jahre 1953. Danach wurde das Fernsehgerät sehr rasch verbreitet. Dabei spielten Sendungen über ProfiWrestling eine sehr entscheidende Rolle. Die Wrestling Kämpfe zogen viele Zuschauer zur Fernsehsendung hin. Aber immer mehr Zuschauer richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Programmgestaltung und kritisierten die inhaltlichen Qualitätsmängel der Fernsehsendung. Um die inhaltliche Qualität der Fernsehsendung zu verbessern, wurde das Rundfunkgesetz im Jahr 1959 als Folge massiven Drucks der Öffentlichkeit novelliert. Vor dieser Novellierung enthielten die Programmgrundsätze eine Bestimmung, die von den Rundfunkveranstaltern die Ein-

und japanischen Staats- und Verwaltungsrechts, 2002, S. 176 ff.; Alexander Roßnagel, Datenschutz in Japan, DuD 2000, 456 f. 17 Vgl. auch Schoichiro Nishido, Medienkonvergenz und Meinungsfreiheit in Japan unter besonderer Berücksichtigung des Rundfunkrechts, in: Frank Fechner (Hrsg.), Pluralismus, Finanzierung und Konvergenz als Grundfragen des Rundfunkrechts, 2010, S. 77 ff.

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haltung der öffentlichen Sicherheit verlangte. Zu dieser Bestimmung wurde die Einhaltung der guten Sitten in der Sendung hinzugefügt. Weil der damalige Gesetzgeber die inhaltliche Qualität der Fernsehsendung verbessern, aber zugleich die Rundfunkfreiheit nicht gefährden wollte, entschied er sich dafür, die Einhaltung der Programmgrundsätze der Selbstkontrolle durch den Programmbeirat und der Selbstregulierung des Rundfunkveranstalters zu überlassen. Zu diesem Zweck wurde eine Bestimmung (§ 5 Abs. 1) im Rundfunkgesetz eingeführt, die von den Rundfunkveranstaltern verlangt, selbst die Programmsatzung aufzustellen und nach dieser ihr Programm zu gestalten18. Die NHK verfügt ebenso wie der Verband Privater Rundfunk sowie jeder privater Rundfunkveranstalter über eine eigene ausführliche Programmsatzung. Hinsichtlich des Jugendschutzes beispielsweise enthält das Rundfunkgesetz keine ausdrücklichen Regelungen. Nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 müssen die Rundfunkveranstaltern die guten Sitten in der Sendung einhalten. Was unter guten Sitten zu verstehen ist, ist unklar. In der Praxis wird diese Regelung so ausgelegt, dass § 4 Abs. 1 Nr. 1 von dem Rundfunkveranstalter auch die Berücksichtigung des Jugendschutzes verlangt. Aber in der Literatur gibt es auch die Gegenansicht. Nach dieser Meinung können unzüchtige Darbietungen, die nach § 108 Funkgesetz strafbar sind, für eine unsittliche Darbietung gehalten werden19. Im Gegensatz dazu ist es sehr fraglich, ob das MIC schon unanständige, aber nicht unzüchtige Darbietungen in der Sendung umfangreich nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 Rundfunkgesetz prüfen kann20. Ausdrückliche Regelungen zum Jugendschutz kann man nur in der Programmsatzung finden. § 18 der Programmsatzung des Verbands Privaten Rundfunks fordert eine Sendezeitbeschränkung für den Jugendschutz21. Die Fernsehsender müssen den Jugendschutz insbesondere zwischen 17 Uhr und 21 Uhr berücksichtigen. Wenn die Fernsehsender für Jugendliche unter 18 Jahren nicht geeignete Kinofilme oder Fernsehserien auch nach 21 Uhr senden, sollen sie als solche angekündigt werden. Diese Programmsatzung enthält auch inhaltlich ausführliche Regelungen für den Jugendschutz. Nach § 16 der Programmsatzung des Verbands

18 Durch die Novellierung im Jahre 2010 wurde die Bestimmung über die Programmsatzung von § 3-3 Abs. 1 zu § 5 Abs. 1 verschoben worden. 19 Wer unzüchtige Schriften oder Bilder verbreitet und sie zum Zweck des Verkaufs besitzt, ist nach § 175 Strafgesetzbuch (Keihô) zu bestrafen. Für den Jugendschutz gibt es kein Gesetz, das flächendeckend die Verbreitung von jugendgefährdenden Schriften verbietet. Aber fast alle Präfekturen haben Satzungen zum Jugendschutz erlassen, die auch Regelungen über jugendgefährdende Schriften enthalten. Indes sind die von den Präfekturen erlassenen Satzungen über den Jugendschutz nicht einheitlich. 20 Vgl. Shigenori Matsui, Masumedia-hô Nyûmon (Einführung in das Medienrecht), 4. Aufl., 2008, S. 288 f. 21 Zum Jugendschutz im deutschen Rundfunk s. Frank Fechner, Medienrecht, 12. Aufl., 2011, Rn. 957 ff.

Selbstkontrolle und staatliche Kontrolle in der japanischen Rundfunkordnung 1181

Privaten Rundfunks sollen die Rundfunksender unanständige, ordinäre oder Gewalttätigkeiten schildernde Darbietungen, die Kinder möglicherweise nachmachen, vermeiden. Die Programmsatzung jedes privaten Rundfunkveranstalters nimmt sich die Programmsatzung des Verbands Privaten Rundfunks zum Vorbild. Durch die Novellierung des Rundfunkgesetzes im Jahr 1959 wurde jeder Rundfunkveranstalter erneut auch dazu verpflichtet, einen Programmbeirat einzurichten, um die Programmgrundsätze einzuhalten (§ 6 Abs. 1)22. Der Programmbeirat hat darüber zu beraten, was der Rundfunkveranstalter zur Einhaltung der Programmgrundsätze machen muss, und kann Stellung gegenüber seinem Rundfunkveranstalter beziehen (Abs. 2). Er ist bei der Erstellung und Änderung der Programmsatzung anzuhören (Abs. 3). Wenn der Programmbeirat seinem Rundfunkveranstalter einen Bericht oder eine Stellungnahme über die Programmsatzung vorlegt, hat der Rundfunkveranstalter die notwendigen Maßnahmen zu treffen (Abs. 4). Die NHK und die privaten Rundfunkveranstalter hatten den Rundfunkbeirat schon vor dieser Novellierung freiwillig eingerichtet. Der Rundfunkbeirat der NHK wurde im Jahr 1950 durch ihre Satzung eingerichtet. Der Verband Privater Rundfunk gründete seinen Programmbeirat im Jahr 1958 zur Selbstkontrolle. Der Gesetzgeber nahm dieses Konzept in das Rundfunkgesetz auf. Nach dem Rundfunkgesetz müssen bei der NHK ein zentraler Programmbeirat, acht regionale Programmbeiräte und ein Programmbeirat für internationale Sendungen eingerichtet werden (§ 82 Abs. 1, 2). Der zentrale Programmbeirat besteht aus mehr als fünfzehn Mitgliedern und jeder regionale Programmbeirat aus mehr als sieben Mitgliedern (Abs. 3). Der Programmbeirat der privaten Rundfunkveranstalter besteht aus mehr als sieben Mitgliedern (§ 7 Abs. 1). Mitglieder werden vom Rundfunkveranstalter selber ausgewählt (Abs. 2). Vor der Novellierung des Rundfunkgesetzes im Jahr 1988 konnte der private Rundfunkveranstalter ein Drittel der Mitglieder des Programmbeirats aus eigenen Vorstandsmitgliedern auswählen. Aber diese Möglichkeit gibt es nicht mehr. Alle Mitglieder des Programmbeirats müssen die Gesellschaft vertreten und über Sachkunde im Medienbereich verfügen. Der Programmbeirat der terrestrischen Fernsehsender trifft normalerweise einmal pro Monat zusammen. Bei der Sitzung tauschen die Mitglieder des Programmbeirats ihre Meinungen über die Programmgestaltung aus. Rundfunkveranstalter haben den Programmbeirat über Programmbeschwerden und Stellungnahmen von Zuschauern zu unterrichten (§ 6 Abs. 5). Rundfunkveranstalter sind verpflichtet, Berichte und Stellungnahmen des Programmbeirats und die Zusammenfassung des monatlichen Sitzungsprotokolls zu veröffentlichen (§ 6 22 Durch die Novellierung im Jahre 2010 wurden die Bestimmungen über den Programmbeirat von § 3-4 zu § 6 verschoben.

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Abs. 6)23. Durch die Novellierung des Rundfunkgesetzes wurden Absatz 5 im Jahr 1997 und Absatz 6 im Jahr 1988 eingeführt. Im Rundfunkgesetz gibt es keine ausführlichen Bestimmungen über Tätigkeiten des Programmbeirats. Der Gesetzgeber überlässt die Verwaltung des Programmbeirats dem Rundfunkveranstalter, weil er die Funktionsfähigkeit der Selbstkontrolle achten wollte. Er glaubte, dass die Pflicht, Berichte und Stellungnahmen des Programmbeirats und die Zusammenfassung des monatlichen Sitzungsprotokolls zu veröffentlichen, Tätigkeiten der Rundfunkveranstalter transparent für Zuschauer machen kann. Der Gesetzgeber hatte vor, die inhaltliche Qualität der Fernsehsendung nicht nur durch die Kontrolle des Programmbeirats, sondern auch durch die Kritik der Öffentlichkeit zu verbessern. Durch die Einrichtung des Programmbeirats soll auch die Möglichkeit geschaffen werden, verschiedene Meinungen in der Gesellschaft in Programmen zum Ausdruck zu bringen. Aber Mitglieder des Programmbeirats üben selten scharfe Kritik an der Programmgestaltung aus und die Rundfunkveranstalter nehmen Beschwerden von Zuschauern nicht so ernst. Die Einrichtung des Programmbeirats sollte die Gelegenheit schaffen, dass Rundfunkveranstalter und Mitglieder des Programmbeirats als Vertreter der Zuschauer zusammentreffen und Meinungen über die Programmgestaltung austauschen. Aber nach meinem Erachten ist das Vorhaben des Gesetzgebers durch den Programmbeirat nur teilweise verwirklicht24. V. Die BPO als Selbstkontrolleinrichtung 1. BPO und ihre drei Beschwerdeausschüsse

Um die inhaltliche Programmkontrolle durch das MIC zu vermeiden, wurde die „Broadcasting Ethics & Program Improvement Organization (BPO)“ im Jahr 2003 gegründet. Dies war der Versuch der Rundfunkveranstalter die Staatsfreiheit des Rundfunks zu sichern. Die BPO hat heute drei Beschwerdeausschüsse, und zwar den Beschwerdeausschuss für den Persönlichkeitsschutz (Broadcast and Human Rights/Other Related Rights Committee, BRC), den Beschwerdeausschuss für den Jugendschutz und den Beschwerdeausschuss zur Ermittlung der Rundfunkethik (BER). Der Beschwerdeausschuss für den Persönlichkeitsschutz wurde schon im Jahr 1997 gegründet. Der Beschwerdeausschuss für den Jugendschutz begann seine Tätigkeit im Jahre 2000. Bei der Gründung der BPO wurden beide 23 § 175 Rundfunkgesetz und die entsprechende Bestimmung der Regierungsverordnung für die Rundfunkgesetzesdurchführung verpflichtet die Rundfunkveranstalter, dem MIC Unterlagen vorzulegen, die sich auf die Tätigkeiten des Programmbeirats beziehen. Weil das MIC durch diese Unterlagen Informationen für die Programmkontrolle sammeln kann, zögern die Rundfunkveranstalter, dem Programmbeirat ausführliche Informationen zu geben. 24 Zum Programmbeirat nach § 32 RfStV s. Hahn/Vesting/Flechsig/Rossen-Stadtfeld, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2003, S. 873 ff.

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Beschwerdeausschüsse unter dem Dach der BPO zusammengeschlossen. Der BER wurde im Jahr 2007 als Folge ein groß Fernsehskandals25 bei der BPO gegründet. Diese drei Beschwerdeausschüsse haben eine gemeinsame Geschäftsstelle. Bei der Entstehung jedes Beschwerdeausschusses gab es Versuche des Gesetzgebers, rundfunkrechtliche Regelungen zu verschärfen. Um eine solche Gesetzgebung unnötig zu machen, reagierten die Rundfunkveranstalter schnell und gründeten die jeweiligen Beschwerdeausschüsse. Hier findet man eine Gemeinsamkeit zur Entstehungsgeschichte des Deutschen Presserats im Jahr 195626 und seines Beschwerdeausschusses für den Redaktionsdatenschutz im März 200227. Obwohl die Rundfunkveranstalter gesetzlich verpflichtet sind die Programmsatzung aufzustellen und den Programmbeirat einzurichten, arbeitet die BPO strikt unabhängig vom Staat. Die NHK, der Verband Privater Rundfunk und die Mitglieder des Verbands Privaten Rundfunks sind Träger der BPO. Sie finanzieren die BPO durch Mitgliedsbeiträge28. Der Vorstand, der verantwortlich für die Verwaltung der BPO ist, besteht aus zehn Vorstandsmitgliedern. Die NHK und der Verband Privater Rundfunk wählen je drei Vorstandsmitglieder. Der Vorsitzende des Vorstandes wird durch den Vorstand ausgewählt. Der Vorsitzende darf nicht Vorstandsmitglied oder Angestellter der Rundfunkveranstalter sein. Der Vorsitzende wählt noch drei Vorstandmitglieder aus, die nicht zum Kreis der Rundfunkveranstalter gehören. Der Vorstand wählt die Mitglieder des Senats aus. Die Zahl der Senatsmitglieder liegt bei sieben Personen und sie dürfen auch nicht Vorstandsmitglied oder Angestellte der Rundfunkveranstalter sein. Der Senat wählt die Mitglieder von drei Beschwerdeausschüssen aus. Sie dürfen auch nicht Vorstandsmitglied oder Angestellte der Rundfunkveranstalter sein. Normalerweise arbeiten Rechtsanwälte, Hochschullehrer, freie Journalisten, Filmregisseure und Schriftsteller, die in der Gesellschaft angesehen sind, als Mitglieder bei den Beschwerdeausschüssen. Beamte gehören nicht dazu. Um die Ernsthaftigkeit der Kontrollfunktion nach außen glaubhaft zu machen, dürfen der Vorsitzende der BPO und drei Mitglieder des Vorstandes sowie Mitglieder des Senats und der Beschwerdeausschüsse keine Vertreter der Rundfunkveranstalter sein29. An die BPO wird die 25

Vgl. Fn. 13. Vgl. Nicole Gottzmann, Möglichkeiten und Grenzen der freiwilligen Selbstkontrolle in der Presse und der Werbung, 2005, S. 30 ff.; Felix Heimann, Der Pressekodex im Spannungsfeld zwischen Medienrecht und Medienethik, 2009, S. 57 ff.; Achim Baum, Deutscher Presserat, in: Schicha/Brosda (Hrsg.), Handbuch Medienethik, 2010, S. 188 ff. 27 Gottzmann (Fn. 26), S. 48 ff. Vgl. Deutscher Presserat, Erster Bericht Redaktionsdatenschutz 2004, 2004. 28 Im Gegensatz dazu erhielt der Deutsche Presserat einen Bundeszuschuss zweckgebunden für die Tätigkeit des Beschwerdeausschusses. Vgl. Gottzmann (Fn. 26), S. 124. 29 Im Gegensatz dazu sind die Mitglieder des Beschwerdeausschuss beim Deutschen Presserat Pressevertreter. Zum internationalen Vergleich s. Verena Wiedemann, Freiwil26

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Erwartung gestellt, dass sie durch eine solche personelle Besetzung unparteiisch die Rundveranstalter mit der Öffentlichkeit verknüpfen kann. Jede Person kann sich bei jedem Beschwerdeausschuss der BPO über das Rundfunkprogramm beschweren. Jeder Beschwerdeausschuss kann auch von sich aus Initiative zeigen. Sofern die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet ist, wird der betroffene Rundfunksender um eine Stellungnahme gebeten. Anschließend entscheidet der zuständige Ausschuss, der sich einmal im pro Monat trifft, über den Fall. Ist eine Beschwerde begründet, ergreift der zuständige Beschwerdeausschuss eine Maßnahme (Stellungnahme oder Empfehlung) gegenüber dem betroffenen Rundfunkveranstalter. Die Stellungnahme oder Empfehlung wird durch die BPO veröffentlicht. Solche Maßnahmen sind rechtlich nicht verbindlich. Trotzdem beachten die Mitglieder der BPO die Stellungnahmen jedes Beschwerdeausschusses und befolgen seine Empfehlungen (§ 6 Satzung). Der Beschwerdeausschuss für den Persönlichkeitsschutz besteht heute aus neun Mitgliedern und ist zuständig für Verletzungen der Persönlichkeitsrechte durch die Sendung. Im Jahr 2007 wurde die Beschwerdeordnung geändert, damit er auch über die politische Unparteiigkeit in der Sendung entscheiden kann. Seit der Gründung im Jahr 1997 bis Ende 2010 entschied er über 47 Fälle. Er machte neun Empfehlungen und 36 Stellungnahmen30. Der Beschwerdeausschuss für den Jugendschutz besteht heute aus sieben Mitgliedern. Er machte bisher insgesamt 11 Stellungnahmen, Vorschläge oder Aufforderungen. Nach meinem Erachten nehmen die Rundfunkveranstalter Entscheidungen des Beschwerdeausschusses für den Persönlichkeitsschutz sehr ernst. Aber sie schätzen die Tätigkeiten des Beschwerdeausschusses für den Jugendschutz nur gering und wiederholen ab und zu ähnliche Fehler. 2. Beschwerdeausschuss zur Ermittlung der Rundfunkethik

Der BER hat die stärksten Kompetenzen unter den drei Beschwerdeausschüssen. Er besteht heute aus zehn Mitgliedern und ist zuständig für die Einhaltung der Rundfunkethik (§ 4 Beschwerdeordnung BER). Er kann auch die inhaltliche Richtigkeit einer Sendung prüfen, wenn diese Sendung den Verdacht erweckt hat, dass ihr Inhalt irreführend ist (§ 5 Beschwerdeordnung BER). Wenn er zu dem Ergebnis kommt, es liegt ein Verstoß gegen die Rundfunkethik vor, so kann er eine Stellungnahme oder eine Empfehlung gegenüber dem betroffenen Rundfunkveranstalter machen. Er kann auch von diesem Rundfunkveranstalter verlangen, ihm einen Bericht innerhalb von einem Monat nach Ausspruch der Stellunglige Selbstkontrolle der Presse in ländervergleichender Sicht, in: Ernst-Joachim Mestmäcker, Selbstkontrolle und Persönlichkeitsschutz in den Medien, 1990, S. 23 f. 30 Zu seinen bisherigen Tätigkeiten s. BRC, BRC Handankijun 2010 (BRC Spruchpraxis 2010) 2010.

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nahme oder Empfehlung vorzulegen, welche Maßnahmen dieser Rundfunkveranstalter treffen wird, um der Wiederholung von ähnlichen Fehlern vorzubeugen. Der betroffene Rundfunkveranstalter legt dann innerhalb von drei Monaten nach der Vorlage des ersten Berichts einen weiteren Bericht darüber vor, was dieser Rundfunkveranstalter in der Tat zur Vorbeugung von Fehler gemacht hat. Der BER kann Stellung zum ersten und zweiten Bericht nehmen. Diese Stellungnahme wird veröffentlicht. Die Kompetenzen, die der BER hat, erinneren an den Hinweis oder die Warnung als Gyoseishido durch das MIC. Die eigentliche Ursache dieser Ähnlichkeit liegt in der Entstehungsgeschichte des BER. Im Jahr 2007 veranlasste ein Fernsehskandal den MIC dazu, eine neue Pflicht der Rundfunkveranstalter in das Rundfunkgesetz bezüglich unrichtiger Informationen in der Sendung einzuführen. Das MIC hielt die Warnung als Gyoseishido als Sanktion bei einem so deutlichen Gesetzverstoß für zu schwach und dachte, dass er die Richtigkeit von Informationen in der Sendung für den Zuschauer sichern muss. Nach der Vorschrift, die vom MIC erlassen wurde, kann das MIC vom Rundfunkveranstalter verlangen, ihm einen Bericht über Vorbeugungsmaßnahmen vorzulegen, wenn der Rundfunkveranstalter unrichtige Informationen in seiner Sendung ausgestrahlt hat und damit einen schlechten Einfluss auf die Volkswirtschaft oder das Volksleben ausgeübt sowie die Gefahr solches Einflusses hervorgerufen hat. Das MIC veröffentlicht die Vorbeugungsmaßnahmen mit seiner Stellungnahme. Diese Pflicht ist als Sanktion nicht streng. Aber es ist sehr problematisch, dass das MIC intensiv prüft, ob Informationen in der Sendung richtig sind oder nicht. Das kann einschüchternde Auswirkungen gegenüber den Rundfunkveranstaltern haben. Der Verband privater Rundfunkveranstalter kritisierte deshalb heftig die Einführung dieser neuen Pflicht. Die Medien und die Literatur übten auch Kritik dagegen31. Die BPO reagierte schnell darauf und gründete den BER im Mai 2007. Obwohl die Regierung dem Parlament einen Gesetzesentwurf zur Änderung des Rundfunkgesetzes vorlegte, der diese Vorschrift und noch andere neue Vorschriften enthielt, musste das MIC das Vorhaben der Einführung dieser Pflicht aufgeben, weil die damalige regierende Partei bei der Wahl des Oberhauses Ende Juli 2007 viele Mandate verloren und die Oppositionspartei die Mehrheit im Oberhaus gewonnen hatte, die gegen die Einführung dieser Pflicht war. Die Gründung des BER bewirkte auch eine Verhinderung dieser Gesetzgebung. Bis Ende Mai 2011 gab der BER eine Empfehlung und neun Stellungnahmen ab. Bei der bisher einzigen Empfehlung des BER vom 10. Juli 2009 ging es um eine unrichtige Berichterstattung über Betrugsfälle einer Präfekturverwaltung. Ein privater Fernsehsender in Tokyo, der NTV (Nippon Television Network Cor31 Hidemi Suzuki, Jôhô-hôsei (Informationsrecht), Jurist 1334. Heft (2007), S. 150. Vgl. auch Suzuki (Fn. 11), 463 ff.

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poration) heißt, berichtete landesweit am 23. November 2008 in ihrem wöchentlichen Nachrichtenmagazin, dass die Bauabteilung der Präfekturverwaltung in Gifu einer Baufirma Geld für erfundene Bauarbeiten angewiesen habe. Als Bestechung habe die Bauabteilung von dieser Baufirma zwei Millionen Yen (etwa 16.700 Euro) auf ihrem geheimen Bankkonto erhalten. Ein Vorstandsmitglied dieser Baufirma machte eine Aussage in dieser Berichterstattung. Aber nach der Sendung stellte sich heraus, dass er absichtlich eine falsche Aussage gemacht hatte. Er wurde im Januar 2009 wegen eines anderen Betrugsfalls verhaftet. Ende Februar gestand er, dass er NTV betrogen hatte. Das machte Schlagzeilen und der NTV-Chef musste zurücktreten. Im März 2009 begann der BER von selber die Ermittlung über diese irreführende Sendung nach § 5 Beschwerdeordnung BER. Weil der BER bei diesem Fall voraussetzen konnte, dass die Aussage über die Bestechung unrichtig war, ermittelte er nur, warum die Mitarbeiter von NTV von ihm betrogen worden waren. Der BER stellte fest, dass die Journalisten für die Recherche nur wenig Zeit hatten und ihre Recherchearbeit sehr schlecht organisiert war. Bei dieser Sendung waren Journalisten von NTV und Mitarbeiter einer Produktionsfirma zusammen für die Recherche zuständig. Es waren insgesamt dreizehn Personen und ihre Zusammenarbeit funktionierte nicht. Der BER kam zu dem Ergebnis, dass ein gravierender Verstoß gegen die Rundfunkethik vorlag und empfahl NTV Vorbeugungsmaßnahmen zu treffen und extra darüber zu senden, was NTV zur Vorbeugung von ähnlichen Fehlern macht. NTV kam dieser Empfehlung nach. Am 24. August 2009 in der Nacht strahlten sie eine ExtraSendung aus. Bei diesem Fall wartete das MIC ab, wie sich die Sache durch den BER entwickelte und ergriff kein Gyoseishido. Im Gegensatz dazu gab es einen anderen Fall, bei dem ein Spannungsverhältnis zwischen dem MIC und dem BER entstand. Es ging dabei um eine Sendung vom 11. April 2009 durch TBS über die Kommunalpolitik in Osaka. Weil es die Stadt Osaka und die Präfektur Osaka gibt, ist die Verteilung ihrer Kompetenzen nach dem Gesetz über die kommunale Selbstverwaltung geregelt. Streit darüber gibt es manchmal jedoch trotzdem. TBS berichtete landesweit über Probleme mit der doppelten Verwaltung in Osaka in einem wöchentlichen Nachrichtenmagazin. In der Sendung wurde berichtet, dass die Straßenfeger der Präfektur Osaka die Strasse nicht fegen dürften, die die Stadt Osaka verwaltet. TBS machte eine Aufnahme einer passenden Szene in Osaka durch Inszenierung. Dies war jedoch eine falsche Information und die Szene in der Sendung war übertrieben. Nach zwei Wochen stellte TBS den Irrtum in der Sendung des Nachrichtmagazins richtig. Das MIC wies TBS am 5. Juni 2009 darauf hin, dass TBS seine Sorgfaltspflicht vernachlässigt habe, obwohl das MIC wusste, dass der BER sich noch überlegte, ob er den Fall annehmen sollte. Im Juli 2009 entschied der BER, dass er diesen Fall nicht annimmt, weil der Irrtum unbedeutend war und TBS selber schon die Ursache dieses Irrtums festgestellt hatte. Am 17. Juli 2009 äußerte sich der Vorsitzende des BER

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zu dieser Entscheidung. Zugleich kritisierte er das MIC scharf und verlangte vom MIC die einschüchternde Wirkung des Gyoseishido auf die Rundfunkfreiheit zu berücksichtigen32. Die Medienrechtler teilten diese Meinung. VI. Schlussbemerkung Weil es keine staatsferne Rundfunkkontrolle in Japan gibt, behauptet ein Teil der Literatur, dass ein staatsfernes Kontrollorgan für die Rundfunkkontrolle eingerichtet werden solle. Die demokratische Partei hatte solche Absichten, als sie noch in der Opposition war. Aber sie hat diese Absicht bewusst wieder aufgegeben, nachdem sie durch die Wahl des Unterhauses Ende August 2009 die Regierungsmacht übernommen hatte. Obwohl eine mögliche Reform durch das MIC im Jahr 2010 untersucht wurde, endete diese Untersuchung ergebnislos33. So fehlt es in Japan immer noch an einer staatsfernen Rundfunkkontrolle. Programme der Rundfunkveranstalter dürfen nicht direkt von einer staatlichen Behörde kontrolliert werden. Die Kompetenz Programme inhaltlich nachzuprüfen, gibt dem MIC die Gelegenheit, willkürlich in die Tätigkeiten der Rundfunkveranstalter einzugreifen. In Deutschland kann man hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht die Staatsfreiheit des Rundfunks gegen solche Möglichkeiten sichern wird. Aber in Japan gibt es bezogen auf den OGH solche Hoffnung nur im geringen Ausmaß. Daher muss man bei der Gesetzgebung auf die Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung der Rundfunkfreiheit sorgfältig aufpassen. Um die Staatsfreiheit des Rundfunks zu wahren, soll die intensive Kontrolle durch das MIC im Bereich der Programmangelegenheiten ausgeschlossen werden. Hinter Gyoseishido steht die japanische Rechtskultur, die weniger von staatlicher Schrankensetzung als vielmehr von der Selbstbeschränkung des Einzelnen geprägt ist34. Aber Gyoseishido durch das MIC gegenüber den Rundfunkveranstaltern ist angesichts der Rundfunkfreiheit grundrechtlich sehr gefährlich, wenn und soweit Gyoseishido in den Bereich der Programmangelegenheiten hineinwirkt. Um die Staatsfreiheit der Rundfunkveranstalter zu sichern, soll die Selbstkontrolle durch die BPO weiter effektiv entwickelt werden35.

32 Im Juni 2004 entstand ein ähnliches Spannungsverhältnis zwischen dem MIC und dem Beschwerdeausschuss für den Persönlichkeitsschutz. Das Ministerium gab einem Fernsehsender einen Hinweis am 22. Juni 2004, obwohl der Fall durch den Beschwerdeausschuss schon am 4. Juni erledigt wurde. 33 Eine Arbeitsgruppe wurde im Januar 2010 beim MIC für die Untersuchung gegründet. Vgl. den Bericht dieser Arbeitsgruppe vom 22.12.2010, http://www.soumu. go,jp/main_content/0000095282.pdf, zuletzt abgerufen am 31. Mai 2011. 34 Roßnagel (Fn. 16), 456. Als eine rechtsvergleichende Arbeit über die Selbstkontrolle s. Hiroki Harada, Jishukisei no Kôhôgakutekikenkyû (Die öffentlich-rechtliche Überlegungen zur Selbstkontrolle), 2007. 35 Vgl. Di Fabio, Medienfreiheit: Kontinuität und Wandel, AfP-Sonderheft 2007, 4.

Die Rechtssatzverfassungsbeschwerde in vergleichender Sicht Von Albrecht Weber I. Einleitung Die Rechtssatzverfassungsbeschwerde stellt einen wichtigen Anwendungsfall der Verfassungsbeschwerde dar, der in den meisten Rechtsordnungen mit konzentrierter wie diffuser Verfassungsgerichtsbarkeit Eingang gefunden hat.1 Die Verfassungsbeschwerde ist zwar als nationaler Rechtsbehelf gegen Verletzungen der Grundrechte durch Einzelakte der Exekutive bzw. Judikative oder (unmittelbar oder mittelbar) des Gesetzgebers ausgestaltet; eine „europäische“ oder gar „internationale“ Verfassungsbeschwerde gibt es bislang nicht. Gleichwohl existieren schon heute Elemente einer internationalen europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit in Form der Menschenrechtsgerichtsbarkeit des EGMR durch Überprüfung letztinstanzlicher Urteile der Mitgliedstaaten, die zwar – anders als in den Staaten mit Verfassungsgerichtsbarkeit – keine Aufhebung von innerstaatlichen Normen bewirkt, aber doch eine völkerrechtliche Befolgungspflicht (Art. 46 EMRK) mit Rechtskraftwirkung zwischen den Parteien und Orientierungswirkung auslöst.2 Eine Individualverfassungsbeschwerde des Unionsbürgers wegen Verletzungen seiner Unionsgrundrechte existiert auch nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags (LisbV) und der EU-Grundrechtecharta (EuGRCH) bislang nicht; ob sie zur Stärkung des Grundrechtsschutzes in der Union sinnvoll erscheint, ist abschließend noch zu würdigen (s. u. VI.). Unstreitig hat die Verankerung der Verfassungsbeschwerde zur Stärkung des Grundrechtsschutzes und rechtsstaatlicher Demokratie geführt. Auf die Bedeutung der Verfassungsbeschwerde hat der Jubilar nachdrücklich hingewiesen: „Der Hüter der Verfassung übernimmt die Funktion des Hüters der Grundrechte. Insofern stellt die verfassungskräftige Absicherung des Instituts der Verfassungsbeschwerde nicht nur die letzte Konsequenz des im Prinzip des Rechtsstaats liegenden umfassenden Gerichtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG dar . . . Die Verfassungsbeschwerde verleiht dem Verfassungsrecht eine allumfassende und gegenwärtige Durchsetzungskraft, die sich nicht nur in den tatsächlich durchgeführten Verfahren

1 2

Zu den Typen s. A. Weber, in: Starck, S. 37 ff.; ders., in: Starck/ders., S. 329 ff. Hierzu Ch. Grabenwarter, Rn. 2–10.

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ausdrückt, sondern in ihrem kaum zu unterschätzenden ,generellen Edukationseffekt‘.“ 3

In der Vergleichung der Typen der Verfassungsgerichtsbarkeit sind nicht nur zunehmend Tendenzen der Annäherung erkennbar, die die klassische, von Cappeletti/Ritterspach4 begründete Unterscheidung zwischen den Grundmodellen der diffusen und konzentrierten Verfassungsgerichtsbarkeit auflöst5, sondern Konvergenzen zwischen verschiedenen Formen der Verfassungsbeschwerde zeigt. Während in der früheren Europäischen Gemeinschaft (EG) nur Deutschland, Österreich, Spanien, Italien, Belgien und teilweise Frankreich und Griechenland eine konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit aufwiesen, hat sich mit der Aufnahme mittel- und osteuropäischer Länder seit der Wende von 1989 eine deutliche Verschiebung zu Gunsten des konzentrierten Prüfungsmodells und zu Lasten der diffusen Verfassungskontrolle ergeben. Die Erfolgsgeschichte des österreichischdeutschen Modells hat auf die MOE-Länder ausgestrahlt und sogar die Russländische Föderation beeinflusst. Eine folgerichtige Entwicklung ist daher auch die Aufnahme einer Verfassungsbeschwerde gegen Rechtsnormen, auch wenn die Verfassungsbeschwerde ein ergänzendes, aber nicht notwendiges Instrumentarium des konzentrierten Typus bildet. Gleichwohl sind aus systematischer Sicht die Typen der Verfassungsbeschwerde, die sich am Individualrechtsschutz wie an der objektiven Funktion orientieren, weiterhin zu differenzieren. II. Mittelbare Rechtssatzverfassungsbeschwerde Die Rechtssatzverfassungsbeschwerde ergänzt in zahlreichen Staaten der Union heute die Möglichkeiten der Normenkontrolle in anderen Verfahren (inbes. die abstrakte und konkrete Normenkontrolle wie auch föderative oder regionale Streitigkeiten). Die mittelbare Rechtssatzverfassungsbeschwerde („echte Grundrechtsbeschwerde“)6 ist die logische Folgerung aus der Tatsache, dass Grundrechtsverletzungen häufig nicht allein auf originäre Verletzungen der Judikative („Urteilsverfassungsbeschwerde“) oder Exekutive („Einzelaktbeschwerde“) zurückgehen, sondern auf einer für verfassungswidrig erachteten Norm beruhen („Individualbeschwerde wegen mittelbarer Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte Einzelner“ oder „mit indirekter Normenkontrolle“).7 Die Einzelaktbeschwerde mit indirekter Normenkontrolle kennen die Bundesrepublik (Art. 13 Nr. 8a GG; § 90 Abs. 1 BVerfGG), die Schweiz („staatsrechtliche Beschwerde“, Art. 189 Abs. 1 lit. a BV; Art. 84 Abs. 1 OG) und Spanien (Art. 161

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K. Stern, Bd. II, S. 1015. M. Cappeletti/K. Ritterspach, S. 65 ff. Vgl. hierzu A. Weber, in: Starck, S. 40 ff.; ders., Notes, S. 29 ff. Von G. Brunner als „echte Grundrechtsbeschwerde“ bezeichnet, S. 191 ff. A. Weber, in: Starck/ders., S. 348 ff.

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Abs. 1 lit. b spV; § 42f LOTC). In Spanien sind alle Akte der öffentlichen Gewalt anfechtbar mit Ausnahme der Gesetze. Das spanische Verfassungsgericht (Tribunal Constituciónal – TC) hat mehrfach ausgesprochen, dass die Verfassungsbeschwerde („recurso de amparo“) nicht der zulässige Rechtsweg für eine direkte Klage gegen Gesetze („leyes“) oder Normen mit Gesetzesrang („normas con rango de ley“) sei, sondern auf der unmittelbaren Anwendung der für verfassungswidrig erachteten Norm beruhen müsse.8 Anders als die Schweiz ,deren staatsrechtliche Beschwerde auf die Anfechtung kantonaler Erlasse und Verfügungen wegen verfassungsmäßiger Verletzung der Rechte einzelner gerichtet ist9, kennt Österreich eine Bescheidbeschwerde als letztinstanzliche Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof (VerfGH), die die indirekte Normenkontrolle einschließt (Art. 144 BV; §§ 82 f. VerfGG). Die Beschwerde gegen letztinstanzliche Bescheide von Verwaltungsbehörden kann sowohl beim VerfGH wegen behaupteter Verfassungsverletzung oder Rechtsverletzung wegen Anwendung einer rechtswidrigen Norm wie auch beim Verwaltungsgerichtshof (VerwGH) erhoben werden, was zu einer mitunter schwierigen Rechtswegabgrenzung führt . Dies gilt in der Regel dann für ein unter Gesetzesvorbehalt stehendes Grundrecht, wenn der Verwaltungsakt ohne gesetzliche Grundlage ergangen ist, auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht, sich nur zum Schein auf ein Gesetz zu stützen vermag (sog. denkunmögliche Gesetzesanwendung) oder wenn der Bescheid auf einer Auslegung beruht, die das Gesetz verfassungswidrig machen würde („Qualifikationsgründe“). Liegt keiner dieser Gründe vor, ist eine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte nicht gegeben.10 Von der Bescheidbeschwerde mit inzidenter Normenkontrolle ist der 1975 eingeführte Individualantrag auf Normenkontrolle zu unterscheiden. Nach der Wende von 1989 und der Errichtung einer monopolisierten Verfassungsgerichtsbarkeit nach deutsch-österreichischem Muster in den neuen Staaten in Mittel- und Osteuropa haben die meisten eine Verfassungsbeschwerde mit indirekter Normenkontrolle eingeführt. Dies gilt für Albanien, Slowakei, Slowenien und Tschechien11 und entspricht auch der Rechtslage in Ungarn12 sowie in Polen mit der seit 1997 eingeführten Verfassungsklage (Art. 79 polnV; Art. 46 ff. VGG). Interessanterweise besteht sogar in der Russländischen Föderation die Möglichkeit einer Prozesspartei, während eines Verfahrens unmittelbar gegen die entscheidungsrelevante Norm Beschwerde zu erheben.13 8 Urteil 4/1981; Urteil 31/1994, Beschluss 46/1993; hierzu F. Rubio Llorente, in: Starck/Weber, S. 184; F. Fernández Segado, in: Garcia Belaunde/ders., S. 683 ff. 9 Hierzu W. Haller, in: Starck/Weber, S. 202. 10 K. Korinek/A. Martin, in: Starck/Weber, S. 85, dort zu den weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen. 11 O. Luchterhand, in: ders./Starck/Weber, S. 325. 12 G. Brunner/L. Solyom, S. 34 ff. 13 O. Luchterhand, in: ders./Starck/Weber, S. 325.

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Die Beschwerdebefugnis wird regelmäßig nur anerkannt, wenn der Beschwerdeführer durch die angegriffene Maßnahme in eigenen Rechten verletzt ist. Die Eingrenzung der Aktivlegitimation erfolgt durch die „gegenwärtige, unmittelbare Selbstbetroffenheit“ des Beschwerdeführers (BRD), das „legitime Interesse“ (Spanien) oder vergleichbare Einschränkungen.14 Aus internationalvergleichender Sicht sei noch erwähnt die „Grundrechtsrevisionsbeschwerde“ („recurso de revisión“), die – von Mexiko beeinflusst – in zahlreichen lateinamerikanischen Staaten existiert. Sie kann entweder als amparo-Verfahren gegen Gesetze („amparo contra leyes“) wie auch Beschwerde gegen richterliche Entscheidungen wegen Verfassungswidrigkeit des angewandten Gesetzes („recurso de inconstitucionalidad“) beim Ausgangsgericht erhoben werden; Erstere ähnelt der abstrakten Normenkontrolle, da sie direkt gegen die gerügte Norm unter der Voraussetzung der gegenwärtigen direkten Verletzung eigener Rechte erhoben werden kann; bei Letzterer handelt es sich um eine Beschwerde gegen richterliche Urteile wegen behaupteter verfassungswidriger Anwendung einer Gesetzesbestimmung und somit praktisch um eine Inzidentkontrolle vor dem Kollegialgericht. In beiden Fällen ist eine Revisionsbeschwerde („recurso de revisión“) vor dem Obersten Gerichtshof möglich.15 III. Unmittelbare Rechtssatzverfassungsbeschwerde („Individualnormenkontrolle“) Die direkte (unmittelbare) Rechtssatzverfassungsbeschwerde ermöglicht die unmittelbare Anrufung des Verfassungsgerichts wegen Verletzung der Grundrechte durch eine gesetzliche (eventuell auch untergesetzliche) Norm; sie erspart dem Beschwerdeführer den Umweg über die Beschwerde gegen den Vollzugsakt und die Rechtswegerschöpfung bis zum letztinstanzlichen Urteil, wenn die Verletzung der verfassungsmäßigen Individualrechte bereits durch die Rechtsnorm „unmittelbar“ eintritt und das Abwarten des Vollzugsakts und seine höchstrichterliche Bestätigung einen unzumutbaren Nachteil brächte. Der deutsche Gesetzgeber hat die Durchbrechung der Rechtswegerschöpfung bei Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze ausdrücklich zugelassen (§ 93 Abs. 3 BVerfGG). Um die Individualnormenkontrolle nicht zu einer Popularklage ausufern zu lassen, bedarf es einer Beschränkung der Beschwerdebefugnis, die entweder höchstrichterlich oder auch gesetzlich konkretisiert wird. Nach der Rechtsprechung des BVerfG muss der Beschwerdeführer „selbst, unmittelbar und gegenwärtig“ betroffen sein.16 In Österreich ist der Individualantrag zulässig, wenn die Verord14

A. Weber, in: Fernández Segado, S. 1222; s. ferner P. Perez Tremps, S. 149 ff. Zum amparo-Verfahren in Mexiko H. Fix-Zamudio, S. 30; sowie N. Lösing, S. 67 ff. 16 BVerfGE 1, 97 (102); st.Rspr. 15

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nung den Beschwerdeführer ohne gerichtliche Entscheidung und ohne Erlass eines Bescheids unmittelbar in seinen subjektiven, gesetzlich eingeräumten Rechten verletzt; die Verletzung muss ihn unmittelbar (aktuell) treffen und durch die Verordnung selbst erfolgen (direkte Wirksamkeit); ferner darf kein anderer zumutbarer Rechtsweg bestehen.17 Bei der „staatsrechtlichen Beschwerde“ gegen kantonale Akte in der Schweiz genügt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts (BG) die virtuelle Betroffenheit, d. h. der Beschwerdeführer muss eine minimale Wahrscheinlichkeit dartun, dass die Norm auf ihn angewendet werden könnte (z. B. kantonale Strafprozessordnung); sogar Berufsverbände oder politische Parteien können zur Durchsetzung der Rechte von Mitgliedern im eigenen Namen staatsrechtliche Beschwerde führen.18 Liechtenstein hat erst seit 2003 die unmittelbare Gesetzesverfassungs- und Rechtssetzungsbeschwerde eingeführt (Art. 15 Abs. 3 StGHG), auch wenn der Staatsgerichtshof bereits früher die Auffassung vertreten hatte, nichtlegislative Akte des Landtags könnten mit einer Verfassungsbeschwerde angefochten werden.19 Auch Belgien weist mit seiner „Cour d’Arbitrage“ (Schiedsgerichtshof) eine konzentrierte Verfassungsgerichtsbarkeit auf; der Schiedsgerichtshof kann über Nichtigkeitsklagen („recours en annulation“) sowie Richtervorlagen („questions à titre préjudiciel“) entscheiden. Die Nichtigkeitsklage kann neben Organen der territorialen Körperschaften (Ministerrat, Exekutive einer Region oder einer Gemeinschaft und Präsidenten der Legislativkörperschaften) auch von jeder „natürlichen und juristischen Person, die ein Interesse geltend macht“, eingereicht werden (Art. 2 Nr. 2 S. 6 SchiedsgerichtshofG). Gegenstand der Nichtigkeitsklage sind Gesetze und Dekrete, so dass eine Individualnormenkontrolle mit der Rüge der Verletzung eines der in Titel II („Die Belgier und ihre Rechte“) garantierten Rechte sowie spezieller Gleichheitsgesetze im Steuerrecht und der den Ausländern gewährten Rechte erhoben werden kann (Art. 1 Nr. 2 S. 6 SchiedsgerichtshofG).20 Von den Ländern Mittel- und Osteuropas sind vor allem Ungarn, Polen, Albanien, Tschechien und Rumänien zu nennen. Einen im internationalen Vergleich wohl einmaligen Fall stellte die ungarische Regelung dar. Sie ließ sowohl die mittelbare Rechtssatzverfassungsbeschwerde zu, „wenn die Rechtsverletzung durch die Anwendung einer verfassungswidrigen Rechtsvorschrift eingetreten ist (§ 48 Abs. 1 VerfGG) wie auch eine Popularklage als „nachträgliche abstrakte Normenkontrolle“ (§ 1b VerfGG). Für die Zulässigkeit der Rechtssatzverfassungsbeschwerde ist die Einzelfallanwendung einer für verfassungswidrig erachteten 17 18 19 20

K. Korinek/A. Martin, in: Starck/Weber, S. 77. W. Haller, in: Starck/Weber, S. 117. W. Höfling, in: Starck/Weber, S. 144. F. Delpérée, in: Starck/Weber, S. 270 ff.

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Rechtsnorm und die Rechtswegerschöpfung erforderlich, die bei Erhebung der Popularklage entfallen. Um die Verfassungsbeschwerde nicht gänzlich ihrer Wirksamkeit zu berauben, versuchte das ungarische Verfassungsgericht, diese über die Nichtanwendung der mit Erga-omnes-Wirkung für nichtig erklärten Norm im Anlassfall zu steuern, was schließlich 1994 der Gesetzgeber aufnahm (§ 43 Abs. 4 VerfGG). Da keine Norm die ordentlichen Gerichte bei Nichtigerklärung einer Norm zur Wiederaufnahme des Verfahrens verpflichtete, wurde 1999 die Zivilprozessordnung geändert mit der Möglichkeit, bei Nichtigerklärung einer angewandten Norm aufgrund eines Bescheids des Obersten Gerichts das Verfahren wiederaufzunehmen.21 Anders hat die Individualnormenkontrolle in Polen (Art. 79, 188 Nr. 5 polV; Art. 2 Abs. 1 Nr. 4, 46 ff. VerfGG) gegen alle Gesetze im materiellen Sinn wegen des Fehlens einer Popularklage eine beachtliche Rechtsschutzfunktion, wobei der hier bestehende Anwaltszwang offenbar die unzulässigen Verfassungsklagen einschränkt.22 Eine relativ großzügige Auslegungspraxis der Individualnormenkontrolle existiert in Albanien.23 Nur eine mittelbare Rechtssatzverfassungsbeschwerde ist vor dem tschechischen Verfassungsgericht möglich, soweit der Eingriff auf der Anwendung einer verfassungswidrigen Norm beruht (§ 74 VGO).24 Als Besonderheit ist noch die seit 1993/1994 eingeführte 2. Variante der russischen Individualbeschwerde zu erwähnen. Es handelt sich um einen Antrag auf Durchführung einer individuellen Normenkontrolle, wobei Gegenstand nicht die auf das Gesetz gestützte Anwendungspraxis, sondern Gesetze im formellen Sinn der Föderation bzw. Föderationssubjekte sind (Art. 125 Abs. 4 russV 1993; Art. 96–100 VerfGG 1974). Es genügt eine mittelbare oder potentielle Betroffenheit, sodass die russische Individualbeschwerde näher der Individualnormenkontrolle als der Einrede der Verfassungswidrigkeit steht.25 IV. Popularklage Auf die Besonderheit der früheren Popularklage in Abgrenzung zur Rechtssatzverfassungsbeschwerde in Ungarn ist oben schon hingewiesen worden. Die Möglichkeit der Erhebung einer Popularklage gegen jede Rechtsnorm hat die Bedeutung der parallel bestehenden Individualnormenkontrolle stark relativiert.26 Diesbezüglich hat Brunner, einer der besten Kenner der ungarischen Verfassungsgerichtsbarkeit, schon vor zehn Jahren festgestellt, dass die Popularklage 21

L. Solyom, in: Luchterhand/Starck/Weber, S. 257 m.w. N. G. Brunner, S. 219. 23 W. Stoppel, in: Luchterhand/Starck/Weber, S. 34 ff. 24 Hollander/Hofmann, in: Luchterhand/Starck/Weber, S. 202. 25 G. Brunner, S. 226. 26 L. Solyom, in: Luchterhand/Starck/Weber, S. 257; Zahlen im Anhang zum ungarischen Bericht, S. 277. 22

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trotz der hohen Arbeitsbelastung des Gerichts wesentlich dazu beigetragen habe, die alte Rechtsordnung einer gründlichen rechtsstaatlichen Revision zu unterziehen.27 In Bayern ist die Popularklage schon 1947 in die Verfassung aufgenommen worden (Art. 98 S. 4 bayrV; Art. 53 VerfGHG); sie spielt in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung des BayVerfGH eine auch politisch relevante Rolle (z. B. zum Nichtraucherverbot in Gaststätten).28 Die in Art. 66, 120 BV vorgesehene Verfassungsbeschwerde ist nur gegen Maßnahmen der vollziehenden oder rechtsanwendenden Gewalt zulässig.29 Eine Popularklage kennen auch Malta (Art. 166 maltV) und Mazedonien, das seit 1992 offenbar dem ungarischen Beispiel folgt und die eine besondere Rolle spielt.30 Internationalvergleichend sind ferner Kolumbien und Brasilien zu nennen. In Kolumbien besteht neben einer diffusen Normenkontrolle (Art. 4 Verf. 1991) die Möglichkeit einer Popularklage (Art. 241 „acción pública“) des Bürgers gegen Verfassungsänderungen, Gesetzesreferenden, Volksabstimmungen, Gesetze und Dekrete mit Gesetzeskraft. Der Bürger kann sogar die Verfassungswidrigkeit von Normen in Verfahren rügen, die von anderen Personen angefochten oder geltend gemacht werden.31 In Brasilien besteht eine Popularklage (açao popular), mit der jeder Bürger zum Schutze des öffentlichen Vermögens die Legalität des Verwaltungshandelns prüfen lassen kann.32 V. Bedeutung der Individualnormenkontrolle und Popularklage Die Vor- und Nachteile der Einführung einer parallelen Individualnormenkontrolle neben einer indirekten oder mittelbaren Rechtssatzverfassungsbeschwerde sind gegeneinander abzuwägen. In Deutschland scheint die gesetzliche Regelung und Rechtsprechung des BVerfG zur Beschwerdebefugnis bei Individualnormen27

G. Brunner, S. 230. s. z. B. Entscheidungen vom 4.11.2010, vom 24.9.2010 oder vom 25.6.2010 über Vorschriften über Vorschriften des Gesetzes zum Schutz der Gesundheit (Gesundheitsschutzgesetz – GSG) vom 20.12.2007; Kirchenlohnsteuer (BayVerfGHE vom 12.10. 2010) oder Studienbeiträge (BayVerfGHE vom 28.5.2009). Leider weist die amtliche Online-Statistik nicht den prozentualen Anteil von Popularklagen und Verfassungsbeschwerden aus; s. bayern.verfassungsgerichthof.de. 29 BayVerfGHE 1, 38 (40 f.); h. M. in Rspr. und Literatur. K. Stern, in: Schiffer, S. 75. 30 G. Brunner, S. 230. 31 N. Lösing, S. 327; Cifuentes Muñoz, in: García Belaunde/Fernández Segado, S. 474. 32 N. Lösing, S. 271 f. 28

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kontrollen (Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze) auszureichen; die meisten Gesetzesüberprüfungen finden ohnehin im Wege der mittelbaren Rechtssatzverfassungsbeschwerde statt. Von insgesamt 6075 anhängigen Verfassungsbeschwerden im Jahr 2009 betrafen allein 5782 Beschwerden letztinstanzlicher Gerichtsentscheidungen des Bundes und der Länder, 128 Hoheitsakte des Bundes und der Länder; 30 Verfassungsbeschwerden richteten sich mittelbar gegen landesgesetzliche, 272 gegen bundesgesetzliche Normen (insgesamt 302 Verfassungsbeschwerden); demgegenüber betraf etwas mehr als die Hälfte (165 Verfassungsbeschwerden) unmittelbar Gesetze der Länder (151 Verfassungsbeschwerden) sowie des Bundes (150 Verfassungsbeschwerden).33 Die Gesamtzahl der konkreten Normenkontrollen lag 2009 demgegenüber bei 47 Verfahren34, bei abstrakten Normenkontrollen bei nur zwei Verfahren. Dies zeigt, dass die Zahl der mittelbaren Rechtssatzverfassungsbeschwerden ungefähr doppelt so hoch ist wie die direkten Normenkontrollverfahren (abstrakte Normenüberprüfung, Richterlagen und direkte Individualnormenkontrolle). Die statistische Übersicht schmälert nicht die Relevanz der direkten Normenkontrollen in den verschiedenen Verfahrensarten, zeigt aber doch die Größenverhältnisse an. Die Entscheidungsfolgen können sowohl bei der indirekten wie direkten Rechtssatzverfassungsbeschwerde ex tunc oder ex nunc mit erga-omnes-Wirkung ausgesprochen werden. Freilich zeigt die österreichische Praxis des Individualantrags und teilweise auch der ungarischen Rechtssatzverfassungsbeschwerde die Schwierigkeiten einer Nichtigerklärung der Norm ex nunc oder pro futuro für den „Anlassfall“: Die Aufhebung einer verfassungswidrigen Norm „erga omnes“ gilt praktisch nur für den Beschwerdeführer im Ausgangsfall („Ergreiferprämie“) und für künftige Verfahren, nicht aber für die vor ihrer Aufhebung verwirklichten Sachverhalte.35 Auch wenn der österreichische VerfGH bei der Feststellung der Rückwirkung und der Abgrenzung des betroffenen Kreises freies Ermessen hat, ist doch die Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Geltungswirkung nicht zu übersehen. Eine ähnliche Problematik stellte sich für das ungarische Verfassungsgericht bei der Abgrenzung zwischen der unmittelbaren Rechtssatzverfassungsbeschwerde und der Popularklage. Die Einführung einer Popularklage stellt rechtsvergleichend ohnehin eine seltene Ausnahme dar, die eher für kleinere Länder gilt; sie würde zu einer weiteren Arbeitsüberlastung der Verfassungsgerichte führen, die mit dem Zugang von Verfassungsbeschwerden ohnehin schon überfordert sind (BRD, Spanien) und adäquate „Zulassungsfilter“ durch summarische Prüfung von Richterausschüssen aufweisen (§ 93b S. 1, § 93 Abs. 2a Abs. 1 BVerfG; Art 50 Abs. 1 spVerfGG);in Deutschland scheitern rund 98% der Verfassungsbe33 s. Amtliche Statistik des BVerfG für 2009, www.bundesverfassungsgericht.de/or ganisation.html. 34 Die Zahl der konkreten Normenkontrollen betrug von 1951–2009 insgesamt nur 619 Vorlagen. 35 Hierzu K. Korinek/A. Martin, in: Starck/Weber, S. 78.

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schwerden im summarischen Verfahren der Dreierausschüsse, in Spanien rund ein Drittel vor den Richterausschüssen.36 Ein wesentlicher Rechtsschutzgewinn ist angesichts der geringen Erfolgsquote der Verfassungsbeschwerde in Deutschland, Spanien oder Polen kaum zu erwarten.37 VI. Rechtssatzverfassungsbeschwerde im Unionsrecht? Bei der Beratung des Entwurfs des Vertrags über eine Europäische Verfassung (EVV) wurde im Verfassungskonvent auch die Frage nach der Einführung einer Verfassungsbeschwerde zur Stärkung des Grundrechtsschutzes erörtert.38 Die Überlegung, die Grundrechte mit Inkrafttreten der EuGRCH gewissermaßen mit dem in zahlreichen EU-Staaten verankerten Instrument einer Grundrechtsbeschwerde auszustatten, lag angesichts der grundsätzlich positiven Erfahrungen in den Mitgliedstaaten mit konzentrierter Verfassungsgerichtsbarkeit nahe. Auf der anderen Seite war die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, dass die Arbeitsbelastung des Gerichts erster Instanz (EuG) und im Falle einer Grundrechtsrevisionsbeschwerde die des EuGH erheblich ansteigen könnte, und ohne den Einbau „angemessener Filter“ (wie z. B. einstimmiger Beschluss der Ablehnung durch einen Richterausschuss) die Funktionsfähigkeit des Gerichtshofs der EU erheblich beeinträchtigen könnte. Ferner war schon nach geltendem Recht vor Inkrafttreten des LisbV eine „verdeckte“ oder „inzidente“ Grundrechtsrüge im Wege der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EG (jetzt Art. 263 EG LisbV) möglich. Zum klageberechtigten Personenkreis zählen alle natürlichen und juristischen Personen einschließlich Angehöriger von Drittstaaten. Auch juristische Personen des öffentlichen Rechts können Nichtigkeitsklage erheben. Anfechtbar sind alle an den Kläger gerichteten Entscheidungen bzw. die den Kläger „unmittelbar und individuell betreffenden“ Handlungen. Auch „Scheinverordnungen“, d. h. Verordnungen, die 36

F. Rubio Llorente, in: Starck/Weber, S. 189 ff. Die Verfassungsbeschwerden in Spanien vor beiden Kammern betrugen von 2001– 2005 zwischen 4.786 und 9.476 Verfahren; s. F. Rubio Llorente, in: Starck/Weber, S. 296 f.; in Polen betrug die Zahl der 1997 eingeführten Verfassungsklage zwischen 1997–2005 nur zwischen 27 und 220 Verfahren; im Jahr 2005 gab es nur 32 Entscheidungen (davon nur zwei stattgebend); s. Statistik bei L. Garlicki, in: Luchterhand/ Starck/Weber, S. 102. 38 s. Vorschlag des Konventsmitglieds H. Meyer und den Freiburger Entwurf von J. Schwarze, Discussion Circle on the Court of Justice, Circle 1, WD03, Annex: „Jede natürliche oder juristische Person kann einen Rechtsakt der Union wegen Verletzung eines ihr durch die Charta der Grundrechte der Union verliehenen Rechts anfechten, sofern für die Rüge der Grundrechtsverletzung kein anderweitiger Rechtsweg zur Verfügung steht. Für die Annahme einer Grundrechtsbeschwerde können besondere Bedingungen vorgesehen werden.“ 37

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nicht in Form eines Einzelakts an den Kläger ergangen sind, waren im Falle „der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit“ schon nach bisherigem Wortlaut und Rechtsprechung anfechtbar39. Eine echte Rechtsschutzlücke bestand für den Kläger nur beim Rechtsschutz für Normativakte, die keines nationalen Ausführungsakts bedürfen, da im letzteren Fall Rechtsschutz, also auch Grundrechtsschutz einschließlich der Verfassungsbeschwerde vor den nationalen Gerichten möglich ist. Hier stellt sich freilich die Frage nach dem Prüfungsmaßstab: EuGRCH oder/ und nationale Grundrechte? Diese Frage soll hier jedoch nicht weiter erörtert werden. Im Falle eines unionsrechtlichen Normativakts, der – wie regelmäßig eine Verordnung oder im Einzelfall auch eine Richtlinie – unmittelbare Rechte begründet, hatte das Gericht (EuG) bereits im Fall „Jégo-Quéré“ 40 eine Erweiterung der Klagebefugnis bejaht, wurde aber vom EuGH unter Hinweis auf eine mögliche Vertragsänderung desavouiert. Der Entwurf des Verfassungskonvents (Art. I-35 Abs. 1 UAbs. 4 EUV) und der LisbV haben die Klagebefugnis gegen unmittelbar wirkende Rechtsakte mit Verordnungscharakter (Art. 263 Abs. 4: „sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahme nach sich ziehen“) erweitert. Damit besteht auch die Möglichkeit einer Individualnormenkontrolle im Sinne einer „Rechtssatzverfassungsbeschwerde“, wenn die unmittelbare Betroffenheit vorliegt und dürfte vor allem auf vom Gesetzgeber an die Kommission delegierte Verordnungen (z. B. Durchführungsverordnungen) zutreffen; allgemeine „Gesetzgebungsakte“ sollen hingegen ausgeschlossen sein.41 Dies dürfte etwa der Abgrenzung der Grundrechtsbeschwerde als unmittelbare Individualnormenkontrolle von der Popularklage entsprechen, da im ersteren Fall eine „Grundrechtsbetroffenheit“ oder „berechtigtes Interesse“ gefordert wird, um die Klagebefugnis einzugrenzen. Damit ist mit der Erweiterung der Klagebefugnis nach dem LisbV praktisch eine unmittelbare Rechtssatzverfassungsbeschwerde wegen Verletzung von Unionsgrundrechten möglich, auch wenn dies nicht als eigenständiger Rechtsbehelf „Grundrechtsbeschwerde“ im Katalog der Zuständigkeiten aufgeführt ist. Der Gerichtshof der EU ist schon heute weitgehend ein „Verfassungsgericht“ mit vergleichbaren Kompetenzen wie in Mitgliedstaaten mit konzentrierter oder diffuser Verfassungsgerichtsbarkeit und wird mit der Anwendung der EuGRCH noch stärker als bisher zum „Grundrechtsgerichtshof“ mutieren. Dies ist eine natürliche Entwicklung der wachsenden „Konstitutionalisierung“ der Europäischen Union. Die Einführung einer gesonderten Grundrechtsbeschwerde mag hier am End39 EuGE 1998, II-717, Rs. T-214/95 „Het Vlaamse Gewert“; EuGE 1994, II-3633, verb. Rs. T-132 u. 143/96 „Freistaat Sachsen“. 40 EuGE 2002, II-2365, Rs. T-177/01 – „Jégo-Qéré“. 41 EuGHE 1990, I-3847, Rs. 354/88 – „Weddel“.

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punkt einer Entwicklung stehen, die ihr auch formal das Attribut „Verfassung“ zugesteht. Literatur Brunner, Georg: Der Zugang des Einzelnen zur Verfassungsgerichtsbarkeit im Europäischen Raum, in: Jahrbuch für öffentliches Recht 50, 2002, S. 191 ff. Brunner, Georg/Solyom, Lazlo: Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Ungarn, 1995. Cappeletti, M./Ritterspach, K.: Die gerichtliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze in rechtsvergleichender Sicht, Jahrbuch für öffentliches Recht (NF 20), 1971, S. 65 ff. Fernández Segado, Francisco: The Spanish Constitution in the European Constitutional Context, 2003. Fix Zamudio, Hector: Breve introducción al juicio de amparo mexicano, in: Ensayos sobre el derecho de amparo, Mexiko, 1993. García Belaunde, Domingo/Fernández Segado, Francisco: La jurisdicción constitucional en Iberoamerica, 1997. Grabenwarter, Christoph: Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl., 2009. Lösing, Norbert: Die Verfassungsgerichtsbarkeit in Lateinamerika, 2001. Luchterhand, Otto/Starck, Christian/Weber, Albrecht (Hrsg.): Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, Teilband I: Berichte, 2007. Oppermann, Thomas/Classen, Claus Dieter/Nettesheim, Martin: Europarecht, 4. Aufl., 2009. Perez Tremps, Pablo: El recurso de amparo, 2004. Schiffer, Eckart (Hrsg.): Verfassung, Verwaltung, Finanzkontrolle, Festschrift für H. Schäfer zum 65. Geburtstag, 1975. Starck, Christian (Hrsg.): Fortschritte der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Welt, Teil I: Deutsch-Japanisches Kolloquium vom 20.–24. September 2002 in Tokio und Kyoto, 2004. Starck, Christian/Weber, Albrecht (Hrsg.): Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa, Teilband I: Berichte, 2. Aufl., 2007. Stern, Klaus: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980. Weber, Albrecht: Notes sur la Justice Constitutionnelle Comparée: Convergences et divergences, in: Annuaire International de Justice Constitutionnelle XIX, 2003, S. 29–41.

La riserva assoluta dell’attività di mediatore ai soggetti iscritti, quale disposta in Italia, è incostituzionale?1 Di Alessio Zaccaria I. Premessa: Il ruolo dei mediatori La questione concernente la costituzionalità del ruolo dei mediatori, istituito con la l. n. 39 del 1989, è stata abbastanza di recente affrontata anche dalla Corte di Cassazione, nella sentenza n. 19066 del 2006. Si tratta di un ruolo che era diretto ad attuare una riserva assoluta dell’esercizio dell’attività di mediazione ai soli soggetti in esso iscritti: in altri termini, agli iscritti nel ruolo era riservato l’esercizio dell’attività di mediazione non solo in modo professionale, e cioè in modo organizzato, ma anche in modo discontinuo od occasionale2. Mi sono espresso al passato, in quanto il ruolo dei mediatori è stato poi soppresso con l’art. 73 del d.legisl. 26 marzo 2010, n. 59, di attuazione della direttiva 2006/123/CE relativa ai servizi nel mercato interno. La situazione, nella sostanza, non è peraltro mutata, essendo stata l’iscrizione nel ruolo sostituita con altra formalità alla quale sono stati collegati i medesimi effetti che la l. n. 39/1989 aveva collegato all’iscrizione nel ruolo3. Così che la

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Makler-Register in Italien – verfassungswidrig? Una sola voce si è levata, in questi anni, nel senso di sostenere che, nonostante il riferimento compiuto dall’art. 2, co. 4 º, l. n. 39/1989 anche all’attività esercitata in modo discontinuo od occasionale, non riservati potrebbero ritenersi gli “atti isolati di mediazione”, essendosi la legge medesima riferita ad un’attività, e dunque a un esercizio comunque professionale, sia pure discontinuo od occasionale della mediazione (per questo abbiamo parlato poco fa nel testo di riserva “quasi integrale” dell’attività agli iscritti nel ruolo): v. Partesotti, Atto isolato di mediazione e soluti retentio, in: Riv. dir. civ., 1989, II, p. 683 ss. 3 Infatti, ai sensi del cit. art. 73 d.legisl. 26 marzo 2010, n. 59, “2. Le attività disciplinate dalla legge 3 febbraio 1989, n. 39, sono soggette a dichiarazione di inizio di attività, da presentare alla Camera di commercio, industria, artigianato e agricoltura per il tramite dello sportello unico del comune competente per territorio ai sensi dell’articolo 19, comma 2, primo periodo, della legge 7 agosto 1990, n. 241, corredata delle autocertificazioni e delle certificazioni attestanti il possesso dei requisiti prescritti. 3. La Camera di commercio, industria, artigianato e agricoltura verifica il possesso dei requi2

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questione concernente la costituzionalità delle norme volte a riservare l’esercizio di un’attività, come quella di mediazione, anche se svolta in modo discontinuo od occasionale, esclusivamente ai soggetti in possesso di determinati requisiti e iscritti presso ruoli, albi o registri può essere posta e trattata, anche oggi, nei medesimi termini secondo i quali è stata affrontata con riguardo al ruolo dei mediatori. II. La manifesta infondatezza, secondo la Corte di Cassazione, della questione di costituzionalità delle norme istitutive del ruolo dei mediatori Il ricorrente aveva adito la Suprema Corte censurando l’impugnata sentenza d’appello nella parte in cui quest’ultima aveva ritenuto manifestamente infondata la questione di costituzionalità da lui sollevata in riferimento agli artt. 1 e 2 Cost., all’art. 3 Cost., co. 2 º, agli artt. 4 e 18 Cost., all’art. 33 Cost., co. 5 º, agli artt. 35, 36 e 41 Cost.: questione sollevata sulla base in particolare del rilievo secondo cui i limiti fissati dalla l. n. 39 del 1989 per l’iscrizione nel ruolo dei mediatori4 non troverebbero giustificazione nella necessità di particolari conoscenze tecniche e, soprattutto, non corrisponderebbero ad alcun interesse pub-

siti e iscrive i relativi dati nel registro delle imprese, se l’attività è svolta in forma di impresa, oppure nel repertorio delle notizie economiche e amministrative (REA) previsto dall’articolo 8 della legge 29 dicembre 1993, n. 580, e dall’articolo 9 del decreto del Presidente della Repubblica 7 dicembre 1995, n. 581, e successive modificazioni, assegnando ad essi la qualifica di intermediario per le diverse tipologie di attività, distintamente previste dalla legge 3 febbraio 1989, n. 39. 4. Le disposizioni del presente articolo non si applicano alle attività di agente d’affari non rientranti tra quelle disciplinate dalla legge 3 febbraio 1989, n. 39. È fatta salva per le attività relative al recupero di crediti, ai pubblici incanti, alle agenzie matrimoniali e di pubbliche relazioni, l’applicazione dell’articolo 115 del testo unico delle leggi di pubblica sicurezza, di cui al regio decreto 18 giugno 1931, n. 773. 5. Fermo restando quanto disposto dall’articolo 8 della legge 29 dicembre 1993, n. 580, e dal decreto del Presidente della Repubblica 7 dicembre 1995, n. 581, le iscrizioni previste dal presente decreto per i soggetti diversi dalle imprese, sono effettuate in una apposita sezione del REA ed hanno effetto dichiarativo del possesso dei requisiti abilitanti all’esercizio della relativa attività professionale. 6. Ad ogni effetto di legge, i richiami al ruolo contenuti nella legge 3 febbraio 1989, n. 39, si intendono riferiti alle iscrizioni previste dal presente articolo nel registro delle imprese o nel repertorio delle notizie economiche e amministrative (REA)”. 4 Ai sensi dell’art. 2, co. 3 º, della l. n. 39/1989, “Per ottenere l’iscrizione nel ruolo gli interessati devono: . . . e) avere conseguito un diploma di scuola secondaria di secondo grado, avere frequentato un corso di formazione ed avere superato un esame diretto ad accertare l’attitudine e la capacità professionale dell’aspirante in relazione al ramo di mediazione prescelto, oppure avere conseguito il diploma di scuola secondaria di secondo grado ed avere effettuato un periodo di pratica di almeno dodici mesi continuativi con l’obbligo di frequenza di uno specifico corso di formazione professionale. Le modalità e le caratteristiche del titolo di formazione, dell’esame e quelle della tenuta del registro dei praticanti sono determinate con decreto del Ministro dell’industria, del commercio e dell’artigianato” (lettera così sostituita dall’art. 18 l. 5 marzo 2001, n. 57).

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blico, non potendo l’attività di mediatore essere in alcun modo assimilata alle professioni intellettuali il cui esercizio è subordinato all’iscrizione in appositi albi o elenchi in ragione della utilità generale che si riconosce loro. Alla ricordata conclusione, la Cassazione è giunta osservando, innanzi tutto, che, secondo la previsione di cui all’art. 33, co. 5 º, Cost., “È prescritto un esame di Stato . . . per l’abilitazione all’esercizio professionale”, e da ciò traendo che la l. n. 39 del 1989, in quanto attuativa dei princìpi costituzionali testé ricordati, non potrebbe, contemporaneamente, essere sospettata di illegittimità costituzionale; e aggiungendo, quindi, che, a prescindere dalla circostanza che rientra nella discrezione del legislatore introdurre nuove categorie di “professionisti”, sarebbe palese l’interesse pubblico a che l’attività di mediatore sia svolta esclusivamente da persone in possesso di particolari cognizioni tecniche, ove solo si tenga presente l’obbligo che sul mediatore grava, a norma dell’art. 1759 c. c., di comunicare alle parti le circostanze a lui note relative alla valutazione e alla sicurezza dell’affare. Non sono necessarie molte parole al fine di porre in rilievo l’insufficienza della motivazione espressa dalla Suprema Corte. L’affermazione secondo cui la previsione del ruolo dei mediatori non potrebbe considerarsi incostituzionale già solo per il fatto che, ai sensi dell’art. 33 Cost., chi voglia esercitare una professione deve superare un esame di Stato non è evidentemente rilevante fino a quando non sia accertato che l’attività per esercitare la quale è previsto il superamento di un esame di Stato costituisce effettivamente una professione. E non conclusiva, al fine di riconoscere nell’attività del mediatore una nuova “professione”, è, altrettanto evidentemente, il semplice rilievo secondo cui sul mediatore, ai sensi dell’art. 1759 c. c., grava l’obbligo di comunicare alle parti le circostanze a lui note relative alla valutazione e alla sicurezza dell’affare, dato che non si può certamente ravvisare, in quella appena menzionata, un’attività che si caratterizza per quell’impiego di intelligenza e cultura che è proprio delle professioni intellettuali: stiamo infatti parlando della semplice comunicazione, appunto, di circostanze per qualsivoglia via acquisite. Vero quanto affermato dalla Cassazione, anche chi riferisca ad altri i risultati di un parere che abbia commissionato a un avvocato sarebbe soggetto che svolge un’attività intellettuale: ciò che nessuno sarebbe ovviamente disposto a riconoscere. Vediamo, allora, come si sarebbe dovuto invece procedere.

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III. Le valutazioni da svolgere al fine di decidere circa la costituzionalità delle norme istitutive di un albo, ruolo, registro, etc. La costituzionalità delle norme dirette a riservare l’esercizio di una determinata attività agli iscritti in albi, ruoli, registri, etc., va stabilita avendo riguardo alle previsioni della Carta fondamentale concernenti le libertà di lavoro e di iniziativa economica privata. Un importante punto di riferimento per la fissazione dei criteri attraverso i quali questo giudizio va condotto è rappresentato dalla sentenza della Corte Costituzionale 29 marzo 1961, n. 135, in cui è stata affermata la legittimità della istituzione di un ruolo degli esercenti le attività di guida alpina, portatore e maestro di sci (non affidato, per la sua tenuta, a un “ordine” o “collegio” costituito dagli stessi iscritti, con potere disciplinare sui medesimi, ma) avente semplicemente la funzione di subordinare lo svolgimento di quelle attività alla constatazione della presenza di determinati requisiti. Proprio nella motivazione di questa pronuncia, è stata affermata, infatti6, l’esistenza implicita, nell’ordinamento costituzionale, di un principio generale – desumibile dalla norma del co. 5 º dell’art. 33 Cost. – in forza del quale le capacità di un certo soggetto che intenda svolgere determinate attività debbono essere accertate – e (solo) in questa prospettiva si giustifica appunto l’istituzione di ruoli, registri, etc., e la conseguente limitazione delle libertà di lavoro e di iniziativa economica privata – (esclusivamente) ogni volta che un tale accertamento corrisponda ad un interesse pubblico. La semplice presenza di un interesse pubblico non basta, invece – sempre secondo quanto è possibile desumere da quella sentenza –, per potersi ritenere giustificata, sempre sotto il profilo costituzionale, l’istituzione di “ordini”, “collegi”, etc., costituiti dagli stessi iscritti – vale a dire l’istituzione di “associazioni professionali” – dotati di potere disciplinare sui medesimi, occorrendo, in questi casi, “un rilievo pubblico più cospicuo ed un collegamento con gli interessi dello Stato più diretto di quello sufficiente per giustificare l’istituzione di elenchi l’iscrizione nei quali costituisca semplice modalità di esercizio della professione”7. Il ruolo dei mediatori rappresentava un ruolo del genere di quello delle guide alpine, avente semplicemente la funzione di subordinare lo svolgimento delle attività considerate alla constatazione della presenza di determinati requisiti: è vero, infatti, che chi si iscriveva nel ruolo dei mediatori veniva ad essere soggetto a un potere disciplinare, ma è altrettanto vero che l’esercizio di questo potere era 5

In: Giur. it., 1961, I, 1, c. 940 ss. Sul punto, v. Bartole, Albi, ordini professionali e diritto al lavoro, in: Giur. it., 1961, I, 1, c. 943. 7 V. ancora Bartole, op. cit., cc. 947–948. 6

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affidato non ad una “associazione professionale degli iscritti”, bensì alle giunte camerali, e che neppure la tenuta del ruolo era stata affidata a un’ “associazione professionale”, bensì alle apposite commissioni istituite presso le camere di commercio, industria, artigianato e agricoltura, commissioni che sono state poi addirittura soppresse con l’art. 1l. 4 luglio 2006, n. 223, conv. con l. 4 agosto 2006, n. 248, e le cui funzioni sono state attribuite al Ministero dello sviluppo economico e alle Camere di commercio, industria, artigianato e agricoltura. La costituzionalità del ruolo poteva perciò essere valutata alla luce del meno rigoroso dei due parametri poco fa individuati, dovendosi conseguentemente verificare se, nella fattispecie di cui si tratta, fosse rintracciabile la presenza (almeno anche)8 di un generico interesse pubblico all’accertamento delle capacità dei richiedenti l’iscrizione nel ruolo medesimo9. IV. Mediazione “professionale” e mediazione occasionale: Le rispettive caratteristiche La verifica dell’esistenza di un tale interesse presuppone, però, la definizione delle caratteristiche che contraddistinguono l’attività del mediatore: un’attività che, come subito diremo, è venuta, nel tempo, “arricchendosi”. La stessa legge n. 39 del 1989 ha sancito, sul piano legislativo, questa evoluzione, menzionando esplicitamente, quali attività ulteriori rispetto a quella tradizionale di mediazione, consistente nella messa in relazione delle parti e nell’attività volta ad agevolare la conclusione dell’affare, all’esercizio delle quali il mediatore iscritto nel ruolo deve ritenersi legittimato, le attività complementari, necessarie o anche soltanto opportune per la conclusione e gestione dell’affare, nonché le attività di perizia e consulenza tecnica in materia immobiliare. Così facendo, la legge n. 39 del 1989, se, da un lato, ha introdotto elementi di “intellettualità” nell’attività del mediatore10, non ha però delineato una nuova 8 Anche l’istituzione del ruolo dei mediatori, come in genere l’istituzione di tutti gli albi, ruoli, registri, etc., era stata certamente ispirata pure da un interesse corporativo. Tanto non basta, però, per una dichiarazione di incostituzionalità: perché la compressione delle libertà di lavoro e di iniziativa economica privata possa ritenersi accettabile, è infatti sufficiente la presenza anche di un interesse pubblico all’accertamento delle capacità di chi chiede di iscriversi, come riconosciuto pure da Corte Cost., 3 giugno 1970, n. 82, in: Giust. civ., 1970, II, p. 210, e Corte Cost., 25 marzo 1976, n. 59, in: Foro it., 1976, I, c. 892. 9 A questo proposito, sia consentito rinviare a Zaccaria, La mediazione, Padova, 1992, p. 69. 10 Elementi sulla base dei quali è stato fra l’altro superato il dato letterale del citato art. 1759 c. c., che impone al mediatore di comunicare alle parti (solo) le circostanze a lui note relative alla valutazione e alla sicurezza dell’affare, riconoscendosi che il mediatore medesimo, quale esperto del settore che, nello svolgimento delle sue attività, deve impiegare la diligenza qualificata richiesta dall’art. 1176, 2 º co., c. c., deve intendersi tenuto a comunicare alle parti anche le circostanze a lui non note, ma conoscibili

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“professione intellettuale”: il nucleo centrale dell’attività di mediazione è infatti sempre il medesimo, quale si trova definito nell’art. 1754 c. c., e cioè, come si diceva, la messa in relazione delle parti e l’opera volta ad agevolare la conclusione dell’affare, attività, queste, per svolgere le quali certamente non occorre alcuna preparazione specifica di carattere tecnico e/o scientifico. Così facendo, la legge n. 39 del 1989 ha, invece, preso atto del modo in cui, oggi, l’attività di mediazione si atteggia (solo) quando svolta in modo professionale, e cioè in modo organizzato, stabile e continuativo11. Deriva, da tutto ciò, che la distinzione fra esercizio “professionale” ed esercizio occasionale della mediazione non si risolve esclusivamente nel fatto che l’attività sia svolta in modo organizzato oppure non, ma investe anche il contenuto dell’attività. E siccome la legge n. 39 del 1989 ha riservato agli iscritti nel ruolo anche l’esercizio occasionale dell’attività di mediazione, la valutazione circa la costituzionalità della riserva va conseguentemente effettuata avendosi riguardo a entrambi i modi di svolgimento dell’attività che l’ordinamento oggi conosce. V. L’interesse pubblico all’accertamento della capacità di chi intende svolgere attività di mediazione, “professionale” od occasionale Orbene, sembra abbastanza chiaro che l’esigenza di accertare – nell’interesse del “pubblico dei consumatori” – che chi intende svolgere attività di mediazione sia in possesso di un certo bagaglio culturale, di “rigorosi requisiti di idoneità professionale”, sussiste, in realtà, solo con riguardo a chi intende svolgere l’attività medesima in modo, appunto, “professionale”, vale a dire in modo stabile e continuativo: è solo da chi esercita l’attività in parola in modo “professionale” che il “consumatore” può invero intendersi legittimato ad aspettarsi l’idoneità a svolgere attività ulteriori rispetto a quelle tradizionali, e caratterizzate da tratti di “intellettualità”, quali quelle, ad esempio, di stima dei beni oggetto dell’affare, o di assistenza, sotto il profilo giuridico, alla redazione di accordi preliminari, mentre alcuna preparazione specifica di carattere tecnico e/o scientifico occorre

mediante l’uso della diligenza richiesta ad un operatore, appunto, professionale, e deve ritenersi inoltre tenuto a controllare l’esattezza delle informazioni che fornisce, tanto di quelle a lui già note quanto di quelle delle quali venga a conoscenza in adempimento dell’obbligo d’informarsi di cui si è appena detto: in questo senso, v. Cass. 17 maggio 1999, n. 4791, Cass. 22 marzo 2001, n. 4126, 15 maggio 2001, n. 6714, Cass. 24 ottobre 2003, n. 16009, Cass. 15 marzo 2006, n. 5777, Cass. 18 luglio 2008, n. 19951, 7 aprile 2009, n. 8374. 11 Per queste considerazioni, sia nuovamente consentito rinviare a Zaccaria, op. cit., p. 16 ss.

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per porre in essere un’attività (occasionale) di mediazione, nei termini in cui tradizionalmente essa si è sempre atteggiata12. Irragionevole appare, di conseguenza, obbligare a sottoporsi al medesimo accertamento richiesto per l’esercizio “professionale” della mediazione anche chi intenda compiere un unico, occasionale atto di (pura, tradizionale) mediazione; tanto più qualora si consideri che, se pure la prestazione del mediatore “professionale”, in quanto maggiormente “specializzata”, sarà, di solito, anche più incisiva, potrebbe ben darsi che la conclusione di un certo affare (ad esempio, come spesso in concreto accade, per via di particolari relazioni personali esistenti fra il mediatore e le parti) sia meglio perseguibile affidandosi ad un soggetto che non sia un “professionista” della mediazione. E non si vede per quale motivo – se non riferendosi a meri interessi di natura corporativa –, in casi di questo genere, si dovrebbe rinunciare a servirsi della persona che, pur non in grado, o non legittimata a compiere quelle attività ulteriori, rispetto a quella di mediazione, per lo svolgimento delle quali sono necessarie, e deve essere accertato il possesso di particolari capacità, appaia, ciò nonostante, come la più idonea. Non sembra possibile, insomma, individuare un (sia pure generico) interesse di carattere generale in grado di giustificare la previsione di un albo, ruolo, registro, etc. nel quale debbano essere iscritti anche i soggetti che un’attività di mediazione intendano svolgere in modo occasionale. VI. Conclusioni: L’incostituzionalità degli artt. 2, co. 4 º, e 6, co. 1 º, della l. n. 39/1989 Tenuto conto di quanto sin qui detto, si sarebbe allora dovuto concludere che l’art. 2, co. 4 º, della legge n. 89 del 1989, lì dove prevede che l’iscrizione nel ruolo debba essere richiesta anche se l’attività viene esercitata, appunto, in modo occasionale, e non “professionale”, sia contraria a Costituzione, per contrasto con gli artt. 1, 4, 35 e 41 Cost., concernenti le libertà di lavoro e di iniziativa economica privata. Così come incostituzionale avrebbe allora dovuto conseguentemente ritenersi la norma, che di quella appena citata costituisce corollario, dettata nel co. 1 º dell’art. 6 della legge n. 39 del 1989, secondo cui hanno diritto alla provvigione soltanto coloro che sono iscritti nel ruolo.

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Ancora una volta, mi permetto di rinviare a Zaccaria, op. cit., pp. 72–73.

5. Teil

Einzelne Grundrechte

Das Petitionsrecht: Eine Petitesse? Zugleich ein Beitrag zum Institut der Öffentlichen Petition Von Hartmut Bauer I. Multifunktionales Petitionsrecht zwischen Petitesse und preisgekrönter Polit-Innovation In Klaus Sterns Vermessung des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland ist das Petitionsrecht in jedem der sieben (Teil-)Bände präsent.1 Das lässt zusammen mit der „multifunktionalen Einsetzbarkeit“ 2 dieses Grundrechts hohe praktische Bedeutung und Akzeptanz3 vermuten. Vielen gilt das Petitionswesen denn auch als „soziales Frühwarnsystem“ 4, das zu politischen Kurskorrekturen anregt. Unbestritten ist diese Einschätzung jedoch nicht5. Bekanntlich hielten manche das Anliegen des Petitionsrechts schon in den Beratungen zum Grundgesetz historisch für „überwunden“ und das Grundrecht selbst für „entbehrlich“ 6. Solche

1 Zentral ist das Petitionsrecht von Johannes Dietlein in dem unlängst erschienenen Bd. IV/2, 2011, S. 285 ff., behandelt. Vgl. zu den anderen Bänden die Hinweise in den Sachverzeichnissen in Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 1096; Bd. II, 1980, S. 1537; Bd. III/1, 1988, S. 1628; Bd. III/2, 1994, S. 1893; Bd. IV/1, 2006, S. 2394; Bd. V, 2000, S. 2253 f. 2 Rupert Stettner, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 17 (Drittbearbeitung, 2000) Rn. 21 ff., 37 (Zitat: 22); im Anschluss daran ähnlich Dietlein (Fn. 1), S. 286: „Multifunkionalität“. 3 Vgl. Dietlein (Fn. 1), S. 291. 4 Zwischenbericht der Enquete-Kommission für Fragen der Verfassungsreform, BTDrucks. VI/3829, S. 29; BremStGH, NVwZ-RR 1997, S. 145 (146 m.w. N.); ähnlich Dietlein (Fn. 1), S. 287 f. („soziale Frühwarnfunktion“, „Seismograph des Parlaments“); Thomas Würtenberger, Massenpetitionen als Ausdruck politischer Diskrepanzen zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, ZParl. 18 (1987), S. 383 (388: „politisches Frühwarnsystem“); Wolfgang Graf Vitzthum/Wolfgang März, Das Grundrecht der Petitionsfreiheit, JZ 1985, S. 809 (809: „flexibles Frühwarnsystem“); solche Einschätzungen ablehnend Günter Krings, Die Petitionsfreiheit nach Art. 17 GG, JuS 2004, S. 474 (475: unangebrachte „Überhöhung des Petitionsrechts“). 5 s. zu den uneinheitlichen Einschätzungen in der weiter zurückliegenden Vergangenheit nur Prodomos Dagtoglou, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 17 (Zweitbearbeitung, 1967) Rn. 6 ff. m.w. N.; aus aktueller Sicht Hartmut Bauer, Petitionsrecht, in: HGR, i. E., § 128 Rn. 29 f. m.w. N. auch zum Folgenden. 6 Dazu und zum Folgenden Klaus Berto v. Doemming/Rudolf Werner Füßlein/Werner Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR 1 (1951), S. 1 (170 f.).

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Geringschätzung findet sich mitunter noch heute7 und rückt das Petitionsrecht in die Nähe einer Petitesse8. Die zurückhaltenden Wertungen stehen allerdings wiederum in einem auffälligen Kontrast zu dem Politik-Award in der Kategorie „Innovation“, mit dem unlängst das vom Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eingerichtete Internetportal für e-Petitionen wegen der verbesserten Bürgerbeteiligung ausgezeichnet wurde9. II. Vorverständnis und Funktionenwahl Die uneinheitlichen, bisweilen konträren Bewertungen erklären sich aus der Funktionenvielfalt des Petitionsrechts10, die im ersten Zugriff unterschiedliche Akzentuierungen zuzulassen scheint. Wer nämlich die aktuelle Bedeutung des Petitionsrechts zuallererst in der Gnaden- und „Purgationsfunktion des ,Herzausschüttenkönnes‘“11 sieht12, der wird die partizipative, zumindest (quasi-)demokratische Dimension dieses Rechts naturgemäß ganz anders bewerten als derjenige, der die durch das Petitionsrecht eröffnete „Chance zur aktiven Teilnahme am politischen Geschehen“ und zur „Einwirkung auf politische Entscheidungsprozesse“ 13 deutlich stärker betont und hervorhebt. Hier prallen gleichsam die in der Tradition der Untertanenbitte14 stehende „kleine“ Funktion des herkömm7 Vgl. an dieser Stelle nur Günter Krings, in: Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 17 (2003) Rn. 2 ff.: in jüngster Zeit Anhaltspunkte für „eine rückläufige Entwicklung“; den „absoluten Zahlen zum Trotz machen von ihrem Petitionsrecht verhältnismäßig wenig Bürger Gebrauch“; „Überhöhung des Petitionsrechts“ unangebracht; Einfluss von Massenpetitionen „als eher gering zu veranschlagen“; nicht das geeignete Instrument zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung; keine Nähe zu plebiszitären Elementen usw. Ähnlich zurückhaltend ders., JuS 2004, S. 474 (475); vgl. auch Annette Guckelberger, Neue Erscheinungen des Petitionsrechts: E-Petitionen und öffentliche Petitionen, DÖV 2008, S. 85 (85), wonach sich zunehmend die Stimmen mehren, die einen Bedeutungsverlust des Petitionsrechts verzeichnen. 8 Knapper Überblick zu den Debatten unter der Überschrift „Relikt oder anhaltender Bedarf?“ bei Ulrich Riehm/Christopher Coenen/Ralf Lindner/Clemens Blümel, Bürgerbeteiligung durch E-Petitionen, 2009, S. 50 ff.; Näheres bei Bauer (Fn. 5), § 128 Rn. 29 m.w. N. 9 Dazu Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2008, BT-Drucks. 16/13200, S. 10. 10 Zu der historisch herangewachsenen Funktionenvielfalt (Interessen- und Rechtsschutzfunktion; Partizipations- und Integrationsfunktion; Artikulations-, Informationsund Kontrollfunktion; Gnaden- und Purgationsfunktion des Herzausschüttenkönnens) s. Bauer (Fn. 5), § 128 Rn. 14 m.w. N.; ähnlich Christine Langenfeld, Das Petitionsrecht, in: HStR III, 3. Aufl., 2005, § 39 Rn. 9 ff.; Dietlein (Fn. 1), S. 287 f. 11 Günter Dürig, in: Maunz/ders., Grundgesetz, Kommentar, Art. 17 (1960) Rn. 1. 12 Vgl. Michael Brenner, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. I, 6. Aufl., 2010, Art. 17 Rn. 4. 13 Zu solchen Aspekten s. Hartmut Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 17 Rn. 13; ablehnend Krings, JuS 2004, S. 474 (475). 14 Vgl. Rupert Schick, Von der Untertanenbitte zum Bürgerrecht, 3. Aufl., 1996.

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lichen Bitt- und Beschwerderechts und die auf Politikgestaltung15 zielende „große“ Funktion aktiv-bürgerschaftlicher Einwirkung auf politische Entscheidungsprozesse und „politische[r] Mitgestaltung des Gemeinwesens“ 16 ungefiltert aufeinander: Einerseits die leicht angestaubte Ambiance alter Juristenwitze nach der Maxime „formlos, fristlos, fruchtlos“ und des antiquiert-arroganten Umgangs mit „Papierkorbbeschwerden“ 17 – andererseits die frische unverbrauchte Aufbruchstimmung hin zu mehr Demokratie und perspektivisch sogar der Einstieg in die neue Welt von e-Demokratie18. Größer könnten die Gegensätze kaum sein. Dass solche Vorverständnisse den Umgang mit dem Petitionsrecht prägen und die Rechtsfindung in der Praxis steuern können, versteht sich.19 Instruktives Anschauungsmaterial liefern gerichtlich ausgetragene Streitigkeiten im Zusammenhang mit der Erweiterung20 der „Angebotspalette“ des Petitionsausschusses um das Institut der „Öffentlichen Petition“ 21. Bei den Öffentlichen Petitionen22 handelt es sich um Bitten oder Beschwerden von allgemeinem Interesse, die im Einvernehmen mit dem Petenten auf der Internetseite des Petitionsausschusses veröffentlicht werden. Dort können die Internetnutzer in eigenen Foren Diskussionsbeiträge abgeben und ihre Meinung zu der jeweiligen Petition vortragen. Vor allem aber haben auf dieser Plattform weitere Personen die Möglichkeit zur Mitzeichnung der Petition, von der in der Praxis bei einzelnen 15 Vgl. an dieser Stelle nur die Beiträge in Reinhard Bockhofer (Hrsg.), Mit Petitionen Politik verändern, 1999. 16 Kritisch Walter Schmitt Glaeser, Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung, in: HStR II, 1. Aufl., 1987, § 31 Rn. 20: Petitionen „sind von vornherein nicht auf einen politischen Dialog mit der staatlichen Behörde angelegt“, kein „Instrument politischer Willensbildung“, gehören „eher in die Nähe des Rechtsbehelfs als der politischen Mitgestaltung des Gemeinwesens“; diametral anders etwa Heinz Schäffer, Grundrechtliche Organisations- und Verfahrensgarantien, in: HGR VII/1, 2009, § 200 Rn. 1: auch „politisches Recht“. Pointiertes Engagement für die demokratische Funktion des Petitionsrechts bei Karl Korinek, Das Petitionsrecht im demokratischen Staat, 1977; aus der Dissertationsliteratur Michael Hornig, Die Petitionsfreiheit als Element der Staatskommunikation, 2001. 17 Vgl. Dürig (Fn. 11), Art. 17 Rn. 8; Stettner (Fn. 2), Art. 17 Rn. 13. 18 Vgl. Bauer (Fn. 5), § 128 Rn. 29, 31 m.w. N. 19 Verstärkt wird die Bedeutung der Vorverständnisse dadurch, dass die Funktionenvielfalt des Petitionsrechts keine Hierarchie der Funktionen kennt und deshalb der Stellenwert einzelner Funktionen über die Zeiten hinweg immer wieder neu zu bestimmen und auszutarieren ist. 20 Die Erweiterung erfolgte im Zuge der Einrichtung des preisgekrönten Internetportals für e-Petitionen (Fn. 9). 21 Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2008, BT-Drucks. 16/13200, S. 9; Näheres dazu unten III.2. und 3. 22 Zu Definition und Charakteristika der Öffentlichen Petitionen s. vorerst Nr. 2.2 (4) und Nr. 7.1 (4) der Grundsätze des Petitionsausschusses über die Behandlung von Bitten und Beschwerden (BT-Drucks. 17/2100, S. 90 ff.) und die dazu erlassene „Richtlinie für die Behandlung von öffentlichen Petitionen (öP) gem. Ziff. 7.1 (4) der Verfahrensgrundsätze“ (BT-Drucks. 17/2100, S. 97 f.).

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Petitionen weit über hunderttausend Personen Gebrauch machen23. Allein 2009 registrierten sich mehr als 525.000 Nutzer, die in diesem Zeitraum Petitionen über eine Million Mal mit gezeichnet haben24. Bei diesem Befund liegt es auch ohne eingehendere Analyse auf der Hand, dass die Mitzeichnungsoption das politische Druckpotential einer Petition verstärken und am Ende die politische Durchschlagskraft der Eingabe erhöhen kann, zumal bei Erreichen eines Quorums von mindestens 50.000 Unterstützern Einzelaufruf und Anhörung in öffentlicher Ausschusssitzung vorgesehen sind. Damit verbindet sich eine extreme Aufwertung des Petitionsrechts zu einem (quasi-)demokratischen Mitwirkungsrecht, die von den Akteuren genau so gewollt ist. Denn nach Selbstverständnis und Außendarstellung leistet der Petitionsausschuss mit der Bereitstellung des Instruments der Öffentlichen Petition einen wichtigen Beitrag zu „mehr e-Demokratie“ 25. Das bestätigt die auch politisch weichenstellende Bedeutung der rechtlichen Qualifizierung einer Petition als Öffentliche Petition, weil erst diese Zuordnung den Weg in eine breitere öffentlichkeitswirksame Diskussion und vor allem in die elektronische Mitzeichnungsoption ebnet. Deshalb muss es schon im ersten Zugriff überraschen, wenn Verwaltungsgerichte in Streitigkeiten über die Behandlung einer Petition als Öffentliche Petition die an sich einschlägige „große“ Funktion des Petitionsrechts, nämlich die (quasi-)demokratische Funktion nicht einmal erwähnen und stattdessen fallentscheidend auf die „kleine“ Funktion des Petitionsrechts abstellen. Danach ist Grundlage eines solchen Streits das aus Art. 17 GG folgende Recht des Bürgers, „seine Sorgen, Interessen und Anliegen ohne Bindung an bestimmte Verfahrensund Rechtswege und selbst noch nach erfolgloser Beschreitung dieser Wege zur Geltung zu bringen, und [. . .] so mögliche Härten des staatlichen Verwaltungsund Rechtswesens“ zu mildern26. Die Fokussierung auf die kleinen Sorgen und Nöte des Bittstellers blendet die (quasi-)demokratische Funktion bereits im ge23

Näher zu den Zahlen unten III.3. Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2009, BT-Drucks. 17/2100, S. 7. 25 Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2008, BT-Drucks. 16/13200, S. 10. 26 VG Berlin, Beschl. v. 21.03.2007, VG 2 A 12.07, S. 2 m. H. auf BVerwG, Buchholz 11 Art. 17 Nr. 6, S. 4; im Ergebnis mit in der Sache unergiebiger Begründung bestätigt durch OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 11.05.2007, OVG 3 S 31.07/OVG 3 M 27.07. In beiden Verfahren ging es um Eilrechtsschutz und um die Gewährung von Prozesskostenhilfe. In der Sache hatte der Antragsteller und Beschwerdeführer begehrt, eine von ihm erhobene Petition als öffentliche Petition zu behandeln. Vorausgegangen war die Mitteilung des Ausschussdienstes des Petitionsausschusses, er werde die vom (späteren) Antragsteller eingereichte Petition im Rahmen des allgemeinen Petitionsverfahrens behandeln. Die – soweit ersichtlich – in derselben Angelegenheit später ergangene Sachentscheidung nimmt die im Text erwähnte Formulierung wortwörtlich auf (VG Berlin, Urt. v. 04.12.2008, VG 2 A 106.07, S. 3). Das wiederum deutlich später ergangene Urteil des VG Berlin vom 19.07.2010, VG 2 K 213.09, betrifft eine andere Eingabe, dringt aber teils aus Gründen offensichtlich fehlender Zulässigkeit, teils wegen unzureichender Berücksichtigung kritischer Stimmen ebenfalls nicht zu den zentralen Schlüsselproblemen der Öffentlichen Petition vor und verhält sich insbesondere nicht zu 24

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danklichen Ansatz aus und macht es den Gerichten leicht, eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Petitionsrechts zu verneinen, weil die Behandlung der streitgegenständlichen Petition im Rahmen des allgemeinen Petitionsverfahrens gesichert war27. Mehr soll bei einem Streit um die Klassifizierung einer Eingabe als Öffentliche Petition verfassungsrechtlich offenbar nicht verbürgt sein. Der Petitionsausschuss mag darin eine gerichtliche Unbedenklichkeitsbescheinigung für die bisherige Behandlung von Öffentlichen Petitionen sehen, die „gelegentlich geäußerte Bedenken, der Ausschuss bewege sich hier auf rechtlich nicht gesichertem Boden, [. . .] für die parlamentarische Praxis vom Tisch“ wischt.28 Doch spricht eine nähere Analyse der Öffentlichen Petition für eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung. Darauf wird nach einer Vergewisserung von rechtsdogmatischer und rechtspraktischer Bedeutung der Öffentlichen Petition zurückzukommen sein. III. Die Öffentliche Petition in Petitionsdogmatik und Petitionswirklichkeit 1. Über Aufgaben einer Petitionsdogmatik

Die rechtlich gestaltete Wirklichkeit kennt vielfältige Erscheinungsformen von Petitionen, die eine dogmatische Aufbereitung durch die Verfassungsrechtslehre nahelegen. Aufgabe einer wissenschaftlich fundierten Lehre von den Petitionsformen wäre in einem ersten Schritt die zuverlässige Sichtung und Analyse der zahlreichen in der Verfassungspraxis anzutreffenden Petitionsvarianten. Auf dieser Grundlage könnten in einem zweiten Schritt nach bestimmten Kriterien typisierte Erscheinungsformen identifiziert und in eine Ordnung gebracht werden, der sich für die einzelnen Petitionstypen namentlich die jeweiligen Funktionen, Voraussetzungen und Rechtsfolgen entnehmen lassen. Die Typologie könnte zur Transparenz des Petitionswesens beitragen, das Feld für eine systematische Erfassung der Rechtspositionen der Beteiligten im Ordnungsrahmen des Petitionsrechtsverhältnisses aufbereiten29 und damit insgesamt die praktische Handhabung der Eingaben erleichtern. der Frage der Rechtmäßigkeit der Richtlinien, die das Gericht ohne jede Problemsensibilität unterstellt. 27 VG Berlin, Beschl. v. 21.03.2007, VG 2 A 12.07, S. 2. Die daran anschließenden Überlegungen des Gerichts zu einem Anspruch auf Behandlung der streitgegenständlichen Petition als Öffentliche Petition auf unterverfassungsrechtlicher Grundlage beschäftigen sich zwar mit den in Nr. 2.1 der Richtlinie (Fn. 22) genannten Voraussetzungen, äußern sich aber ebenfalls nicht zu der (quasi-)demokratischen Funktion des Petitionsrechts. 28 Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2008, BT-Drucks. 16/13200, S. 10; ähnlich Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2009, BT-Drucks. 17/2100, S. 8. 29 In den einzelnen Entwicklungsstadien der jeweiligen Petitionsrechtsverhältnisse können die daran Beteiligten inhaltlich unterschiedlich strukturierte Rechte und Pflich-

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Eine derart umfassende Dogmatik der Petitionsformen ist bislang freilich allenfalls in groben Grundstrukturen vorhanden. Dazu gehört etwa die an den Petitionsadressaten ansetzende Unterscheidung von „Parlamentspetitionen“ einerseits und „Administrativpetitionen“ andererseits, Letztere mit der geläufigen Unterteilung in Gegenvorstellung, Aufsichtsbeschwerde (mit den beiden Varianten der Fachaufsichts- und der Rechtsaufsichtsbeschwerde) sowie Dienstaufsichtsbeschwerde und der weniger geläufigen Kontaktaufnahme mit moderneren Entwicklungen wie der Mediation30. Bekannt ist auch die vornehmlich an der Zahl der Petenten ansetzende Differenzierung zwischen Einzel-, Sammel- und Massenpetitionen, mit denen sich teilweise unterschiedliche Rechtsfolgen verbinden31. Doch konzentrieren sich solche Typologien zumeist auf das grundgesetzliche Petitionsrecht und insbesondere das Petitionsrecht zum Deutschen Bundestag. Dadurch blenden sie landesrechtliche Parallelen, Besonderheiten32 und Ergänzungen wie die Einrichtung eines Bürgerbeauftragten33 ebenso aus wie variantenreiche Petitionsrechtsgestaltungen im einfachen Gesetzesrecht34. Daher handelt es sich bestenfalls um Teil-Dogmatiken. Mit der gebotenen teilrechtsordnungsübergreifenden Ausrichtung der dogmatischen Durchdringung des Petitionsrechts ist freilich nicht nur die bundesstaatliche Ordnung angesprochen, sondern in der heutigen Mehr-Ebenen-Ordnung längst auch das Petitionsrecht der Europäischen Union, das über die konventionellen Petitionen und die Anrufung

ten haben – so jeweils mit korrespondierenden Pflichten des Petitionsadressaten aus der Sicht der Petenten etwa in der Phase der Vorbereitung Ansprüche auf Unterlassung von Behinderungen, in der Phase der Einreichung Ansprüche auf Entgegennahme, anschließend Ansprüche auf Befassung, sachliche Prüfung, Verbescheidung, Begründung etc.; vgl. dazu und zum Verständnis des „Petitionierens als Aktion“ Bauer (Fn. 13), Art. 17 Rn. 13 f., 32; Brenner (Fn. 12), Art. 17 Rn. 38 ff.; Hans Hugo Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Art. 17 (2005) Rn. 81 ff. 30 Vgl. statt vieler Friedhelm Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 7. Aufl., 2008, S. 19 f. 31 So unterliegen dem Vorbehalt von Art. 17a Abs. 1 GG Sammelpetitionen, grundsätzlich jedoch nicht Einzelpetitionen. Vgl. im Übrigen zu Sonderbehandlungen von Sammel- und Massenpetitionen durch den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages Nrn. 7.1 (3) und (4), 8.1 (2), 8.2.1, 8.4, 9.1.3 der Verfahrensgrundsätze (Fn. 22). 32 Dazu gehören die nach Art. 14 der thüringischen Verfassung zulässige mündliche Form der Petitionseinreichung, die in Art. 24 der brandenburgischen Verfassung in das Petitionsrecht einbezogene Aufforderung zu Kritik, der in einer Reihe von Landesverfassungen vorgesehene „Anspruch auf begründeten Bescheid in angemessener Frist“, facettenreiche Ausgestaltungen der parlamentarischen Behandlung von Petitionen usw.; Näheres bei Bauer (Fn. 5), § 128 Rn. 24 m.w. N. 33 Art. 36 der mecklenburg-vorpommernschen Verfassung, wonach der Bürgerbeauftragte u. a. auf Antrag des Petitionsausschusses tätig wird. 34 Z. B. Art. 56 Abs. 3 Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern; § 16 Kommunalverfassung des Landes Brandenburg (BbgKVerf); § 12 Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen (SächsGemO); zu Nordrhein-Westfalen vgl. Peter Otto Paul Queitsch, Die Prägung des kommunalen Petitionsrechts nach § 6c GO NW durch Art. 17 Grundgesetz, 1992.

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des Europäischen Bürgerbeauftragten35 hinaus seit dem Vertrag von Lissabon auch die Europäische Bürgerinitiative36 kennt, die das Petitionsrecht in spezifischer Weise mit der Rechtsetzung der Union verknüpft. Dies alles sensibilisiert für die Einsicht, dass die Petition als Einheitskategorie nicht existiert, sondern lediglich als Sammelbegriff für in der rechtliche gestalteten Wirklichkeit höchst unterschiedlich durchgebildete Erscheinungsformen dient. Doch mag die teilrechtsordnungsübergreifende Dogmatik des Petitionsrechts an dieser Stelle auf sich beruhen. In dem hier interessierenden Zusammenhang genügt es, das Institut der Öffentlichen Petition dogmatisch genauer zu analysieren. 2. Das Institut der Öffentlichen Petition

Das Institut der Öffentlichen Petition geht zurück auf eine im Jahr 2005 beim Deutschen Bundestag durchgeführte Modernisierung des Petitionswesens. Damals öffnete der Petitionsausschuss das Eingabenrecht für den Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien und beschloss dazu insgesamt drei Neuerungen37, nämlich (1) die von der bisherigen Praxis abweichende38 Möglichkeit der Petitionseinreichung per e-Mail, (2) einen zunächst auf zwei Jahre befristeten Modellversuch „Öffentliche Petition“ und (3) eine Änderung der Verfahrensgrundsätze, wonach bei Sammel- oder Massenpetitionen mit mehr als 50.000 Unterstützern grundsätzlich eine Anhörung eines oder mehrerer Petenten in öffentlicher Ausschusssitzung vorzusehen ist. 35 Vgl. Art. 24 Abs. 2 bis 4, 227 f. AEU, Art. 6 Abs. 1 EU, Art. 41 Abs. 4, 43, 44 GRChEU; zur Ausgestaltung bis zum Vertrag von Lissabon s. Annette Guckelberger, Das Petitionsrecht zum Europäischen Parlament sowie das Recht zur Anrufung des Europäischen Bürgerbeauftragten im Europa der Bürger, DÖV 2003, S. 829 ff.; dies., Der Europäische Bürgerbeauftragte und die Petitionen zum Europäischen Parlament, 2004. 36 Art. 24 Abs. 1 AEU, Art. 11 Abs. 4 EU; dazu Andreas Maurer/Stephan Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative, 2009; Annette Guckelberger, Der Europäische Bürgerbeauftragte, DÖV 2010, S. 745 ff. 37 s. zu den drei Neuerungen Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2005, BTDrucks. 16/2500, S. 10. Bei der sogleich im Text erwähnten Quorums-Regelung handelt es sich freilich um eine allgemeine, vom Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstechnologien (Petitionseinlegung per eMail, Modellversuch „Öffentliche Petition“) unabhängige Ergänzung der Verfahrensgrundsätze für Sammel- oder Massenpetitionen. 38 Bis 2005 hatte der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages e-Mail-Petitionen „aus Rechtsgründen“ als nicht formwahrend eingestuft; vgl. Heribert Schmitz, Einlegung einer Petition durch E-Mail?, NVwZ 2003, S. 1437 (1437), unter Hinweis auf die vom Bundestag angegebene Begründung.

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Für den Modellversuch diente ein seit 2000 erfolgreich eingesetztes System des schottischen Regionalparlaments als Vorbild39. Die Entwicklung des schottischen e-Petitionssystems steht in engem Zusammenhang mit dem im Vereinigten Königreich in den 90er Jahren eingeleiteten Prozess der „devolution“ 40 und sollte „neue Ansätze der demokratischen Mitbestimmung in das sich neu formierende politische System [. . .] integrieren“, und zwar mit dem Ziel, den gestiegenen Ansprüchen an Bürgerbeteiligung zu genügen.41 Ähnlich wie in anderen Ländern versprach man sich von dem Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien im Petitionsverfahren einen Zuwachs an Legitimation, Transparenz, Öffentlichkeit und politischer Teilhabe, kurz: eine Stärkung von e-Demokratie.42 Dieses Ziel verfolgt funktionell auch das beim Deutschen Bundestag nach Beendigung der Versuchsphase inzwischen auf Dauer gestellte43 neuartige Institut der Öffentlichen Petition. Dementsprechend hält der Petitionsausschuss fest, dass er „mit der Einrichtung des Instruments der öffentlichen Petition einen wichtigen Beitrag zu mehr e-Demokratie geleistet hat und weiterhin leistet“ 44. Trotz der vom Petitionsausschuss besonders hervorgehobenen demokratischen Funktion der Öffentlichen Petition finden sich weder im Grundgesetz noch im Petitionsgesetz45 explizite Aussagen zu dieser Institution. Ausdrücklich angesprochen ist die Öffentliche Petition vielmehr erst in nachrangigen Regelwerken, nämlich in den auf § 110 Abs. 1 GOBT gestützten Grundsätzen des Petitionsausschusses über die Behandlung von Bitten und Beschwerden46 (Verfahrensgrundsätze) und in einer dazu erlassenen „Richtlinie für die Behandlung von öffentlichen Petitionen (öP) gem. Ziff. 7.1 (4) der Verfahrensgrundsätze“ 47 (Richtlinie). Nach der in den Verfahrensgrundsätzen enthaltenen „Legaldefinition“ sind Öf39 Ulrich Riehm/Cristopher Coenen/Ralf Lindner, Zur Öffentlichkeit des Petitionsverfahrens beim Deutschen Bundestag und beim Schottischen Parlament, ZParl. 40 (2009), S. 529 (insb. 536 f.). 40 Zu den Rahmenbedingungen vgl. Riehm/Coenen/Lindner, ZParl. 40 (2009), S. 529 (537). 41 Näheres bei Riehm/Coenen/Lindner/Blümel (Fn. 8), S. 134 ff. (Zitat: 135). 42 Vgl. dazu und zum Folgenden Riehm/Coenen/Lindner/Blümel (Fn. 8), S. 13 f., 133 ff. 43 Zu zeitweiliger Fortsetzung des Modellversuchs und dauerhafter Einrichtung vgl. Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2007, BT-Drucks. 16/9500, S. 8 f., und Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2008, BT-Drucks. 16/13200, S. 9; zur Evaluation des Modellversuchs Riehm/Coenen/Lindner/Blümel (Fn. 8), S. 207 ff. 44 Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2008, BT-Drucks. 13200, S. 10; ähnlich Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2007, BT-Drucks. 16/9200, S. 9; Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2009, BT-Drucks. 17/2100, S. 8. 45 Gesetz über die Befugnisse des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages (Gesetz nach Artikel 45c des Grundgesetzes) vom 19.07.1975, BGBl. I S. 1921. 46 Abgedruckt in Anlage 8 zum Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2009 (BT-Drucks. 17/2100, S. 90 ff.). 47 Abgedruckt in Anlage 8 zum Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2009 (BT-Drucks. 17/2100, S. 97 f.).

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fentliche Petitionen an den Deutschen Bundestag gerichtete „Bitten oder Beschwerden von allgemeinem Interesse“ 48. Im Anschluss daran setzt eine Öffentliche Petition nach der Richtlinie voraus, „dass die Bitte oder Beschwerde inhaltlich ein Anliegen von allgemeinem Interesse zum Gegenstand hat und das Anliegen und dessen Darstellung für eine sachliche öffentliche Diskussion geeignet sind“ 49. Daneben müssen Öffentliche Petitionen weiteren Anforderungen genügen50 und insbesondere „unter Verwendung des hierfür vorgesehenen elektronischen Formulars an den Petitionsausschuss eingereicht“ 51 sein. Sind die Voraussetzungen für eine Öffentliche Petition erfüllt und liegen keine Gründe für die Nichtzulassung oder ein Absehen von der Veröffentlichung vor, wird die Öffentliche Petition „im Einvernehmen mit dem Petenten auf der Internetseite des Petitionsausschusses veröffentlicht. Mit der Veröffentlichung erhalten weitere Personen oder Personengruppen über das Internet die Gelegenheit zur Mitzeichnung der Petition oder zur Abgabe eines Diskussionsbeitrages hierzu“ 52. Weitere Rechtsfolge ist die Bearbeitung der Öffentlichen Petition als Sammelpetition53, die bei Erreichen eines Quorums von 50.000 Unterstützern dazu führt, dass die Petition in der Ausschusssitzung einzeln aufgerufen wird54 und grundsätzlich eine Anhörung des oder mehrerer Petenten in öffentlicher Ausschusssitzung erfolgt55. Bei solchen Eingaben haben die Petenten neben dem Anwesenheitsrecht auch ein Rederecht, um ihre Petition eingehender darstellen und erläutern zu können.56 Konzeptionell verbinden sich mit der „Klassifizierung“ 57 einer Eingabe als Öffentliche Petition demnach weitreichende Konsequenzen. Das betrifft nicht allein die für diesen Eingabentyp reservierte Vorhaltung eines Forums für elektronisch geführte Debatten, den mit der Einordnung in diese Petitionskategorie prinzipiell offen stehenden Zugang zu diesem Forum und die dadurch eröffneten Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Öffentliche Meinung58. Hochgradig brisant ist vielmehr auch die Kombination von Internetkommunikation ein48

Nr. 2.2 (4) Satz 1 der Verfahrensgrundsätze (Fn. 46). Nr. 2.2 der Richtlinie (Fn. 47). 50 Zuständigkeit des Petitionsausschusses, möglichst knappe und klare Darstellung von Anliegen und Begründung etc.; vgl. dazu, zu Gründen für eine Nichtzulassung und das Absehen von einer Veröffentlichung im Einzelnen sowie zu weiteren Details der Ausgestaltung ebenfalls die Ausführungen in der Richtlinie (Fn. 47). 51 Nr. 2.1 der Richtlinie (Fn. 47). 52 Nr. 2.2 (4) Satz 2 und 3 der Verfahrensgrundsätze (Fn. 46). 53 Nr. 7.1 (4) der Verfahrensgrundsätze (Fn. 46). 54 Nr. 8.2.1 7. Spiegelstrich der Verfahrensgrundsätze (Fn. 46). 55 Nr. 8.4 (4) der Verfahrensgrundsätze (Fn. 46). 56 Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2009, BT-Drucks. 17/2100, S. 7. 57 Vgl. Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2009, BT-Drucks. 17/2100, S. 7. 58 Dazu allgemein Michael Kloepfer, Öffentliche Meinung, Massenmedien, in: HStR III, 3. Aufl., 2005, § 42. 49

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schließlich der damit verbundenen Option zur elektronischen Mitzeichnung einerseits und den an das Erreichen des Quorums anknüpfenden Rechtsfolgen andererseits. Abweichend von den bei konventionellen Sammelpetitionen eher mühsam-langwierigen Unterschriftensammlungen erlaubt es diese Regelungstechnik bei entsprechender kommunikativer Vorbereitung im Internet nämlich zumindest potentiell, bei einer Öffentlichen Petition auf elektronischem Weg gleichsam in Minutenschnelle die Hürde des Quorums von 50.000 Unterstützern zu überspringen, und zwar mit den erwähnten Konsequenzen des Einzelaufrufs und der öffentlichen Anhörung. In alledem zeigt sich der beträchtliche Mehrwert von elektronischer Informationsplattform und e-Kommunikation, mögen Öffentliche Petitionen im Übrigen auch ebenso wie andere Eingaben nach den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen zu behandeln sein. Oder anders: Die Öffentliche Petition ist gegenüber der „normalen“ Petition in mehrfacher Hinsicht privilegiert.59 Schon allein wegen dieses Mehrwerts kann die Klassifizierungsentscheidung für den Erfolg einer Petition von weichenstellender Bedeutung sein. Nach der die organisations- und verfahrensrechtlichen Details regelnden Richtlinie ist für die Prüfung, ob die Voraussetzungen einer Öffentlichen Petition erfüllt sind, der Ausschussdienst60 zuständig61, der dabei einen strengen Bewertungsmaßstab anzulegen hat. Einen Rechtsanspruch auf Annahme einer Petition als Öffentliche Petition schließt die Richtlinie ausdrücklich aus62 und weist am Ende ihrer Präambel sogar ergänzend darauf hin, dass aus der Ablehnung der Veröffentlichung dem Petenten im Parlamentarischen Prüfverfahren keine Nachteile entstünden. Im Fall einer Veröffentlichung werden davon die Fraktionssprecher unterrichtet. Bei der Ablehnung einer Eingabe als Öffentliche Petition erfolgt die weitere Behandlung nach den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen für Petitionen. 3. Zur praktischen Bedeutung Öffentlicher Petitionen

Zur praktischen Bedeutung führt der Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2009 aus, dass der Erfolg des neuen Instituts der Öffentlichen Petition die Erwartungen des Ausschusses deutlich übertroffen hat: Das System e-Petitionen „wurde zeitweilig sogar zum ,Opfer‘ seines eigenen Erfolges, da es 59 Demgegenüber geht die Richtlinie (Fn. 47) ausweislich ihrer Präambel davon aus, dass dem Petenten aus einer Ablehnung der Veröffentlichung im parlamentarischen Prüfverfahren keine Nachteile entstünden. 60 Bei dem Ausschussdienst handelt es sich um eine dem Petitionsausschuss zugeordnete Unterabteilung für Petitionen und Eingaben mit etwa 80 Mitarbeitern, die zur Abteilung Wissenschaftliche Dienste der Bundestagsverwaltung gehört; vgl. zur Organisation Anlage 4 zum Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2009, BT-Drucks. 17/ 2100, S. 78. 61 s. dazu und zum Folgenden Nr. 5 der Richtlinie (Fn. 47). 62 Nr. 1 Satz 3 der Richtlinie (Fn. 47).

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den ,Ansturm‘ der interessierten Öffentlichkeit nur schwer bewältigen konnte. Innerhalb des Berichtsjahres registrierten sich über 525.000 Nutzer um Petitionen mitzuzeichnen, Beiträge im Forum zu schreiben und nicht zuletzt um Petitionen einzureichen. Das hatte zur Folge, dass [. . .] Petitionen über 1 Million mal mitgezeichnet wurden und mehr als 58.000 Forumsbeiträge verfasst wurden, was der doppelten Anzahl aller in den drei vorherigen Jahren geschriebenen Beiträge entspricht. Bedingt durch diesen erheblichen Zuwachs war es für die Bearbeitung der Eingänge zwingend notwendig, zusätzliche Mitarbeiter mit der Moderation des Internet Forums zu betrauen“ 63. Der große Zuspruch der Nutzer ist ein klares Votum für die Öffentliche Petition. Sie hat sich trotz aller anfänglichen technischen Schwächen offenbar längst zu einer Erfolgsgeschichte entwickelt. Das spricht für sich und bedarf keiner weiteren Kommentierung. Wenigstens kurz sind aber einige ergänzende Schlaglichter auf die Petitionswirklichkeit zu werfen, die exemplarisch die hohe Praxisrelevanz der Öffentlichen Petitionen illustrieren. So haben schon vor Jahren eine ins Internet eingestellte Petition zur „Generation Praktikum“ die Unterstützung von über 100.000 Personen gefunden, eine Eingabe gegen die Einführung von Wahlcomputern über 25.000 Mitunterzeichner aktiviert und für die Abschaffung der Hundesteuer immerhin noch über 15.000 Petenten elektronisch votiert.64 Für das Jahr 2009 verzeichnet der Bericht des Petitionsausschusses im unmittelbaren Vergleich mit den Sammelpetitionen65 für die Öffentlichen Petitionen nicht nur die Eingabe mit der nach der Anzahl der Unterschriften bzw. e-Mitzeichnungen meisten Unterstützern66, sondern auch mehr als doppelt so viele Eingaben mit über 2.000 Unterstützern67. Die Zahlen dokumentieren schon aktuell die große praktische Bedeutung der Öffentlichen Petitionen, die im Segment der „politischen Petitionen“ den herkömmlichen Sammelpetitionen immer mehr Konkurrenz machen und vielleicht sogar auf dem besten Weg sind, ihnen den Rang abzulaufen. Mit dem wachsenden Bekanntheitsgrad dürfte sich dieser Trend künftig noch deutlich verstärken und der e-Petition in den vernetzten Kommunikationsstrukturen moderner e-Welten ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Das schließt die Intensivierung des politischen Druckpotentials in den Arenen von e-Demokratie ebenso ein wie die zunehmende Beeinflussung der Öffentlichen Meinung und reicht bis hin zu einer gewandelten politisch-rechtlichen Petitionskultur.

63

BT-Drucks. 17/2100, S. 7. Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (86) m.w. N. 65 Soweit sie im Berichtszeitraum abschließend behandelt wurden. 66 Für die Gruppe der Sammelpetitionen weist der Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 2009 eine die Reduzierung der Besteuerung von Benzin und Diesel fordernde Eingabe mit 128.196 Unterschriften, für die Kategorie der Öffentlichen Petitionen eine sich gegen die Indizierung und Sperrung von Internetseiten richtende Eingabe mit 134.015 Mitzeichnungen aus (BT-Drucks. 17/2100, S. 64, 72). 67 BT-Drucks. 17/2100, Anlage 1 H. und I. 64

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IV. Verfassungsrechtliche Aspekte der Öffentlichen Petition 1. Verfassungsrechtliche Problemfelder

Obschon die Öffentliche Petition als zeitgemäße Innovation im Eingabewesen gilt und von der Bevölkerung sehr gut angenommen wird, ist sie verfassungsrechtlich alles andere als unproblematisch. Wegen der als zwingend vorausgesetzten elektronischen Einreichung und der Verknüpfung mit der Quorums-Regelung für Sammelpetitionen nimmt die Öffentliche Petition alle drei Ansätze der 2005 erfolgten Petitionsrechtsmodernisierung68 auf und setzt sich daher auch den ganz allgemein gegen die Petitionseinlegung per e-Mail und die Sonderbehandlung bestimmter Petitionstypen vorgetragenen Vorbehalten aus. Entsprechend weitläufig sind die verfassungsrechtlichen Problemfelder69: Bestritten ist schon die Verfassungskonformität der Praxis des Petitionsausschusses, für die Wahrung der Schriftform nach Art. 17 GG einen elektronischen Ersatz der Unterschrift zu akzeptieren70; und die Privilegierung von Sammelund Massenpetitionen71 mit mehr als 50.000 Unterstützern durch Einzelaufruf und Petentenanhörung in öffentlicher Ausschusssitzung soll ohne Verfassungsänderung ebenfalls nicht machbar sein72. Weitere Angriffsflächen bieten unter Gleichbehandlungsaspekten wegen der nicht allen (potentiellen) Petenten gleichermaßen zugänglichen e-Kommunikation die digitale Spaltung der Bevölkerung73, wegen des Abstellens auf große oder kleine Unterstützerzahlen die ungleiche Zuteilung von Realisierungschancen für das Anliegen der Petenten74 und wegen des höheren politischen Druckpotentials netzöffentlich geführter Debatten die Privilegierung der Öffentlichen Petition gegenüber allen anderen Eingabetypen durch die Bereitstellung eines eigenen elektronischen Diskussionsforums75. Hinzu kommen in mancherlei Hinsicht verfassungsrechtlich prekäre Gestaltungen des Verfahrens bei der Behandlung Öffentlicher Petitionen76 und schließlich ganz allgemein ein gewisses Unbehagen gegenüber der tatsächlichen oder ver68

Dazu oben III.2. bei Fn. 37. Vgl. zum folgenden Martin Kellner, Die E-Petition zum Bundestag: Ein Danaergeschenk, NJ 2007, S. 56 ff.; Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (86 ff.); Hans Hugo Klein, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Kommentar, Art. 45c (2005) Rn. 68 f.; Hartmut Bauer, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. II, 2. Aufl., 2006, Art. 45c Rn. 27, Martin Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 5. Aufl., 2009, Art. 17 Rn. 9. 70 Nr. 4 (1) der Verfahrensgrundsätze (Fn. 46); zur Kritik s. etwa einerseits Kellner, NJ 2007, S. 56 (57 ff.), und andererseits Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (86 ff.). 71 Nr. 8.2.1 7. Spiegelstrich und Nr. 8.4 (4) der Verfahrensgrundsätze (Fn. 46). 72 So mit Hinweis auf die intendierte „plebiszitäre Ersatzfunktion“ der Öffentlichen Petition Klein (Fn. 69), Art. 45c Rn. 69. 73 Vgl. Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (90 f.). 74 Klein (Fn. 69), Art. 45c Rn. 69. 75 Vgl. Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (91 f.). 76 Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (92 ff.). 69

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meintlichen Veränderung des „Wesens des Petitionsrechts“, weil die Gefahr bestehe, „dass die ,Petition per Mausklick‘ in die ,Nähe plebiszitärer Elemente‘ rückt“ 77. Im praktischen Ergebnis wurde deshalb wiederholt eine Verfassungsänderung78, zumindest aber eine gesetzliche Regelung79 gefordert, um das vom Petitionsausschuss praktizierte Modell der Öffentlichen Petition auf ein sicheres rechtliches Fundament zu stellen. 2. Zum Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage

Es ist hier nicht der Ort für eine abschließende Würdigung sämtlicher Problemfelder. Stattdessen sind nur einige Aspekte anzusprechen, die am Ende übereinstimmend darauf hinauslaufen, für das neue Institut der Öffentlichen Petition eine gesetzliche Grundlage einzufordern: Nach der erwähnten80 Selbsteinschätzung des Petitionsausschusses leistet das Institut der Öffentlichen Petition einen wichtigen Beitrag zu mehr e-Demokratie. Das stellt die Öffentliche Petition in den Grenzbereich zum demokratischen Prinzip, weckt Assoziationen mit direkt-demokratischen Elementen und setzt diesen Petitionstyp dem Verdacht aus, eine „plebiszitäre Ersatzfunktion“ 81 zu übernehmen. Bei diesem Verständnis liegt es nahe, für eine solche Umfunktionierung sogar eine Verfassungsänderung zu fordern, weil Träger des Petitionsrechts nicht nur Deutsche sind, sondern jedermann ist und die Neuerung deshalb den Kreis der Inhaber demokratischer Mitwirkungsrechte über das Staatsvolk hinaus auf Nichtdeutsche erweiterte82. Indes überschreitet die Öffentliche Petition nach ihrer derzeitigen Ausgestaltung nicht die Grenzlinie zu einem demokratischen Mitwirkungsrecht in den bislang üblichen Formen unmittelbarer Demokratie und insbesondere nicht die Grenzlinie zur Volksinitiative. Dies ändert allerdings nichts an der Fortentwicklung des konventionellen Eingaberechts zu einem (quasi-)demokratischen Mitwirkungsrecht mit einer entsprechenden Verstärkung der Partizipationsfunktion. Die Partizipationsfunktion ist zusammen mit dem Einsatz des Petitionsrechts als politisches Artikulations- und Agitationsinstrument historisch zwar alles andere als neu83. Unter den heutigen Rahmenbedingungen erhält sie 77

Pagenkopf (Fn. 69), Art. 45c Rn. 9 mit Fn. 45. Kellner, NJ 2007, S. 56 (59); Klein (Fn. 69), Art. 45c Rn. 69. 79 Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (94). 80 Oben bei Fn. 44 m.w. N. 81 Klein (Fn. 69), Art. 45c Rn. 69. 82 In diese Richtung Klein (Fn. 69), Art. 45c Rn. 69. Hintergrund ist die seit langem kontrovers behandelte Frage, ob das Petitionsrecht (auch) eine demokratische Funktion hat, deren Beantwortung freilich in gewissem Umfang auch terminologischer Natur ist; vgl. zu dieser Diskussion Langenfeld (Fn. 10), § 39 Rn. 13 m.w. N.; Dietlein (Fn. 1), S. 285 f. 83 Nur beispielhaft sei auf die stürmischen Petitionsbewegungen im Vor- und Umfeld der Revolution von 1848 verwiesen: Allein die Frankfurter Nationalversammlung soll 78

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durch die Öffentliche Petition aber eine völlig neue Qualität. Die Öffentliche Petition nimmt neue Ansätze demokratischer Mitbestimmung auf, verknüpft sie mit moderner elektronischer Kommunikationstechnologie und richtet sie perspektivisch bewusst und gezielt auf eine sich wie auch immer neu formierende politische Welt von e-Demokratie aus. Dieser Qualitätssprung schlägt auf die Ordnungsidee des Petitionsrechts durch und bewirkt dort namentlich im Segment aktiv-bürgerschaftlicher Einwirkung auf politische Entscheidungsprozesse ganz massive Akzentverschiebungen84. Schon allein dies spricht für eine Aktivierung des Gesetzesvorbehalts85 bei der Bereitstellung der Öffentlichen Petition. Das bisherige Regelungswerk86 genügt diesen Anforderungen nicht, weil es sich bei den auf organinternes Geschäftsordnungsrecht gestützten Verfahrensgrundsätzen und der Richtlinie ebenfalls um lediglich parlamentsintern wirkende Normen handelt, die für sich genommen gegenüber Außenstehenden keine Rechtswirkungen entfalten.87 Deshalb ist es eher überraschend, dass die ersten Gerichtsentscheidungen zum Institut der Öffentlichen Petition88 dessen politisch-demokratische Dimension nicht einmal beiläufig ansprechen. Stattdessen konzentrieren sich die Entscheidungen auf Art. 17 GG und dessen „kleine“ Funktion als Bitt- und Beschwerderecht. Auch das überrascht, weil die Funktionenvielfalt des Petitionsrechts89 eine kontextabhängige Interpretation von Art. 17 GG nahelegt, die den in dieser Norm gebündelten, auf Unterlassung und Leistung gerichteten Ansprüchen90 Rechnung trägt. Dem wird eine Reduzierung des Gewährleistungsgehalts von Art. 17 GG nicht gerecht, wonach diese Norm „mit schätzungsweise 25.000 bis 30.000 Petitionen bedacht [worden sein], an denen sich vermutlich 2,5 bis 3 Millionen Menschen beteiligt haben“ (Johann Heinrich Kumpf, Art. Petition, in: HRG III, 1984, Sp. 1639 [1643]). 84 In eine ähnliche Richtung weist die sich nach Pagenkopf (Fn. 69), Art. 45c Rn. 9 mit Fn. 45, abzeichnende „Wesensveränderung“. 85 Einen verfassungsrechtlichen Begründungsansatz liefert dafür die Wesentlichkeitsrechtsprechung, deren Bezugspunkt bekanntlich nicht allein die Grundrechtsrelevanz ist, sondern auch die Bedeutung des jeweiligen Regelungsgegenstandes für das Gemeinwesen. Zu diesen beiden Bezugspunkten vgl. frühzeitig Stern, Staatsrecht I (Fn. 1), S. 812; ders., Staatsrecht II (Fn. 1), S. 574 f. 86 Oben III.2. bei Fn. 45 ff. 87 Kellner, NJ 2007, S. 56 (59); vgl. ferner Schmitz, NVwZ 2003, S. 1437 (1437); allgemein zur formalen Einordnung der Geschäftsordnung und der Verfahrensgrundsätze Wolfgang Graf Vitzthum/Wolfgang März, Der Petitionsausschuß, in: Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 1221 (1233). 88 Fn. 26. 89 Dazu oben Fn. 10. 90 Art. 17 GG gewährleistet ein Bündel unterschiedlich strukturierter subjektiver Rechte, die sich rechtsdogmatisch als Unterlassungs- und Leistungsansprüche erfassen lassen; s. dazu Bauer (Fn. 13), Art. 17 Rn. 14, 32 f.; zustimmend Stettner (Fn. 2), Art. 17 Rn. 37 ff.; Brenner (Fn. 12), Art. 17 Rn. 38; Klein (Fn. 29), Art. 17 Rn. 80; Langenfeld (Fn. 10), § 39 Rn. 30.

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dem Petenten „lediglich [!] das Recht [gibt], dass die angegangene Stelle die Eingabe entgegennimmt, sachlich prüft und ihm die Art der Erledigung mitteilt“ 91. Denn diese auch in der bundesverfassungsgerichtlichen Spruchpraxis anzutreffende Formulierung92 bezieht sich im Kern nur auf die inhaltliche Bearbeitung einer Petition im Rahmen des herkömmlichen Eingabewesens und schließt schon hier weitergehende verfassungsrechtliche Direktiven für die Verfahrensgestaltung nicht aus93. Bei dem modernen, den Anschluss an den technologischen Fortschritt herstellenden elektronischen Eingabewesen geht es dagegen jenseits konkreter Petitionsinhalte und weit über das traditionelle Zugangsrecht zum „Staat“ 94 hinaus zuallererst um den Zugang zu staatlich bereitgestellten Verfahren und Organisationsformen, in denen das Petitionsrecht ausgeübt werden kann. Oder anders: Es geht um den Zugang zu der staatlich vorgehaltenen elektronischen Kommunikationsplattform, auf der das Kommunikationsgrundrecht95 aus Art. 17 GG praktisch und die Durchsetzungskraft des mit der Eingabe verfolgten Anliegens namentlich durch Mitzeichnung erheblich verstärkt werden kann. Auch wenn der Staat durch das Grundgesetz sicher nicht zur Vorhaltung einer derartigen elektronischen Plattform verpflichtet ist, spricht doch vieles dafür, dass er mit deren Einrichtung ein Forum für eine effektive Grundrechtsausübung schafft, das – ohne Blick auf den Inhalt der Eingabe – im gedanklichen Ansatz von Verfassungs wegen für allen Petenten zugänglich sein muss, weil andernfalls das „Petionieren als Aktion“ 96 in einem wichtigen Stadium behindert und beeinträchtigt würde97. Das schließt eine Regulierung des Zugangs zu der Kommunikationsplattform nicht aus98, stellt sie als Eingriff aber unter den Vorbehalt eines 91 VG Berlin, Urt. v. 04.12.2008, VG 2 A 106.07, S. 3; ähnlich VG Berlin, Urt. v. 19.07.2010, VG 2 K 213.09, S. 4. 92 Die ursprünglich auf eine Administrativpetition bezogene Formulierung (BVerfGE 2, 225 [225, 230]) wurde später für Parlamentspetition (vgl. BVerfG, DVBl. 1993, S. 32 [33]) übernommen. 93 Mit solchen, in der konkreten Fallgestaltung allerdings nicht verletzten Direktiven für die Verfahrensweise bei der Behandlung von Eingaben beschäftigt sich etwa BVerfG, Beschl. v. 13.07.1981, 1 BvR 444/78 (abgedruckt bei Bauer [Fn. 69], Art. 45c Rn. 104). 94 Zur Deutung des Petitionsrechts als Zugangsrecht vgl. aus der älteren Literatur Hartwig Sengelmann, Der Zugang des Einzelnen zum Staat (abgehandelt am Beispiel des Petitionsrechts) – ein Beitrag zur allgemeinen Staatslehre, 1965, und aus jüngerer Zeit Wolfgang Hoffmann-Riem, Zum Gewährleistungsgehalt der Petitionsfreiheit, in: Lerke Osterloh/Karsten Schmidt/Hermann Weber (Hrsg.), Festschrift für Peter Selmer, 2004, S. 93 (94 ff.). 95 Zu dieser Kennzeichnung statt vieler Hornig (Fn. 16), und Hoffmann-Riem (Fn. 94), S. 93 f. 96 Fn. 29. 97 Vgl. zum Eingriffscharakter von Beeinträchtigungen und Behinderungen bei Vorbereitungshandlungen wie dem Sammeln von Unterschriften statt vieler Brenner (Fn. 12), Art. 17 Rn. 38 ff.; Langenfeld (Fn. 10), § 39 Rn. 30 ff. m.w. N. 98 Entsprechendes gilt für die völlige Einstellung der Kommunikationsplattform.

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außenwirksamen Gesetzes, das wegen der vorbehaltlosen Gewährleistung des Petitionsrechts zudem den für verfassungsimmanente Schranken geltenden Anforderungen genügen muss. Demnach streitet schon die abwehrrechtliche Grundrechtsdimension für das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage. In dieselbe Richtung weist eine verfahrens- und organisationsrechtliche Betrachtung, weil es sich bei der Öffentlichen Petition um eine grundrechtseffektuierende Verfahrensund Organisationsgestaltung handelt, für die wegen ihrer besonderen Grundrechtsrelevanz der demokratisch legitimierte Gesetzgeber die Verantwortung zu übernehmen hat99. Prekär ist die derzeitige Praxis auch unter dem Aspekt der Gleichbehandlung nach Art. 17 GG (gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG). Das betrifft zunächst die Sonderbehandlung der Öffentlichen Petitionen durch die mehrfache Privilegierung im Verfahren: erhöhte Publizität durch Präsenz im Internet, erhöhtes Druckpotential wegen der Mitzeichnungsoption, gegebenenfalls Einzelaufruf und Anhörung in öffentlicher Ausschusssitzung100. Politisch mag es für diese Sonderbehandlung gute Gründe geben101. Rechtlich ist sie ohne gesetzliche Grundlage schlicht verfassungswidrig. Denn das Grundgesetz kennt bei der Gewährleistung des Petitionsrechts keine Abstufungen zwischen Individualeingaben oder Petitionen mit einer geringen Zahl von Unterstützern einerseits und gemeinschaftlich mit einer hohen Zahl von Unterstützern eingereichten Massen- oder Sammelpetitionen andererseits102. Deshalb ist eine unterschiedliche Dosierung parlamentarischer Aufmerksamkeit für Petitionsanliegen nach Maßgabe der Petentenzahl durch gutgemeinte Verfassungspraxis allein auf der Grundlage organinternen Geschäftsordnungsrechts ausgeschlossen103. Die erwähnten Gerichtsentscheidungen zur Öffentlichen Petition104 nehmen diese Problematik freilich nicht wahr. Beim Stichwort „Gleichbehandlung“ konzentrieren sie sich vielmehr auf einen Anspruch des Petenten darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland eine Petition als Öffentliche Petition behandelt105. Soweit die Judikate diesen Anspruch nicht von vornherein zurückweisen, be-

99 Vgl. dazu näher Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (92 ff.); auch dafür liefert die Wesentlichkeitsrechtsprechung einen verfassungsrechtlichen Begründungsansatz. 100 Die beiden letztgenannten Privilegierungen betreffen freilich alle Sammelpetitionen, was aber nichts an der Ungleichbehandlung gegenüber Individualpetitionen ändert. Zu den Sonderbehandlungstatbeständen s. o. III.2. bei Fn. 52 ff. 101 Vgl. Dietlein (Fn. 1), S. 292. 102 Art. 17a Abs. 1 GG kann mit seiner besonderen Ermächtigung zur Beschränkung des Petitionsrechts bei Sammelpetitionen in dem hier interessierenden Zusammenhang außer Betracht bleiben. 103 Im Ergebnis ebenso Klein (Fn. 69), Art. 45c Rn. 69. 104 Fn. 26 und 27. 105 So ohne wirkliche Begründung mit negativem Ergebnis VG Berlin, Urt. v. 04.12.2008, VG 2 A 106.07, S. 3.

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schäftigen sie sich im Wesentlichen nur mit der Frage einer „willkürlichen“ 106 bzw. aus sachwidrigen Erwägungen107 erfolgenden Zurückweisung der vom Petenten beantragten Behandlung als Öffentliche Petition. Für deren Beantwortung greifen die Entscheidungen auf die Richtlinie108 zurück, die über die tatsächliche Veröffentlichungspraxis Außenwirkung erlangt109 und in Nr. 1 Satz 3 einen „Rechtsanspruch auf Annahme einer Petition als öffentliche Petition“ sogar ausdrücklich ausschließt. Bei der Willkürprüfung am Maßstab der Richtlinie hat in einem Verfahren die in Nr. 2.1 Satz 1 der Richtlinie für eine Öffentliche Petition vorausgesetzte Eignung des Petitionsanliegens „für eine sachliche öffentliche Diskussion“ eine Schlüsselrolle gespielt.110 In dem vorausgegangenen Petitionsverfahren hatte der Petent in der Sache um die Aufhebung von § 144 SGB IX sowie die Verbesserung der dort behandelten Bedingungen in Werkstätten für geistig und seelisch behinderte Menschen und hinsichtlich des Verfahrens um die Behandlung seines Anliegens als Öffentliche Petition gebeten.111 Letzteres wurde vom Ausschussdienst112 abgelehnt, und zwar u. a. mit der vom Gericht bestätigten Begründung, das Anliegen des Petenten „und seine Darstellung [erscheine] für eine sachliche öffentliche Diskussion deshalb ungeeignet, weil fundierte, sachorientierte Diskussionsbeiträge der Allgemeinheit bei dieser speziellen Materie angesichts des anzunehmenden [!] unterdurchschnittlichen Wissens um die Bedingungen in Werkstätten für geistig und seelisch behinderte Menschen bei weiten Teilen der Bevölkerung kaum [!] zu erwarten sind“ 113. Die offenbar ohne jede empirische Basis arbeitende und die spezifische Befindlichkeit Behinderter114 ausblendenden Vermutungen sind hier nicht zu vertiefen. Mit einem Seitenblick auf Polen ist aber wenigstens am Rande kurz darauf hinzuweisen, dass dort der „szalony wozkowicz“ Marek Soltys durch die öffentliche Präsentation der Alltagsprobleme Behinderter zu einer Kultfigur im Kampf um die Rechte Behinderter geworden ist, eine breitere Öffentlichkeit also erkennbar auch dann für sachliche Diskussionen gewonnen werden kann, wenn sie sich dafür zunächst vielleicht wegen „unterdurchschnittlichen Wissens“ um die Lebensbedingungen

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VG Berlin, Beschl. v. 21.03.2007, VG 2 A 12.07, S. 2. VG Berlin, Urt. v. 19.07.2010, VG 2 K 213.09, S. 4. 108 Fn. 47. 109 VG Berlin, Urt. v. 19.07.2010, VG 2 K 213.09, S. 4. 110 VG Berlin, Beschl. v. 21.03.2007, VG 2 A 12.07, S. 3; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 11.05.2007, OVG 3 S 31.07/OVG 3 M 27.07, S. 2; vgl. auch VG Berlin, Urt. v. 19.07.2010, VG 2 K 213.09, S. 4 f. 111 VG Berlin, Beschl. v. 21.03.2007, VG 2 A 12.07, S. 2 f. 112 Zu dessen Zuständigkeit s. Nr. 5 der Richtlinie (Fn. 47). 113 VG Berlin, Beschl. v. 21.03.2007, VG 2 A 12.07, S. 3; bestätigt durch OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 11.05.2007, OVG 3 S 31.07/OVG 3 M 27.07, S. 2, und VG Berlin, Urt. v. 04.12.2008, VG 2 A 106.07, S. 3. 114 Vgl. auch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. 107

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behinderter Menschen nicht interessiert hat115. Hier zeigt sich, dass Petitionen eben auch die Aufgabe haben können, vernachlässigte Themen zu wichtigen Themen zu machen, Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Schieflagen zu wecken und „neue“ Themen auf einer breiteren öffentlichen Basis in die politische Diskussion zu bringen. Die zweifelhafte Begründung sensibilisiert für das Vorprüfungsverfahren und vor allem für die Vorprüfungsbefugnis des Ausschussdienstes, die schon seit langem als problematisch empfunden wird116 und für die Teile der Literatur bis heute aus verfassungsrechtlichen Gründen eine gesetzliche Regelung fordern117. Das Bundesverfassungsgericht118 hat die Befugnis des Ausschussdienstes, in bestimmten Fallkategorien ohne Beteiligung des Petitionsausschusses abschließende Entscheidungen über die Behandelbarkeit einer Petition zu treffen, bekanntlich akzeptiert, wenn die Entscheidung des Ausschussdienstes auf eindeutige Fälle beschränkt ist und der Petitionsausschuss dem Dienst klare, im Einzelfall ohne Schwierigkeiten anwendbare Vorgaben für die Bescheidung derartiger Eingaben gemacht hat. Eine Übertragung dieser Grundsätze auf die Entscheidung über die Annahme einer Petition als Öffentlichen Petition stößt erneut auf neuralgisches Geschäftsordnungsrecht und fordert zu einer gesetzlichen Regelung auf. Nach Nr. 5 der Richtlinie prüft nämlich der Ausschussdienst vor „Annahme einer Petition als öffentliche Petition und deren Einstellung ins Internet [. . .], ob die Voraussetzungen für eine öffentliche Petition erfüllt sind.“ Liegen die Voraussetzungen vor, werden die Sprecher der Fraktionen (Obleute) über die Veröffentlichung unterrichtet. Bei einer Ablehnung durch den Ausschussdienst erfolgt die weitere Behandlung der Petition nach den allgemeinen Verfahrensgrundsätzen. Von der Ablehnung werden die Fraktionssprecher (Obleute) ausweislich der Richtlinien nicht gesondert unterrichtet, sie können aber im anschließenden „normalen“ Petitionsverfahren den Unterlagen entnehmen, dass die Petition ursprünglich als Öffentliche Petition eingereicht wurde.119 Die Verfahrensgestaltung zeigt, dass die 115 Dass auch in Polen das Anliegen von Marek Soltys von den Behörden ignoriert wurde, versteht sich. Vgl. etwa und (Stand: 05.06.2011). 116 Vgl. zur Kritik aus der älteren Literatur nur Monika Schmitt-Vockenhausen, Die Unzulässigkeit des Vorprüfverfahrens bei der Behandlung von Petitionen an den Bundestag durch die Zentralstelle für Petitionen, DVBl. 1980, S. 522 ff.; eingehend Thomas Würtenberger, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 45c (1995) Rn. 84 ff.; zur aktuellen Diskussion etwa Klein (Fn. 69), Art. 45c Rn. 36 ff., und Martin Schulte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. II, 6. Aufl., 2010, Art. 45c Rn. 13 ff. 117 Differenzierte Darstellung und Positionierung bei Schulte (Fn. 116), Art. 45c Rn. 13 ff. m.w. N. 118 Fn. 93. 119 Ausweislich des Berichts des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß § 56a der Geschäftsordnung vom 28.03.

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Befugnisse des Ausschussdienstes bei Entscheidungen über die Annahme oder die Ablehnung einer Öffentlichen Petition nicht auf eindeutige Fälle beschränkt sind. Vielmehr hat der Ausschussdienst einen beträchtlichen „Entscheidungs-“ bzw. „Ermessensspielraum“ 120, der neben der bereits angesprochenen bewertenden Einschätzung, ob das Anliegen der Petition von allgemeinem Interesse und für eine sachliche öffentliche Diskussion geeignet ist, auch zahlreiche weitere Befugnisse einschließt wie das Recht, von der Veröffentlichung abzusehen, wenn der Petent bereits mit Öffentlichen Petitionen im Internet präsent ist oder dem Ausschussdienst die technischen oder personellen Kapazitäten für eine angemessene Bearbeitung der Öffentlichen Petition fehlen121. Dies alles gibt „dem Ausschussdienst einen relativ großen Spielraum, eigentlich zulässige öffentliche Petitionen trotzdem auszuschließen“ 122. Gewiss können Obleute und Petitionsausschuss die Entscheidungen des Ausschussdienstes an sich ziehen und korrigieren.123 Dies ändert aber nichts an der im parlamentarischen Alltag weichenstellenden Filterfunktion der Ausschussdienstentscheidungen, die jedenfalls verfassungspolitisch eine gesetzliche Regelung nahelegen,124 zumal der Ausschussdienst bei Öffentlichen Petitionen im Diskussionsprozess an anderer Stelle auch abschließende Entscheidungen trifft125, über die er die Obleute nicht informiert.

2009, BT-Drucks. 16/12509, S. 104, werden auch im Falle einer Ablehnung „die Obleute der Fraktionen informiert, die gegebenenfalls die Entscheidung der Verwaltung revidieren können“. Das mag guter Praxis entsprechen, ist – soweit ersichtlich – geschäftsordnungsrechtlich so aber nicht ausdrücklich vorgesehen. 120 Dazu und zum Folgenden Ausschussbericht (Fn. 119), S. 103 ff. (Zitate. S. 103, 104). 121 Nr. 4 lit. d und f der Richtlinie (Fn. 47). 122 Ausschussbericht (Fn. 119), S. 103. 123 Die Ablehnung der erwähnten Petition zur Rechtsstellung Behinderter stimmt freilich wenig zuversichtlich, dass diese Kontroll- und Korrekturfunktion auch stets überzeugend wahrgenommen wird. 124 Vgl. auch Guckelberger, DÖV 2008, S. 85 (92 ff.), die wegen der gesteigerten Grundrechtsrelevanz der bewertenden Einschätzung durch den Petitionsausschuss, der vorbehaltenen Zusammenlegung mehrer Petitionen, der Bestimmung eines Hauptpetenten usw. eine gesetzliche Grundlage für die Befugnisse des Petitionsausschusses fordert. 125 So bei der Löschung von Diskussionsbeiträgen „wegen Regelverstoßes“ oder der Entfernung von Beiträgen, „deren Zuordnung zum angegebenen Verfasser Zweifeln unterliegt“, nach Nr. 9.1 und 9.2 der Richtlinie (Fn. 47). Petitionsgrundrechtlich sind auch diese Löschungen prekär, weil am Ende der Diskussion eine Mitzeichnung (und damit eine Petition!) des Verfassers des (vom Ausschussdienst gelöschten) Diskussionsbeitrags stehen könnte; dann stellte sich die Löschung nämlich als Eingriff in eine (vom Schutz des Art. 17 GG mit umfasste) Vorbereitungshandlung dar.

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V. Entwicklungstendenzen des Petitionsrechts In der Gesamtbetrachtung steht das Petitionsrecht heute sicher „nicht im Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit“ 126. Gleichwohl ist das Petitionsrecht alles andere als eine Petitesse und im Grunde eine Erfolgsgeschichte. Der besondere Reiz des mitunter als „Urinstitution“ 127 bezeichneten Rechts liegt in dessen historisch herangewachsener Funktionenvielfalt128, die dazu auffordert, von der Untertanenbitte über Rechtsschutzanliegen bis hin zum (quasi-)demokratischen Mitwirkungsrecht die einzelnen teleologischen Eckpfeiler des Petitionsrechts zeitgemäß immer wieder neu zu akzentuieren und fortzuentwickeln. Das macht das sich in vielerlei Hinsicht gegen gängige systematische Einordnungen sperrende Petitionsrecht entgegen dem ersten Anschein deutschland-, europa- und weltweit zu einem für die Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens wichtigen und dogmatisch ausgesprochen interessanten Grund- und Menschenrecht und zugleich zu einem wissenschaftlichen Desiderat. Aktuell besonders brisant ist die „demokratische Funktion“, bei der schon unklar ist, ob dem Petitionsrecht überhaupt eine solche Funktion zukommt129. In der Praxis sorgt jedenfalls die Öffentliche Petition, die in amtlichen Dokumenten130 als ein Mehr an e-Demokratie gefeiert wird, für Aufmerksamkeit und in über die Zulassung einer Öffentlichen Petition geführten Rechtsstreitigkeiten auch für allerlei Irritationen. Bei der Öffentlichen Petition handelt es sich nicht etwa nur um eine mit Zustimmung des Petenten veröffentlichte Petition herkömmlichen Zuschnitts, sondern um einen nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen von herkömmlichen Petitionen klar abgesetzten, völlig neuartigen besonderen Petitionstyp, der moderne Informations- und Kommunikationstechnologien für Petitionsprozesse nutzt. Die Öffentliche Petition wird von der Bevölkerung gut angenommen, fördert und unterstützt Kommunikationsprozesse, effektuiert 126

Hoffmann-Riem (Fn. 94), S. 93. Hans Ludwig Rosegger, Petitionen, Bitten und Beschwerden, 1908, S. 1; vgl. auch Korinek (Fn. 16), S. 8. 128 Näheres zur bis heute anhaltenden Funktionenvielfalt bei Bauer (Fn. 5), § 128 Rn. 14 ff., 36 f., 57 m.w. N. 129 Klaus Sterns Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland liefert dafür einen anschaulichen Beleg. Dort ist in Bd. III/2 § 96 IV 2 a a das Petitionsrecht zusammen mit den Wahl- und Stimmrechten (Art. 38 GG) und dem Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 GG) ohne jedes Wenn und Aber den politischen Mitwirkungsrechten zugeschlagen, die den status activus des Bürgers verkörpern und die Möglichkeit eröffnen sollen, „an der Staatswillensbildung teilzuhaben“; dementsprechend vermittelten diese Rechte „demokratische Grundpositionen“ (Staatsrecht III/2 [Fn. 1], S. 1796). Ganz anders liest es sich in Bd. IV/2 § 115 V 1. Danach sind die dem Bürger im Rahmen seines status activus eingeräumten Stimmrechte bei Wahlen und Abstimmungen „etwas völlig anderes [. . .] als die durch Art. 17 eröffnete Möglichkeit individueller [. . .] Grundrechtsausübung“ (Dietlein [Fn. 1], S. 286, unter Hinweis auf Hans Hugo Klein; im Original hervorgehoben). 130 Vgl. Fn. 44. 127

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das Petitionsgrundrecht und dessen Ausübung und ist nach allen bisherigen Erfahrungen politisch zu begrüßen. Sie hat aber bislang ein ganz entscheidendes Manko: Sie ist nicht gesetzlich geregelt. Gerade weil das Petitionsrecht wegen seiner Multifunktionalität leicht überfordert wird,131 überzeugt das Fehlen einer gesetzlichen Grundlage nicht. Bei der unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen notwendigen Neu-Justierung des Petitionrechts ist deshalb für die Öffentliche Petition eine gesetzliche Grundlage zu fordern, die wegen der gebotenen Außenwirksamkeit über das Regelwerk aus Geschäftsordnungsrecht, Verfahrensgrundsätzen und Richtlinie hinausgeht.

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Riehm/Coenen/Lindner/Blümel (Fn. 8), S. 52.

Der grundrechtliche Schutz von Geschäftsgeheimnissen Von Florian Becker I. Einleitung Es fällt leicht, in dem Œuvre des Gelehrten Klaus Stern einen Anknüpfungspunkt für einen ehrenden Festschriftenbeitrag zu finden – hat er sich im Laufe der Zeit doch mit nahezu allen Fragen des öffentlichen Rechts in dieser oder jener Form einmal befaßt. Daß die Grundrechte hier in den letzten Jahren eine hervorgehobene Rolle gespielt haben, läßt sich nicht nur anhand der nunmehr erschienenen letzten Bände seines opus magnum illustrieren. Auch der gemeinsam mit seinem viel zu früh verstorbenen Schüler Peter J. Tettinger herausgegebene „Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta“ sowie der gemeinsam mit dem Autor dieser Zeilen herausgegebene „Grundrechte-Kommentar“ legen hiervon Zeugnis ab. Den Grundrechte-Kommentar hat Klaus Stern nicht allein in seiner unnachahmlichen Manier mit einer Analyse der „Hauptprinzipien des Grundrechtssystems des Grundgesetzes“ eingeleitet. Bei der Planung des Werks war es ihm auch ein besonderes Anliegen gewesen, mit Art. 13 GG ein Grundrecht zu kommentieren, das in den letzten Jahren sowohl textlich als auch im Hinblick auf seine tatsächliche Bedrohungslage erhebliche Wandlungen erfahren hat. Bekanntlich gewährleistet Art. 13 GG dem einzelnen das Recht, in seinen Wohnräumen „in Ruhe gelassen zu werden“.1 Das Bundesverfassungsgericht hat indes schon früh Geschäfts- und Betriebsräume ebenfalls an diesem Schutz teilhaben lassen.2 Auch Unternehmen sind damit nach Art. 13 GG i.V. m. Art. 19 Abs. 3 GG grundrechtsberechtigt.3 Diese genießen aber keine Individuen ähnliche „Privatheit“, sondern suchen vielmehr den Schutz ihrer geschäftlichen räumlichen Sphäre nach. Art. 13 GG ist aber nur ein Ausschnitt eines in der Verfassung umfassend angelegten Schutzes der Privatheit, die – wie das Bundesverfassungsgericht erst jüngst wieder festgestellt hat – durch eine ganze Reihe von Grundrechten in einem Wirkungsverbund gewährleistet wird. Hierzu zählen neben Art. 13 GG auch Art. 10 GG und verschiedene Ausprägungen des allge1

BVerfGE 109, 279 (313); vgl. schon BVerfGE 51, 97 (107). BVerfGE 32, 54 (68 ff.); auch mit internationalen Bezügen hierzu: Stern, in: ders./ Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 13, Rn. 31 ff., 145. 3 Vgl. Stern (Fn. 2), Art. 13 Rn. 37 m.w. N. 2

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meinen Persönlichkeitsrechts, insbesondere das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung.4 Während nicht nur im Hinblick auf Art. 13 GG 5, sondern auch auf Art. 10 GG6 anerkannt ist, daß der entsprechende Freiheitsschutz nicht nur individuellen Grundrechtsträgern, sondern nach Art. 19 Abs. 3 GG auch juristischen Personen zukommt, ist nach wie vor nicht geklärt, in welchem Umfang sich eine juristische Person, etwa ein Unternehmen, auch auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung berufen kann. II. Ein einführendes Beispiel Die schneidende Schärfe eines unbefangenen Umgangs mit Unternehmensdaten wird an der bundesweit bekannt gewordenen sog. „Pankower Ekelliste“ deutlich.7 Das Veterinär- und Lebensmittelaufsichtsamt Berlin Pankow hat sich insoweit besonders hervorgetan und ein Informations- und Bewertungssystem eingerichtet, das bundesweite Beachtung erlangt hat. Die Behörde veröffentlicht seit März 2009 als Element des sog. Smiley-Projekts Ergebnisse ihrer Lebensmittelkontrollen im Internet. Das Projekt besteht aus zwei Komponenten. Erstens wird solchen Gaststätten, die bei Kontrollen ein überdurchschnittliches Ergebnis erzielt haben, die Möglichkeit geboten, sich in eine Positivliste aufnehmen zu lassen. Zweitens wird eine weitere Liste geführt, in der negative Kontrollergebnisse gesammelt werden. Diese Liste wird informell auch als „Ekelliste“ bezeichnet. Beide Listen werden auf der Internetseite der Behörde veröffentlicht. In der „Ekelliste“ findet sich der Name der kontrollierten Gaststätte, die Adresse und eine Beschreibung der beanstandeten Mängel unter Angabe des Datums der Kontrolle und einer möglichen Nachkontrolle. Zudem dokumentiert die Behörde bei einigen Gaststätten seit Mai 2009 deren Mängel durch Fotos, die an Deutlichkeit keine Wünsche offen lassen.8 Nach Angabe der Behörde werden in der Negativliste nur solche Betriebe veröffentlicht, die gegen das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch sowie gegen Rechtsakte der Europäischen Union (EU) verstoßen haben. Die veröffentlichten Verstöße sind „bedeutend“ 9 und erfüllen nach Angabe der Behörde mindestens den Tatbestand einer Ordnungswidrigkeit.10 4

BVerfGE 118, 168 (184). s. o. Fn. 2. 6 BVerfGE 100, 313 (356). 7 In dem Fall der Pankower Ekelliste; vgl. Becker/Blackstein, NJW 2011 (i. Ersch.). 8 Beschreibung des Inhalts der Negativliste http://www.berlin.de/ba-pankow/verwal tung/ordnung/smiley.html. Zuletzt aufgerufen am 12.1.2011. 9 Unbedeutende Verstöße werden nicht veröffentlicht: http://www.berlin.de/ba-pan kow/verwaltung/ordnung/smiley.html. Zuletzt aufgerufen am 12.1.2011. 10 Die Informationen der Behörde lassen allerdings die Frage offen, ob dieser Verstoß bereits bindend durch einen Bußgeldbescheid oder gar gerichtlich in einem ordnungsgemäßen, rechtsstaatlichen Anforderungen genügenden Verfahren festgestellt wurde oder ob es sich lediglich um eine außerhalb bzw. im Vorfeld eines Verfahrens 5

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Das Smiley-Projekt und insbesondere die Publikation der Negativliste haben eine intensive Diskussion über die Zulässigkeit aktiver staatlicher Verbraucherinformation über das Internet entfacht. Das Ausmaß der Diskussion dürfte die Initiatoren des Projekts überrascht haben, da erstmals im September 2010 eine umfassende rechtliche Beurteilung des bereits im Jahre 2007 angestoßenen Projekts vorgelegt wurde,11 nachdem in der juristischen Literatur bereits erhebliche und grundlegende Kritik an dem Vorgehen laut geworden war.12 Das vorgelegte Gutachten geht nicht nur in Anlehnung an die höchst fragwürdige und weitgehend abgelehnte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts13 davon aus, daß in der Veröffentlichung der Daten kein Grundrechtseingriff liegt und andernfalls dieser lediglich an Art. 12 GG zu messen ist.14 Gerade der letztgenannte Aspekt soll hier hinterfragt werden. Berührt die Veröffentlichung von unternehmensbezogenen Daten tatsächlich bestenfalls die Berufsfreiheit des Unternehmens? Oder kann dieses sich nicht in dem gleichen oder einem ähnlichen Maße wie das Individuum auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung berufen? III. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung In der Leitentscheidung des deutschen Datenschutzrechts, dem Volkszählungsurteil aus dem Jahr 198315, hat das Bundesverfassungsgericht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des individuellen Grundrechtsträgers aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet. 16 Durch dieses Recht wird dem Einzelnen verfassungsrechtlich zugebilligt, selbständig über die Preisgabe und Verwendung „seiner“ Daten verfügen zu können.17 Es handelt sich bei den fraglichen gewonnene Annahme der Behörde handelt. Jedenfalls sind die entsprechenden Verstöße nicht Gegenstand eines laufenden Verfahrens, da die Behörde sie ansonsten nicht hätte publizieren dürfen; vgl. § 2 Nr. 1b VIG, der eine Veröffentlichung von Informationen bis zum Abschluß eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens ausschließt. 11 Schink, Transparenz in der Lebensmittelüberwachung, Rechtsgutachten zur Zulässigkeit des Berliner Smiley-Modells im Auftrag der Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz (auf www.berlin.de greifbar; zuletzt aufgerufen am 12.1.2011. 12 Holzner, NVwZ 2010, 490; Böhm/Lingenfelder/Voit, in: Auswertung der Anwendungserfahrungen mit dem Verbraucherinformationsgesetz (VIG) sowie Erarbeitung von konkreten Empfehlungen für Rechtsänderungen, erstellt für die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE), Bonn April 2010, S. 283 f.; Tsambikakis/Wallau, StraFo 2010, 177 ff.; Wallau, ZLR 2010, 382; Mettke, ZLR 2009, 399 ff.; Wiemers, ZLR 2009, 413 ff.; Grube/Immel, ZLR 2009, 649 ff. 13 BVerfGE 105, 252 ff.; 105, 279 ff.; 113, 63 ff.; vgl. aber hiergegen nur Murswiek, NVwZ 2003, 1 ff.; Huber, JZ 2003, 290 ff.; Hellmann, NVwZ 2005, 163 ff. 14 Schink (Fn. 11), S. 13 ff., 29. 15 BVerfGE 65, 1. 16 BVerfGE 65, 1 (43). 17 BVerfGE 65, 1 (43); 118, 168 (184), Horn (Fn. 2), Art. 2 Rn. 50.

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personenbezogenen Daten um Angaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person.18 Davon sind nicht nur tatsächlich intime Angaben wie Krankheiten oder peinliche Umstände wie ein negativer Kontostand umfaßt, sondern auch banal erscheinende Informationen wie etwa die Schuhgröße, die keineswegs aus der engeren Privatsphäre stammen und die für sich genommen keine oder geringe Persönlichkeitsrelevanz besitzen.19 Aber gerade die Möglichkeit der Verknüpfung mit anderen ebenso belanglos erscheinenden Daten mittels moderner Datenbanktechnologie zur Bildung eines umfassenden Profils kann nach dem Bundesverfassungsgericht die „Furcht vor einer unkontrollierbaren Persönlichkeitserfassung“ auslösen.20 Daher sind sämtliche Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person von dem Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung umfaßt.21 Die bereits zu Beginn der 1980er Jahre durch das Bundesverfassungsgericht identifizierten Gefahren einer Verarbeitung und Verknüpfung von an sich belanglos scheinender Daten, die dann in ihrem Zusammenwirken eine eigene Brisanz entfalten, haben sich durch die moderne Informationstechnologie potenziert. Datenverarbeitung und -verknüpfung sind ungleich leichter und effektiver geworden. Eine Veröffentlichung von Daten im Internet führt zu deren permanenten weltweiten Verfügbarkeit. Die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an die Rechtfertigung von Eingriffen in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung durch Datenerhebung, -verarbeitung und Datennutzung oder -publikation sind anspruchsvoll.22 Einschränkungen dieses Freiheitsrechts sind nur bei überwiegendem Allgemeininteresse und aufgrund einer ausdrücklichen gesetzlichen Befugnisnorm zulässig, deren Voraussetzungen der Intensität des Eingriffs gerecht werden müssen.23 Besondere Bedeutung haben insoweit auch die Gebote der Bestimmtheit und der Normenklarheit der ermächtigenden Vorschrift.24 Die Rechtfertigung eines Eingriffs ist umso anspruchsvoller je intensiver die Daten den privaten Bereich ihres Inhabers betreffen und je nachhaltiger sie benutzt werden sollen.25 18 Diese Definition wurde in Anlehnung an das BVerfG in § 3 Abs. 1 BDSG sowie in den entsprechenden Vorschriften der Länder niedergelegt. 19 BVerfGE 65, 1 (45); 120, 274 (312); Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz, 10. Aufl. 2009, Art. 2 Rn. 44; Horn (Fn. 2), 2 Rn. 50. 20 BVerfGE 65, 1 (3); Becker, in: Hill/Schliesky (Hrsg.), E-Volution des Rechts- und Verwaltungssystems, 2010, S. 57 (62). 21 Definition des personenbezogenen Datums aus § 3 Abs. 1 BDSG. 22 Vgl. Vogelgesang, Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung?, 1987, S. 66 ff. 23 BVerfGE 92, 191 (197). 24 Vgl. zuletzt BVerfGE 118, 168 (186). 25 Di Fabio, in: Maunz/Dürig et al. (Hrsg.), Grundgesetz (Stand der Bearb.: 2010), Art. 2 Abs. 1 Rn. 181.

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Verdeckte Ermittlungen durch heimliche Beobachtung oder den Einsatz versteckter Erhebungsmittel sind dabei strengeren Maßstäben unterworfen als offene, für jedermann und insbesondere den Betroffenen erkennbare. Zudem unterscheidet sich die Eingriffsintensität und damit auch die Rechtfertigungslast danach, ob die fraglichen Daten unmittelbar durch Befragung des Betroffenen erhoben werden oder ob Dritte befragt und die Daten daher mittelbar erhoben werden. Von besonderer Bedeutung ist der prozedurale Aspekt des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung, aufgrund dessen der Gesetzgeber „mehr als früher auch organisatorische und verfahrensrechtliche Vorkehrungen zu treffen [hat], welche der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegenwirken.“ 26 Das Bundesverfassungsgericht hat aber nicht nur in den auf das Urteil folgenden Jahrzehnten die Konturen des so geschaffenen Grundrechts weiter geschärft und den gewährten Schutz auf Tatbestands- wie auf Schrankenebene verstärkt.27 Auch der grundrechtliche Schutz der Privatheit wurde gegenüber neuartigen technischen Gefahren weiter ausgebaut.28 Allerdings änderte sich dabei zunächst nicht die Fokussierung des Gerichts auf das Individuum,29 die gleichsam ein Residuum aus der Geburtsstunde des Grundrechts darstellt, in der „in erster Linie das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht“ zum Prüfungsmaßstab erhoben worden war.30 Diese ursprüngliche Fixierung auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als in der Menschenwürde angelegtes Individualgrundrecht hat lange Zeit die Sicht auf die Tatsache versperrt, daß auch juristische Personen Inhaber von Daten sein können und einen entsprechenden Schutzbedarf aufweisen. Dennoch hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit juristischer Personen, sich durch Vermittlung von Art. 19 Abs. 3 GG auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht im allgemeinen zu beziehen31 ebenso ausdrücklich offen gelassen wie zunächst auch die Möglichkeit einer Bezugnahme auf dessen besonderen Aspekt der informationellen Selbstbestimmung.32 Wenn das Gericht aber eine Inanspruchnahme des Persönlichkeitsrechts ablehnte, geschah dies nicht etwa, weil das allgemeine Persönlichkeitsrecht seine Grundlage auch in Art. 1 Abs. 1

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BVerfGE 65, 1 (44). BVerfGE 120, 378 (397); s. a. 113, 29 (46); 115, 166 (188); 115, 320 (341 f.); 118, 168 (184). 28 Vgl. nur das in BVerfGE 120, 274 geschaffene Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme. 29 Vgl. die ausdrückliche Bezugnahme auf den „Einzelnen“ zuletzt in BVerfGE 120, 378 (397). 30 BVerfGE 65, 1 (41). 31 BVerfGE 95, 220 (241); 118, 168 (202). 32 Offen gelassen wurde die Anwendung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung auf juristische Personen etwa in BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NJW 2001, 811. 27

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GG findet, sondern vielmehr, weil in einem konkreten Fall das Wesen des in Anspruch genommenen Grundrechts einer Übertragung auf eine juristische Person entgegenstand.33 Indes kann beispielsweise das Steuergeheimnis „gegebenenfalls“ auch „durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 und Art. 14 GG, in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG“ zu schützen sein.34 Letztlich behält sich das Gericht eine Einzelfallbetrachtung vor. Diese Vorgehensweise erlaubt dem Betrachter zunächst lediglich die Feststellung, daß Art. 19 Abs. 3 GG keine Erstreckung des Schutzbereichs des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zuläßt, wenn Aspekte berührt sind, die nur natürlichen Personen wesenseigen sein können.35 Bis zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 200736 war es einigermaßen unklar, ob sich das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung als ein (wichtiger) Aspekt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts für eine solche Erstreckung auf juristische Personen anbietet. In der Literatur sind Aussagen nachweisbar, nach denen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aufgrund seiner Ableitung aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG stets individualbezogen ist und daher nicht über Art. 19 Abs. 3 GG auf Personenmehrheiten anwendbar sein kann.37 Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewinnt hiernach gerade erst durch das Zusammenwirken von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG die Kontur, die seinen Mehrwert gegenüber der allein aus Art. 2 Abs. 1 GG gewonnenen allgemeinen Handlungsfreiheit begründet und seine gegenüber dieser deutlich erschwerte Einschränkbarkeit rechtfertigt.38 Unternehmensdaten wären nach dieser Sicht der Dinge nur dann mittelbar durch das (individualbezogene) Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützt, wenn sie auf dessen Mitarbeiter „durchschlagen“,39 also Rückschlüsse auf die konkreten Personen ermöglichen.40

33 Es ging in dem konkreten Fall um den Schutz vor dem Zwang zur Selbstbezichtigung: „Bei dem Zwang zur Selbstbezichtigung verhält es sich so. Der Zwiespalt, in den ein solcher Zwang den Einzelnen führt, muß vor allem aus Gründen der Menschenwürde vermieden werden (vgl. BVerfGE 56, 37 [42, 49]). Dieser Bezug schließt eine Erstreckung auf juristische Personen aus. Eine Lage, wie sie der Zwang zur Selbstbezichtigung für natürliche Personen heraufbeschwört, kann bei ihnen nicht eintreten.“ BVerfGE 95, 220 (241). 34 BVerfGE 67, 100 (141); vage hingegen BVerfGE 77, 1 (47). 35 Di Fabio (Fn. 25), Art. 2 Abs. 1 Rn. 224. 36 BVerfGE 118, 168. 37 Bär, BayVBl. 1994, 427 (430); Schoch, JURA 2008, S. 352 ff. (356). 38 Vgl. Jarass, NJW 1989, 857 (860). 39 Gola/Schomerus, in: dies. (Hrsg.), BDSG, 10. Aufl. 2010, § 3 Rn. 11a. 40 In der Negativliste des Bezirks Berlin-Pankow finden sich zwar lediglich die Namen und Adressen von Gaststätten und nicht die Namen von deren Inhabern. Die verbreiteten Informationen genügen jedoch, um die Inhaber der Gaststätte zu ermitteln und damit auch Informationen über deren persönliche Verhältnisse und damit auch deren gewerbe- bzw. gaststättenrechtliche Zuverlässigkeit zu erlangen.

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Auf europäischer Ebene ist die grundrechtliche Lage vergleichbar. Art. 8 EU GRCh enthält ein dem deutschen Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung funktionsgleiches Recht. Diese Vorschrift schützt vor allem natürliche Personen und auch hier wird diese Fixierung auf den Bezug des Grundrechts zur (dann europäischen) Garantie der Menschenwürde zurückgeführt.41 Jüngst hat der EuGH für die Ebene des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes unter Bezugnahme auf Art. 8, Art. 52 I EU GRCh für einen Fall der „Transparenz“ privater Daten im Internet (Veröffentlichung von Agrarsubventionen nach Höhe und Empfänger) bestätigt, daß „sich juristische Personen . . . auf den durch die Art. . . . 8 der Charta verliehenen Schutz nur berufen [können], soweit der Name der juristischen Person eine oder mehrere natürliche Personen bestimmt.“ Dies ist der Fall, wenn der „Name der betreffenden Gesellschaft unmittelbar natürliche Personen [bestimmt], die deren Gesellschafter sind.“ 42 Und selbst wenn dies der Fall sein sollte, ist der prinzipiell gegebene Grundrechtsschutz leichter einzuschränken als bei einer natürlichen Person.43 Der Ausgangspunkt dieser restriktiven Anwendung ist indes zu hinterfragen. Kann man die ursprüngliche Ableitung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im allgemeinen und des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung im besonderen aus Art. 1 Abs. 1 GG als Grund dafür heranziehen, daß Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse juristischer Personen von dem Schutzbereich dieses besonderen, in seiner Schutzintensität von Art. 2 Abs. 1 GG deutlich zu unterscheidenden Grundrechts nicht erfaßt sind? In dieser lange akzeptierten Differenzierung des Schutzniveaus von privaten Daten einerseits und Unternehmensdaten andererseits wird ein Spannungsverhältnis deutlich, daß das aktuelle Verständnis des staatlichen und gesellschaftlichen Umgangs mit Informationen prägt: Auf der einen Seite steht eine erhebliche Sensibilität mit Blick auf den Zugriff auf private Daten und deren Verfügbarkeit nicht nur für den mißtrauisch beäugten Staat, sondern auch für andere, ähnlich übermächtig erscheinende Interessierte. Es sei nur an die Diskussion um „google streetview“ erinnert. Auf der anderen Seite wächst das Interesse an fremden Daten ebenso wie das Gefühl, einen Anspruch auf deren Kenntnis zu haben. Dieses Gefühl wird durch eine breit angelegte Entwicklung der Gesetzgebung auf nationaler und europäischer Ebene verstärkt, deren Anliegen es ist, Staat und Verwaltung transparenter zu machen. Zu nennen sind insoweit etwa das Umweltinformationsgesetz, Informationsfreiheitsgesetze von Bund und Ländern sowie das Gesetz zur Verbesserung der gesundheitsbezogenen Verbraucherinformation (VIG). Allerdings entstammen die Informationen und Daten, um die es hier geht, nur 41

Vgl. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), EU GRCharta, 2. Auflage 2006, Art. 8 Rn. 18. EuGH, Urt. v. 9.11.2010 – verb. Rs. C 92 und 93/09, Rn. 52 f.; veröffentlicht in: EuZW 2010, 939. 43 EuGH (Fn. 42), Rn. 87 ff. 42

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selten dem originär staatlichen Bereich. Zumeist werden sie von Privaten erhoben, bevor sie dann in den staatlichen Funktions- und Verfügungsbereich übergehen. Dabei ist nicht nur die ursprüngliche Datenerhebung, sondern auch die dann folgende weitere Datenverwendung insbesondere durch deren Weitergabe an Dritte ein Eingriff in die Grundrechte des ursprünglichen Dateninhabers. IV. Der Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen nach Art. 12, 14 GG und Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 19 Abs. 3 GG Ein verbreitetes Argument, mit dem die Ausdehnung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung auf Unternehmen abgewendet werden soll, stützt sich auf den Grundrechtsschutz des Unternehmens im übrigen.44 Tatsächlich sind verschiedene Aspekte des Schutzes von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen bereits durch die Wirtschaftsgrundrechte der Art. 12, 14 GG abgedeckt, die ohne weiteres gem. Art. 19 Abs. 3 GG auch auf juristische Personen anwendbar sind.45 Daß aber der so gewährleistete Schutz der „Privatheit“ des Unternehmens deutlich schwächer ausfallen muß als der des Individuums liegt auf der Hand, wenn man Schutzbereich und Schranken dieser Grundrechte betrachtet. Die Berufsfreiheit schützt das Unternehmen etwa davor, betriebsbezogene Informationen zusammenstellen und preisgeben zu müssen.46 Das Bundesverwaltungsgericht geht sogar so weit zu behaupten, daß sich „das Recht auf informationelle Selbstbestimmung . . . auch aus Artikel 14 GG [ergibt], auf den sich die Kl. gem. Artikel 19 GG Absatz 3 GG zu berufen vermag“.47 Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb ebenfalls von Art. 14 Abs. 1 GG geschützt ist.48 Nur soweit die entsprechenden Daten Elemente des geistigen Eigentums49 des Dateninhabers sind (z. B. Forschungsergebnisse), werden diese auf jeden Fall unmittelbar durch Art. 14 GG geschützt.

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Z. B. Di Fabio (Fn. 25), Art. 2 Abs. 1, Rn. 225; Jarass, NJW 1989, 857 (860). So Di Fabio (Fn. 25), Art. 2 Abs. 1 Rn. 225 unter Hinweis auf Kunig, Jura 1993, 595 (599); insoweit aber kritisch Wilms/Roth, JuS 2004, S. 577 (579 ff.). 46 BGH NJW 1991, 1246 ff. (1247); vgl. auch Knemeyer, DB 1993, 721 ff. (722, 724); ders., NJW 1984, 2241 (2254); Vogelgesang (Fn. 22), S. 107 ff.; Scholz/Pitschas, Informationelle Selbstbestimmung und staatliche Informationsverantwortung, 1984, S. 98 f. 47 BVerwG, NVwZ 2002, 1522 ff. (1524) unter Bezugnahme auf BVerfGE 67, 100 (142 f.); 77, 1 (47); hiergegen wohl Wolff, NJW 1997, 98 ff., nach dem der verfassungsrechtliche Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen auf Art. 12 GG begrenzt sein soll. 48 Zu dieser Frage Becker (Fn. 2), 2010, Art. 14, Rn. 67 ff. 49 Zu dem geistigen Eigentum als Schutzgegenstand von Art. 14 Abs. 1 GG: Becker (Fn. 2), Art. 14, Rn. 76 ff. 45

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Im Regelfall und außerhalb des Bereichs des geistigen Eigentums kann sich der grundrechtliche Schutz nur bei solchen juristischen Personen entfalten, die mit Gewinnerzielungsabsicht handeln. Ansonsten sind weder Art. 12 GG noch Art. 14 GG unter dem Aspekt des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs anwendbar.50 Noch wichtiger als diese Beschränkung des Schutzbereichs ist aber der Umstand, daß insbesondere im Hinblick auf Art. 12 GG bei der Verpflichtung zur Herausgabe von Informationen oder aber der staatlichen Verwendung von Unternehmensdaten nur ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit vorliegt. Werden bereits unternehmensintern aufgearbeitete und vorliegende Daten abgefragt, ist der Eingriff sogar kaum spürbar. Soweit diese Daten vom Staat selbst erhoben und dann gegen den Willen des Unternehmens veröffentlicht werden, kann sich hieraus zwar eine schwerwiegende Belastung des Unternehmens, seines Rufes oder seiner Position im Markt ergeben. Dessen ungeachtet ist der Eingriff weiterhin als ein solcher in die Berufsausübungsfreiheit zu klassifizieren, der bekanntlich bereits durch vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls gerechtfertigt werden kann.51 Auch soweit ein Datum in den Schutzbereich des Art. 14 GG fällt, lassen sich Inhalt und Schranken des konkreten Schutzes durch den einfachen Gesetzgeber leicht einschränken. Hier hat der Gesetzgeber bei der Festlegung der Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums schutzwürdige Interessen des Eigentümers in ein gerechtes Verhältnis zu den Belangen des Allgemeinwohls zu bringen.52 Von einem überwiegenden Allgemeininteresse ist hier anders als bei dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht die Rede. Dort trifft die Erhebung, Verwendung, Verknüpfung und Weitergabe jedweder Informationen das auf das Individuum bezogene Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung in seinem Kern und fordert dementsprechend schwerwiegende Rechtfertigungsgründe. Die Rechtfertigungsanforderungen bei der staatlichen Inanspruchnahme von Unternehmensdaten bleiben also schon hiernach weit hinter den Anforderungen zurück, die bei Eingriffen in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung bei Individuen zu stellen sind. In einer jüngeren Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht nunmehr ausdrücklich festgestellt, daß der grundrechtliche Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung juristischer Personen seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. dem Grundrecht findet, das der juristischen Person einen Freiraum zuweist (also v. a. Art. 12 GG).53 Damit leitet das Bundesverfassungsgericht nicht etwa das aus Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG 50

Wilms/Roth, JuS 2004, S. 577 (579). Nolte (Fn. 2), Art. 12, Rn. 87. 52 Becker (Fn. 2), Art. 14, Rn. 22 ff. 53 BVerfGE 118, 168 (203); viel früher schon bei Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland III/1, 1988, § 71 IV (6), S. 1128. 51

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entwickelte Grundrecht auf die juristische Person über, sondern entfernt den Menschenwürdebezug bereits vor der Überleitung aus dem Grundrechtsfundament und substituiert ihn durch das die Existenz und Betätigung der juristischen Person gewährleistende Grundrecht. Zwar scheint das Gericht grundsätzlich anzuerkennen, daß die Daten von Unternehmen ebenso schutzwürdig sind wie die von Individuen:54 „Staatliche informationelle Maßnahmen können Gefährdungen oder Verletzungen der grundrechtlich geschützten Freiheit juristischer Personen herbeiführen und einschüchternd auf die Ausübung von Grundrechten wirken. In dieser Hinsicht besteht ein Schutzbedürfnis, das dem natürlicher Personen im Ansatz entspricht.“ Aber das Gericht sieht einen Unterschied zwischen dem Schutzbedürfnis der einzelnen Person und dem des Unternehmens in dem beschränkten, zweckgebundenen Tätigkeitskreis der juristischen Person (im Gegensatz zur universalen Existenzberechtigung des Individuums). Der Zweck der juristischen Person bestimmt den Umfang des grundrechtlichen Schutzes. Hierbei soll nicht jedes Datum geschützt sein. Vielmehr bedarf es z. B. einer auf die wirtschaftliche Tätigkeit bezogenen „grundrechtlich erhebliche[n] Gefährdungslage“, die erst dann gegeben ist, wenn die betroffene Information für den (man mag sagen: im übrigen) grundrechtlich geschützten Tätigkeitskreis eine besondere Bedeutung hat: „Die informationelle Maßnahme muss vielmehr die betroffene juristische Person einer Gefährdung hinsichtlich ihrer spezifischen Freiheitsausübung aussetzen.“ 55 In dieser Entscheidung scheint das Gericht den unternehmensbezogenen Grundrechtsschutz gegenüber dem Maßstab von Art. 12, 14 GG unter zwei Aspekten geschwächt zu haben. Läßt man erstens die allgemeine Schrankendogmatik des Art. 2 Abs. 1 GG zur Geltung kommen, liegt auf der Hand, daß es sich um das am einfachsten einzuschränkende Grundrecht handelt. Zu seiner Beschränkung genügt ein verhältnismäßiges Gesetz. Die Bezugnahme auf die entsprechenden Wirtschaftsgrundrechte, die gleichsam als Fundament des Grundrechts die Menschenwürde substituieren, schränkt den Grundrechtsschutz zweitens weiter auf einen spezifischen Funktionsbereich der juristischen Person ein, dem die Information entstammen muß, um schutzwürdig zu sein. Anders als bei dem Individuum müßte es bei einem Unternehmen also hiernach Daten geben, die nicht unmittelbar seinem Existenzzweck (der Verwirklichung der Berufsfreiheit) zugeordnet sind und daher aus dem Grundrechtsschutz herausfallen. Diese Wertung wird allerdings durch eine weitere Aussage in der Entscheidung wieder in Zweifel gezogen, mit der das Gericht deutlich macht, daß es das aus 54 BVerfGE 118, 168 (203 f.); für den ersten Satz unter Hinweis auf BVerfGE 113, 29 (46). 55 BVerfGE 118, 168 (204).

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Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. dem grundrechtlich geschützten Betätigungsfeld gewonnene Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Unternehmen gegenüber dem auf Daten bezogenen Schutz der Berufs- und Betätigungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG (und wahrscheinlich auch Art. 14 GG) als spezieller ansieht.56 Diese Grundrechte bieten – so das Gericht – keinen „über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hinausgehenden Schutz vor staatlichen informationellen Maßnahmen“.57 Wenn aber die Unterschutzstellung von Unternehmensdaten unter ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht tatsächlich eine Schwächung des unternehmerischen Grundrechtsschutzes bedeuten soll, so ist der Sinn dieses Satzes nicht ganz klar. Denn das Gericht scheint mit ihm zu unterstellen, daß im Normalfall die Schranken von Art. 12 GG weniger anspruchsvoll sind als die des Art. 2 Abs. 1 GG. Lediglich dann hätte das Gericht recht und es würde dem Unternehmen tatsächlich nichts nützen, wenn es sich auch auf Art. 12 GG berufen könnte, da dann der Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG gegen den schwächeren des Art. 12 Abs. 1 GG eingetauscht würde. Nur wenn dies tatsächlich der Fall wäre, böte Art. 12 GG tatsächlich keinen „über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hinausgehenden Schutz vor staatlichen informationellen Maßnahmen“. Aber natürlich schützt Art. 12 Abs. 1 GG immer noch stärker als Art. 2 Abs. 1 GG. Da sich das Gericht in der einschlägigen Entscheidung zu dem genauen Prüfprogramm des unternehmensbezogenen Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung nicht äußert, dürfte man aus dem zitierten Satz also eher schließen, daß trotz der Ableitung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung für Unternehmen aus Art. 2 Abs. 1 GG die auf das Individuum bezogenen strengen Ausformungen dieses Grundrechts grundsätzlich auch auf Unternehmen angewendet werden sollen. Nur dann wäre es für das Unternehmen tatsächlich nicht mehr sinnvoll, sich auf Art. 12 Abs. 1 GG berufen zu können. Betrachtet man die Vorschrift der Verfassung, die für die Anwendung von Grundrechten auf juristische Personen maßgeblich ist, kann auch nur diese Sicht der Dinge die richtige sein. V. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und Art. 19 Abs. 3 GG Grundrechtsberechtigt sind in erster Linie natürliche Personen. Das auf das Individuum bezogene Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung des Jahres 1983 ist insoweit keine Besonderheit, da in einem ersten Zugriff nahezu alle Rechte des Grundrechtskatalogs individualbezogen sind.58 In einem zweiten 56 57 58

BVerfGE 118, 168 (204). BVerfGE 118, 168 (205). Stern (Fn. 2), Einl., Rn. 95.

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Schritt ist es dem einzelnen auch ohne Rückgriff auf Art. 19 Abs. 3 GG möglich, Grundrechte gemeinsam mit anderen Grundrechtsträgern auszuüben.59 Soweit das Vehikel dieser kooperativen Grundrechtswahrnehmung, die über das Individuum hinausgehende Organisation (und erst recht die juristische Person), indes Grundrechte selbst geltend machen können soll, bedarf es drittens einer Erstreckungs- bzw. Überleitungsvorschrift. Dies ist die Aufgabe von Art. 19 Abs. 3 GG. Das Verständnis von Sinn und Zweck dieser Vorschrift prägt ihre Interpretation. Das Bundesverfassungsgericht sieht die Legitimation einer Grundrechtsträgerschaft von Personenmehrheiten prinzipiell in einem Durchgriff auf die hinter der Organisation stehenden natürlichen Personen.60 Es bleibt damit eigentlich bei dem zweiten oben genannten Schritt stehen. Das Gericht stellt darauf ab, daß Grundrechte in erster Linie individuelle Rechte, Menschen- und Bürgerrechte sind, die den Schutz konkreter, besonders gefährdeter Bereiche menschlicher Freiheit zum Gegenstand haben.61 Eine Einbeziehung juristischer Personen in den Schutzbereich des Grundrechts wird hiernach nur dann als gerechtfertigt angesehen, „wenn deren Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der privaten natürlichen Personen ist, insbesondere wenn der ,Durchgriff‘ auf die hinter ihnen stehenden Menschen es als sinnvoll und erforderlich erscheinen läßt.“ 62 Die juristische Person wird also nicht um ihrer selbst Willen geschützt. Sie dient vielmehr nur als Zweckschöpfung den hinter ihr stehenden natürlichen Personen, die auf diese Weise wiederum grundrechtlich geschützte Funktionen mittelbar wahrnehmen (lassen).63 Unklar bleibt bei einem solchen Verständnis der Erstreckungsvorschrift deren eigentlicher Sinn und Zweck, da schon das individualbezogene Grundrecht typischerweise die Berechtigung zu seiner kollektiven Ausübung mit umfaßt.64 Als letzte Reserve kann insoweit ohnehin auf Art. 9 GG zurückgegriffen werden. Existenz und Formulierung von Art. 19 Abs. 3 GG sprechen vielmehr dafür, der juristischen Person einen Eigenwert zuzuerkennen, der nicht allein wegen der hinter ihr stehenden individuellen Grundrechtsträger schützenswert ist.65 In der fachgerichtlichen Rechtsprechung wird das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts mit Zustimmung der Literatur dementsprechend dahingehend relativiert, 59

Stern (Fn. 53), § 70 I (2), S. 1005. BVerfGE 21, 362 (369); 61, 82 (100 f.); ähnlich Isensee, in: ders./Kirchhof, HdbStR Bd. V (2. Aufl. 2000), § 118 Rn. 4. 61 BVerfGE 50, 290 (337); 61, 82 (100); 68, 193 (204 ff.); 75, 192 (195 ff.). 62 BVerfGE 21, 362 (369); 61, 82 (101); 68, 193 (204 f.). 63 Vgl. auch Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Bd. 1 (6. Aufl. 2010), Art. 19 Abs. 3 Rn. 207 ff., 210. 64 Stern (Fn. 53), § 70 I (2), S. 1111 f. 65 Zu dieser Diskussion mit vielen Nachweisen Dreier, in: ders., Grundgesetz Bd. 1 (2. Aufl. 2004), Art. 19 Abs. 3 Rn. 19 ff.; Tettinger, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR II, 2006, § 51 Rn. 12 ff. 60

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daß Art. 19 Abs. 3 GG auch Stiftungen und Publikumskapitalgesellschaften im Unternehmensverbund und damit solchen juristischen Personen zugutekommt, hinter denen keine natürlichen Personen mehr unmittelbar stehen.66 Dem Durchgriffs-Gedanken wird in der Literatur das Erfordernis der „grundrechtstypischen Gefährdungslage“ entgegengestellt.67 Dieser Ansatz findet auch Anschluß an die funktionalen Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts, nach denen bestimmte juristische Personen sich wegen der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben nicht auf Grundrechte berufen dürfen.68 Es spricht somit einiges dafür, den Grundrechtsschutz der juristischen Person mit deren Eigenwert zu rechtfertigen und seine Berechtigung in der organisatorischen Verselbständigung und in der Fähigkeit zu autonomer Willensbildung zu sehen. In der juristischen Person werden durch die Organisation eigenständige, zusätzlich schutzwürdige Interessen geschaffen, die durch die hinter ihnen stehenden Individualrechte nicht bereits geschützt sind.69 Die Schutzwürdigkeit der juristischen Person ergibt sich gerade aus der Abstraktion. Eingriffe in ihre Freiheit sind nicht stets und direkt auch grundrechtlich relevante Eingriffe in die Schutzgüter der hinter ihr stehenden Grundrechtsträger. Zentrales Argument für die Ablehnung einer Einbeziehung von Unternehmen in den Schutz des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung in seiner ursprünglichen individualbezogenen Ausformung ist, daß der Menschenwürdebezug in der Herleitung dieses Grundrechts keine Entsprechung bei der juristischen Person findet. Damit ist das Grundrecht „seinem Wesen nach“ nicht auf die juristische Person anwendbar. Menschenwürde kommt schon dem Begriff nach nur dem individuellen Grundrechtsträger zu. Allerdings ist die Menschenwürde ein „tragendes Konstitutionsprinzip“ des Grundgesetzes70 und bildet als solche das Fundament aller Grundrechte. Der Menschenwürdebezug kann also nicht der entscheidende Grund für den Ausschluß juristischer Personen bei gerade diesem Grundrecht sein, weil ansonsten Art. 19 Abs. 3 GG insgesamt funktionslos würde.71 Es muß gerade der Sinn von Art. 19 Abs. 3 GG sein, den Menschenwürdebezug eines Grundrechts zurücktreten zu lassen und damit für die juristische Person anwendbar zu machen. Art. 19 Abs. 3 GG erweitert somit den anthropozentrischen Grundrechtsschutz. Es kann danach nicht entscheidend sein, wie ein 66 BVerwGE 40, 347 (348 f.); s. i. ü. nur Stern (Fn. 53), § 71 IV (5), S. 1122 f. Auch das Bundesverfassungsgericht selbst billigt Grundrechtsschutz im Mitbestimmungsurteil auch solchen Unternehmen zu, die ihrerseits von Unternehmen getragen werden (BVerfGE 50, 290 (351)). 67 Vgl. nur v. Mutius, in: Dolzer/Vogel (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 3 GG, Rn. 114 f.; s. a. Dreier (Fn. 65), Art. 19 Abs. 3 Rn. 21. 68 BVerfGE 45, 63 (80); 70, 1 (15 f.); vgl. Tettinger (Fn. 65), § 51 Rn. 11. 69 Huber (Fn. 63), Art. 19 Abs. 3 Rn. 219 f. 70 BVerfGE 87, 209 (228). 71 Stern (Fn. 53), § 71 III (1), S. 1098.

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Grundrecht begründet bzw. abgeleitet worden ist, sondern ob bei der juristischen Person eine Gefährdungslage vorliegt, die derjenigen ähnlich ist, der sich das Individuum ausgesetzt sieht. Löst man sich von dem Durchgriffs-Topos des Bundesverfassungsgerichts, dann wird deutlich, daß ein strikterer Schutz von Unternehmensdaten als ihn Art. 12, 14 oder gar Art. 2 Abs. 1 GG gewährleisten können, nicht daran scheitert, daß einem Unternehmen keine Menschenwürde zukommt. Vielmehr ist demgegenüber der Eigenwert des Unternehmens und seiner geschäftlichen Sphäre sowie seiner Wirkung in die Außenwelt zu betonen. In demselben Maße wie private Individuen verfügen Unternehmen und andere juristische Personen über individuelle Daten, deren Erhebung, Speicherung, Verknüpfung oder Veröffentlichung ihren Interessen zuwiderlaufen kann. Das für das Individuum entwickelte Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung weist parallel zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht, dessen Abkömmling es ist, einen mehrschichtigen Aufbau durch Aufteilung in verschiedene Sphären auf.72 Je enger ein Datum mit der Intimsphäre verbunden ist, desto eher genießt es einen absoluten Schutz. Hier liegt der Bezug zur personalen Menschenwürde klar zutage. Soweit lediglich die Sozialsphäre betroffen ist, tritt der Menschenwürdegehalt auch bei dem individuellen Grundrechtsträger zurück, ohne daß der Grundrechtsschutz auf das Niveau der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) heruntergezogen wird. „Intime“ Daten kann das Unternehmen nicht besitzen. Wohl aber solche Daten, die den Kernbereich seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner Position im Markt betreffen. Ab diesem Punkt ist das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ohne weiteres dem Wesen nach auch auf eine juristische Person anwendbar. Es besteht aus dem Blickwinkel einer grundrechtlichen Gefährdungslage kein Unterschied zwischen einer Datensammlung, die Kundenadressen enthält und die von einem Unternehmen gepflegt wird, einerseits und einem privaten Adressbuch mit Freunden andererseits. Analoges läßt sich von der Information über den privaten Kontostand und den Kontostand eines betrieblichen Kontos sagen. In beiden Fällen kann eine publik werdende Information über einen negativen Kontostand verheerende Folgen für die Kreditwürdigkeit eines Unternehmens haben. Das Individuum lebt dennoch weiter; das Unternehmen kann insolvent werden und damit „sterben“. Mit einem bloßen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit läßt sich dies wohl kaum noch grundrechtlich angemessen beschreiben. Dies bedeutet, daß der Menschenwürdebezug des für das Individuum entwickelten Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung einer Anwendung auf Unternehmen nicht per se widerspricht, da außerhalb der menschlichen In72

Horn (Fn. 2), Art. 2 Rn. 103.

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timsphäre insoweit keine prinzipielle Wesensverschiedenheit zwischen natürlichen und juristischen Personen gegeben ist. Diese Wesensverschiedenheit kann sich allein im Hinblick auf einzelne Daten bzw. Datensphären ergeben, die durch einen besonderen Menschenwürdebezug geprägt sind. VI. Ergebnis Tatbestand und Schranken des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung sind verfassungsgewohnheitsrechtlich ausgeformt. In seiner Geburtsstunde gehörte dieses Schutzrecht dem individuellen Grundrechtsträger. Doch befinden sich Unternehmen in einer ähnlichen grundrechtlichen Gefährdungslage, wenn der Staat ungehindert auf ihre Daten zurückgreifen kann. Die Schutzwirkung der Grundrechte aus Art. 12 und 14 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG reicht insoweit nicht aus, um die dem Unternehmen drohenden Gefahren zu beherrschen. Art. 19 Abs. 3 GG erlaubt es, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung in seiner zunächst zum Schutze des Individuums entwickelten Form und Strenge auch zum Schutze des Unternehmens heranzuziehen.

Religiöse Symbole im öffentlichen Raum* Von Hermann-Josef Blanke „Gottes ist der Orient! Gottes ist der Okzident! Nord- und südliches Gelände Ruht im Frieden seiner Hände . . .“1

I. Der Konflikt um die religiösen Symbole Die Proteste gegen die in der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ im September 2005 veröffentlichten Mohammed-Karikaturen des Cartoonisten Westergaard haben bis in die Gegenwart deutlich gemacht, welche Wirkung von Symbolen ausgehen kann, und zwar gerade dort, wo es um religiöse Überzeugungen geht.2 Nachdem der Chefredakteur Momani in der jordanischen Wochenzeitung „Shihan“ drei der zwölf umstrittenen Mohammed-Karikaturen publiziert hatte, entließen ihn die alarmierten Herausgeber und begründeten diesen Schritt damit, dass der Prophet Mohammed, der hier herabgewürdigt werde, ein Symbol nicht nur für den Islam, sondern auch für die arabische Nation und ihre Zivilisation insgesamt sei.3 Der Abdruck dieser Karikaturen hatte weltweit zu Unruhen und Toten geführt. Nicht weniger bestimmend für die öffentliche Debatte ist das Kreuz oder das in seinen grundrechtlichen Implikationen hiermit zumeist gleichgesetzte Kruzi-

* Der Beitrag war zum Zeitpunkt der Entscheidung der Großen Kammer des EGMR v. 18.3.2011 im Fall Lautsi v. Italien bereits abgeschlossen. Der Autor sieht sich durch diese Entscheidung, die er in den Grundzügen noch ausgewertet hat, in seinen Auffassungen bestätigt. Er dankt seinem Mitarbeiter Dr. Jasper von Detten für wertvolle Unterstützung. 1 J. W. v. Goethe, West-östlicher Divan, 1819/1827, Moganni Nameh, Buch des Sängers. Die Verse werden als Anspielung auf den Koran (2: 115) aufgefasst, wo es heißt: „Gottes ist der Osten und der Westen. Wo immer ihr euch hinwendet, ist Gott gegenwärtig. Gott ist allumfassend und allwissend.“ 2 Vgl. zum Verständnis und zur Wirkung religiöser Symbole eingehend Haupt, Verfassungsfragen zum muslimischen Kopftuch von Erzieherinnen in öffentlichen Kindergärten, 2010, S. 23 ff. 3 Vgl. Musharbash, Spiegel Online v. 3.2.2006, www.spiegel.de/politik/ausland/ 0,1518,398885,00.html.

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fix.4 Es gehört zu den spezifischen Glaubenssymbolen des Christentums und stellt sein „bedeutendstes Sinnbild“5 dar. Das Kreuz symbolisiert in einer christlich-theologischen Deutung das im Tod Christi bewirkte Heil, wie es Paulus im Brief an die Galater beschrieben hat,6 und gilt mithin als „Ideogramm für das Erlösungsgeschehen“.7 Nach einer säkularen Interpretation, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Bayerischen Gemeinschaftsschule im Jahre 1975 vertreten hat, sind die „Grundsätze der christlichen Bekenntnisse“ indes neutralisierend im Sinne christlicher „Werte“ und hieraus abgeleiteter „ethischer Normen“ aus der „gemeinsamen Vergangenheit des christlichen Kulturkreises“ zu verstehen.8 Dieser weltlichen Inhaltsbestimmung des Christlichen hat das Schrifttum im Wege „verfassungskonformer Interpretation“ entnommen, dass ein staatlich aufgehängtes oder genehmigtes Kreuz im Klassenzimmer kontextbezogen gedeutet werden müsse und deshalb nur im Sinne eines „Kultur- und Bildungsfaktors“ zu verstehen sei.9 Seit der Mitte der 80er Jahre wurden indes namentlich amerikanische,10 Schweizer,11 deutsche und italienische Gerichte, zu-

4 Zu dieser Gleichsetzung vgl. BVerfGE 93, 1 (Leitsatz 1). Das Kruzifix trägt im Unterschied zum einfachen Kreuz als plastische Darstellung den Leib des Gekreuzigten. 5 Verwaltungsgericht Venetien, Beschluss v. 14.1.2005, Nr. 56, sub 5.1: „la massima icona Cristiana“. 6 Galater, 6, 14: „Es sei aber ferne von mir, mich zu rühmen, denn allein von dem Kreuz unsers Herrn Jesu Christi, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt.“ So die Interpretation dieser Briefstelle von Schlier, in: Meyer, Kritisch-Exegetischer Kommentar über das Neue Testament, 15. Aufl., 1989, S. 281. 7 Das Bundesverfassungsgericht (E 93, 1,19) definiert das Kreuz unter Verweis auf dieses Stichwort in: Höfer/Rahner, Lexikon für Theologie und Kirche, 6. Bd., 2. Aufl., 1961, Sp. 605 ff., sowie Fahlbusch, in: Evangelisches Kirchenlexikon , 2. Bd., 3. Aufl., 1989, Sp. 1462 ff. wie folgt: „Es versinnbildlicht die im Opfertod Christi vollzogene Erlösung des Menschen von der Erbschuld, zugleich aber auch den Sieg Christi über Satan und Tod und seine Herrschaft über die Welt, Leiden und Triumph in einem“. Vgl. hierzu die kritische Analyse von Heckel, Das Kreuz im öffentlichen Raum – Zum „Kruzifix-Beschluss“ des Bundesverfassungsgerichts, DVBl. 1996, 453 (464 ff.), der dem BVerfG vorwirft, sich eine „Kompetenz . . . zu theologischen Definitionen und Dezisionen“ angemaßt und „durch seine authentische Definition des Kreuzes als religiöses Glaubenssymbol . . . die säkulare Selbstbeschränkung seiner Kompetenz auf säkulare Gegenstände und Maßstäbe flagrant verletzt“ zu haben. 8 Vgl. BVerfGE 41, 65 (84). 9 Vgl. grundlegend Heckel (Fn. 7), S. 464 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/II, 2011, S. 457, 936; so auch die abweichende Meinung der Richter Seidl, Söllner und Haas in BVerfGE 93, 1 (25, 27) unter Verweis auf BVerfGE 41, 29 (64): „Die Bejahung des Christentums bezieht sich in erster Linie auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, nicht auf die Glaubenswahrheit und ist damit . . . auch gegenüber Nichtchristen durch die Geschichte des abendländischen Kulturkreises gerechtfertigt.“ Hingegen sieht Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, 1997, S. 179 mit Fn. 380, in der staatlichen Anordnung, ein Schulkreuz aufzuhängen, einen Verstoß gegen die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates.

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letzt der österreichische Verfassungsgerichtshof12 angerufen, weil die Kläger die im öffentlichen Raum angebrachten Kreuze in ihrer originär religiösen Bedeutung auffassten und hierdurch ihr eigenes Recht auf Freiheit der Religionsausübung oder das ihrer Kinder als verletzt ansahen. Insbesondere haben einzelne Schüler und ihre Eltern gegen das Vorhandensein von Kruzifixen in Klassenzimmern staatlicher Schulen geklagt. Die „Problematik“ des Kreuzes erwächst hier aus der besonderen Situation des „verwaltungsrechtlichen Sonderverhältnisses“, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die Schüler infolge der Schulpflicht in einem besonderen Verhältnis zum Staat befinden (Art. 7 GG). Der „öffentliche Raum“ ist in diesem Fall dadurch gekennzeichnet, dass eine Verpflichtung der Schüler besteht, sich in diesem Raum aufzuhalten und sie so mit dem religiösen Symbol konfrontiert werden.13 In Deutschland ist hierüber bereits im Jahr 1995 anlässlich eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts ein Streit entbrannt, nachdem die Karlsruher Richter das „Lernen unter dem Kreuz“, das sie in seinem christlichen Symbolgehalt deuteten,14 „wegen seiner ,Unausweichlichkeit‘ als einen Verstoß gegen die Reli10 Vgl. Vollrath, Religiöse Symbole. Zur Zulässigkeit religiöser Symbole in staatlichen Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland und in den U.S.A., 2006, S. 44 f., der mangels Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court auf eine Entscheidung des Court of Appeals des Staates Illinois hinweist; hiernach ist die religiöse Bedeutung des Kreuzes so überragend, dass selbst eine untergeordnete Verwendung in einem Stadtwappen ausreicht, um das gesamte Stadtwappen als religiöses Symbol zu qualifizieren. Nach der Rechtsprechung anderer amerikanischer Bezirksgerichte tritt die religiöse Symbolkraft des Kreuzes hingegen in den Hintergrund. 11 Im Jahre 1990 stellte das Schweizer Bundesgericht (BGer Comune di Cadro/Bernasconi, 26.9.1990, BGE 116 Ia 252) einen Verstoß gegen die in der Bundesverfassung verankerte konfessionelle Neutralität der Schule und gegen die Glaubens- und Gewissensfreiheit mit Blick auf einen Beschluss des Gemeinderates von Cadro (Tessin) fest, in der örtlichen Schule Kruzifixe anzubringen. 12 Zur Anbringung eines Kreuzes im Aufenthaltsraum eines Kindergartens vgl. ÖVFGH, G 287/09-25 v. 9.3.2011. Das Gericht wies die Klage u. a. mit der Begründung zurück, „das Recht, einem beliebigen oder auch gar keinem Glauben anzugehören, ja sogar die von einem religiösen Symbol repräsentierten Glaubensüberzeugungen abzulehnen, (werde) durch die Anordnung des § 12 Abs. 2 NÖ Kindergartengesetz . . . nicht berührt.“ Vgl. dazu Berkmann, Das Urteil Lautsi des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und seine Bedeutung für Kreuze in österreichischen Schulen und Kindergärten, NomoK@non-Webdokument: http://www.nomokanon.de/abhandlungen/ 027.htm, Rn. 129 ff. 13 Das BVerfG (E 108, 282, 302) spricht von „Lebensbereichen, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind . . .“ 14 Vgl. BVerfGE 93, 1 (18 ff.), wonach es eine „dem Selbstverständnis des Christentums und der christlichen Kirchen zuwiderlaufende Profanisierung des Kreuzes“ wäre, wollte man es als „kultisches Zeichen ohne spezifischen Glaubensbezug“ ansehen. Heckel (Fn. 7), S. 468, hat dem Bundesverfassungsgericht wegen dieser christologischen Interpretation eine „verfassungswidrige Sinndeutung“ mit der Folge des Fehlverständnisses einer „staatlichen Zwangsmissionierung“ (S. 466) vorgeworfen; auch Waldhoff, Gutachten D zum 68. Deutschen Juristentag, 2010, D 123, kritisiert das BVerfG,

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gions- und Glaubensfreiheit der Schüler einer bayerischen staatlichen Pflichtschule beurteilt hatten.15 Als Folge dieser Entscheidung wurden die Kreuze in diesen Schulen allerdings nicht beseitigt. Vielmehr wurde im Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz eine Schlichtungsregelung eingeführt.16 Diese Regelung ist so auszulegen, „dass sich dann, wenn eine gütliche Einigung nicht zustande kommt und weniger einschneidende Ausgleichsmöglichkeiten nicht bestehen, der Wille des Widersprechenden, (sofern) er auf ernsthafte und einsehbare Gründe des Glaubens oder der Weltanschauung gestützt ist, auch gegen eine Mehrheit unter den Eltern durchsetzen muss.“17 In Italien beruht das staatlich verantwortete Schulkreuz auf zwei königlichen Dekreten aus den Jahren 1924 und 1928,18 die vom italienischen Verfassungsgericht als Verordnungen qualifiziert wurden und deshalb nicht im Rang von Gesetzen im formellen Sinne stehen.19 Am 22. Oktober 2003 sah der in der italienischen Provinz Aquila amtierende erstinstanzliche Richter Montanaro auf die weil es den religiösen Gehalt des Kreuzes „zwar . . . sehr ernst nimmt, dem Staat jedoch Intentionen (unterstellt), die dieser nachweislich nicht verfolgt“. 15 Vgl. BVerfGE 93, 1 (15 ff., 18 mit Leitsatz 1); hierzu etwa die Beiträge von Hollerbach und Maier, in: H. Maier (Hrsg.), Das Kreuz im Widerspruch, Der Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in der Kontroverse, 1996, S. 28 (51 ff.); Stern, Die politische Meinung, Nr. 312, 11/1995, S. 5 ff.; ders. (Fn 9), S. 455 ff., 935 ff.; Merten, in: J. Burmeister u. a. (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, FS K. Stern, 1997, S. 987 ff.; weitere Nachweise zu zustimmenden und ablehnenden Stellungnahmen bei Heckel (Fn. 7), S. 453 Fn. 1, sowie Nolte, JöR 48 (2000), S. 87 (89 mit Fn. 8). 16 Art. 7 Abs. 3 BayErz.u.UnterrG (GVBl. 1995, S. 850) lautet: „1Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns wird in jedem Klassenraum ein Kreuz angebracht. 2Damit kommt der Wille zum Ausdruck, die obersten Bildungsziele der Verfassung auf der Grundlage christlicher und abendländischer Werte unter Wahrung der Glaubensfreiheit zu verwirklichen. 3Wird der Anbringung des Kreuzes aus ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung durch die Erziehungsberechtigten widersprochen, versucht die Schulleiterin bzw. der Schulleiter eine gütliche Einigung. 4Gelingt eine Einigung nicht, hat sie bzw. er nach Unterrichtung des Schulamts für den Einzelfall eine Regelung zu treffen, welche die Glaubensfreiheit des Widersprechenden achtet und die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen aller in der Klasse Betroffenen zu einem gerechten Ausgleich bringt; dabei ist auch der Wille der Mehrheit, soweit möglich, zu berücksichtigen.“ Vgl. hierzu BayVerfGH 50, 156. 17 BVerwGE 109, 40 (43), im Anschluss an die Entscheidung des BayVerfGH v. 1.8.1997, BayVBl. 1997, 686 (689). 18 Art. 119 des Königlichen Dekrets v. 26.4.1928, Nr. 1297 (Aufgaben des Grundschulunterrichts) sowie Art. 118 des Königlichen Dekrets v. 30.4.1924, Nr. 965 (Bildungsinstitute der Mittelstufe). Beide Verordnungen wurden unter der Geltung des Albertinischen Statuts erlassen, das die Katholische Religion als einzige Staatsreligion Italiens proklamierte. 19 Vgl. die Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtshofs v. 13.12.2004, Ordinanza 389/2004, in der es anlässlich des Falles „Lautsi“ die Vorlage des Verwaltungsgerichts Veneto für unzulässig erklärt, da die Normen, welche das Anbringen von Kreuzen in italienischen Schulen anordnen, keinen Gesetzesrang, sondern nur den Rang von „norme regolamentari“ haben (www.cortecostituzionale.it/actionPronuncia.do).

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Klage des Präsidenten der muslimischen Union Italiens das in den Klassenräumen der Söhne des Klägers angebrachte Kreuz mit der staatlichen Neutralitätspflicht als unvereinbar an.20 Zuvor hatte es bereits der italienische Kassationsgerichtshof abgelehnt, das Anbringen eines Kreuzes deshalb als gerechtfertigt anzusehen, weil es ein Symbol „der gesamten Zivilisation oder des kollektiven ethischen Gewissens“ sei und es auch „keinen von jeglichem spezifischen Glauben unabhängigen universalen Wert“ darstelle.21 Schließlich erhob die aus Finnland eingewanderte, mit einem Italiener verheiratete Soile Lautsi, Mitglied der Union der rationalistischen Atheisten und Agnostiker, vor dem Straßburger Gerichtshof Klage gegen die Republik Italien, nachdem sie wegen der in den Klassenräumen ihrer Söhne in einer Schule in Abano Terme aufgehängten Kruzifixe vor dem Verwaltungsgericht Venetien erfolglos geblieben war. Das Verwaltungsgericht Venetien begründete seine Entscheidung damit, dass das Kruzifix als ein Symbol italienischer Geschichte und Kultur und damit italienischer Identität, aber auch als Ausdruck der Grundsätze der Gleichheit, Freiheit und Toleranz sowie der säkularen Grundlagen des italienischen Staates anzusehen sei.22 Der daraufhin von Frau Lautsi im Wege einer Individualbeschwerde angerufene EGMR bewertete diese Entscheidung in einem Kammerurteil vom 3. November 2009 als einen Verstoß gegen das Erziehungsrecht der Eltern nach Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls in Verbindung mit einer Verletzung der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK):23 „Die Schule (sei) keine Bühne für missionarische Unternehmungen oder Predigten, sondern ein Ort der Begegnung verschiedener Religionen und Weltanschauungen, an dem die Schüler Kenntnisse über ihre jeweiligen Vorstellungen und Traditionen erlangen könnten.“ Durch die Gegenwart des Kreuzes im Klassenzimmer empfänden die Schü20 Vgl. www.diritto.it/sentenze/magistratord/crocifisso_scuola.pdf. In der Urteilsbegründung des Richters Montanaro heißt es: „In der Schule führt die Anwesenheit des Symbols des Kreuzes beim Schüler zu einem zutiefst falschen Verständnis der kulturellen Dimension des Glaubens, weil es im Fall der öffentlichen Schule den eindeutigen Willen des Staates zeigt, die katholische Religion in das Zentrum des Universums als eine absolute Wahrheit zu stellen, ohne den geringsten Respekt für die Rolle anderer religiöser und sozialer Erfahrungen im geschichtlichen Prozess der menschlichen Entwicklung und ohne Rücksicht auf ihre gegenseitigen Beziehungen und ihre gegenseitigen Bedingtheiten. . . . Die Anwesenheit des Kruzifixes in Klassenzimmern vermittelt eine implizite Verhaftung mit Werten, die nicht das wirklich gemeinsame Erbe aller Bürger sind . . . Es widerspricht dem, was das Verfassungsgericht entschieden hat, als es darauf aufmerksam machte, dass das Prinzip des Pluralismus als Schutz des religiösen und kulturellen Pluralismus begriffen werden muss (s. [Italienischer] Verfassungsgerichtshof v. 12.4.1989, Nr. 203, und v. 14.1.1991, Nr. 13), was nur realisierbar ist, wenn die Schule gegenüber dem religiösen Phänomen unparteiisch bleibt.“ 21 Ital. Kassationsgerichtshof, Urteil v. 1. März 2000 (Nr. 439), der sich hinsichtlich seiner letzten Ausführung auf eine Entscheidung des Staatsrates vom 27. April 1988 (Nr. 63) bezieht. 22 Verwaltungsgericht Venetien, Entscheidung Nr. 389 v. 15.12.2004, Nr. 389. 23 Vgl. EGMR (K), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 3.11.2009.

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ler ihr Lernumfeld durch einen vorgegebenen Glauben als geprägt. Der Schutz der negativen Bekenntnisfreiheit sei jedoch dann besonders stark, wenn der Staat sich zu einem Glauben bekenne und der Adressat dieser Botschaft sich in einer Situation befinde, aus der er sich nicht ohne weiteres oder nur unter einem unverhältnismäßigen Opfer begeben könne. Da die Schüler sich an einem besonders grundrechtssensiblen Ort befänden, seien sie durch die Präsenz des Kreuzes in ihrer Glaubensfreiheit beeinträchtigt.24 Die daraufhin von Italien angerufene Große Kammer des EGMR hat in ihrem Urteil vom 18. März 2011 mit 15 gegen 2 Stimmen eine Verletzung des Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls verneint und zugleich auch eine Verletzung des Art. 9 EMRK ausgeschlossen.25 In früheren Entscheidungen hatte der Straßburger Gerichtshof die Vertragsstaaten zur neutralen und unparteilichen Gewährleistung der Freiheit der Religionsausübung verpflichtet26 und mit Blick auf den staatlichen Schulunterricht von einem Verbot der Indoktrinierung gesprochen;27 zugleich hatte er aber eingeräumt, dass die nationalen Verhältnisse die quantitative Bevorzugung einer Mehrheitsreligion legitimieren könnten. Dabei dürfe es indes nicht zu einer qualitativen Besserstellung kommen.28 Die Entscheidungen der nationalen Gerichte Deutschlands und Italiens sowie des Straßburger Gerichtshofs markieren das Verhältnis des Staates zur Religion und betreffen damit die Frage, was die Trennung von Staat und Kirche als Erbe der Aufklärung, Signum der Moderne und Voraussetzung des säkularen Verfassungsstaates bedeutet.29 Der Säkularisierungsprozess ist im freiheitlichen Verfassungsstaat deutscher Prägung durch seine Offenheit für die Freiheit des Religiösen bestimmt.30 Angesichts der im theologisch-philosophischen Diskurs an „säkularisierte Bürger“ gerichteten Forderung, „weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential (abzusprechen) noch den gläubigen Mitbürgern das Recht (zu bestreiten), in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen“,31 muss die offene Gesellschaft des Verfassungsstaates 24

EGMR (K), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 3.11.2009, Rn. 48 ff. EGMR (GK), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 18.3.2011. 26 EGMR, Leyla S ¸ ahin v. Türkei (GK), Nr. 44774/98, § 107, ECHR 2005-XI. 27 EGMR, J. A.-I. v. Deutschland, Nr. 45216/07 v. 6.10.2009, Rn. 50; Zengin v. Türkei, Nr. 1448/04 v. 9.10.2007, Rn. 52; Folgerø v. Norwegen, Nr. 15472/02 v. 29.6.2007, Rn. 84 lit. h; Kjeldsen v. Dänemark, Nr. 5095/71 v. 7.12.1976, Rn. 53. 28 EGMR, J. A.-I. v. Deutschland, Nr. 45216/07 v. 6.10.2009, Rn. 54; Folgerø v. Norwegen, Nr. 15472/02 v. 29.6.2007, Rn. 89 ff. 29 Vgl. Böckenförde, in: ders., Recht, Staat, Freiheit – Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1991, S. 92 ff.; Isensee, in: J. Hengstschläger u. a. (Hrsg.), Für Staat und Recht, FS H. Schambeck, 1994, S. 213. 30 Heckel (Fn. 7), S. 465 f. 31 Vgl. Habermas über sein Gespräch mit Ratzinger, sub 1 und 5, www.michael-fun ken.de/information-philosophie/philosophie/HabermasRatzinger2.html; vgl. dens., Zwischen Naturalismus und Religion, 2005, wo Habermas von einem Interesse des libera25

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sich mehr als bisher damit auseinandersetzen, in welchem Maße sie auch das Tragen von religiösen Symbolen und die Vornahme religiöser Handlungen – als zeichenhafte Beiträge – im öffentlichen Raum tolerieren will, um sich nicht von „wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung“ abzuschneiden.32 Der Jubilar hat in dem zuletzt erschienenen Band seines Werkes zum deutschen Staatsrecht seine Überzeugung vom Verfassungsstaat als Wertegemeinschaft vor allem auch im Rahmen der Analyse der Bildungs-, Wissenschafts- und Religionsfreiheit als kulturelle Grundrechte bekräftigt.33 Daher sollen einige seiner Standpunkte hier reflektiert werden. II. Der Schutzgehalt der Religions- und Glaubensfreiheit sowie die Neutralitätspflicht des Staates 1. Die Garantie der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit

Die Glaubensfreiheit umfasst im Rahmen des einheitlich zu verstehenden Grundrechts den religiösen Glauben im positiven wie im negativen Sinne sowie den auf Weltanschauungen bezogenen Glauben.34 Mit der Rechtsprechung des EGMR35 und des Bundesverfassungsgerichts36 ist von einem weiten Religionsbegriff auszugehen, der auch Minderheitenreligionen umfasst. Kennzeichnend für den religiösen Glauben ist demnach der transzendente Bezug, die subjektive Gewissheit von der Eingliederung des Einzelnen in einen jenseitigen, nicht mit menschlich gesetzten Maßstäben zu beurteilenden und mit wissenschaftlichen Erkenntnisquellen nicht erschöpfend zu erklärenden Zusammenhang.37 Unter den Schutz des Glaubens fällt nach dem übereinstimmenden Schutzgehalt dieser Garantien nicht nur der private Glaube („forum internum“), sondern auch das öffentliche Bekenntnis zu der eigenen Religion. Geschützt ist daher auch die „äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten“38 („forum externum“). Damit ist die Religionsausübung, also die „Betätigung der Glaubensüberlen Staates „an der Freigabe religiöser Stimmen in der politischen Öffentlichkeit“ spricht; vgl. Ratzinger/Habermas, in: Schuller, Dialektik der Säkularisierung, 2005. 32 Vgl. Habermas, Glauben und Wissen, 2001, S. 22. Nach dem immer wieder zitierten Wort von Böckenförde (Fn. 29), S. 93, „(lebt) der freiheitlich säkularisierte Staat . . . von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ 33 Stern (Fn. 9), S. 354, § 116 bis § 119; zur Wertedebatte vgl. Joas, Die Entstehung der Werte, 2009; zu den kulturellen Werten Europas vgl. den von Joas/Wiegandt herausgegebenen Sammelband, Die kulturellen Werte Europas, 2005. 34 Vgl. zu Art. 4 GG: Kokott, in: Sachs, GG, 4. Aufl., 2007, Art. 4 Rn. 18; Merten (Fn. 15), S. 989 ff. 35 Vgl. Frowein, in: ders./Peukert, EMRK-K, 3. Aufl., 2009, Art. 9 Rn. 6 ff. 36 Vgl. BVerfGE 83, 341 (354); 108, 282 (297); Jarass, in: ders./Pieroth, GG-K, 10. Aufl., 2009, Art. 4 Rn. 7; Kokott (Fn. 34), Art. 4 Rn. 19. 37 Vgl. Kokott (Fn. 34), Art. 4 Rn. 19. 38 BVerfGE 24, 236 (245); BVerfGE 108, 282 (297).

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zeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet“,39 auch im öffentlichen Raum geschützt. Hierzu gehören alle kultischen Handlungen wie Gottesdienst, Prozession, Gebet und die Feier von Sakramenten. Auch das Tragen besonderer Kleidung, um seine religiösen Überzeugungen kundzutun, wird von der Religionsfreiheit garantiert.40 2. Die Unterscheidung von Neutralität und Laizität

Mit dem Recht, nicht zu glauben, ist die negative Religionsfreiheit geschützt. Dies ist auch für die Verbürgungen religiöser Freiheit in anderen europäischen und außereuropäischen Rechtsordnungen anerkannt und prägt zugleich die Auslegung der Garantie der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK.41 Die negative religiöse Bekenntnisfreiheit als Freiheit vom Zwang steht in engem Zusammenhang mit der staatlichen Neutralitätspflicht. Sie besagt, dass aus der Glaubensfreiheit „der Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Religionen und Bekenntnissen (folgt).“ Denn „der Staat, in dem Anhänger unterschiedlicher oder gar gegensätzlicher religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen zusammenleben, kann die friedliche Koexistenz nur gewährleisten, wenn er selber in Glaubensfragen Neutralität bewahrt“.42 Staatskirchenrechtlich folgt dies aus der Trennung von Staat und Kirche, die als Weimarer Kompromiss Eingang in das Grundgesetz gefunden hat (Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 1 und 3 WRV). Neutralität fordert die Nichteinmischung des Staates in Fragen des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses. Sie hat in den europäischen Ländern jeweils eine andere rechtliche Gestalt angenommen. Innerhalb der zivilen Gesellschaft nimmt die Religion jedoch überall eine ähnlich unpolitische Stellung ein.43 In Deutschland wird der Grundsatz der Neu39

BVerfGE 41, 29 (49); vgl. auch BVerfGE 41, 65 (78); 41, 88 (107 ff.). So für Art. 4 GG der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages in seinem Gutachten zum Burkaverbot, auszugsweise abgedruckt auf http://wolfgang-bos bach.de/news/burkaverbot-in-deutschland/?searchterm=Burka; Blanke, in: D. Merten/ H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. VI/1, 2010, § 142 Rn. 16. 41 Zu Art. 9 EMRK vgl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 146 ff., sowie Frowein. (Fn. 35), Art. 9 Rn. 1 ff.; zur entsprechenden Auslegung des Art. 10 der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen sowie des Art. 15 Abs. 2a der kanadischen Verfassung vgl. Barnett, Signes religieux dans la sphère publique et liberté de religion, Gutachten der Rechtsabteilung des kanadischen Parlaments, http://www2.parl.gc.ca/content/lop/researchpublications/prb0441-f.htm. 42 BVerfGE 93, 1 (16, 21 ff.); BVerfGE 108, 282 (299 f.); zur Begründung der Neutralität über ein egalitäres Legitimitätsverständnis vgl. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 80 ff., 93 ff., 98 ff. 43 EGMR, Refah Partisi (The welfare Party) u. a. v. Türkei, Nr. 41340/98, 41342/98, 41343/98 und 41344/98 v. 13.2.2003, Rn. 91, spricht von der „Rolle des Staates als dem neutralen und unparteiischen Organisator der Praktizierung der verschiedenen Religionen“. 40

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tralität aus einer Gesamtschau einschlägiger Grundrechtsgehalte hergeleitet, namentlich aus dem Verbot der Benachteiligung oder Bevorzugung wegen des Glaubens, der religiösen oder der politischen Anschauung (Art. 3 Abs. 3 GG), aus der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), der Sicherung des bekenntnisunabhängigen Zugangs zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 3 GG) sowie aus den staatskirchenrechtlichen Gewährleistungen des Art. 140 GG i.V. m. Art. 137 Abs. 1 WRV.44 Aus Respekt vor unterschiedlichen religiösen oder weltanschaulichen Sichtweisen hat der Staat auf eine Zuständigkeit in Fragen der Sinnorientierung seiner Bürger zu verzichten. Es ist ihm insonderheit verwehrt, Glauben und Lehre als solche zu bewerten, denn die Wahrheitsfrage bleibt für ihn tabu.45 Für die Reaktionen des Staates und damit rechtlich relevant ist allein „das tatsächliche Verhalten der Religionsgemeinschaft“,46 also ihre Pflicht zum verfassungskonformen Wirken.47 Das Religionsrecht des Grundgesetzes kennt insofern keinen „Kulturvorbehalt“,48 privilegiert also nicht die jüdisch-christlichen Religionsgemeinschaften. Vielmehr folgt aus dem Gleichheitsgebot, dass das Verhältnis des Staates zu den Institutionen (Kirchen, Weltanschauungsgemeinschaften) im Sinne des Paritätsgedankens49 und der Äquidistanz50 rechtlich zu ordnen ist. Dies bedeutet Gleichberechtigung, Gleichwertigkeit und Gleichrang von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung folgt zugleich das an den Staat gerichtete Verbot, sich mit einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft zu identifizieren.51 Gleichwohl darf Neutralität nicht mit schematischer Gleichbehandlung identifiziert werden (IV. 2.).52 Als eine Steigerung des Prinzips der Neutralität gilt der Grundsatz der Laizität. Er kennzeichnet namentlich die verfassungsrechtliche Lage Frankreichs, der USA sowie der Türkei. Die Laizität des Staates äußert sich hier durch seine Un44 Vgl. BVerfGE 19, 206 (216); zuletzt BVerfGE 123, 148 (177 f.); grundlegend: Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 16 f., 218 ff.; Huster (Fn. 42), S. 47 ff. 45 BVerfGE 33, 23 (29): „Dem Staat ist es verwehrt, . . . den Glauben oder Unglauben seiner Bürger zu bewerten.“ 46 Vgl. BVerfGE 102, 370 (397). 47 Vgl. Waldhoff (Fn. 14), D 46 f.: „Verfassungskompatibilität“. 48 Vgl. Bielefeldt, Muslime im säkularen Rechtsstaat, 2003, S. 48 ff.; Möllers, VVDStRL 68 (2009), S. 47; Waldhoff (Fn. 14), D 48 ff. 49 Vgl. etwa BVerfGE 19, 1 (8); 19, 206 (216); 24, 236 (246); 93, 1 (17); BVerwGE 61, 152 (158 f.); 87, 115 (127); ferner Heckel (Fn. 7), S. 472; Classen, Religionsrecht, 2006, Rn. 127 ff. 50 BVerfGE 93, 1 (16 f.), Heckel (Fn. 7), S. 472. 51 BVerfGE 30, 415 (422); 93, 1 (17); 108, 282 (299 f.). 52 Vgl. Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung durch das Grundgesetz, 1989, S. 82 f.; Classen (Fn. 49), Rn. 128; Waldhoff (Fn. 14), D 42 ff.

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parteilichkeit gegenüber weltanschaulichen Gruppen und durch Anerkennung ihres Pluralismus in der Nation. In Staaten, die einer rigorosen Form der Laizität folgen (Frankreich, Türkei), kann der Staat unter Berufung auf den ordre public Eingriffe in die Religionsfreiheit rechtfertigen; damit wird die Laizität – als Element einer auf unbedingte Toleranz gegründeten Zivilreligion53 – zu einem gesellschaftspolitischen Konzept, das insbesondere auch manifeste Erscheinungen der Religionsausübung im öffentlichen Raum gesetzlich zu regulieren trachtet. Philosophisch gründet die Idee der Laizität in der Skepsis vor dem Anspruch auf absolute Wahrheiten, also in einem erkenntnistheoretischen Relativismus, staatstheoretisch und staatsrechtlich in der Überzeugung, dass ein laizistisches Bewusstsein als Katalysator sozialer Kohäsion unverzichtbar sei, um so die Mitglieder der Gesellschaft durch ein Band zu einen, das über „ein bloßes Verhältnis der Koexistenz“ hinausgeht.54 Insofern ist es mit der Rousseauschen Vorstellung der „citoyenneté“ eng verbunden, die den Bürger als ein höchst politisches Wesen definiert, welches das Allgemeininteresse über das Einzelinteresse stellt.55 Über die Grenzen der staatlichen Gemeinschaft hinaus erhebt die Laizität jedoch den Anspruch, einen universellen Grundsatz für die Weltgesellschaft darzustellen.56 Die Bedeutung dieses Bewusstseins für das Verhältnis von Staat und Gesellschaft in Frankreich zeigt sich auch darin, dass jüngst eine „Pädagogik der Laizität“ gefordert wurde, um den ethischen Gehalt dieser Idee zu vertiefen.57 Diese Unterscheidung von Neutralität und Laizität hat namentlich Folgen für die rechtliche Schlichtung von Konflikten zwischen der positiven Religionsfreiheit der Mehrheit und der negativen Religionsfreiheit der Minderheit. Aus der Neutralitätspflicht des Staates wird entnommen, dass solche Situationen weder zugunsten der positiven noch der negativen Religionsfreiheit einseitig entschieden werden dürfen.58 Vielmehr wird es als Aufgabe des demokratischen Gesetz53 Vgl. Rousseau, Du contrat social, 1896, Buch IV, Kap. 8 (De la religion civile): „Ceux qui distinguent l’intolérance civile et l’intolérance théologique se trompent, à mon avis. Ces deux intolérances sont inséparables. Il est impossible de vivre en paix avec des gens qu’on croit damnés; les aimer serait haïr Dieu qui les punit; il faut absolument qu’on les ramène ou qu’on les tourmente. Partout où l’intolérance théologique est admise, il est impossible qu’elle n’ait pas quelque effet civil . . .; et sitôt qu’elle en a, le souverain n’est plus souverain, même au temporel: dès lors les prêtres sont les vrais maîtres; les rois ne sont que leurs officiers.“ 54 Vgl. Bidar, Il est urgent de mettre en oeuvre une véritable pédagogie de la laicité, Le Monde v. 21.12.2010, S. 19, www.lemonde.fr/idees/article/2010/12/20/il-est-urgentde-mettre-en-uvre-une-veritable-pedagogie-de-la-laicite_1455889_3232.html. 55 Rousseau, Du contrat social: „Le citoyen est un être éminemment politique (la cité) qui exprime non pas son intérêt individuel mais l’intérêt général. Cet intérêt général ne se résume pas à la somme des volontés particulières mais la dépasse.“ 56 Vgl. Bidar (Fn. 54), S. 19: „un principe universel de cohésion sociale“. 57 Vgl. Bidar (Fn. 54). 58 Vgl. aber Hess StGH NJW 1966, 31, der den Konflikt wegen des Schulgebets im Sinne der negativen Religionsfreiheit entschied.

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gebers angesehen, unvermeidliche Spannungsverhältnisse zwischen individueller „negativer“ und kollektiver „positiver“ Religionsfreiheit nach dem Prinzip der Konkordanz und nach Maßgabe der Elemente des Verhältnismäßigkeitsprinzips zwischen den verschiedenen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern zu lösen.59 Nach einem laizistisch geprägten Ansatz soll sich hingegen bei einem solchen Konflikt zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit der Grundsatz der strikten Unparteilichkeit des Staates im Sinne des Vorrangs der negativen Religionsfreiheit durchsetzen.60 Dieser Divergenz der Konzepte des Verhältnisses des Staates zur Religion kommt, wie zu zeigen sein wird, eine zentrale Bedeutung bei der rechtlichen Beurteilung von religiösen Zeichen und Handlungen im öffentlichen Raum zu. Sie ist auch für das Verständnis der Entscheidung der 2. Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Lautsi entscheidend. III. Das Kreuz im Klassenzimmer Der Fall Lautsi beschäftigte in Italien drei Gerichte, die vier Entscheidungen fällten, bevor der Fall sodann im Wege der Individualbeschwerde von Frau Lautsi den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erreichte. Das zuvor angerufene Verwaltungsgericht Venetien kam in seiner Entscheidung zu einem Ergebnis, das im völligen Gegensatz zu dem späteren Urteil der Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte steht. Unbeschadet der verfassungsrechtlich vorgegebenen Laizität des italienischen Staates (Art. 2, 3, 7, 8, 19 und 20 der ital. Verf.), die diesen zu einem Höchstmaß an Garantie religiöser Freiheit im Schulunterricht verpflichtet, stützt es sich auf die besonderen Beziehungen des italienischen Staates mit einigen Religionsgemeinschaften, insbesondere mit der Katholischen Kirche, die in besonderem Maße die Werte teilen, auf die sich die italienische Republik gründet.61 Die Argumentation des italienischen Verwaltungsgerichts mündet in der das deutsche Kruzifix-Urteil konterkarierenden Aussage, dass das Kreuz „ein universelles Zeichen der Bereitschaft des Respektes für jedes menschliche Wesen als solches (darstelle)“. Es beinhalte „lediglich“ eine 59 Vgl. BVerfGE 41, 29; Mikat, in: E. Benda u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Teil, 1994, § 39 Rn. 16 f.; Muckel (Fn. 9), S. 176 ff., 180. 60 HessStGH NJW 1966, 31 ff.; vgl. die Position von Posener im Streitgespräch zwischen Posener und Görlach, www.theeuropean.de/alan-posener/1879-im-gespraechmit-alan-posener3. Auch das italienische Verfassungsgericht hat die Pflicht zur Unparteilichkeit des Staates in religiösen Angelegenheiten betont: Corte cost., Urteile v. 12. April 1989, Nr. 203, und v. 14. Januar 1991, Nr. 13. 61 Vgl.die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Veneto (TAR) v. 17.5.2005 (Fn. 6), Ziff. 7.1 (www.olir.it/documenti/index.php?documento=2075). Zuvor hatte dieses regionale Verwaltungsgericht durch Entscheidung v. 14.1.2004 (Nr. 56) dem italienischen Verfassungsgericht die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Königlichen Dekrete vorgelegt (Fn. 18), (www.olir.it/documenti/index.php?documento=773).

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„Besinnung . . . auf die Werte der italienischen Geschichte und die von der italienischen Gesellschaft geteilten Werte, wie sie rechtlich in der Verfassung rezipiert sind, unter ihnen an erster Stelle die Laizität des Staates.“ 62 Der italienische Staatsrat63 hat diese Entscheidung sodann als Berufungsinstanz bestätigt und das Kreuz in seinem jeweiligen räumlichen Kontext interpretiert. Im Raum der Schule bringe das Kreuz „zivile Werte“ zum Ausdruck, „also die Werte, die die Laizität in der gegenwärtigen Rechtsordnung des Staates umschreiben“. Auch vor einem laizistischen Hintergrund, der von dem für das Kreuz eigentümlichen religiösen Kontext abweiche, könne diesem Symbol „eine höchst edukative . . . Funktion“ bescheinigt werden, die dazu führe, „dass es auf das religiöse Bekenntnis der Schüler nicht ankomme“. 1. Christliche und weltliche Symbolik des Kreuzes

Die Gleichsetzung des Sakralen mit dem Profanen geht hier allerdings so weit, dass das Verwaltungsgericht Venetien, dem der Staatsrat auch insoweit folgt, „den christlichen Glauben“ insgesamt „in letzter Konsequenz“ als „Fundament der Laizität des Staates“ ansieht.64 Dies widerspricht bereits dem Grundsatz, dass „der säkulare Staat . . . religiöse Phänomene nur aus weltlichen Gründen und Zielen und nur nach weltlichen Maßstäben fördern (darf).“65 Zugleich verwechseln die italienischen Gerichte die Konzepte von Laizität und Säkularität. Als „visuelle Unterstützung der säkularen Kultur- und Werteerziehung“ in den weltlichen Schulfächern einer staatlichen Pflichtschule ist das Kreuz durchaus auch andernorts verstanden worden.66 Damit werden die diesem optischen Zeichen unterstellte „unerschöpfliche Fülle von Sinnbezügen“ 67 und seine auch im deutschen Schrifttum betonte unterschiedliche Rechtsbedeutung für verschiedene Gruppen und Institutionen68 zum entscheidenden Argument der rechtlichen Kompatibilität 62

Entscheidung des Verwaltungsgerichts Veneto v. 17.5.2005 (Fn. 6), Ziff. 11.9 und

14.1. 63 Consiglio di Stato, Sezione VI, Urteil v. 13.2.2006, Nr. 556, Ziff. 3 (www.eius.it/ giurisprudenza/2006/015.asp). 64 s. Fn. 63, Ziff. 11.6: „fede christiana . . . in ultima analisi . . . fondamento della stessa laicità dello Stato“. 65 Vgl. Heckel, Gesammelte Schriften, Bd. IV, 1997, S. 739; zur Unterscheidung von Neutralität und Laizität im italienischen Verfassungsrecht vgl. Mangiameli, in: Diritto e società 1997, S. 27 ff. 66 Vgl. Heckel (Fn.7), S. 467, der in diesem Sinne die Rechtsprechung des BVerfG (etwa E 35, 366, 370, 375 ff. – Kreuz im Gerichtssaal) bis zur Kruzifix-Entscheidung auslegt (Hervorhebung nicht im Original). 67 Isensee, ZRP 1996, 10, (14). 68 Vgl. Heckel (Fn. 7), 466 f.; Jestaedt, JRP 1995, 235 (246 f.); Merten (Fn. 15), S. 1000; Jeand’Heur/Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, 2000, Rn. 108; v. Campenhausen, AöR 1996, S. 448 ff. (460 ff.); Nolte, (Fn. 15), 91 ff.; Augsberg/Engelbrecht, JZ 2010, 450 ff. (453); Mick-Schwerdtfeger, Kollisionen im Rahmen der Religionsausübung, 2008, S. 178 f.

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eines Schulkreuzes mit dem Verfassungskonzept des säkularen Staates. Diese Relativierung der christologischen Bedeutung des Kreuzes ist als „nicht geringer Preis“ bezeichnet worden, der für die Erhaltung der christlichen Prägung einer staatlichen Schule in einer religiös pluralistischen Gesellschaft zu entrichten sei.69 Anders gewendet ist er die unvermeidbare Konsequenz der säkularen Verfasstheit des Staates, der andernfalls die Schwelle zur staatlichen Indoktrinierung „bestimmter (christlicher) Glaubenswahrheiten“ überschreiten würde.70 Nur bei einer solchen Deutung ist das Anbringen des Kreuzes im Klassenzimmer als neutrale Intendanturfunktion des Staates mit seinem säkularen Charakter vereinbar, wenn dies denn nicht bereits infolge der positiven Glaubensfreiheit der christlichen Schüler und Eltern gerechtfertigt werden kann.71 Doch kann die schneidige Formel vom säkularen Symbolgehalt des Kreuzes als „Kultur- und Bildungsfaktor“ – im Schrifttum sogar als „Verfassungsessenz“ überhöht72 – nicht darüber hinwegsehen lassen, dass sich in diesem Zeichen keine klaren Grenzen zwischen dem Immanenten und dem Transzendenten ziehen lassen. Wenn es die Offenheit der weltlichen, auf diesseitige Staatsziele und Staatsfunktionen begrenzten Sphäre für die metaphysische Welt versinnbildlicht und es der Staat im Klassenzimmer wie im Gerichtssaal präsentiert, „weil er sich die säkularen Auswirkungen religiöser Kräfte zur besseren Erfüllung seiner säkularen Gerichts- und Kulturaufgaben zunutze machen will“, dann ist es sophistisch, im gleichen Atemzug den „höchst unterschiedlichen Sinngehalt“ des Kreuzes zu betonen.73 Ohnehin ist eine strikte Trennung der religiösen und säkularen Bedeutungsgehalte gerade nicht das Ziel der bayerischen und italienischen Regelungen über die Anbringung des Kreuzes in staatlichen Schulen, sondern vielmehr die zivilreligiöse Verbindung dieser Gehalte. Die unauflösliche Verflechtung der Sinngehalte74 ist für die Auflösung der Grundrechtskollisionen im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis75 oder gar die Rechtfertigung des damit ver69

Vgl. Heckel (Fn. 7), S. 463 mit Blick auf die Gemeinschaftsschule. BVerfGE 93, 1 (23). 71 Vgl. Heckel (Fn. 7), S. 460, 473. 72 Jestaedt, JRP 1995, 246. 73 So aber Heckel (Fn. 7), S. 466 f., der damit den „Kultur- und Bildungsfaktor“ des Kreuzes als gleichsam abzuschichtenden Teil zu verteidigen sucht; ebenso Merten (Fn. 15), S. 1008. 74 Bischof Lehmann, in: H. Maier (Fn. 15), S. 109 ff. (112), spricht von „fließenden Übergängen im Gebrauch (des) Symbols“ des Kreuzes, wobei nach seiner Sicht „die Bindung an diesen Ursprung gewiß bis zur Unkenntlichkeit säkular gelockert sein kann“. Mit einer ganz anderen Intention gelangt Huster (Fn. 42), S. 248, zum gleichen Ergebnis. 75 Muckel (Fn. 9), S. 273 ff., weist zutreffend darauf hin, dass es nach der Idee des Gesetzes- und Parlamentsvorbehalts staatliche Entscheidungen geben kann, die ohne Eingriff zu sein, weitreichende Folgen für die Gemeinschaft und den Einzelnen haben. Auch der EGMR (GK), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 18.3.2011, Rn. 66, scheint dieser Sichtweise zuzuneigen, weil nicht festgestellt werden könne, ob das Aufhängen 70

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bundenen Eingriffs76 schon deshalb relevant, weil das Neutralitätsgebot nur bei einer auf säkulare Wertvermittlung gerichteten staatlichen Schul- und Erziehungshoheit als „modifiziert“ 77 angesehen werden kann. Diese grundrechtlichen Implikationen lassen sich auch nicht mit dem Hinweis überspielen, dass der Einzelne das Recht habe, dem Kreuz eine individuelle – bis zum bloßen Schmuckelement reichende – Sinndeutung zu geben78 oder an seinen Glaubenswahrheiten nicht partizipieren zu müssen.79 Denn als staatliche Veranstaltung, die das Kreuz jedenfalls bei einer Vermittlungsrolle christlicher und abendländischer Werte in bayerischen und italienischen Schulen darstellt,80 kann es grundrechtlich nicht allein von einem subjektiven Verständnis (des Verwenders oder Adressaten), sondern muss nach Maßgabe des objektiven Rahmens der in der Gesellschaft anzutreffenden und in diesem Sinne möglichen Deutungen (objektiver Empfängerhorizont81) interpretiert werden.82 Dieser lebensweltliche Bedeutungsgehalt des nichtjuristischen Zeichens „Kreuz“ ist für den Gesetzgeber grundsätzlich nicht vollständig verfügbar und für den Interpreten auch nicht im Wege einer verfassungskonformen Symbolinterpretation überwindbar. Infolge der – durch die gegenläufige Auslegung – versuchten Entleerung seines (christlichen) Symbolgehalts83 steht das Kreuz in der Gefahr, zu einer vereines Kreuzes im Klassenzimmer einen Einfluss auf Schüler habe, deren Überzeugungen noch in der Entwicklung begriffen seien. 76 Das BVerfG (E 93, 117) sieht das Kruzifix im Klassenraum einer staatlichen Pflichtschule als einen Eingriff in das Erziehungsrecht der Eltern an; den Eingriffscharakter bejahen namentlich auch Huster (Fn. 42), S. 138 ff. (142 f., 179), sowie Borowski (Fn. 41), S. 469 ff., 481 ff.; die h. M. lehnt dies mangels Finalität und Intensität ab: vgl. zuletzt etwa Mick-Schwerdtfeger (Fn. 68), S. 191 mit weit. Nachw. in Fn. 735; noch weitergehend Merten (Fn. 15), S. 994 ff., wonach „das negative Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 GG von vornherein nicht vor einem Zusammentreffen mit dem Kreuz oder anderen religiösen Symbolen (schützt)“; zu einer Grundrechtskollision kann es hiernach gar nicht kommen. Die Präsentation des Kreuzes in Schulräumen hat nach seiner Ansicht keinen Einfluss auf diesen Befund. 77 Heckel (Fn. 7), S. 472. 78 Heckel (Fn. 7), S. 470. 79 Merten (Fn. 15), S. 998. 80 Vgl. zu dieser Unterscheidung des Schulkreuzes zur Wahrnehmung staatlicher Aufgaben oder zur Unterstützung religiöser Bürgerinteressen Huster (Fn. 42), S. 170 f. 81 Vgl. BVerfGE 108, 282 (305) – Kopftuch-Entscheidung. 82 Huster (Fn. 42), S. 154 f., sieht es infolge von Interpretationsalternativen nicht als möglich an, den objektiven Sinn des Zeichens „Kreuz“ zu ermitteln. Daraus folgt für ihn das Gebot grundrechtsschützender Zeicheninterpretation (S. 157 ff.); auch Borowski (Fn. 41), S. 475 f., 479 f., sieht in Anschluss an Jeand’Heur, in: W. Brugger/S. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, 1998, S. 155 ff. (163), keine „klare, feste und eindeutige Konvention, die über die Deutung eines Symbols zu entscheiden vermag.“ 83 Signifikant ist insoweit die Ansicht von Merten (Fn. 15), S. 999 f., 1008, der Kreuze in staatlichen Unterrichtsräumen immer als „res profanae“ ansieht und hinzufügt: „Im Unterschied zum Kruzifix ist das Kreuz ein abstraktes Zeichen, das als solches und für den Uneingeweihten keine sinnlich wahrnehmbare Aussage enthält.“

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fügbaren Größe zu werden, in die die staatlichen Autoritäten bei der zivilreligiösen Indienstnahme dieses Zeichens die ihnen (jeweils) bedeutenden Werte und ethischen Normen hineinlesen. Der Schritt zu seiner Deutung als Vehikel gesellschaftlicher Einheitsstiftung ist damit vollzogen. Der Preis, der für die staatliche Pflicht zur Achtung der weltanschaulichen Neutralität von den Verteidigern des Kreuzes in Klassenräumen zu zahlen ist, besteht letztendlich in der „Profanisierung“ 84 und „Folklorisierung“ 85 des Kreuzes. Das Dilemma verschärft sich noch dadurch, dass Symbole anderer Glaubensgemeinschaften in ihrer religiösen Aussage ernst genommen werden, weshalb sie ja eben wegen der Neutralitätspflicht keinen Eingang in die Klassenräume der staatlichen Schulen deutscher Länder finden. Angesichts dieser widersprüchlichen Interpretation und ihrer „schizophrenen“ Folgen86 ist es im Ergebnis nachvollziehbar, dass die 2. Kammer des Straßburger Gerichtshofs eine Sinndeutung des Kreuzes als Inbegriff nationaler Verfassungswerte mit dem Hinweis abgelehnt hat, „die religiöse Bedeutung des Kreuzes (sei) dominierend“.87 Zutreffend hat dann auch die Große Kammer des EGMR hervorgehoben, dass „das Kreuz vor allem ein religiöses Symbol ist“ und es sich – ungeachtet eines etwaigen säkularen Symbolgehalts – „unzweifelhaft auf das Christentum bezieht“.88 Das Defizit der vorherigen Kammerentscheidung lag indes darin, dass sich die Richter mit dem Aspekt der Sinnvarianz des Kreuzes und der methodischen Frage, wie und von wem über die Bedeutung eines staatlich verantworteten Kreuzes zu entscheiden ist, nicht auseinandergesetzt haben; stattdessen gehen sie – wie seinerzeit das Bundesverfassungsgericht89 – ohne weitere Begründung von einem „missionarischen“, also bekehrenden Grundzug eines Schulkreuzes aus, Folgerungen für die Präsentation in staatlichen Unterrichtsräumen zieht er aus dieser Unterscheidung allerdings nicht. 84 BVerfGE 93, 1 (20). 85 Waldhoff (Fn. 14), D 123 f., schlägt unter Verweis auf BVerfGE 93, 1 ff. zur Überwindung der Sonderbehandlung der christlichen Religionsgemeinschaften hinsichtlich des Kreuzes und der Ordenstracht eine am Verhältnismäßigkeitsprinzip orientierte einzelfallbezogene Prüfung unter Ausschöpfung „föderaler, ja lokaler Differenzierungen“ vor. 86 Vgl. Waldhoff (Fn. 14), D 124: „eine in der Tendenz schizophrene Folge“. Das BVerfG (E 93, 1 (23)), sieht die Grenze für die Einbringung christlicher Inhalte dort, wo es um mehr als um die „Anerkennung (des Christentums als) prägender Kultur und Bildungsfaktor“ geht; „bestimmte (christliche) Glaubenswahrheiten“ dürfen angesichts der weltanschaulichen Neutralität des Staates nicht in das Klassenzimmer und in den Unterricht eingebracht werden. 87 Vgl. EGMR (K), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 3.11.2009, Rn. 51 a. E. und Rn. 52: „In the Court’s opinion, the symbol of the crucifix has a number of meanings among which the religious meaning is predominant . . . The Court considers that the presence of the crucifix in classrooms goes beyond the use of symbols in specific historical contexts.“ 88 EGMR (GK), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 18.3.2011, Rn. 66, 71. 89 BVerfGE 93, 1 (19 f.).

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ohne dass es hierauf für die Feststellung seines religiösen Charakters ankommt. Damit hat die Kammer auch einer möglichen Interpretationszuständigkeit der nationalen Gerichte nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt. Zudem fehlt es an einer ausreichenden Prüfung, ob die Beschwerdeführerin die Darlegungslast für ihre Deutung des Kreuzes erfüllt hat. Denn die persönliche Wahrnehmung, die die Klägerin vom Kreuz hat, reicht nicht aus, um eine Verletzung des Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls festzustellen.90 2. Das Verhältnis von negativer und positiver Religionsfreiheit

Die rechtliche Zulässigkeit eines Kreuzes im Klassenzimmer wird neben seiner umstrittenen Symbolik auch durch das Verhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit bestimmt. Denn die positive Religionsfreiheit der Eltern und Schüler christlichen Glaubens kann – neben dem staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) – einen Rechtfertigungsgrund für das staatlich verantwortete Kreuz darstellen. So hat der Vorsitzende der Österreichischen Bischofskonferenz, Kardinal Christoph Schönborn, erklärt, dass „,das erstinstanzliche Kreuz-Urteil‘ deshalb besorgniserregend und abzulehnen (sei), weil darin der Gerichtshof (scil.: die 2. Kammer des EGMR) in doppelter Hinsicht zu Unrecht bestimmte Aspekte der Religionsfreiheit (bevorzuge). Das (sei) einmal die individuelle gegenüber der kollektiven Seite der Religionsfreiheit, sowie die negative gegenüber der positiven Dimension dieser Freiheit. In letzter Konsequenz (führe) diese einseitige Sicht des Gerichtshofes dazu, dass die individuelle Religionsfreiheit einzelner Personen das Recht auf kollektive, öffentliche Religionsübung (aushöhle)“.91 Im Kern geht es dieser Kritik darum, dass der Widerspruch einzelner Schüler, die sich auf ihr Recht auf negative Religionsfreiheit berufen, die Position der Mehrheit der Schüler, die das Kreuz als Ausdruck der positiven Religionsfreiheit zumindest akzeptieren, untergraben kann. Die Gegenüberstellung von positiver und negativer Religionsfreiheit ist mit Blick auf Zuspruch und Ablehnung, die das Kreuz in der Schule erfährt, indes als untauglich bezeichnet worden, da seine Zulässigkeit davon abhänge, ob es sich um eine „neutralitätswidrige staatliche Parteinahme in religiös-weltanschaulichen Fragen“ handele.92 Anders als die italienischen Gerichte, die in der Sache Lautsi das Recht auf negative Religionsfreiheit gar nicht thematisiert haben, hat die 2. Kammer des 90

Vgl. EGMR (GK), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 18.3.2011, Rn. 66. Vgl. die Erklärung des Vorsitzenden der Österreichischen Bischofskonferenz v. 29.6.2010, www.kath-kirche-vorarlberg.at/organisation/internet-redaktion/artikel/ schoenborn-kreuz-nicht-aus-dem-oeffentlichen-raum-verbannen. 92 Vgl. Huster (Fn. 42), S. 176, 179, 237, der im Fall der Anbringung des Kreuzes die Überwindung seiner Exklusivität durch die Versinnbildlichung „aller religiös-weltanschaulichen Überzeugungen“ verlangt, „die in dem jeweiligen Klassenverband vertreten sind“. 91

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EGMR den negativen Freiheitsaspekt akzentuiert, indem sie von der „zwangsweisen Gegenwart des Kreuzes“ und „der zwangsweisen Aufhängung eines Symbols eines bestimmten Glaubens in der Ausübung öffentlicher Gewalt in bestimmten Situationen erhöhter administrativer Ingerenz, insbesondere in Klassenzimmern“ spricht.93 Durch einen solchen Zwang sah sie das Erziehungsrecht der Eltern sowie die Religionsfreiheit der Schüler verletzt (Art. 2 des Protokolls Nr. 1).94 Wie bereits in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geht es darum, nicht faktisch durch Konfrontation mit einem religiösen Symbol in dem Gefühl der Nichtidentifikation gestört zu werden.95 Wie das Verhältnis der positiven Religionsfreiheit der überwiegenden Mehrheit der Schüler, die einer christlichen Konfession angehören, zu der negativen Religionsfreiheit von Kindern und deren Eltern zu bestimmen ist, die sich zu einem nicht-christlichen Glauben bekennen oder die als Agnostiker oder Atheisten keiner Religionsgemeinschaft angehören, bemisst sich nach der Pflicht des Staates zur Neutralität und Unparteilichkeit in religiösen Fragen (II. 2.). Das Bundesverfassungsgericht hat in seinen Leitentscheidungen zur Religionsfreiheit diesen Grundsatz im Sinne eines Konzepts einer „wohlwollenden“ und „freundlichen“ Neutralität ausgestaltet,96 die im Sinne der Offenheit des Staates für das Religiöse und des Respektes vor religiösen Betätigungen zu verstehen ist.97 Die staatliche Neutralitätspflicht unterscheidet sich vom Konzept der Laizität im Sinne der französischen Verfassungstradition gerade dadurch, dass der Staat in seiner unmittelbar die Gesellschaft berührenden Tätigkeit religiöse Interessen der Bürger berücksichtigen und fördern darf.98 Neutralität auf religiösem Gebiet hat daher nicht zur Konsequenz, dass das religiöse Moment aus allen staatlich beherrschten oder zumindest organisierten Lebensbereichen verdrängt ist. Vielmehr 93 Vgl. EGMR (K), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 3.11.2009, Rn. 53 („compulsory presence of the crucifix“) und 57 („compulsory display of a symbol of a particular faith in the exercise of public authority in relation to specific situations subject to governmental supervision, particularly in classrooms“). 94 EGMR (K), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 3.11.2009, Rn. 57. 95 Zu dieser seit der Kruzifix-Entscheidung des BVerfG neuen Komponente der negativen Bekenntnisfreiheit vgl. auch Ladeur/Augsberg, Toleranz – Religion – Recht, 2007, S. 114; zum Prinzip der Nicht-Identifikation vgl. Schlaich (Fn. 44), S. 236 ff.; Huster (Fn. 42), S. 138 ff., 141, sieht hingegen durch die „Adressatenrolle“ des Kreuzes den grundrechtlichen Schutz als gegeben an; Merten (Fn. 15), verneint einen Eingriff, weil die Präsenz des Kreuzes keine „Bekehrung“ erzwinge. 96 Vgl. BVerfGE 41, 29 (50) – christliche Gemeinschaftsschule, wo das Gericht die staatliche Neutralität als „Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen“ interpretiert; 52, 223 (235 ff.) – Schulgebet; 35, 366 (373 ff.) – Kreuz im Gerichtssaal; 24, 236 – Lumpensammlerfall; 19, 206 – Bad. Kirchenbausteuer; 32, 98 – Gesundbeterfall; 108, 282 (300) – Kopftuch. 97 Vgl. Heckel (Fn. 7), S. 473; Bielefeldt (Fn. 48), S. 16 f., der von einer „respektvollen Nicht-Identifikation“ des Staates spricht. 98 Isensee, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.), HbStKirchR I, 2. Aufl., 1994, S. 1009 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-K, 6. Aufl., 2010, Art. 4 Rn. 31.

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soll der notwendige Ausgleich zwischen der kollektiven positiven und der individuellen negativen Erscheinungsform der Religions- und Glaubensfreiheit „im Wege der Toleranz der Gläubigen und Nichtgläubigen bewerkstelligt werden“.99 Anders als die erstinstanzliche Straßburger Kammer, die das Toleranzgebot in ihrer Entscheidung vom 3.11.2009 in Sachen Lautsi nicht thematisierte, hat das Bundesverfassungsgericht sich hiermit auseinandergesetzt. Es sieht das Toleranzgebot als Auftrag an den Gesetzgeber an, „das unvermeidliche Spannungsverhältnis zwischen negativer und positiver Religionsfreiheit“ zum Ausgleich zu bringen.100 Mit Blick auf die Anbringung eines Kruzifixes im Klassenzimmer lässt das Gericht dem Gesetzgeber insoweit aber keinen Spielraum. Denn es interpretiert die Glaubensfreiheit im Sinne eines Schutzrechts von Minderheiten.101 Ob ein Kruzifix in einem Klassenzimmer aufgehängt werden kann, soll sich danach nicht nach dem Willen der Mehrheit richten. Auch diesem Ansatz ist vorgeworfen worden, er mache die negative Religionsfreiheit zu einem „Obergrundrecht“.102 In anderen Entscheidungen hat sich das Bundesverfassungsgericht indes zu einem offenen und übergreifenden, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernden Verständnis von Neutralität bekannt.103 Im Sinne einer solchen „positiven und offenen Neutralität“ des Staates104 und somit seiner Pflicht zur Förderung der verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften unter striktem Verzicht auf jede Form der Identifikation ist aus dem Toleranzgebot als Ausdruck der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)105 gefolgert worden, dass nichtchristliche Schüler und ihre Eltern das Vorhandensein eines Kreuzes in einem Klassenzimmer hinzunehmen haben. Widersprechen sie, ist die Ernsthaftigkeit ihrer Einwände und Argumente zu prüfen; dabei ist ggfs. nach Lösungen zu suchen, die – wie etwa das Umhängen des Kreuzes – die vorgetragenen Beeinträchtigung mindern, ohne dass die Mehrheit der Schüler auf das Kreuz verzichten muss. Dafür spricht auch, dass die psychische Beeinträchtigung und mentale Belastung, die nichtchristliche Schüler durch die zwangsläufige 99 Vgl. Schlaich, in: P. Mikat (Hrsg.), Kirche und Staat in der neueren Entwicklung, 1980, S. 427, 439; Starck (Fn. 98), Art. 4 Rn. 31. 100 BVerfGE 93, 1 (22 f.); zur Vagheit des staatlichen Toleranzmodells vgl. Huster (Fn. 42), S. 229 ff. 101 Vgl. BVerfGE 93, 1 (24). 102 Vgl. die abweichende Meinung der Richter Seidl, Söllner und Haas in BVerfGE 93, 1 (25, 32); im Schrifttum: Hollerbach, S. 28; Merten (Fn. 15), S. 996; Starck (Fn. 98), Art. 4 Rn. 31. 103 Vgl. BVerfGE 108, 282 (300); so auch die Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts, BGE 116 Ia, 252 Rn. 48 mit weit. Nachw.: „. . . Diese Neutralitätspflicht ist zwar nicht absolut . . .“ 104 So die Stellungnahme des Sekretariats der Deutschen Bischofskonferenz in BVerfGE 93, 1 (20). 105 BVerfGE 108, 282 (300).

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Wahrnehmung des Kreuzes im Unterricht zu erdulden haben, nur ein verhältnismäßig geringes Gewicht haben. Das Minimum an Zwangselementen, das in dieser Beziehung von den Schülern und ihren Eltern zu akzeptieren ist, wird nicht überschritten.106 Ein unmittelbarer Einfluss auf Lehrinhalte und Erziehungsziele im Sinne einer Propagierung christlicher Glaubensinhalte geht von dem Kreuz im Klassenzimmer nicht aus. Die Schüler sind nicht zu besonderen Verhaltensweisen oder religiösen Übungen vor dem Kreuz verpflichtet. Sie sind daher – anders als etwa bei dem durch Freiwilligkeit gekennzeichneten Schulgebet107 – nicht einmal „gezwungen“, durch Nichtteilnahme ihre abweichende weltanschaulichreligiöse Überzeugung kundzutun. Der EGMR hat in seiner Entscheidung vom 18. März 2011 insoweit zutreffend von einem „passiven Symbol“ gesprochen, das hinsichtlich seines Einflusses auf Schüler nicht mit der verbalen Vermittlung des Lehrstoffs oder einer Teilnahme an religiösen Aktivitäten gleichgesetzt werden könne.108 Es bleibt den Eltern anderer weltanschaulicher Überzeugungen unbenommen, ihre Kinder nach diesem Verständnis zu erziehen.109 Die Gefahr ihrer Diskriminierung besteht daher nicht.110 3. Wahrung des Beurteilungsspielraums der Konventionsstaaten

Eine einseitige Hervorhebung der negativen Glaubensfreiheit, wie sie auch die 2009 ergangene Kammerentscheidung des EGMR im Fall Lautsi prägt, reduziert den Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten111 in konventionswidriger Weise. In seiner Rechtsprechung hat der Straßburger Gerichtshof anerkannt, dass eine faire Balance zwischen den Interessen der Beschwerdeführer und der Gesellschaft gewahrt werden muss.112 Daher hat er – in Anerkennung des subsidiären Charakters seiner Kontrolle – den Vertragsstaaten in schwierigen sozialen, ethischen und technischen Bereichen eine solche „margin of appreciation“ zugestanden und es den nationalen Behörden in diesen Fällen überlassen, die bestmögliche (politische) Lösung zu finden.113 Eine solche Rücknahme der richterlichen 106

Vgl. BVerfGE 41, 29 (51). Vgl. Heckel (Fn. 7), S. 462. 108 Vgl. EGMR (GK), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 18.3.2011, Rn. 72. 109 Vgl. EGMR (GK), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 18.3.2011, Rn. 75. 110 Vgl. das Votum der Richter Seidl, Söllner und Haas in BVerfGE 93, 1 (25, 29 ff.) unter Hinweis auf den Sinngehalt, den das Kreuz auch für nicht-christliche Schüler entfalte. 111 Vgl. hierzu Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., 2008, § 18 Rn. 21 ff.; Peters, Einführung in die Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, S. 207; Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009, § 2 IX 1 Rn. 99. 112 EGMR, Powell and Rayner v. UK, Nr. 9310/81 v. 21.2.1990, Rn. 41 f. 113 Vgl. EGMR, Powell and Rayner v. UK, Nr. 9310/81 v. 21.2.1990, Rn. 44; EGMR, Fretté v. Frankreich, Nr. 36515/97 v. 26.2.2002, Rn. 41 – Adoption durch homosexuelle Paare. 107

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Kontrolldichte ist auch dann anzunehmen, wenn es an einheitlichen Standards der Mitgliedstaaten fehlt114 oder eine Korrektur einer staatlichen Gerichtsentscheidung, die im Bereich mehrpoliger Grundrechtsentscheidungen ergangen ist, sich zwangsläufig zugunsten einer der beiden Seiten auswirkt (arg. Art. 53 EMRK).115 Im Rahmen dieses Spielraums ist den Konventionsstaaten die Ausgestaltung der Schulen mit Symbolen nach Maßgabe ihres Verfassungsrechts prinzipiell selber überlassen.116 Denn der EGMR darf die Schul- und Bildungskompetenz der Vertragsstaaten nicht mittels eines Vertragsauslegungsverfahrens beschränken, das diesen Beurteilungsspielraum in unverhältnismäßiger Weise verkürzt, ohne dass dies durch die ihm obliegende Pflicht zur Sicherung eines grundrechtlichen Mindeststandards geboten wäre.117 Zu diesen Grundsätzen europäischer Rechtsprechung ist die Große Kammer des EGMR in ihrer Entscheidung vom 18. März 2011 zurückgekehrt und hat vor allem unter Verweis auf den Beurteilungsspielraum der Vertragsstaaten die Kammerentscheidung aus dem Jahr 2009 verworfen.118 Danach kann der Straßburger Gerichtshof – selbst bei unterschiedlichen Auffassungen der nationalen Obergerichte ein- und desselben Staates – nicht am Maßstab des staatlichen Erziehungsund Bildungsauftrags (Art. 2 Satz 2 des Protokolls Nr. 1) darüber entscheiden, ob ein Konventionsstaat ein Kreuz in den nationalen Klassenzimmern als Ausdruck der Grundsätze der Demokratie und der Werte abendländischer Zivilisation ansehen darf, solange der Vertragsstaat die Garantien der EMRK und das Verbot der Indoktrinierung achtet.119 Ein solcher Beurteilungsspielraum ist den Vertragsstaaten auch mit Blick auf ihre Verpflichtung zuzugestehen, den staatlichen Erziehungs- und Bildungsauftrag im Rahmen der Ausgestaltung von Unterrichtsräumen und der inhaltlichen Festlegung von Curricula mit der Achtung vor dem Recht der Eltern in Einklang zu bringen, „die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen“ (Art. 2 Satz 2 des Protokolls Nr. 1).120

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Vgl. etwa EGMR, I. v. UK, Nr. 25680/94 v. 11.7.2002, Rn. 51 ff.; 71 ff. Vgl. EGMR, Evans v. UK, Nr. 6339/05 v. 10.4.2007 Rn. 77, wonach gewöhnlich ein weiter Spielraum besteht, wenn der Staat einen Ausgleich zwischen „konkurrierenden privaten und öffentlichen Interessen oder Konventionsrechten“ schaffen muss. 116 Zur Berücksichtigung regionaler Besonderheiten mit Blick auf bestehende Moralvorstellungen bekennt sich der EGMR, Wingrove v. UK, Nr. 17419/90 v. 25.11.1996, Rn. 58. 117 Vgl. Grabenwarter (Fn. 111), S. 123, unter Verweis auf EGMR, Dahlab v. Schweiz, Nr. 42393/98 v. 15.2.2001, Rn 1. 118 Vgl. EGMR (GK), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 18.3.2011, Rn. 68 ff., 76. 119 Vgl. EGMR (GK), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 18.3.2011, Rn. 67 ff., 71; der Begriff „achten“ beinhaltet dabei auch positive Verpflichtungen des Staates zu einem Tun – vgl. EGMR, ebda., Rn. 61. 120 Vgl. EGMR (GK), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 18.3.2011, Rn. 61, 62, 69, unter Verweis auf EGMR, Kjeldsen, Busk Madsen and Pedersen, Nr. 5095/71; 5920/72; 115

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Diese Auslegung trägt der unterschiedlichen kulturellen und geschichtlichen Entwicklung der Vertragsstaaten Rechnung. Sie korrigiert damit den in der Kammerentscheidung gewählten Ansatz, der im Ergebnis zu einer Unitarisierung des europäischen Grundrechtsschutzes im Bereich kultureller Grundrechte geführt hätte. Um die unterschiedlichen religiösen Werthaltungen und Traditionen der Konventionsstaaten zu wahren, muss sich der EGMR – in richterlicher Selbstbeschränkung – auf die Sicherung des nach Art. 2 des ersten Zusatzprotokolls und Art. 9 EMRK gebotenen Basisschutzes, vor allem in Form der „Überwachung“ der Einhaltung der Schranken dieser Rechte und Freiheiten (Wahrung des Pluralismus, Verbot der Indoktrinierung), konzentrieren.121 Instrumente der Feinabstimmung im Fall eines Konfliktes um das Schulkreuz, namentlich die Streitschlichtung zwischen Mehrheits- und Minderheitspositionen (I., III. 2.), sind über diesen Mindestschutz hinaus in der Verantwortung der Vertragsstaaten nach nationalem Verfassungsrecht geboten. IV. Das öffentliche Tragen religiöser Symbole Das öffentliche Tragen religiöser Symbole, wie Kopftuch, Burka und andere Arten der Vollverschleierung, hat insbesondere durch die gesetzlichen Verbote in Frankreich und Belgien an verfassungsrechtlicher Brisanz gewonnen. Zwar stellt das Kopftuch – anders als das christliche Kreuz – wegen seiner Deutungsoffenheit nicht aus sich heraus ein religiöses Symbol dar, jedoch kann es bei einem entsprechenden Bewusstsein der Person, die es trägt, und unter Beachtung des „Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft“ eine vergleichbare Wirkung entfalten.122 Die Verhüllung des Kopfes und des Gesichts hat seine Ursprünge zwar in vorislamischer Zeit, doch wird die Bedeckung des Hauptes gläubiger muslimischer Frauen von strenggläubigen Vertretern des Islams unmittelbar aus dem Koran abgeleitet. Sie berufen sich dabei auf die Suren 24 Vers 31, 24 Vers 60 und 33 Vers 59.123 Auf dieser Grundlage wird das Tragen des Kopftuchs 5926/72 v. 7.12.1976, Series A Nr. 23, §§ 50–53; Folgerø, Nr. 15472/02 v. 29.6.2007, ECHR 2007-VIII, § 84; Zengin, Nr. 1448/04, ECHR 2007-XI v. 9.10.2007, §§ 51–52. 121 Vgl. EGMR (GK), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 18.3.2011, Rn. 68, 70; Augsberg/Engelbrecht (Fn. 65), S. 458, die Diversität statt Unitarisierung im Bereich des Grundrechtsschutzes durch den EGMR fordern. 122 s. zur Deutungsoffenheit des Kopftuchs BVerfGE 108, 282 (298 f., 303 ff.); Wißmann, ZevKR 52/2007, S. 51 (71); Detterbeck, in: ders./Rozek/v. Coelln (Hrsg.), Recht als Medium der Staatlichkeit, FS H. Bethge, 2009, S. 168 f.; Kinzinger-Büchel, Der Kopftuchstreit in der deutschen Rechtsprechung und Gesetzgebung, 2009, S. 23 ff. (33, 85 f.); Haupt (Fn. 2), S. 17 ff., 88 f. 123 „O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläu˘ ala¯bı¯b) über sich herunter ziehen. Das bigen, sie sollen etwas von ihrem Überwurf (G bewirkt eher, dass sie erkannt werden und dass sie nicht belästigt werden. Und Gott ist voller Vergebung und barmherzig.“ Sehr zurückhaltend mit Belegen aus dem islamwissenschaftlichen Schrifttum: Mückl, Der Staat, 40. Bd. 2001, S. 96 (117 ff.).

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˘ ala¯bı¯b“) als auf eine Pflicht der Frauen zum „Herunterziehen der Gewänder („G Teil der genuin islamischen Kleidungsvorschriften zurückgeführt.124 Angesichts der umstrittenen Deutung des Kopftuchs in der Koranexegese war es umso spektakulärer, dass der Großscheich der Kairoer Universität und Imam der Al-AzharMoschee, Mohammed Sayed al-Tantawi, einer der höchsten Rechtsgelehrten des sunnitischen Islam, den Gesichtsschleier der Frau („Niqab“), der nur einen Sehschlitz frei lässt, im Jahr 2009 als religiös nicht zulässig beurteilte.125 1. Das Verschleierungsverbot in der Gesetzgebung Frankreichs und Belgiens

Der französische Gesetzgeber hat am 13. Juli 2010 mit großer Mehrheit das Tragen von Kleidungsstücken im öffentlichen Raum verboten, die dazu bestimmt sind, das Gesicht zu verbergen;126 diese Regelung wurde vom Französischen Verfassungsrat als verfassungskonform gebilligt.127 Sie zielt vor allem auch auf ein Verbot der Burka im öffentlichen Raum. Es umfasst alle öffentlichen Wege („voies“) sowie alle für die Öffentlichkeit zugänglichen Räume oder solche Bereiche, an denen eine öffentliche Leistung angeboten wird. Das belgische Parlament hat unter ausdrücklicher Verwerfung des Modells einer multikulturellen Gesellschaft am 28. April 2011 – auf dem Höhepunkt einer neuerlichen Staatskrise – gleichfalls ein Gesetz verabschiedet, welches im nationalen Strafgesetzbuch das Verbot verankert, sich an öffentlich zugänglichen Orten zu maskieren oder ganz oder teilweise mit der Folge zu verschleiern, dass die betroffene Person nicht identifizierbar ist.128 Die Niederlande und Spanien wollen gleichziehen. 124 Vgl. zu der umstrittenen Deutung innerhalb des Islams Haupt (Fn. 2), S. 18 ff.; Mick-Schwerdtfeger (Fn. 68), S. 91 ff. 125 Vgl. „Spaltung der Gelehrten“, de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-469/ _nr-1112/i.html. 126 Vgl. das am 11.4.2011 in Kraft getretene Gesetz Nr. 2010-1192 v. 11.10.2010, in der Fassung v. 11.4.2011, das das Verbergen des Gesichts im öffentlichen Raum verbietet; Art. 1 des Gesetzes 524: lautet: „Keiner darf in der Öffentlichkeit ein Kleidungsstück tragen, das dazu bestimmt ist, sein Gesicht zu verbergen.“ Art. 2 Abs. 2 enthält folgende Ausnahmebestimmung: „Das Verbot des Artikels 1 gilt nicht, wenn das Kleidungsstück durch Gesetz oder Verordnung vorgeschrieben oder erlaubt ist, wenn es aus Gründen der Gesundheit oder aus beruflichen Gründen gerechtfertigt ist oder wenn es Bestandteil eines Sports, von Festivals oder künstlerischen bzw. traditionellen Veranstaltungen ist.“ 127 Entscheidung des französischen Verfassungsrats vom 7.10.2010: www.conseilconstitutionnel.fr/conseil-constitutionnel/root/bank/download/2010-613DC-de2010_613 dc.pdf. 128 Vgl. Art. 2 des Gesetzes DOC 53 0219/004 v. 28.4.2011, das nach Zustimmung des Senats am 23.7.2011 in Kraft getreten ist: „In das Strafgesetzbuch wird ein Artikel 563 mit folgender Fassung eingefügt: Mit einer Geldstrafe von 15 Euro bis 25 Euro und zu einer Freiheitsstrafe von einem Tag bis sieben Tage oder zu einer dieser Strafen wird verurteilt, wer, sofern das Gesetz nichts anderes vorsieht, an Orten, die öffentlich zugänglich sind, ganz oder teilweise maskiert oder verschleiert erscheint, so dass er nicht identifizierbar ist. Unter Absatz 1 fallen indes diejenigen nicht, die an Orten, welche

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Diese laizistische Gesetzgebung stößt aus deutscher verfassungsrechtlicher Sicht auf Bedenken.129 Sofern das nationale Verfassungsrecht in Übereinstimmung mit den internationalen und regionalen Menschenrechtskonventionen – nach Maßgabe der Überzeugung ihrer Trägerin – auch die Burka als ein religiöses Symbol namentlich des wahabitischen Islams akzeptiert,130 lässt sich die rechtliche Frage auf den Punkt zuspitzen, ob aus der negativen Religionsfreiheit ein Recht folgt, von fremden Glaubensbekundungen verschont zu bleiben. Indes existiert kein Anspruch, im öffentlichen Raum vor den religiösen Einflüssen der Umwelt abgeschirmt zu werden, was einem Recht auf Gestaltung der eigenen Umwelt und auf Symbolverschonung entspräche.131 Auch eine Schutzpflicht des Staates, zu Gunsten der durch die Burka „unterdrückten“ Frauen einzuschreiten, ist nicht anzunehmen. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass mehrere westliche Verfassungen inzwischen ein an den Staat gerichtetes Gebot verankert haben, wonach „der Staat . . . die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern (fördert) und . . . auf die Beseitigung bestehender Nachteile (hinwirkt)“ (Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG). Dem Staat wird hierdurch kein Erziehungsauftrag für seine Bürger erteilt, der ihn legitimiert, ein Verbot der Vollverschleierung auch gegen den Willen der betroffenen Frauen durchzusetzen. Doch zeigt sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, dass nach einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage die Deutschen zu nichtchristlichen Religionen ein deutlich schlechteres Verhältnis als ihre europäischen Nachbarn haben. Über 70 Prozent der Befragten in West- und Ostdeutschland halten die zunehmende Vielfalt von religiösen Gruppen in der Gesellschaft für eine Ursache von Konflikten; in Ostdeutschland sehen sogar 50 Prozent der Befragten die Bundesrepublik „durch fremde Kulturen bedroht“.132

der Öffentlichkeit zugänglich sind, mit einem ganz oder teilweise maskierten oder verschleierten Gesicht erscheinen, so dass sie nicht identifizierbar sind, und dies aufgrund von Arbeitsvorschriften oder polizeilicher Anordnung anlässlich von Feierlichkeiten geschieht.“ (www.lachambre.be/doc/flwb/pdf/53/0219/53k0219001.pdf#search=%22doc %2053%200219%22) 129 Waldhoff (Fn. 14), D 115 f.; Finke, NVwZ 2010, 1127 ff. 130 Das Tragen der Burka in den Herkunftsländern muslimischer Frauen, namentlich in Afghanistan, erfüllt oftmals eine bloße Schutzfunktion. 131 BVerfGE 108, 282 (302); Heckel (Fn. 7), S. 470; Merten (Fn. 15), S. 995 ff., 1001 ff., 1004 ff., der allerdings bei der grundrechtlichen Bewertung nicht zwischen dem öffentlichen Raum und dem Bereich verwaltungsrechtlicher Sonderverhältnisse unterscheidet; Borowski (Fn. 41), S. 462. 132 Diese Bedrohung sehen in Westdeutschland nur zwei Fünftel der Befragten; vgl. die Studie des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ (Pollack) der Westfälischen Wilhelms Universität Münster, vorgestellt am 1.12.2010 (www.unimuenster.de/imperia/md/ content/religion_und_politik/aktuelles/2010/12_2010/studie_wahrnehmung_und_akzep tanz_religioeser_vielfalt.pdf).

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Hermann-Josef Blanke 2. Die Schule als besonderer Rechtsraum

a) Das Kopftuch der Lehrerin im Unterricht Eine von den oben entwickelten Grundsätzen abweichende rechtliche Beurteilung ist aber mit Blick auf Sonderstatusverhältnisse geboten, wie sie etwa zwischen Lehrerinnen oder Lehramtsanwärterinnen und staatlichen Schulen bestehen. Auch hier gelten die Grundrechte der Schüler und Lehrer, doch kann die Reichweite ihrer Geltung mit Blick auf die Funktionsfähigkeit der Schule nach Maßgabe des Gleichheitssatzes und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch ein förmliches Gesetz beschränkt werden.133 Nach einer anfechtbaren Argumentation des Bundesverfassungsgerichts (VI.) greift eine dem Beamten auferlegte Pflicht, als Lehrer die eigene Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft in Schule und Unterricht nicht durch das Befolgen von religiös begründeten Bekleidungsregeln sichtbar werden zu lassen, in das Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern (Art. 33 Abs. 2 und 3 GG) sowie in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgte individuelle Glaubensfreiheit ein.134 Sie stellt danach den Betroffenen vor die Wahl, entweder das angestrebte öffentliche Amt auszuüben oder dem von ihm als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten. Die umstrittene Frage, ob und inwieweit die Verschleierung für Frauen von Regeln des islamischen Glaubens vorgeschrieben ist, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich unbeantwortet gelassen. Es hat es als ausreichend angesehen, dass die Verpflichtung von Frauen, in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen, „sich nach Gehalt und Erscheinung als islamisch-religiös begründete Glaubensregel dem Schutzbereich der Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) hinreichend plausibel zuordnen (lässt).“135 Die Verbindlichkeit eines Symbols für die individuelle Ausübung der Religionsfreiheit als maßgebliches Kriterium seines grundrechtlichen Schutzes deckt sich mit dem Verständnis der Individuali-

133 Vgl. Stober, in: Wolff/Bachof/Stober/Kluth, Verwaltungsrecht I, 12. Aufl., 2007, § 32 Rn. 26 ff. (29); Merten, in: Börner/Jahrreiß/Stern (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit, FS K. Carstens, Bd. 2, 1984, S. 721 (725 ff.), der auch am Begriff des „Besonderen Gewaltverhältnisses“ festhält; nach Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl., 2009, § 8 Rn. 27 ff., „gehört dieses Rechtsinstitut der Vergangenheit an“; er räumt aber ein, dass die Beziehungen im Rahmen des herkömmlichen besonderen Gewaltverhältnisses „gewisse Eigenarten aufweisen und entsprechend dieser Eigenarten auch besonderer Regelungen bedürfen“ (Rn. 31). Zum Gesetzesvorbehalt in Gestalt des Parlamentsvorbehalts vgl. BVerfGE 33, 1 (11). 134 BVerfGE 108, 282 (289 f.). Diese Entscheidung hat scharfen Widerspruch der dissentierenden Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff hervorgerufen (BVerfGE 108, 314 ff.), die von einer Ungeeignetheit der Bewerberin i. S. d. Art. 33 Abs. 2 GG ausgehen; auch Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes, 2007, S. 97 f., kritisiert diesen Ausgangspunkt des BVerfG unter Aspekten der weltanschaulichen Neutralität und des Demokratieprinzips, da er hierin die Anerkennung eines Rechts auf glaubensgeleitete Amtsführung sieht; kritisch auch Stern (Fn. 9), S. 469 f. 135 BVerfGE 108, 282 (289 f.).

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sierung von Religion und durch Religion, wie es bei dem evangelischen Theologen und Philosophen Fr. Schleiermacher anzutreffen ist: Er hat die Religion als den Ursprungsort für die letztinstanzliche, individuelle Selbst- und Weltdeutung angesehen, die Identität gewährt und freiheitsbewusst für Veränderungen offen ist.136 Der Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit der Lehrerin – durch Qualifizierung des Tragens eines Kopftuchs als Eignungsmangel nach Art. 33 Abs. 2 GG – ist jedoch wegen der Verpflichtung zur weltanschaulichen Neutralität des Lehrpersonals gerechtfertigt. Lehrer sind unabhängig vom Beamtenstatus als Repräsentanten des demokratischen Rechtsstaats zur religiös-weltanschaulichen Neutralität verpflichtet.137 Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass „das Einbringen religiöser oder weltanschaulicher Bezüge in Schule und Unterricht durch Lehrkräfte . . . zumindest die Möglichkeit einer Beeinflussung der Schulkinder sowie von Konflikten mit Eltern . . . (eröffnet).“ 138 Zudem stößt die Ausübung der (positiven) Religionsfreiheit von Lehrern im Rahmen ihrer Tätigkeit auf die verfassungsimmanenten Grenzen der (negativen) Religionsfreiheit von Schülern und Eltern (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), des elterlichen Erziehungsrechts (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) sowie des staatlichen Erziehungsauftrags (Art. 7 Abs. 1 GG).139 Dieses Ergebnis wird durch die Rechtsprechung des EGMR bestätigt, der das an eine Lehrerin einer Genfer Grundschule gerichtete Verbot, während des Unterrichts ein islamisches Kopftuch zu tragen, zwar als Eingriff in den Schutzbereich des Art. 9 EMRK bewertet, diesen aber wegen der notwendigen Abwägung mit dem „Recht der Schüler an öffentlichen Schulen auf Unterricht in einem Umfeld religiöser Neutralität“ gemäß Art. 9 Abs. 2 EMRK als gerechtfertigt angesehen hat.140 Mit Blick auf die bloß abstrakte Gefährdung entgegenstehender Verfassungswerte und Grundrechtsbelange, die vom Tragen eines – wegen seiner Deutungsoffenheit der Sphäre des Religiösen jedenfalls nicht eindeutig zuzuordnenden – Kopftuchs durch eine Lehrerin ausgeht,141 und wegen des Parlamentsvorbehalts 136 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion: Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, anonymes Ersterscheinen 1799, neu hrsg. von G. v. Meckenstock, 2001; vgl. Gräb, Der kulturelle Umbruch zur Moderne und Schleiermachers Neubestimmung des Begriffs der christlichen Religion, S. 167 ff., in: Barth/Osthövener (Hrsg.), 200 Jahre „Reden über die Religion“, Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, 2000, S. 175 ff. 137 BVerfGE 108, 282 (299 f.); Detterbeck (Fn. 122), S. 162 ff.; Mückl, Bonner GGK, Art. 4 Rn. 169 ff.; Waldhoff (Fn. 14), D 118. 138 BVerfGE 108, 282 (303). 139 BVerfGE 108, 282 (301 ff.); v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 4. Aufl., 2006, § 12 S. 71 ff. 140 EGMR, Dahlab v. Schweiz, Nr. 42393/98 v. 15.2.2001; Blanke (Fn. 40), § 142 Rn. 16 mit Fn. 72. 141 BVerfGE 108, 282 (303 f.).

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bei Entscheidungen über die Grundrechtsausübung142 ist das Verbot des Tragens von Kopftüchern in Schule und Unterricht indes durch den Landesgesetzgeber zu regeln.143 Dies setzt freilich voraus, dass in dem an eine Lehrerin ergangenen Verbot überhaupt ein Grundrechtseingriff zu sehen ist.144 Die gesetzgebenden Körperschaften verfügen dabei über eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der „Beurteilung der tatsächlichen Entwicklungen, von der abhängt, ob gegenläufige Grundrechtspositionen von Schülern und Eltern oder andere Werte von Verfassungsrang eine Regelung rechtfertigen, die Lehrkräfte aller Bekenntnisse zu äußerster Zurückhaltung in der Verwendung von Kennzeichen mit religiösem Bezug verpflichten.“ Diese gesetzgeberische Prärogative kann von Behörden und Gerichten nicht okkupiert werden. Einen solchen Beurteilungsspielraum hat das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Kruzifixes nicht der Kulturhoheit des Landesgesetzgebers entnommen, sondern bei der Abwägung der von Art. 7 GG im Bereich des Schulwesens erlaubten religiös-weltanschaulichen Einflüsse mit der Religionsfreiheit nach Art. 4 GG dezidiert festgestellt, dass „die Anbringung von Kreuzen in Klassenzimmern . . . die danach gezogene Grenze religiös-weltanschaulicher Ausrichtung der Schule (überschreitet).“145 Die Regelungen der deutschen Länder zur säkularen Kleiderordnung des Lehrpersonals sind, sofern der Gesetzgeber bisher überhaupt tätig geworden ist,146 in unterschiedlichem Maße am Gedanken der fördernden Neutralität oder der Laizität orientiert. Während einige Landesgesetzgeber auf die Gefährdung der Neutralität und des Schulfriedens durch politische, religiöse, weltanschauliche oder ähnliche äußere „Bekundungen“ (Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Bremen) oder (zusätzlich) auf das „äußere Erscheinungsbild“ der Lehrkräfte (Niedersachsen, Bremen) abstellen, haben der bayerische und der hessische Gesetzgeber ausdrücklich ein Verbot des Tragens von Kleidungsstücken, Symbolen (oder anderen Merkmalen147) normiert, die mit diesen verfassungsrechtlichen Grundwerten unvereinbar sind. Symbole, die dem christlichen Abendland entstammen, also namentlich die Kutte des Ordensmannes oder der Ordensfrau, die priesterliche Sutane oder das Schmuckkreuz, werden in den Re142

BVerfGE 108, 282 (311). BVerfGE 108, 282 (302 ff.). 144 Vgl. oben Fn. 134. 145 BVerfGE 93, 1 (22 f., 23 f.); kritisch Heckel (Fn. 7), 459. 146 Acht deutsche Länder haben Gesetze zu politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnlichen äußere Bekundungen reformiert oder erlassen, um den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu entsprechen. Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein haben einer entsprechenden gesetzlichen Regelung eine Absage erteilt; vgl. die Analysen von Sicko, Das Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Umsetzung durch die Landesgesetzgeber, 2008 S. 93 ff., v. Blumenthal, Das Kopftuch in der Landesgesetzgebung, 2009, S. 136 ff. sowie Hofmann, NVwZ 2009, 74 ff. 147 Dieses erweiternde Tatbestandsmerkmal befindet sich zusätzlich in § 86 Abs. 3 Hess. Schulgesetz. 143

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gelungen der deutschen Länder ganz überwiegend von der Verpflichtung zur neutralen Amtsführung grundsätzlich ausgenommen.148 Dies ist verfassungsrechtlich zulässig, da – unbeschadet der gesetzgeberischen Pflicht zur diskriminierungsfreien Ausgestaltung der „Kleidungsordnung“ für sämtliche Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften149 – aus der Neutralitätspflicht des Staates keine Pflicht zur schematischen Gleichbehandlung aller Institutionen folgt. Umstände tatsächlicher Verschiedenheiten dieser Gemeinschaften, wie etwa die Verbreitung einer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft sowie ihre kultur- und sozialpolitische Stellung in der Gesellschaft, dürfen als Kriterien sachlicher Unterscheidung zugrundegelegt werden und damit zu einer unterschiedlichen Behandlung religiöser Symbole führen.150 Dies hängt letztlich von dem Verständnis des Gleichheitsgebots in Gestalt des Paritätsgedankens ab, der der vorsorgenden Neutralität durch Zulassung weltanschaulich-religiöser Einflüsse im staatlichen Bereich Grenzen setzt.151 Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Sonderbehandlung der christlichen Symbolik und des christlichen Habitus bei der Prüfung von § 38 BWSchG als verfassungsgemäß bewertet. Dabei sieht das Gericht auch hier im Begriff des „Christlichen“ – ungeachtet seiner Herkunft aus dem religiösen Bereich – „eine von Glaubensinhalten losgelöste, aus der Tradition der christlich abendländischen Kultur hervorgegangene Wertewelt, die erkennbar auch dem 148 Vgl. § 57 Abs. 4 Satz 3 NW SchG; § 86 Abs. 3 Satz 3 Hess. SchG; § 38 Abs. 2 Satz 3 BWSchG; § 1 Abs. 2a Satz 1 SaarlSchG; § 53 Abs. 3 Satz 1 NSSchG, der auf eine nicht überzeugende Erfüllung des Bildungsauftrags der Schule abhebt; in § 2 NSSchG wird die „Grundlage des Christentums“ als Orientierungspunkt für den schulischen Auftrag der Entwicklung der Persönlichkeit der Schüler genannt. Vgl. die besondere Technik des Legiferierens des bayerischen Gesetzgebers, der in § 59 Abs. 2 Satz 3 BayEUG den „Ausdruck einer Haltung“ verbietet, die mit den verfassungsrechtlichen Grundwerten und Bildungszielen der Verfassung einschließlich den christlich-abendländischen Bildungs- und Kulturwerten nicht vereinbar ist.“ Hierdurch wird die vollständige verfassungsrechtliche Konformität christlich geprägter Kleidungsstücke und Symbole in der Schule und im Unterricht geradezu hervorgehoben. 149 Vgl. Waldhoff (Fn. 14), D 118. 150 BVerfGE 19, 1 (8 ff.); 19, 129 (134); 35, 366 (375) – Kruzifix im Gerichtssaal; 108, 282 (300); BVerwGE 61, 152 (158 f.); 87, 115 (127 f.); BVerwG, NVwZ-RR 2009, 590 (591): „Zu den zulässigen Differenzierungskriterien bei der Gewährung staatlicher Vergünstigungen zählen die äußere Größe und Verbreitung einer Religionsgesellschaft, der Grad ihrer öffentlichen Wirksamkeit oder ihre kultur- und sozialpolitische Stellung in der Gesellschaft . . .“; EGMR (GK), Lautsi v. Italien, Nr. 30814/06 v. 18.3.2011, Rn. 71; Hesse, ZevKR 3 (1953/54), S. 188; zur „Mehrheitskultur“ Ladeur/ Augsberg (Fn. 95), S. 117; Merten (Fn. 15), S. 1007; Stern (Fn. 9), S. 470; Muckel/ Baldus, Entscheidungen in Kirchensachen, Bd. 37, 2003, S. 157 f., mit Blick auf die Gewährung staatlicher Vergünstigungen; dezidiert a. A. Huster (Fn. 42), S. 109 ff., 165 f., 180, 188 f., 237 ff., unter Verweis auf BVerfGE 93, 1 (24); kritisch auch Waldhoff (Fn. 14), D 118 f., 121; nach verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten unterscheidend und damit differenzierter Sicko (Fn. 146), S. 112 ff.; Coumont, in: St. Muckel (Hrsg.), Der Islam im öffentlichen Recht des säkularen Verfassungsstaates, 2008, S. 440 (497 f.). 151 BVerwGE 109, 40 (47).

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Grundgesetz zu Grunde liegt und unabhängig von ihrer religiösen Fundierung Geltung beansprucht.“ 152 Die Regelungen der Schulgesetze der Länder Berlin153 und Bremen154 werfen die Frage einer verfassungskonformen Privilegierung nicht auf, weil sie mit laizistischer Tendenz von jeder Sonderbehandlung christlich-humanistisch geprägter abendländischer Traditionen absehen. b) Das Kopftuch der Schülerin im Unterricht Zugleich stellt sich die Frage, wie das Kopftuch einer Schülerin im Unterricht verfassungsrechtlich zu bewerten ist. Mit Blick auf den Bereich einer Hochschule hat der Straßburger Gerichtshof im Jahre 2005 zu Lasten der türkischen Medizinstudentin L. S¸ahin entschieden, dass das auf einem bloßen Beschluss der Hochschulleitung beruhende Verbot, ein Kopftuch zu tragen, nicht gegen den Grundsatz der Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) verstößt, sofern innerhalb einer demokratischen Gesellschaft nur so das Recht auf freie Religionsausübung mit den Werten des Pluralismus und der Toleranz zum Ausgleich gebracht werden kann.155 Die Beschwerdeführerin hatte sich geweigert, trotz des für türkische Universitäten geltenden Kopftuchverbotes ohne Kopftuch zu den Vorlesungen zu erscheinen. Der Straßburger Gerichtshof hat seine Entscheidung damit begründet, dass der Laizismus als Grundprinzip der türkischen Republik in der Verfassung verankert ist und der türkische Verfassungsgerichtshof bereits 1991 entschieden habe, dass Kopftuchverbote verfassungskonform seien. Dieses Kopftuchverbot erachtete die Große Kammer des Straßburger Gerichtshofs ausdrücklich als verhältnismäßig. Im Ergebnis hat der Gerichtshof damit den in der türkischen Verfassung verankerten Grundsatz der strikten Laizität des Staates mit der Menschenrechtskonvention als vereinbar anerkannt. Er gilt ungeachtet der Freigabe des Kopftuchs für Studentinnen an staatlichen Hochschulen der Türkei,156 in allen staatlichen Einrichtungen, einschließlich der staatlichen Pflichtschulen. Einen solchen Respekt vor der nationalen Rechtstradition hat die 2. Kammer des EGMR in ihrem Kruzifix-Urteil indes nicht erkennen lassen. Allerdings sind die Regelungen der Italienischen Republik über das Anbringen von Kreuzen in öffentlichen Schulen in bloßen Normen der Exekutive enthalten157 und stehen 152 BVerwGE 121, 140 (151); vgl. auch die Entscheidung des HessStGH zu § 86 Abs. 3 Hess.SchG, NVwZ 2008, 199 (199 ff.); hierzu: Sacksofsky, in: S. Berghahn/ P. Rostock (Hrsg.), Der Stoff, aus dem Konflikte sind, 2009, S. 275 (281 ff.). 153 Vgl. § 2 Abs. 1 Gesetz zu Art. 29 der Verfassung von Berlin. 154 Vgl. § 59b Brem.SchG. 155 Vgl. EGMR, Leyla S ¸ ahin v. Türkei, Nr. 44774/98 v. 10.11.2005, Rn. 84 ff., 104 ff. 156 Zur verfassungsrechtlichen Situation der Türkei nach Freigabe des Kopftuchs für türkische Studentinnen an staatlichen Hochschulen vgl. Blanke (Fn. 40), § 142 Rn. 16. 157 Vgl. oben Fn. 18.

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überdies in einem Spannungsverhältnis zur höchstrichterlichen Auslegung der italienischen Verfassung im Sinne der „Laizität“. 158 Diese Rechtsprechung des EGMR fest vor Augen hat der französische Gesetzgeber für das Tragen religiöser Symbole in der Schule ebenfalls eine strenge Position bezogen. Denn er verbietet das Tragen solcher Symbole für alle gleichermaßen – ungeachtet ob es sich um Lehrer oder Schüler handelt.159 Das umfassende französische Verbot scheint nur dadurch gemildert zu sein, dass das Tragen in einer Art offener Bekundung („ostensiblement“) bestehen muss. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die insoweit zu der Judikatur des Straßburger Gerichtshofs in deutlichem Gegensatz steht, ist für deutsche Schulen hingegen davon auszugehen, dass sich die Verpflichtung zur Wahrung der Neutralität nur auf die Lehrer, nicht aber auf die Schüler bezieht. Die Schüler dürfen auch gegenüber der Schule ihre grundrechtlich gewährte Freiheit, sich zu einer Religion zu bekennen, jedenfalls insoweit in Anspruch nehmen, als sie hierdurch den Schulbetrieb und den Schulfrieden nicht stören. V. Das muslimische Gebet in der Schule Insbesondere das Gebet kann als religiöse Handlung im öffentlichen Raum qualifiziert werden. Das Gebet ist Ausdruck der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, die im Grundgesetz (Art. 4 Abs. 1 und 2)160 sowie in der EMRK (Art. 9 Abs. 1) in unterschiedlicher Konkretisierung garantiert ist. Religiöse Handlungen im öffentlichen Raum sind vor allem mit Blick auf das christliche Schulgebet verfassungsrechtlich überprüft worden.161 Jüngst hat indes der Anspruch eines muslimischen Schülers, während der unterrichtsfreien Zeit zur Mittagszeit ein rituelles Gebet in einer öffentlichen Schule verrichten zu können, deutsche Verwaltungsgerichte beschäftigt. Während die Anrufung Allahs im „stillen Gebet“ erfolgt, zeichnet sich das rituelle islamische Gebet (as-salat) dadurch aus, dass der Betende auf einem rituell sauberen Platz, gegebenenfalls auf einer textilen Unterlage, sein Gebet gen Mekka richtet.162 Das Verwaltungsgericht Berlin billigte dem Kläger nach einem Verbot der Schule dieses Recht zu;163 doch versagte 158 So setzt der italienische Verfassungsgerichtshof in der Entscheidung Nr. 329 vom 14.11.1997 den Grundsatz der Laizität des Staates mit der „Nicht-Konfessionalität“ gleich. 159 Vgl. die durch das Gesetz über die religiösen Zeichen in öffentlichen Schulen (2004) in den Code de l’education eingefügte Bestimmung des Art. L 141-5-1: „Dans les écoles, les collèges et les lycées publics, le port de signes ou tenues par lesquels les elèves manifestent ostensiblement une appartenance religieuse est interdit.“ 160 BVerfGE 24, 236 (246). 161 Vgl. BVerfGE 52, 223 (236 ff.). 162 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, NVwZ 2010, 1310 (1311). 163 VG Berlin, NVwZ-RR 2010, 189 (189 ff.).

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das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg als Berufungsgericht einen solchen Anspruch und gab dem Schutz anderer gleichrangiger Güter den Vorrang.164 Nach dieser sodann in der Revision bestätigten Entscheidung sind es vor allem die Freiheit anders- oder nichtgläubiger Schüler, das Erziehungsrecht der Eltern, der staatliche Unterrichts- und Erziehungsauftrag sowie die Pflicht des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität, die bei der Herstellung praktischer Konkordanz das Recht auf eine muslimische Gebetspraxis innerhalb des Bereichs der Schule begrenzen [IV. 2. a)].165 Anerkanntermaßen garantiert die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit als soziales Grundrecht auch in der Öffentlichkeit einen ungestörten „Raum für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung“166 und verpflichtet den Staat, „einen Betätigungsraum zu sichern, in dem sich die Persönlichkeit auf weltanschaulichreligiösem Gebiet entfalten kann“.167 Dies gilt auch für den öffentlichen Raum der Schule außerhalb der Unterrichtszeit.168 Doch verleiht sie dem Einzelnen und den religiösen Gemeinschaften grundsätzlich keinen Anspruch darauf, „ihrer Glaubensüberzeugung mit staatlicher Unterstützung Ausdruck zu verleihen“.169 Eine Situation, die ausnahmsweise eine andere Behandlung des konvertierten muslimischen Schülers verlangt, ist nicht erkennbar. Zur Wahrung der friedlichen Koexistenz der unterschiedlichen grundrechtlichen Schutzgüter ist er daher auf ein stilles Gebet beschränkt. VI. Herausforderungen des Staates im Zeichen fördernder Neutralität und Kollisionsschlichtung Wenn sich die Prämissen des modernen Verfassungsstaates – auch nach einem kommunitaristischen Ansatz – aus einer „profanen Moral“ speisen (J. Habermas), dann muss er im Raum der Gesellschaft religiöse Bekundungen und Bekenntnisse im Zeichen fördernder Neutralität schützen; zu solchen Manifestationen des Glaubens gehören auch die religiösen Symbole. Denn erst aus der Koexistenz dieser Bekundungen und dem Dialog der Gesellschaft,170 der sich auch im 164

OVG Berlin-Brandenburg NVwZ 2010, 1310 (1311). OVG Berlin-Brandenburg NVwZ 2010, 1310 (1312 ff.), BVerwG 6 C 20.10 v. 30.11.2011. 166 BVerfGE 52, 223 (241) – Schulgebet-Beschluß. 167 BVerfGE 93, 1 (16); zur Auslegung im Sinne eines Leistungsrechts vgl. Borowski (Fn. 37), S. 636 f. 168 BVerwG 6 C 20.10 v. 30.11.2011, sieht die Wahrung des Schulfriedens als Schranke dieses Rechts an. 169 BVerfGE 93, 1 (16). 170 Insoweit weist das BVerfG (K), DVBl. 2003, 999 f., zutreffend darauf hin, dass Integration den Dialog der Minderheiten mit Andersdenkenden und -gläubigen“ verlangt und der „Entstehung von religiös und weltanschaulich motivierten ,Parallelgesellschaften‘ entgegenzuwirken“ ist. 165

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Lichte dieser Bekenntnisse insbesondere zu den Fragen des Schutzes des menschlichen Lebens, der Gentechnik oder der neuen Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens entwickelt, formt sich jener Strom an Werten, Leitbildern und Konzepten, die die Einlösung sowie die Interpretation der Verfassungsgarantien durch den Gesetzgeber und die rechtsprechende Gewalt mitbestimmen. Dabei fließen religiös fundierte und durch Symbole sichtbar gemachte Auffassungen im Streit zwischen Wissens- und Glaubensansprüchen in den säkularen Wertekanon ein, streifen, den Erfordernissen des Pluralismus und des Kompromisses folgend, ihre religiöse Herkunft aus den Glaubenswahrheiten ab und wirken als abstrakte Chiffren des Ethischen fort. Die in diesem Vorgang erkennbare distanzierte „Offenheit (des Staates) gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen“ 171 ist ihrerseits Voraussetzung für die Religionsfreiheit. Denn in umgekehrter Weise sind auch die Entfaltungsmöglichkeiten und Gestaltungskräfte der Religionen in sozialtheoretischer und kulturgeschichtlicher Perspektive von Voraussetzungen abhängig, die sie selber nicht garantieren können.172 Religionsfreiheit ist unter den Bedingungen der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates notwendig ein säkulares Rahmenrecht. Auch wenn eine Sinnvarianz des Kreuzes – zur Förderung der religiösen Erziehung der Eltern sowie der positiven Religionsfreiheit der Schüler – aus Gründen der Tradition (innerhalb gesellschaftlich bisweilen noch weitgehend homogener Strukturen) im Raum staatlicher Schulen angenommen und sein Symbolgehalt verfassungsrechtlich auf ein „abendländisches Kultursymbol“ reduziert wird,173 muss der Staat einen Konflikt, der aus dem Widerspruch der Eltern oder eines Schülers entsteht, nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz schlichten. Dies führt indes nicht zwingend dazu, dass die positive Religionsfreiheit der negativen Religionsfreiheit weichen muss. Vielmehr sind im Wege des schonenden Ausgleichs Kompromisse hinsichtlich der Aufhängung eines Kruzifixes denkbar, die mögliche Grundrechtsbeeinträchtigungen der widersprechenden Eltern berücksichtigen, ohne der Mehrheit der Schüler das Kreuz zu entziehen. Kommt eine Einigung nicht zustande, setzt sich die Position des Widersprechenden jedenfalls dann durch, wenn sie auf ernsthafte und einsehbare Gründe gestützt ist.174 171

BVerfGE 41, 29 (50). Heinig, in: Gosperath/Hinsch/Rössler (Hrsg.), HPSP, Bd. 2, 2008, S., S. 1109 ff. 173 Dieser Vorgang der Symbolreduktion ist allerdings, wie oben verdeutlicht (III. 1.), zweifelhaft; ablehnend mit der Folge der Verfassungswidrigkeit der geltenden bayerischen Regelung Huster (Fn. 42), S. 237 ff., 248 f. Hiernach kann die Verfassungswidrigkeit nur durch „generelle Symbolanbringung“ seitens aller religiös-weltanschaulichen Gemeinschaften überwunden werden. Diese Auffassung kann indes zur Inflationierung religiöser Symbole in der staatlichen Schulorganisation führen, weil jede religiöse und weltanschauliche Gemeinschaft aus ihrer positiven Glaubensfreiheit das Recht herleiten kann, dass der Staat zur Förderung dieses Grundrechts ein religiöses Symbol präsentiert. 174 BVerwGE 109, 40 (53 ff.). 172

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Staatliche Lehrkräfte haben infolge des Neutralitätsgebots sowie des staatlichen Erziehungsauftrags im Sinne freiheitlicher Verfassungsstaatlichkeit und nach den Grundsätzen des öffentlichen Dienstes keinen Anspruch auf religiöse Selbstverwirklichung im Rahmen ihrer Amtsausübung. Möchte ein Lehrer im Unterricht einer staatlichen Pflichtschule – etwa durch ein Kopftuch – religiös deutbare Zeichen setzen, so handelt er wegen seiner Nähe zum Staat nicht in Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheit.175 Dieser Grundsatz muss bei Lehramtsreferendaren modifiziert werden, da ihnen wegen des Rechts auf Berufsfreiheit die Möglichkeit gegeben werden muss, ihre Lehramtsausbildung durch Ableistung des staatlichen Vorbereitungsdienstes zu absolvieren.176 Die Kollisionsschlichtung zwischen den kollektiven Verfassungswerten und der individuellen Freiheit wird hier mit Blick auf das zeitlich begrenzte Ausbildungsverhältnis zugunsten der Berufsfreiheit – nicht der Religionsfreiheit – vollzogen.

175 Vgl. die abweichende Meinung der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff, BVerfGE 108, 314 ff.; Uhle, in: J. Isensee/P. Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV, 3. Aufl., 2006, § 82 Rn. 75; Vosgerau, Freiheit des Glaubens und Systematik des Grundgesetzes, 2007, insb. S. 97 f. 176 BVerwG, NJW 2008, 3654 (3655).

Begehrt und gefährdet – die Wissenschaftsfreiheit des Hochschullehrers Von Christian von Coelln Mit der Freiheit der Lehre als Bestandteil des Art. 5 III 1 GG und der Verfassungstreueklausel des Art. 5 III 2 GG hat Klaus Stern kürzlich auf zwei häufig nicht hinreichend beachtete Aspekte der Wissenschaftsfreiheit aufmerksam gemacht.1 Damit lenkt er den Blick auf ein Grundrecht, dessen Schutz bei unbefangener Lektüre prinzipieller Aussagen aus Literatur und Rechtsprechung beeindruckend auszufallen scheint. Insofern nimmt es nicht wunder, wenn sich „Außenstehende“ wünschen, in den Schutzbereich des Grundrechts einbezogen zu werden. Umgekehrt ist bei näherer Befassung mit dem sachlichen Gehalt des Grundrechts in den letzten Jahren eine gewisse Desillusionierung der Begünstigten festzustellen. Speziell gegenüber gesetzgeberischen Umgestaltungen der Hochschulorganisation leistet die Wissenschaftsfreiheit häufig nicht das, was sich die Betroffenen von ihr erhoffen. Die jüngste bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung gibt Anlass, den Fragen nach der personalen Reichweite des Grundrechts und seinem Umfang beim Schutz vor Regelungen der Hochschulorganisation näher nachzugehen. I. Die personale Reichweite der Wissenschaftsfreiheit 1. Die Wissenschaftsfreiheit als Jedermann-Grundrecht und die besondere Stellung des Universitätsprofessors

Träger der Wissenschaftsfreiheit ist jeder, der wissenschaftlich tätig ist oder tätig werden will,2 unabhängig davon, ob diese Tätigkeit an einer Hochschule oder an anderer Stelle ausgeübt wird.3 Die Wissenschaftsfreiheit ist ein Jedermann-Grundrecht.4 Den Hochschullehrer erfasst sie schon kraft seines Amtes – 1 Zur Freiheit der Lehre als „Grundrecht im Schattendasein“ Stern, in: Herdegen/ H. H. Klein/Papier/Scholz (Hrsg.), FS für Roman Herzog, 2009, S. 507 ff.; zu Art. 5 III 2 GG als nicht obsoleter Rechtsnorm Stern, in: Manssen/Jachmann/Gröpl, FS für Udo Steiner, 2009, S. 843 ff. – Für wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrags danke ich meiner Wiss. Mitarbeiterin Mirjam Müller. 2 BVerfGE 15, 256 (263 f.); 35, 79 (112); 90, 1 (11); 95, 193 (209). 3 Kannengießer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl., 2008, Art. 5, Rn. 30; Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, S. 108. 4 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., GG I, 6. Aufl., 2010, Art. 5, Rn. 291, 405.

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jedenfalls dann, wenn er an einer wissenschaftlichen Hochschule tätig ist: Der Universitätsprofessor ist das „geborene Rechtssubjekt der Wissenschaftsfreiheit“.5 2. Der Schutz des Fachhochschullehrers

Für Fachhochschullehrer muss die Antwort differenzierter ausfallen. a) Der Meinungsstand im Überblick Ihre Einbeziehung in den Schutz des Art. 5 III 1 GG wird seit langem diskutiert. Die Debatte steht in einem engen thematischen Zusammenhang mit der Diskussion über den Grundrechtsschutz der Fachhochschulen selbst, ohne mit dieser vollständig deckungsgleich zu sein. Ihre Gegenstände sind der Schutz der fachhochschulspezifischen anwendungsbezogenen Forschung („Lehrforschung“) durch die Forschungsfreiheit, vor allem aber die Frage, ob sich Fachhochschullehrer auf die Lehrfreiheit berufen können. Verneint wird dies unter Hinweis auf die fehlende Forschungsbasiertheit der Fachhochschullehre.6 Jedoch haben sich in letzter Zeit die Stimmen gemehrt, die den Fachhochschullehrern zumindest7 eine differenzierte Teilhabe an der Wissenschaftsfreiheit zugestehen wollen, wobei Art und Umfang des Schutzes freilich vom Aufgabenbereich der Fachhochschulen abhängen sollen.8 b) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aa) Die Aussagen in den 1980er-Jahren Auf die Abhängigkeit des Grundrechtsschutzes vom gesetzlich zugewiesenen Aufgabenbereich hat auch das Bundesverfassungsgericht schon vor längerer Zeit hingewiesen. Es hat zunächst jedoch noch erhebliche Unterschiede im Aufgabenzuschnitt der einzelnen Hochschularten konstatiert: Bei den wissenschaftlichen Hochschulen stehe die Pflege und Entwicklung der Wissenschaften durch For5

Bethge, in: Sachs, GG, 5. Aufl., 2009, Art. 5, Rn. 207. Kimminich, WissR Bd. 6 (1973), S. 193 (200 f.); Pernice, in: Dreier, GG I, 2. Aufl., 2004, Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 32; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Loseblatt, Stand Oktober 2010, Art. 5 Abs. III, Rn. 106; Tomas Bauer, Wissenschaftsfreiheit in Lehre und Studium, 1980, S. 57 f. 7 Weiter gehend Denninger, in: AK-GG, Loseblatt, Stand August 2002, Art. 5 Abs. 3 I, Rn. 30. 8 Stern (Fn. 1), S. 507 (516); Stern, Staatsrecht IV/2, 2011, S. 779; Waldeyer, Das Recht der Fachhochschulen, in: Hailbronner/Geis, Hochschulrecht in Bund und Ländern, Bd. 2, Loseblatt, Stand August 2008, Rn. 214; Epping, in: Hartmer/Detmer, Hochschulrecht, 2. Aufl., 2011, II, Rn. 17 Fn. 62; Gärditz, Hochschulorganisation und verwaltungsrechtliche Systembildung, 2009, S. 613 f.; Waldeyer, DNH 2008, 8, 11. 6

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schung und Lehre im Vordergrund; dem Studenten solle eine umfassende wissenschaftliche Ausbildung vermittelt werden. Demgegenüber sei die vornehmliche Aufgabe der Fachhochschulen die Vorbereitung auf eine berufliche Tätigkeit durch eine anwendungsbezogene Lehre.9 Die Frage, ob sich neben Universitätsprofessoren auch Fachhochschullehrer auf die Lehrfreiheit berufen könnten, hat es dabei ausdrücklich offen gelassen.10 Jedoch sprachen seine Aussagen eher dafür, die Frage zu bejahen.11 bb) Die Einbeziehung der Fachhochschullehrer in den Grundrechtsschutz im Jahre 2010 Diesen seinerzeit noch vermiedenen Schritt ist das Bundesverfassungsgericht nunmehr gegangen. Soweit der Gesetzgeber Personen als Hochschullehrern die eigenständige Vertretung eines wissenschaftlichen Faches in Forschung und Lehre übertrage, fielen diese unter den Schutz des Art. 5 III GG.12 Dass dies regelmäßig auch für Fachhochschullehrer gelten soll, begründet das Gericht mit der Annäherung, die Universitäten und Fachhochschulen in den vergangenen Jahren durch den Gesetzgeber erfahren hätten. Sie soll in den im Wesentlichen identischen, nicht mehr nach Hochschularten differenzierenden Aufgabenkatalogen sowie in der einfach-gesetzlichen Verbürgung der Freiheit von Forschung und Lehre auch für Fachhochschulen zum Ausdruck kommen. Die Tätigkeit der Universitäten diene in starkem Maße Ausbildungszwecken. Zugleich hätten auch die Fachhochschulen wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden zu vermitteln und zu wissenschaftlicher Arbeit zu befähigen. Zudem sei den Fachhochschulen Forschung unabhängig von ihrem Ausbildungsauftrag gestattet, z. T. sogar ausdrücklich zugewiesen. Die Vereinheitlichung der Abschlüsse und der Dauer der Studiengänge im Rahmen des Bologna-Prozesses belege, dass der Gesetzgeber auch die Fachhochschulen als wissenschaftliche Ausbildungsstätten ansehe. Vor allem aber soll auch die Lehre an Fachhochschulen wissenschaftliche Lehre sein: Der Fachhochschullehrer müsse die Entwicklungen auf seinem Wissenschaftsgebiet permanent verfolgen, reflektieren und für seine Lehre verarbeiten. Bloße Wissensvermittlung sowie die Weitergabe eigener und fremder Forschungsergebnisse seien an Universitäten wie an Fachhochschulen meist untrennbar miteinander verknüpft. Müsste wissenschaftliche Lehre Resultat eigener Forschung sein, wäre auch ein Großteil der Lehre an Universitäten nicht wissenschaftlich. Das aber würde dem Grundrechtsschutz für die Freiheit der Lehre nicht gerecht.13 9

BVerfGE 61, 210 (244 f.); 64, 323 (354 f.). BVerfGE 61, 210 (246); 64, 323 (358). 11 So jedenfalls BVerwG NVwZ 1987, 681, das die Frage jedoch selbst ebenfalls nicht beantwortet. 12 BVerfGE 126, 1. 13 BVerfGE 126, 1 (20 ff.). 10

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c) Die Beurteilung der neuen Rechtsprechung aa) Der für die öffentliche Wahrnehmung der Hochschullehrer unglückliche Ausgangsfall Jenseits juristischer Überlegungen ist zunächst festzustellen, dass die öffentliche Behandlung des zugrundeliegenden Falles sämtlichen Hochschullehrern einen Bärendienst erwiesen hat.14 Ein Professor für Vermessungskunde wollte keine Lehrveranstaltungen in „Darstellender Geometrie“ durchführen. Ob diese Grundlagenveranstaltung noch Gegenstand des ihm übertragenen Faches war, musste das Bundesverfassungsgericht in seinem allein die fachgerichtliche Eilentscheidung betreffenden Beschluss nicht entscheiden. Es hielt jedoch die Übernahme der Veranstaltung bis zur Hauptsacheentscheidung zu Recht schon deshalb für zumutbar, weil der Beschwerdeführer für den Fall einer Anhebung seiner C2-Professur auf die Besoldungsgruppe C3 durchaus zu den fraglichen Vorlesungen bereit gewesen wäre.15 Von der rechtlichen Problematik des Aufstockungsbegehrens abgesehen,16 lässt diese Einstellung daran zweifeln, ob es dem Beschwerdeführer tatsächlich darum ging, sich gegen fachfremden Einsatz zu wehren.17 bb) Die Unbedenklichkeit des Entscheidungsergebnisses Gegen das zentrale Ergebnis der Entscheidung ist aus juristischer Perspektive wenig einzuwenden. Die Einbeziehung der Fachhochschullehrer in die Wissenschaftsfreiheit wird denn auch überwiegend begrüßt,18 zumindest stößt sie auf wenig Widerspruch.19 Auch aus Sicht der Universitätsprofessoren gibt sie als solche – im Gegensatz zu ihrer sogleich zu behandelnden Begründung – keinen Anlass zur Sorge. Der Schutz auch der Fachhochschullehrer durch Art. 5 III GG führt ebenso wenig zu Einbußen im Grundrechtsschutz der Universitätsprofessoren, wie es bei der Gründung einer weiteren wissenschaftlichen Hochschule der Fall wäre. Insbesondere wird auch der grundrechtsunmittelbare Anspruch auf eine bestimmte Mindestausstattung, die wissenschaftliches Arbeiten erst möglich macht,20 durch zusätzliche Grundrechtsträger nicht verkürzt.

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s. nur die Überschrift „Leere eines Professors“, F.A.Z. v. 28.7.2010, Nr. 172, S. 8. BVerfGE 126, 1 (29). 16 Dazu Gärditz, JZ 2010, 952 (953). 17 Kritisch dazu auch Hartmer, F&L 2010, 666. 18 Kessler, LKV 2010, 412; Vahle, DVP 2011, 82. 19 Vorsichtig zustimmend Hartmer (Fn. 17), 666; s. a. Hillgruber, F&L 2011, 286 (288). 20 Dazu BVerfGE 43, 242 (285); 54, 363 (390); 111, 333 (362). 15

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cc) Die Vorbehalte gegen die Begründung des Bundesverfassungsgerichts Kritik ist jedoch an der Begründung der Entscheidung veranlasst.21 (1) Das Argument der Annäherung von Fachhochschulen und Universitäten Sie betrifft zunächst den für die Entscheidung zentralen Gedanken, Fachhochschullehrer seien in den Schutz der Wissenschaftsfreiheit einzubeziehen, weil sich die Unterschiede zwischen Universitäten einerseits und Fachhochschulen andererseits verkleinert, wenn nicht sogar verflüchtigt hätten. Dass es eine deutliche Annäherung der Hochschularten gibt, lässt sich in der Tat nicht bestreiten. Dass die These von der im Wesentlichen einheitlichen Normierung der Aufgaben und Ausbildungsziele insofern ein wenig pauschal gerät, als u. a. der vom Bundesverfassungsgericht als Beleg mit zitierte § 58 HG NRW deutlicher zwischen Universitäten und Fachhochschulen differenziert als das Hochschulrecht anderer Länder, mag eine Marginalie sein. Jedoch beruht der geringere Abstand nur zum Teil darauf, dass der Gesetzgeber die Rechtsstellung der Fachhochschulen der tradierten Situation der Universitäten angenähert hätte. Mindestens im gleichen Maße hat er die Universitäten in Richtung der Fachhochschulen bewegt. Das Bundesverfassungsgericht spricht diese doppelte Ursache der Annäherung auch an.22 Es setzt aber voraus, dass Universitätsprofessoren trotz der Änderungen, die sich auch für ihre Hochschulen ergeben, Träger der Wissenschaftsfreiheit sind, und begründet mit der Nähe zu ihnen die Einbeziehung der Fachhochschullehrer in das Grundrecht. Jedoch könnten die beschriebenen Veränderungen prinzipiell auch dazu führen, dass der wissenschaftliche Charakter der Tätigkeit von Universitätsprofessoren fraglich wird: Zur Annäherung der Hochschularten führt nicht nur die Verwissenschaftlichung der Fachhochschulen, sondern auch die Entwissenschaftlichung23 der Universitäten.24 Die Wissenschaftlichkeit der Tätigkeit an Fachhochschulen darf daher nicht relativ mit der Nähe zu Universitäten begründet werden. Sie ist an absoluten Maßstäben zu messen.

21 Ebenso zwischen Ergebnis und Begründung differenzierend Kaufhold, NJW 2010, 3276 (3277). 22 BVerfGE 126, 1 (21). Anders die Einschätzung von Gärditz (Fn. 16), 952 (954): Das BVerfG stelle im Ergebnis allein auf die Verwissenschaftlichung der Fachhochschulausbildung ab. 23 Nieda-Rümelin, F&L 2005, 364 (365), spricht von der „Verfachhochschulung der Universitäten“. 24 Ebenso Kaufhold (Fn. 21), 3276 (3277).

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(2) Der Zusammenhang von Forschung und Lehre Besonders deutlich tritt dieses Defizit der Begründung bei der Behandlung des Verhältnisses der Lehre an den Fachhochschulen zur eigenen Forschung der Fachhochschullehrer hervor. Die Literatur geht zu Recht davon aus, dass die Lehrfreiheit nicht jede beliebige Wissensvermittlung schützt, sondern nur die wissenschaftliche Lehre, die sich durch die Vermittlung (auch) eigener Forschungserkenntnisse auszeichnet.25 Die Lehrfreiheit steht daher nur dem forschenden Wissenschaftler zu.26 Die Mitteilung fremder Forschungsergebnisse fällt nur dann in den Schutz des Grundrechts, wenn der Lehrende selbst auf dem betreffenden Gebiet forscht, so dass er die Forschung Dritter zu beurteilen vermag. Ein Zusammenhang des Lehrinhalts mit eigener Forschung des Lehrenden ist unabdingbar.27 Der reine28 Lehrprofessor ist daher auch an einer Universität nicht Träger des Grundrechts.29 Aber auch Fachhochschullehrer könnten sich nicht auf die Wissenschaftsfreiheit berufen, sofern eigene Forschung und die Übermittlung von deren Ergebnissen tatsächlich nicht zu ihrem gesetzlichen Auftrag zählen sollten. In Wahrheit aber führt die vielfach konstatierte zunehmende Übertragung von Forschungsaufgaben an die Fachhochschulen in der Tat dazu, dass ihnen der Schutz der Wissenschaftsfreiheit jedenfalls nicht (mehr) von vornherein abgesprochen werden kann.30 Die gegenteilige Sichtweise unterscheidet sich nicht im dogmatischen Ansatz, sondern nur in der tatsächlichen Befundnahme: Entscheidend für den Schutz durch die Wissenschaftsfreiheit ist gerade, ob den Fachhochschullehrern Forschung und forschungsbasierte Lehre aufgegeben sind. In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird diesem Aspekt ein zu geringes Gewicht beigemessen. Zwar lässt sich gegen die Feststellung, wissenschaftliche Lehre sei institutionell nicht an Universitäten gebunden nichts einwenden. Es war stets unbestritten,31 dass sich ein Fachhochschullehrer – wie je25

Starck (Fn. 4), Art. 5, Rn. 375. So treffend Scholz (Fn. 6), Art. 5 Abs. III, Rn. 104; Schulz-Prießnitz, Einheit von Forschung und Lehre, 1981, S. 103 f. s. a. BVerfGE 35, 79 (113): Lehre als wissenschaftlich fundierte Übermittlung der durch die Forschung gewonnenen Erkenntnisse. 27 Knopp/Schröder, LKV 2009, 145 (147); Starck (Fn. 4), Art. 5, Rn. 375. 28 Stern (Fn. 1), S. 507 (516), bejaht die Grundrechtsträgerschaft des Lehrprofessors, wenn auch unter der Prämisse, dass dieser doch forscht und insofern auf Grund von Forschung lehrt. Dem ist unter der Prämisse zuzustimmen, dass die Forschung – wenn auch in vermindertem Umfang – zum gesetzlich zugewiesenen oder zumindest gestatteten Aufgabenbereich des Lehrprofessors gehört. 29 Fechner, in: Stern/Becker, Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 5, Rn. 220; Knopp/Schröder (Fn. 27), 145 (147). Nach Kempen, in: Hartmer/Detmer, Hochschulrecht, 2. Aufl., 2011, I, Rn. 88, verstößt der Einsatz von Lehrprofessoren an Universitäten gegen Art. 5 III 1 GG. 30 So Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 5, Rn. 125; s. zudem oben Fn. 7, 8. 26

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der andere auch – auf die Wissenschaftsfreiheit berufen kann, soweit er wissenschaftlich tätig ist.32 Selbstverständlich greift für die Forschungstätigkeit eines Fachhochschullehrers der Schutz der Forschungsfreiheit ein.33 Auch auf die Lehrfreiheit kann er sich berufen, sofern er selbst forscht.34 Uneingeschränkt gilt das jedoch nur für Lehre außerhalb seines Amtes,35 nicht aber für die ihm dienstlich obliegende Lehre. Im Rahmen einer dienstlichen Tätigkeit greift das Grundrecht nur insoweit ein, als das übertragene Aufgabengebiet wissenschaftliche Tätigkeiten umfasst.36 Einem Hochschullehrer können – in den Worten des Bundesverwaltungsgerichts – „in dieser Eigenschaft Rechte aus Art. 5 III GG nur in dem Umfang erwachsen, in dem er kraft Amtes lehrt und forscht.“ Selbst ein „Minimum an unmittelbar wirksamem Freiheitsrecht“ sei zugunsten eines Fachhochschullehrers als solchem „ohne das Substrat dienstrechtlich vermittelter Aufgaben in Forschung und Lehre nicht denkbar.“37 In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aber bleiben die Ausführungen zum Forschungsbezug der Fachhochschullehre vage. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass Lehre im Sinne des Art. 5 III 1 GG nicht nur aus der Vermittlung eigener Forschungsergebnisse zu bestehen hat. Jedoch muss die von Art. 5 III 1 GG geschützte Lehre zumindest auch auf eigener Forschung beruhen. Es reicht gerade nicht aus, Forschungs- und Erkenntnisentwicklungen verfolgen, reflektieren und verarbeiten zu müssen. Das ist auch bei vielen Lehrern der Fall. Verfolgen und Verarbeiten begründen keine eigene Forschung, die sich gerade durch Vorantreiben und Erarbeiten auszeichnet.38 Damit steht zugleich der Hinweis auf die an Universitäten wie an Fachhochschulen gleichermaßen zu beobachtende untrennbare Verknüpfung von Wissensvermittlung einerseits und der Weitergabe eigener und fremder Forschungsergebnisse andererseits auf unsicherem Grund: Zu den Resultaten eigener Forschung an der Fachhochschule hat das Bundesverfassungsgericht zuvor ja gerade nichts gesagt. Immerhin holt es diesen Aspekt insofern nach, als es einmal mehr39 betont, dass auch die den Fachhochschulen aufgegebene anwendungsbezogene Forschung wissenschaftliche Forschung i. S. v. Art. 5 III 1 GG sei. Entscheidend aber ist, dass die Lehre auf eben dieser Forschung aufbaut. 31

Stern, Staatsrecht IV/2, 2011, S. 806. So Scholz (Fn. 6), Art. 5, Rn. 106. 33 Scholz (Fn. 6), Art. 5, Rn. 106. 34 Fechner (Fn. 29), Art. 5, Rn. 229. 35 Die Lehrfreiheit erfasst beispielsweise auch Lehrbücher. Dazu Pernice (Fn. 6), Art. 5 III (Wissenschaft), Rn. 32. 36 Jarass (Fn. 30), Art. 5, Rn. 124. 37 BVerwG NVwZ 1987, 681. 38 Deutlich BVerwG NVwZ 1987, 681 (682): Gefordert wird die selbständige Erarbeitung objektiv neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. 39 Zuvor schon BVerfGE 61, 210 (252). 32

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Dass das Gericht diesen ausschlaggebenden Punkt zu gering gewichtet, belegt schließlich sein Hinweis, auch ein Großteil der Lehre an Universitäten wäre als nicht wissenschaftlich zu qualifizieren, wenn wissenschaftliche Lehre allein auf den Resultaten eigener Forschung beruhen dürfte. Der Wegfall des Grundrechtsschutzes an Universitäten aber werde dem Grundrechtsschutz für die Freiheit der Lehre nicht gerecht. In Wahrheit fällt auch universitäre Lehre nicht schon auf Grund der Bezeichnung der Hochschule unter Art. 5 III 1 GG,40 sondern nur, wenn und weil der jeweilige Hochschullehrer auf dem betreffenden Gebiet forscht. Es wäre in der Tat mit Art. 5 III 1 GG nicht vereinbar, wenn es keine vom Staat getragenen wissenschaftlichen Hochschulen mehr gäbe.41 Daraus folgt jedoch nicht, dass die Lehre an den vorhandenen Universitäten zwingend ihren wissenschaftlichen Charakter behält. Der Verlust dieser Qualität durch Entscheidungen des Gesetzgebers wäre zwar verfassungsrechtlich unzulässig. Das bedeutet jedoch nicht, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. In letzter Konsequenz würde dieser Teil der Entscheidungsgründe dazu führen, dass die Berufung auf die Lehrfreiheit nicht mehr von individueller Forschung des jeweiligen Dozenten abhängig ist. Zugleich betont das Bundesverfassungsgericht jedoch die den Fachhochschulen als Institution übertragenen Forschungsaufgaben. Das gibt Anlass zu der Überlegung, ob die Entscheidung des Gerichts möglicherweise so zu verstehen ist, dass Art. 5 III 1 GG nur die Lehre an Hochschulen schützt, an denen überhaupt geforscht wird, sei es auch nur durch Kollegen desjenigen, der sich auf das Grundrecht beruft.42 Letztlich kann es darauf jedoch nicht ankommen. Richtigerweise setzt der Schutz durch die Lehrfreiheit nach wie vor die eigene Forschung voraus. d) Forschungsgetragene Lehre als Teil des gesetzlichen Auftrags etlicher Fachhochschulen Einen gangbaren Weg, das Ergebnis des Bundesverfassungsgerichts tragfähig zu begründen, zeigt Waldeyer auf,43 indem er den gesetzlichen Forschungsauftrag der Fachhochschulprofessoren und den Zusammenhang dieses Auftrags mit der Fachhochschullehre anhand des HRG und – was heute wichtiger ist – der Landeshochschulgesetze nachweist. U.a. das auch an Fachhochschulen mögliche Forschungsfreisemester44 und die in allen Ländern vorgesehene Pflicht der Fach40

Jarass (Fn. 30), Art. 5, Rn. 125. Zur Pflicht des Staates zur Schaffung eines funktionsfähigen Wissenschaftsbetriebs unten II. 2. a). 42 Kaufhold (Fn. 21), 3276 (3278), die diesen Ansatz jedoch mit dem zutreffenden Argument ablehnt, dass die institutionelle Verknüpfung mit der Forschung die Lehre jedenfalls nicht in einem Maße fördert, dass dieser Konnex zur Grundrechtsvoraussetzung gemacht werden könnte. 43 Waldeyer, NVwZ 2010, 1279 ff. 44 s. u. a. Art. 11 III BayHSchPG; § 53 II RPHG; § 33 SaarFhG; § 39 II HSG LSA. 41

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hochschullehrer zur Forschung45 belegen den Stellenwert, der der Forschung auch an Fachhochschulen zukommt.46 Freilich handelt es sich dabei um anwendungsbezogene Forschung. Dass diese zur Eröffnung des Schutzes durch Art. 5 III 1 GG nicht ausreichen soll,47 überzeugt nicht. Immerhin ist bestimmten Gebieten der Wissenschaft, zu denen auch und gerade die Rechtswissenschaft zählt, der Praxisbezug weitgehend immanent,48 ohne dass dies ihren wissenschaftlichen Charakter gefährden würde. Vor diesem Hintergrund spricht viel für die Richtigkeit der These, anwendungsorientierte Forschung unterscheide sich nur im Ziel, nicht aber ihrem grundlegenden Charakter nach von der Grundlagenforschung.49 Damit aber lassen sich jedenfalls Fachhochschulen, denen z. B. die Entwicklung der Wissenschaften durch anwendungsbezogene Lehre und entsprechende Forschung aufgegeben ist,50 nicht aus dem Schutz des Art. 5 III 1 GG ausschließen. Anders mag man dies in Fällen beurteilen, in denen das Landeshochschulgesetz die Weiterentwicklung der Wissenschaft den Universitäten vorbehält.51 e) Keine inhaltliche Identität des Grundrechtsschutzes von Universitäts- und Fachhochschullehrern Damit ist nicht gesagt, dass der Grundrechtsschutz von Universitäts- und Fachhochschulprofessoren inhaltlich identisch ist. Die Dispositionsbefugnis des Gesetzgebers52 reicht an der Fachhochschule wesentlich weiter. Nur hier darf der Gesetzgeber den Auftrag sogar bis auf die reine Wissensvermittlung zurücknehmen,53 während er an Universitäten durch seine Verpflichtung zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Wissenschaftssystems54 an entsprechenden Änderungen gehindert wäre.55 Im Umfang ihrer Aufgaben aber sind auch Fachhochschullehrer durch Art. 5 III 1 GG geschützt.56 45 §§ 99 I iVm. 4 III 4 BerlHG, vgl. auch § 4 III 5 BerlHG, der vorsieht, dass das Land die Forschungsmöglichkeiten der Fachhochschulmitglieder ausbauen soll; §§ 40 I 1 iVm. 3 I 4 BbgHG, s. a. § 45 III 1 BbgHG, der die Möglichkeit vorsieht, dass Fachhochschulen Professuren mit dem Schwerpunkt in der Forschung einrichten können; §§ 35 I 1 iVm. 3 II 2 HG NRW; §§ 60 I 1 iVm. 94.3 HSG SH. 46 Dazu Waldeyer (Fn. 43), 1279 (1280). 47 Kempen (Fn. 29), I, Rn. 90; Knopp/Schröder (Fn. 27), 145 (147). 48 Schulze-Fielitz, in: Geis, Hochschulrecht im Freistaat Bayern, 2009, II, Rn. 188. 49 So Waldeyer (Fn. 43), 1279 (1280). 50 So z. B. § 3 I 1, 4 BbgHG; § 5 I 2, 4 ThürHG. 51 Epping (Fn. 8), II, Rn. 17, unter Hinweis auf § 4 I, III HHG. 52 Kritisch zu den weitgehenden Gestaltungsmöglichkeiten, die der Gesetzgeber nach der Lösung des BVerfG bekommt, Hillgruber (Fn. 19), 286 (288). 53 Zutreffend Fehling, in: Bonner Kommentar, Loseblatt, Stand Februar 2011, Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaftsfreiheit), Rn. 76. 54 Unten II. 2. a). 55 Anders die Einschätzung von Hillgruber (Fn. 19), 286 (288), der eine derartige Dispositionsmacht auf Grund der Entscheidung des BVerfG befürchtet.

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II. Die Wissenschaftsfreiheit und das Organisationsrecht der Hochschule Besonders intensiv wurde die Reichweite des inhaltlichen Schutzes durch die Wissenschaftsfreiheit in den vergangenen Jahren im Hinblick auf die Reformen der Hochschulorganisation durch den Gesetzgeber57 diskutiert. Dieser hat sich die Steigerung der Effizienz der Hochschulen auf die Fahnen geschrieben, die er u. a. durch eine Kompetenzverlagerung von partizipatorisch besetzten Kollegialorganen auf Leitungsorgane sowie auf extern besetzte Hochschulräte zu erreichen sucht. Die damit einhergehende Ökonomisierung der Hochschulen wird ebenso kritisiert58 wie ihre Hierarchisierung,59 die sich augenfällig in der Nachahmung wirtschaftlicher Leitungsstrukturen zeigt: Rektorate und Präsidien werden faktisch – und gelegentlich sogar ihrer Bezeichnung nach –60 zu Vorständen, Hochschulräte zu Aufsichtsräten, Dekane zu Abteilungsleitern.61 Gegen diese Veränderungen führen die Betroffenen regelmäßig ihre Wissenschaftsfreiheit ins Feld. Dass das Grundrecht auch gegenüber Organisationsnormen geltend gemacht werden kann, ist seit langem anerkannt.62 Jedoch hat sich sein Schutz aus Sicht vieler Wissenschaftler mehrfach als nicht ausreichend erwiesen. Das lag unter anderem daran, dass das Bundesverfassungsgericht den Schutz des Grundrechts im Vergleich zu seiner früheren Rechtsprechung reduziert hat. Mittlerweile hat sich freilich gezeigt, dass die Verfassungsbeschwerde des einzelnen Wissenschaftlers gegen gesetzliche Regelungen der Hochschulorganisation auch unter den geänderten Prämissen noch erfolgreich sein kann. 1. Der abwehrrechtliche Schutz des Kernbereichs der Wissenschaft

Ausgangspunkt der in ihren Grundelementen seit knapp 40 Jahren unveränderten Konzeption ist der Schutz der wissenschaftlichen Betätigung durch ein individuelles Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe. Das Bundesverfassungsgericht sprach schon früh von einem durch Art. 5 III 1 GG grundsätzlich vorbehaltlos 56 So schon Hailbronner, Die Freiheit von Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, 1979, S. 93. 57 Dazu u. a. Battis, DÖV 2006, 498 f. 58 s. nur Geis, WissR Bd. 37 (2004), S. 2 (7 f.); Löwer, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 421 (434). 59 Dazu Mager, VVDStRL Bd. 65 (2006), 274 (296 ff.); Schenke, NVwZ 2005, 1000, (1003 ff.). 60 Statt von Präsidium und Hochschulrat sprechen §§ 16, 20 LHG BW vom Vorstand bzw. Aufsichtsrat. Kritisch zur „törichten Verwendung“ dieser Begriffe Battis (Fn. 57), 498 (501). 61 Kritisch Steiner, BayVBl. 2006, 581 (583); Knopp/Schröder (Fn. 27), 145 (150). 62 BVerfGE 35, 79 (108); 111, 333 (352); zuletzt BVerfG NVwZ 2011, 224 (226).

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geschützten Freiraum, der das Auffinden von Erkenntnissen, ihre Deutung und Weitergabe umfasse und in dem der Wissenschaftler „absolute Freiheit von jeder Ingerenz öffentlicher Gewalt“ genieße. Er könne jede staatliche Einwirkung auf die Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse abwehren; das Grundrecht gewähre ihm einen von staatlicher Fremdbestimmung freien Bereich persönlicher und autonomer Verantwortung.63 Die Freiheit der Forschung umfasst die Fragestellung, die Grundsätze der Methodik, die Bewertung der Ergebnisse und ihre Verbreitung. Zur Freiheit der Lehre zählen der Inhalt der Lehre, ihr methodischer Ansatz und das Recht auf Äußerung wissenschaftlicher Lehrmeinungen.64 An dieser Beschreibung des „stets unantastbaren Kernbereichs“ wissenschaftlicher Betätigung65 hält das Gericht dem Grunde nach bis heute fest.66 Kleinere Abweichungen ergeben sich daraus, dass es in späteren Entscheidungen z. T. die verfassungsimmanenten Schranken stärker betont hat67 und dass es mittlerweile – insofern in lediglich scheinbarer Kontinuität zu seiner per „vgl. auch“-Beleg in Bezug genommenen älteren Rechtsprechung – nur noch davon spricht, Wissenschaft sei ein grundsätzlich von Fremdbestimmung freier Bereich autonomer Verantwortung.68 2. Das Recht des Hochschullehrers auf eine freiheitssichernde Hochschulorganisation

a) Objektive Wertentscheidung und subjektiver Anspruch Neben diesem Individualrecht enthält die Wissenschaftsfreiheit eine objektive, das Verhältnis von Wissenschaft, Forschung und Lehre zum Staat regelnde, wertentscheidende Grundsatznorm.69 Art. 5 III 1 GG verpflichtet den Staat insofern in doppelter Hinsicht: Er muss zum einen für funktionsfähige Institutionen eines freien universitären Wissenschaftsbetriebs sorgen. Zum anderen hat er durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass das individuelle Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung soweit unangetastet bleibt, wie das unter Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der Wissen-

63

BVerfGE 35, 79 (112 ff.). BVerfGE 35, 79 (113 f.). 65 BVerfGE 35, 79 (115, 122). 66 BVerfGE 47, 327 (367 f.); 90, 1 (11 f.); 111, 333 (354); BVerfG NVwZ 2011, 224 (227). 67 BVerfGE 47, 327 (367 ff.). 68 BVerfGE 111, 333 (354); BVerfG NVwZ 2011, 224 (227) (Hervorhebung nur hier). 69 St. Rspr. seit BVerfGE 35, 79 (112). Kritisch Nettesheim, DVBl. 2005, 1072, (1076 f.). 64

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schaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten möglich ist.70 Diese objektiven Verpflichtungen werden sogleich wieder versubjektiviert:71 Dem einzelnen Träger des Grundrechts aus Art. 5 III 1 GG erwächst aus der Wertentscheidung ein Recht auf solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums unerlässlich sind, weil sie ihm freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen.72 Das ist nichts anderes als ein subjektiver Teilhabeanspruch auf eine wissenschaftsadäquate73 Hochschulorganisation.74 b) Der Umfang dieses Rechts im Wandel der Rechtsprechung Dass dieser Anspruch nicht mit einer verfassungsrechtlichen Verbürgung der subjektiven Vorstellungen jedes Wissenschaftlers von einer sinnvollen Hochschulorganisation verwechselt werden darf,75 versteht sich von selbst. Auch lässt die Einbindung in eine Hochschule, an der noch andere Wissenschaftler tätig sind und die Ausbildungszwecken dient, das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit außerhalb eines Kernbereichs76 nach wie vor nicht unangetastet. Und immer noch bedarf jede Einschränkung einer Legitimation, die sich nur aus anderen Aufgaben der Hochschulen und Grundrechten anderer Wissenschaftler ergeben kann.77 Die Konkretisierung dieser Postulate durch das Bundesverfassungsgericht freilich hat sich verändert. aa) Zwischen „Gewährung größtmöglicher Freiheit“ einerseits und „Ermöglichung freier Wissenschaft“ andererseits 1973 hielt das Gericht den Staat noch für verpflichtet, bei der Hochschulorganisation vorbehaltlich der genannten Grenzen „das irgend erreichbare Maß an Freiheit für die Forschungs- und Lehrtätigkeit jedes einzelnen Wissenschaftlers“ 70 BVerfGE 35, 79 (115); 85, 360 (384); 83, 85 (95); 85, 360 (384); 111, 333 (353); BVerfG NVwZ 2011, 224 (227). 71 Zum besonders engen Zusammenhang zwischen objektiver Pflicht des Staates und subjektivem Recht des Wissenschaftlers in diesem Bereich Geis (Fn. 58), S. 2 (12); Ladeur, DÖV 2005, 753 (758). 72 BVerfGE 35, 79 (116); 111, 333 (353); BVerfG NVwZ 2011, 224 (227). 73 Kritisch Geis, Die Verwaltung Bd. 41 (2008), S. 77 (93): „Disziplinadäquat“ vorzugswürdig. 74 So Kempen (Fn. 29), I, Rn. 36, unter Hinweis auf BVerfGE 35, 79 (115); s. a. Burgi/Gräf, DVBl. 2010, 1125 (1128). 75 BVerfGE 35, 79 (112). 76 BVerfGE 35, 79 (115). 77 Dazu die Belege in Fn. 70.

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zu verwirklichen.78 In derselben Entscheidung findet sich jedoch mit Blick auf eine mögliche Garantie der Hochschulselbstverwaltung die Einschätzung, Kriterium für eine verfassungsgemäße Hochschulorganisation könne nur sein, ob mit ihr freie Wissenschaft möglich sei und ungefährdet betrieben werden könne.79 Der darin zum Ausdruck kommende Gedanke, nach dem die Hochschulorganisation lediglich Mittel zum Zweck freier Wissenschaft ist,80 also – bei allen denkbaren Vorbehalten gegen diesen Begriff – eine dienende Funktion hat,81 liegt auch dem Befund zugrunde, Art. 5 III 1 GG verlange nicht die Beteiligung jedes Hochschullehrers an der Leitung seiner Einrichtung, sondern fordere allein den für die freie wissenschaftliche Betätigung erforderlichen Raum.82 Eine gewisse Ambivalenz der grundsätzlichen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts lässt sich auch in der Folgezeit feststellen. Einerseits hat es die Wendung, dem Interesse des Gemeinwesens an einem funktionierenden Wissenschaftsbetrieb werde am ehesten gedient, wenn sich die wissenschaftlich tätige Einzelpersönlichkeit schöpferisch entfalten könne,83 deutlicher gefasst: Seit 1978 formuliert es, dem Grundrecht liege der Gedanke zugrunde, gerade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft diene dem Staat und der Gesellschaft am besten.84 Andererseits weist es darauf hin, die der Wissenschaft zuzubilligende Freiheit enthebe sie nicht von vornherein der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen. Der Freiraum sei nur für eine dem Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft dienende Wissenschaft garantiert –85 eine Aussage, die mit dem Postulat einer von Nützlichkeitsvorstellungen frei gehaltenen Wissenschaft erkennbar kollidiert. Gleiches gilt für die Formulierung in der jüngsten Rechtsprechung, es sei Aufgabe der Politik, Grundentscheidungen dazu zu treffen, wo und in welchen Fächern geforscht werden soll und hierbei mit Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung auch Schwerpunkte zu setzen.86 Während dieser Konflikt im ersten Fall jedoch verschleiert wird (die Beschränkung des Freiraums auf eine gesellschafts78

BVerfGE 35, 79 (121 f.). BVerfGE 35, 79 (117). Dieser Feststellung folgt freilich der später nicht mehr mit zitierte (dazu Löwer (Fn. 58), S. 421 [435]) Satz, in diesem Fall stünden die Einzelregelungen (!) zur Disposition des Gesetzgebers. Von einer Verfügungsbefugnis über die Selbstverwaltung insgesamt ist hingegen an dieser Stelle noch nicht die Rede. 80 s. a. Geis, F&L 2005, 188: Kompetenzverteilung zweitrangig, solange die Freiheit der Wissenschaft inhaltlich gesichert ist. 81 Classen, in: ders./Dittmann/Fechner/Gassner/Kilian (Hrsg.), Liber amicorum Thomas Oppermann, 2001, S. 857 (870); Geis (Fn. 58), S. 2 (16). 82 BVerfGE 54, 363 (389 ff.); 57, 70 (92); 93, 85 (96). 83 BVerfGE 35, 79 (115 f.). 84 BVerfGE 47, 327 (370); ebenso später BVerfGE 111, 333 (354); BVerfG NVwZ 2011, 224 (227). 85 BVerfGE 47, 327 (370). 86 BVerfG NVwZ 2011, 224 (227). 79

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dienliche Wissenschaft soll sich erstaunlicherweise aus der besonderen Nützlichkeit einer von Nutzenvorstellungen befreiten Wissenschaft ergeben),87 wird er im zweiten Fall immerhin offen gelegt (neben der beschriebenen Aufgabe soll dem Freiheitsrecht „jedoch auch“ der Gedanke der besonderen Nützlichkeit einer freien Wissenschaft zugrunde liegen).88 Die Öffnung des Grundrechtsschutzes für politische Vorgaben lässt sich bei vordergründiger Betrachtung insofern positiv bewerten, als sie zur gesellschaftlichen Akzeptanz der staatlichen Hochschulfinanzierung beiträgt. Die zunehmende „Vernutzung“ der von der Allgemeinheit bezahlten Wissenschaft entspricht unbestreitbar vorhandenen Erwartungen jedenfalls eines Teils der Öffentlichkeit.89 Und dass die letztlich unentbehrliche Akzeptanz einzelner Institutionen grundrechtliche Berücksichtigung finden kann, ist u. a. aus dem Bereich der Rundfunkfreiheit bekannt. Diese lässt es zu, bei der Festsetzung der Rundfunkgebühr auf deren Akzeptanz – und damit mittelbar auf diejenige des gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks – Rücksicht zu nehmen.90 Anders als im Bereich des Art. 5 III 1 GG wird damit jedoch nicht einer der zentralen Gedanken des Grundrechts in Frage gestellt. Wenn die Gesellschaft – wie das Bundesverfassungsgericht zu Recht betont – von einer nicht mit konkreten Nutzenerwartungen belasteten Wissenschaft am stärksten profitiert, dann verlangt das Grundrecht dem Gesetzgeber ab, den Druck auszuhalten, der bei der Vermittlung dieses Gedankens entsteht.91 bb) Die vermeintliche Verfassungswidrigkeit erst bei strukturellen Freiheitsgefährdungen Derartige Überlegungen spielen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Fragen der Hochschulorganisation allenfalls eine untergeordnete Rolle. In der ebenfalls ersichtlich an Nutzenerwägungen orientierten92 sog. Brandenburg-Entscheidung werden die Reaktionsmöglichkeiten der Hochschullehrer im Vergleich mit der zuvor bestehenden Situation deutlich reduziert.93 Das Bundesverfassungsgericht knüpft dabei an die Aussage an, nach Art. 5 III 1 GG seien die Organisation und damit auch die Willensbildung in der Hochschule so zu regeln, dass freie Wissenschaft möglich sei und ungefährdet betrieben werden 87

BVerfGE 47, 327 (370) („Aus alledem folgt, . . .“). BVerfGE NVwZ 2011, 224 (227). 89 Eingehend Nettesheim (Fn. 69), 1072 (1073 f.); s. a. Schenke (Fn. 59), 1000. 90 BVerfGE 119, 181 (226, 231). 91 Zu dieser Gefahr und der Notwendigkeit ihrer Abwehr Geis (Fn. 80), 188 (189); ders. (Fn. 58), S. 2 (8, 10). 92 Nettesheim (Fn. 69), 1072 (1077). 93 Geis, F&L 2009, 110. Burgi/Gräf (Fn. 74), 1125 (1130), schätzen die Änderung als weniger weitgehend ein. 88

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könne. Daraus schließt es („demnach“), die Teilhabe der Grundrechtsträger an der Organisation des Wissenschaftsbetriebs sei kein Selbstzweck. Sie diene dem Schutz vor „wissenschaftsinadäquaten Entscheidungen“ und sei nur im dafür erforderlichen Umfang garantiert. Die Garantie sei für jeden Wissenschaftler auf solche organisatorischen Entscheidungen beschränkt, die seine eigene Forschungs- und Lehrfreiheit gefährden könnten.94 Organisationsnormen sollen erst dann gegen das Grundrecht verstoßen, wenn sie die freie wissenschaftliche Betätigung und Aufgabenerfüllung strukturell gefährden. Dass sie grundrechtswidrige Einzelfallentscheidungen nicht ausschlössen, sei ebenso wenig ausreichend wie eine lediglich hypothetische Gefährdung. Ob eine strukturelle Gefährdung vorliege, sei anhand des hochschulorganisatorischen Gesamtgefüges mit seinen Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten zu beurteilen.95 Auf der Grundlage dieser Prämisse hat das Bundesverfassungsgericht die Stärkung der Kompetenzen der monokratischen Leitungsorgane der Brandenburger Hochschulen durch das angegriffene Gesetz ebenso für verfassungsgemäß erklärt wie die Vorschriften über die Besetzung des „Hochschulleitungsamtes“, die dem Staat erhebliche Mitspracherechte eingeräumt haben,96 und die – freilich verfassungskonform auszulegende – Kompetenz der Leitungsorgane zur Evaluation sowie zur Berücksichtigung der Ergebnisse bei der Ressourcenverteilung.97 In der Literatur ist die Rücknahme des Kontrollmaßstabes auf „strukturelle Gefährdungen“ überwiegend98 auf deutliche Kritik gestoßen. Die Abgrenzung zwischen bloß hypothetischen und bereits strukturellen Gefährdungen sei kaum praktikabel.99 Der Brandenburg-Beschluss wurde als eine Art Freibrief für den Gesetzgeber interpretiert, der einen Verstoß gegen Art. 5 III 1 GG praktisch ausschloss.100 Ungeachtet dessen hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof die vom Bundesverfassungsgericht zu Art. 5 III 1 GG entwickelten Maßstäbe 2008 für die Verbürgung der Wissenschaftsfreiheit in Art. 108 BayVerf. ausdrücklich übernommen und auf ihrer Grundlage die Verfassungsmäßigkeit der seinerzeit neuen 94

BVerfGE 111, 333 (354); BVerfG NVwZ 2011, 224 (227). BVerfGE 111, 333 (355) (Hervorhebung nur hier). 96 Dagegen Gärditz, NVwZ 2005, 407: Stärkere Stellung der Hochschulleitung bewirke im konkreten Fall keine nur hypothetische Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit. 97 BVerfGE 111, 333 (355). Zu diesbezüglichen Bedenken Gärditz (Fn. 96), 407 (408 f.). 98 Differenzierend Geis (Fn. 80), 188 f.; deutlich kritischer ders. (Fn. 93), 110 f. Zustimmend zur „Zurückhaltung“ des BVerfG Jutzi, NJ 2005, 121 (122). 99 Kempen (Fn. 29), I, Rn. 36; s. a. ders., DVBl. 2005, 1082 (1089). 100 Gärditz (Fn. 96), 407 (409) („leere Hülle“); Kahl, AöR Bd. 130 (2005), S. 225 (260) („Bindung nur durch kontrollschwache Großformeln“); Löwer (Fn. 58), S. 421 (437) (keinerlei grundrechtliche Schranken für den Organisationsgesetzgeber); Hillgruber (Fn. 19), 286 (287) (praktisch plein pouvoir für den Gesetzgeber). 95

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bayerischen Regelungen über die Zusammensetzung des Hochschulrats, über die Wahl des Präsidenten sowie über die Berufung von Professoren in Ermangelung einer strukturellen Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit bejaht.101 cc) Strukturelle Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit bei Fehlen eines „hinreichenden Partizipationsniveaus“ Die Sorgen der Literatur, Art. 5 III 1 GG begrenze den Gesetzgeber in Fragen der Hochschulorganisation praktisch nicht mehr, war durchaus begründet. Das zeigt sich sogar102 in der bislang letzten einschlägigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Sommer 2010 („Hamburger Dekane“).103 Zwar werden darin die Vorschriften des HmbHG über die Entscheidungskompetenzen der Leitungsorgane (§§ 90, 91 HmbHG) teilweise mit dem Grundgesetz für unvereinbar erklärt. Jedoch beruht dies letztlich auf einer inhaltlichen Anreicherung des Schutzes durch Art. 5 III 1 GG: Die zur Sicherung der Wissenschaftsadäquanz gebotene Teilhabe erfordere ein „hinreichendes Partizipationsniveau“ der Grundrechtsträger, damit diese durch ihre Vertreter in den Organen der Hochschule Gefährdungen der Wissenschaftsfreiheit abwehren könnten. Im Falle substantieller personeller und sachlicher Entscheidungsbefugnisse von Leitungsorganen im wissenschaftsrelevanten Bereich hänge die Verfassungsmäßigkeit des hochschulorganisatorischen Gesamtgefüges davon ab, dass im Gegenzug die direkten oder indirekten Mitwirkungs-, Einfluss-, Informations- und Kontrollrechte der Kollegialorgane stärker ausgestaltet würden.104 Eine derartige freiheitssichernde Kompensation der Befugnisse der Leitungsorgane sieht das Bundesverfassungsgericht in Hamburg nicht durchgängig gewährleistet. Der Gesetzgeber hatte (auch) hier auf der dezentralen Ebene das tradierte Modell einer primären Zuständigkeit des Fachbereichsrats einerseits und einer im Wesentlichen auf Eilfälle und gesondert geregelte Situationen beschränkten Zuständigkeit des Dekans andererseits vollständig verändert. Der Fakultätsrat ist nur noch für einen Kreis von enumerativ festgelegten Aufgaben zuständig, im Übrigen darf er lediglich Stellung nehmen. Das vom Präsidium 101 BayVerfGH NVwZ 2009, 177 ff. Eingehend zum gesamten Verfahren die Dokumentation von Kahl, Das bayerische Hochschulurteil 2008, 2008. Dezidiert kritisch Geis (Fn. 93), 110 f. Zu den Inhalten der Reform von 2006 Lindner/Störle, BayVBl. 2006, 584 ff., die eine strukturelle Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit durch den Hochschulrat schon vor dem BayVerfGH verneinen (S. 592). Kritisch zum Hochschulrat hingegen Steiner (Fn. 61), 581 (582 f.). 102 s. zuvor die Ablehnung der Annahme einer Verfassungsbeschwerde unter Hinweis auf die Brandenburg-Entscheidung BVerfGK 12, 17 ff. 103 BVerfG NVwZ 2011, 224 ff. 104 BVerfG NVwZ 2011, 224 (227 f.). Zur durch Art. 5 III 1 GG gebotenen Mitwirkungsbefugnis der Hochschullehrer s. bereits zuvor die hier nicht näher behandelte Entscheidung BVerwGE 135, 286 ff.

Die Wissenschaftsfreiheit des Hochschullehrers

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ausgewählte bzw. bestellte Dekanat hingegen leitet die Fakultät. Zu seinen Aufgaben gehört die Bewirtschaftung der Haushaltsmittel. Es entscheidet über die Zuordnung von Stellen innerhalb der Fakultät, überprüft die zukünftige Verwendung freiwerdender Professoren- und Juniorprofessorenstellen105 und besitzt eine subsidiäre Auffangzuständigkeit.106 Dieses Kompetenzbündel hält das Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit Art. 5 III 1 GG. Der Einfluss des Dekanats auf die wissenschaftsrelevanten Allokationsentscheidungen sei trotz einzelner Beschränkungen etwa durch das Recht des einzelnen Wissenschaftlers auf eine Mindestausstattung oder durch den Struktur- und Entwicklungsplan erheblich. Der – dem Grunde nach zulässigen – Auffangzuständigkeit des Dekanats stünden kaum noch substantielle Entscheidungskompetenzen des Fakultätsrats gegenüber. Diese umfangreichen Steuerungsmöglichkeiten des Dekanats würden auch nicht durch hinreichende Mitwirkungs-, Einfluss-, Informations- und Kontrollrechte der Grundrechtsträger kompensiert: Insofern bemängelt das Bundesverfassungsgericht das fehlende Recht des Fakultätsrats zur Mitwirkung an der Struktur- und Entwicklungsplanung und den geringen diesbezüglichen Einfluss der Professoren auf der zentralen Ebene. Auch das gesetzlich nicht näher beschriebene Recht des Fakultätsrats zur Kontrolle des Dekanats sowie sein Recht zur Stellungnahme seien ebenso wenig ein ausreichendes Korrektiv wie sein sehr begrenzter Einfluss auf die Zusammensetzung des Dekanats.107 c) Bewertung und Ausblick Die Entscheidung ist zu begrüßen.108 Legt man ihre Maßstäbe zugrunde, spricht viel dafür, dass auch die Regelungen anderer Landesgesetzgeber das gebotene Mindestmaß an Partizipation vermissen lassen. An der Vereinbarkeit der baden-württembergischen Regelungen zum „Aufsichtsrat“ und zum „Vorstand“ der Hochschule mit Art. 5 III GG etwa sind schon vor der Entscheidung zu den Hamburger Dekanen, in verfassungsgerichtlichen Kategorien also allein auf der Grundlage der „Brandenburg-Kriterien“ deutliche Zweifel geäußert worden.109 In jedem Fall hat die Hamburg betreffende Entscheidung eine Reihe von Judikaten durchbrochen, in denen nach eindrucksvollen Worten zum Schutz durch Art. 5 III 1 GG ein Grundrechtsverstoß im konkret zu beurteilenden Fall letztlich doch verneint wurde. Anders als derartige eher rhetorische Ermahnungen, die beim 105

§ 90 V Nr. 1, Nr. 2 Var. 1 HmbHG. § 90 V Nr. 7 HmbHG. 107 BVerfG NVwZ 2011, 224 (230 ff.). 108 Verhalten positiv zur Hamburg betreffenden Entscheidung des BVerfG auch Hillgruber (Fn. 19), 286 (289) („Lichtblick“, „besser spät als nie“). 109 Schenke, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS für Reinhard Mußgnug, 2005, S. 439 (444 ff.); ders. (Fn. 59), 1000 (1005 ff.). 106

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Gesetzgeber erfahrungsgemäß wenig bewirken,110 dürfte die jüngste Entscheidung zumindest eine erhebliche Signalwirkung haben. Aus Sicht der Hochschullehrer bleibt zu hoffen, dass sie sich rückblickend nicht als regelbestätigende Ausnahme erweist, sondern als echte Kurskorrektur.

110 Zutreffend Geis (Fn. 93), 110 (111): Politik nur durch ein klares Nein zu beeindrucken.

Medienkonvergenz zwischen Rundfunk- und Pressefreiheit Von Christoph Degenhart I. Einführung In welchem Ausmaß und in welcher Intensität das Recht der Medien in der Bundesrepublik Deutschland grundrechtsgeprägtes Recht ist,1 in welchem Maße die Entwicklung der Medien, ihr publizistisches Wirken und ihre wirtschaftlichen Grundlagen grundrechtlich fundiert und grundrechtlich zugeordnet sind, dies wird im Werk von Klaus Stern eindrucksvoll belegt.2 Und nicht zuletzt sein wissenschaftliches Werk ist es, das die Grundlagen schafft, um den Herausforderungen zu begegnen, die sich aus der fortschreitenden Entwicklung der Medien in ihren kommunikationstechnischen wie inhaltlichen Möglichkeiten stellen. Herausforderungen stellen sich in besonderer Weise aus jener Entwicklung, die mit dem – durchaus schillernden – Begriff der Konvergenz der Medien benannt werden. Insbesondere konvergente Entwicklungen im Verhältnis von Rundfunk und Presse berühren in vielfacher Hinsicht den Geltungsanspruch der Kommunikationsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG. Der Begriff der Konvergenz3 ist vielschichtig – im Verhältnis von Rundfunk und Presse sind es die umfangreichen Online-Angebote der Rundfunkanstalten und der Presseunternehmen, die sich nach Inhalten und Formatierungen in weiten Bereichen kaum mehr unterscheiden und so zu einer inhaltlichen Konvergenz der Medienangebote führen,4 die sich damit auch einer eindeutigen Zuordnung zu den Kommunikationsgrundrechten der Pressefreiheit und der Rundfunkfreiheit entziehen. Eine grundrechtliche Zuordnung aber ist in einer grundrechtsgeprägten Medienordnung geboten.

1 Vgl. dazu Stern, Vorbemerkung zum 3. Abschnitt: Die Freiheit der Medien, Staatsrecht IV/1, 2006, S. 1507 ff. 2 s. Stern, Die Pressefreiheit und die Filmfreiheit, Staatsrecht IV/1, 2006, § 109; ders., Die Rundfunkfreiheit, Staatsrecht IV/1, 2006, § 110. 3 Zum Begriff und zur Entwicklung s. Bullinger, AfP 1996, 1; Hoffmann-Riem, AfP 1996, 9; Scherer, AfP 1996, 213; Mecklenburg, ZUM 1997, 525 ff.; Determann, Kommunikationsfreiheit im Internet, 1999, S. 45 ff.; Hesse, in: Schwarze/ders. (Hrsg.), Rundfunk und Fernsehen im digitalen Zeitalter, 2000, S. 45 ff. 4 Vgl. die Darstellung bei Koreng, Zensur im Internet – Der verfassungsrechtliche Schutz der digitalen Massenkommunikation, 2010, S. 86.

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II. Medienordnung, konvergente Medienangebote und Grundrechtsinterpretation – die maßgebliche Interessenlage Die Rundfunkgesetze und Rundfunkstaatsverträge insbesondere der Länder als normative Ordnung des Rundfunks stellen in erheblichem Maße die gesetzgeberische Umsetzung der Grundrechtsinterpretation des Bundesverfassungsgerichts dar.5 Das Gericht hat mit eben dieser sehr spezifischen Grundrechtsinterpretation6 in seiner Rechtsprechung die Entwicklung der Medienordnung und der Medienwirtschaft für Jahrzehnte geprägt. Bestand und Entwicklung des öffentlichrechtlichen Rundfunks sind ebenso wie die normative Ordnung eines dualen Rundfunksystems in hohem Maße Resultat der interpretatorischen Entfaltung der Rundfunkgewährleistung des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG als der an sich, wie Klaus Stern anmerkt, schmalen verfassungsrechtlichen Grundlage für den Rundfunk.7 Wenn nun für konvergente Medienangebote von Rundfunkveranstaltern und Pressunternehmen die Zuordnung zum Geltungsbereich der Rundfunkfreiheit reklamiert wird,8 so bedeutet dies stets auch den Geltungsanspruch der die grundrechtliche Freiheitsvermutung9 relativierenden grundrechtlichen Sonderordnung für den Rundfunk. Vor allem aber bedeutet dies den Zugriff des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auf diese Angebotsfelder, verbunden mit dessen Anspruch auf Bestand, Entwicklung und funktionsgerechte Finanzierung.10 Wenn andererseits die Presse selbst von der Gesetzgebung nicht in eine normative Ordnung wie die des Rundfunks eingebunden wurde, sich hier privatautonome Strukturen entfalten konnten, so ist dies wiederum Konsequenz einer Grundrechtsinterpretation, die für die Freiheit der Presse sich in den Bahnen allgemeiner Grundrechtsdogmatik bewegt,11 grundrechtliche Freiheit nicht durch das Konzept einer „dienenden“ Freiheit mediatisiert.12 Eine mediale Sonderord5 Vgl. Degenhart, Realitätsprägung durch Verfassungsrecht – Verfassungsinterpretation und reale Veränderungen, in: Realitätsprägung durch Verfassungsrecht, Kolloquium aus Anlass des 80. Geburtstags von Peter Lerche, S. 89 (97 f.). 6 Vgl. zum Konzept der „dienenden“ Freiheit – vom BVerfG in stRSpr. vertreten, vgl. z. B. BVerfGE 57, 295 (320); 74, 297 (324); 83, 238 (295); 87, 181 (197 f.); Stern, Die Rundfunkfreiheit, Staatsrecht IV/1, 2006, § 110, III.2., IV.3. 7 Vgl. Stern, Die Rundfunkfreiheit, Staatsrecht IV/1, 2006, § 110, I.3. 8 So pointiert Papier, Rechtsgutachten zur Abgrenzung der Rundfunk- und Pressefreiheit, zur Auslegung des Begriffs der „Presseähnlichkeit“ und Anwendung des Verbots nicht sendungsbezogener presseähnlicher Angebote gemäß § 11d Abs. 2 Nr. 3 Hs. 3 RStV, 2010. 9 Vgl. Möllers, AfP 2008, 241. 10 Vgl. Holznagel, MMR 2011, 1 f. 11 s. Degenhart, in: BonnK, Art. 5 I und II, 2006, Rn. 345 ff. 12 Missverständlich insoweit Papier, Rechtsgutachten zur Abgrenzung der Rundfunkund Pressefreiheit, zur Auslegung des Begriffs der „Presseähnlichkeit“ und Anwendung des Verbots nicht sendungsbezogener presseähnlicher Angebote gemäß § 11d Abs. 2 Nr. 3 Hs. 3 RStV, 2010, S. 10: „Die Rundfunkfreiheit ist wie die Pressefreiheit als ,die-

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nung wie für den Rundfunk wurde für die Presse nicht etabliert; sie agiert in den Bahnen der allgemeinen Rechtsordnung, einer allgemeinen Rechtsordnung jedoch in grundrechtsbezogener Ausgestaltung. Die Erkenntnis der wertsetzenden Funktion der Grundrechte für die Gesamtrechtsordnung13 hat in besonderer Weise für die Äußerungsfreiheiten der Meinungs- und Pressefreiheit, Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 GG14 Geltung erlangt und die Entwicklung vor allem des Äußerungsrechts und des Wettbewerbsrechts der Presse nachhaltig beeinflusst,15 durch grundrechtsbezogene Modifizierung etwa des Deliktsrechts des BGB ebenso wie des Lauterkeitsrechts, den Schutz des Redaktionsgeheimnisses wie weiterer Rahmenbedingungen der freien Betätigung der Presse. Wird also für konvergente Medienangebote die Zugehörigkeit zum grundrechtlichen Schutzbereich der Pressefreiheit reklamiert, so impliziert dies die Geltung auch einer privatwirtschaftlichen und wettbewerblichen Ordnung, eines Wettbewerbs, der nicht durch gebührenfinanzierte Angebote und die Teilnahme öffentlich-rechtlicher, mit verfassungsrechtlichen Funktionsgarantien ausgestatteter Teilnehmer beeinflusst wird. III. Presse und Rundfunk in grundrechtsgeprägter Ordnung 1. Grundrechtliche Sonderordnung für den Rundfunk

In ihrer negatorischen Dimension sind die Aktivitäten von Presse und Rundfunk in vergleichbarer grundrechtlicher Absicherung zu sehen, sind ihre Rechtsverhältnisse gleichermaßen grundrechtlich geprägt. Demgegenüber haben spezifische Ansätze in der Grundrechtsinterpretation, hat die Entfaltung des Grundrechts der Rundfunkfreiheit durch die Verfassungsrechtsprechung für den Rundfunk zur Konstituierung einer deutlich regulativen Sonderordnung geführt. Der Einordnung der Rundfunkfreiheit als „dienend“ und der darin zum Ausdruck kommenden funktionalen Grundrechtssicht korrespondieren spezifische weitreichende Gestaltungsbefugnisse des Gesetzgebers.16 Sie wurden stets herangezonende Freiheit‘ zu verstehen“; hierfür wird verwiesen auf Degenhart, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 5, Rdn 624; tatsächlich wird dort die Konzeption der dienenden Freiheit bereits für den Rundfunk in Frage gestellt, für die Presse aber in keiner Weise erwogen. 13 Grundlegend BVerfGE 7, 198, vgl. zur Bedeutung des Urteils Sachs, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 69 I 3, S. 899 ff., S. 903; Degenhart, Grundrechtsausgestaltung, in: Merten/Papier, HdBGR III, 2009, § 60, Rn. 4. 14 Vgl. zum Verhältnis von Meinungs- und Pressefreiheit Degenhart, in: BonnK, Art. 5 I und II, 2006, Rn. 31 ff. 15 s. hierzu Degenhart, Medienfreiheit in Wirtschaft und Wettbewerb, in: Festschrift Lukes, 1989, S. 289 ff. 16 s. dazu Degenhart, in: BonnK, Art. 5 I und II, 2006, Rn. 623 ff., 638 ff. und – zur Kritik – Rn. 643 ff.; grundsätzliche Kritik der Ausgestaltungsrechtsprechung bei Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 54 ff.

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gen, um eine Ausgestaltung der Rundfunkordnung zu legitimieren, die auf dem von der Verfassungsrechtsprechung vorgefundenen Organisationsmodell17 des „Anstaltsfunks“, der Veranstaltung also von Rundfunk – Hörfunk und Fernsehen18 – durch eigens hierzu geschaffene, in einer Monopolstellung befindliche juristische Personen des öffentlichen Rechts beruht.19 Nach diesem Organisationsmodell der öffentlich-rechtlichen, gleichwohl dem Anspruch nach staatsfernen, gebührenfinanzierten Anstalt soll Vielfalt im Rundfunk als Voraussetzung freier Meinungsbildung durch die gesamtgesellschaftliche Pluralität in der Beteiligung am Rundfunk hergestellt werden, insbesondere durch die Repräsentanz der gesellschaftlich relevanten Gruppen.20 An diesem Ordnungsmodell haben sich Rechtsprechung und Gesetzgebung in der Folge orientiert, bis hin zur Regulierung des privaten Rundfunks durch Medienanstalten, die nach dem Vorbild der Rundfunkanstalten organisiert wurden. Die Notwendigkeit einer Sonderordnung für den Rundfunk wurde daraus begründet, dass ihm unter den Medien wegen seiner Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft besondere Bedeutung zukommt.21 Diese in erster Linie auf das Fernsehen zugeschnittene Kennzeichnung des Mediums durch das Bundesverfassungsgericht und die hieraus abgeleitete Forderung, vorherrschende Meinungsmacht im Rundfunk zu verhindern,22 durchziehen dessen gesamte Rechtsprechung zur Rundfunkfreiheit. „Vielfalt“ als leitmotivisch gepflegte Konstante in der Rundfunkrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts23 ist hiernach vom Gesetzgeber im Rahmen einer „positiven“ Ordnung zu sichern. 2. Pressefreiheit nach Maßgabe der allgemeinen Grundrechtsordnung

Anders, als beim Rundfunk, wird die grundrechtliche Position der Presse dadurch geprägt, dass das Grundrecht der Pressefreiheit in der Tradition der klassisch-liberalen Grundrechte gesehen wird.24 Die Pressefreiheit verbindet sich 17 Vgl. Bullinger, Medien, Pressefreiheit, Rundfunkverfassung, in: Festschrift BVerfG, Bd. II, 2001, S. 195. 18 Unter Rundfunk i. S. v. Art. 5 GG wurden stets Hörfunk und Fernsehen gefasst, vgl. Herrmann/Lausen, Rundfunkrecht, 2. Aufl., 2004, § 2, Rn. 11 ff. 19 Vgl. die Darstellung dieses Ordnungsmodells durch BVerfGE 12, 205 (261). 20 Vgl. BVerfGE 57, 295 (325); 73, 118 (153); BVerwGE 60, 182 (197). 21 BVerfGE 90, 60 (87); 119, 181 (215). 22 BVerfGE 73, 118 (160); 83, 238 (326); 97, 228 (258); 114, 371 (393). 23 Vgl. BVerfGE 57, 295 (319 f.); 73, 118 (152 ff.); 83, 238 (205); 87, 181 (197 f.); 90, 60 (88); BVerfG, U. v. 11.09.2007, Rn. 118; zur Entwicklung der Rechtsprechung s. Müller, Konzentrationskontrolle zur Sicherung der Informationsfreiheit, 2004, S. 137 ff.; Bullinger, Medien, Pressefreiheit, Rundfunkverfassung, in: Festschrift BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 192 (194 ff.). 24 Zu den grundlegend unterschiedlichen medienrechtlichen Leitbildern der Rundfunk- und der Pressefreiheit s. im Hinblick auf Internet-Angebote Möllers, AfP 2008, 241.

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hierin mit dem Menschenrecht der freien Meinungsäußerung zur Freiheit des geistigen Ausdrucks.25 Sie dient der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung.26 Für die Presse gilt nach wie vor die grundsätzliche Aussage des Bundesverfassungsgerichts zu Presseunternehmen, die „sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden“ müssen und die „nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen und in privatrechtlichen Organisationsformen“ arbeiten und miteinander „in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz“ stehen, „in die die öffentliche Gewalt grundsätzlich nicht eingreifen darf.“ 27 In grundsätzlicher Unterscheidung zum Rundfunk werden damit für die Presse freier Zugang und privatwirtschaftliche Struktur anerkannt, das Erfordernis einer besonderen positiven Ordnung besteht für die Presse nicht – wie ja auch das singuläre Konzept der „dienenden“ Freiheit sich auf die Rundfunkfreiheit des Grundgesetzes beschränkt,28 auch in der EMRK keine Entsprechung findet.29 Besteht also die Rundfunkfreiheit nach Maßgabe einer vom Gesetzgeber auszugestaltenden positiven Ordnung als einer Sonderordnung für das Medium Rundfunk, so ist die Freiheit der Presse im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung gewährleistet. Sie besteht insbesondere im Rahmen der allgemeinen Grundrechtsordnung. Und auch dort, wo die Presse in ihrer „institutionellen Eigenständigkeit“ als grundrechtliches Schutzobjekt des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG genannt wird,30 geht es um die Erweiterung des tatbestandlichen Schutzbereichs der Pressefreiheit auf die gesamte Pressetätigkeit und die wirtschaftlichen und publizistischen Grundlagen der Presse und demgemäß um die Stärkung des subjektiven Elements. Auch hieraus folgt also keine grundrechtliche Sonderordnung für die Presse, ebenso wenig wie aus der Zuweisung einer „öffentlichen Aufgabe“.31 Es handelt sich hierbei um eine Funktionsbeschreibung,32 aus der auch keine funktionale Grundrechtssicht entsprechend der Deutung der Rundfunkfreiheit als „dienender Freiheit“ hergeleitet werden kann. 3. Grundrechtsgeprägtes Verhältnis von Presse und Rundfunk

Für das Verhältnis von Rundfunk und Presse hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht der Rundfunkfreiheit stets das Anliegen der Verhinderung der Entstehung multimedialer Meinungsmacht in den Vorder-

25

Vgl. hierzu grundsätzlich etwa Scheuner, VVDStRL 22 (1965), 1 (2 ff., 7). BVerfGE 101, 361 (389). 27 BVerfGE 20, 162 (174 f.). 28 Vgl. Möllers, AfP 2008, 241 (241 f.). 29 Vgl. Degenhart, in: BonnK, Art. 5 I und II, 2006, Rn. 20 a, 651 ff. 30 BVerfGE 66, 116 (133). 31 s. zu diesem missverständlichen Begriff Stern, Die Pressefreiheit und die Filmfreiheit, Staatsrecht IV/1, 2006, § 109 III.3.d. 32 Vgl. BVerfGE 20, 162 (174). 26

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grund gestellt,33 die Notwendigkeit wirksamer Vorkehrungen dagegen, dass sich Meinungsmacht im Rundfunk mit Meinungsmacht in der Presse verbindet.34 Das Instrumentarium der Fusionskontrolle im Verhältnis von Rundfunk und Presse, mit dem die Entstehung von grundrechtsgefährdender, multimedialer Meinungsmacht durch Doppelmonopole35 verhindert werden soll, ist nichts anderes als die Umsetzung der dahingehenden Forderungen des Bundesverfassungsgerichts.36 Am Beispiel einer medienübergreifenden Fusionskontrolle unter Berücksichtigung der Stellung von Rundfunkunternehmen auf verwandten Märkten wurde deutlich: Auch das Verhältnis zwischen den Leitmedien Presse und Rundfunk, hinter denen das dritte in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 ausdrücklich hervorgehobene Massenmedium, der Film,37 an Meinungsrelevanz deutlich zurückgetreten ist, wird so von den Grundrechten her erfasst, auch hierin auf nur schmaler verfassungspositiver Basis, so dass es auch hier der Grundrechtsinterpretation zukam, die maßgeblichen Leitlinien aufzuzeigen, den verfassungsrechtlichen Rahmen zu ziehen. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang kein Verfassungsgebot publizistischer Gewaltenteilung38 aufgestellt hat, so hat es doch durch seine Rechtsprechung zu den grundrechtlichen Anforderungen an die Organisation des Rundfunks nicht nur entscheidend dazu beigetragen, dass sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu seinem aktuellen Bestand entwickeln konnte. Es hat auch die Entstehung eines privatwirtschaftlichen Widerparts wohl nicht unerheblich verzögert,39 vor allem aber auch maßgeblich dazu beigetragen, dass Presseverlage sich hier nicht nachhaltig etablieren konnten. Eine Beteiligung von Presseverlagen am Rundfunk steht, wie dargelegt, unter dem Vorbehalt, dass sich Meinungsmacht in der Presse nicht mit Meinungsmacht im Rundfunk vielfaltsverengend verbinden darf. Im Übrigen bleiben jedoch die grundrechtlichen Sphären getrennt, bleibt es bei den selbständigen grundrechtlichen Ordnungen der Medien Rundfunk und Presse, einer grundrechtlichen Sonderordnung für den Rundfunk. Wollen Presseunternehmen Rundfunk veranstalten, so geschieht dies nach den Regularien für Rundfunk. Beliebig Rundfunk zu veranstalten, sind sie schon deshalb gehindert, weil die Frage einer originären Rundfunkveranstalterfreiheit auf der Grundlage des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG in der Rechtsprechung 33

Vgl. z. B. BVerfGE 73, 118, 177; BayVerfGH, AfP 1987, 394, 395. BVerfGE 73, 118 (145). 35 Vgl. BVerfGE 73, 118 (173). 36 Vgl. dazu etwa Trute, in: Hahn/Vesting, Rundfunkrecht, 2. Aufl., 2008, § 26 RfStV, Rn. 37, 49a. 37 Vgl. Stern, Vorbemerkung zum 3. Abschnitt: Die Freiheit der Medien, Staatsrecht IV/1, 2006, 2.b), S. 1513 f. 38 Dafür Kübler, Medienverflechtung, 1982; a. M. Lerche, Presse und privater Rundfunk, 1982, S. 42. 39 So insbesondere durch BVerfGE 57, 295. 34

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nach wie vor nicht explizit entschieden wurde.40 Doch gilt der Grundrechtsbeachtungsanspruch, wie ihn das Bundesverfassungsgericht Bewerbern um die Zulassung zur Veranstaltung von Rundfunk zuerkennt,41 unverkürzt auch für Presseunternehmen. Sie unterliegen dann jedoch rundfunkmäßiger Regulierung. Wenn umgekehrt Rundfunkveranstalter in den Bereich der Print-Medien ausgreifen wollen, so gilt für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten: sie sind Träger des Grundrechts der Rundfunkfreiheit, nicht aber weiterer Grundrechte. Sie sind insbesondere nicht Träger des Grundrechts der Pressefreiheit – der Gesetzgeber hat sie durch legislativen Organisationsakt für die Sicherung der Rundfunkfreiheit ins Leben gerufen. Aktivitäten im Bereich der Print-Medien sind auf der Grundlage von Annexbefugnissen42 für programmbezogene Druckwerke eröffnet, während eine vom Programmbezug „losgelöste pressemäßige Berichterstattung oder allgemein unterhaltende Beiträge“ den Rundfunkanstalten nicht gestattet sind. Sie zählen nicht zu deren verfassungsrechtlich begründetem, gesetzlich näher umschriebenem Aufgabenkreis.43 Anders ist dies bei privaten Veranstaltern als originären und nicht erst durch gesetzgeberischen Organisationsakt geschaffenen Grundrechtsträgern. IV. Presse- und Rundfunkfreiheit im Zuge der Konvergenz 1. Konvergenz als Grundrechtsfrage

a) Begriff und Entwicklung So eindeutig diese Trennungslinie zwischen den grundrechtlichen Ordnungen und Presse von Anfang an gezogen wurde, so undeutlich beginnt sie in der Sphäre der konvergenten Medien zu werden, wie dies für die Online-Angebote von Rundfunkveranstaltern und Presseverlagen deutlich wird. Der Begriff der Konvergenz44 ist vielschichtig und vieldeutig,45 mitunter auch undeutlich,46 und meint zunächst die Konvergenz, also das Zusammenwachsen der Übertragungswege, der Übertragungstechniken, der Endgeräte. Digitale Übertragungstechnik, Verschränkung der Transportwege und Multifunktionalität der Endgeräte beim Empfänger bezeichnen hier wesentliche Entwicklungsschritte.47 Konvergenz be40 Vgl. Degenhart, Rundfunkfreiheit, in: Merten/Papier, HdBGR V, 2011, § 104, Rn. 16. 41 BVerfGE 97, 298 (309 ff.); näher Degenhart, ZUM 2003, 913 ff. 42 Vgl. Stern, Die Rundfunkfreiheit, Staatsrecht IV/1, 2006, § 110, III.1.e). 43 BVerfGE 83, 238 (313 f.). 44 Zum Begriff und zur Entwicklung s. die Nw. oben Fn. 3. 45 Vgl. hierzu Koreng, Zensur im Internet – Der verfassungsrechtliche Schutz der digitalen Massenkommunikation, 2010, S. 43 ff. 46 Vgl. etwa Mückl, JZ 2007, 1077 (1078) – Konturenlosigkeit. 47 Vgl. Bullinger/Mestmäcker, Multimediadienste, 1996, S. 19.

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zeichnete also zunächst einen kommunikationstechnologischen Prozess. Er wirkt sich notwendig auf Kommunikationsinhalte aus, wenn die Grenzen zwischen Individual- und Massenkommunikation gleichermaßen fließend werden.48 Dem Internet – genauer: dem World Wide Web, das in der Regel gemeint ist, wenn man vom Internet spricht49 – kommt hierbei eine Schlüsselfunktion zu.50 Es ermöglicht einerseits, individuelle Kommunikationsinhalte an die Allgemeinheit, andererseits massenkommunikative Inhalte mit Tendenz zur Individualisierung zu verbreiten. Es erfolgt eine Individualisierung der Angebote überindividueller Kommunikation und eine graduelle Entindividualisierung der Individualkommunikation.51 Massenmediale Angebote werden auf den Rezipienten hin spezifiziert, und persönliches Informationsverhalten wird öffentlich. b) Die nähere grundrechtliche Fragestellung In verfassungsrechtlicher Hinsicht wirft dies zum einen die Frage auf, inwieweit die Grundrechte individueller Kommunikation, insbesondere die allgemeine Freiheit der Meinungsäußerung in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ohne die institutionellen Bezüge der Kommunikationsfreiheiten des Satz 2 das Kommunikationsverhalten im World Wide Web hinreichend zu erfassen vermögen. Wenn andererseits die Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG in ihrem Grundrechtstatbestand um die institutionell-organisatorischen Rahmenbedingungen52 der Presse- und Rundfunkberichterstattung erweitert werden,53 so mag diese Erweiterung des grundrechtlichen Schutzbereichs für die Akteure des World Wide Web dann erwogen werden, wenn dessen Informationsangebote von vergleichbarer Bedeutung für die Freiheit der privaten und öffentlichen Meinungsbildung als dem Schutzgut der Kommunikationsfreiheiten des Art. 5 Abs 1 GG54 sind, wie die klassischen Medien Presse und Rundfunk. Die Vielschichtigkeit der Informationsangebote in diesem Bereich gestattet es jedoch nicht, sie generell mit jenen weiten Schutzbereichen zu umhegen, die diesen klassischen meinungsbildenden Medien um ihrer Funktion für die freie Mei48 Vgl. dazu etwa Koreng, Zensur im Internet – Der verfassungsrechtliche Schutz der digitalen Massenkommunikation, 2010, S. 102 f.; Gersdorf, Legitimation und Legitimierung von Online-Angeboten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2009, S. 14 f. 49 Koreng, Zensur im Internet – Der verfassungsrechtliche Schutz der digitalen Massenkommunikation, 2010, S. 43. 50 Vgl. Bullinger/Mestmäcker, Multimediadienste, 1997, S. 20 ff. 51 Vgl. Bullinger/Mestmäcker, Multimediadienste, 1997, a. a. O., S. 21 ff.; Lent, Rundfunk-, Medien-, Teledienste, 2001, S. 36 ff. 52 s. hierzu Degenhart, in: BonnK, Art. 5 I und II, 2006, Rn. 55. 53 Vgl. für den Schutzbereich der Pressefreiheit Stern, Die Pressefreiheit und die Filmfreiheit, Staatsrecht IV/1, 2006, § 109 II; für die Rundfunkfreiheit Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 5, Rn. 39; BVerfGE 107, 299 (329). 54 Vgl. Degenhart, in: BonnK, Art. 5 I und II, 2006, Rn. 20 ff., 100 ff.

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nungsbildung und ihrer in diesem Sinn „öffentlichen Aufgabe“ willen zugeordnet werden. Und um jene grundrechtliche Sonderordnung, in die der Rundfunk auf Grund seiner, in der Sicht des Bundesverfassungsgerichts seine besondere Bedeutung ausmachenden „Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft“ eingebunden wird,55 auch nur partiell auf Internet-Angebote zu erstrecken, bedürfte es erst des Nachweises der Vergleichbarkeit nach „Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft“. Und auch dann erschiene rundfunkmäßige Regulierung nur bedingt realisierbar. Wenn Online-Dienste in den Geltungsbereich der grundrechtlichen Sonderordnung für den Rundfunk einbezogen werden,56 so geschieht dies in erster Linie in der Intention, die Aktivitäten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in diesem Bereich zu legitimieren. Die Entwicklung der Medienkonvergenz führt also für den Bereich des World Wide Web zur Frage nicht nur nach der Erstreckung der Schutzbereiche der Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG hierauf, sondern auch zur Frage der Abgrenzung der dort gleichermaßen gewährleisteten, gleichwohl unterschiedliche Ordnungsmodelle tragenden Grundrechte der Rundfunk- und der Pressefreiheit gegeneinander. 2. Rundfunk- und Pressebegriff

a) Elemente des verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriffs Soweit die Entwicklung zur Konvergenz sich vornehmlich als Prozess der Kommunikationstechnik vollzieht und dazu führt, dass Informationsangebote mit jener rundfunktypischen Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft, wie sie den verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriff kennzeichnen, kann sie von der bestehenden grundrechtlichen Ordnung des Rundfunks erfasst werden, fasst man diese technologieneutral. Erstes – technisches – Kriterium für die Annahme von Rundfunk ist das der rundfunktechnischen Verbreitungsweise.57 In der Formulierung „Berichterstattung durch den Rundfunk“ kommt dies zum Ausdruck. Das Kriterium der rundfunktechnischen Übertragung kann dabei nicht auf bestimmte vorgefundene Techniken beschränkt werden. Der Rundfunkbegriff ist hierin entwicklungsoffen. Insbesondere aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Bestands- und Entwicklungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen 55 Die Formel von der besonderen Suggestivkraft findet sich z. B. bei BVerfGE 90, 60 (87); ähnlich BVerfGE 31, 314 (325): eines der mächtigsten Kommunikationsmittel und Massenmedien; BVerfGE 97, 228 (257) zum „Leitmedium Fernsehen“; Lent, Rundfunk-, Medien-, Teledienste, 2001, bes. S. 75 ff. 56 Vgl. zur Diskussion um die Einordung von Online-Diensten Hoffmann-Riem, Regulierung der dualen Rundfunkordnung, 2000, S. 229 ff.; Jarass, Online-Dienste und Funktionsbereich des Zweiten Deutschen Fernsehens, 1997, S. 12 ff., 21 ff.; Degenhart, Online-Angebote öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, 1998, S. 55 ff. sowie ders., Der Funktionsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der „digitalen Welt“, 2001, S. 56 ff., 62 ff. 57 So auch Bethge, in: Sachs, GG, 5. Aufl., 2009, Art. 5, Rn. 90a.

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Rundfunk kann ein derartiger Grundsatz der Technologieneutralität abgeleitet werden. Sie bedeutet: der Rundfunk ist nicht auf einen bestimmten Entwicklungsstand der Telekommunikationstechnik festgeschrieben.58 Das Programmangebot muss auch für neue Inhalte, Formate und Genres sowie für neue Verbreitungsformen offen bleiben. Rundfunk kann also über neue Verbreitungswege in neuen Formen verbreitet werden, doch ist nicht alles, was auf diese Weise verbreitet wird, Rundfunk im verfassungsrechtlichen Sinn, fällt nicht alles unter das Grundrecht der Rundfunkfreiheit und wird vom Geltungsanspruch der grundrechtlichen Sonderordnung des Rundfunks erfasst. Um Rundfunk handelt es sich jedenfalls, wenn Rundfunk, wenn Rundfunkprogramme unverändert über das Internet verbreitet werden.59 Die bloße Erweiterung der technischen Plattform60 ändert also nichts an der Rundfunkeigenschaft – was andererseits, wie dargelegt, nicht bedeutet, dass Online-Dienste generell Rundfunk sind. Auch für allein über das Internet ausgestrahlte Programme ist von Rundfunk i. S. v. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG auszugehen, soweit sie im Übrigen die Kriterien des verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriffs im Hinblick auf Aktualität, Suggestivkraft und Breitenwirkung erfüllen, insbesondere also bei Video- und Audio-Stream-Programmen. Der verfassungsrechtliche, der Grundrechtsgewährleistung des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zugrundeliegende Rundfunkbegriff ist des Weiteren gekennzeichnet durch das inhaltliche Kriterium der Darbietung61 und durch das massenkommunikative Element der Allgemeinbestimmung.62 Aus dem Zusammenwirken dieser Elemente resultiert die rundfunkspezifische Meinungsmacht, die die Rechtsprechung zur Entwicklung der grundrechtlichen Sonderordnung für den Rundfunk und zur Mediatisierung des Grundrechts durch das Konstrukt einer dienenden Freiheit führte. In vergleichbarer Weise sind diese Elemente zu fordern, sollen Online-Dienste im Internet unter die Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG in ihrer objektiven Ausprägung als einer dienenden Freiheit fallen.63 Entscheidend muss daher sein, inwieweit sich individualisierte Informationsangebote in den grundrechtlich relevanten Punkten vom herkömmlichen Rundfunk unterscheiden: in den Inhalten der Sendungen und der Beteiligung am Kommunikationsprozess, der Stellung des Rezi-

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BVerfGE 74, 297 (350 f.). Vgl. auch Kube, Neue Medien – Internet, in: Isensee/Kirchhof, HdBStR IV, 3. Aufl., 2006, § 91, Rn. 15. 60 Hoffmann-Riem, Regulierung der dualen Rundfunkordnung, 2000, S. 237 ff. 61 Vgl. hierzu Koreng, Zensur im Internet – Der verfassungsrechtliche Schutz der digitalen Massenkommunikation, 2010, S. 77. 62 Lerche, Rundfunkmonopol – zur Zulassung privater Fernsehveranstaltungen, 1970, S. 25. 63 Vgl. Bullinger, Medien, Pressefreiheit, Rundfunkfreiheit, in: Festschrift 50 Jahre BVerfG II, 2001, S. 193 (203); Kube, Neue Medien – Internet, in: Isensee/Kirchhof, HdBStR IV, 3. Aufl., 2006, § 91, Rn. 13. 59

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pienten im Kommunikationsvorgang. Unter allen diesen Aspekten unterscheiden sich die neuen, nicht-linearen Dienste grundsätzlich vom Rundfunk.64 Klaus Stern ist mithin darin beizutreten, dass sich eine pauschale Einordnung des Internet verbietet, da es keine Angebotsform ist, sondern ein Übertragungsweg65 und da über das Internet sowohl öffentlich als auch privat kommuniziert wird. Dies gilt aber auch für das World Wide Web als jener Anwendungsform des Internet, die konvergente Entwicklungen im Verhältnis von Rundfunk und Presse ermöglicht.66 Auch wenn die im World Wide Web verbreiteten Inhalte elektronisch verbreitet werden, so ist doch ihre Allgemeinzugänglichkeit und Allgemeinbestimmung unterschiedlich ausgestaltet, sind vor allem die hier verbreiteten Darbietungen zu unterschiedlich, um unterschiedslos unter die „dienende“ Rundfunkfreiheit gefasst zu werden. b) Formaler Pressebegriff Im Vergleich zum verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriff erweist sich der dem Grundrecht der Pressefreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 zugrundeliegende Pressebegriff67 als deutlich formaler68 und von geringerer Komplexität. Mit dem Begriff der Presse als Bezugspunkt der Grundrechtsgewährleistung verbindet sich keine vergleichbare grundrechtliche Sonderordnung. Es bedarf daher keiner eingrenzenden Kriterien wie die der rundfunkmäßigen Suggestivkrafft und Aktualität, aus denen sich die Sonderordnung für den Rundfunk rechtfertigt. Presse sind alle zur Verbreitung bestimmten und geeigneten Druckwerke, die in stofflicher Verkörperung verbreitet werden.69 Im Unterschied hierzu ist Rundfunk gekennzeichnet durch die Verbreitung über eine Distanz auf elektronischem Wege.70 Nach diesem Kriterium werden Formen der elektronischen Presse grundsätzlich nicht dem Pressebegriff des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG zugeordnet.71 64 Hierzu eingehend Koreng, Zensur im Internet – Der verfassungsrechtliche Schutz der digitalen Massenkommunikation, 2010, S. 77; s. insbesondere zur Frage der Breitenwirkung BGH, U. v. 22.02.2011 – VI ZR 114/09 –, Rn. 20 – iuris –. 65 Stern, Die Rundfunkfreiheit, Staatsrecht IV/1, 2006, § 110 II.3.g), S. 1673. 66 Vgl. Koreng, Zensur im Internet – Der verfassungsrechtliche Schutz der digitalen Massenkommunikation, 2010, S. 86 f. 67 Zur Entwicklung des Pressebegriffs s. eingehend Rath-Glawatz, Der Rechtsbegriff „Presse“ – von den Anfängen bis ins digitale Zeitalter, in: Festschrift Samwer, 2008, S.163 ff. 68 Vgl. auch Bethge, in: Sachs, GG, 5. Aufl., 2009, Art. 5, Rn. 68; Rath-Glawatz, a. a. O., S. 175 f. 69 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 5, Rn. 25; Degenhart, in: BonnK, Art. 5 I und II, 2006, Rn. 3; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG I, 2. Aufl., 2004, Art. 5, Rn. 89. 70 Vgl. Stern, Die Rundfunkfreiheit, Staatsrecht IV/1, 2006, § 110, II.3.d); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 5, Rn. 25. 71 Vgl. Stern, Die Rundfunkfreiheit, Staatsrecht IV/1, 2006, § 110 II.3.g), S. 1673 ff.; Holznagel, MMR 2011, 1.

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Im Fall des elektronischen Presse-Surrogats,72 der Alternativverbreitung von Print-Medien, wenn also die Online-Übermittlung die Zustellung ersetzt, Presseverlage die Print-Ausgaben ihrer Erzeugnisse unverändert ins Internet stellen, von der Maßgeblichkeit der Pressefreiheit auszugehen, erscheint hierzu nur auf den ersten Blick widersprüchlich.73 Denn wenn andererseits der Rundfunkbegriff als entwicklungsoffen zu sehen ist, so erscheint es unabweisbar, auch der Presse die Inanspruchnahme neuer kommunikationstechnischer Entwicklungen nicht auf Dauer zu versagen. Jedenfalls dann also, wenn ein Presseerzeugnis als Print-Produkt vorliegt und gleichzeitig online gestellt wird, ist von Presse i. S. d. Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auszugehen.74 Für Inhalte, die ausschließlich online verbreitet werden, wird dies demgegenüber überwiegend verneint.75 Doch ist auch hier zu erwägen, ob es auf lange Sicht einen Unterschied machen kann, ob die Verkörperung der Inhalte als Merkmal des Pressebegriffs in der Verlagsdruckerei oder am Drucker des Rezipienten erfolgt.76 3. Internet-Freiheit?

Das Internet ist als solches kein Medium, sondern ein Übertragungsweg, eine kommunikationstechnische Infrastruktur.77 Neue Medien sind die neuen Nutzungsformen, die durch die Kommunikationstechnik ermöglicht werden. Schon deshalb erscheint eine allgemeine Internet-Freiheit als ein im Rahmen der Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG selbständig neben die Grundrechte der Pressefreiheit und der Rundfunkfreiheit tretendes Grundrecht78 nur schwer konturierbar. Grundrechtssystematische Bedenken mögen mit dem Verweis auf die im Schutzbereich der Persönlichkeitsrechte entwickelten neuen Grundrechte der informationellen Selbstbestimmung und des Schutzes des Vertrauens in die Integrität informationstechnischer Systeme relativiert werden79 – obschon der Vergleich nicht ohne weiteres tragfähig ist. Bei diesen in der Rechtsprechung konturierten Grundrechtspositionen handelt es sich um Ableitungen aus dem Persönlichkeitsrecht in Konkretisierung positiv vorgegebener Grundrechte. Ein Grundrecht der Internet-Freiheit müsste demgegenüber auf gleicher Abstraktionsebene neben die Grundrechte der Rundfunkfreiheit, der Pressefreiheit und der 72 Dazu Degenhart, in: BonnK, Art. 5 I und II, 2006, Rn. 377; dagegen Stern, a. a. O., S. 1675. 73 Möllers, AfP 2008, 241 (244). 74 Vgl. auch Rath-Glawatz, Der Rechtsbegriff „Presse“ – von den Anfängen bis ins digitale Zeitalter, in: Festschrift Samwer, 2008, S.163 (180 f.). 75 So Rath-Glawatz, a. a. O.; Degenhart, in: BonnK, Art. 5 I und II, 2006, Rn. 377; a. M. – für technologieneutralen Pressebegriff Fiedler, AfP 2011, H. 1. 76 So auch Fiedler, AfP, AfP 2011, H. 1. 77 Vgl. auch Möllers, AfP 2008, 241 (247): das Internet als Infrastruktur. 78 Dafür Mecklenburg. ZRP 1997, 525 ff. und jetzt Holznagel, MMR 2011, 5 ff. 79 So bei Holznagel, MMR 2001, 1 f.

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Freiheit des Films gestellt werden. Dem steht die Systematik des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG und dessen abschließende und erschöpfende Formulierung entgegen. Systematische Bedenken müssen nicht ausschlaggebend sein. Doch sind die einzelnen Nutzungsformen des World Wide Web zu unterschiedlich in den kommunikationsgrundrechtlich maßgeblichen Aspekten, um unter ein einheitliches, mit der Freiheit der Presse und des Films und der des Rundfunk auf gleicher Abstraktionsebene stehendes, eigenständiges Grundrecht gefasst zu werden. Die Basis eines derartigen neuen Mediengrundrechts wäre also unsicher, der Gewinn fraglich. Denn die kommunikationsgrundrechtlich entscheidenden Fragen müssten gleichwohl gelöst werden. Dies gilt bereits für die Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs. Wenn den klassischen Medien Rundfunk und Presse in ihrer institutionellen Eigenständigkeit80 bestimmte, privilegierende rechtliche Sicherungen etwa im Informantenschutz zuerkannt werden,81 so können die hierfür geltenden Grundsätze nicht unbesehen und undifferenziert auf die Kommunikation im World Wide Web übertragen werden, sondern allenfalls im Einzelfall nach Maßgabe journalistischer Relevanz. Vor allem aber ist mit der Formulierung eines Grundrechts der freien Kommunikation im Internet noch keine Aussage darüber getroffen, ob hierfür das rundfunkspezifische Ordnungsmodell oder das der Presse maßgeblich sein soll. V. Grundrechtliche Aspekte konvergenter Medien – Presse und Rundfunk im World Wide Web 1. Schutz der Internet-Kommunikation im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 GG

Den Freiheiten massenkommunikativer Vermittlung des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ein eigenständiges Grundrecht der Internetfreiheit an die Seite zu stellen, ist also nicht weiterführend, von grundrechtssystematischen Bedenken abgesehen. Die Freiheit der Kommunikation ist hier von den einzelnen Teilfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG aus zu erfassen. Kommt keine der Medienfreiheiten des Satz 2 zur Geltung, so ist auf die allgemeine Meinungsfreiheit des Satz 1 zurückzugreifen.82 Dass damit nicht von vornherein die institutionellen Sicherungen der Presse- und der Rundfunkfreiheit83 zur Geltung kommen, spricht nicht gegen diese grundrechtliche Zuordnung,84 da deren undifferenzierte Übertragung auf 80

Vgl. z. B. BVerfGE 36, 193 (204); 66, 116 (133). s. hierzu näher Starck, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG I, 6. Aufl., 2010, Art. 5, Rn. 75 ff.; Ladeur, in: Hamburger Kommentar Gesamtes Medienrecht, 2008, Rn. 4.21 ff. 82 Vgl. Möllers, AfP 2008, 241 (250); Degenhart, in: BonnK, Art. 5 I und II, 2006, Rn. 20; dagegen Koreng, Zensur im Internet – Der verfassungsrechtliche Schutz der digitalen Massenkommunikation, 2010, S. 91 ff. 83 Vorstehend IV.3. 84 So aber Koreng, a. a. O. 81

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die Kommunikation im World Wide Web auch verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt wäre. Geltung der Rundfunkfreiheit des Satz 2 setzt voraus, dass es sich um mediale Angebote handelt, die funktional in ihrer Bedeutung für die Meinungsbildung dem Rundfunk i. S. der Rundfunkgewährleistung entsprechen, Angebote also von rundfunkmäßiger Wirkkraft. Demgegenüber sind presseähnliche Angebote im Internet nicht Rundfunk i. S. d. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG; dies sind Angebote, die in ihrem Erscheinungsbild weitgehend der herkömmlichen Presse vergleichbar sind, also durch textlichen Schwerpunkt und im Weiteren durch Standbilder geprägt sind, im Gegensatz zum Rundfunk, wo die Notwendigkeit einer besonderen gesetzlichen Ordnung aus der Suggestivkraft, Aktualität und Breitenwirkung des bewegten Bildes abgeleitet wird.85 Dass das Angebot um internetspezifische Inhalte und Interaktionsmöglichkeiten ergänzt wird,86 schließt Presseähnlichkeit nicht aus.87 Presseähnlichkeit bedeutet allerdings nicht, dass Presse i. S. v. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG vorliegt, will man am grundsätzlichen Erfordernis der stofflichen Verkörperung festhalten und allenfalls im Fall der elektronischen Alternativverbreitung den Pressebegriff bejahen.88 Doch auch insoweit, als bei OnlineAusgaben von Print-Medien und bei deren Online-Portalen der Pressebegriff des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG nicht erfüllt sein sollte, können diese auf der Grundlage einer funktionalen Grundrechtssicht, wie sie die Auslegung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG maßgeblich bestimmt, der herkömmlichen Presse im Sinn dieser Grundrechtsnorm gleichzuordnen sein. Sie erfüllen vergleichbare Funktionen für die Freiheit der Meinungsbildung89 als übergreifendem Schutzzweck aller Kommunikationsfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG.90 Dies muss zur Folge haben, dass als Ordnungsmodell hier das der Pressefreiheit und nicht das des Rundfunks maßgeblich ist.91 85 BVerfGE 31, 314 (325); 90, 60 (87); 97, 228 (256); 103, 44 (74); 114, 371 (387); 119, 181 (215) – näher Lent, Rundfunk-, Medien-, Teledienste, 2001, S. 40 ff., 75 ff.; nach Papier, Rechtsgutachten zur Abgrenzung der Rundfunk- und Pressefreiheit zur Auslegung des Begriffs der „Presseähnlichkeit“ und Anwendung des Verbots nicht sendungsbezogener presseähnlicher Angebote gemäß § 11d Abs. 2 Nr. 3 Hs. 3 RStV, 2010, S. 14 f. soll es für den Rundfunkbegriff hierauf nicht entscheidend ankommen; dies ist aber letztlich nicht entscheidend, denn für die Frage, ob das Medium unter die Rundfunkfreiheit des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG in ihrer objektiven Ausprägung fällt, kommt es entscheidend hierauf an, vgl. Kube, Neue Medien – Internet, in: Isensee/Kirchhof HdBStR IV, 3. Aufl., 2006, § 91, Rn. 14. 86 Vgl. hierzu Koreng, Zensur im Internet – Der verfassungsrechtliche Schutz der digitalen Massenkommunikation, 2010, S. 86. 87 So aber Papier, Rechtsgutachten S. 32 mit dem problematischen Argument, dass andernfalls „die Presse durch Ausbreitung in rundfunkähnliche Bereiche die Entwicklung des öffentlichrechtlichen Rundfunks in diesem Bereich einschränken könnte“. 88 s. o. III.2.b). 89 Vgl. Rath-Glawatz, Der Rechtsbegriff „Presse“ – von den Anfängen bis ins digitale Zeitalter, in: Festschrift Samwer, 2008, S.163 (180 f.). 90 Degenhart, in: BonnK, Art. 5 I und II, 2006, Rn. 21 ff., 41 ff.

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2. Rundfunkanstalten und Presseunternehmen im Internet

a) Kein öffentlich-rechtlicher Grundversorgungsauftrag Dies führt zur Frage eines Funktionsauftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im World Wide Web. Telemedien im World Wide Web können aus verfassungsrechtlicher Sicht Rundfunk i. S. d. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG sein, müssen dies aber nicht. Doch auch soweit es sich um Rundfunk handeln kann, bedeutet dies nicht notwendig, dass der Funktionsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sich hierauf erstrecken muss. Die verfassungsrechtliche Sonderstellung des Programmrundfunks, wie sie das Bundesverfassungsgericht zunächst aus einer technisch wie wirtschaftlich begründeten, rundfunkrechtlichen „Sondersituation“92 und aus der besonderen „Suggestivkraft“ insbesondere des Fernsehens93 begründet hat, kann nicht unbesehen auf den Bereich der Telemedien mit ihrer ganz anders gelagerten wirtschaftlichen wie kommunikativen Ausgangssituation, ihrer unterschiedlichen, individualisierten Kommunikationsstruktur übertragen werden. Funktionsauftrag und Funktionsgarantie für den öffentlichrechtlichen Rundfunk werden vom Bundesverfassungsgericht entscheidend auf die Annahme gestützt, dass privater Rundfunk der Bedeutung des Rundfunks für freie Meinungsbildung nicht gerecht zu werden vermag,94 auf Grund vielfaltsverengender Zwänge privatwirtschaftlicher Medienangebote,95 für die öffentlich-rechtlicher Rundfunk ein notwendiges Gegengewicht96 herzustellen habe, um deren „Defizite“ auszugleichen.97 Die rundfunkrechtliche Sondersituation als Legitimation einer normativen Sonderordnung wurde so durch ein Prinzip struktureller Vielfalt abgelöst.98 Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sollen dergestalt als Garanten der Vielfalt auch in gegenständlicher Hinsicht wirken.99 Auf den Be91 So zutr. Rath-Glawatz, a. a. O.; ähnlich – unter Zugrundlegung eines weiteren Pressebegriffs – Möllers, AfP 2008, 241 ff.; vgl. auch BGH, U. v. 22.02.2011 – VI ZR 114/ 09 –, wo auf „Meinungs- und Medienfreiheit“ abgestellt wird, Rn. 12 – iuris –. 92 BVerfGE 12, 205 (260); 31, 314 (326); 57, 295 (322); 73, 118 (121 ff.); rückblickend verneint wird diese Sondersituation bei Herzog, Maunz/Dürig, Art. 5, Rn. 221 ff.; zur Entwicklung der RSpr. s. Degenhart, BonnK, Art. 5 I u. II, 2004, Rn. 629 ff. 93 BVerfGE 90, 60 (87); 119, 181 (215). 94 So zuletzt BVerfGE 119, 181 (215 f.). 95 s. BVerfGE 73, 118 (155 ff.). 96 So Eberle, ZUM 1995, 249 (256). 97 Vgl. BVerfGE 87, 181 (201); 90, 60 (90 f.), das vor allem in dieser Funktion die Rechtfertigung der Gebührenfinanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sieht. 98 Vgl. hierzu Kübler, Medien, Menschenrechte und Demokratie. Das Recht der Massenkommunikation, 2008, S. 287; Hoffmann-Riem, Regulierung der dualen Rundfunkordnung, 2000, S. 34 ff., 67 ff.; Eifert, ZUM 1999, 595 (596 ff.); vgl. auch Vesting, Prozedurales Rundfunkrecht, 1997, S. 236 ff.: Erhaltung von Strukturreichtum; Trute, in: VVDStRL 57 (1998), S. 216 (230 ff.); s. jetzt BVerfGE 114, 371 (387); 119, 181 (217). 99 Vgl. zur Sicherung des Pluralismus als raison d’être öffentlich-rechtlichen Rundfunks zutr. Kresse, ZUM 1995, 178 (181 f.).

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reich der „internetbasierten Meinungsbildung der Öffentlichkeit und des Einzelnen“ 100 kann diese Funktionsbegründung nicht übertragen werden, ohne nach den Gegebenheiten des Mediums zu differenzieren. Bereits die Annahme einer dem klassischen Programmrundfunk vergleichbaren Bedeutung des Internet für die öffentliche Meinungsbildung,101 erscheint angesichts der völlig unterschiedlichen Angebots- und Nutzungsstruktur nicht tragfähig. Doch selbst wenn man dieser Annahme beitreten wollte: es müsste dann der Nachweis erbracht werden, dass es auch hier des öffentlichrechtlichen Rundfunks zum Ausgleich von Vielfaltsdefiziten bedarf. Eben dieser Nachweis erscheint fraglich. Der Anspruch insbesondere des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dem Nutzer Orientierungshilfen im unüberschaubaren Internet zu bieten,102 um eben hieraus eine Notwendigkeit öffentlich-rechtlicher Informationsversorgung abzuleiten103 und einen öffentlich-rechtlichen Funktionsauftrag zu begründen,104 vermag nicht zu überzeugen, vergegenwärtigt man die Funktion öffentlich-rechtlicher Grundversorgung. War es zunächst eine rundfunkspezifische Mangellage an Informationsangeboten, die öffentlichrechtlichen Rundfunk notwendig machte, so soll nunmehr eine Überfülle an Angeboten und Möglichkeiten exakt zum gleichen Ergebnis führen. Wenn die spezifische Leistung des öffentlichrechtlichen Rundfunks darin zu sehen ist, die Vielfalt der Meinungen konzentriert zu präsentiere, so dass „der Bürger, dem nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, sie nicht selbst zusammensuchen (muss),“105 so liegt diesem Ansatz eine nicht unproblematische Grundrechtssicht gerade im Bereich des Art. 5 GG zugrunde.106 Er geht zudem an den Unterschieden zwischen Internetnutzung und klassischem Fernsehkonsum vorbei: der Rezipient ist hier durchaus in der Lage, die Vielfalt der Informationsangebote zu nutzen, ohne dass eine öffentlichrechtliche Rundfunkanstalt sie ihm „konzentriert“ – und dies bedeutet auch: vorgefiltert und vorgeprüft – präsentieren müsste. Denn auch dies darf nicht verkannt werden: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist, bei aller Betonung seiner Freiheit vom Staat, eben doch eine Veranstaltung, die vom staatlichen Gesetzgeber ins Leben gerufen und strukturiert wurde und die staatlicherseits finanziert wird. 100 Vgl. Papier, Rechtsgutachten zur Abgrenzung der Rundfunk- und Pressefreiheit, zur Auslegung des Begriffs der „Presseähnlichkeit“ und Anwendung des Verbots nicht sendungsbezogener presseähnlicher Angebote gemäß § 11d Abs. 2 Nr. 3 Hs. 3 RStV, 2010, S. 25. 101 Papier, a. a. O., S. 14 ff. 102 Vgl. Holznagel, Der spezifische Funktionsauftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens, 1999, S. 119 ff. 103 So etwa der Ansatz bei Holznagel, a. a. O.; ähnlich auch Trute, VVDStRL 57 (1998), 216 (230 ff.). 104 So insbesondere bei Holznagel, Der spezifische Funktionsauftrag des Zweiten Deutschen Fernsehens, 1999, S. 118 ff. 105 Papier, Rechtsgutachten, S. 15. 106 Vgl. Ladeur, in: www.telemedicus.info vom 11.08.2010.

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b) Gestörtes Gleichgewicht in der Konvergenz ? Diese systembedingte Staatsnähe der öffentlich-rechtlichen Anstalten, mit ihren wechselseitigen Nähebeziehungen zwischen Staat und Politik einerseits, öffentlich-rechtlichem Rundfunk andererseits, mochte noch hinnehmbar sein, solange zwischen öffentlich-rechtlichem Rundfunk und Presse ein Gleichgewicht bestand. Annäherndes Gleichgewicht bestand, solange sich die Anstalten im Rahmen ihrer Kernkompetenzen, der Veranstaltung von Hörfunk- und Fernsehprogrammen bewegten. Eine ungebremste, von der Garantie funktionsgerechter Finanzierung getragene Expansion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den Bereich der Online-Medien droht dieses Gleichgewicht nachhaltig zu stören. Der mit dem 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag durch § 11d RfStV für digitale Angebote unter dem Druck des Unionsrechts eingeführte Drei-Stufen-Test107 vermag offensichtlich expansiven Tendenzen des öffentlichrechtlichen Rundfunks in diesem Bereich nicht nachhaltig entgegenzuwirken; jedenfalls wurden die Telemedienangebote der ARD von den Aufsichtsgremien ausnahmslos gebilligt. Das System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks scheint hier in der Konvergenz der Medien eine Eigendynamik zu entwickeln, die, wenn sie sich ungehindert zu Lasten anderer Medien, insbesondere der Presse, entfaltet, nicht zu einem Mehr, sondern einem Weniger an Meinungsvielfalt und an Medienfreiheit führen wird.

107 s. hierzu Degenhart, Konvergenz der Medien und neue Informationsangebote öffentlich-rechtlicher Rundfunkveranstalter: Hilft der Public-Value-Test?, in: FWMR (Hrsg.), Konvergenz der Medien – Konvergenz des Rechts ?, 2009, S. 81 ff.

Der Schutz geistigen Eigentums durch Verfahren Ein Beitrag zur Auslegung des § 140b Abs. 7 PatG Von Otto Depenheuer I. Materielles Patentrecht und verfahrensrechtliche Absicherung Grundrechte sind elementar auf Verfahren angewiesen.1 Grundrechtsgewährleistungen ohne die Möglichkeit, sie effektiv wahrzunehmen und durchzusetzen, verfehlen ihren Sinn. Materielle Grundrechte bedürfen komplementärer Verfahrensregelungen, um ihr Freiheitspotential effektiv zur Entfaltung bringen zu können. Die Bedeutung der Grundrechte für eine ihnen angemessene verfahrensrechtliche Absicherung ist inzwischen allgemein erkannt. Niemand anderer als Klaus Stern hat den durchaus zögerlichen Weg von Rechtsprechung und Lehre souverän nachgezeichnet, 2 die verfahrensrechtliche Dimension der Grundrechte zu erkennen und sie grundrechtsdogmatisch zu bewältigen.3 Dazu besteht auch nach wie vor Anlaß, stößt man in der Rechtsordnung immer wieder auf Regelungskomplexe, in denen Grundrechte verfahrensrechtlich „allein gelassen“ werden, ein materielles Freiheitsrecht durch ein konträres Verfahrensrecht im Ergebnis ausgehöhlt wird und effektiv leerläuft. Ein solches Beispiel bietet das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes beim Schutz des geistigen Eigentums im Patentgesetz. II. Der Schutz des geistigen Eigentums im Patentgesetz 1. Das Regelungskonzept bei festgestellter Patentverletzung

Der Schutz von geistigem Eigentum ist bekanntlich – national wie international – von zentraler und stetig wachsender Bedeutung. Patente werden als geisti1 Seit BVerfGE 24, 367 (401) std. Rechtsprechung. Übersicht: Schmidt-Aßmann, Grundrechte als Organisations- und Verfahrensgarantien, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II/I, 2006, § 45, S. 995 f. 2 Vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, Allgemeine Lehren der Grundrechte, § 69 V, S. 953 ff. 3 Zum jüngsten Stand der Dogmatik vgl. Schmidt-Aßmann (Fn. 1), Rn. 5 ff., 35 ff. (S. 995 ff., 1007 ff.). Vgl. auch Denninger, Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung, in: Handbuch des Staatsrechts V, 2.Aufl., § 113, Rn. 5 ff.

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ges Eigentum verfassungsrechtlich von der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG geschützt,4 sachlich markieren sie das know-how eines Unternehmens, ökonomisch ermöglichen sie Vorteile im Wettbewerb und prägen eigentumsrechtlich den Wert eines Unternehmens mit. Vor diesem Hintergrund gewinnt die – private wie staatliche – Bekämpfung von Patentrechtsverletzungen immer mehr an Bedeutung. Entsprechend sieht das Patentgesetz (PatG) bei rechtskräftig festgestellter Patentrechtsverletzung Schadensersatzansprüche und diverse Auskunftsansprüche gegen den Verletzer vor (§§ 139 ff. PatG), u. a. seine Pflicht, Auskunft zu geben auch über die Preise der Produkte, die er unter Verletzung fremden geistigen Eigentums erzielt hat (§ 140b Abs. 3 Nr. 2 PatG). Diese Pflicht, „Angaben zu machen über [. . .] die Menge der hergestellten, ausgelieferten, erhaltenen oder bestellten Erzeugnisse sowie über die Preise, die für die betreffenden Erzeugnisse oder Dienstleistungen bezahlt wurden“, ist erst durch Novelle zum Patentgesetz aus dem Jahre 2008 eingefügt worden.5 Dieser „recht weitgehende Anspruch“ 6 auf Auskunft auch über die erzielten Preise bildet eine empfindliche Verschärfung der möglichen Sanktionen für Patentverletzungen. Als abschrekkende Reaktion auf eine rechtswidrige Verletzung fremden geistigen Eigentums kann diese Sanktion allerdings im Prinzip verfassungsrechtlich als gerechtfertigt angesehen werden.7 2. Vorläufiger Schutz bei Offensichtlichkeit der Patentverletzung

Anders stellt sich die grundrechtliche Problemstellung allerdings dann dar, wenn bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes von den Gerichten entsprechende Auskunftspflichten statuiert werden. Tatsächlich können die Gerichte in einem Streit um eine nur behauptete, also vermeintliche und noch nicht rechtskräftig festgestellte Patentrechtsverletzung im Wege der einstweiligen Verfügung den vermeintlichen Patentverletzer gleichfalls uneingeschränkt zur Auskunft über die Preise, die für die patentverletzenden Produkte bezahlt wurden, verpflichten. So bestimmt § 140b Abs. 7 PatG u. a., daß „in Fällen offensichtlicher Rechtsverletzung [. . .] die Verpflichtung zur Erteilung der Auskunft im Wege der einstweiligen Verfügung nach den §§ 935 bis 945 der Zivilprozessordnung angeordnet werden“ kann. Dem Tatbestandsmerkmal der „Offensichtlichkeit“ kommt damit im System des vorläufigen Patentschutzes eine zentrale Funktion zugunsten des vermeintlichen Patentverletzers zu. Denn in der Verpflichtung zur Offenbarung von höchst sensiblen Geschäftsgeheimnissen und deren zwangs4 BVerfGE 36, 281 (290 f.). Weitere Nachweise: Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Art. 14, 6. Aufl., 2010, Rn. 147 ff. 5 Gesetz zur Verbesserung der Durchsetzung von Rechten des geistigen Eigentums vom 23.05.2008, BGBl. I S. 1191. 6 BT-Dr. 11/4792, S. 32. 7 Vgl. unten IV.

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weiser Durchsetzung – die Offenbarung von Preisen läßt Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden Kalkulationen zu und diese zählen als streng gehütetes Geschäftsgeheimnis zum innersten, verfassungsrechtlich geschützten Kern unternehmerischer Freiheitsrechte – liegt ein intensiver Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) vor.8 Eine einmal erteilte Auskunft über Preise und damit über die zugrundeliegenden Kalkulationen kann nicht wieder eingeholt werden: ein einmal veröffentlichtes Betriebsgeheimnis wird nie wieder ein solches. Insbesondere bleibt die offenbarte Information auch dann „offenbart“, wenn im Hauptsacheverfahren eine Patentrechtsverletzung letztlich nicht festgestellt werden kann, die Offenbarung der Betriebsgeheimnisse sich also im Nachhinein als nicht gerechtfertigt herausstellt. Die Voraussetzung der „Offensichtlichkeit“ versucht in diesem Kontext eine gerichtliche „Fehlentscheidung“ und damit das Risiko „einer ungerechtfertigten Belastung“ durch Offenbarung von Betriebsgeheimnissen auszuschließen.9 § 140b Abs. 7 PatG ermöglicht also schon im einstweiligen Verfahren die endgültige, d.h. nicht mehr aus der Welt zu schaffende und die Hauptsache irreversibel vorwegnehmende und zwangsweise vollstreckbare Offenbarung von sensiblen Betriebsgeheimnissen. Von den grundrechtlichen Interessen des nur vermeintlichen Patentverletzers bleibt in diesem Fall im Ergebnis nichts übrig: die Anordnung kann im Vollstreckungsverfahren mit Zwangsgewalt durchgesetzt werden und bleibt irreversibel, auch wenn im Hauptsacheverfahren die Patentverletzung tatsächlich nicht festgestellt werden kann. Damit stellt sich die hier interessierende verfassungsrechtliche Frage, ob die gesetzliche, an die „Offensichtlichkeit“ der Rechtsverletzung anknüpfende Regelung im vorläufigen Patentverletzungsverfahren die grundrechtsdogmatisch gebotene umfassende Abwägung der auf dem Spiel stehenden Interessen ermöglicht, um diese in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen. Sollte diese Frage positiv zu entscheiden sein, stellt sich die weitergehende Frage nach den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die das Gericht im vorläufigen Verfahren bei der konkreten Entscheidung über die Auskunftspflichten zu beachten hat. III. Das Patentrechtsverhältnis in grundrechtsdogmatischer Perspektive Bei Patentverletzungsstreitigkeiten ist eine Konfliktlage zu bewältigen, an dem beteiligt sind: (1) der Staat in Gestalt der Gerichte, (2) der in seinem von Art. 14

8 Näher m.w. N. Depenheuer, Der verfassungsrechtliche Schutz des Betriebsgeheimnisses, in: Festschrift Wolf-Rüdiger Schenke [erscheint demnächst]. 9 So ausdrücklich die Gesetzesbegründung zu § 140b Abs. 7 PatG, BT-Dr. 11/4792, S. 32.

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GG geschützten Patent – tatsächlich oder auch nur vermeintlich – verletzte Wettbewerber mit seinem Interesse an einem effektiven Rechtsschutz und (3) der vermeintliche Patentverletzer, der seinerseits in Bezug auf die von ihm verlangten Preisauskünfte in seinem durch Art. 12 und 14 GG geschützten Betriebs- und Geschäftsgeheimnis geschützt ist. Fällt die gerichtliche Entscheidung zugunsten der Offenlegung der Geheimnisse aus, liegt darin ein Eingriff in die Berufs- und Eigentumsfreiheit des vermeintlichen Patentverletzers. Werden die Auskunftspflichten hingegen gerichtlich verneint, könnte das Recht des Wettbewerbers auf effektiven Schutz seines geistigen Eigentums beeinträchtigt sein. Eine verfassungsrechtlich gebotene Lösung hat diesen Konflikt divergierender und beiderseits eigentumsgeschützter Interessen bei Unklarheit über die Patentverletzung vorläufig, nämlich bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, zu befrieden. Das damit umschriebene Spannungsfeld von Schutz des Betriebs- und Geschäftsgeheimnisses einerseits und der Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes andererseits stellt sich aus staatlicher Perspektive dar als die Aufgabe der Bewältigung eines mehrpoligen Rechtsverhältnisses.10 Das Bundesverfassungsgericht hat die wesentlichen grundrechtsdogmatischen Vorgaben für deren Bewältigung in seiner Entscheidung zur Frage des Entgelts, das ein marktbeherrschendes Unternehmen für den Zugang Dritter zu seinem Telekommunikationsnetz zu entrichten hat, herausgearbeitet.11 Danach können und dürfen Eignung und Erforderlichkeit der Beeinträchtigungen nicht nur im Hinblick auf eines der widerstreitenden Rechtsgüter beurteilt werden. Vielmehr muß jede Entscheidung alle mit ihr verbundenen Beeinträchtigungen der Beteiligten berücksichtigen. Konkret muß sie die Garantie effektiven Rechtsschutzes des Patentinhabers gegen Verletzungen einerseits als auch die Berufsfreiheitsgarantie des Konkurrenten und (nur) vermeintlichen Patentverletzers in den Blick nehmen, wägen und auszugleichen suchen. Soweit keine Lösung ersichtlich ist, die hinsichtlich Eignung und Erforderlichkeit für jedes der kollidierenden Rechtsgüter zu einem positiven Ergebnis kommt, ist auf der Stufe der Angemessenheit zu prüfen, ob dies verfassungsrechtlich hinnehmbar ist. Diese Klärung muß letztlich zu einer Abwägung führen, die die jeweiligen Vor- und Nachteile bei der Verwirklichung der verschiedenen betroffenen Rechtsgüter in ihrer Gesamtheit einbezieht. Dabei ist zu prüfen, ob Abstriche in der Eignung und Erforderlichkeit hinsichtlich des einen kollidierenden Rechtsguts angesichts der dadurch bewirkten Möglichkeit zum Schutz des anderen Rechtsguts in einem angemessenen Verhältnis stehen, insbesondere zumutbar sind, oder ob die Angemessenheit eher erreicht wird, 10 Zum mehrpoligen Rechtsverhältnis vgl. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 264 ff.; Dietlein/Brandenberg, Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse im mehrpoligen Rechtsverhältnis bei der gerichtlichen Kontrolle einer telekommunikationsrechtlichen Entgeltgenehmigung, in: N & R 2006, S. 95 ff. 11 Vgl. zum folgenden teils wörtlich BVerfGE 115, 208 (232 ff.).

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wenn Minderungen der Eignung und Erforderlichkeit hinsichtlich des anderen Rechtsguts in Kauf genommen werden. IV. Verfassungsmäßigkeit des Patentgesetzes Nach Maßgabe dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben ist die gesetzliche Regelung zur Auskunftserteilung über die erzielten Preise nach § 140b Abs. 3 PatG bei rechtskräftig festgestellter Patentverletzung verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich: wer unbefugt ein fremdes Patent benutzt, ist gesetzlich zur Kompensation durch Schadensersatz (§ 139 Abs. 2 PatG) sowie zu entsprechenden Auskünften verpflichtet (§ 140b Abs. 1, 3 PatG). Doch auch in diesem Fall muß die Auferlegung und erst recht die zwangsweise Vollstreckung hinsichtlich derartiger Preisauskünfte gegenüber dem vermeintlichen Verletzer verhältnismäßig sein. Die Berücksichtigung auch der Interessen des Patentverletzers und des deshalb Auskunftspflichtigen treten nicht völlig zurück: daher sind Auskunftsansprüche nach § 140b Abs. 4 PatG jedenfalls dann ausgeschlossen, „wenn die Inanspruchnahme im Einzelfall unverhältnismäßig ist“. Dem Gericht wird daher zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Auskunftsanspruchs im Einzelfall ein Spielraum eingeräumt, den dieses auch pflichtgemäß wahrnehmen muß. Teil der insoweit gebotenen umfassenden Abwägung des Gerichts kann insbesondere auch eine Ausdifferenzierung der Auskunftspflichten sein: je nach dem Grad der Rechtsverletzung kann die Auskunftsverpflichtung nach der Tiefe (Intensität) und dem Umfang (Inhalte) abgestuft werden, um den widerstreitenden Interessen Rechnung tragen zu können und die Offenbarung sensibler Betriebsgeheimnisse auf das unbedingt erforderliche Maß zu begrenzen.12 Im Ergebnis muß also nicht jede festgestellte Patentverletzung zwingend auch zur Auskunft „des ohnehin recht weitgehendes Anspruchs“ auf Preismitteilung führen. Die mit dieser Maßgabe anzunehmende prinzipielle verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit der Verpflichtung zur Auskunftserteilung gilt aber nur für den Fall, daß die Patentverletzung rechtskräftig festgestellt ist. V. Verfassungsrechtliche Entscheidungsvorgaben im Patentverletzungsverfahren Anders stellt sich die grundrechtsdogmatische Rechtslage dann dar, wenn die Patentverletzung nicht rechtskräftig festgestellt ist, sondern lediglich vom dem in seinem Patent vermeintlich Verletzten behauptet wird. Scheinbar ermöglicht § 140b Abs. 7 PatG auch „in Fällen offensichtlicher Rechtsverletzung“ die unbe12 Klare Problemsicht in der amtlichen Begründung zu § 140b Abs. 7 PatG (BT-Dr. 11/4792, S. 32): „Die Durchsetzung des ohnehin recht weitgehenden Anspruchs muß zum Schutz der Interessen des Auskunftsschuldners auf das unbedingt erforderliche Maß begrenzt bleiben.“

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schränkte Verpflichtung zur Erteilung der Auskunft im Wege der einstweiligen Verfügung ohne weitergehende Voraussetzungen. Damit stellen sich zwei Fragen: Welche Voraussetzungen sind an die Konkretisierung des Rechtsbegriffs der „Offensichtlichkeit“ zu stellen (nachfolgend 1.)? Gilt die gesetzliche Verpflichtung zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall auch und gegebenenfalls mit welcher Maßgabe in den Fällen des vorläufigen Rechtsschutzes (nachfolgend 2.)? 1. Verfassungsrechtliche Anforderungen an die „Offensichtlichkeit“ der Patentverletzung

Unter der Voraussetzung der „Offensichtlichkeit“ kann der Schutz vor Patentrechtsverletzungen und die Verpflichtung zur Auskunftserteilung gem. § 140b Abs. 7 PatG auch im Wege der einstweiligen Anordnung erfolgen. Abs. 7 eröffnet damit bei mutmaßlichen Patentrechtsverletzungen die gleiche Rechtsfolge wie bei einer rechtskräftig festgestellten. Das Tatbestandsmerkmal der „Offensichtlichkeit“ überbrückt in normativer Hinsicht die Differenz zwischen einer nur vermeintlichen und einer rechtskräftig festgestellten Patentrechtsverletzung. Der Beurteilung der Offensichtlichkeit kommt neben dem umfassenden Abwägungsgebot eine zentrale und grundrechtswahrende Rolle im System des Patentschutzes zu. Dieses Tatbestandsmerkmal vermag im mehrpoligen Patentrechtsverhältnis aber nur dann eine den zu berücksichtigenden Interessen gerecht werdende Rolle zu spielen, wenn an das Vorliegen der „Offensichtlichkeit“ strenge, objektivierbare und den Rechtsschutz effektiv ermöglichende Voraussetzungen gestellt werden. Nur dann realisiert das Offensichtlichkeitsurteil die normative Schutzverpflichtung des Staates gegenüber Eingriffen in die Berufs- und Eigentumsfreiheit des vermeintlichen Rechtsverletzers. Daher muß das Vorliegen der „Offensichtlichkeit“ a) überhaupt dargelegt und b) objektivierbar begründet werden. Andernfalls würde das ausgewogene gesetzliche System des Patentschutzes unterlaufen, die auf dem Spiele stehenden grundrechtlichen Interessen verkannt und das Eigentumsrecht im Ergebnis leerlaufen. a) Darlegungslast Das Vorliegen der „Offensichtlichkeit“ der Patentrechtsverletzung muß vom Antragsteller dargelegt und vom Gericht substantiiert begründet werden. Offensichtlichkeit der Rechtsverletzung muß mehr sein als die bloße Überzeugung oder Annahme einer Patentverletzung. Die – vorläufige und einfache – Überzeugung des Gerichts vom Vorliegen resp. Nichtvorliegen einer Patentrechtsverletzung reicht für die Überbrückung der Differenz zwischen festgestellter und mutmaßlicher Rechtsverletzung nicht aus. Die „schlichte“ Überzeugung eines Gerichts von einer Rechtsverletzung kann weder logisch noch darf sie normativ eo ipso „offensichtlich“ sein. Es bedarf vielmehr einer qualifizierten Überzeugung von der Eindeutigkeit der Rechtsverletzung. Selbst wenn man die Differenz

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zwischen „schlichter“ und „offensichtlicher“ Patentrechtsverletzung für eine normative Fiktion hielte, müßten die Gerichte diese Fiktion seriös einlösen und die „Offensichtlichkeit“ in jedem einzelnen Fall für Dritte nachvollziehbar begründen: nicht jede Überzeugung des Gerichts vom Vorliegen einer Patentrechtsverletzung darf und kann also unvermittelt zugleich eine „offensichtliche“ sein. Es muß normativ einen Unterschied zwischen einer nicht-offensichtlichen und einer offensichtlichen Patentverletzung geben. Die Evidenz der Patentverletzung muß für Dritte objektiv erkennbar, d.h. intersubjektiv vermittelbar sein und nachvollziehbar „auf der Hand“ liegen. Zweifel in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht, schließen die Annahme einer Offensichtlichkeit der Rechtsverletzung definitiv aus.13 b) Begründungslast Unzureichend ist nach diesen verfassungsrechtlichen Rahmendaten jedenfalls eine apodiktische, begründungsfreie Behauptung, die glaubt, aus einer „mutmaßlichen“ unvermittelt eine „offensichtliche“ Patentverletzung ableiten zu können. Stets muß jedenfalls ansatzweise die Begründung des Offensichtlichkeitsurteils erkennen lassen, welche grundrechtliche Bedeutung das Offensichtlichkeitsurteil für das Betriebseigentum und die wettbewerbliche Position des mutmaßlichen Rechtsverletzers hat. Denn zum Schutz seiner Interessen muß die Auskunft auf das unbedingt erforderliche Maß begrenzt bleiben. Daher muß das Gericht darlegen, welche konkreten Tatsachen oder Umstände den Schluß von 13 Vgl. amtl. Begründung zu § 140b Abs. 7 PatG (BT-Dr. 11/4792, S. 32): „Der Entwurf sieht ausdrücklich vor, daß der Auskunftsanspruch in bestimmten Fällen – vorausgesetzt, die sonstigen Anforderungen für den Erlaß einer einstweiligen Verfügung sind erfüllt – auch im Wege der einstweiligen Verfügung durchgesetzt werden kann. Dabei berücksichtigt der Entwurf, daß der im Eilverfahren durchgesetzte Auskunftsanspruch regelmäßig die (vollständige) Erfüllung des Anspruchs bedeutet, nicht nur die vorläufige Sicherung einer späteren Vollstreckung. Die einmal erteilte Auskunft kann nicht wieder zurückgefordert werden, falls sich im Hauptverfahren herausstellt, daß der Anspruch nicht begründet ist. Der Entwurf sieht deswegen vor, daß der Auskunftsanspruch im Wege der einstweiligen Verfügung nur bei ,offensichtlicher‘ Rechtsverletzung gewährt wird, also nur in Fällen, in denen die Rechtsverletzung so eindeutig ist, daß eine Fehlentscheidung (oder eine andere Beurteilung im Rahmen des richterlichen Ermessens) und damit eine ungerechtfertigte Belastung des Antragsgegners kaum möglich ist. Der Antragsteller wird dabei die Umstände, aus denen sich die Offensichtlichkeit der Rechtsverletzung ergibt, in der üblichen Weise glaubhaft machen müssen und sich dabei zur Wahrung seiner Interessen des stärksten ihm zur Verfügung stehenden Beweismittels zu bedienen haben. [. . .] Die Durchsetzung des ohnehin recht weitgehenden Anspruchs muß zum Schutz der Interessen des Auskunftsschuldners auf das unbedingt erforderliche Maß begrenzt bleiben.“ – Noch deutlicher die amtliche Begründung zu § 140b Abs. 2 PatG (BT-Dr. 16/5048, S. 39: „Das einschränkende Merkmal der Offensichtlichkeit [sc. entlastet] von der Prüfung, ob eine Rechtsverletzung vorliegt. Denn von einer offensichtlichen Rechtsverletzung ist erst dann auszugehen, wenn diese so eindeutig ist, dass eine ungerechtfertigte Belastung des Dritten ausgeschlossen erscheint.“ (BT-Dr. 16/5048, S. 39)

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der nicht-offensichtlichen auf die offensichtliche Patentrechtsverletzung tragen, um die Verpflichtung zur Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen verfassungsrechtlich für gerechtfertigt halten zu können. In patentrechtlichen Streitigkeiten geht es zwar oftmals um technisch komplizierte Sachverhalte. Doch dies steht der Qualifikation einer mutmaßlichen Rechtsverletzung als „offensichtlich“ grundsätzlich nicht entgegen. „Offensichtlichkeit“ kann auch in „technisch schwierigen Fällen“ gegeben sein, muß dann aber noch eingehender begründet werden. Nicht ausreichend sind floskelhafte Wendungen oder etwa die Bekundung, daß für das erkennende Gericht die Schutzrechtsverletzung „klar auf der Hand liegt“. Die Darlegung objektivierbarer Tatsachen, die das Offensichtlichkeitsurteil tragen, kann nicht durch den Hinweis auf das Vorliegen von inneren Tatsachen („klar auf der Hand liegen“) des erkennenden Gerichts kompensiert werden. So richtig und für jeden Entscheider nachvollziehbar es ist, daß sich Entscheidungen auf einer stufenlosen Bandbreite von „nicht wissen – ahnen – vermuten – für möglich halten – sich sicher werden/sein – wahrscheinlich sein („klar auf der Hand“) – offensichtlich sein – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen – wissen“ bewegen, so wenig füllen diese verschiedenen Stufen subjektiver, d.h. innerer Entscheidungs(un-) sicherheit den objektiv zu interpretierenden Begriff der Offensichtlichkeit aus. Dazu bedarf es jedenfalls der Darlegung objektiver, auch für Dritte erkennbarer Tatsachen, aus denen die „Offensichtlichkeit“ der Rechtsverletzung schlüssig und nachvollziehbar folgt. Nur unter dieser Voraussetzung sind die mit dem Offensichtlichkeitsurteil verbundenen scharfen und sanktionsähnlichen Verpflichtungen auf Auskunftserteilung verfassungsrechtlich zu rechtfertigen. Indikator für das Vorliegen resp. Nichtvorliegen der Offensichtlichkeit kann auch der Verlauf der mündlichen Verhandlung sein. Für das Vorliegen der Offensichtlichkeit spricht, wenn das Gericht seine Einschätzung der Offensichtlichkeit der Rechtsverletzung klar zu erkennen und dem vermeintlichen Rechtsverletzter Gelegenheit gibt, die Annahme der Offensichtlichkeit zu erschüttern. Wenn hingegen das Gericht neutral in den Sach- und Streitstand einführt, deutet vieles darauf hin, daß ihm jedenfalls bis dahin die Sache noch nicht offensichtlich vorgekommen sein kann. Erst recht gilt dies, wenn das Gericht die Fragwürdigkeit der Patentrechtsverletzung ausdrücklich oder konkludent zu erkennen gibt. „Fragwürdigkeit“ und „Diskussionsbedürftigkeit“ der Patentrechtsverletzung indizieren jedenfalls das glatte Gegenteil von „Offensichtlichkeit“.14 Die Bekundung von Fragwürdigkeit läßt Zweifel erkennen und dementiert dadurch Offensichtlichkeit. Nimmt das Gericht gleichwohl „Offensichtlichkeit“ an, ist dieses Urteil offensichtlich selbstwidersprüchlich. Pointierter formuliert: wenn ein Ge14 Vgl. noch einmal die Begründung zu § 140b Abs. 2 PatG (BT-Dr. 16/5048, S. 39): „Zweifel in tatsächlicher, aber auch in rechtlicher Hinsicht [sc. schließen] die Offensichtlichkeit der Rechtsverletzung aus.“

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richt anfänglich die Offensichtlichkeit der Rechtsverletzung nicht erkennen läßt, hat es sich rechtlich bereits den nachträglichen Rückgriff auf das Tatbestandsmerkmal der Offensichtlichkeit verbaut: eine Sache ist offensichtlich oder sie ist es nicht, sie kann aber nicht – etwa durch den Verlauf der mündlichen Verhandlung – nachträglich offensichtlich werden. Eine „nachträgliche Offensichtlichkeit“ ist ein Un-Begriff. 2. Abwägungsgebote bei „offensichtlicher“ Patentverletzung

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde, die gesamte Rechtsordnung „übergreifende Leitregel allen staatlichen Handelns“ gilt für jedwede bürgergerichtete Tätigkeit des Staates.15 Im mehrpoligen Patentrechtsverhältnis dirigiert und moderiert es den Ausgleich divergierender Interessen auch und erst recht dann, wenn und solange eine behauptete Patentverletzung noch nicht rechtskräftig festgestellt, sondern nur, aber immerhin „offensichtlich“ ist. Auch in diesem Fall kann nach der gesetzlichen Regelung des § 140b Abs. 7 PatG „die Erteilung der Auskunft im Wege der einstweiligen Verfügung“ gerichtlich angeordnet werden. Auch im vorläufigen Patentverletzungsverfahren kann die gerichtliche Entscheidung immer nur entweder zu Lasten des effektiven Rechtsschutzes oder zu Lasten des Geheimhaltungsinteresses fallen. Derzeit sieht das Patentgesetz im vorläufigen Patentverletzungsverfahren explizit keine alternativen, flexibleren und eleganteren Lösungen zum Ausgleich der widerstreitenden Interessen vor, z. B. Abstufung der Informationspflichten nach Intensität und Inhalt, Auskunft an neutrale Dritte wie Wirtschaftsprüfer, „in-camera-Verfahren“ u. ä.16 Dieser gesetzliche Zwang zu einer „Alles-oder-Nichts-Entscheidung“ auch bei nicht rechtskräftig festgestellter Patentverletzung genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Herstellung praktischer Konkordanz nur unter der Voraussetzung, daß die mit der Rechtsanwendung betrauten Gerichte auf der Grundlage des geltenden Rechts die Möglichkeit haben, gleichwohl zu einer der Verfassung entsprechenden Zuordnung der kollidierenden Rechtsgüter zu kommen. Den Weg zu dieser gerichtlich umzusetzenden Aufgabe weist § 140b Abs. 4 PatG. Danach ist eine an sich gebotene Auskunftserteilung dann unzulässig, wenn sie im Einzelfall zu einer unverhältnismäßigen Belastung führen würde. Diese Bestimmung gilt im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutz um so mehr, als hier endgültige, später nicht mehr korrigierbare Geheimnisse aufgedeckt werden, obwohl die Rechtsverletzung nicht rechtskräftig feststeht. Das Verhältnis15

Überblick: Stern (Fn. 2), Bd. I, 2. Aufl., 1984, S. 861 ff. Vgl. dazu näher BVerfGE 115, 205 (238). – Der Gesetzgeber hatte im Gesetzgebungsverfahren die Möglichkeit der Einschaltung eines neutralen, zur Verschwiegenheit verpflichteten Sachverständigen erwogen, aber als dem deutschen Zivilprozeßrecht „fremd“ verworfen, vgl. BT-Dr. 14/4792, S. 33. 16

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mäßigkeitsprinzip wirkt hier auf den Schutz der Interessen des vermeintlichen Patentverletzers hin, jedenfalls bis zur endgültigen Entscheidung über die behauptete Patentverletzung nicht zu einer später nicht mehr korrigierbaren Offenbarung seiner Geschäftsgeheimnisse gezwungen zu werden. § 140b Abs. 4 PatG läßt sich daher nicht verfassungsgemäß dahingehend verstehen, daß die Verpflichtung zur Auskunftserteilung die Regelmaßnahme darstellt und von ihr nur unter besonderen Umständen abgesehen werden soll. Das Gegenteil ist der Fall: § 140b Abs. 4 PatG normiert nur den Grenzfall unzumutbarer Auskunftserteilung, läßt damit aber den verfassungsrechtlich gebotenen Raum für anderweitige Restriktionen der Auskunftspflicht nach Maßgabe der Verhältnismäßigkeit. Das zur Entscheidung berufene Gericht verfügt daher über einen ausreichenden Ermessensspielraum zur Konkretisierung und Rationalisierung des Abwägungsvorgangs, zur Sicherung der Richtigkeit des Entscheidungsergebnisses und zur Wahrung eines allen Interessen Rechnung tragenden Abwägungsergebnisses. Es kann die Auskunftspflichten in ihrer Vielfalt abgestuft und differenziert zum Einsatz bringen, und derart eine abgewogene, allen Interessen gerecht werdende Entscheidung treffen. Die in der gerichtlichen Praxis zuweilen geäußerte Auffassung, nach der eine ergebnisoffene Abwägung der gegenläufigen Interessen „schon im Ansatz unzutreffend“ sei, ist vor diesem Hintergrund eklatant unzutreffend. Deutlicher als mit einer derartigen Absage kann man die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine abwägende Konfliktlösung nicht verfehlen. Sie widerspricht dem verfassungsrechtlichen Gebot umfassender Abwägung der kollidierenden Interessen und deren Zuordnung im Wege praktischer Konkordanz. Das im vorläufigen Verfahren entscheidende Gericht muß also in jedem einzelnen Fall behaupteter, aber noch nicht rechtskräftig festgestellter Schutzrechtsverletzung eine ergebnisoffene Abwägung des Interesses des verletzten Patentinhabers an der Durchsetzung der ihm mit dem Auskunftsanspruch kraft Gesetzes zugewiesenen Rechtsposition einerseits und der Geheimhaltungsbedürfnisse des vermeintlichen Verletzers an den der Auskunftspflicht unterfallenden Geschäftsdaten andererseits durchführen. Dabei wird das Gericht insbesondere berücksichtigen, daß ein Absehen von der Auskunftserteilung den in seinem geistigen Eigentum vermeintlich verletzten Wettbewerber allenfalls in seinen Vermögensinteressen berühren würde. Diese könnten bis zu einer endgültigen Entscheidung unschwer durch eine entsprechende Sicherheitsleistung des vermeintlichen Patentverletzers vollständig gesichert werden. Demgegenüber stellt sich eine einmal erteilte Auskunft wegen deren Irreversibilität in der Sache als eine Vorwegnahme der Hauptsache dar. 3. Sicherheitsleistung des Anspruchsstellers als Abwägungstopos?

Nach einer in der gerichtlichen Praxis vertretenen Rechtsauffassung ist dem Interesse des Auskunftspflichtigen hingegen grundsätzlich dadurch Genüge getan, daß er den aus einer ungerechtfertigten Offenbarung seiner Geschäftsge-

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heimnisse resultierenden Schaden durch Rückgriff auf die geleistete Sicherheit des in seinem Patentrecht vermeintlich Verletzten kompensieren kann. Doch eine derartige Sicherheitsleistung vermag die grundrechtliche Beschwer des vermeintlichen Verletzers als Folge einer vollstreckungsfähigen Auskunftsverpflichtung grundsätzlich nicht auszugleichen. Die gegenteilige Ansicht wird dem Umstand nicht gerecht, daß die Verpflichtung zur Offenbarung von Geschäftsgeheimnissen nicht wieder rückgängig gemacht und durch Schadensersatz auch nicht annäherungsweise kompensiert werden kann. Daher ist Geld der Offenbarung von Betriebsgeheimnissen inkompatibel und vermag sie schon deshalb a limine nicht zu kompensieren. Vor allem aber läßt diese Auffassung ein grundsätzliches Mißverständnis der grundgesetzlichen Eigentumsgarantie erkennen. Eine Sicherheitsleistung ist gerade kein Freibrief für staatliche Eingriffe in Freiheit und Eigentum.17 Als Freiheitsgarantie sperrt sich die Eigentumsgewährleistung hoheitlicher Kommerzialisierung. Da das Grundgesetz Eigentum in der Hand des Privaten schützen will, ist diesem die Möglichkeit versagt, einen rechtswidrigen hoheitlichen Eingriffsakt zu dulden und den eingetretenen Vermögensschaden zu liquidieren. Er ist vielmehr gehalten, im Wege des Primärrechtsschutzes hoheitlichen Einwirkungen auf sein Eigentum entgegenzutreten. Nur im Ausnahmefall der Enteignung nach Art. 14 Abs. 3 mutiert der Bestandsschutz zur Wertgarantie.18 Eine Sicherheitsleistung macht daher das geistige Eigentum nicht zur beliebigen Dispositionsmasse des Gerichts bzw. des Klägers. Eine monetäre Sicherheit ist dem drohenden Verlust von Betriebsgeheimnissen nicht nur inkongruent: Geschäftsgeheimnisse haben ihren – z. T. unschätzbaren – Wert, aber nicht notwendig einen bezifferbaren Preis. Vor allem aber ist der Eigentümer von Verfassung wegen gehalten, rechtlich um sein Eigentum zu kämpfen und sich nicht „auszahlen“ zu lassen. Auch dazu „verpflichtet Eigentum“ und wehrt einem „dulde und liquidiere“. Gegen Eigentumseingriffe der Hoheitsgewalt kann sich der Eigentümer nicht nur wenden: er muß auch von Verfassungs wegen die Integrität seiner Betriebsgeheimnisse wahren. VI. Patentschutz statt Wettbewerbsverzerrung Rechtsstreitigkeiten um vermeintliche Patentverletzungen weisen ein hohes Maß an grundrechtlichen Implikationen auf und bedürfen deswegen sensibler Abwägung in Ansehung der einander gegenüberstehenden Interessen. Dies verbietet eine nicht durch Tatsachen und Begründungen gestützte Annahme der „Offensichtlichkeit“ der Patentrechtsverletzung. Zudem müssen die zur Entscheidung berufenen Gerichte die von ihnen umzusetzenden grundrechtlichen 17 BVerfGE 58, 300 ff.; 100, 226 (245). Papier, in: Depenheuer (Hrsg.), Eigentum, 2004, S. 93, 101 ff. 18 Vgl. näher Depenheuer, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 2010, Art. 14, Rn. 86 ff.

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Schutzverpflichtungen gegenüber einem Kernelement der verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte – der Wettbewerbsfreiheit und des Eigentumsschutzes von Geschäftsgeheimnissen – gerecht werden. Andernfalls könnte die Gefahr heraufbeschworen werden, daß als Folge einer nur oberflächlich durchgeführten Interpretation und Abwägung im Ergebnis einer staatlich geduldeten, wenn nicht veranlaßten Wettbewerbsverzerrung Vorschub geleistet würde. § 140b Abs. 7 PatG mutierte dann aus seiner Funktion des Patentschutzes zu einer Norm, die unter dem Deckmantel des Patentschutzes tatsächlich zu einer Form des unlauteren Wettbewerbs führt. Nur eine sorgfältige, begründete Feststellung der Offensichtlichkeit der vermeintlichen Patentrechtsverletzung und eine umfassende Abwägung der beiderseitigen Interessen gewährleistet, daß der Wettbewerb am Markt um die besten Produkte zu den günstigsten Preisen nicht zu einer Instrumentalisierung der Gerichte im wirtschaftlichen Wettbewerb führt. Andernfalls bestünde die Gefahr einer gerichtlich geebneten „Klagewelle“ von Wettbewerbern, um über behauptete und von den Gerichten leichtfertig als „offensichtlich“ qualifizierte Patentverletzungen im Wege einstweiliger Verfügungen wettbewerbswidrig an Geschäftsgeheimnisse der Konkurrenz zu gelangen.

Vergabespezifische Mindestlöhne im Lichte der Grundrechte und Grundfreiheiten Von Johannes Dietlein I. Problemstellung Das Anwachsen des Beschäftigungsgrades sowie die Öffnung der europäischen Märkte haben in den letzten Jahren gerade in Deutschland zu einem zunehmenden Einsatz von Niedriglohnkräften in vielen Bereichen des Wirtschaftslebens geführt.1 Um der damit einhergehenden Gefährdung von Arbeitsplätzen sowie der Verzerrungen des Wettbewerbs zwischen europäischen Unternehmen insbesondere bei tarifgebundenen mittelständischen Unternehmen zu begegnen, kam es neben allgemeinen Mindestlohninitiativen in der Vergangenheit auch auf dem Spezialgebiet der öffentlichen Auftragsvergabe zu diversen Initiativen. Zwar konnten entsprechende Bestrebungen auf Bundesebene keine Mehrheit auf sich vereinen;2 indes nahm eine beachtliche Zahl von Bundesländern sog. Tariftreueregelungen in ihre Landesvergabegesetze auf. Die Regelungen sahen zumeist vor, dass die Vergabestelle den Unternehmen, die öffentliche Aufträge ausführen, die Zahlung des Tariflohns am Ort der Leistungserbringung vorschreiben sollte. Zugleich sollten Letztere verpflichtet werden, auch eventuelle Nachunternehmer an die Tarifregelungen zu binden. Vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) konnten sich diese Vorgaben gegen die hiergegen vorgebrachten Bedenken3 durchsetzen.4 Zwar qualifizierte das BVerfG das Berliner Tariftreueverlangen in seiner Entscheidung vom 11. Juli 2006 als Eingriff in die Berufsfreiheit der Auftragnehmer nach Art. 12 Abs. 1 GG, hielt diesen Eingriff aber für gerechtfertigt. Als legitime Zwecke, die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung den Eingriff rechtfertigen, führte der Erste Senat den Schutz der Bauunternehmen vor 1 Vgl. zu der tatsächlichen Ausgangslage eingehend die Studien von Kalina/Weinkopf, IAQ-Report 2009-5 und 2010-6, abrufbar unter http://www.iaq.uni-due.de/iaqreport/. 2 Vgl. den Entwurf eines Gesetzes zur tariflichen Entlohnung bei öffentlichen Aufträgen und zur Einrichtung eines Registers über unzuverlässige Unternehmen vom 20. Februar 2002, Bundestags-Drucksache 14/8285. 3 Vgl. BGH, Vorlagebeschluss v. 18. Januar 2000 – KVR 23/98, NZBau 2000, 189 ff. – Tariftreueerklärung II; vorgehend ebenso KG Berlin, Beschl. v. 20. Mai 1998 – Kart 24/97, WuW/E Verg 111 ff. 4 BVerfG, Beschl. v. 11. Juli 2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 ff.– Tariftreueerklärung II.

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Verdrängungswettbewerb über Lohnkosten, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Bausektor, den Schutz von Arbeitnehmern tarifgebundener Unternehmen, die Entlastung der Systeme der sozialen Sicherheit sowie die Unterstützung des Tarifvertragssystems als Mittel zur Sicherung sozialer Standards an. Zur Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht äußerte sich der Erste Senat nicht. Die bestehende Rechtslage schien damit vorerst gesichert. II. Die sog. „Rüffert-Entscheidung“ des EuGH vom 3. April 2008 Knapp zwei Jahre nach dem Beschluss des BVerfG zum Berliner Vergabegesetz urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 3. April 2008 auf Vorlage des OLG Celle in der sog. Rechtssache Rüffert und verwarf am Beispiel des niedersächsischen Vergabegesetzes weite Teile des bis dahin bestehenden deutschen Tariftreuesystem als europarechtswidrig. 1. Tatsächlicher Hintergrund

Hintergrund der EuGH-Entscheidung war die nach vorheriger Ausschreibung erfolgte öffentliche Beauftragung eines niedersächsischen Bauunternehmens durch das Land Niedersachsen. Der Werkvertrag beinhaltete – in Einklang mit dem niedersächsischen Vergabegesetz – die Pflicht zur Einhaltung der Tarifverträge. Die Arbeitnehmer sollten mindestens nach den im Tarifvertrag des Baugewerbes vorgesehenen Mindesttariflöhnen bezahlt werden. Diese Vorgabe wurde auch auf den Nachunternehmereinsatz erstreckt. Verstöße wurden sanktioniert mittels einer Vertragsstrafenregelung. Die Baufirma beauftragte wiederum einen polnischen Nachunternehmer, der die im Tarifvertrag vorgesehene Entgelthöhe um mehr als die Hälfte unterschritt. Im Zuge der Ermittlungen kündigten die Baufirma sowie das Land Niedersachsen den zwischen ihnen geschlossenen Werkvertrag. Hierbei berief sich das Land auf den Verstoß gegen die vereinbarte Pflicht zur Tariftreue. Nachdem über das Vermögen der Baufirma das Insolvenzverfahren eröffnet wurde, verlangte der Insolvenzverwalter Dirk Rüffert vom Land Niedersachsen für bereits erbrachte Bauleistungen den ausstehenden Werklohn. Das Land Niedersachsen rechnete im Prozess mit einem Anspruch auf Vertragsstrafe auf. Im Rahmen des Berufungsverfahren legte das OLG Celle dem EuGH die Frage vor, ob die streitentscheidenden Tariftreueregelungen im niedersächsischen Landesvergabegesetz vereinbar wären mit der Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EG (nunmehr: Art. 56 AEUV). 2. Argumentation des Gerichts

Entgegen dem Vorbringen des Generalanwalts Yves Bot in seinen Schlussanträgen vom 20. September 2007 sprach die Zweite Kammer des EuGH5 der nieder-

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sächsischen Regelung ab, im Einklang mit dem europäischen Recht zu stehen, und erkannte einen Verstoß gegen die sog. Entsende-Richtlinie6 an sich und ausgelegt im Licht der Dienstleistungsfreiheit. Die Tariftreueklausel sei zunächst an der Entsende-Richtlinie als speziellerem Sekundärrecht zu messen. Gemäß Art. 3 Abs. 1 UAbs. 1 erster und zweiter Gedankenstrich dieser Richtlinie seien bei der staatenübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen im Bausektor den entsandten Arbeitnehmern die Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen bezüglich bestimmter Aspekte einschließlich von Mindestlohnsätzen zu garantieren, sofern diese Bedingungen durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche festgelegt seien. Das niedersächsische Vergabegesetz genüge diesen Anforderungen nicht, da es selbst keine inhaltliche Regelung der Mindestlohnsätze etc. getroffen habe, sondern lediglich auf Tarifverträge verweise. Der im streitigen Verfahren relevante Baugewerbe-Tarifvertrag sei jedoch nicht als allgemein verbindlich erklärter Tarifvertrag anzusehen, so dass kein Regelungsfall der Entsende-Richtlinie erfüllt sei. Andere nicht allgemeinverbindliche Tarifverträge könnten nur nach der Ausnahmeklausel in Art. 3 Abs. 8 UAbs. 2 der Entsende-Richtlinie zulässig sein, wenn im jeweiligen Mitgliedsstaat kein System zur Allgemeinverbindlicherklärung bestehe. Angesichts des deutschen Systems zur Allgemeinverbindlicherklärung gebe es für eine Anwendung dieser Ausnahmeklausel jedoch keine Grundlage. Im Übrigen stelle die Tariftreueregelung eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar, da derartige Regelungen geeignet seien, die Erbringung von Dienstleistungen in anderen Mitgliedsstaaten zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Diese Beschränkung lasse sich auch nicht unter Berufung auf das Ziel des Arbeitnehmerschutzes oder den Schutz der autonomen Ordnung des Arbeitslebens durch Koalitionen rechtfertigen. Maßgeblicher Gesichtspunkt sei die sachlich nicht begründbare Differenzierung zwischen öffentlichen und privaten Aufträgen. Es sei nicht ersichtlich, warum „ein im Bausektor tätiger Arbeitnehmer nur bei seiner Beschäftigung im Rahmen eines öffentlichen Auftrags für Bauleistungen und nicht bei seiner Tätigkeit im Rahmen eines privaten Auftrags des Schutzes bedarf, der sich aus einem solchen Lohnsatz ergibt, der im Übrigen, wie auch das vorlegende Gericht feststellt, über den Lohnsatz nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz hinausgeht.“7 Schließlich rechtfertige auch der Zweck der finanziellen Stabilität der sozialen Versicherungssysteme keine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit durch Tariftreueregelungen. So sei die Pflicht zur Einhaltung von Tarifregelungen nach Auffassung

5

EuGH, Urt. v. 3. April 2008 – C-346/06, Slg. 2008 I-1989 – Rüffert. Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl.EG L 18 vom 21. Januar 1997, S. 1. 7 EuGH, Urt. v. 3. April 2008 – C-346/06, Slg. 2008 I-1989, Rn. 40 – Rüffert. 6

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des EuGH nicht erforderlich, um eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit zu verhindern.8 3. Reaktionen auf die Entscheidung

Die Entscheidung hat nicht nur in der Wissenschaft,9 sondern auch in der Praxis zu heftigen Reaktionen geführt: So wurde in den Ländern mit entsprechenden vergaberechtlichen Tariftreueregelungen die Pflicht der Vergabestellen, auf die Einhaltung der Tariftreueregelung zu achten, weitgehend innerhalb weniger Tage aufgehoben. Zwischenzeitlich haben einige Bundesländer neue Vergabegesetze erlassen bzw. bestehende Vergabegesetz modifiziert, um den formalen Anforderungen der Entsende-Richtlinie zu genügen, wobei die Regelungen hinsichtlich der materiellen Grundfrage ihrer Vereinbarkeit mit der Dienstleistungsfreiheit teilweise nach wie vor Fragen aufwerfen. Besonders kontrovers diskutiert wird das Berliner Ausschreibungs- und Vergabegesetz vom 8. Juli 2010.10 Neben speziellen Vorgaben für Aufträge im Geltungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes sowie im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs setzt § 1 Abs. 4 als sog. vergabespezifischen Mindestlohn eine Mindestentlohnung bei öffentlichen Aufträgen von 7,50 A fest, sofern es für bestimmte Branchen keine Tarifverträge gibt oder die dort vorgesehenen Tariflöhne den Lohn von 7,50 A unterschreiten. Die Verpflichtung wird in § 1 Abs. 6 auf Nachunternehmer ausgedehnt. Die Höhe der Mindestentlohnung kann nach § 2 durch Rechtsverordnung angepasst werden, soweit dies wegen veränderter wirtschaftlicher und sozialer Verhältnisse notwendig ist. Eine ähnliche Linie wie Berlin verfolgt das Land Rheinland-Pfalz, in dem am 13. Dezember 2010 das Landesgesetz zur Gewährleistung von Tariftreue und Mindestentgelt bei öffentlichen Auftragsvergaben (Landestariftreuegesetz – LTTG) als Artikel 1 des Landesgesetzes zur Schaffung tariftreuerechtlicher Regelungen vom 01.12.2010 verkündet wurde.11 Es ist am 1. März 2011 in Kraft getreten. In Vorbereitung ist schließlich ein Brandenburgisches Gesetz für Mindestanforderungen für die Vergabe von öffentlichen Aufträgen (Brandenburgisches Vergabegesetz), das als Referentenentwurf vorliegt und ebenfalls für einen 8

EuGH, Urt. v. 3. April 2008 – C-346/06, Slg. 2008 I-1989, Rn. 42 – Rüffert. Kritisch etwa F. Bayreuther, NZA 2008, 626 ff.; N. Bruun/A. Jacobs, AuR 2008, 417 ff.; J. Heuschmid, jurisPR-ArbR 29/2008 Anm. 2; J. Keßler/A. Dahlke, EWS 2008, 247 f.; M. Wittjen, ZfBR 2009, 30 ff.; A. Wiedmann, EuZW 2008, 308 ff.; tendenziell zustimmend hingegen etwa U. Becker, JZ 2008, 891 ff.; M. Bungenberg, EuR 2008, 397 ff.; V. Dobmann, VergabeR 2008, 484 ff.; P. U. Jaap, ZTR 2008, 476 ff.; S. Klumpp, NJW 2008, 3474 ff.; E. Kocher, Der Betrieb 2008, 1042 ff.; G. Thüsing/T. Granetzny, NZA 2009, 183 ff.; P. Hanau, NZA 2008, 751; J. Steiff/W. André, NZBau 2008, 364 ff.; A.-K. Uhl, BB 2008, 1236. 10 Verkündet am 22. Juli 2010, GVBl. S. 399. 11 Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Rheinland-Pfalz – GVBl. S. 426. 9

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vergabespezifischen Mindestlohn votiert. Vorsichtiger zeigt sich das Bremische Gesetz zur Sicherung von Tariftreue, Sozialstandards und Wettbewerb bei öffentlicher Auftragsvergabe (Tariftreue- und Vergabegesetz) vom 24. November 2009,12 das zwar ebenfalls einen vergabespezifischen Mindestlohn formuliert, dessen Geltung aber – in offensichtlicher Reaktion auf die Rechtsprechung des EuGH – suspendiert, wenn der Auftrag „für Wirtschaftsteilnehmer aus anderen Mitgliedstaaten der EU von Bedeutung“ ist. Auf Bundesebene gibt es keine vergleichbar spezielle vergaberechtliche Tariftreueregelung. § 97 Abs. 4 Satz 2 GWB erlaubt jedoch, zusätzliche Anforderungen an Auftragnehmer zu stellen, die etwa soziale Aspekte betreffen. Vorausgesetzt wird, dass diese im sachlichen Zusammenhang mit dem Auftragsgegenstand stehen und sich aus der Leistungsbeschreibung ergeben. Zugleich bestimmt § 97 Abs. 4 Satz 3 GWB, dass „andere oder weitergehende Anforderungen (. . .) an Auftragnehmer nur gestellt werden (dürfen), wenn dies durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist.“ Zugleich können auf Grundlage des ArbeitnehmerEntsendegesetz vom 20. April 2009 in bestimmten, dort aufgeführten Branchen Mindeststandards für Arbeitsbedingungen einschließlich Mindestlöhne vorgegeben werden. III. Verfassungsrechtliche Aspekte 1. Kompetenzielle Fragen

Betrachtet man die Problematik vergabespezifischer Mindestlöhne, also solcher Löhne, die bei der Ausführung öffentlich ausgeschriebener Aufträge bezahlt werden müssen, von der verfassungsrechtlichen Seite her, wird man zunächst eine Gesetzgebungskompetenz der Länder kaum bezweifeln können. So hat das BVerfG bereits in seiner Entscheidung vom 11. Juli 200613 festgestellt, dass zum Kompetenztitel „Recht der Wirtschaft“ auch das Recht der öffentlichen Auftragsvergabe einschließlich der an den Auftragnehmer gerichteten Anforderungen zu zählen ist. Hierbei handelt es sich ungeachtet der auch arbeitsrechtlichen Bezüge letztlich um Sonderregelungen für den Bereich der öffentlichen Beschaffung. Zwar hat der Bundesgesetzgeber auch in diesem Bereich über das sog. Kartellvergaberecht der §§ 97 ff. GWB eine umfangreiche Kodifikation vorgelegt. Dieser Kodifikation kann eine abschließende, die Landesgesetzgebung „sperrende“ Wirkung im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG indes nicht beigemessen werden. Dies dürfte sich bereits aus der Regelung des § 97 Abs. 4 GWB ergeben, der die Aufstellung von weitergehenden Eignungskriterien in die Kompetenz des Bundesund des Landesgesetzgebers stellt. 12

Brem. GBl. S. 476. BVerfG, Beschl. v. 11. Juli 2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (216) – Tariftreueerklärung II.; dem folgend VerfGH Bayern, Entsch. v. 20. Juni 2008 – Vf. 14-VII00, NZBau 2008, 659 (661). 13

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Immerhin wird eine Landeskompetenz zur Regelung von Mindestlöhnen im Schrifttum gelegentlich mit Blick auf die diversen bundesrechtlichen Instrumentarien zur Regelung von Mindestlöhnen diskutiert oder gar in Frage gestellt.14 Zu erwähnen ist insoweit namentlich das Regulierungsinstrument des ArbeitnehmerEntsendegesetzes, das im Wege der Verordnungsgebung eine Erstreckung bestimmter Tarifverträge auf ganze Branchen ermöglicht, daneben aber auch die Möglichkeit der (verordnungsgeberischen) Festsetzung von Mindestlöhnen in Branchen mit geringer Tarifbindung oder ohne relevante Tarifverträge auf der Basis des (Bundes-)Gesetzes über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen. Und in der Tat hat Anfang 2009 der Bayerische Verfassungsgerichtshof15 die Auffassung vertreten, dass eine Gesamtwürdigung der im Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen und im Arbeitnehmer-Entsendegesetz enthaltenen Bestimmungen ergebe, dass Art. 72 Abs. 1 GG keinen Raum für landesrechtliche Regelungen zur Festsetzung von Mindestlöhnen belasse. Freilich ging es im Rahmen dieses Verfassungsstreitverfahrens um die Frage der Zulässigkeit eines landesrechtlichen Volksbegehrens zur Einführung allgemeiner Mindestlöhne. Ob diese Fragestellung mit der Frage nach der Reichweite der vergaberechtlichen Regelungszuständigkeiten in Bezug gesetzt werden kann, erscheint fraglich. So ergibt sich ein gravierender Unterschied bereits insoweit, als das Recht der „allgemeinen“ Mindestlöhne nach allgemeiner Einschätzung dem Kompetenztitel des Arbeitsrechts nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zuzuordnen ist,16 während für das Vergaberecht – wie dargestellt – Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG einschlägig ist. Geht es aber um verschiedene Regulierungsbereiche, erscheint es nur konsequent, eine gegenseitige „Sperrwirkung“ sektorspezifischer Regulierungen grundsätzlich zu verneinen. Insofern ist davon auszugehen, dass die allgemeinen bundesrechtlichen Regelungen zur Frage von Mindestlöhnen spezifisch vergaberechtlichen Regelungen zu Fragen des Mindestlohnes bei der Erfüllung öffentlicher Aufträge nicht entgegenstehen. 2. Grundrechtliche Aspekte

a) Vergabespezifische Mindestlöhne im Lichte der Koalitionsfreiheit Wenig problematisch erscheint auf den ersten Blick auch die Frage der Vereinbarkeit eines vergabespezifischen Mindestlohnes mit Art. 9 Abs. 3 GG. So 14 So aus neuerer Zeit etwa C. Seiler, in: Epping/Hillgruber, GG-Komm., 2009, Art. 74 Rn. 47.2 unter Verweis auf BayVerfGH, Entsch. v. 3. Februar 2009 – Vf. 111IX/08, NZA 2009, 443; Hoppe/Menzenbach, NZA 2008, 1110 (1111 f.); s. a. A. Malottke, in: Sterkel/Schulten/Wiedemuth, Mindestlöhne gegen Lohndumping, 2006, S. 198, 200. 15 BayVerfGH, Entsch. v. 3. Februar 2009 – Vf. 111-IX/08, NZA 2009, 443; hiergegen aber wohl S. Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Komm., Bd. II, 6. Aufl., 2010, Art. 74 Rn. 103. 16 Vgl. S. Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG-Komm., Bd. II, 6. Aufl., 2010, Art. 74 Rn. 103.

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schützt das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG nach den Ausführungen des BVerfG nicht davor, „dass der Gesetzgeber die Ergebnisse von Koalitionsvereinbarungen zum Anknüpfungspunkt gesetzlicher Regelungen nimmt, wie es besonders weitgehend bei der vom BVerfG für verfassungsrechtlich zulässig angesehenen Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen geschieht“.17 Freilich wird mit dieser etwas pauschalen Betrachtung der Unterschied zwischen einer auf einen konkreten Tarifvertrag bezogenen (und von den Tarifvertragsparteien beantragten) Allgemeinverbindlicherklärung einerseits und einer allgemeinen gesetzgeberischen Verweisung auf (die jeweiligen) Tariflöhne im Rahmen von Tariftreuegesetzen nicht völlig offengelegt. Letztere bleibt als sog. „dynamische Verweisung“ auf demokratisch nicht legitimierte Normsetzungsakte richtigerweise nicht ohne Brisanz (unten 3.). Von der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts nicht unmittelbar erfasst erscheint schließlich auch der Fall einer autonomen gesetzgeberischen Festlegung des vergabespezifischen Mindestlohnes, zumal soweit dieser im Einzelfall über tariflichen Löhnen liegt. Freilich dürfte auch hier im Ergebnis nicht von einer verfassungswidrigen Verkürzung des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG auszugehen sein. b) Vergabespezifische Mindestlöhne und das Grundrecht der Berufsfreiheit Auch hinsichtlich der Berufsfreiheit erscheinen die Ausführungen des BVerfG in der Entscheidung vom 11. Juli 2006 wegweisend, so dass zwar von einer Eingriffsrelevanz vergabespezifischer Mindestlohnregelungen auszugehen ist,18 der Eingriff aber durch sachliche Gründe, insbesondere solche des Arbeitnehmerschutzes und der Vermeidung eines Verdrängungswettbewerbes, gerechtfertigt werden kann. Immerhin aber spricht viel dafür, dass sich der Gesetzgeber selbst abschließende Klarheit über Art und Umfang des mit einem vergabespezifischen Mindestlohn verbundenen Grundrechtseingriffs verschaffen muss und dementsprechend die Lohngrößen konkret selbst definiert. Zwar hat das BVerfG in seiner Entscheidung insoweit keine näheren Anforderungen gestellt und insbesondere eine Verweisung auf die „jeweils in Berlin geltenden Entgelttarife“ für zulässig erachtet.19 Eine differenzierende Betrachtung würde aber wohl spätestens 17 BVerfG, Beschl. v. 11. Juli 2006 – 1 BvL 4/00, BVerfGE 116, 202 (217 ff.) – Tariftreueerklärung II.; zu der vielstimmigen Diskussion um diesen Fragenkreis etwa J. Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, § 112 V 2 c ß (S. 2045 ff.). 18 So zuvor bereits J. Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 1866 f. 19 Deutlich strenger aber noch BVerfG, Beschl. vom 25. Februar 1988 – 2 BvL 26/ 84, BVerfGE 78, 32 ff., wo das Gericht in einem leistungsrechtlichen Kontext darauf hinwies, dass die Bemessung von Versorgungsleistungen nicht so geschehen dürfe, „dass der Bürger schrankenlos der normsetzenden Gewalt der Tarifvertragsparteien ausgesetzt wird.

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dann erforderlich, wenn zur Berechnung der Mindestlöhne auf bundesrechtliche Maßstäbe, also etwa auf Sätze in Anlehnung an die jeweiligen Regelleistungen nach SGB II (sog. Hartz IV-Gesetz) rekurriert würde. c) Die Problematik „dynamischer Verweisungen“ auf Bundesrecht Derartige „dynamische“ Verweisungen, die somit Änderungen des bezogenen Bundesrechtes ohne erneuten Verweisungsakt des Landesgesetzgebers adaptieren, werden im Schrifttum mit guten Gründen höchst kritisch bewertet. So führt etwa Klaus Stern in seinem „Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland“ überzeugend aus, dass „Verweisungen, die auf die jeweilige Fassung des Verweisungsobjektes Bezug nehmen – sogenannte dynamische Verweisungen – (. . .) aus Gründen des rechtsstaatlichen Prinzips als auch des demokratischen Prinzips unzulässig (sind), weil der verweisende Gesetzgeber keinen bestimmten ihm vor Augen stehenden Normenkomplex rezipiert“.20 Zwar haben sich die Fachgerichte dieser strengen Sichtweise bislang nicht durchgängig angeschlossen und Verweisungen des Landesrechts auf Bundesrecht vielfach nicht beanstandet.21 Für diese großzügige Sichtweise wird dabei ins Feld geführt, dass der Landesgesetzgeber mit dynamischen Verweisungsregelungen durchaus autonom von seinen Regelungsbefugnissen Gebrauch mache, diese also keineswegs delegiere.22 Allerdings finden sich auch gegenteilige Ansätze. Hinzuweisen ist etwa auf eine Entscheidung des Bad.-Württ. VGH, der die landesstaatliche Verweisung auf eine Bundesnorm als „statische“ Verweisung interpretierte, da im anderen Falle verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine dynamisch heteronome Verweisung bestünden. Diese nämlich führe zu einer grundsätzlich unzulässigen Verlagerung von Gesetzgebungsbefugnissen.23 Auch das BVerfG hat sich – wenngleich in anderem Zusammenhang – kritisch gegenüber dynamischen Verweisungen jedenfalls dort geäußert, wo diese in eine die Berufsfreiheit beschränkende Regelung eingebettet sind und damit dem Gesetzesvorbehalt (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG) unterliegen. So führt es aus, dass der Gesetzesvorbehalt sicherstellen solle, dass „der nach der Verfassung zuständige Gesetzgeber seinerseits in dem dafür vorgeschriebenen Verfahren prüft und entscheidet, in welchem Umfang und aus wel20 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, § 37 III 10 d (S. 635); in gleiche Richtung auch J. Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, § 111 V 3 (S. 1887); ferner F. Ossenbühl, DVBl. 1967, 401, 408 m.w. N.; aus neuerer Zeit auch D. Ehlers, DVBl. 1977, 693, 394 m.w. N.; D. Gamber, VBlBW. 1983, 197; M. Sachs, NJW 1981, 1651: „ausnahmslos verfassungswidrig“. 21 Vgl. etwa zu beamtenrechtlichen Reisekostenvergütungen BVerwG, Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 46 S. 81; zu Verweisungen auf Beihilfevorschriften des Bundes s. OVG Berlin, OVGE Berlin 22, S. 114, 118; weitere Beispiele bei A. G. Debus, Verweisungen in deutschen Rechtsnormen, S. 184 f. 22 So A. Uhle, in: Maunz/Dürig, GG-Komm., Art. 70, Lsbl. (Stand: 2008) Rn. 153. 23 VGH Mannheim, Urt. v. 17. Juni 1999 – 2 S 256/99, VBlBW 1999, 464.

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chen Gründen die freie Berufsausübung . . . (scil.: hier der Notare durch Gebührenermäßigungspflichten) eingeschränkt werden soll. Eine solche eigenverantwortliche Prüfung und Entscheidung durch den zuständigen Gesetzgeber wäre nicht gesichert, wenn es sich bei der Bezugnahme . . . (scil.: der einschlägigen Norm) um eine dynamische Verweisung handeln würde.“ 24 Da Regelungen im Vergaberecht zur Tariftreue bzw. zur Einhaltung von Mindestlöhnen aber als Berufsausübungsregelung zu qualifizieren sind, erscheint eine Übertragung dieser restriktiven Rechtsprechung im Falle des Rückgriffs auf bundesrechtlich zu normierende Regelsätze keineswegs ausgeschlossen wenn nicht gar naheliegend und konsequent. Dies aber müsste dann zu dem Schluss führen, dass vom Landesgesetzgeber auch eine konkrete eigene Entscheidung über die Höhe des anzusetzenden Mindestlohnes abverlangt werden muss. Die Entscheidung kann nicht in die faktische Regelungszuständigkeit des Bundesgesetzgebers abgegeben werden. IV. Unionsrechtliche Aspekte 1. Die Entsende-Richtlinie als Prüfungsmaßstab

Von noch höherer Brisanz dürften die unionsrechtlichen Fragen einer Festsetzung vergabespezifischer Mindestlöhne sein, die nach dem Ansatz des EuGH zunächst an den Vorgaben der Entsende-Richtlinie zu messen sind. Als zentraler Streitpunkt hat sich insoweit der Frage entpuppt, ob und inwieweit ein Rückgriff auf die Dienstleistungsfreiheit zulässig und möglich ist, wenn sich der nationale Gesetzgeber – anders als im Falle des seinerzeit umstrittenen niedersächsischen Tariftreuegesetzes – der durch die Richtlinie zugelassenen normativen Instrumente zur Festlegung des Mindestlohnes bedient. Nach Artikel 3 Abs. 1 der Entsende-Richtlinie genügen den Anforderungen des Sekundärrechts an die Festsetzung von Arbeitsbedingungen allein Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/ oder für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche. Reicht die Inanspruchnahme dieser Handlungsinstrumentarien also aus, um der vom EuGH in der Rüffert-Entscheidung praktizierten Reflexion vergabespezifischer Mindestlöhne im Lichte der Dienstleistungsfreiheit zu entgehen? Die Frage kann richtigerweise nur verneint werden. Gewiss geht der EuGH in seiner Rechtsprechung grundsätzlich davon aus, dass jede nationale Regelung in einem Bereich, der auf Unionsebene harmonisiert wurde, anhand der fraglichen Harmonisierungsmaßnahme und nicht des primären Unionsrechts zu beurteilen ist.25 Auch hierbei aber sind die den Mitgliedstaaten verliehenen Befugnisse je24 BVerfG, Beschl. v. 1. März 1978 – 1 BvR 786, 793/70, 168/71, 95/73, NJW 1978, 1475 (1476); hierzu auch J. Dietlein, in: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, § 111 V 3 (S. 1887). 25 EuGH, Urt. v. 11. Dezember 2003 – C-322/01, Slg. 2003 I-14887 – Doc Morris; Urt. v. 13. Dezember 2001 – C-324/99, Slg. 2001 I-9897, Rn. 32 – Daimler Chrysler.

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weils unter Beachtung des Primärrechts wahrzunehmen. Auch bei klaren sekundärrechtlichen Vorgaben für die Mitgliedsstaaten müssen staatliche Regelungen daher dahingehend geprüft werden, ob sie im Einklang mit dem Primärrecht stehen. Erst recht ergibt sich eine primärrechtliche Bindung dort, wo die Vorgaben einer Richtlinie enden. Auch wenn der EuGH nur ausnahmsweise die Vereinbarkeit von Sekundärrecht mit den Grundfreiheiten überprüft,26 bedeutet dies im Ergebnis, dass auch im Unionsrecht eine Hierarchie der Normen zu beachten ist, zumal anderenfalls dem Verordnungsgeber etwa eine Dispositionsbefugnis über Grundsätze des AEUV zukäme und er ohne Einhaltung der formellen Regeln (Art. 48 EUV für Änderungen des europäischen Primärrechts) den ihn in Schranken weisenden AEUV ändern könnte. Ergänzend ist auf allgemeine Grundsätze des Unionsrechts zurückzugreifen, wenn die sekundärrechtlichen Regeln Spielräume oder Auslegungsunklarheiten auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite richtlinienrechtlicher Regelungen lassen.27 Nichts anderes dürfte gemeint sein, wenn der EuGH in seiner Rüffert-Entscheidung28 ausführt, dass die Entsende-Richtlinie auch „im Licht des Art. 49 EG“ zu würdigen ist. Hiermit geht es dem EuGH also nicht darum, die Dienstleistungsfreiheit isoliert und unabhängig von der einschlägigen Richtlinie zu prüfen; vielmehr basiert der Ansatz des Gerichtshofs auf der zutreffenden Erwägung, dass die Garantien der Dienstleistungsfreiheit die Auslegung und Anwendung der Richtlinie steuern. Insofern kann nach hiesiger Auffassung auch nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Berücksichtigung der Dienstleistungsfreiheit bereits dann erübrigte, wenn ein Landesgesetzgeber in den formalen Bahnen des Art. 3 Abs. 1 1. Spiegelstrich der Arbeitnehmer-Entsenderichtlinie einen eigenen vergabespezifischen Mindestlohn formuliert und nicht – wie im Fall Rüffert – lediglich auf einen nicht für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag verweist. Jede andere Auslegung erschiene schon deshalb problematisch, weil sie die aus der Dienstleistungsfreiheit abgeleitete materielle Forderung des EuGH nach der Sicherstellung eines umfassenden Arbeitnehmerschutzes ersichtlich leerlaufen ließe. Ohnehin wäre der etwa von Schmid und Rödl 29 vertretene Ansatz einer die Reichweite der Grundfreiheit begrenzenden Regelungshoheit des Richtliniengebers allenfalls dann überzeugend, wenn die Regelungen der Entsenderichtlinie 26 Eingehend D. Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009, § 7 Rn. 9 m.w. N. 27 Hierzu eingehend im (harmonisierten) umsatzsteuerlichen Kontext J. Dietlein/ K.-D. Drüen, Grundlagen und Reichweite des Vertrauensschutzes bei Ausfuhrlieferungen im nichtkommerziellen Reiseverkehr, 2010, S. 19 ff.; speziell für das Vergaberecht etwa M. Bungenberg, in: Loewenheim/Meesen/Riesenkampff (Hrsg.), KartellR Bd. 2: GWB, § 97 Rn. 5. 28 Rn. 36. 29 Chr. U. Schmid/F. Rödl, Gutachten zu Bedarf und Möglichkeit einer Novellierung des Berliner Vergabegesetzes pp., S. 45 ff., abrufbar unter http://www.berlin.de/imperia/ md/content/sen-wirtschaft/auftragswesen/gutachten_roedl.pdf.

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gerade auf einen vergabespezifischen Mindestlohn hin angelegt wären, was aber erkennbar nicht der Fall ist. Unabhängig von der rein dogmatischen Frage, ob die Dienstleistungsfreiheit „isoliert“ zu prüfen ist oder lediglich im Rahmen der Auslegung der EntsendeRichtlinie, bedarf es im Folgenden eines genaueren Blickes auf diese Grundfreiheit. 2. Die Mindestlohn-Modelle als Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit

Die mittelbar von den Tariftreuepflichten betroffenen Unternehmen genießen, soweit nicht der Verkehrssektor tangiert ist, die Dienstleistungsfreiheit und sind in dieser Grundfreiheit auch beschränkt. Die entscheidende Frage lautet daher, ob und inwieweit sich der damit verbundene Eingriff rechtfertigen lässt. In diesem Kontext stellen die Äußerungen des EuGH nicht lediglich ein „unverbindliches“ obiter dictum dar, sondern eine (ergänzende) Interpretation der einschlägigen Richtlinie, der im Rahmen der Rechtfertigungsanforderungen für die Normierung vergabespezifischer Mindestlöhne uneingeschränkt Rechnung zu tragen ist. Dies gilt umso mehr, als die dortigen Ansätze – wie zu zeigen sein wird – durchaus der bisherigen Linie des Gerichts entsprechen. a) Der sachliche und persönliche Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit Die Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 56 AEUV schützt den freien Verkehr von Dienstleistungen innerhalb des Gemeinsamen Marktes in der Europäischen Union. Der Begriff der Dienstleistungen wird in Art. 57 Abs. 1 AEUV definiert als „Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen.“ Bereits aus dieser spezifisch unionsrechtlichen Definition werden die Auffangfunktion und die Notwendigkeit klar, den Begriff der Dienstleistung negativ zu bestimmen. Für die Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit ist entscheidend – und hier zeigt sich die Parallele zum Anwendungsbereich der Entsende-Richtlinie –, auf den vorübergehenden Charakter der Dienstleistung abzustellen, der sich nach Dauer, Häufigkeit und Kontinuität der erbrachten Leistungen bestimmt.30 Hinzu kommt regelmäßig ein Entgelt als Merkmal einer erwerbswirtschaftlichen Ausrichtung als Aspekt der Beteiligung am Wirtschaftsleben.31 In Abgrenzung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit muss die

30

Vgl. EuGH, Urt. v. 30. November 1995, C-55/94, Slg. 1995, I-4165 Rn. 27 – Geb-

hard. 31 Eingehend etwa E. Pache, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009, § 11 Rn. 29 f.

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geschützte Dienstleitung selbstständig und – wie alle von Grundfreiheiten erfassten Handlungen – mit grenzüberschreitendem Bezug erbracht werden, so dass die unionsrechtliche Relevanz entfiele im Falle einer Beschränkung der TariftreueVerpflichtung auf Verfahren ohne Auslandsbezug. Geschützt werden sowohl Dienstleistungserbringer als auch Dienstleistungsempfänger bzgl. aller Facetten der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung.32 Sofern eine ausgeschriebene Leistung grenzüberschreitenden Charakter haben kann, es also etwa möglich ist, dass sich ein ausländisches Unternehmen für den Auftrag interessiert und in einen wirksamen Wettbewerb mit den dort ansässigen Konkurrenten treten will, unterfällt auch die Vergabe öffentlicher Aufträge den Vorgaben der Dienstleistungsfreiheit.33 Marktzugangsbeeinträchtigungen können hierbei selbst unterhalb der vergaberechtlichen Schwellenwerte gegen die Dienstleistungsfreiheit verstoßen.34 b) Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit Die Dienstleistungsfreiheit steht sowohl (direkten und indirekten) Diskriminierungen als auch sonstigen ungerechtfertigten Beschränkungen entgegen. Der EuGH sieht eine Tariftreueverpflichtung zutreffend als Beschränkung der Gewährleistungen aus Art. 49 EG (nunmehr Art. 56 AEUV) an. aa) Geltung der Rüffert-Entscheidung auch für gesetzlich fixierte Mindestlöhne In seiner Rüffert-Entscheidung hatte sich der EuGH speziell mit der Bindung der Zuschlagsempfänger (und deren Nachunternehmer) an Mindestentgelte eines Tarifvertrages zu befassen. Derartige Maßnahmen stufte der Gerichtshof – ähnlich wie das BVerfG in der oben dargestellten Entscheidung vom 11. Juli 2006 – als Freiheitsbeschränkungen ein, die die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen (Rn. 37) und daher dem Erfordernis einer Rechtfertigung unterliegen. Diese Rechtsprechung muss in gleicher Weise auf vergabespezifische Mindestlöhne erstreckt werden, die sich nicht aus Tarifverträgen ableiten, sondern unmittelbar vom Gesetzgeber betragsmäßig fixiert werden. Denn ersichtlich macht es – außer unter Transparenzgesichtspunkten – keinen Unterschied, ob die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelas32 Vgl. dazu EuGH, Urt. v. 26. Februar 1991, C-154/89, Slg. 1991 I-659, Rn. 9 ff. – Kommission/Frankreich. 33 Vgl. EuGH, Urt. v. 15. Mai 2008, verb. Rs. C-147/06 und C-148/06, Slg. 2008 I-3565, Rn. 28 ff. – SECAP; Urt. v. 21. Februar, C-412/04, Slg. 2008 I-619, Rn. 66 – Kommission/Italien. 34 Vgl. EuGH, Urt. v. 15. Mai 2008, verb. Rs. C-147/06 und C-148/06, Slg. 2008 I-3565, Rn. 35 – SECAP.

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senen Unternehmen, die dort niedrigere Lohnsätze zahlen, zur Einhaltung von Mindestlohnvorgaben aus einem hiesigen Tarifvertrag oder aber unmittelbar aus der Hand des Gesetzgebers verpflichtet werden. So entspricht es dem Grundansatz der Dienstleistungsfreiheit, dass einem grenzüberschreitend agierenden Unternehmen die Freiheit zukommen soll, grundsätzlich alle ihm zur Verfügung stehenden Wettbewerbsvorteile einschließlich geringerer Arbeitskosten ausschöpfen zu können. Die Beschränkung dieser Freiheit ist damit als Eingriff in die Dienstleistungsfreiheit zu qualifizieren. bb) Keine Anwendbarkeit der sog. Keck-Rechtsprechung Nicht tragfähig dürfte der im Schrifttum vereinzelt unternommene Versuch sein, die Anwendbarkeit der Dienstleistungsfreiheit im vorliegenden Kontext unter Rückgriff auf die sog. Keck-Rechtsprechung des EuGH ausschließen zu wollen.35 In einem Urteil zur Warenverkehrsfreiheit hatte der EuGH im Jahre 1993 die Anwendung der Warenverkehrsfreiheit nach Art. 34 AEUV (vormals Art. 28 EG) abgelehnt, weil er das Weiterverkaufsverbot zum Verlustpreis als allgemeine Verkaufsmodalität ansah. Eine solche sei aber aus dem Anwendungsbereich der Grundfreiheit ausgeklammert.36 Auch wenn man mit dem EuGH und unter Beachtung der sog. Konvergenz der Grundfreiheiten – d. h. der parallelen Auslegung und Anwendung aller Grundfreiheiten – die Grundsätze der sog. KeckRechtsprechung durchaus auf die Dienstleistungsfreiheit übertragen kann,37 führt dies vorliegend nicht dazu, aus diesem Grund die Geltung der Dienstleistungsfreiheit abzulehnen.38 Denn nach den Grundsätzen der sog. Keck-Rechtsprechung können nur solche Regelungen von Beschränkungsverbot des Art. 56 AEUV ausgenommen werden, die – den Marktzugang ausländischer Dienstleistungen nicht behindern, – nach erfolgtem Marktzugang unterschiedslos gelten und – das Erbringen und Empfangen von Dienstleistungen aus dem Inland und dem EU-Ausland tatsächlich in gleicher Weise betreffen.39 Eben diese Konstellation liegt hier ersichtlich nicht vor. Denn die Mindestlohn-Verpflichtungen sollen ihrem Zweck nach Wettbewerbsverzerrungen entgegenwirken, die gerade dadurch entstehen, dass Unternehmen aus anderen Mit35 In dieser Richtung aber W. Däubler, Gutachterliche Stellungnahme zur Tariftreueklausel nach der Rüffert-Entscheidung des EuGH, 2008, Punkt B.II.2.; wie hier U. Becker, JZ 2008, 891 (892). 36 EuGH, Urt. v. 24. November 1993, verb. Rs. C-267/91 und 268/91, Slg. 1993, I-6097, Rn. 16 f. – Keck. 37 So auch EuGH, Urt. v. 10. Mai 1995, Rs. C-384/93, Slg. 1995, I-1141 – Alpine Investments. 38 Wie hier U. Becker, JZ 2008, 891 (892). 39 Deutlich noch Chr. Koenig/A. Haratsch, Europarecht, 4. Aufl. 2003, Rn. 679.

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gliedsstaaten mit niedrigeren Löhnen kalkulieren können. Es geht mithin darum, eben diesen ausländischen Unternehmen den Kalkulationsvorteil niedrigerer Arbeitskosten zu nehmen und zugleich deren Marktzutritt zu erschweren. Weder kann damit von einer gleichen Betroffenheit in- und ausländischer Unternehmen ausgegangen werden, noch kann angenommen werden, dass vergaberechtliche Mindestlöhne ohne Einfluss auf den Marktzugang ausländischer Dienstleister blieben. Vergabespezifische Mindestlöhne als „reine Verkaufsmodalität“ aufzufassen, würde den Bedeutungsgehalt der Dienstleistungsfreiheit verkennen und ein finales Marktzutrittshindernis legitimieren. Die vergaberechtlichen Mindestlohn-Verpflichtungen sind daher richtigerweise Beschränkung im klassischen Sinne.40 c) Rechtfertigung der Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit? Die Feststellung, dass die Normierung eines vergabespezifischen Mindestlohnes beschränkend in die Dienstleistungsfreiheit eingreift, führt keineswegs a priori zur Unionsrechtswidrigkeit einer entsprechenden Maßnahme. Vielmehr können Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit über geschriebene (Art. 62 i.V. m. Art. 52 AEUV) oder ungeschriebene Begrenzungsvorbehalte gerechtfertigt sein. Vorliegend sind dabei Letztere näher in den Blick zu nehmen: Bei allgemeinen Beschränkungen kann danach zur Rechtfertigung von Eingriffen auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses zurückgegriffen werden, wenn die Beschränkungen zur Verwirklichung dieses Allgemeininteresses in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden und verhältnismäßig sind.41 aa) Zwingende Gründe des Allgemeininteresses Der bisher in der Rechtsprechung des EuGH aufgestellte Katalog der zwingenden Gründe des Allgemeininteresses ist nicht abschließend und grundsätzlich offen für alle Belange „nicht-wirtschaftlicher Art“. Nicht gestattet ist dagegen die Verfolgung wirtschaftlicher Interessen, namentlich in Form des Schutzes inländischer Unternehmen.42 Gehört danach der Schutz der Arbeitnehmer gewiss zu den potentiellen nicht-wirtschaftlichen Allgemeininteressen, fällt dennoch auf, dass der EuGH im vorliegenden Kontext womöglich weitere Differenzierungen vornimmt bzw. zusätzliche Anforderungen an die gesetzlichen Zielvorgaben stellt. So heißt es in der Rüffert-Entscheidung (Rn. 38, 39), dass der dort geprüfte Mindestlohn bereits „nicht als durch das Ziel des Arbeitnehmerschutzes als gerecht40

So auch U. Becker, JZ 2008, 891 (892). Statt aller E. Pache, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl., 2009, § 11 Rn. 70 ff. 42 Zum Ausschluss wirtschaftlicher Ziele vgl. etwa EuGH, Urt. v. 25. Oktober 2001 – verb. Rs. C-49/98 u. a., Slg. 2001 I-7831, Rn. 39 m.w. N. – Finalarte. 41

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fertigt angesehen werden“ könne, da zum einen die in privatem Auftrage tätigen Arbeitnehmer unberücksichtigt blieben und zum anderen der in Bezug genommene Tarifvertrag nicht für allgemein verbindlich erklärt worden sei. Dieser dogmatische Ansatz des EuGH ist im Schrifttum nicht ohne Grund als „mysteriös“ qualifiziert worden.43 Denn es wird nicht wirklich deutlich, ob der EuGH mit seiner kritischen Analyse bereits auf der Ebene des zwingendes Allgemeininteresses ansetzen und damit ein legitimes Eingriffsziel a priori verneinen will44 oder ob er – unter Billigung der zugrunde liegenden Zielsetzung – eine Eingriffsrechtfertigung lediglich mangels Eignung oder Kohärenz des konzipierten Schutzsystems ausschließt,45 was dann ggf. Spielräume für konsistente Lösungen eröffnete. Bei restriktiver Betrachtung könnte die Entscheidung durchaus dahin verstanden werden, dass der EuGH bereits die Legitimität bzw. den „zwingenden“ Charakter der Zielsetzung eines vergabespezifischen Mindestlohnes in Frage stellen will, solange dieser über den in dem Land allgemein-verbindlich statuierten (Mindest-)Lohnstandard hinausgeht. Legt man diese Sichtweise zugrunde, prüft der EuGH nicht etwa die Erforderlichkeit des Eingriffs, sondern die Erforderlichkeit des Schutzes.46 Es wäre danach zwar Sache des Mitgliedstaates, den Mindestschutz – auch hinsichtlich der Entlohnung – umfassend und mit allgemein-verbindlicher Wirkung festzulegen. Das hiernach Verbindliche markierte dann aber zugleich den (maximal einforderbaren) Schutzstandard, der wirklich „erforderlich“ ist und als zwingendes Allgemeininteresse akzeptiert wird.47 Umgekehrt bedeutete dies, dass ein vergabespezifischer Mindestlohn, welcher nicht umfassend verbindlich normiert ist, nach der maßgeblichen nationalen Betrachtungsweise auch nicht erforderlich – oder gar (als Mindestschutz) legitim – sein kann. Und immerhin könnte auch die Finalarte-Entscheidung des EuGH in eine derartige Richtung zu verstehen sein, wenn es dort heißt, dass „der freie Dienstleistungsverkehr (. . .) als fundamentaler Grundsatz des Vertrages nur durch Regelungen beschränkt werden (darf), die durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten, soweit dieses Interesse nicht durch die Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist“.48 Konkret bedeutete dies, dass das Maß des erforderlichen Schutzes stets in allgemein-verbindlicher Form 43

E. Kocher, DB 2008, 1042, 1044. So wohl E. Kocher, DB 2008, 1042, 1044. 45 So wohl U. Becker, JZ 2008, 891, 893: mangelnde „Konsequenz“; M. Bungenberg, EuR 2008, 397, 405: mangelnde „Geeignetheit“. 46 So dezidiert E. Kocher, DB 2008, 1042, 1044. 47 Vgl. E. Kocher, DB 2008, 1042, 1044: „Arbeitnehmerschutz ist danach nur insoweit legitim, als er nicht das Maß des Erforderlichen überschreitet.“ 48 EuGH, Urt. v. 25. Oktober 2001 – verb. Rs. C-49/98 u. a., Slg. 2001 I-7831, Rn. 31 – Finalarte (Hervorhebung nicht im Original) unter Verweis auf die Urteile Arblade u. a., Rn. 34, sowie Mazzoleni und ISA, Rn. 25. 44

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normiert sein muss, um Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit legitimieren zu können. Hinsichtlich der Frage des Mindestlohnes würde danach faktisch die Messlatte des Arbeitsnehmerentsendegesetzes gelten, das damit zugleich das maximale Schutzniveau für legitime, dem Arbeitnehmerschutz dienende Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit normierte. Soweit danach ein bundesweit verbindlicher Mindestlohnstandard nicht besteht und ein Landesgesetzgeber – sei es aus kompetenziellen oder sonstigen Gründen – nicht in der Lage ist, einen allgemein wirksamen Schutzstandard zu formulieren, bliebe ihm der Rückgriff auf begrenzte Regulierungsmaßnahmen wie Tariftreueerklärungen, die gleichermaßen Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit enthalten, a priori verwehrt. Die Tragweite dieses Ansatzes ist dabei erheblich und wird von Kocher prägnant auf den Punkt gebracht: „In der Konsequenz bedeutet diese Entscheidung das Aus für die bislang in Deutschland gebräuchlichen Tariftreueerklärungen“.49 bb) Kontrollintensität des Europäischen Gerichtshofs Freilich erscheint die dargelegte Interpretation der EuGH im Sinne einer Ablehnung der Legitimität des verfolgten Zieles keineswegs eindeutig oder gar zwingend. So erscheint es durchaus möglich, die Ausführungen des EuGH auch im Sinne einer – in verkürzter Form vorgetragenen – Kritik an der mangelnden Verhältnismäßigkeit (Geeignetheit/Kohärenz) des geprüften Regelungskonzeptes zu interpretieren,50 was dann zu (begrenzten) Regelungsspielräumen der einzelnen Länder führen könnte. Zum Verständnis dieses Ansatzes ist vorab zu bemerken, dass die Prüfungsintensität des EuGH hinsichtlich der Tauglichkeit nationaler Beschränkungen der Grundfreiheiten durchaus dichter ist als vom BVerfG gewohnt und nicht selten zu Ergebnissen führte, die von der Linie des BVerfG abweichen; prominentestes Beispiel hierzu sind gewiss die Sportwetten-Entscheidungen des EuGH vom 8. September 2010,51 die hinsichtlich der Anforderungen an die innere Stimmigkeit der nationalen Regelungen deutlich über die Anforderungen der parallelen Entscheidungen des BVerfG vom 28. März 200652 und vom 20.3.200953 hinausgehen. Bezeichnend ist zumal, dass der EuGH auch die Wahrhaftigkeit der von den Mitgliedstaaten vorgegebenen Intention zur Prüfung stellt und bestimmte Maßnahmen nur dann akzeptiert, wenn diese „wirklich“ den vorgeblichen Zielen des Allgemeininteresses zu dienen bestimmt sind bzw. „tatsächlich“ dem Anliegen gerecht werden, das verfolgte Ziel „in kohärenter und systematischer Weise 49

E. Kocher, DB 2008, 1042, 1044. In diese Richtung wohl auch U. Becker, JZ 2008, 891, 893; M. Bungenberg, EuR 2008, 397, 405, der von einer mangelnden Geeignetheit des Eingriffs ausgeht. 51 Veröffentlicht u. a. in ZfWG 2010, S. 332 ff. 52 BVerfGE 115, 276 ff. 53 BVerfG (K), ZfWG 2009, 99, 101. 50

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zu erreichen“.54 In eben diesem Sinne enthält auch die Rüffert-Entscheidung Argumentationsansätze, die eine Zuordnung der richterlichen Argumentation zum Bereich der Verhältnismäßigkeitsprüfung nahe legen. So weist die Argumentation des Gerichts im Ergebnis eine deutliche Nähe zu dem sog. Kohärenzdenken des EuGH auf, wenn er einer auf den Gedanken des Arbeitnehmerschutzes gegründeten Rechtfertigung des vergabespezifischen Mindestlohnes in Niedersachsen unter Hinweis auf die mangelnde Schlüssigkeit des Schutzkonzepts entgegen tritt. Anders als das BVerfG, das die Zielvorgaben des Gesetzgebers grundsätzlich als zutreffend unterstellt und hinsichtlich der Erforderlichkeit einer Maßnahme bereits „Schritte in die richtige Richtung“ für eine Legitimation von Grundrechtseingriffen hinreichen lässt, verfolgt der EuGH danach traditionell eine strengere Linie. Ausgehend von der Prämisse, dass wirtschaftliche Ziele nicht geeignet sind, Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit zu rechtfertigen, überprüft er, welche Ziele der Mitgliedsstaat verfolgt, und löst sich dabei auch von den offiziellen Gesetzesbegründungen.55 Dabei endet die Überprüfung nicht bei der Frage, welche – zulässigen wie unzulässigen – Ziele ergänzend verfolgt werden. Der Gerichtshof schließt vielmehr – wie auch in der Rüffert-Entscheidung – letztlich eine Prüfung der konzeptionellen Folgerichtigkeit bzw. der Kohärenz der beschränkenden Regelung an. Diese namentlich aus der glücksspielrechtlichen Judikatur bekannte Prüfung wurde von Generalanwalt Mengozzi unlängst mit dem Begriff des „hypocrisy test“ (Heuchelei-Test) belegt,56 womit deutlich wird, dass der EuGH letztlich auf die Frage der Glaubwürdigkeit nationaler Regulierung abstellt und – in vorliegendem Kontext – insbesondere einem Missbrauch von Arbeitnehmerschutzregelungen zum Zwecke eines verdeckten (Struktur-) Protektionismus entgegen wirken will.57 Allein der Umstand, dass der EuGH beanstandet, dass Arbeitnehmer im Rahmen privater Beauftragungen von den Schutzvorschriften nicht erfasst sind, kann dabei als Argument dahin gedeutet werden, dass dieser nicht die Legitimität des 54 Explizit mit diesem Zusatz etwa EuGH, Urt. v. 6. Oktober 2009, Rs. C-153/08, BeckRS 2009, 71103 Rz. 38; Urt. v. 6. März 2007 – C-338/04, C-359/04 und C-360/ 04, C-338/04, C-359/04, C-360/04, Slg. 2007 I-1891, Rn. 53 – Placanica. 55 EuGH, Urt. v. 25. Oktober 2001 – verb. Rs. C-49/98 u. a., Slg. 2001 I-7831, Rn. 39 – Finalarte: „Zwar kann die Absicht des Gesetzgebers, wie sie bei den politischen Debatten vor dem Erlass eines Gesetzes oder in dessen Begründung zum Ausdruck kommt, einen Anhaltspunkt für das durch dieses Gesetz verfolgte Ziel darstellen, sie kann aber nicht ausschlaggebend sein. Das vorlegende Gericht muss vielmehr prüfen, ob die in den Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung bei objektiver Betrachtung den Schutz der entsandten Arbeitnehmer (als zwingender Grund des Allgemeininteresses, d.V.) fördert.“ 56 Generalanwalt Mengozzi, Schlussantrag v. 4. März 2010 in den verbundenen Rechtssachen C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C-410/07 – Markus Stoß u. a., Rn. 50 –. 57 F. Bayreuther, NZA 2008, 626 (628); hierzu auch M. Bungenberg, EuR 2008, 397, 404.

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Ziels des Arbeitnehmerschutzes insgesamt bzw. eines durch Landesrecht (partikular) realisierten Arbeitnehmerschutzes verwerfen will, sondern lediglich die Tauglichkeit des vom Landesgesetzgeber gewählten Schutzkonzeptes bestreitet, seine Kritik im Falle einer vollständigen Erfassung des Regelungssektors also nicht aufrechterhalten hätte. cc) Konsequenzen für die Frage nach einem vergabespezifischen Mindestlohn Mit dieser Konkretisierung wird deutlich, dass der Denkansatz des EuGH – wie auch die Entscheidung zu der Tariftreueverpflichtung in Niedersachsen dokumentiert – eine nicht unerhebliche Nähe zu dem aus dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteten Grundsatz der „Systemgerechtigkeit legislativen Handelns“ aufweist. Freilich geht der Ansatz des EuGH hierbei deutlich über den gleichheitsrechtlichen Ansatz des BVerfG hinaus. Denn zum einen kommt einem Systemverstoß nach nationaler Verfassungsjudikatur allein „indizielle“ Wirkung im Hinblick auf einen Grundrechtsverstoß zu,58 zum anderen prüft das BVerfG die Frage eines Systemverstoßes nie „gesetzesübergreifend“, sondern nur „gesetzesimmanent“, während der EuGH das gesamte Regulierungsgefüge in den Blick nimmt. Aber auch wenn man diesen – gegenüber dem unter a) dargestellten Interpretationsansatz eher zurückhaltenden – Maßstab zugrunde legt, ist davon auszugehen, dass vergabespezifische Mindestlöhne, die die Arbeitnehmer in einem relevanten Bereich privater Auftragsvergaben ohne Schutz zurücklassen, notwendig erheblichen unionsrechtlichen Risiken ausgesetzt sein werden. Aus Sicht des Europäischen Rechts stellt sich die Situation damit kaum anders dar als im Falle des Verneinens eines legitimen Ziels: Es liegt vielmehr nahe, dass der EuGH die nicht-wirtschaftlichen Gründe wie etwa den Schutz der (entsandten) Arbeitnehmer als vorgeschoben erachtet, da der Schutz andernfalls auch bei privaten Auftragsvergaben greifen würde. Hierbei bleibt aufgrund der europarechtlichen Perspektive auf den Mitgliedstaat als Ganzen ohne Relevanz, ob dem handelnden Normgeber nach der innerstaatlichen Kompetenzzuweisung Weitergehendes überhaupt möglich wäre. dd) Regulierung von Sektoren mit öffentlicher Auftragsdominanz Anders als die oben aufgezeigte Reduktion der legitimen Zielsetzungen [oben a)] öffnete die kohärenzrechtliche Interpretation der EuGH-Entscheidung allerdings Handlungsoptionen dort, wo dem vergabespezifischen Mindestlohn von vornherein nur solche Sektoren zugeführt werden, die sich vollständig oder „im 58 BVerfG, Beschl. v. 15. Mai 1984 – 1 BvR 464/81, 1 BvR 427/82, 1 BvR 440/82, 1 BvR 605/81, BVerfGE 67, 70 (84); Beschl. v. 1. Juli 1987 – 1 BvL 21/82, BVerfGE 76, 130 (139 f.); eingehend zuletzt J. Dietlein, ZfWG 2010, 159, 162 f.

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Wesentlichen“ aus öffentlichen Aufträgen speisen. So ließe sich erwägen, dass sich auf diese Weise ein zwar territorial begrenztes [hierzu sogleich ee)], aber insoweit dort konsistentes Schutzkonzept realisieren ließe. Allerdings verbleiben auch insoweit unionsrechtliche Risiken. So wäre zunächst eine plausible Grenzziehung dahin erforderlich, ab welcher Prozentschwelle Leistungen „im Wesentlichen“ durch öffentliche Auftraggeber beauftragt werden. Zugleich müssten für jede Branche zunächst die nötigen Daten erhoben werden, um die mögliche Dominanz öffentlicher Auftraggeber zu beurteilen.59 Insgesamt dürfte dieser „öffentlich“ dominierte Bereich überschaubar bleiben. ee) Unionsrechtliche Zulässigkeit landesstaatlicher „Alleingänge“ Relevant erscheint schließlich die Frage, inwieweit – selbst bei einer Beschränkung vergabespezifischer Mindestlöhne auf Bereiche, die im Wesentlichen von öffentlichen Aufträgen leben – eine landesstaatliche Parzellierung des Schutzstandards unionsrechtlich Bestand haben könnte. Die Rüffert-Entscheidung selbst bietet in dieser Hinsicht einen nur geringen Erkenntnisgewinn. Immerhin lässt sich argumentieren, dass die Rüge des EuGH auf fehlende Hinweise des Landes dazu, weshalb parallele Schutzregelungen im Bereich privater Beauftragungen nicht erforderlich seien,60 inzident eine grundsätzliche Anerkennung auch isolierter landesstaatlicher Regulierungen enthalte. Freilich moniert der Gerichtshof eben in diesem Kontext erneut, dass der landesstaatliche Mindestlohn „über den Lohnansatz nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz hinausgeht“, was wiederum gegen eine territorial parzellierende Sicht des EuGH sprechen könnte. Auch andere die Dienstleistungsfreiheit betreffende Entscheidungen des EuGH, namentlich die Entscheidung Finalarte61 oder die jüngste Entscheidung des EuGH in Sachen Carmen-Media, deuten nicht unmittelbar darauf hin, dass 59 Nicht näher nachgegangen wird hier der Frage, ob das Konzept einer Begrenzung des vergabespezifischen Mindestlohnes auf „öffentlich“ dominierte Bereiche womöglich einer weiteren kohärenzrechtlichen Rechtfertigung dahin zu unterwerfen wäre, weshalb Arbeitnehmer in den betreffenden Sektoren eines höheren Schutzes bedürfen als Arbeitnehmer in Sektoren ohne derartige öffentliche Dominanz. Immerhin wäre einer solchen Ausdehnung des Kohärenzgedankens entgegen zu halten, dass der EuGH in der Rüffert-Entscheidung selbst eine parzellierende Sicht akzeptiert hat, indem er isoliert den Bausektor in den Blick genommen hat. Auch die Entsende-Richtlinie differenziert nach Branchen und anerkennt damit, dass nach Marktstrukturen unterschieden werden kann. 60 Rn. 40 der Rüffert-Entscheidung. 61 EuGH, Urt. v. 25. Oktober 2001 – verb. Rs. C-49/98 u. a., Slg. 2001 I-7831, Rn. 31 – Finalarte: „Der freie Dienstleistungsverkehr darf als fundamentaler Grundsatz des Vertrages nur durch Regelungen beschränkt werden, die . . . für alle im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats tätigen Personen oder Unternehmen gelten, soweit dieses Interesse nicht durch die Vorschriften geschützt wird, denen der Dienstleistende in dem Mitgliedstaat unterliegt, in dem er ansässig ist.“ (Hervorhebung nicht im Original)

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der EuGH den föderalen Strukturen ein entscheidendes Gewicht für die unionsrechtliche Bewertung einräumen würde. So ist nur auf die jüngste Aussage des EuGH in der Entscheidung Carmen-Media hingewiesen, wonach „sich ein Mitgliedstaat nach ständiger Rechtsprechung nicht auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um die Nichteinhaltung seiner aus dem Unionsrecht folgenden Verpflichtungen zu rechtfertigen“62 Deutet dies zunächst erneut auf eine gesamtstaatliche Betrachtung des notwendigen Arbeitnehmerschutzes, wäre andererseits gerade die Rüffert-Entscheidung der angemessene Ort gewesen, etwaige Maßgaben in Richtung einer bundesweit abgestimmten Regulierung präzise zu artikulieren, was indes nicht geschehen ist. Dass die Länder die somit verbleibenden Auslegungsspielräume wahrzunehmen versuchen, erscheint insoweit durchaus nachvollziehbar und in Ansehung der föderalen Kompetenzstrukturen konsequent. V. Fazit Das Thema Mindestlohn wird, nicht zuletzt im vergaberechtlichen Kontext, auch weiterhin die Gemüter erhitzen. Das Fazit könnte lauten: Vieles erscheint machbar, sofern die Mitgliedstaaten es in Sachen Arbeitnehmerschutz wirklich ernst meinen. Insofern hat die Rüffert-Entscheidung des EuGH eine erste Orientierung in der diffizilen Thematik bewirken können, keineswegs aber zu einer abschließenden Klärung des Problemkomplexes geführt. Die weitere Entwicklung bleibt mit Spannung abzuwarten.

62 EuGH, Urt. v. 8. September 2010, C-46/08, BeckRS 2010, 91037, Rn. 69; ebenso bereits Generalanwalt Mengozzi, Schlussantrag vom 4. März 2010 in derselben Rechtssache.

Die Sicherung der Meinungsvielfalt und die Rolle des privaten Rundfunks Von Dieter Dörr* I. Einführung Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass auch im Bereich des privaten Rundfunks ein Grundstandard an Meinungsvielfalt herrschen muss.1 Das bedeutet zum einen, dass ein einseitiger Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung infolge der Zusammenballung publizistischer Macht zu verhindern ist.2 Der Rundfunk soll nicht einer oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert werden.3 Es geht dabei also darum, durch entsprechende gesetzliche Regelungen vorherrschende Meinungsmacht zu unterbinden. Zum anderen hat der Gesetzgeber aber auch dafür Sorge zu tragen, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet.4 Insoweit sind die Länder also gehalten, durch positive Maßnahmen Vielfalt zu fordern und zu fördern. Dieser zweite Aspekt steht im Zentrum des folgenden Beitrages. Der Rundfunkstaatsvertrag sieht bisher nur wenige Maßnahmen vor, die – wie die Regelungen zur Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht in §§ 26 ff. RStV – nicht nur der übermäßigen Zusammenballung publizistischer Macht entgegen wirken, sondern dem verfassungsmäßigen Auftrag dienen sollen, die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk möglichst umfassend abzubilden. Hierzu gehört neben der Vorgabe, in bestimmten Programmen gemäß § 25 Abs. 4 RStV regionale Fensterprogramme aufzunehmen, insbesondere die Pflicht für private Veranstalter, unter bestimmten Voraussetzungen einen Teil ihrer Sendezeit an unabhängige Dritte abzugeben (§ 26 Abs. 5 S. 1 RStV i.V. m. § 31 RStV).

* Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Medienrecht am Fachbereich 03 der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Direktor des Mainzer Medieninstituts. Herrn Rechtsanwalt Steffen Janich, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Mainzer Medieninstitut, danke ich für die wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung des Beitrages. 1 Vgl. nur BVerfGE 73, 118, 159; 83, 238, 297. 2 BVerfGE 57, 295, 323; 73, 118, 160; 95, 163, 172; 97, 228, 258; 114, 371, 398. 3 BVerfGE 73, 118, 153. 4 BVerfGE 57, 295, 319; 73, 118, 152 f.; 90, 60, 88; 114, 371, 387 ff.

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Sowohl bei der Frage, wann vorherrschende Meinungsmacht anzunehmen ist, als auch bei der Pflicht, Sendezeit an unabhängige Dritte zur Verfügung zu stellen, spielen die Zuschaueranteile, die ein Veranstalter bzw. ein Unternehmen mit den ihm zurechenbaren Programmen erreicht, eine maßgebliche bzw. entscheidende Rolle. Die Zuschaueranteile werden nach derzeitiger Rechtslage gemäß § 27 RStV durch repräsentative Erhebungen bei allen Zuschauern ab Vollendung des dritten Lebensjahres ermittelt. Auf der Grundlage der Übergangsbestimmung des § 34 RStV wird weiterhin auf die vorhandenen Daten der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zurückgegriffen, die ihre Zahlen im Auftrag der großen privaten und öffentlich-rechtlichen Fernsehveranstalter ursprünglich allein zu dem Zweck erhoben hat, um die Werbepreise nach einer „einheitlichen Währung“ zu bestimmen. Zu diesem Zweck schlossen ARD, RTL, Sat.1 und ZDF Mitte 1988 eine Kooperation – die Geburtsstunde der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF). Heute ist die AGF ein Zusammenschluss von ARD, ProSiebenSat.1 Media AG, Mediengruppe RTL Deutschland und ZDF zur gemeinsamen Durchführung und Weiterentwicklung der kontinuierlichen quantitativen Fernsehzuschauerforschung in Deutschland. Das AGF/GfK Fernsehpanel umfasst 5.640 Haushalte (Berichtsbasis Fernsehpanel D+EU), in denen fast 13.000 Personen leben. Damit wird die Fernsehnutzung von 72,23 Mio. Personen ab drei Jahren bzw. 35,49 Mio. Fernsehhaushalten abgebildet. Die Daten orientieren sich an der Gesamtbevölkerung. Dies entspricht der Prämisse einer im Prinzip homogenen Öffentlichkeit. In den letzten Jahren besteht jedoch die Tendenz, dass sich zunehmend Teilöffentlichkeiten herausbilden, die sich in ihrem allgemeinen Medien- und Kommunikationsverhalten und damit auch in ihrer Fernsehnutzung klar voneinander unterscheiden.5 Dieses Phänomen wird besonders deutlich, wenn man die Zuschaueranteile der wichtigsten privaten Fernsehsender gegenüberstellt. In der Gruppe der 14- bis 49-Jährigen erreichen sämtliche Privatsender höhere, zumeist sogar wesentlich höhere Zuschaueranteile als bei der Gesamtbevölkerung. Dies liegt auch und vor allem daran, dass sich die privaten Fernsehprogramme ganz überwiegend aus Werbung finanzieren. Für die Werbeeinnahmen ist der Tausend-Kontakt-Preis (TPK) maßgeblich. Der TKP gibt an, wie viel investiert werden muss, um bei der jeweiligen Platzierung eines Spots in einem Werbeblock 1.000 Fernsehzuschauer einer Zielgruppe zu erreichen. Die für die Werbung relevante Zielgruppe sind aber keineswegs alle Zuseherinnen und Zuseher. Es werden grundsätzlich nur Personen zwischen 14 und 49 Jahren berücksichtigt, da die Werbewirtschaft davon ausgeht, dass Personen unter 14 Jahren für Werbung noch nicht und über 49 Jahren nicht mehr6 emp-

5 Hasebrink, Das Zuschaueranteilsmodell: Herausforderungen durch Pay-TV und Online-Medien, Hamburg 2001, S. 10 f. 6 Kritisch dazu etwa Gaßner, Werberelevante Zielgruppen im Wandel, MP 2006, 16 ff.

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fänglich sind. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die privaten Veranstalter ihr Programm auf diese für die Werbeeinnahmen entscheidende Gruppe ausrichten. Da dieses Phänomen bei allen Privatsendern – freilich in unterschiedlicher Intensität – beobachtet werden kann, stellt sich die Frage, ob es überhaupt sachgerecht ist, die Zuschaueranteile anhand der Gesamtsehdauer aller Zuschauer zu bemessen oder ob es gerade für die positive Vielfaltsicherung geboten, zumindest aber sinnvoller wäre, die Bemessung anhand der angesprochenen Zielgruppe – Zuschauer zwischen 14 und 49 Jahre – vorzunehmen. Dabei ist wiederum zwischen den beiden unterschiedlichen Dimensionen der Vielfaltsicherung zu unterscheiden: Teilweise wird eine politische Diskussion angeregt, auch darüber nachzudenken, inwieweit der Umstand, dass ein Unternehmen mit seinen Programmen in einer spezifischen Gruppe sehr hohe Zuschaueranteile erzielt, bei der Beurteilung der vorherrschenden Meinungsmacht berücksichtigt werden sollte.7 Dies hätte freilich weitreichende Konsequenzen für die beiden großen privaten Veranstaltergruppen. Die RTL Group liegt derzeit bei der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen weit über der Grenze von 30 Prozent, bei der das Vorliegen der vorherrschenden Meinungsmacht gemäß § 26 Abs. 2 S. 1 RStV vermutet wird, und auch die ProSiebenSat1 Media AG liegt in dieser Gruppe mit einem Anteil von 29,8 Prozent im Jahr 20098 nur knapp unter dieser Marge. Hinzu kommt, dass es bei der Verhinderung der vorherrschenden Meinungsmacht darum geht, dass die öffentliche Meinungsbildung insgesamt von einer Gruppe dominiert bzw. in hohem Maße einseitig auf die öffentliche Meinungsbildung Einfluss genommen werden kann.9 Für die öffentliche Meinungsbildung sind aber gerade auch die Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer über 49 Jahre von Bedeutung, zumal der Anteil dieser Gruppe an der Gesamtbevölkerung deutlich zugenommen hat und weiter zunimmt. Dies spricht dafür, bei der vorherrschenden Meinungsmacht weiterhin auf die Zuschaueranteile bei der Gesamtbevölkerung abzustellen, wobei man durchaus darüber diskutieren kann, ob man die untere Altersgrenze bei Vollendung des dritten oder der Vollendung des vierzehnten Lebensjahres ansetzt. Allerdings sollen diese Probleme hier nicht vertieft werden, da der Beitrag die positive Vielfaltsicherung im Blick hat. Daher ist zu fragen, ob es im Rahmen der positiven Vielfaltsicherung im Vorfeld von vorherrschender Meinungsmacht angezeigt ist, eine zielgruppenangepasste Bemessung der Zuschaueranteile vorzunehmen. Diese Frage ist vor allem für die Pflicht zur Vergabe von Drittsendezeit relevant, die hierdurch eine Ausweitung erfahren würde. Für eine zielgruppenangepasste Bemessung spricht, 7 Vgl. Hasebrink, Das Zuschaueranteilsmodell: Herausforderungen durch Pay-TV und Online-Medien, Hamburg 2001, S. 47 f. 8 Quelle: ARD auf Basis der GfK-Zahlen. 9 Vgl. BVerfGE 57, 295, 322 f.

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dass es bei den Maßnahmen der positiven Vielfaltsicherung gerade auch darum geht, den Zuseherinnen und Zusehern der maßgeblichen Programme ein möglichst vielfältiges Angebot zur Verfügung zu stellen. Dies zeigt etwa § 25 Abs. 1 RStV, der jedes private Vollprogramm verpflichtet, die bedeutsamen politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen angemessen zu Wort kommen zu lassen und Auffassungen von Minderheiten zu berücksichtigen. Zudem verbietet § 25 Abs. 2 RStV jedem einzelnen privaten Programm, die Bildung der öffentlichen Meinung in hohem Maße ungleichgewichtig zu beeinflussen. Dies legt es nahe, auch bei den Drittfenstern auf die Zielgruppe abzustellen, da auch dieses Instrument der positiven Vielfaltsicherung zu dienen bestimmt ist und sicherstellen soll, dass Zuschauerinnen und Zuschauer, die hauptsächlich von privaten Programmen erreicht werden, die Chance haben, zusätzliche Programme zu sehen, die den größtmöglichen Beitrag zur Vielfalt im Programm des Hauptprogrammveranstalters erwarten lässt. II. Die Vielfaltsicherung und die Rundfunkfreiheit Die Fragen der Vielfaltsicherung hängen eng mit der Rundfunkfreiheit und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zusammen. Dieses hat aus der knappen Bestimmung des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG differenzierte und weitgehende Anforderungen an die Rundfunkordnung in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt. Die Rundfunkfreiheit ist nach seiner ständigen Rechtsprechung als „dienende Freiheit“ zu verstehen.10 Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass die Grundrechte üblicherweise Freiheiten enthalten, die der Selbstverwirklichung des Individuums dienen und damit subjektiv-rechtlichen, individuellen Eigeninteressen dienende Handlungsrechte bilden. Daneben gibt es aber auch Verbürgungen von Befugnissen, die im Interesse Dritter gegen den Zwang und die Intervention des Staates abgeschirmt sind. Bei diesen Grundrechten spricht man von dienenden oder drittnützigen Freiheitsrechten. Der Sinn der Freiheit liegt in diesem Fall darin, einem Rechtssubjekt, also der Rundfunkanstalt, Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsautonomie zuzuerkennen. Dies entweder aus dem Grund, weil ein öffentliches Interesse an einem aus autonomer Gestaltung, Handlung und Entscheidung hervorgegangenen geistigen oder gegenständlichen Produkt besteht11 oder weil die Abschirmung von Handlungsbefugnissen der Gewährleistung des Rechts- und Freiheitsstatus Dritter dient. Diese letztgenannte Kategorie von drittnützigen Freiheitsrechten, zu der klassischerweise die Rundfunkfreiheit zu zählen ist, kann am sinnfälligsten als dienende Freiheitsgewährleistung bezeichnet werden.12 10

Vgl. BVerfGE 87, 181, 197; 83, 238, 295; 57, 295, 319. So verhält es sich etwa bei der verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Freiheit von Forschung und Lehre zugunsten der Universitätsprofessoren, andeutungsweise in diesem Sinn BVerfGE 47, 327, 379. 11

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Die Rundfunkfreiheit dient nach dieser Vorstellung der freien, individuellen und öffentlichen Meinungsbildung und ist demnach auch eine Grundvoraussetzung für eine funktionsfähige Demokratie. Das Bundesverfassungsgericht geht wegen dieses dienenden Charakters davon aus, dass sich der Schutz des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG nicht in der Abwehr staatlicher Einflussnahmen erschöpfe. Vielmehr gebiete die Rundfunkfreiheit auch, eine positive Ordnung zu schaffen, die die Meinungsvielfalt gewährleiste und sicherstelle, dass der Rundfunk einzelnen gesellschaftlichen Gruppen oder gar einer einzigen gesellschaftlichen Gruppe ebenso wenig wie dem Staat ausgeliefert wird. Dies verpflichtet den Staat, Konzentrationsentwicklungen im Rundfunk, also der Entstehung einer vorherrschenden Meinungsmacht aktiv und vorbeugend entgegenzutreten.13 Damit sichert diese Konzeption die Informationsfreiheit des Bürgers und letztlich auch die Funktionsfähigkeit der Demokratie. Auf dieser Grundlage betont das Bundesverfassungsgericht, dass gesetzliche Regelungen notwendig sind, die sicherstellen, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in größtmöglicher Breite und Vollständigkeit bzw. unverkürzt zum Ausdruck gelangen.14 Dabei ist zunächst auf das Gesamtangebot der elektronischen Medien abzustellen, also das Angebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in die Ermittlung des Vielfaltbefundes einzubeziehen. Aber auch der private Rundfunk unterliegt für sich allein einem entsprechenden Gebot in freilich abgesenkter Weise: Er hat lediglich einem „Grundstandard gleichgewichtiger Vielfalt“ zu genügen.15 Deshalb ist nach dieser Rechtsprechung die Vielfalt der Anbieter und damit der Meinungen von Verfassungs wegen auch im Bereich der privaten Veranstalter durch den Rundfunkgesetzgeber zu sichern.16 Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Zuständigkeit der Länder, sondern um eine Pflichtaufgabe von hoher Bedeutung, da Fehlentwicklungen in diesem Bereich besonders schwer rückgängig gemacht werden können.17 Die Länder haben in ihren Landesmediengesetzen auf unterschiedliche Weise den Versuch unternommen, diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht zu 12 Vgl. Niepalla, Die Grundversorgung durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, München 1990, S. 6 ff.; Stock, Medienfreiheit als Funktionsgrundrecht, München 1985, S. 325 ff. 13 Dörr, Das für die Medienkonzentration maßgebliche Verfahrensrecht, in: Die Landesmedienanstalten (Hrsg.), Die Sicherung der Meinungsvielfalt, 1995, S. 331, 338 ff.; Kübler, Die verfassungsrechtliche Verbürgung der Vielfalt in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kohl (Hrsg.), Vielfalt im Rundfunk, Konstanz 1997, S. 21, 23 ff. 14 Vgl. BVerfGE 57, 295, 320 und 323. 15 BVerfGE 73, 118, 159; 83, 238, 297. 16 BVerfGE 83, 238, 296 f.; 57, 295, 324. 17 So eindringlich BVerfGE 57, 295, 323; 73, 118, 160; vgl. zum Ganzen auch Dörr, Das für die Medienkonzentration maßgebliche Verfahrensrecht, in: Die Landesmedienanstalten (Hrsg.), Die Sicherung der Meinungsvielfalt, Berlin 1995, S. 331, 337 ff.

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werden. Tendenziell gelten wegen des Problems der Doppelmonopole von Rundfunk und örtlicher Presse im regionalen und lokalen Bereich besonders strenge organisatorische Anforderungen zur Vielfaltsicherung. Für bundesweit verbreitete Fernsehprogramme legt der Rundfunkstaatsvertrag einheitliche Anforderungen fest. Diese Regelungen sind praktisch von hoher Bedeutung, da das bundesweite Fernsehen wirtschaftlich und im Hinblick auf die öffentliche Meinungsbildung eine herausragende Rolle einnimmt. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind damit beide Aspekte der Vielfaltsicherung angelegt. Einmal muss der Gesetzgeber vorbeugend verhindern, dass vorherrschende Meinungsmacht entsteht. Insoweit besteht für den Gesetzgeber eine unbedingte Pflicht. Gestaltungsspielraum hat er nur bei der Frage, welche Instrumentarien und Verfahren er zur Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht einsetzt. Einzuräumen ist allerdings, dass es angesichts der sehr allgemeinen Beschreibungen des Bundesverfassungsgerichts schwierig ist, den Begriff der vorherrschenden Meinungsmacht zu konkretisieren. Er bildet einen Sonderfall und verlangt, dass ein in hohem Maße ungleichgewichtiger Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung durch die massenmediale Vermittlung von Tatsachen und Meinungen gegeben ist. Die Bejahung vorherrschender Meinungsmacht setzt aber nicht die Dominanz eines Unternehmens voraus.18 In der Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht erschöpft sich die Aufgabe des Gesetzgebers aber nicht. Vielmehr ist er darüber hinaus gehalten, durch seine Rundfunkordnung dafür zu sorgen, dass in diesem Medium die Vielfalt der bestehenden Meinungen in größtmöglicher Breite und Vollständigkeit, also unverkürzt zum Ausdruck kommt.19 Bei der Frage, wie der Gesetzgeber eine solche positive Vielfalt bewirken will, hat er einen weiten Gestaltungsspielraum.20 Er kann, wie das Bundesverfassungsgericht in seiner zweiten Gebührenentscheidung vom 11. September 2007 bestätigt hat21, im Bereich des privaten Rundfunks weitgehend auf die Kräfte des Marktes vertrauen, wenn und soweit der öffentlich-rechtliche Rundfunk willens und in der Lage ist, seine spezifischen Funktionen in vollem Umfang zu erfüllen, und sich wie bisher mit wenigen den privaten Rundfunk betreffenden Vorgaben zur positiven Vielfaltsicherung begnügen. Zusätzliche Anforderungen an private Anbieter gewinnen aber an Bedeutung, wenn und soweit der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen der Vielfalt verpflichteten Programmen bestimmte Zuschauergruppen, insbesondere die werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen immer weniger erreicht22. Kommt 18 Vgl. dazu Dörr/S. Schiedermair, Ein kohärentes Konzentrationsrecht für die Medienlandschaft in Deutschland, Frankfurt a. M. 2007, S. 22. 19 BVerfGE 57, 295, 320 und 323. 20 BVerfGE 12, 205, 262 f.; 57, 295, 321 f. u. 325 f.; 90, 60, 94; 114, 371, 387; 121, 30, 50. 21 BVerfGE 119, 181, 214 ff. 22 s. hierzu im Einzelnen unten IV.

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es mehr und mehr zu einem Generationsabriss, erreichen also die öffentlichrechtlichen Programme die jüngere Generation kaum mehr, ist der Gesetzgeber gehalten, durch positive Vielfaltsicherungsinstrumente, die sich an die privaten Anbieter richten, gegenzusteuern. III. Die Vielfaltsicherung und der Kulturauftrag Entscheidende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang neben dem Demokratieprinzip, das den informierten, urteilsfähigen und entscheidungsfreudigen Bürger voraussetzt,23 auch dem Kulturauftrag zu. Die Aufgabe, für ein vielfältiges Rundfunkangebot zu sorgen, ergibt sich auch daraus, dass Deutschland ein Kulturstaat ist, was wiederum mit der Demokratie zusammenhängt. Das Grundgesetz enthält zwar keinen ausdrücklichen Kulturauftrag etwa in Form einer Staatszielbestimmung „Kultur“.24 Gleichwohl misst es der Kultur eine grundlegende Bedeutung zu. Das Bundesverfassungsgericht leitet insbesondere aus den in Art. 5 Abs. 3 GG verankerten Freiheiten der Kunst und der Wissenschaft eine objektive Grundsatzentscheidung ab, die den Staat, der sich – im Sinne einer Staatszielbestimmung – auch als Kulturstaat versteht, zum Erhalt und zur Förderung von Kunst und Wissenschaft verpflichtet.25 Damit betrachtet das Bundesverfassungsgericht die Kultur als eine Staatszielbestimmung des Grundgesetzes. Die normative Basis für die Kulturstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland sieht das Verfassungsgericht insbesondere im Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Kulturbegriff des Grundgesetzes vor allem in Zusammenhang mit einzelnen Bereichen, etwa dem Schul-26 oder Hochschulbereich27, der Kunst28, der Wissenschaft29, der Religion30 und den 23 So zu Recht P. Kirchhof, Der Öffentlichkeitsauftrag des öffentlichen Rundfunks als Befähigung zur Freiheit, in: Abele/Fünfgeld/Riva (Hrsg.), Werte und Wert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der digitalen Zukunft, Potsdam 2001, S. 9 ff.; eingehend dazu auch Dörr/S. Schiedermair, Die zukünftige Finanzierung der deutschen Universitäten, Ein Beitrag zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zur Finanzausstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Bonn 2004, S. 13 ff.; ausführlich hierzu auch Wolf, Der Kulturauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Frankfurt a. M. 2011, S. 40 ff. 24 Zutreffend Reuhl, Kulturstaatlichkeit im Grundgesetz, JZ 1981, 321. Darin unterscheidet sich das Grundgesetz von einigen anderen Verfassungen. So enthält beispielsweise Art. 9 der italienischen Verfassung einen ausdrücklichen Kulturartikel. Die bayrische Verfassung bezeichnet Bayern in ihrem Art. 3 Abs. 1 als Rechts-, Kultur- und Sozialstaat. Vgl. dazu Stern, Kulturelle Werte im deutschen Verfassungsrecht, in: Kästner/ Nörr/Schlaich (Hrsg.), Festschrift für Heckel, Tübingen 1999, S. 857, 866 f. 25 BVerfGE 31, 321, 331; 35, 79, 114; 36, 321, 331; 81, 108, 116. 26 BVerfGE 6, 309, 354. 27 BVerfGE 10, 20, 37; 35, 79, 115; 37, 314, 322. 28 BVerfGE 10, 20, 37; 36, 321, 337; 81, 108, 116. 29 BVerfGE 10, 20, 37; 35, 79, 114; 81, 108, 116. 30 BVerfGE 12, 1, 4; 41, 65, 84; 42, 29, 52; 52, 223, 237; 83, 341, 353.

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Medien31 befasst. Ein Gesamtbild des dem Grundgesetz zugrunde liegenden Kulturbegriffes ergibt sich aus dieser Rechtsprechung nur ansatzweise.32 Dennoch führt das Bundesverfassungsgericht die verschiedenen Elemente stets auf den Kulturauftrag des Grundgesetzes zurück. Dabei ist allerdings zu beachten, dass aus einer Staatszielbestimmung Kultur keine über die einzelnen im Grundgesetz enthaltenen Grundrechtsverbürgungen und Staatsziele hinausgehenden Rechte oder Pflichten abgeleitet werden können. Dass Deutschland auch verfassungsrechtlich einen Kulturstaat bildet, erweist sich dennoch nicht als Verfassungslyrik des Bundesverfassungsgerichts. Das Grundgesetz lebt wie jede rechtsstaatlich-demokratische Verfassung in besonderem Maß von Voraussetzungen, die es selbst nicht garantieren kann.33 Dazu gehören vor allem eine lebendige politische Kultur, die das Interesse der Bürger an den Vorgängen in der staatlichen Gemeinschaft und die Beteiligung der Bürger an Wahlen umfasst, und eine breitgefächerte Medienlandschaft, aber ebenso auch eine lebendige Kunstszene sowie eine freie wissenschaftliche Forschung. Eine derartige freiheitliche Kulturlandschaft ist zwar von staatlichen Rahmenbedingungen abhängig. Sie kann jedoch nur dann zur Entfaltung gelangen, wenn die Bürger die Initiative ergreifen und die Möglichkeiten, die eine freiheitliche Verfassung wie das Grundgesetz ihnen bietet, auch nutzen.34 Der Sinn des Kulturauftrags des Grundgesetzes liegt darin, die Rahmenbedingungen für die freiheitliche Kulturlandschaft zu schaffen.35 Diesen Auftrag erfüllt das Grundgesetz zum einen mit den in Art. 20 GG verankerten fundamentalen staatlichen Prinzipien sowie insbesondere auch mit seinem Grundrechtsteil. In den Grundrechten schützt das Grundgesetz kulturelle Werte wie die Kunstfreiheit, die Wissenschaftsfreiheit, die Religionsfreiheit und die Rundfunkfreiheit sowie zugleich auch die damit verbundenen kulturellen Einrichtungen.36 Damit garantiert das Grundgesetz, dass die kulturellen Einrichtungen ihre gesellschaft31 Im Bereich der Medien insbesondere zum Rundfunk, vgl. dazu BVerfGE 12, 205, 229, 236 f.; 13, 54, 80; 31, 314, 325 ff.; 35, 202, 219 ff.; 57, 295, 319 ff.; 59, 231, 257 ff.; 73, 118, 152 ff.; 74, 297, 323 ff.; 77, 65, 74 ff.; 83, 238, 295 ff.; 87, 181, 197 ff.; 90, 60, 87 ff. 32 Vgl. Stern, Kulturelle Werte im deutschen Verfassungsrecht, in: Kästner/Nörr/ Schlaich (Hrsg.), Festschrift für Heckel, Tübingen 1999, S. 857, 859. 33 Hierzu P. Kirchhof, Der Öffentlichkeitsauftrag des öffentlichen Rundfunks als Befähigung zur Freiheit, in: Abele/Fünfgeld/Riva (Hrsg.), Werte und Wert des öffentlichrechtlichen Rundfunks in der digitalen Zukunft, Potsdam 2001, S. 9, 14 ff. 34 Plastisch gesprochen erhält das Recht auf freie Meinungsäußerung nur dadurch seinen Sinn, dass der Bürger seine eigene Meinung auch tatsächlich frei äußert. Besonders deutlich wird dies an den Grundrechten des status activus. Das Wahlrecht des Art. 38 GG als grundlegendes demokratisches Grundrecht verliert ohne die Bürger, die zur Wahl gehen, seine demokratische Funktion und damit zugleich seine Legitimation. 35 Zum Begriff der Kultur vgl. H. Schiedermair, Reflexionen zur Bedeutung der Kultur für Universität und Wissenschaft, in: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.), Hartmut Schiedermair, Schriften zu Bildung und Wissenschaft, Bonn 1996, S. 155, 156 ff.

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lichen Aufgaben wahrnehmen können, ohne dabei staatlicher Beeinflussung zu unterliegen.37 Zur Verwirklichung dieses Kulturauftrags im Bereich des Rundfunks tragen vor allem die öffentlich-rechtlichen Anbieter innerhalb Deutschlands bei. Sie bedürfen allerdings der ergänzenden Unterstützung durch die privaten Anbieter. Das Grundgesetz hat dafür den Grundstein in dem Grundrecht der Rundfunkfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gelegt. Bereits im klassischen Rundfunkauftrag kommt ein besonderer Kulturauftrag des Rundfunks zum Ausdruck. Dieser steht keineswegs beziehungslos neben dem Informationsauftrag, da der moderne, zu Freiheit und Demokratie fähige Mensch nicht nur informiert und wissend sein, sondern auch die Gemeinschaftsanliegen mitgestalten und mitverantworten muss. Dazu ist die Entfaltung und ständige Erneuerung des gemeinsamen Wertmaßstabes notwendig. Der Bürger kann die Demokratie und eine freiheitliche Gesellschaft nur mitprägen, wenn er ihre Grundwerte erlebt und versteht, die die von den Prinzipien der Menschenwürde und der daraus folgenden Freiheit und Gleichheit geprägte Rechtsgemeinschaft zusammenhält. Die Vermittlung und das Verständnis dieser kulturellen Grundwerte werden in jeder Gesellschaft umso unverzichtbarer, je offener sie für andere ist. Eine demokratische und freiheitliche Rechtsgemeinschaft muss sich der unverzichtbaren Werte ihrer eigenen Rechtskultur sicher sein. Nur auf dieser Grundlage kann und darf sie sich anderen Kulturen öffnen. Der freiheitliche und demokratische Verfassungsstaat ist also kein neutraler Zuschauer, wenn verschiedene Werte und Kulturen in einen Wettbewerb miteinander treten. Vielmehr ist das Grundgesetz eine wehrhafte Verfassung, die bestimmte Grundwerte für unabänderlich erklärt und für diese Kernprinzipien streitet. So bauen unsere Verfassung und unsere Kultur auf dem Prinzip der Menschenwürde, auf der Gleichberechtigung von Mann und Frau, dem Gedanken der Toleranz, der Religionsfreiheit und dem Grundsatz des privatnützigen Eigentums auf. Solche Prinzipien stehen nicht zur Disposition.38 Die Rundfunkfreiheit leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass vor allem der öffentlich-rechtliche Rundfunk seine Aufgabe zur Bereicherung der deutschen Kulturlandschaft leisten kann. Nur dem staatlichen Zugriff entzogene freie Rundfunkanstalten können die Basis für eine lebendige demokratische Kultur bilden. 36 Vgl. dazu Reuhl, JZ 1981, 321 f.; Stern, Kulturelle Werte im deutschen Verfassungsrecht, in: Kästner/Nörr/Schlaich (Hrsg.), Festschrift für Heckel, Tübingen 1999, S. 857, 868 f. 37 Zum Kulturstaatsprinzip vgl. auch Dörr/S. Schiedermair, Die zukünftige Finanzierung der deutschen Universitäten, Ein Beitrag zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zur Finanzausstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Bonn 2004, S. 40 ff. 38 Vgl. zum Vorstehenden die überzeugenden Ausführungen bei P. Kirchhof, Der Öffentlichkeitsauftrag des öffentlichen Rundfunks als Befähigung zur Freiheit, in: Abele/ Fünfgeld/Riva (Hrsg.), Werte und Wert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der digitalen Zukunft, Potsdam 2001, S. 9, 14 f.

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Hier zeigt sich die dienende Funktion der Rundfunkfreiheit, die das Bundesverfassungsgericht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ableitet: Die Rundfunkfreiheit wird nicht um ihrer selbst willen vom Grundgesetz gewährleistet. Sie ist vielmehr im Hinblick auf die Demokratie ausgestaltet und dient damit der Pflege der demokratischen Kultur. Diese demokratische Kultur lebt von einer freien pluralistischen Berichterstattung, dem offenen Austausch von Meinungen und einem Klima, in dem auch fremde Standpunkte Akzeptanz finden. Diesen offenen Prozess des Austausches und der Bildung von Meinungen unterstützt der Rundfunk als Massenmedium nachdrücklich. Er gibt dabei zum einen Meinungen weiter und wirkt zum anderen durch die Auswahl und Gestaltung der Sendungen auch selbst auf die öffentliche Meinung ein. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet den Rundfunk daher treffend als Medium und gleichzeitig auch als Faktor des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses. Aufgabe des Rundfunks als Faktor der öffentlichen Meinung ist es, den Bürgern die kulturellen Werte, auf denen das Grundgesetz beruht, ständig zu vermitteln. Die Fähigkeit, Freiheit eigenverantwortlich zu gestalten, ist nicht selbstverständlich. Sie bedarf vielmehr der kulturellen Unterstützung, um zur Entfaltung gelangen zu können. Dazu müssen die Grundwerte, die einem freiheitlichen Staat zugrunde liegen, nahe gebracht werden. Hier kommt dem Rundfunk eine entscheidende Rolle zu. Die im Grundgesetz verankerten Kerngedanken des Rechts müssen im Bewusstsein der Menschen verankert bleiben. Insbesondere die öffentlich-rechtlichen Medien sind gehalten, dieses immer wieder bewusst zu machen und die entsprechenden Werte mit ihrem kulturgeschichtlichen Hintergrund zu vermitteln.39 Sie bedürfen aber der Ergänzung durch die Angebote der privaten Rundfunkveranstalter, damit alle Gruppen der Gesellschaft erreicht werden. Zu den Werten, die immer wieder vermittelt werden müssen, gehören die Menschenwürde, die Menschenrechte, die Prinzipien von Freiheit und Gerechtigkeit, Rechtsstaat und Demokratie. Im klassischen Rundfunkauftrag kommt also ein besonderer Kulturauftrag des Rundfunks zum Ausdruck, der gleichwertig neben dem Informationsauftrag des Rundfunks steht und diesen ergänzt. Freiheit und Demokratie leben davon, dass der Bürger informiert ist und zugleich die Anliegen der Gemeinschaft mitverantwortet und mitgestaltet. Dazu müssen die demokratischen Grundwerte ständig entfaltet und erneuert werden. Die Vermittlung dieser kulturellen Grundwerte wird in jeder Gesellschaft umso wichtiger, je offener sie für die Einflüsse anderer Rechtskulturen ist. Der freiheitliche demokratische Staat muss sich daher der unverzichtbaren Werte seiner eigenen Rechtskul39 Eingehend dazu P. Kirchhof, Der Öffentlichkeitsauftrag des öffentlichen Rundfunks als Befähigung zur Freiheit, in: Abele/Fünfgeld/Riva (Hrsg.), Werte und Wert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in der digitalen Zukunft, Potsdam 2001, S. 9, 15 f.; Dörr/S. Schiedermair, Die zukünftige Finanzierung der deutschen Universitäten, Ein Beitrag zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zur Finanzausstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Bonn 2004, S. 42 ff.

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tur sicher sein. Gerade durch Instrumente der positiven Vielfaltsicherung kann dafür gesorgt werden, dass die für Demokratie und Rechtsstaat unabdingbare Wertevermittlung auch in privaten Rundfunkprogrammen stattfindet. Es liegt auf der Hand, dass sich dafür Drittfensterprogramme geradezu anbieten. IV. Das zunehmende Bedürfnis nach positiver Vielfaltsicherung Zur Verwirklichung eines vielfältigen Programmangebots, das den Anforderungen der Rundfunkfreiheit, des Demokratieprinzips und des Kulturauftrags gerecht wird, sollen vor allem die öffentlich-rechtlichen Anbieter innerhalb Deutschlands beitragen. Die Erfüllung dieser Pflichtaufgaben stellt die Daseinsberechtigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks dar. Es besteht jedoch eine in den letzten Jahren weiter zunehmende Tendenz, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten nur noch einen Teil der Öffentlichkeit erreichen. Mittlerweile kann eine Fragmentierung des Zuschauermarktes festgestellt werden, in deren Zuge sich zunehmend Teilöffentlichkeiten herausbilden, die sich in ihrem allgemeinen Medien- und Kommunikationsverhalten und damit auch in ihrer Fernsehnutzung klar voneinander unterscheiden. So wird das Angebot des öffentlich-rechtlichen Fernsehens vorwiegend von der Gruppe der älteren Zuschauer (über 49 Jahre) wahrgenommen, während sich die jüngeren und jungen Zuschauer (14 bis 49 Jahre bzw. 14 bis 29 Jahre) überwiegend dem Privatfernsehen zuwenden. Die öffentlich-rechtlichen Sender erreichen die jungen Zuschauer hingegen immer weniger. Diese Tendenz wird in den folgenden Tabellen und Grafiken deutlich. 16,5 15,0 13,5

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Abbildung 2: Öffentlich-rechtliche vs. Privatsender: Jahresdurchschnitt Zuschauer 14–49 Jahre

21,0 19,5 18,0 16,5 15,0 13,5 12,0 10,5 9,0 7,5 6,0 4,5 3,0 1,5 0,0 20 01 20 02 20 03 20 04 20 05 20 06 01 .0 2 00 1. 20 7 09 20 – 30 08 .0 6. 20 09

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Abbildung 3: Öffentlich-rechtliche vs. Privatsender: Jahresdurchschnitt Zuschauer 14–29 Jahre

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Abbildung 4: Nachrichten Zuschauer gesamt

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Öffentlich-rechtliche vs. Privatsender: Nachrichtensendungen Dieser zunehmende Generationenabriss wird noch deutlicher, wenn man speziell die Nachrichtensendungen der einzelnen Programme, denen unter Vielfaltgesichtspunkten eine besonders große Bedeutung zukommt, in den Blick nimmt. Die Gesamtheit der Zuschauer informiert sich vor allem bei der „Tagesschau“ der ARD. Auf Platz zwei liegt seit einigen Jahren regelmäßig „RTL Aktuell“, gefolgt von ZDF „heute“. Die RTL-Nachrichten besitzen damit weiterhin eine sehr hohe Relevanz auch bei der Gesamtheit der Zuschauer, während die übrigen Nachrichtensendungen der Privatsender regelmäßig jeweils nur teils knapp über (Sat1 News, ProSieben Nachrichten) teils unter (vox-Nachrichten, RTL2-News) einem Zuschaueranteil von fünf Prozent liegen. Gänzlich anders stellt sich die Lage bei den Zuschauern zwischen 14 und 49 Jahren dar. Hier erreicht RTL-Aktuell mit Werten von neuerdings wieder fast 20 Prozent den höchsten Zuschaueranteil aller Nachrichtensendungen. Mit weitem, sich in den letzten Jahren zunehmend vergrößerndem Abstand folgt die ARDTagesschau, inzwischen dicht gefolgt von den ProSieben-Nachrichten. ZDF „heute“ lag bis Mitte 2009 nur noch knapp über fünf Prozent. Bei der Gruppe der Heranwachsenden und der jungen Erwachsenen (14–29 Jahre) wird offenkundig, dass diese vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk kaum noch erreicht werden. In dieser Gruppe erreichen die ProSieben Nachrichten den höchsten Zuschaueranteil, gefolgt von RTL-Aktuell. Die ARD Tagesschau besitzt bei dieser Gruppe eine noch geringere Relevanz als bei den 14- bis 49-Jährigen und bleibt seit langem regelmäßig deutlich unter zehn Prozent. ZDF heute erreichte im unten dargestellten Zeitraum zuletzt gar nur noch einen Anteil von rund drei Prozent. Die dargestellten Zuschauerzahlen lassen befürchten, dass die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten immer weniger dazu in der Lage sind, den ihnen obliegenden Auftrag der umfassenden Informationsgrundversorgung für alle Zuschauer sicher zu stellen. Dass das junge Publikum durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk kaum mehr erreicht wird, erscheint vor dem Hintergrund, dass die Demokratie zwingend auf den aktiven, umfassend informierten Bürger angewiesen ist, sehr bedenklich. Insofern kann nicht mehr darauf vertraut werden, dass das von der Verfassung vorgegebene Gebot der positiven Vielfaltsicherung allein von den öffentlich-rechtlichen Sendern erfüllt wird. Vielmehr sind die Privatsender, die den Zuschauermarkt beim jungen Publikum dominieren, stärker in die Pflicht zu nehmen, speziell für die jüngeren Zielgruppen umfangreiche Informationsangebote im Programm vorzuhalten. Dieses Erfordernis lässt sich insbesondere nicht mit einem Verweis auf das Internet widerlegen. Zwar nimmt die Bedeutung des Internets als Informationsmedium stetig zu und stellt für die die Mehrheit (39 Prozent) der Gruppe der 14-

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bis 29-Jährigen bereits die wichtigste Informationsquelle dar.40 Doch auch für die jungen Zuschauer bleibt das Fernsehen, das für 27 Prozent der genannten Gruppe das wichtigste Informationsmedium ist, weiterhin von großer Bedeutung. Für die deutliche Mehrheit (44 Prozent) der Zuschauergruppe zwischen 30 und 49 Jahren ist das Fernsehen noch immer die Informationsquelle Nummer eins.41 Für die werberelevante Zielgruppe insgesamt ergibt sich damit, dass hier das Fernsehen nach wie vor die größte Bedeutung für die Informationsgewinnung besitzt. Abgesehen von der fortwährend großen Bedeutung des Fernsehens für die Informationsgewinnung ist dem Fernsehen als Medium eine besondere Wirkkraft für die Meinungsbildung zuzusprechen. So hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung herausgestellt, dass Anlass der gesetzlichen Ausgestaltung der Rundfunkordnung die herausgehobene Bedeutung ist, die dem Rundfunk unter den Medien wegen seiner Breitenwirkung, Aktualität und Suggestivkraft zukommt.42 Die besondere Suggestivkraft des Mediums ergibt sich insbesondere aus der Möglichkeit, die Kommunikationsformen Text und Ton sowie beim Fernsehen zusätzlich bewegte Bilder miteinander zu kombinieren und der programmlichen Information dadurch insbesondere den Anschein hoher Authentizität zu verleihen.43 Diese Wirkungsmöglichkeiten gewinnen zusätzliches Gewicht dadurch, dass die neuen Technologien eine Vergrößerung und Ausdifferenzierung des Angebots und der Verbreitungsformen und -wege gebracht sowie neuartige programmbezogene Dienstleistungen ermöglicht haben.44 V. Der Ausbau der Drittsendezeiten als sachgerechtes und verhältnismäßiges Instrument zur Sicherung der Meinungsvielfalt 1. Die Drittsendezeiten als Instrument zur Vielfaltsicherung

Der Rundfunkstaatsvertrag enthält eine Reihe an Instrumenten, um den verfassungsrechtlichen Vorgaben an die Vielfaltsicherung gerecht zu werden. Die meisten Maßnahmen dienen allerdings der Verhinderung vorherrschender Meinungs40 Vgl. BLM, Relevanz der Medien für die Meinungsbildung, Empirische Grundlagen zur Ermittlung der Wertigkeit der Mediengattungen bei der Meinungsbildung (Präsentation), Berlin 2010, S. 20. 41 Vgl. BLM, Relevanz der Medien für die Meinungsbildung, Empirische Grundlagen zur Ermittlung der Wertigkeit der Mediengattungen bei der Meinungsbildung (Präsentation), Berlin 2010, S. 20. 42 BVerfGE 119, 181; 114, 371, 387; 103, 44, 74; 97, 228, 256; 90, 60, 87; 31, 314, 325; vgl. auch EGMR, Urteil vom 5. November 2002 – Beschwerde-Nr. 38743/97 – Demuth gegen Schweiz, EuGRZ 2003, S. 488, 491, § 43; Urteil vom 10. Juli 2003 – Beschwerde-Nr. 44179/98 – Murphy gegen Irland, § 69; st. Rspr. 43 BVerfGE 119, 181; 97, 228, 256. 44 BVerfGE 119, 181.

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macht, deren Bestehen seit dem Dritten Rundfunkänderungsstaatsvertrag nach dem Zuschaueranteilsmodell beurteilt wird. § 26 Abs. 2 RStV gibt als Maßstab drei Vermutungsregelungen vor. Die erste Vermutung setzt einen Zuschaueranteil von 30 vom Hundert, die zweite und die dritte Vermutung einen Zuschaueranteil von 25 vom Hundert und weitere Faktoren voraus.45 Mit der Verankerung der Sendezeiten für unabhängige Dritte in § 26 Abs. 5 RStV hat der Gesetzgeber eine Regelung getroffen, die die Meinungsvielfalt bereits im Vorfeld von vorherrschender Meinungsmacht also positiv fördern soll. Dies stellt neben der Verpflichtung für bestimmte private Programme, regionale Fenster nach Maßgabe des § 25 Abs. 4 RStV aufzunehmen, das wichtigste Instrument dar, für eine größere Vielfalt in einzelnen privaten Fernsehprogrammen zu sorgen. Allerdings verpflichtet § 26 Abs. 5 Satz 1 RStV nur solche Veranstalter dazu, Sendezeit für unabhängige Dritte einzuräumen, die mit einem Vollprogramm oder einem Spartenprogramm mit dem Schwerpunkt Information im Durchschnitt eines Jahres einen Zuschaueranteil von zehn Prozent erreicht. Die gleiche Pflicht trifft ein Unternehmen, dessen Zuschaueranteil mit allen ihm zuzurechnenden Programmen im Durchschnitt eines Jahres zwanzig Prozent erreicht, ohne dass eines der Vollprogramme oder Spartenprogramme mit dem Schwerpunkt Information zehn Prozent erreicht (§ 26 Abs. 5 Satz 2 RStV). Von der Verpflichtung, solche Fensterprogramme aufgrund der Zehn Prozent-Grenze auszustrahlen, sind zurzeit im Hinblick auf ihren gegenwärtigen Zuschaueranteil die Vollprogramme RTL und SAT 1 betroffen. Dies liegt daran, dass nach § 27 Abs. 1 Satz 1 RStV die Landesmedienanstalten durch die KEK den Zuschaueranteil der jeweiligen Programme unter Einbeziehung aller deutschsprachigen Programme des öffentlich-rechtlichen und des bundesweit empfangbaren privaten Rundfunks ermitteln. Dabei sind nach § 27 Abs. 2 Satz 2 RStV alle Zuschauer ab Vollendung des dritten Lebensjahres nach allgemein repräsentativen Erhebungen zu berücksichtigen. Der Zuschaueranteil orientiert sich damit an der Gesamtbevölkerung.46 Wie bereits dargelegt hat sich eine in den letzten Jahren weiter zunehmende Tendenz der Herausbildung von Teilöffentlichkeiten ergeben. Die Ermittlung der Zuschaueranteile anhand der Gesamtsehdauer aller Zuschauer kann damit ein Bild ergeben, das sich so in keiner 45 Vgl. zu den Einzelheiten KEK, Crossmediale Verflechtungen als Herausforderungen für die Konzentrationskontrolle, Bericht der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) über die Entwicklung der Konzentration und über Maßnahmen zur Sicherung der Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk, Berlin 2007, S. 376 ff. 46 Vgl. dazu im Einzelnen KEK, Sicherung der Meinungsvielfalt in Zeiten des Umbruchs, Bericht der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) über die Entwicklung der Konzentration und über Maßnahmen zur Sicherung der Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk, Berlin 2003, S. 379 ff.

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Bevölkerungsgruppe wiederfinden lässt, weil die Privatsender vor allem von einem jungen, die öffentlich-rechtlichen Sender im Wesentlichen von einem älteren Publikum konsumiert werden. Die Prämisse einer im Prinzip homogenen Öffentlichkeit, die dem derzeitigen Zuschaueranteilsmodell zugrunde liegt, entspricht daher nicht mehr dem Medienkonsumverhalten der Öffentlichkeit. 2. Der mögliche Ausbau der Drittsendezeiten durch zielgruppengemäße Berechnung der Zuschaueranteile

Daher wird mit guten Gründen gefordert, die Schwelle für die Pflicht zur positiven Vielfaltförderung danach auszurichten, wie stark ein Sender in der angesprochenen Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen wahrgenommen wird, um auch diesen Zuseherinnen und Zusehern vielfältige Angebote insbesondere in den Bereichen Kultur, Bildung und Information machen zu können. Die entsprechende Anpassung der Zuschaueranteilsbemessung im Rahmen der Zehn-Prozent-Regelung des § 26 Abs. 5 RStV hätte eine Ausweitung der Pflicht zur Einräumung von Drittsendezeiten zur Folge. So liegt der Sender ProSieben bei der Gesamtsehdauer aller Zuschauer konstant deutlich unter der Zehn-Prozent-Marke. Betrachtet man hingegen die Anteile bei den Zuschauern zwischen 14 und 49 Jahren, so ergibt sich ein stark abweichendes Bild. Hier erreicht auch ProSieben Zuschaueranteile, die zehn Prozent konstant deutlich überschreiten. Wenn man auf diese Weise die Pflicht, Drittfensterprogramme auszustrahlen, erweitert, würde die Rundfunkfreiheit gefördert, weil die Zuteilung von Sendezeit an den Fensterprogrammveranstalter einem unabhängigen Dritten die Möglichkeit schafft, eigene Inhalte aus seinem eigenen Blickwinkel darzustellen, wodurch sowohl die Meinungs- als auch die Gegenstandsvielfalt im Rundfunk potenziell gestärkt wird. Die vorgeschlagene Änderung der Bemessungsmethode würde die Geeignetheit der Drittfensterregelung zur Vielfaltsicherung noch erheblich verstärken, da das Modell dort ansetzt, wo die Privatsender besondere Meinungsrelevanz entfalten. Zugleich schmälert es den Anreiz für die Veranstalter, ihr Programm auf Kosten der Inhaltsvielfalt möglichst exklusiv nach den Interessen und Bedürfnissen ihrer Zielgruppe, also den werberelevanten 14- bis 49-Jährigen auszurichten. Insgesamt erweist sich die Bemessung der Zuschaueranteile anhand der 14- bis 49-Jährigen als ein sachgerechter Ansatz, um die Vielfalt positiv zu fördern und damit auch die demokratische und kulturelle Funktion des privaten Rundfunks zu stärken. 3. Der Ausbau der Drittsendezeiten und die Rundfunkfreiheit

Nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts wäre eine solche Änderung der Drittfensterregelung der §§ 26 Abs. 5, 31 RStV nur dann als zulässige Ausgestaltung der Rundfunkfreiheit anzusehen, wenn sie die rechtlich geschütz-

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ten Interessen der Rundfunkveranstalter angemessen berücksichtigt. Die Rundfunkfreiheit enthält zum einen ein objektives Prinzip, gewährt daneben aber den an der Gesamtveranstaltung Rundfunk beteiligten Rechtssubjekten – also auch den privaten Rundfunkveranstaltern – subjektiv-öffentliche Rechte gegenüber staatlichen Hoheitsträgern. In subjektiv-rechtlicher Hinsicht gewährleistet die Rundfunkfreiheit in ihrem Kern Programmfreiheit. Sie garantiert also, dass der Rundfunk frei von externer Einflussnahme entscheiden kann, wie er seine publizistische Aufgabe erfüllt.47 a) Mögliche Beeinträchtigungen der Programmfreiheit Beeinträchtigungen der Programmfreiheit lassen sich darin sehen, dass die Fensterprogrammregelung den betroffenen Hauptprogrammveranstalter daran hindert, während der Sendezeit des Fensterprogramms eigene Programminhalte zu verbreiten. Daraus ergibt sich eine publizistische Einschränkung für den Hauptprogrammveranstalter. Die Verankerung von Fensterprogrammen kann zudem dazu führen, dass er seine eigenen Programmteile, die das Fensterprogramm umrahmen, an das Fensterprogramm anpassen muss. Um einen etwaigen Akzeptanzverlust so gering wie möglich zu halten, muss der Hauptprogrammveranstalter versuchen, den Programmfluss durch das Fensterprogramm so wenig wie möglich stören zu lassen. Dennoch können sich die Unterbrechungen negativ auf den Audience Flow und somit auf die Zuschaueranteile auswirken. Diese Beeinträchtigungen durch die Regelung des § 26 Abs. 5 RStV würden durch eine zielgruppenbezogene Bemessung der Zuschaueranteile dadurch ausgeweitet, dass sich die Anzahl der betroffenen Vollprogramme erhöht. Nach derzeitiger Marktlage wäre neben RTL und Sat1 zukünftig auch ProSieben zur Aufnahme von Drittfenstern verpflichtet. Wechselt man die Betrachtungsebene von dem einzelnen Veranstalter auf das ganze Unternehmen, so bedeutet die vorgeschlagene Reform eine Verdopplung der Belastungen für die ProSiebenSat1 Media AG. b) Folgen für die Meinungsvielfalt Auf der anderen Seite hat die Freiheit der öffentlichen und privaten Meinungsbildung hohes Gewicht; sie ist für ein demokratisches Gemeinwesen schlechthin konstituierend.48 Das Ziel der Regelungen der §§ 26 Abs. 5, 31 RStV, nämlich die Schaffung eines Grundstandards an Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk, ist demgemäß einer der zentralen Handlungsaufträge, den Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG

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BVerfGE 59, 231, 258; 87, 181, 201; 90, 60, 87; 97, 298, 310. Ständige Rechtsprechung, grundlegend BVerfGE 20, 56, 97.

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an den Gesetzgeber stellt. Ihm muss daher bei der Abwägung besonderes Gewicht beigemessen werden. Bei der Abwägung ist zudem zu berücksichtigen, dass die Belange der Rundfunkveranstalter, die mit diesem Auftrag zur Vielfaltsicherung in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis stehen, in den Regelungen der §§ 26 Abs. 5, 31 RStV in beachtlicher Weise Berücksichtigung gefunden haben. Das gilt zunächst für den zeitlichen Rahmen der Fensterregelung. Die Dauer des Fensters ist zwar theoretisch nach oben unbegrenzt. Seine Mindestdauer stellt jedoch mit 260 Minuten in der Woche keinen allzu starken Einbruch in die Programmgestaltung des Hauptveranstalters dar. Sie beträgt lediglich knapp 2,4 Prozent der gesamten wöchentlichen Sendezeit. Die davon in der „prime time“ liegenden 75 Minuten machen knapp vier Prozent der wöchentlichen „prime time“ aus. Dies erscheint vor dem Hintergrund der hohen Bedeutung des mit den Regelungen verfolgten Zwecks als eher knapp bemessen49, zumal die Regionalfensterprogramme, die bestimmte Veranstalter nach § 25 Abs. 4 RStV ausstrahlen müssen, gem. § 31 Abs. 2 S. 2 RStV teilweise angerechnet werden. Die Vorgaben des Rundfunkstaatsvertrags für die inhaltliche Gestaltung des Fensterprogramms sind ebenfalls differenziert. Das Fensterprogramm hat in redaktioneller Unabhängigkeit vom Hauptprogramm zu erfolgen, und es muss einen zusätzlichen Beitrag zur Vielfalt des Hauptprogramms leisten, insbesondere in den Bereichen Kultur, Bildung und Information. Dies muss aber alles unter Wahrung der Programmautonomie des Hauptveranstalters geschehen, wie § 31 Abs. 1 S. 1 RStV vorgibt. Dieser Regelung ist ein Gebot für den Veranstalter von Drittfensterprogrammen zu entnehmen, sich in Programmstruktur und Erscheinungsbild des Hauptprogramms im Wesentlichen einzufügen.50 Auch was die Auswahl des Fensterveranstalters angeht, hat der Gesetzgeber einen Kompromiss geschaffen. Zu Zwecken der Vielfaltsicherung besteht ein Interesse daran, den Hauptveranstalter aus dem Auswahlprozess möglichst herauszuhalten und den Fensterveranstalter vornehmlich gerade danach auszuwählen, inwieweit er von jenem unabhängig ist. Das entgegenstehende Interesse des Hauptveranstalters, die Auswahl des Fensterveranstalters möglichst stark beeinflussen zu können, hat der Gesetzgeber dennoch in die Regelung einfließen lassen. Zwar ist es grundsätzlich Sache der jeweiligen Landesmedienanstalt, darüber zu entscheiden, welcher Bewerber das Fensterprogramm gestalten soll. Der Hauptveranstalter hat aber ein Mitspracherecht bei der Auswahl.

49 So auch Schlette, Die Einrichtung eines Fensterprogramms gem. §§ 26 Abs. 5, 31 Rundfunkstaatsvertrag, ZUM 1999, S. 802, 808. 50 Hartstein/Kreile/Ring/Dörr/Stettner/Cole, Rundfunkstaatsvertrag, Loseblatt, 48. Erg.Lief., Heidelberg 2010, § 31 Rn. 4; Schlette, Die Einrichtung eines Fensterprogramms gem. §§ 26 Abs. 5, 31 Rundfunkstaatsvertrag, ZUM 1999, S. 802, 809.

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c) Abwägung der Belange Schließlich dürfen auch die potenziellen Mehrbelastungen für private Rundfunkunternehmen, die mit einer zielgruppenbezogenen Bemessung der Zuschaueranteile einhergingen, nicht mit dem Maß der Förderung der Meinungsvielfalt außer Verhältnis stehen. Bei der Abwägung ist insbesondere zu beachten, dass durch die Zielgruppenanpassung der Zuschaueranteilsbemessung – wie oben bereits gezeigt – ein beachtlicher Zusatzbeitrag zur Vielfaltsicherung geleistet wird. Dies ist schon deshalb der Fall, weil eine Erhöhung der Anzahl der Sender, die zur Vergabe von Drittsendezeit verpflichtet sind, die potenzielle Wahrnehmbarkeit der Drittfenster erhöht. Vor allem aber erscheint die Bemessung anhand der Gruppe der 14- bis 49-Jährigen als das sachgerechtere Kriterium für die positive Vielfaltsicherung, weil dadurch einer Reduzierung der Gegenstandsvielfalt durch immer gezielteres Ansprechen der werberelevanten Zielgruppe entgegen gewirkt werden kann. Denn die hierdurch gewonnenen Zuschauer können zu einer Überschreitung der Zehn-Prozent-Grenze führen, auch wenn sich ein Zuwachs bei der Gesamtbevölkerung nicht verzeichnen lässt. Einer Gegenstandsreduzierung wird dann automatisch mit positiver Vielfaltförderung durch Drittsendezeiten entgegengewirkt. In Anbetracht der hohen Bedeutung der Vielfaltsicherung für die Freiheit der öffentlichen und privaten Meinungsbildung erscheint der Umfang der Belastungen, die der Gesetzgeber den privaten Rundfunkveranstaltern bislang zumutet, als eher gering. Insbesondere der zurückhaltende zeitliche Rahmen, in dem die Drittfenster eingerichtet werden müssen, lassen deren Ausdehnung auf weitere Programme nicht als unverhältnismäßig erscheinen. In diesem Zusammenhang darf auch nicht übersehen werden, dass der Gesetzgeber den privaten Rundfunkveranstaltern bei der Konzentrationskontrolle zulasten der Anbieter- und damit auch der Meinungsvielfalt weite Freiräume gelassen hat. Die 30 Prozent-Grenze bedeutet im Ergebnis nur, dass es auf dem privaten nationalen Fernsehmarkt zwei etwa gleich starke Anbieter bzw. Anbietergruppen geben muss. Dieser Zustand war faktisch bereits vor Abschluss des Rundfunkstaatsvertrags 1996 nahezu eingetreten. Insoweit waren die damaligen Neuregelungen eine Reaktion auf die fortgeschrittene und bereits eingetretene massive Medienkonzentration. Bertelsmann/CLT auf der einen Seite und die Kirch-Gruppe auf der anderen Seite verfügten bereits über Marktanteile von 26 bis 27 Prozent. Nachdem die Konzentration im Fernsehbereich dieses Ausmaß erreicht hatte, blieb den Ländern im Ergebnis nichts anderes mehr übrig, als auf dieser Grundlage die bereits eingetretene Konzentration „abzusegnen“ und mit der Neuregelung den Versuch zu unternehmen, für die Zukunft zu verhindern, dass der private Fernsehmarkt in die Hand nur einer Anbietergruppe geraten könne. Letztendlich ist in Deutschland im Bereich des privaten Fernsehens, was die bundesweiten Veranstalter betrifft, ein beängstigend hoher Konzentrationsgrad eingetreten und der private Bereich ist von einer Anbietervielfalt weit entfernt. Dieser Umstand unterstreicht die Be-

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deutung von positiver Vielfaltsicherung, die wie die Drittfensterprogramme nach §§ 26 Abs. 5, 31 RStV bereits im Vorfeld von vorherrschender Meinungsmacht eingreift und die Bedenken dagegen schmälert, dass den privaten Veranstaltern in Sachen Vielfaltsicherung in gewissem Umfang auch zusätzliche Belastungen auferlegt werden können. Insgesamt lässt sich damit feststellen, dass die mit einer zielgruppenbezogenen Bemessung der Zuschaueranteile einhergehende Mehrbelastung für die Rundfunkveranstalterfreiheit zu dem hiermit erreichbaren Maß an Vielfaltförderung nicht außer Verhältnis steht, sondern ganz im Gegenteil im Interesse der Meinungs- und Informationsvielfalt zu begrüßen wäre.

Pressefreiheit versus Rundfunkfreiheit? Zur Zulässigkeit öffentlich-rechtlicher Internetangebote* Von Carl-Eugen Eberle Die Konvergenz der Medien findet im Internet statt. Dies ist der Ort, an dem neben vielen anderen vor allem Rundfunkveranstalter und Presseverlage ihre medialen Angebote den Nutzern zur Verfügung stellen. Insgesamt entsteht so im Internet ein „Marktplatz der Meinungen“, auf dem vor allem die massenmedial tätigen Unternehmen des Rundfunks und der Printmedien den publizistischen Wettbewerb gestalten.1 Gleichzeitig ist das Internet aber auch ein wirtschaftlicher Marktplatz, wo die Unternehmen mit ihren Angeboten im Wettbewerb stehen, soweit sie diese als Wirtschaftsgüter oder als Werbeträger vermarkten.2 Hieraus ergibt sich eine komplizierte Gemengelage von Angeboten, die teils unentgeltlich, teils entgeltlich angeboten werden, die teils gebühren- (bzw. künftig beitrags-)finanziert und teils werbefinanziert sind, die aber allesamt mit dem Ziel verbreitet werden, in möglichst großem Umfang die Aufmerksamkeit der Nutzer auf sich zu ziehen und insoweit in Konkurrenz zueinander stehen. Die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, unter denen die Internetanbieter antreten, führen zu Interessenkonflikten. Insbesondere der öffentlich-rechtliche Rundfunk sieht sich Vorwürfen von Seiten der Verleger ausgesetzt, er mache mit seinen gebührenfinanzierten Telemedienangeboten den Angeboten der Verleger in unzulässiger Weise Konkurrenz und verzerre den Wettbewerb.3 Da diese Angebote unentgeltlich zugänglich sind, würden sie die Erfolgschancen entgeltlicher Angebote der Verleger mindern. Alle diese Vorwürfe sind mit rechtlichen Argumenten hinterlegt. Geht man ihnen nach, dann sind drei Argumentationsebenen zu unterscheiden, auf denen * Für wertvolle Anregungen zu diesem Beitrag danke ich meinem Mitarbeiter Gregor Wichert. 1 Vgl. dazu die Beiträge in Picot/Freybert (Hrsg.), Media Reloaded – Mediennutzung im digitalen Zeitalter, Heidelberg 2010; Kettering, Publizistischer und ökonomischer Wettbewerb im deutschen Medienmarkt – zwei konkurrierende Konzepte, in: Abele/Kettering (Hrsg.), Wettbewerb, Transparenz und Qualität im Mediensektor, Berlin 2009, 53 ff. m.w. N. 2 Vgl. Holznagel/Dörr/Hildebrand, Elektronische Medien, München 2008, 361 ff., 378 ff.; Picot/Freyberg (Fn. 1); Kettering (Fn. 1), 53 ff., jeweils m.w. N. 3 Vgl. z. B. Fiedler, AfP 2011, 15 ff.

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die Auseinandersetzung geführt wird. Als erstes ist hier die Ebene des europäischen Wettbewerbsrechts, speziell des Beihilferechts zu nennen, auf der der Streit auch in einem Beschwerdeverfahren ausgetragen und abgeschlossen wurde. Ihm ist der erste Abschnitt des Beitrags gewidmet. Die zweite Argumentationsplattform ist die staatsvertragliche Ebene, wo die Auseinandersetzung mit dem 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag auf parlamentarischer Ebene und mit der Durchführung des Drei-Stufen-Tests auf der Ebene der Rundfunkaufsicht ihren Abschluss gefunden hat. Dies wird im zweiten Abschnitt dargestellt. Auf einer dritten Argumentationsebene wird nunmehr ein Konflikt zwischen der grundrechtlichen Pressefreiheit und der mit ihr einhergehenden Medienordnung einerseits und dem Grundrechtsregime, dem der öffentlich-rechtliche Rundfunk unterfällt, andererseits identifiziert, der zugunsten der Pressefreiheit zu lösen sei. Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk stehe danach nur mehr eine Ergänzungsund Nischenfunktion im Internet zu. Diesem Fragenkreis soll im dritten Abschnitt nachgegangen werden. I. Beihilferechtliche Grenzen öffentlich-rechtlicher Telemedienangebote Die Frage, in welchem Umfang die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland nach Maßgabe des europäischen Wettbewerbsrechts im Internet tätig werden dürfen, ist zwischen der Europäischen Kommission und Deutschland in einem beihilferechtlichen Beschwerdeverfahren geklärt worden, das private Rundfunkveranstalter und ihr Verband VPRT gegen die Gebührenfinanzierung von ARD und ZDF angestrengt hatten. Obwohl sich die Verlegerseite der Beschwerde nicht angeschlossen hatte, war Gegenstand des Beschwerdeverfahrens auch die Betätigung der Rundfunkanstalten im Internet. Die Generaldirektion Wettbewerb hat ihre Prüfung nach beihilferechtlichen Grundsätzen vorgenommen, wenngleich die Frage, ob die Rundfunkgebühr nach deutschem Recht überhaupt eine Beihilfe darstellt und damit der beihilferechtliche Prüfungsmaßstab anzuwenden sei, von der deutschen Seite bestritten wurde. In dem das Verfahren abschließenden Schreiben nach Art. 19 BeihilfenVO4 hat die Kommissionsseite anerkannt, dass die Funktion des öffentlichrechtlichen Rundfunks für Demokratie, gesellschaftliche Integration, Kultur und Pluralismus auch durch seine Betätigung im Internet erfüllt werden kann. Dem Grundanliegen des Beihilferechts, nämlich zu verhindern, dass gebührenfinanzierte Angebote durch eine überkompensatorisch angelegte Finanzierung der Rundfunkanstalten zu ungerechtfertigten, also nicht durch die Erfordernisse der 4 Mitteilung der Europäischen Kommission an die Bundesregierung zur Einstellung des Beihilfeverfahrens zur deutschen Rundfunkanzierung vom 24.4.2007 K(2007) 1761, abgedruckt in epd medien 39/2007; vgl. hierzu Eberle, „Safe Harbour“ für ARD und ZDF?, in: Henneke (Hrsg.), Öffentlicher Auftrag bei sich wandelnden Marktbedingungen, Stuttgart u. a. 2007, 204 ff.

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Auftragserfüllung bedingten Marktverzerrungen führen, wurde durch eine Reihe von Auflagen entsprochen, auf die sich die deutsche und die europäische Seite verständigt hatten. Zu den Verabredungen zählte insbesondere eine konkretere Fassung des Telemedienauftrags für ARD und ZDF. Sie sollte einerseits den Umfang der Telemedien nachvollziehbar auf solche Angebote beschränken, die den publizistischen Mehrwert von ARD und ZDF reflektieren.5 Zum anderen sollten die privaten Wettbewerber in die Lage versetzt werden zu erkennen, auf welchen Feldern sie mit gebührenfinanzierten Angeboten der Anstalten zu rechnen haben. Zu diesem Zweck wurde auch eine Negativliste mit Angeboten in Aussicht genommen, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk jedenfalls nicht erbringen dürfe. Die Kommission hat dabei der deutschen Seite zugestanden, zur Wahrung des Staatsfernegebots den Telemedienauftrag der Anstalten im Staatsvertrag nur in der Form von Ziel- und Rahmenvorgaben zu umschreiben. Die detaillierte Festlegung des Auftrags kann nach Maßgabe staatsvertraglicher Verfahrensvorgaben in die Hände der anstaltsinternen Aufsichtsgremien (Rundfunkrat, Fernsehrat) gelegt und die Einhaltung der Verfahrensvorschriften von der staatlichen Rechtsaufsicht überwacht werden.6 Nachdem den Anforderungen aus dem Beihilfekompromiss durch den Erlass des 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag und die Erstellung und unbeanstandete Genehmigung der Telemedienkonzepte der Rundfunkanstalten Rechnung getragen wurde, bewegen sich die Rundfunkanstalten mit ihren Telemedienangeboten in zulässiger Weise innerhalb eines durch das europäische Beihilferecht definierten wettbewerbsrechtlichen Rahmens, der sie auf dieser rechtlichen Ebene nicht angreifbar machen sollte. II. Staatsvertragliche Grenzen öffentlich-rechtlicher Telemedienangebote Weitergehende Eingrenzungen der öffentlich-rechtlichen Internetbetätigung ergeben sich aus dem Rundfunkstaatsvertrag. Im 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag wurden nämlich nicht lediglich die Vorgaben der Beihilfeentscheidung der Europäischen Kommission umgesetzt. Als Folge intensivster Lobbyarbeit des privaten Rundfunks (VPRT) und insbesondere der Verleger (BDZV, VDZ) wurden die gesetzlichen Anforderungen an Telemedienangebote von ARD und ZDF gegenüber der mit der Kommission erzielten Einigung z. T. wesentlich verschärft.

5 Mitteilung der Europäischen Kommission an die Bundesregierung zur Einstellung des Beihilfeverfahrens zur deutschen Rundfunkfinanzierung vom 24.4.2007 K(2007) 1761 (Fn. 4), Rn. 362. 6 Mitteilung der Europäischen Kommission an die Bundesregierung zur Einstellung des Beihilfeverfahrens zur deutschen Rundfunkfinanzierung vom 24.4.2007 K(2007) 1761 (Fn. 4), Rn. 368.

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Dies gilt namentlich für den im Staatsvertrag unmittelbar geregelten Telemedienauftrag. Die dort gezogenen Grenzlinien gingen deutlich über die mit der Kommission getroffenen Absprachen hinaus. Bei näherer Betrachtung erwiesen sie sich in ihrer Rigidität sogar als unverhältnismäßig. Dies gilt zum einen hinsichtlich einer schematisch auf sieben Tage (bei bestimmten Sportsendungen gar nur auf 24 Stunden) begrenzten Verweildauer für Sendungen im Netz, zum anderen für die Beschränkung auf „sendungsbezogene“ Telemedienangebote, deren Bezug zu konkreten, ausgestrahlten Sendungen der akribischen und bürokratisch umständlich Definition zufolge so eng sein musste, dass er journalistisch-professionelles Arbeiten unmöglich machte.7 Der Staatsvertrag ermöglicht jedoch auch nichtsendungsbezogene Inhalte, indem er Angebote nach Maßgabe von Telemedienkonzepten zulässt, die von den anstaltsinternen Aufsichtsgremien (Rundfunkrat, Fernsehrat) genehmigt und von der Rechtsaufsicht geprüft worden sind.8 In diesen Telemedienkonzepten werden auf mittlerer Abstraktionsebene diejenigen Telemedienangebote beschrieben, mit denen die Anstalten beauftragt werden. Das Modell einer Mandatierung im Wege von Telemedienkonzepten war im Beihilfekompromiss nur für neue und wesentliche Veränderungen bestehender Angebote vereinbart worden, erfuhr aber im Zuge der Staatsvertrags-Beratungen eine Ausweitung auf den gesamten, über den Vortag des Inkrafttretens des Staatsvertrags am 1. Juni 2009 hinaus fortgeführten Bestand an Telemedienangeboten. Die Telemedienkonzepte eröffnen ein breites, in vielen Ausprägungen dem bisherigen Bestand entsprechendes, aber auch Entwicklungsmöglichkeiten umfassendes Angebotsspektrum. Ihre verfahrensmäßige Legitimation erhalten die Konzepte durch den mit der Kommission vereinbarten Drei-Stufen-Test.9 Er beinhaltet auf der ersten Stufe eine Überprüfung der Angebote anhand des staatsvertraglich rahmenartig formulierten Auftrags, Auf der zweiten Stufe ist der spezifische Beitrag des Angebots zum publizistischen Wettbewerb zu begründen. Gleichzeitig sind marktlichen Auswirkungen der Angebote auf der Grundlage von ökonomischen Gutachten zu ermitteln. Auf der dritten Stufe ist der Finanzbedarf der Angebote darzustellen. Die Bewertung durch die Aufsichtsgremien hat den publizistischen Wert der Angebote bestätigt und gleichzeitig auf der Grundlage der marktlichen Gutachten keine relevanten Marktbeeinträchtigungen diag-

7 Vgl. Hain, Die zeitliche und inhaltliche Einschränkung der Telemedienangebote von ARD, ZDF und Deutschlandradio nach dem 12. RÄndStV, Baden-Baden 2009, 91 ff., 95 ff. 8 § 11d Abs. 2 Ziff. 3 i.V. m. § 11f RfStV. 9 Zum Verfahren des Drei-Stufen-Tests vgl. Eberle, Der Drei-Stufen-Test in der Praxis, ZDF Jahrbuch 2008, Mainz 2009, 72 ff.; Schmidt/Eicher, Drei-Stufen-Test für Fortgeschrittene, epd medien v. 10.6.2009, 5 ff.; Pfab, Fortentwicklung der Qualitätsdebatte, epd medien 2/2011, 7 ff.

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nostiziert, so dass die Konzepte genehmigt werden konnten.10 Diese Entscheidungen haben auch die Prüfung durch die Rechtsaufsichtsbehörden bestanden. Insgesamt bewegen sich die Rundfunkanstalten also mit ihren bestehenden Telemedienangeboten einschließlich der in den Telemedienkonzepten dargelegten Entwicklungsmöglichkeiten auf staatsvertraglich gesicherter Rechtsgrundlage. Da die Telemedienkonzepte angesichts der viel zu engen und unpraktikablen staatsvertraglichen Definition der „sendungsbezogenen Telemedien“ den Rundfunkanstalten im Wesentlichen nichtsendungsbezogene Angebote ermöglichen, gilt für diese das Verbot „presseähnlicher Angebote“ nach § 11d Abs. 2 Nr. 3 RfStV. Hierunter sind Angebote zu verstehen, „die nach Gestaltung und Inhalt Zeitungen oder Zeitschriften“ entsprechen.11 Die praktische Relevanz dieser Einschränkung ist jedoch gering. Zum einen bezieht sich das Verbot nicht auf einzelne Beiträge, Meldungen oder Nachrichten in den Angeboten der Anstalten, sondern auf die Gesamtheit von Einzelbeiträgen in der Form von „Angeboten“, wie sie in den Telemedienkonzepten, beispielsweise als „heute.de“, beschrieben sind. Zum anderen ist der abstrakte Vergleichsmaßstab insbesondere die durch Text und Standbild geprägte „Gestaltung“ von Zeitungen oder Zeitschriften. Hieran fehlt es, wenn über die Verwendung von Text und Standbild hinaus „online-typische Gestaltungsmittel wie Bewegtbild und Ton, gestaffelte Angebotstiefe und Links verwendet werden, die das Angebot in seiner Gesamterscheinung als nicht printmedienähnlich ausweist“.12 Bei Anwendung dieser Kriterien ist leicht ersichtlich, dass angesichts der von online-typischen Elementen geprägten Erscheinungsformen öffentlich-rechtlicher Telemedienangebote dem Verbot nicht-sendungsbezogener presseähnlicher Angebote keine große praktische Bedeutung zukommt. III. Grundrechtlich begründete Einwendungen gegen öffentlich-rechtliche Telemedienangebote Die zentralen grundrechtsbezogenen Aussagen zur Internetbetätigung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten liefert die Verfassungsrechtsprechung.13 10 Zu den marktlichen Gutachten, die belegen, dass von den öffentlich-rechtlichen Onlineangeboten keine Gefahren für den Wettbewerb ausgehen, vgl. Woldt, Media Perspektiven 2/2011, 66 ff. 11 § 2 Abs. 2 Ziff. 19 RfStV. 12 Ausführlich dazu Hain (Fn. 7), 105 ff., der das Verbot presseähnlicher Angebote unter verfassungsrechtlichen Erwägungen sehr kritisch sieht und es nur in dieser engen, verfassungskonformen Auslegung für zulässig hält, im Ergebnis ebenso Schmidt/Eicher, epd medien 45/46/2009, 5, 9 f.; Papier/Schröder, epd medien 60/2010, 16, 28 f. A. A. hinsichtlich des Angebotsbegriffs Gersdorf, Verbot presseähnlicher Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, AfP 2010, 421, 433. 13 BVerfGE 119, 181, 214 ff. Die in dieser Entscheidung getroffenen grundlegenden Aussagen des Ersten Senats des BVerfG zum Funktionsauftrag der Rundfunkanstalten

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Danach wird der dem Medium Rundfunk eigenen, besonderen Suggestivkraft durch die neuen Technologien Wirkungsmöglichkeiten von zusätzlichem Gewicht dadurch zuteil, „dass die neuen Technologien eine Vergrößerung und Ausdifferenzierung des Angebots und der Verbreitungsformen und -wege gebracht sowie neuartige programmbezogene Dienstleistungen ermöglicht haben“14. Das Gericht identifiziert nach wie vor insbesondere medienökonomisch begründete Gefährdungen für das für die Funktionsweise einer Demokratie besonders wichtige Ziel der inhaltlichen Vielfalt. Diese Gefährdungslagen werden durch neue Entwicklungen, speziell auch als Folge neuer Technologien verstärkt. Insoweit bedarf es zu deren Schutz besonderer Vorkehrungen. Da ein im Wesentlichen auf Marktprozesse vertrauender Ansatz, wie ihn der Gesetzgeber für den privatwirtschaftlichen Rundfunk gewählt hat, nicht ausreicht, bedarf es des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, dessen Programmangebot „auch für neue Inhalte, Formate und Genres sowie für neue Verbreitungsformen offen bleiben muss“ 15. Sein Auftrag darf demnach nicht auf den gegenwärtigen Entwicklungsstand in programmlicher, finanzieller und technischer Hinsicht beschränkt werden. Ungeachtet dieser durch das Bundesverfassungsgericht beschriebenen Rechtslage bleibt die Internet-Betätigung von ARD und ZDF in der Kritik, die nun auch grundrechtliche Argumente gegen die öffentlich-rechtlichen Telemedienangebote ins Feld führt.16 Danach stelle das Marktmodell als Organisationsmodell der Presse zugleich das Regelmodell für die grundgesetzlich ausgerichtete Medienordnung dar. Fördermaßnahmen wie speziell die Gebührenfinanzierung öffentlich-rechtlicher Telemedienangebote verletzten die Neutralitätspflicht des Staates und seien nur nach strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung zulässig. Im Ergebnis dürften öffentlich-rechtliche Internetangebote keine Vollversorgung bieten, sondern allenfalls als Mindestversorgung Vielfaltlücken füllen.

im Hinblick auf neuartige Angebote, Verbreitungsformen und -wege (wie das Internet) wurden in BVerfGE 121, 30, 51 durch den Zweiten Senat unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Entscheidung des Ersten Senats bestätigt. Vgl. zu dieser Verfassungsrechtsprechung auch Eberle, AfP 2008, 329, 330 ff; Papier/Schröder (Fn. 12), 20 ff. Eine anhand einzelner Online-Dienstetypen differenzierende verfassungsrechtliche Ausarbeitung liefert Held, Online-Angebote öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, Kritisch zur verfassungsrechtlichen Begründung öffentlich-rechtlicher Internetbetätigung Degenhart, Bonner Kommentar zum GG, Art. 5, Rn. 799 ff. Baden-Baden 2008; Gersdorf (Fn. 12), 426 f. 14 BVerfGE 119, 181, 215. 15 BVerfGE 119, 181, 218; zur verfassungsrechtlichen Verankerung des InternetFunktionsauftrags vgl. auch Eberle (Fn. 13), 330 ff. 16 Vgl. insbesondere Gersdorf, Legitimation und Limitierung von Onlineangeboten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Berlin 2009.

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1. Marktmodell als grundrechtlich gebotenes Organisationsmodell der Massenmedien?

Gersdorf nimmt das Spiegel-Urteil des BVerfG und die dort das Institut der „Freien Presse“ tragenden Ordnungsprinzipien in Bezug: „Presseunternehmen müssen sich im gesellschaftlichen Raum frei bilden können. Sie arbeiten nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen und in privatrechtlichen Organisationsformen. Sie stehen miteinander in geistiger und wirtschaftlicher Konkurrenz, in die die öffentliche Gewalt grundsätzlich nicht eingreifen darf.“ 17

Hieraus will er die Ordnungsprinzipien eines solchermaßen verbürgten Instituts „Freie Presse“ als verfassungsrechtliches Regelmodell für die Organisation der Medien herleiten: „Das auf privatrechtliche Organisationsformen, auf Privatwirtschaftlichkeit als Entscheidungsrationalität und auf Außenpluralismus beruhende Marktmodell ist das dem individualrechtlichen Gehalt der Massenkommunikationsrechte gemäße Modell.“ 18 Ein solchermaßen am Beispiel der Presse konstruiertes „Marktmodell“ der Massenmedien wird nun gegenüber möglichen staatlichen Ingerenzen noch dadurch geschützt, dass aus der Postzeitungsdienstentscheidung des BVerfG eine weitgehende „Neutralitätspflicht“ des Staates gefolgert wird, gegen die eine gebührenfinanzierte Internet-Betätigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks grundsätzlich verstoßen würde.19 Eine solche staatliche Neutralitätspflicht stelle zugleich das Strukturprinzip der gesamten Kommunikationsverfassung dar.20 In der Postzeitungsdienstentscheidung hatte das BVerfG für staatliche Förderungsmaßnahmen der Presse die Regel aufgestellt, dass „jede Einflussnahme auf Inhalt und Gestaltung einzelner Presseerzeugnisse sowie Verzerrungen des publizistischen Wettbewerbs insgesamt vermieden werden“.21 Gersdorf interpretiert diesen Passus im Sinne einer zweifachen Erweiterung so, dass nicht nur jede staatliche Einflussnahme auf Inhalt und Gestaltung einzelner Presseerzeugnisse, sondern generell jede Verzerrung des publizistischen Wettbewerbs allgemein die Neutralitätspflicht verletzten, sei es in Gestalt inhaltslenkender Maßnahmen, sei es in sonstiger Form.22 Außerdem beanspruche der Grundsatz Geltung nicht allein für den Bereich der Druckerzeugnisse, sondern auch für die publizistischen Internetaktivitäten der Verlagsbranche. Gebührenfinanzierte Angebote im Netz würden deshalb zu einer entsprechenden Verzerrung des publizistischen Wettbewerbs bei-

17 18 19 20 21 22

BVerfGE 20, 162, 175. Gersdorf (Fn. 16), 70 f. Gersdorf (Fn. 16), 72 ff. Gersdorf (Fn. 16), 75 f. BVerfGE 80, 124, 133. Gersdorf (Fn. 16), 74.

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tragen, so dass auch eine solche „selektive Förderung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ an der staatlichen Neutralitätspflicht zu messen wäre.23 Die Tragfähigkeit eines solchen „Marktmodells“ in Verbindung mit der Neutralitätspflicht des Staates als „Strukturprinzip der gesamten Kommunikationsverfassung“ muss jedoch bezweifelt werden. Die Prämissen, die für dieses Modell im Pressebereich angenommen werden, gelten im Internet nicht in gleicher Weise. Zunächst ist das Internet als solches kein publizistisches Medium sondern ein Verbreitungs- und Verteilweg für nichtkörperliche Inhalte aller Art. Die technische Konvergenz der Plattformen und Verteilwege führt nicht dazu, dass damit auch die Inhalte alle gleich sind. Für die ökonomische und rechtliche Beurteilung verschiedener Dienste kommt es deshalb maßgeblich auf die strukturellen Merkmale der jeweiligen Inhalte an.24 Die hergebrachten Geschäftsmodelle der Zeitungsverleger, basierend auf Einnahmen aus Abonnements, Einzelverkauf und Werbung, haben im Internet keine Entsprechung. Die publizistischen Angebote im Netz finanzieren sich durch Werbung, vor allem aber im Wege der Quersubventionierung unentgeltlicher Angebote durch Einnahmen im Zusammenhang mit anderen Internetaktivitäten wie Anzeigenportalen, Business-Plattformen oder ähnlichen Geschäftsmodellen. Im Pressebereich wird der publizistische Wettbewerb dagegen von einem wirtschaftlichen Wettbewerb um Leser getragen. Dies hat zur Folge, dass ganz überwiegend ökonomische Mechanismen das Angebot und die Nachfrage nach einem Presseprodukt regeln. An diesem ökonomischen Mechanismus fehlt es im Internet.25 Stattdessen treffen auf die publizistischen Verlagsangebote im Netz viele der tatsächlich-ökonomischen Gegebenheiten zu, die auch für das frei empfangbare Fernsehen gelten. Es fehlt insbesondere an einer marktlichen Austauschbeziehung zwischen Inhalteanbietern und Nutzern. Dadurch gibt es keinen MarktPreis-Mechanismus, der, wie auf den klassischen Printmärkten, zur Optimierung von Qualität und Preis führt. Die Werbefinanzierung führt letztlich dazu, dass die Inhalte nicht nach den Präferenzen der Nutzer sondern im Sinne der Maximierung der Werbeerlöse gestaltet werden.26 Das ist nicht ohne Gefahren für Pluralismus und Meinungsbildung:

23

Gersdorf (Fn. 16), 82. Vgl. Bullinger, Regulierung von Wirtschaft und Medien, Tübingen 2008, 213. Zu den einzelnen im Internet angebotenen Dienstetypen vgl. Held (Fn. 13), 27 ff. 25 Zu den ökonomischen Problemen werbefinanzierter Inhalte s. Holznagel/Dörr/ Hildebrand (Fn. 2), 400 ff. 26 Holznagel/Dörr/Hildebrand (Fn. 2), 386 für das Free-TV; vgl. auch Eberle (Fn. 13), 330 f. Müller-Terpitz, Öffentlich-rechtlicher Rundfunk und Neue Medien – Ein gemeinschafts- und verfassungsrechtliche Betrachtung, AfP 2008. 335, betrachtet dagegen das Internet als „außenplurales Medium par excellence“ und bestreitet den Vielfalt beschränkenden Einfluss der Werbefinanzierung, ähnlich Gersdorf (Fn. 12), 425 f. 24

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• Werbefinanzierte Suchmaschinen und Social Networks haben starken Einfluss auf Informationsvermittlung und Meinungsbildung und befördern Monopolisierungstendenzen;27 • Internetangebote unterliegen dem Diktat hoher Nutzerzahlen, was wiederum Rückwirkungen auf die Auswahl der publizistisch behandelten Sujets und die journalistische Gestaltung der Angebote hat;28 • Meinungsbildung im Internet ist manipulationsanfällig: Internet-Aktivisten kann es kurzfristig gelingen, eine Vielzahl von Nachläufern für meinungsbildende Aktionen zu gewinnen, auch technisch manipulierte Aktionen sind geeignet, Aufmerksamkeitswerte zu erringen. • Im Ergebnis muss deshalb dem Internet – ähnlich wie dem Fernsehen – Marktversagen bescheinigt und dem „Marktmodell“ die Fähigkeit abgesprochen werden, den publizistischen Wettbewerb als ein Instrument zur Optimierung der freien Meinungsbildung zu gewährleisten. Die Beispiele belegen, dass Meinungsbildung im Internet nicht unbedingt dem „liberalen Theorem“ folgt, das besagt, dass sich im Meinungskampf aus dem Konzert der ungezählten Stimmen die Auffassung mit der größten Überzeugungskraft durchsetzt.29 Diese Idealvorstellung, die sicherlich das Bild von der Institution Presse formte, bedarf einer kritischen und systematischen Aufarbeitung im Hinblick auf die Realitäten der Meinungsbildung im Internet. Für das Internet sind subadditive Kostenstrukturen kennzeichnend, d.h. die Grenzkosten zusätzlicher Nutzer sind praktisch gleich Null. Die in der Folge starke Kostendegression pro Nutzerkontakt führt zur wirtschaftlichen Attraktivität massenwirksamer Inhalte und damit zu einem hohen Konzentrationsdruck bei den Anbietern, der sich vielfaltverengend auswirkt. An dieser Stelle kann zwar eine detaillierte Aufbereitung der ökonomischen Problemfelder und Konsequenzen nicht geleistet werden. Auf den ersten Blick lässt sich jedoch schon erkennen, dass zur Sicherung der Meinungsvielfalt im Internet, der es im Hinblick auf die gesellschaftliche Bedeutung dieses Mediums dringend bedarf, das überkommene „Marktmodell“ der klassischen Presse nicht ausreichen dürfte. 2. Schutz des „Instituts der freien Presse“?

Die Freiheit der Presse ist für das Funktionieren des demokratischen Staates schlechthin unabdingbar. Eine Grenzlinie für die öffentlich-rechtliche Internet27 Vgl. Schulz/Held/Laudien, Suchmaschinen als Gatekeeper in der öffentlichen Kommunikation, Berlin 2005, 102 ff.; Eberle (Fn. 13), 330. 28 Vgl. Rösler, JZ 2009, 434, 440; Eberle (Fn. 13), 330 f. Zu den Einflüssen der Werbefinanzierung auf die Medieninhalte vgl. auch BVerfGE 119, 181, 216. 29 Zu diesem „liberalen Theorem“ vgl. Gersdorf (Fn. 16), 74 m.w. N. zur Verfassungsrechtsprechung.

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betätigung könnte deshalb dort gezogen werden müssen, wo diese Betätigung die Pressefreiheit gefährden würde. Die aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 begründete Institutsgarantie30 realisiert den objektiv-rechtlichen Gehalt der Pressefreiheit und schützt deshalb nicht das einzelne Presseunternehmen sondern den Bestand des Systems der freien Presse insgesamt. Dieses könnte insoweit beeinträchtigt werden, als Telemedienangebote der Rundfunkanstalten soviel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, dass Angebote der Presse, insbesondere Bezahlangebote, nicht mehr ausreichende Beachtung finden und mangels ausreichender Nutzerzahlen nicht mehr wirtschaftlich rentabel betrieben werden können. Es mag an dieser Stelle offenbleiben, ob sich die Institutsgarantie der Presse nur auf deren herkömmliche Printangebote (Zeitungen und Zeitschriften) bezieht oder ob auch Telemedienangebote der Verlage von der Institutsgarantie erfasst werden.31 In jedem Fall wird es unter der Fragestellung Schutz der Pressefreiheit darauf ankommen, die Auswirkungen der öffentlich-rechtlichen Internetbetätigung auf die Angebote der Presse zu erfassen und zu bewerten, wobei an dieser Stelle im Sinne eines größtmöglichen Schutzumfangs die Internetangebote der Presse in die Betrachtung mit einbezogen werden sollen. Wenngleich die Pressefreiheit eine institutionelle bzw. eine objektiv-rechtliche Komponente besitzt, darf sie nicht allein aus dem Blickwinkel der Presseverleger gesehen werden. Zwar ist der Staat überall dort, wo der Geltungsbereich von Normen die Presse berührt, verpflichtet, dem Postulat ihrer Freiheit Rechnung zu tragen.32 Das Grundgesetz verweist die Presse aber bei Konflikten auf die allgemeine Rechtsordnung (Art. 5 Abs. 2 GG), unter der sie steht. Dies hat zur Folge, dass andere Rechtsgüter, die der Pressefreiheit wenigstens gleichkommen, von ihr geachtet werden müssen.33 Der objektiv-rechtliche Gehalt der Pressefreiheit ist daher kein Anknüpfungspunkt für Privilegierungen gegenüber dem Rundfunk. Der Grundrechtsschutz ist der Presse um ihrer Aufgaben willen eingeräumt. Er dient der Abwehr von Eingriffen des Staates und wirtschaftlicher Machtgruppen 30 BVerfGE 20, 162, 175; ausführlich zur institutionellen Garantie für die periodische Massenpresse Bullinger, Freiheit von Presse, Rundfunk und Film, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Heidelberg 2009, 909, 921 ff. (Rn. 31 ff.). Kritisch zur Pressefreiheit als institutionellen Garantie Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art 5, Rn. 11 ff. 31 Der Ansatz von Gersdorf (Fn. 12), 424 f., Textangebote im Internet (als „Lesemedien“) weitgehend exklusiv der Pressefreiheit zuzuordnen, überzeugt nicht. Zum einen wählt er eine Differenzierung, die an der Wirklichkeit der nicht mehr auf Texte beschränkten Angebote der Presseunternehmen im Netz vorbeigeht. Zum anderen schafft er sich im Hinblick auf Textangebote in anders grundrechtlich umhegten Bereichen (z. B. Art. 5 Abs. 3, Art. 12 u. a.) Konkurrenzprobleme, die nicht nach Maßgabe einer exklusiven Geltung der Pressefreiheit gelöst werden können, was er selbst im gleichen Beitrag (423) für eine (alternative) exklusive Geltung der Rundfunkfreiheit für solche Angebote kritisiert. 32 BVerfGE 20, 162, 175. 33 BVerfGE 20, 162, 176.

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in Gestaltung und Verbreitung von Presseerzeugnissen. Unbeschadet einer Gefährdung der Presse insgesamt, als Institution, kann die Pressefreiheit aber nicht zur Absicherung der verlegereigenen wirtschaftlichen Interessen herangeführt werden.34 Vor diesem Hintergrund ist der Einwand, die Zulassung gebührenfinanzierter Internetangebote durch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verletze die Neutralitätspflicht des Staates35, nicht tragfähig. Wenn es in der Verfassungsrechtsprechung heißt, es müssen „Verzerrungen des publizistischen Wettbewerbs insgesamt vermieden werden“, dann sollten, soweit nicht inhaltliche Einflussnahme gemeint sind, dazu nur Maßnahmen zählen, die das „freie Spiel“ der publizistischen Kräfte in unzulässiger Weise beeinflussen oder gar manipulieren. Die Zulassung gebührenfinanzierter Angebote des öffentlich-rechtlichen Rundfunks stellt aber keine solche unzulässige Störung im vielstimmigen Konzert der freien Meinungsbildung dar, sondern führt dazu, dass sich zum Kreis der bislang vorhandenen Meinungsbeiträge weitere gesellen, die das Spektrum der Meinungsbildung erweitern und optimieren. Dies gilt umso mehr, als es sich bei den öffentlich-rechtlichen Anbietern um gesellschaftlich kontrollierte Einrichtungen handelt, deren Angebote nach Güte und Qualität der Aufsicht von pluralistisch zusammengesetzten Gremien unterliegen. Mit diesen Beiträgen wird der publizistische Wettbewerb nicht verzerrt, sondern bereichert, denn dieser Wettbewerb wird durch den Zutritt weiterer Marktteilnehmer gestärkt.36 Zum gleichen Ergebnis gelangt man, wenn man – Bullinger folgend – es als geboten ansieht, die Telekommunikation (der das Internet zugerechnet wird) „weder dem Rundfunk noch der Presse noch anderen Schutzbereichen exklusiv zuzuordnen, sondern als inhaltsneutralen Transportweg jedes Schutzbereichs und damit als dessen nicht-exklusiven Annex anzusehen“.37 Dem Rundfunk würde 34 BVerfGE 25, 256, 268. Bullinger (Fn. 30), 927 (Rn. 52 ff.) will aus der institutionellen Garantie der periodischen Presse – entgegen einer früheren BGH-Rechtsprechung (BGHZ 19, 392; 51, 236, 244) keinen Schutz gegen Konkurrenz durch neuartige Presseerzeugnisse (z. B. Anzeigenblätter) herleiten und verweist zugleich darauf, dass der BGH inzwischen von seiner strengen Rechtsprechung in diesem Sinne abgegangen ist (Rn. 54 m.w. N.). 35 Gersdorf (Fn. 16), 72 ff. 36 Vgl. BVerfGE 74, 297, 334 ff. 37 Bullinger (Fn. 24), 248; vgl. in diesem Zusammenhang auch BVerfGE 73, 118, 192 f., wonach der Presse bei der Zulassung zu einem anderen, seinerzeit für private Veranstalter neu erschlossenem Medium (Rundfunk) kein bevorzugter Zugang zu diesem Medium eröffnet ist. Vgl. auch Papier/Schröder (Fn. 12), 23, die Internetangebote mit Texten, Bildern, Tönen etc. als Rundfunk ansehen und der Rundfunkfreiheit unterstellen, gleichzeitig aber Internetangebote der Presse als Annex einer (entwicklungsoffenen) Pressefreiheit zuordnen. Fiedler, Technologieneutrale Pressefreiheit, AfP 2011, 15, 16 f., fordert für die Betätigung der Presse im Internet („elektronisch verbreitete Texte und Bilder“) einen „technologieneutralen“, „presseidentischen“ Grundrechtsschutz.

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dann – wie der Presse auch, so müsste man Bullinger an dieser Stelle ergänzen – (nur) im jeweiligen „Stammbereich“ ein Ausschließlichkeitsrecht zukommen, im Internet (als dem jeweiligen „Annexbereich“) bliebe es beim Konkurrenzverhältnis der jeweiligen Medien. Damit sind die berechtigten ökonomischen Interessen der Presse nicht ungeschützt: Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass die mit der öffentlich-rechtlichen Internetbetätigung verbundenen Auswirkungen auf andere Anbieter im Internet bereits unter beihilferechtlichen Aspekten nicht nur thematisiert, sondern einer methodischen Analyse und rechtlichen Bewertung zugeführt worden sind. Das Beihilferecht erfasst insoweit das Verhältnis der Presse zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk komplementär zur Institutsgarantie des Grundgesetzes, indem es wettbewerbsrechtlich relevante Märkte vor staatlich generierten faktischen Beeinträchtigungen zum Erhalt des freien Wettbewerbs als marktwirtschaftliches Ordnungsprinzip schützt. Im Beihilferecht wurde der in diesem Zusammenhang nötige Prüfvorgang, ob – unterhalb der Gefährdung des Instituts der freien Presse als solches – eine unangemessene Beeinträchtigung der Branche durch öffentlich-rechtliche Konkurrenten vorliegt, in der Form des Drei-Stufen-Tests methodisch systematisiert. Der Rundfunkstaatsvertrag schreibt die Durchführung dieses Verfahrens für den Bestand und für neue Angebote der Rundfunkanstalten im Internet vor. Der DreiStufen-Test beinhaltet die Prüfung der öffentlich-rechtlichen Internetbetätigung anhand des Auftrags der Anstalten, die Prüfung des Beitrags der Anstalten zum publizistischen Wettbewerb einschließlich der marktlichen Auswirkungen der Angebote und die Transparenz der zur Finanzierung der Angebote erforderlichen Mittel. Der aus beihilferechtlicher Sicht besonders relevante Prüfungsabschnitt, nämlich die marktlichen Auswirkungen der gebührenfinanzierten Internetbetätigung der Anstalten und die damit möglicherweise bewirkte staatlich generierte Beeinträchtigung des wirtschaftlichen Wettbewerbs, erfährt dadurch besondere Transparenz und Nachvollziehbarkeit, dass diese Auswirkungen durch fachliche Gutachten nachzuweisen sind. Die Fragestellungen im Beihilferecht einerseits und beim (ökonomischen) Schutz des Instituts der freien Presse andererseits legen es nahe, die Vorgehensweise bei der Prüfung der wirtschaftlichen Auswirkungen öffentlich-rechtlicher Internetbetätigung zu synchronisieren und für die verfassungsrechtliche Prüfung auf die mit dem beihilferechtlichen Prüfinstrumentarium des Drei-Stufen-Tests gewonnenen Erkenntnisse zurückzugreifen. Danach sind die wirtschaftlichen Auswirkungen der öffentlich-rechtlichen Telemedienangebote auf die Angebotssituation der Presseunternehmen so gering, dass eine nennenswerte Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Lage der Presse in keiner Weise zu erwarten ist.38 Das 38

Vgl. dazu eingehend Woldt (Fn. 10), 66 ff.

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bedeutet, dass dem Institut der freien Presse durch die Telemedienangebote der Rundfunkanstalten keine relevanten Gefahren entstehen. Auch aus dem Aspekt des Schutzes des Instituts der freien Presse ergeben sich deshalb keine neuen, erweiterten Grenzlinien für die Internetbetätigung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. IV. Fazit Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland bewegt sich mit seinen Telemedienangeboten auf rechtlich sicherem Boden. Nachdem im beihilferechtlichen Beschwerdeverfahren ein Kompromiss zwischen der Kommission und der deutschen Seite gefunden worden war, wurde in dem an dieser Kompromisslinie ausgerichteten 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag der Telemedienauftrag für ARD und ZDF in seinen Eckpunkten formuliert und in den Telemedienkonzepten der Rundfunkanstalten konkretisiert. Mit ihren Telemedienangeboten kommen die Rundfunkanstalten ihrem solchermaßen rechtlich fixierten Funktionsauftrag im Internet nach. Aus dem Grundrecht der Pressefreiheit hergeleitete Einwendungen gegen die Internetbetätigung der Rundfunkanstalten sind nicht begründet. So kann weder ein aus der Pressefreiheit hergeleitetes „Marktmodell“ als Grundmodell der Massenkommunikation herhalten noch verstößt die Gebührenfinanzierung der öffentlich-rechtlichen Internetangebote gegen eine „Neutralitätspflicht“ des Staates. Vielmehr leisten die Rundfunkanstalten mit ihren Internetangeboten einen wichtigen Beitrag zum publizistischen Wettbewerb und gleichen Marktversagens-Defizite aus. Schließlich scheidet auch eine Beeinträchtigung des Instituts der freien Presse aus, nachdem der nur geringe, nicht relevante marktliche Effekt der öffentlich-rechtlichen Internetangebote durch Marktgutachten bestätigt wird.

Autonomie als Basis freiheitlicher Medienordnung Von Karl-Eberhard Hain I. Einleitende Bemerkungen Klaus Stern hat sich im Rahmen seines umfangreichen wissenschaftlichen Werkes intensiv der autonomiebasierten Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) als Grundlage eines Systems der Grundrechte gewidmet. Darin weiß sich der Verfasser dieses Beitrages mit dem Jubilar einig. Nachfolgend soll diese Konzeption im Hinblick auf die Kommunikationsgrundrechte und ihre Konkretisierung in Gestalt von Maximen der Medienordnung fruchtbar gemacht werden. Zunächst ist der Autonomiebegriff zu untersuchen, der der Würdegarantie des Grundgesetzes zugrunde liegt, die ihrerseits die Basis des Systems der Grundrechte bildet (II.). Dann soll die Bedeutung von (Massen-)Kommunikation für die Aktualisierung von Autonomie erörtert werden (III.). Weiterhin sollen zentrale Elemente der Medienordnung auf ihren Zusammenhang mit dem Autonomieprinzip untersucht werden (IV.). Abschließend wird der Frage nachgegangen, inwiefern die grundrechtlichen Garantien der Medien, insbesondere die Rundfunkfreiheit, im Sinne des Autonomieprinzips zu interpretieren sind (V.). II. Autonomie, Würde und grundrechtliche Freiheit Die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes absichtsvoll an den Anfang des Grundgesetzes1 und seines Grundrechtsteils gestellt und in den Schutz der Revisionssperrklausel des Art. 79 Abs. 3 GG einbezogen, wird als „tragendes Konstitutionsprinzip“ 2 der Verfassungsordnung des Grundgesetzes charakterisiert. Sie bildet in der Tat das Fundament der freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland3, stiftet die innere Sinneinheit der verfassunggeberischen Grundentscheidungen4 und ist mit Recht als „der eigentliche Schlüssel für das 1

Karl-E. Hain, Die Grundsätze des Grundgesetzes, 1999, S. 212. Grundlegend BVerfGE 5, 85 (204); dazu Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 58 II 3 a; ders., Die normative Dimension der Menschenwürdegarantie, in: Brenner u. a. (Hrsg.), FS Badura, 2004, S. 571 (572); ders., Die Bedeutung der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 III GG für die Grundrechte, JuS 1985, S. 329 (334), jeweils m.w. N. 3 Vgl. Stern, StR III/1 (Fn. 2), § 58 II 1 c g. 4 Hain (Fn. 1), S. 467. 2

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Ganze“5 bezeichnet worden. Diese fundamentale Bedeutung kommt der Würdegarantie auch hinsichtlich der Grundrechte des Grundgesetzes zu.6 Einerseits sichern die klassischen Freiheitsrechte die Achtung vor der Menschenwürde7 und sind vor dem Hintergrund dieser Funktion zu interpretieren, andererseits bildet die Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde den „Ansatzpunkt“8 zur Entwicklung der Schutzpflichtendogmatik. Für eine Systembildung im Bereich der Grundrechte, welche zur Deutung und Erklärung der Grundrechte beitragen will9, bildet die Garantie der Menschenwürde die materiale Basis. Insofern nennt Stern mit voller Berechtigung Würde und Personalität des Menschen als erstes der „systemtragenden Elemente“10 eines Systems der Grundrechte. Wenn die Garantie der Menschenwürde den Grund der Grundrechte bildet, gilt es zu eruieren, welche – für die nachfolgenden Grundrechte des Grundgesetzes sinnstiftenden und die Basis für eine Systembildung bietenden – Gehalte diese Garantie aufweist. Nun steht der Würdebegriff des Grundgesetzes „in der Kontinuität der philosophischen Überlieferung“11 und ruht insofern auf einem „vorpositiven Fundament“12, so dass die Interpretation der Menschenwürde als eines Begriffs des positiven deutschen Verfassungsrechts nicht ohne die Bezugnahme auf dieses Fundament gelingen kann13. Angesichts der Vielzahl unterschiedlicher philosophischer Würdekonzepte14 ist indes festzuhalten, dass der positive Verfassungsbegriff der Menschenwürde auf eine bestimmte, nämlich eine rationalistisch-individualistische Entwicklungslinie in der abendländischen Theologie und Philosophie rekurriert15. 5 Abg. des Parlamentarischen Rates Carlo Schmid, hier zit. nach Stern, StR III/1 (Fn. 2), § 58 II 1 c g. 6 Vgl. den Titel des § 58 in: Stern, StR III/1 (Fn. 2): „Die Menschenwürde als Fundament der Grundrechte“; s. a. Stern, in: FS Badura (Fn. 2), S. 571 (572). 7 Klaus Stern, Altes und Neues aus der Genese der Grundrechte des Grundgesetzes, JA 1984, S. 642 (645). 8 Vgl. nur Stern, in: FS Badura (Fn. 2), S. 571 (578); ders., StR III/1 (Fn. 2), § 69 IV 4 a; s. a. Karl-E. Hain, Ockham’s Razor – ein Instrument zur Rationalisierung der Grundrechtsdogmatik?, JZ 2002, S. 1036 (1041 ff.). 9 Klaus Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR V, 2. Aufl., 2000, § 109, Rn. 31. 10 Stern, in: HbdStR V (Fn. 9), § 109, Rn. 35. 11 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ders., GG, 6. Aufl., 2010, Art. 1, Rn. 17. 12 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Menschenwürde war unantastbar, FAZ v. 03.09. 2003, S. 33. 13 Dazu treffend Starck (Fn. 11), Art. 1, Rn. 3. s. a. Karl-E. Hain, Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?, Der Staat Bd. 45 (2006), S. 189 (192 f.), in kritischer Auseinandersetzung mit Herdegen, in: Maunz/Dürig u. a., GG, Bd. 1, Loseblattsammlung, Stand: Oktober 2010, Art. 1, Rn. 19; Martin Nettesheim, Die Garantie der Menschenwürde zwischen metaphysischer Überhöhung und bloßem Abwägungstopos, AöR Bd. 130 (2005), S. 71 (89 ff.). 14 Vgl. dazu nur knapp Starck (Fn. 11), Art. 1, Rn. 4 m.w. N. 15 Dazu näher Hain (Fn. 13), S. 189 (194 ff.) m.w. N.

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Es ist Immanuel Kant, der diese Entwicklung in Gestalt seiner Philosophie zu einem Höhepunkt führt. Nach der Konzeption Kants liegt der Grund der unverlierbaren16 Würde17 der menschlichen wie jeder vernünftigen Natur18 in der inneren Autonomie19, die sich im Praktischen daraus ergibt, dass das vernünftige Wesen auf der Basis des Kategorischen Imperativs20 – als des moralischen Gesetzes im Status eines „Faktum(s)“21 der reinen praktischen Vernunft – verallgemeinerbare Maximen für sein praktisches Handeln identifiziert und diesem zugrunde legt. Der Kategorische Imperativ findet in der sog. „Zweck-Formel“ eine Formulierung, die ein materiales Kriterium22 für die Verallgemeinerbarkeit der Maximen des Handelns beinhaltet. Die „Zweck-Formel“ lautet: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, 16 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (im Folgenden: MdS), zit. nach Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe, Bd. VIII, 9. Aufl., 1991, Tugendlehre, Ethische Elementarlehre, § 39, S. 601. Vgl. dazu Peter Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 351 f. 17 Ich vermag Stern, StR III/1 (Fn. 2), § 58 I 1 b, nicht zu folgen, wenn er einerseits – mit Recht – sittliche Autonomie als Grund der Würde bei Kant versteht, andererseits aber ausführt, Würde selbst sei in Kants Werk kein zentrales Anliegen. Immerhin ist der Begriff der Würde – als Folge der Autonomie vernünftiger Naturen – unmittelbar mit dem zentralen Begriff Kantischer Philosophie – vgl. Peter Unruh, Die Herrschaft der Vernunft, 1993, S. 47 – verbunden. 18 Die Vermutung Sterns, StR III/1 (Fn. 2), § 58 I 1 b, Kant billige im Grunde genommen Würde überhaupt nicht dem einzelnen Menschen zu, lässt sich anhand der Schriften Kants nicht bestätigen. Sofern der Mensch als Gattungswesen an der prinzipiellen Vernunftbegabung der Menschheit teilhat, kommt ihm als Subjekt und Person die Würde, d.h. der innere Wert zu, der ihn Zweck an sich selbst sein lässt; vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (im Folgenden: GMS), zit. nach Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe, Bd. VII, 12. Aufl., 1993, 2. Abschnitt, S. 59 f. Auch kann der Interpretation Sterns, a. a. O., Kant billige nicht jedem Menschen unabhängig von seiner Beschaffenheit und seinem Verhalten allein kraft seines Menschseins Würde zu, nicht gefolgt werden. Gerade aufgrund der Zugehörigkeit zur Gattung Mensch und der daraus resultierenden Teilhabe an der a priori, d.h. vor aller empirischen Erfahrung angenommenen Vernunftfähigkeit, kommt bei Kant jedem einzelnen Menschen Würde zu; so auch Tatjana Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, 1990, S. 34 f. Die Verpflichtung zur Achtung jedes Menschen beruht gerade auf seiner in der Freiheit und Vernunftbegabung begründeten Würde, die der Einzelne auch durch „lasterhaftes“ Verhalten nicht verlieren kann; Kant, MdS (Fn. 16), Tugendlehre, §§ 38 f. mit nachfolgender Anmerkung, S. 600 ff. Näher Karl-E. Hain, Wie wird Freiheit heute rechtlich geordnet? – Rechtsphilosophie nach Kant, in: Kaplow (Hrsg.), Nach Kant: Erbe und Kritik, 2005, S. 193 (208). 19 Kant, GMS (Fn. 18), 2. Abschnitt, S. 69. Dazu Unruh (Fn. 16), S. 350 m.w. N. 20 Die Grundformel lautet: „. . . handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Kant, GMS (Fn. 18), 2. Abschnitt, S. 51. 21 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, zit. nach Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe, Bd. VII, 12. Aufl., 1993, § 8 I, S. 161. 22 Dazu näher Karl-E. Hain, Freiheit unter Friedlichkeitsvorbehalt?, in: Alexy (Hrsg.), Juristische Grundlagenforschung, ARSP-Beiheft 104, 2005, S. 157 (169 mit Fn. 106) m.w. N.

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jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“23 Es geht danach um Verallgemeinerbarkeit im Hinblick auf die gleiche Freiheit aller Individuen als vernünftige Wesen und damit Zwecke an sich selbst24. Und es ist eben diese Freiheit im Sinne sittlicher Autonomie, die den Grund der (gleichen) Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur ausmacht25. Dementsprechend besteht bei Kant eine denkbar enge Verbindung zwischen Würde als absolutem inneren Wert, Autonomie, Freiheit und Sittlichkeit26. Diese sittliche Aufladung des Autonomiebegriffs widerlegt indes nicht die These einer Konvergenz zwischen der Kantischen und der grundgesetzlichen Konzeption von der Menschenwürde.27 Auf der Basis der inneren Autonomie28 nimmt Kant in der Einteilung zur Rechtslehre die gleiche (äußere juridische) Freiheit als ursprünglich jedem Menschen kraft seiner Menschheit – d.h. kraft der auf Vernunftbegabung, an der jeder Mensch als Gattungswesen prinzipiell teilhat – zukommendes, einziges angeborenes Recht an, „sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“29. Dieser rationale Begriff (äußerer) Freiheit ist auf die Reziprozität gleicher Freiheiten der Individuen angelegt30, und dem korrespondiert der Kantische Rechtsbegriff, demgemäß „Recht . . . die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann (ist), in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; . . .“31 Die gleiche äußere Freiheit, die bei Kant ihren Niederschlag in speziellen Freiheitsgewährleistungen wie dem Eigentums- und Erbrecht, der Meinungsfreiheit einschließlich der Gedanken- und Pressefreiheit findet, hat der Gesetzgeber auch im Hinblick auf die in Ermangelung der Selbständigkeit nicht zur politischen Aktiv-Bürgerschaft zählenden Individuen32 zu

23

Kant, GMS (Fn. 18), 2. Abschnitt, S. 61. Vgl. Kant, GMS (Fn. 18), 2. Abschnitt, S. 59 f. 25 Kant, GMS (Fn. 18), 2. Abschnitt, S. 69. 26 Kant, GMS (Fn. 18), 2. Abschnitt, S. 68 f., 3. Abschnitt, S. 88. Vgl. auch Christoph Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 194 f. 27 A. A. Stern, StR III/1 (Fn. 2), § 58 I 1 b. Zur Konvergenzthese und der dagegen gerichteten Kritik Hain (Fn. 1), S. 218 ff.; ders. (Fn. 18), S. 193 (204 ff.), jeweils m.w. N. 28 Ich gehe von einer Konsistenz in den Grundlagen der Ethik und der Rechtslehre Kants dergestalt aus, dass beide auf dem Prinzip der Autonomie des Menschen beruhen; dazu bereits Hain (Fn. 22), S. 157 (169 mit Fn. 104) m.w. N. zu der einschlägigen kontroversen Diskussion. 29 Kant, MdS (Fn. 16), Einteilung der Rechtslehre, B, S. 345 f. 30 Vgl. auch die Formulierung Kants, GMS (Fn. 18), S. 63: „Dieses Prinzip der Menschheit . . . als Zwecks an sich selbst (welche die oberste Einschränkung der Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist) . . .“ 31 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, II. Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht, in: Weischedel (Hrsg.), Werkausgabe, Bd. XI, 10. Aufl., 1993, S. 127 (144). 32 Vgl. Kant, MdS (Fn. 16), Rechtslehre, Das Staatsrecht, § 46, S. 432 f. 24

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achten33. Ihr ist also insoweit m. E. – in heutigen Kategorien gedacht – grundrechtlicher (Abwehr-)Charakter zu attestieren34, während die – ebenfalls auf innerer Autonomie gründende – politische Freiheit des selbständigen Aktiv-Bürgers darin besteht, „keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat . . .“ 35 Freilich darf Kants Würde- und Freiheitskonzeption nicht in allen Aspekten mit dem gegenwärtigen Stand des Würde- und Grundrechtsverständnisses unter dem Grundgesetz gleichgesetzt werden. Kants Konzeption fehlt die soziale Dimension36, sie verkürzt durch die Voraussetzung der Selbständigkeit das Recht auf politische Partizipation erheblich37 und weist bei weitem nicht die Komplexität heutigen grundrechtlichen Denkens auf. Eine deutliche Konvergenz zeigt sich indes im Hinblick auf den Grund für die Zuerkennung von Würde sowie im Hinblick auf die Annahme der Reziprozität gleicher Freiheit und nicht zuletzt die Ableitung der äußeren grundrechtlichen wie auch der politischen Freiheit aus der autonomiebasierten Menschenwürde. Dies zeigt sich schon frühzeitig in der Rechtsprechung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs38, der zufolge der Mensch als Person Träger höchster geistig-sittlicher Werte ist und einen unverlierbaren sittlichen Eigenwert verkörpert. Auf derselben Linie liegt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in den frühen Parteienverbotsverfahren, der gemäß der freiheitlich-demokratischen Grundordnung die Vorstellung zugrunde liege, der Mensch besitze in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert und Freiheit und Gleichheit seien Grundwerte der staatlichen Einheit. Diese Grundordnung sei das Gegenteil des totalen Staates39, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, 33

Kant, MdS (Fn. 16), Rechtslehre, Das Staatsrecht, § 46, S. 433. Das ist streitig. Dezidiert gegen ein grundrechtliches Verständnis der äußeren Freiheit Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, 1984, S. 238 f., 265, auf der Grundlage einer „rousseauistischen“ Deutung Kants; s. a. Ulli F. H. Rühl, Kants Deduktion des Rechts als intelligibler Besitz, 2010, S. 66 f.; dagegen Hain (Fn. 18), S. 193 (194 ff.). 35 Kant, MdS (Fn. 16), Rechtslehre, Das Staatsrecht, § 46, S. 432. Zur „politischen Freiheit“ bei Kant Unruh (Fn. 17), S. 125 ff. 36 Vgl. nur Unruh (Fn. 17), S. 192 f.; Hain (Fn. 1), S. 221 f. 37 Zur Problematik ausführlich Unruh (Fn. 17), S. 141 ff. m. zahlr. N. 38 BayVerfGHE 1, 29 (32). 39 Es ist nicht unproblematisch, wenn das Bundesverfassungsgericht neuerdings im Wunsiedel-Beschluss v. 04.11.2009, BVerfGE 124, 300 (328), ausführt, das nationalsozialistische Regime habe für die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland eine gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung, die einzigartig sei. Das Grundgesetz könne weithin geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden. In der oben zitierten Passage des SRP-Urteils wird klarer und zutreffend gesehen, dass die freiheitlich-demokratische Grundordnung des Grundgesetzes eine Reaktion auf und ein Gegenbild zu Totalitarismen jedweder Provenienz bildet, was i. Ü. anhand der frühen Entscheidungen zum Verbot der SRP einerseits wie der KPD andererseits – BVerfGE 2, 1; 5, 85 – plastisch wird. 34

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Freiheit und Gleichheit ablehne.40 In der freiheitlichen Demokratie sei die Würde des Menschen der oberste Wert. Der Mensch sei danach eine mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte „Persönlichkeit“. Er werde als fähig angesehen, und es werde ihm demgemäß abgefordert41, seine Interessen und Ideen mit denen der anderen auszugleichen. Um seiner Würde willen müsse ihm eine möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit gesichert werden.42 Bereits in dieser frühen Rechtsprechung ist die Fundierung der Würde in der sittlichen Autonomie angelegt, die den Menschen befähigt43 und verpflichtet, die gleiche Freiheit der je anderen bei seiner Selbstbestimmung ins sittliche Kalkül zu ziehen. Die Reziprozität gleicher Würde und Freiheit tritt i. Ü. in der Rechtsprechung zum Menschenbild des Grundgesetzes deutlich hervor44. Mit der Gründung der Menschenwürde auf die Fähigkeit zu autonomer Selbstbestimmung des als frei und in Bezug auf die Freiheit als gleich zu betrachtenden Menschen als Person45 ist auch Dürigs Konzeption in erheblichem Maße „Kant-affin“ 46, und die nach Stern bezüglich der Operationalisierung der Würdegarantie in die richtige Richtung weisende47 Objekt-Formel Dürigs hat wiederum denkbar enge Bezüge zu Kants Zweck-Formel des Kategorischen Imperativs48. In dieser hier knapp dargestellten interpretatorischen Tradition steht auch Stern, wenn er prägnant formuliert: „Die Idee der Grundrechte beruht auf der Vorstellung der Würde und Freiheit des Individuums als autonomer Persönlichkeit und vernunftbegabtem Wesen.“ 49

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BVerfGE 2, 1 (12). Dies zur Pflichtenkomponente der Menschenwürde, die nicht nur bei Kant, sondern auch im Rahmen der Würdekonzeption unter dem Grundgesetz zu verzeichnen ist – in der Tendenz anders Stern, StR III/1 (Fn. 2), § 58 I 1 b – und sich i. Ü. in der Anerkennung der sog. (mittelbaren) Drittwirkung oder Geltung der Menschenwürde in Horizontalverhältnissen widerspiegelt; vgl. zu Letzterem deutlich Klaus Stern, in: Achterberg u. a. (Hrsg.), FS Scupin, 1983, S. 627 (636); s. a. Starck (Fn. 11), Art. 1, Rn. 33, 116; Hain (Fn. 1), S. 266 ff. 42 BVerfGE 5, 85 (204). 43 Ebenso wie Kant erkennt das Bundesverfassungsgericht – E 87, 209 (228); Anführungszeichen im Original – jedem Menschen kraft seiner Zugehörigkeit zu einer prinzipiell vernunftbegabten Gattung ohne Rücksicht auf aktuelle Leistungen und Eigenschaften und unabhängig von „unwürdigem“ Verhalten Menschenwürde zu. 44 So bereits Hain (Fn. 1), S. 218, unter Rekurs auf BVerfGE 4, 7 (15 f.). 45 Günter Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR Bd. 81 (1956), S. 117 (125). 46 So bereits Hain (Fn. 1), S. 220 m.w. N. 47 Stern, StR III/1 (Fn. 2), § 58 II 3 c. 48 Vgl. Starck (Fn. 11), Art. 1, Rn. 17. 49 Klaus Stern, Verfassungsrechtliche wider „ideologische“ Deutung der Grundrechte, in: Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), Wirtschaftliche Entwicklungslinien und gesellschaftlicher Wandel, 1983, S. 61 (71); s. a. ders. (Fn. 2), JuS 1985, S. 329 (335); ders., StR III/1 (Fn. 2), § 58 II 6 a, 7; ders., HbdStR V (Fn. 9), § 108, Rn. 3, 8. 41

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Der Grund der Zuerkennung von Würde an jede der Gattung Mensch angehörige Person liegt demnach in der prinzipiellen Vernunftbegabung, die den Menschen im Praktischen befähigt, sittlich autonom sein Handeln auf der Basis – im Hinblick auf die gleiche Autonomie aller Menschen – verallgemeinerungsfähiger Maximen zu bestimmen. Um zu ermöglichen, dass der Mensch diese innere sittliche Autonomie, die seine vom Staat zu achtende und zu schützende Würde (Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG) ausmacht, ausüben kann, garantiert das Grundgesetz sachlich umfassend gleich verteilte grundrechtliche Freiheit50 und Rechte auf politische Partizipation. Das Telos grundrechtlicher Freiheit und Gleichheit liegt also in der Gewährleistung je gleicher „Freiheitsräume“ zur Ermöglichung der Aktualisierung sittlicher Autonomie der Individuen51. Von diesem Telos her ist grundrechtliche Freiheit zu interpretieren. Diese Freiheit ist – soweit auch auf der Schutzbereichsebene grundrechtlicher Gewährleistungen prinzipiell unbegrenzt eingeräumt – keine Freiheit subjektiver Beliebigkeit52, sondern eine Freiheit zur Ausübung innerer sittlicher Autonomie im dargelegten Sinne und zum Handeln auf dieser Basis. III. Autonomie, Kommunikation und Information Insoweit der Prozess der autonomen Selbstbestimmung des Individuums in privater wie politischer Hinsicht auf die Gewinnung von Handlungsorientierung unter den Bedingungen der tatsächlichen Welt gerichtet ist, ist das Individuum auf die Kenntnisnahme von Daten über die Außenwelt, d.h. bezüglich je relevanter Fakten und Meinungen, Haltungen etc. Dritter angewiesen. Die für die Handlungsorientierung maßgeblichen Außenweltdaten kann aber das Individuum jedenfalls unter den Bedingungen der komplexen modernen Zivilisationen nur zu einem geringen Teil durch eigene Anschauung gewinnen. Das Individuum ist vielmehr diesbezüglich auf Kommunikationen verwiesen.53 Dies gilt auch hinsichtlich der Gewinnung einer Basis zur inneren Orientierung durch Auseinandersetzung mit den Beiträgen anderer im Rahmen des „geistigen Kampfes“ 54. Mit Recht wird insoweit die elementare Bedeutung der Freiheiten des Art. 5 50

Vgl. Stern, StR III/1 (Fn. 2), § 58 III 3 a, b. Vgl. Hain (Fn. 13), S. 189 (198); ders., Menschenwürde als Rechtsprinzip, in: Sandkühler (Hrsg.), Menschenwürde – Philosophische, theologische und juristische Analysen, 2007, S. 87 (92). 52 Vgl. Klaus Stern, Die Stellung des Individuums in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), Politische Systeme in Deutschland, 1980, S. 59 (72), unter Rekurs auf Kant. 53 Im Ansatz bereits Karl-E. Hain, Das werberechtliche Trennungsgebot und dieses flankierende Regelungen, K&R 2008, S. 661 (662). 54 BVerfGE 5, 85 (205). Geradezu exemplarisch beschrieben wird die Rolle der Presse für die Bildung autonomer Entscheidungen der Individuen im Politischen in BVerfGE 20, 162 (174 f.). 51

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Abs. 1 Satz 1 GG hervorgehoben55, die in der Tat fundamentale Freiheitsräume zur Aktualisierung privater wie politischer56 Autonomie absichern. Zutreffend hebt Degenhart die Bedeutung der Freiheit der Kommunikation als einer elementaren Voraussetzung der Verwirklichung der Persönlichkeit des Individuums und der freiheitlichen Demokratie57 hervor, und fokussiert den Zusammenhang zwischen Autonomie des Einzelnen als bourgeois und citoyen einerseits und kommunikativer Freiheit andererseits, wenn er ausführt, gerade durch Meinungs- und Informationsfreiheit werde der Einzelne instandgesetzt, eigenverantwortlich im privaten und öffentlichen Bereich zu handeln58. Die zur autonom zu gewinnenden Handlungsorientierung erforderlichen Inputs können nun bei weitem nicht ausschließlich auf dem Wege interpersonaler Individualkommunikation gewonnen werden. In der modernen Kommunikationsgesellschaft spielen vielmehr die Medien eine zentrale Rolle für die private wie politische Meinungsbildung. Sie sind indes nicht nur neutrale Kanäle zur Übermittlung von Fakten und Meinungen Dritter an eine unbestimmte Vielzahl von Rezipienten, besser gesagt: sie sind nicht einmal das. Ihre (journalistisch-redaktionellen) Datenselektions- und -aufbereitungsleistungen sind nicht unbeeinflusst von Wertungen. Zudem fungieren sie nicht nur als Mittler fremder Meinungen, sondern „machen“ selbst „Meinung“. Diese doppelte Funktion der Massenmedien ist in der bekannten Medium- und Faktor-These des Bundesverfassungsgerichts59 eingefangen. Dabei wird den Massenmedien und insbesondere unterschiedlichen Massenmedien in unterschiedlicher Weise und Intensität ein Machtpotential zugemessen. So ist das deutsche Medienrecht bis heute von der Vorstellung der großen suggestiven und persuasiven Kraft bewegter Bilder durchdrungen.60 Stellen die Medien demnach einerseits einen Meinungsmacht-Faktor dar, sind sie selbst andererseits Vermachtungsgefahren ausgesetzt. Damit wird der Einfluss der Medien auf den Prozess der Meinungsbildung zum Risiko für die Aktualisierung autonomer Selbstbestimmung der Individuen im Privaten wie im Politischen. Denn Voraussetzungen des Gelingens individueller Selbstbestimmung des diesbezüglich auf Außenweltdaten angewiesenen Subjekts sind insbesondere die 55 Herbert Bethge, in: Sachs, GG, 5. Aufl., 2009, Art. 5, Rn. 22, 51; Helmuth Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl., 2004, Art. 5 I, II, Rn. 40, 43; Christoph Degenhart, in: BK GG, Bd. 2, Loseblatt, Stand: Dezember 2010, Art. 5, Rn. 2 ff.; Starck (Fn. 11), Art. 5, Rn. 1, jeweils m.w. N. zur Rspr. des Bundesverfassungsgerichts. 56 Deutlich und mit vollem Recht verwahrt sich Bethge (Fn. 55), Art. 5, Rn. 19 f., gegen eine einseitig demokratisch-funktionale Betrachtung der Kommunikationsfreiheiten. 57 Degenhart (Fn. 55), Art. 5, Rn. 3, 5 mit Bezug auf BVerfGE 7, 198 (208). 58 Degenhart (Fn. 55), Art. 5, Rn. 3, 5 mit Bezug auf BVerfGE 22, 71 (81). 59 Grundlegend BVerfGE 12, 205 (260) im Hinblick auf Presse und Rundfunk. 60 Vgl. nur BVerfGE 119, 181 (214 f.) m.w. N.

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Wahrheit und Repräsentativität der ihm im Wege der (Massen-)Kommunikation zugeleiteten jeweils relevanten Daten. Dies umschließt die Repräsentativität (massen-)kommunikativ übermittelter Rekonstruktionen von Meinungsbildern. In diesem Zusammenhang kommt es auch darauf an, strukturelle Sicherungen gegen den Aufbau von Meinungsmachtpositionen in den bzw. im Hinblick auf die Medien zu schaffen, die es ermöglichen, auf die mediale Darstellung von Fakten und Meinungsbildern einseitig Einfluss zu nehmen.61 Eine – ggf. interessegeleitete und auf der Basis von Machtpositionen des Staates oder einzelner gesellschaftlicher Gruppen durchgesetzte – verkürzte oder verzerrte mediale Wiedergabe von Fakten und Meinungen bzw. Meinungsbildern macht den Einzelnen tendenziell zum Objekt von mit der verfassungsrechtlich zuerkannten Subjektqualität des Individuums nicht vereinbaren Fremdsteuerung. Daher bildet die Verhinderung des Missbrauchs des Machtpotenzials der Medien eine „Bedingung der Möglichkeit“ gelingender autonomer Selbstbestimmung der Individuen als eines rationalen Prozesses. IV. Autonomie und zentrale Elemente der Medienordnung Nach alledem sind die im Hinblick auf mediale Vermittlungsleistungen genannten Bedingungen für die Entfaltung individueller Autonomie im Rahmen der Medienordnung – Wahrheit und Repräsentativität massenkommunikativ übermittelter Daten einschließlich der Repräsentativität der Rekonstruktionen von Meinungsbildern sowie Verhinderung dysfunktionaler Vermachtungen – sicherzustellen. Sie bilden zugleich Voraussetzungen des durch die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG geschützten62 Prozesses freiheitlicher Meinungsbildung. Es geht insoweit speziell um die Sicherung der verfassungsrechtlichen Positionen der um ihrer privaten wie politischen Selbstbestimmung willen am Prozess der Meinungsbildung partizipierenden Subjekte als Kommunikatoren und Rezipienten, deren Positionen jedenfalls abwehrrechtlich63 in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG abgesichert sind. Hinsichtlich der Presse ist ein durch das Bundesverfassungsgericht64 sanktioniertes Ordnungsmodell gewählt worden, welches prinzipiell auf Gründungs-

61

Vgl. zum Vorstehenden Hain (Fn. 53), S. 661 (662). Vgl. Bethge (Fn. 55), Art. 5, Rn. 18. 63 Zur Frage der verfassungsrechtlichen Fundierung entsprechender Schutzpflichten s. u. V. 64 BVerfGE 20, 162 (175); 66, 116 (133). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind diese Ordnungselemente verfassungsrechtlich gewährleistet; vgl. dazu nur Stern, StR IV/1, § 109 II 5 a; Degenhart (Fn. 55), Art. 5, Rn. 382, 437 ff.; Bethge (Fn. 55), Art. 5, Rn. 72; krit. Hoffmann-Riem, AK GG, 3. Aufl., Loseblattsammlung, Stand: August 2002, Art. 5, Rn. 190 ff., 209 ff. 62

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freiheit, Privatwirtschaftlichkeit/Staatsfreiheit65 und Tendenzfreiheit setzt und die Sicherung (außenpluraler) Vielfalt und den Schutz vor die Meinungsbildung dominierenden Machtpositionen in der publizistischen wie wirtschaftlichen Konkurrenz privatrechtlich verfasster Presseorgane mit Tendenzfreiheit sucht. Dies schließt – auf der Schrankenebene des Art. 5 Abs. 2 GG angesiedelte66 – staatliche Maßnahmen zur Sicherung der Funktionsfähigkeit publizistischer und ökonomischer Konkurrenz im Hinblick auf die Freiheitlichkeit des Meinungsbildungsprozesses als Voraussetzung der Entfaltung personaler Autonomie nicht aus67. Mit Recht hat vielmehr das Bundesverfassungsgericht, das davon ausgeht, die Funktion der Presse im Hinblick auf die Repräsentation von Meinungsvielfalt und Meinungsbildung setze die Existenz einer relativ großen Zahl selbständiger, vom Staat unabhängiger und nach ihrer Tendenz, politischen Färbung oder weltanschaulichen Grundhaltung miteinander konkurrierender Presseerzeugnisse voraus68, in der Spiegel-Entscheidung eine Pflicht des Staates erwogen, „Gefahren abzuwehren, die einem freien Pressewesen aus der Bildung von Meinungsmonopolen erwachsen könnten“69. Angesichts des zu verzeichnenden, durch die Pressefusionskontrolle nicht verhinderten Grades an Pressekonzentration insbesondere auf lokaler und regionaler Ebene sowie infolge aus der angespannten ökonomischen Situation (zumindest von Teilen) der Presse70 resultierenden, weitergehenden Konzentrationsdrucks ist die Frage, ob konkrete Maßnahmen zur Erfüllung dieser Pflicht ergriffen werden müssen, nicht rein theoretischer Natur71. Anders als die primär individualrechtlich interpretierte Pressefreiheit deutet das Bundesverfassungsgericht die Rundfunkfreiheit vorwiegend objektiv-rechtlich und funktional72 als eine der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung „dienende“ Freiheit73. Ursprünglich infolge der sog. „Sondersituation“ 74 65

Dieses Prinzip betont im Hinblick auf die Presse BVerfGE 80, 124 (134). Vgl. nur Bethge (Fn. 55), Art. 5, Rn. 73. 67 Auf die Bandbreite verschiedener denkbarer Maßnahmen kann hier nicht eingegangen werden; vgl. insoweit nur Starck (Fn. 11), Art. 5, Rn. 84 ff.; Degenhart (Fn. 55), Art. 5, Rn. 450 ff. 68 BVerfGE 52, 283 (296). 69 BVerfGE 20, 162 (176). 70 Vgl. Horst Röper, Zeitungen 2010: Rangverschiebungen unter den größten Verlagen – Daten zur Konzentration der Tagespresse in der Bundesrepublik Deutschland im I. Quartal 2010, MP 5/2010, S. 218 ff.; Andreas Vogel, Zeitschriftenmarkt: WAZGruppe schließt zu dominierenden Konzernen auf – Daten zum Markt und zur Konzentration der Publikumspresse in Deutschland im I. Quartal 2010, MP 6/2010, S. 296 ff. 71 Die Alleinstellungen von Presseorganen in erster Linie auf lokaler und regionaler Ebene – vgl. bereits BVerfGE 73, 118 (175) – nicht bestreitend, aber mit anderer Tendenz hinsichtlich der Beurteilung Degenhart (Fn. 55), Art. 5, Rn. 448 f. 72 Vgl. nur BVerfGE 87, 181 (197). 73 BVerfGE 119, 181 (214), unter Rekurs auf BVerfGE 57, 295 (319); 73, 118 (152); 107, 299 (332); 114, 371 (386 f.). 74 BVerfGE 12, 205 (261). 66

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und nunmehr wegen des besonderen Wirkungs- (und Missbrauchs-)Potentials des Rundfunks75 wird die – nicht als Beschränkung der Rundfunkfreiheit verstandene76 – gesetzgeberische „Ausgestaltung“ einer funktionsgerechten Rundfunkordnung durch materielle, organisatorische und Verfahrensregelungen als notwendig erachtet.77 Als Vorgaben für den „Ausgestaltungs“-Gesetzgeber werden der Rundfunkfreiheit auf deren Gewährleistungsebene zur Sicherung der Funktionserfüllung des Rundfunks hinsichtlich eines freiheitlichen Prozesses der Meinungsbildung insbesondere die Maxime adäquater Vielfaltsrepräsentanz78 sowie – als ermöglichende Bedingung der Erfüllung dieser Maxime – das Verbot vorherrschender Meinungsmacht79 und damit zusammenhängend80 das Gebot funktionsadäquater Distanz des Staates und gesellschaftlicher Gruppen zum Rundfunk81 entnommen82. Die Anforderungen hinsichtlich inhaltlicher Vielfalt und Sicherung gegenüber dysfunktionalen Vermachtungen werden sowohl bei der Pressefreiheit als auch bei der Rundfunkfreiheit objektiv-rechtlichen Gehalten83 dieser Grundrechte zugeordnet, wenn auch Gesetze zu ihrer Umsetzung hinsichtlich der Pressefreiheit als Schrankengesetze, im Hinblick auf die Rundfunkfreiheit wegen der bezüglich dieser Gewährleistung vorherrschenden Sonderdogmatik als „Ausgestaltungsgesetze“ klassifiziert werden. Die in Rede stehenden zentralen Elemente der Ordnung des Presse- und des Rundfunkwesens sind indes – wie bereits aufgezeigt wurde – rückführbar auf fundamentale Individualgüter der Verfassung.84 Denn 75

Deutlich BVerfGE 119, 181 (214 f.) m.w. N. BVerfGE 73, 118 (166); 83, 238 (326); Hubertus Gersdorf, Grundzüge des Rundfunkrechts, 2003, Rn. 78 f.; Karl-E. Hain/Hans-Christian Poth, Ausgestaltung und Beschränkung der „dienenden“ Rundfunkfreiheit, JA 2010, S. 572 (573 ff.). 77 Vgl. nur BVerfGE 57, 295 (320). 78 Danach muss das Gesamtangebot der inländischen Programme der bestehenden Meinungsvielfalt im Wesentlichen entsprechen und müssen die in Betracht kommenden gesellschaftlichen Kräfte im Gesamtprogrammangebot zu Wort kommen können; vgl. nur BVerfGE 73, 118 (152). 79 Vgl. nur BVerfGE 57, 295 (323). 80 Der inhaltliche Zusammenhang zwischen dem Verbot vorherrschender Meinungsmacht und dem Gebot funktionsadäquater Staats- und Gruppendistanz wird nicht zuletzt dadurch dokumentiert, dass das Bundesverfassungsgericht – E 121, 30 (64) – im Rahmen seiner Ausführungen zu diesem Gebot auf seine Rechtsprechung zu jenem Verbot rekurriert. 81 Vgl. nur BVerfGE 121, 30 (52). 82 Zudem hat der Gesetzgeber „Leitgrundsätze verbindlich zu machen, die ein Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit, Sachlichkeit und gegenseitiger Achtung gewährleisten“; vgl. nur BVerfGE 12, 205 (263); 57, 295 (325). 83 Bezüglich der Rundfunkfreiheit ergibt sich dies aus den unmittelbar vorangehenden Ausführungen. Bezüglich der Pressefreiheit vgl. insoweit BVerfGE 20, 162 (175 f.); s. a. Bethge (Fn. 55), Art. 5, Rn. 73. 84 Zur Notwendigkeit der Rückführbarkeit kollektiver Güter auf individuelle Positionen in der auf die gleiche Autonomie basierten freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes Hain (Fn. 1), S. 256 f. 76

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sie formulieren Bedingungen an die Rolle von Presse und Rundfunk im Rahmen des Meinungsbildungsprozesses im Interesse der bezüglich des Gelingens autonomer Selbstbestimmung auf die Teilnahme an eben diesem Prozess verwiesenen individuellen Kommunikatoren und Rezipienten. Und wegen dieser fundamentalen Bedeutung bilden die Maximen der Vielfalt und der Verhinderung dysfunktionaler Vermachtungen auch Vorgaben hinsichtlich der sog. neuen Medien und unaufgebbare Ziele der Medienordnung, die sich unter den Bedingungen von Digitalisierung und Medienkonvergenz herausbilden wird.85 V. Autonomie als Telos der Mediengrundrechte des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG? Wenn Autonomie das Telos der Grundrechte und auch der Freiheitsrechte der Kommunikatoren und Rezipienten gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG bildet, stellt sich last but not least die Frage, ob auch die Freiheitsrechte der Medien (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) im Sinne des Autonomieprinzips und also (primär) als subjektive Veranstalterrechte zu interpretieren sind. Diese Frage ist in Bezug auf Presse- und Filmfreiheit des Grundgesetzes (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) längst positiv beantwortet.86 Anders – auch als hinsichtlich des Art. 10 EMRK und des Art. 11 Abs. 2 GrCh87 – fällt bekanntermaßen die vorherrschende Antwort aus, wenn es um die Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) geht. Die Rundfunkfreiheit wird als „dienende“ und damit als Garantie eines Ordnungszustandes ohne geborene Grundrechtssubjekte88 verstanden, bezüglich derer Grundrechtsberechtigungen erst auf der Basis vorgängiger gesetzgeberischer Akte89 und im Rahmen der als Maßgabe für die Ausgestaltungsgesetzgebung auf der Gewährleistungsebene formulierten Ordnungsmaximen entstehen. Nicht nur, dass diese Interpretation sich weder aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte ableiten lässt, sie setzt sich in Widerspruch mit dem Gedanken der Autonomie als Basis eines Systems der Grundrechte.90 An einer triftigen Begründung 85 Karl-E. Hain, Rundfunkfreiheit als „dienende“ Freiheit – ein Relikt?, in: Gesellschaft für Rechtspolitik (Hrsg.), Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2007/1, 2008, S. 21 (35). 86 Vgl. nur Degenhart (Fn. 55), Art. 5, Rn. 346, 900 m.w. N. 87 Vgl. bezüglich Art. 10 EMRK deutlich Udo Fink/Tobias Keber, in: Fink/Cole/Keber, Europäisches und Internationales Medienrecht, 2008, Rn. 255; Degenhart (Fn. 55), Art. 5, Rn. 651 ff. Wegen der engen Anlehnung des Art. 11 GrCh an Art. 10 EMRK – dazu Klaus Stern, in: Tettinger/Stern, EuGrCh, 2006, IV. vor Rn. 1, Rn. 1 ff. – ist auch die Medienfreiheit der Charta als subjektives Veranstalterrecht zu interpretieren; s. a. ders., a. a. O., Rn. 42. 88 So Peter Badura, Verfassungsrechtliche Bindungen der Rundfunkgesetzgebung, 1980, S. 30. 89 Dazu bereits Hain (Fn. 85), S. 21 (28). 90 Ausführlich zur Kritik Karl-E. Hain, Rundfunkfreiheit und Rundfunkordnung, 1993, S. 30 ff.; ders. (Fn. 85), S. 21 (26 ff.), jeweils m. zahlr. N. – Anders als das Bun-

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für diesen Systembruch fehlt es bis heute: Daraus, dass der Rundfunk faktisch bestimmte Funktionen für individuelle Kommunikatoren und Rezipienten erfüllt, lässt sich – solange Seins-Sollens-Schlüsse als Fehlschlüsse betrachtet werden – nicht folgern, dass das normative Konzept der Rundfunkfreiheit das einer „dienenden Freiheit“ zu sein habe. Soweit das Bundesverfassungsgericht sich im Rahmen der Begründung dieses Ansatzes auf die „Medium und Faktor“-These stützt91, setzt es sich i. Ü. angesichts der von ihm auch für die Presse angenommenen „Medium und Faktor“-Eigenschaft92 dem Vorwurf der Inkonsistenz aus. Auch der Schluss von der „Sondersituation“93 oder dem besonderen Wirkungsund Missbrauchspotenzials des Rundfunks94 auf die „dienende“ Funktion der Rundfunkfreiheit stellt einen inakzeptablen Seins-Sollens-Fehlschluss dar.95 Da es an einer stichhaltigen Begründung für die Funktionalisierung der Rundfunkfreiheit fehlt, ist dieses Grundrecht in das auf Autonomie gegründete Grundrechtssystem zu reintegrieren. Der Autonomie-Gedanke lässt sich hinsichtlich der Rundfunkfreiheit nicht schon beiseiteschieben, weil Rundfunk (wie i. Ü. andere Medien auch!) – in erster Linie von juristischen Personen betrieben wird. Denn wie die sog. „Durchgriffsthese“96 zeigt, bleibt das autonomiebasierte Freiheitskonzept als Grundlage der Grundrechtsinterpretation auch im Bereich der Grundrechtsausübung durch juristische Personen maßgeblich. Nach dem autonomiebasierten Konzept der Grundrechtsinterpretation wird der Grundrechtsträger prinzipiell selbst als autonom und damit fähig angesehen,

desverfassungsgericht hat der Niedersächsische Staatsgerichtshof, AfP 2006, 455 m. zahlr. N. zur Kritik, berechtigterweise die Frage aufgeworfen, ob an der Deutung der Rundfunkfreiheit als einer dienenden noch festgehalten werden könne. 91 BVerfGE 57, 295 (320): „Der Rundfunk ist ,Medium‘ und ,Faktor‘ . . . Demgemäß ist Rundfunkfreiheit primär eine . . . dienende Freiheit . . .“ (kursiv im Original) 92 BVerfGE 12, 205 (260). 93 BVerfGE 12, 205 (261). Noch im vierten Rundfunkurteil konnte sich das Bundesverfassungsgericht – E 73, 118 (121) – nicht dazu verstehen, die These von der Sondersituation aufzugeben. Es nahm vielmehr nur eine Veränderung der Sondersituation an, obwohl bedeutende Stimmen im Schrifttum schon seit einiger Zeit das Fortbestehen einer Sondersituation in technischer und finanzieller Hinsicht infrage gestellt hatten; vgl. Peter Lerche, Rundfunkmonopol, 1970, S. 45; Walter Rudolf, Über die Zulässigkeit privaten Rundfunks, 1971, S. 63; Hans H. Klein, Die Rundfunkfreiheit, 1978, S. 68 ff.; Walter Schmitt Glaeser, Kabelkommunikation und Verfassung, 1979, S. 111; Ulrich Scheuner, Das Grundrecht der Rundfunkfreiheit, 1982, S. 9, 66, 71. 94 Diese These wird in der Rspr. des Bundesverfassungsgerichts spätestens seit dem dritten Rundfunkurteil – E 57, 295 (323); s. a. bereits E 31, 314 (325) – zur zentralen Begründungsfigur der Sonderinterpretation der Rundfunkfreiheit. 95 Dazu bereits Hain (Fn. 85), S. 21 (28). 96 Vgl. nur BVerfGE 21, 362 (369); 61, 82 (100 f.); 75, 192 (195 f.); vgl. Hain, Rundfunkfreiheit und Rundfunkordnung (Fn. 90), S. 67 f.; Huber, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck (Fn. 11), Art. 19, Rn. 211: „Diese Durchgriffsthese ist der zentrale Leitgedanke des Art. 19 Abs. 3 (GG).“

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seine Freiheit mit der gleichen Freiheit der je anderen zu kompatibilisieren.97 Nicht wird ihm diese Kompatibilisierung in Gestalt von Ordnungselementen als von vornherein bestehender Rahmen zur Ausübung seiner Freiheit heteronom vorgegeben, wie es im Rahmen der Dogmatik der „dienenden“ Rundfunkfreiheit geschieht. Nach dem autonomiebasierten Konzept ist der Schutzbereich der Rundfunkfreiheit normativ leer bis auf den Leitgedanken der Freiheit in Bezug auf das „Ob“ und „Wie“ der Rundfunkveranstaltung. Damit schafft die Gewährleistung den Raum grundrechtlicher Freiheit, der es dem Grundrechtsträger ermöglicht, autonom seine Freiheit mit derjenigen der von seiner Rundfunkveranstaltung betroffenen Kommunikatoren und Rezipienten vereinbar zu halten und damit i. Ü. auch Anforderungen des demokratischen und des Sozialstaatsprinzips zu erfüllen. Eine derartige autonome Bestimmung des Handelns hat mit heteronom bestimmtem „Dienen“ schlicht nichts zu tun. Die gegenüber dem Einzelnen im Status „privater“ Freiheit in Ausübung politischer Autonomie der Aktiv-Bürger, für die regelmäßig ihre demokratisch legitimierten Repräsentanten handeln, und zum Zwecke der Relationierung gegenläufiger Freiheiten unter je gegebenen tatsächlichen Bedingungen erfolgende – aus der Sicht des „privaten“ Einzelnen heteronome – Limitierung seiner Freiheit erfolgt auf der Schrankenebene des jeweiligen Grundrechts. Demnach sind in einem autonomiebasierten Modell Ordnungsmaximen, die der Sicherstellung der Bedingungen freiheitlicher Meinungsbildung als Basis autonomer Bestimmung des Handelns der Subjekte dienen, und die sie konkretisierenden Gesetze wie bei der Pressefreiheit nicht auf einer „Ausgestaltungs“-, sondern auf der Schrankenebene der Rundfunkfreiheit anzusiedeln.98 Dies bedeutet durchaus nicht die Überlassung des Rundfunks an das „freie Spiel der Kräfte“99, wobei ohnehin grundrechtliche Freiheit gerade wegen ihrer Autonomiebasierung nicht Freiheit zur Beliebigkeit ist, sondern eingeräumt wird, um selbstbestimmt das Verhältnis der eigenen zur Freiheit der je anderen vernünftig auszutarieren. Diese Erwartung richtet sich im dualen System sowohl an die öffentlich-rechtlichen als auch an die privaten Veranstalter, die trotz Werbefinanzierung und sonstiger Bedingungen privatwirtschaftlicher Rundfunkver-

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s. o. II. Hain, Rundfunkfreiheit und Rundfunkordnung (Fn. 90), S. 73 ff.; ders. (Fn. 85), S. 21 (30). – Ohnehin ist fraglich, ob eine Abgrenzung der Rechtfertigungsanforderungen auf der Ausgestaltungsebene und der Schrankenebene noch sinnvoll gelingen kann, wenn das Bundesverfassungsgericht – E 121, 30 (59 ff.); dazu Christoph Degenhart, Die Entwicklung des Rundfunkrechts im Jahr 2008, K&R 2009, S. 289 (290 f.) – auch auf der Ausgestaltungsebene das Verhältnismäßigkeitsprinzip anwendet; zweifelnd bereits Hain/Poth (Fn. 76), S. 572 (574). – Dass die Konkretisierung der Rundfunkordnung Abwägungen gegenläufiger Güter erfordert, haben i. Ü. auch Verfechter der „Ausgestaltungs-Dogmatik“ anerkannt; ansatzweise BVerfGE 57, 295 (321); deutlich Wolfgang Hoffmann-Riem, Regulierung der dualen Rundfunkordnung, 2000, S. 98, 107. 99 Dazu näher Karl-E. Hain, Rundfunkfreiheit als dienende Freiheit, in: Dörr u. a., Die Macht der Medien, 2011, S. 63 (69 ff.). 98

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anstaltung nicht aus dieser Verantwortung entlassen sind100. Gesetzgeberische Aktivität zur Sicherung der Voraussetzungen individueller Autonomie im Bereich der Kommunikation kann auf Schutzpflichten zugunsten der individuellen Kommunikatoren und Rezipienten sowie auf das demokratische und das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 2 GG) gestützt werden. Ob die vorgenannten Schutzpflichten sich ausschließlich aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG oder aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG als Grund und Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (Meinungs- und Informationsfreiheit) als Maß oder ausschließlich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ergeben101, ist eine Frage der generellen Lösung des Problems der Herleitung von Schutzpflichten102, die hier nicht diskutiert werden kann.103 Die Aufgabe der Sonderdogmatik der Rundfunkfreiheit und der daran auf der Gewährleistungsebene geknüpften Vorgaben der Rundfunkordnung ermöglicht auch die Konturierung eines zukunftstauglichen verfassungsrechtlichen Rahmens für die Regulierung unter den Bedingungen von Digitalisierung und Medienkonvergenz104, in deren Folge die Grenzen zwischen Individual- und Massenkommunikation sowie zwischen verschiedenen Massenmedien verschwimmen, sich Hybride aus Individual- und Massenkommunikation oder verschiedenen hergebrachten Massenmedien bilden, schließlich der verfassungsrechtliche Rundfunkbegriff eine Vielzahl hinsichtlich ihres Wirkungspotenzials höchst differenziert zu betrachtender Phänomene erfasst. Würde die Rundfunkfreiheit ebenso die übrigen Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG als subjektives (Veranstalter-)Grundrecht interpretiert, wäre es möglich, auf der Schrankenebene der Rundfunkfreiheit und 100 Das Bundesverfassungsgericht hat die Reduktion der Anforderungen an den privaten Rundfunk gegenüber den für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geltenden nicht als zwingend, sondern nur als zulässig angesehen, solange der öffentlich-rechtliche Rundfunk im dualen System seine Aufgabe vollständig erfülle; BVerfGE 74, 297 (325). Und im Rahmen seiner Konzeption hat das Gericht – E 121, 30 (50) – noch jüngst betont, auch der private Rundfunk „diene“ der freien und öffentlichen Meinungsbildung. Vgl. auf dieser Basis Karl-E. Hain, Nachrichten- und Informationsanteile in privaten Fernsehprogrammen, K&R 2010, S. 638 (638 f.). 101 Vgl. nur Christian Calliess, Schutzpflichten, in: Merten/Papier, HGR II/1, 2006, § 44, Rn. 5, 88 ff. m.w. N. – Nach dem hier verfolgten Ansatz ergeben sie sich jedenfalls nicht aus der Rundfunkfreiheit, da es thematisch nicht um den Schutz dieser Freiheit, sondern der individuellen Kommunikatoren und Rezipienten geht. Anders wohl nach dem herrschenden Ansatz: Werden die Ordnungsmaximen hinsichtlich der Rundfunkordnung als Bestandteil der Gewährleistung der Rundfunkfreiheit angesehen, agiert der „Ausgestaltungs-Gesetzgeber“ in Erfüllung einer ihm durch die Rundfunkfreiheit aufgegebenen Schutzpflicht. 102 Jüngst zur Entfaltung der Schutzpflichtenrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Klaus Stern, Die Schutzpflichtenfunktion der Grundrechte: Eine juristische Entdeckung, DÖV 2010, S. 241 (242 ff.). 103 Ich habe für eine Herleitung von Schutzpflichten – soweit sie nicht an anderer Stelle der Verfassung ausdrücklich statuiert sind – ausschließlich aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG votiert; näher Hain (Fn. 8), S. 1036 (1043). 104 Dazu bereits Karl-E. Hain, Regulierung in den Zeiten der Konvergenz, K&R 2006, S. 325 ff.

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anderer Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG, die dann interpretatorisch zunehmend zu einer Kommunikations- und Medienfreiheit, wie sie Art. 11 GrCh garantiert, zusammenwachsen könnten105, zur Wahrung der Anforderungen kommunikatoren- und rezipientenbezogener Schutzpflichten sowie des Demokratie- und Sozialstaatsprinzips flexibel und abgestuft sachgemäße Regulierungen verschiedener Dienste vorzusehen oder u. U. auch bezüglich bestimmter Bereiche auf Regulierung zu verzichten106, ohne dabei weiterhin einem durch die Sonderdogmatik der Rundfunkfreiheit nicht unerheblich erhöhten Argumentationsbedarf ausgesetzt zu sein107. Die Aufgabe der denaturierenden Funktionalisierung der Rundfunkfreiheit bietet nach alledem auch die Chance zur Konfigurierung eines zukunftsfähigen Designs des verfassungsrechtlichen Rahmens der Medienordnung unter Konvergenzbedingungen.

105 Dieser Prozess würde dann weder durch die Sonderdogmatik der Rundfunkfreiheit noch durch Schrankendivergenzen im Hinblick auf die Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG behindert. – Dagegen auch unter Konvergenzbedingungen Degenhart (Fn. 55), Art. 5, Rn. 20, weil er nicht zuletzt Tendenzen abwehren will, die Medien generell einem Ausgestaltungsvorbehalt zu unterwerfen. Das ist indes gerade nicht das Ziel der hier verfolgten Konzeption. 106 Vgl. Hain (Fn. 104), S. 325 (331). 107 D.h. freilich nicht, dass sich unter veränderter Dogmatik z. T. komplizierte Fragen der Abstufung der Medienregulierung nicht mehr stellten. Sie würden allerdings durch die Sonderdogmatik nicht noch zusätzlich verkompliziert.

Der Tod als Grenze des Schutzguts „Leben“ im Grundrechtstatbestand des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Von Wolfram Höfling I. Problemaufriß In den zurückliegenden eineinhalb Jahrzehnten haben die Bio- oder Lebenswissenschaften das seit der Neuzeit überlieferte Menschenbild fundamental in Frage gestellt. Permanent werden wir mit neuartigen Entwicklungsprozessen und Phänomenen konfrontiert, die sich in ihrer technischen Manipulierbarkeit dem steuernden Zugriff des Rechts zu entziehen scheinen. Mit elementarer Wucht trifft diese antropotechnische Revolution unsere „Menschenbilder“, mit diesen aber auch die Menschenrechte und die in ihnen gespeicherten Vorstellungen vom Menschen.1 Zunächst nur zögerlich hat sich die (Verfassungs-)Rechtswissenschaft diesen Herausforderungen gestellt. Inzwischen aber existiert eine beachtliche Anzahl gewichtiger Studien.2 Allerdings konzentrieren sich die Bemühungen nahezu ausschließlich auf die Frage nach der Reichweite des Grundrechtsschutzes am Beginn des Lebens, genauer: darauf, ab welchem Entwicklungsstadium menschlichen Lebens3 grundrechtliche Garantien normative Wirkungen entfalten. Das Lebensende ist demgegenüber nur kurzzeitig ein Thema auch der rechtswissenschaftlichen Debatte gewesen:4 Als Mitte der 1990er Jahre in Deutschland über ein Transplantationsgesetz beraten und gestritten wurde, rückte auch die seit den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts dominierende Hirntodkonzeption für einige Zeit in den Fokus der (verfassungs-)rechtlichen Aufmerksamkeit.5 1 s. dazu etwa Stephan Rixen, Die reprogenetische Diffusion des Körpers: Diffusion der Menschenrechte?, in: Schwarte/Wulf (Hrsg.), Körper und Recht, 2003, S. 211 ff.; Wolfram Höfling, Biomedizinische Auflösung der Grundrechte?, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2002/II 2003, S. 99 (100). 2 Hier seien beispielhaft nur genannt die beiden Habilitationsschriften von Jens Kersten, Das Klonen von Menschen, 2004, und von Ralf Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, 2007. 3 Der Begriff sei hier zunächst noch ohne nähere Reflexion verwendet; s. aber noch unten. 4 Näher dazu noch unten III. 5 Als erste kritische Stimmen aus der Verfassungsrechtslehre s. Wolfram Höfling, Um Leben und Tod: Transplantationsgesetzgebung und Grundrecht auf Leben, JZ 1995, 26 ff.; Stephan Rixen, Todesbegriff, Lebensgrundrecht und Transplantationsgesetz, ZRP 1995, 461 ff.; Wolfram Höfling/Stephan Rixen, Verfassungsfragen der Transplantations-

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Nicht zuletzt aber weil sich die medizinische Praxis als weitestgehend immun gegenüber einer kritischen Reflexion erwies, ebbte die Diskussion wieder ab. Doch: Totgesagte leben länger! In seinem White Paper „Controversies and Determination of Death“ hat der „Presidents Council on Bioethics“ 6 die internationale (medizinische und medizinethische) Debatte erneut entfacht und damit auch in Deutschland eine gewisse Resonanz gefunden.7 Dies mag Anlaß genug sein, sich der bis heute unterbelichteten grundrechtlichen „Todesdogmatik“ noch einmal intensiver zuzuwenden. Und welcher Ort scheint für dieses Unterfangen geeigneter als eine Festschrift für Klaus Stern, dessen monumentales und epochales Staatsrecht allein den Grundrechten weit mehr als 8.000 Seiten widmet.8 Grundrechtsdogmatisch konturiert geht es dabei um die Konkretisierung des Todesbegriffs als Grenze des Schutzguts „Leben“ im Grundrechtstatbestand des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Den damit aufgeworfenen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. II. Das Schutzgut „Leben“ im Grundrechtstatbestand des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG: Grundsätzliche Vorüberlegungen Der Schutzgegenstand eines Abwehrrechts – und, so ist hinzuzufügen: auch des korrespondierenden Schutzrechts – wird im grundgesetzlichen Regelfall im Gewährleistungssatz einer Grundrechtsbestimmung verfassungsunmittelbar festgelegt.9 In diesem Normalfall grundrechtlicher Gewährleistung findet der Schutzgegenstand seine normative Grundlage allein in dem Grundrechtsgewährleistungssatz; dieser bedarf selbstverständlich für die inhaltliche Bestimmung und Abgrenzung des jeweiligen Schutzgutes der Auslegung, die wiederum wegen der knappen, offenen und fragmentarischen Formulierungen über erhebliche Spielräume verfügt und deswegen besonderen Anforderungen zu unterwerfen ist.10 medizin, 1996; umfassende Aufarbeitung bei Stephan Rixen, Lebensschutz am Lebensende, 1999. 6 Das Pendent zum Deutschen Ethikrat. 7 s. etwa Sabine Müller, Revival der Hirntod-Debatte: Funktionelle Bildgebung für die Hirntoddiagnostik, EthikMed 2010, 5 ff.; aufgegriffen von Stephan Sahm, Ist die Organspende noch zu retten?, FAZ Nr. 213 v. 14.9.2010, S. 33; s. jüngst auch wieder Sabine Müller, Der Tod als Ansichtssache, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 9 vom 6. März 2011, S. 15. 8 Zur hier diskutierten Problematik s. etwa die Hinweise in Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 1057 f. und bei Sachs, in: Stern, Staatsrecht IV/1, 2006, S. 146 f. 9 Anderes gilt für normativ konstituierte Schutzgegenstände, insbesondere kompetenzielle Freiheiten wie Eigentum und Vertrag; dazu Wolfram Höfling, Vertragsfreiheit, 1994; zu solchen „grundrechtsmittelbare(n) Bestimmung(en) des Schutzgegenstandes“ sowie zum Vorstehenden eingehend Michael Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/2, 1994, S. 47 ff. 10 s. hier nur Sachs (Fn. 9), S. 41; allgemein Wolfram Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, passim.

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Dies gilt auch für den tatbestandlichen Schutz von „Elemente(n) der natürlichen Persönlichkeit“,11 wie ihn u. a. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG garantiert. Der Verfassungstext nennt neben und vor der körperlichen Unversehrtheit dabei das Leben. Vom Leben – wie vom Tod – läßt sich nun aber sinnvoll nur sprechen im Blick auf das Subjekt, von dem wir sagen: es lebt bzw. es ist tot. Für die internationale ethische Debatte um den angemessenen Todesbegriff ist dies weithin anerkannt.12 Für die (grund-)rechtswissenschaftliche Befassung mit dem Thema ist dieser Problemzugriff aber eher selten.13 Dies läßt sich möglicherweise damit erklären, daß jedenfalls die Kommentarliteratur kategorial trennt zwischen dem sachlichen Schutz-/Gewährleistungsbereich („Leben“) und dem persönlichen Schutz-/Gewährleistungsbereich („Jeder“).14 Betrachtet man die einschlägigen Erläuterungen näher, so zeigt sich indes, daß die jeweiligen Interpretationsbemühungen mehr oder weniger ineinander übergehen: So heißt es etwa bei Schulze-Fielitz, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG schütze jedenfalls das körperliche Dasein des Menschen im Sinne einer lebenden, biologisch-physischen Existenz,15 und als Träger des Grundrechts benennt er jede lebende natürliche Person.16 Übereinstimmend konkretisiert Lang das Schutzgut des Grundrechtstatbestandes17 und stellt in seinen Ausführungen zum personalen Schutzbereich klar, daß es im verfassungsrechtlichen Sinne „kein ,lebensunwertes‘ Leben“ gebe.18 Das Bundesverfassungsgericht formuliert schließlich ganz im Sinne einer Konvergenz: „Das Recht auf Leben wird jedem gewährleistet, der ,lebt‘. . . . ,Jeder‘ im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist ,jeder Lebende‘, anders ausgedrückt: jedes Leben besitzende menschliche Individuum . . .“.19 Diese Wechselbezüglichkeit von sachlichem und personellem Gewährleistungsbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erfordert beim Konkretisierungsprozeß eine strukturierende und transparente Argumentation, um den Gefahren verdeckter Wertungen vorzubeugen.

11 Dazu erneut eingehend Sachs, in: Stern (Fn. 8), S. 644 ff. und Stern (Fn. 9), S. 45 ff. 12 s. dazu noch näher unten IV. 3. 13 s. aber etwa Höfling/Rixen (Fn. 5), S. 69 ff.; Michael Anderheiden, Transplantationsmedizin und Verfassung, DSt 39 (2000), 509 (513 ff.). 14 s. exemplarisch Murswieck, in: Sachs (Hrsg.), GG-Komm., 5. Aufl., 2009, Art. 2 Rn. 146: „Von dieser Bestimmung des geschützten Rechtsguts ist die Frage nach dem personellen Schutzbereich zu unterscheiden.“ 15 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG-Komm., 2. Aufl., 2004, Art. 2 Abs. 2 Rn. 25. 16 Schulze-Fielitz (Fn. 15), Rn. 39. 17 s. Heinrich Lang, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG-Komm., 2009, Art. 2 Rn. 58. 18 Lang (Fn. 17), Rn. 64; ebenso etwa Hans D. Jarass, in: ders./Pieroth, GG-Komm., 11. Aufl., 2011, Art. 2 Rn. 81 und 82. 19 BVerfGE 39, 1 (37).

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III. Der medizinische (medizinethische) „Hirntod“-Diskurs und die deutsche rechtswissenschaftliche Rezeption Diese Gefährdungen lassen sich eindrücklich illustrieren, wenn man die medizinbegriffliche Begleitung der Etablierung des Hirntod-Konzepts und deren Rezeption in der deutschen Rechtswissenschaft betrachtet.20 1. Die Phase vom Ende der 1950er Jahre bis Mitte der 1990er Jahre

Bis weit in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts waren „hirntote“ Patienten unbekannte Wesen. Die künstliche Beatmung konnte noch nicht praktiziert werden, und deshalb hatte jede hinreichend schwere Beschädigung des Gehirns den irreversiblen Stillstand der Atem- und Kreislauftätigkeit und damit den Zusammenbruch des gesamten menschlichen Organismus zur Folge, damit aber genau den Zustand, der traditionell als Tod bezeichnet wurde. Erst im Jahre 1959 beschrieben die französischen Ärzte Mollaret und Goulon einen neuen medizinischen Zustand von Patienten, deren Gehirn nach einem längeren Atemstillstand durch Sauerstoffmangel zwar irreversibel gestört war, der Organismus jedoch durch künstliche Beatmung für eine gewissen Zeit am Leben gehalten werden konnte. Diesen Zustand bezeichneten die beiden als coma depasse.21 Diese medizinische Innovation gebar sogleich ein ethisches Problem:22 Mit der Verbreitung der Herz-Lungen-Wiederbelebung konnte man im intensivmedizinischen Alltag immer häufiger Patienten begegnen, die von einer Behandlungsmaschine am Leben erhalten wurden,23 deren Gehirn aber wegen zu später Reanimation irreversibel geschädigt war. Durch die Automatisierung der künstlichen Beatmung war nun der intuitivlegitime Behandlungsabbruch bei diesen Patienten nicht mehr durch bloßen Verzicht auf weitere Interventionen zu realisieren,24 sondern nur durch die aktive Handlung der Abschaltung einer Maschine mit der unmittelbaren Folge des Todeseintritts. Das damit entstandene Dilemma wurde 20 Ausführlich Stephan Rixen, Lebensschutz am Lebensende. Das Grundrecht auf Leben und die Hirntodkonzeption, 1999, S. 55 ff. 21 s. P. Mollaret/M. Goulon, Le coma depasse, Revue Neurologique 101 (1959), 3 ff. 22 Zum folgenden s. Jürgen in der Schmitten, Anhang zu § 3: Zur Entwicklung der „Hirntod“-Konzeption – Eine kritische Analyse aus medizinischer Perspektive, in: Höfling (Hrsg.), Transplantationsgesetz-Komm., 1. Aufl., 2003, S. 144 (147 ff.); eingehend zur Entwicklung die Darstellung bei Johannes Hoff/Jürgen in der Schmitten, Kritik der „Hirntod“-Konzeption, in: dies. (Hrsg.), Wann ist der Mensch tot?, 2. Aufl., 1995, S. 153 (154 ff.). – Die Erstauflage des Buches 1994 war grundlegend und wegweisend für die deutsche Debatte. 23 Und zu diesem Zeitpunkt in den frühen 60er Jahren bestand Konsens darüber, daß solche Patienten Lebende waren. 24 Hier muß man bedenken, daß für die (deutsche) Strafrechtsdogmatik die Unterscheidung „aktiv“/„passiv“ bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 2010 (BGH, MedR 2011, 32 ff.) die entscheidende normative Differenzierung zwischen erlaubtem Sterbenlassen und verbotener Tötung darstellte.

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durch die Erkenntnis verschärft, daß die Behandlung dieser Patienten wertvolle intensivmedizinische Ressourcen, nämlich Behandlungsplätze und Pflegezeit, „sinnlos“ band. Einige Jahre später bekommt diese Entwicklung einen zusätzliche Dynamik, und der bereits angedeutete Ressourcenkonflikt wird durch eine weitere revolutionäre medizinische Innovation geradezu existentiell zugespitzt: Die erste Herzverpflanzung Ende 1967 in Südafrika durchbrach uralte Tabuvorstellungen. Das Herz, von frühesten Zeiten an Verkörperung von Lebensmitte gleichermaßen wie entscheidendes Atrium Mortis, war durch das spektakuläre Medizin- und Medienereignis plötzlich zum auswechselbaren Ersatzteil geworden. Vor allem Augen war demonstriert, daß der Mensch „seinen eigenen Herztod überleben konnte – und umgekehrt das Herz den individuellen Tod“.25 Damit war nun unausweichlich die Frage zu beantworten, ob Menschen, die als Spender von „lebendfrischen“ Herzen zur Verfügung standen, als „tot“ bezeichnet werden konnten. Die „Antwort“ kam postwendend: In einer Stellungnahme einer Ad-hoc-Kommission der Harvard Medical School im Frühjahr 1968 wurde die Hirntodkonzeption jedenfalls für die westliche Welt für lange Zeit unangefochten etabliert. Gleichsam mit einem Federstrich wurden die intrikaten ethischen und rechtlichen Fragen – Zulässigkeit des Behandlungsabbruchs bei irreversiblem Hirnversagen; begrenzte Ressourcen in der Intensivmedizin; Allokation knapper Organe – gelöst. In dem Papier26 heißt es: „Unser primäres Anliegen ist, das irreversible Koma als neues Todeskriterium zu definieren. Es gibt zwei Gründe für den Bedarf an einer neuen Definition: der medizinische Fortschritt auf den Gebieten der Wiederbelebung und der Unterstützung lebenserhaltender Funktionen hat zu verstärkten Bemühungen geführt, das Leben auch schwerstverletzter Menschen zu retten. Manchmal haben diese Bemühungen nur teilweisen Erfolg: das Ergebnis sind dann Individuen, deren Herz fortfährt zu schlagen, während ihr Gehirn irreversibel zerstört ist. Eine schwere Last (,burden‘) ruht auf den Patienten, die den permanenten Verlust ihres Intellekts erleiden (,suffer‘), auf ihren Familien, auf den Krankenhäusern und auf solchen Patienten, die auf von diesen komatösen Patienten belegte Krankenhausbetten angewiesen sind. Obsolete Kriterien für die Definition des Todes können zu Kontroversen bei der Beschaffung von Spenderorganen führen.“

Diese durch und durch pragmatische Stellungnahme erlebte – angesichts ihres dürftigen sachlichen Begründungsaufwandes – einen überaus erstaunlichen Sie-

25 So die plastische Umschreibung in einer der wenigen frühen kritischen Analysen bei Gerd Geilen, Medizinischer Fortschritt und juristischer Todesbegriff, in: Festschrift für Heinitz, 1972, S. 373 ff. (373). 26 s. H. K. Beecher et al., A Definition of irreversible coma. Report of the ad hoc comitee of the Harvard Medical School for examine the Definition of Brain Death, JAMA 205 (1968), 85 ff.

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geszug. In Deutschland übernahm die Bundesärztekammer 1982 die Konzeption.27 Weitere Stellungnahmen 1986 und 1991 dienten lediglich der Fortschreibung der diagnostischen Aspekte. Erst 1993 findet sich der erste Versuch einer eigenständigen Begründung des Hirntodkonzepts durch die Bundesärztekammer: „Der Organismus ist tot, wenn die einzelnen Funktionen seiner Organe und Systeme sowie ihre Wechselbeziehung unwiderruflich nicht mehr zur übergeordneten Einheit des lebenden Wesens in seiner funktionellen Ganzheit zusammengefaßt und unwiderruflich nicht mehr von ihr gesteuert werden. Dieser Zustand ist mit dem Tod des gesamten Gehirns eingetreten. . . . Bei Menschen bedeutet dieser Ausfall schließlich den Verlust der unersetzlichen physischen Grundlage seines leiblich-geistigen Daseins in dieser Welt. Darum ist der nachgewiesene irreversible Ausfall der gesamten Hirnfunktionen (,Hirntod‘) auch beim Menschen ein sicheres Todeszeichen.“ 28

In einer Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer wird zugleich die für unseren Kontext relevante disziplinübergreifende Schlußfolgerung gezogen: „Nach Feststellung des Todes durch vollständigen und endgültigen Ausfall der gesamten Hirnfunktionen sind Überlegungen des Lebensschutzes nicht mehr relevant.“ 29

Und die Rechtswissenschaft – von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen – folgt. Schnell war die zivilrechtliche, strafrechtliche und öffentlich-rechtliche Literatur bereit, die neue Definition in übereiliger „Rezeptionsfreude“ 30 zu übernehmen31 und die Definitionsmacht der Medizin anzuerkennen.32 2. Die Diskussion um das deutsche Transplantationsgesetz

Das änderte sich allerdings im Kontext der Auseinandersetzungen im zeitlichen Umfeld mit der Erarbeitung des Transplantationsgesetzes, das am 1. Dezember 1997 in Kraft trat.33 Nun finden sich erstmals eingehende grundrechtsdogmatische Überlegungen für und wider die Verfassungskonformität einer

27 Bundesärztekammer, Kriterien des Hirntodes mit Entscheidungshilfen zur Feststellung des Hirntodes, Deutsches Ärzteblatt 14 (1982), 45 ff. – Zur bereits in den 60er Jahren einsetzenden medizinischen Diskussion in Deutschland s. eingehend Rixen (Fn. 5), S. 188 ff. mit zahlr. Nachw. 28 Bundesärztekammer, Der endgültige Ausfall der gesamten Hirnfunktionen („Hirntod“) als sicheres Todeszeichen, Deutsches Ärzteblatt 1993, B-2177 ff. (2177). 29 Deutsches Ärzteblatt 1993, A- -2933, 2935 – Hervorhebung hinzugefügt. 1 30 s. schon die Kritik bei Geilen (Fn. 25), S. 373 (382). 31 Minutiöse Darstellung bei Rixen (Fn. 5), S. 72 ff. 32 Beispielhaft das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts aus dem Jahre 1972: BGE 98 I a, 508 (515 f.): Welche Kriterien die Todesfeststellung erlaubten, habe „die medizinische Wissenschaft zu entscheiden“; zum Ganzen auch Höfling (Fn. 5), 26 (28 ff.). 33 BGBl. I, S. 2631.

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Gleichsetzung von „Hirntod“ und Tod des Menschen.34 Auf die zentralen Argumentationslinien wird zurückzukommen sein.35 Doch mit der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes beendete der Gesetzgeber faktisch weitgehend die Diskussion, und er bediente sich dabei einer „trickreichen“ Normierungstechnik: § 3 TPG, der den Zweiten Abschnitt des Gesetzes über die „Organentnahme bei toten Organspendern“ einleitet, operiert – scheinbar36 – mit zwei Todesbegriffen. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 2 ist die Entnahme von Organen unter anderem „nur zulässig, wenn . . . der Tod des Organspenders nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist. . . .“ § 3 Abs. 2 Nr. 2 erklärt die Entnahme von Organen für „unzulässig, wenn . . . nicht vor der Entnahme bei dem Organspender der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist“. Wie immer man diese komplizierte Regelung deuten mag,37 sie ist das Produkt einer späten, ministerialbürokratischen Fassung, mit der ein, im Bundestag weit verbreitetes Unbehagen daran, als Gesetzgeber Leben und Tod zu definieren, aufgefangen werden sollte.38 Spätestens mit der Nichtannahme von – nicht gerade überzeugend begründeten39 – Verfassungsbeschwerden (u. a.) gegen diese Regelungen des TPG,40 war damit die Hirntodkonzeption in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland fest verankert. Immerhin aber war die Mitte der 90er Jahre näher entfaltete Kritik inzwischen in der (Verfassungs-)Rechtswissenschaft angekommen. Betrachtet man als tauglichen Gradmesser für den Stand des Deutungsstreits die grundgesetzliche Kommentarliteratur, ergibt sich doch ein nahezu ausgeglichenes „Kräfteverhältnis“. Kritisch-ablehnende Äußerungen zur Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Menschen finden sich in den Kommentierungen von Herdegen,41

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s. hier nur beispielhaft Höfling (Fn. 5), 26 ff.; hierzu die Kritik von Heun, JZ 1996, 213 ff. sowie die Antikritik von Höfling, JZ 1996, 615 ff. (mit Schlußwort Heun, S. 618 f.); umfassend Rixen (Fn. 5), 247 ff. 35 Unten IV. 36 Dies ist allerdings umstritten; s. Deutsch, NJW 1998, 777 (778), der wohl von zwei Todesbegriffen des Gesetzes ausgeht. 37 s. dazu etwa Merkel, Jura 1999, 113 (114 f.); Höfling/Rixen, in: Höfling (Hrsg.), TPG-Komm., 2. Aufl., 2011, § 3 Rn. 11. 38 Deshalb bezeichnet der Verfasser dieser Zeilen, der intensiv in die (parlamentarische) Beratungen einbezogen war, die Regelung als „lex Süssmuth“. 39 s. BVerfG (K), NJW 1999, 858 und 3403 sowie BVerfG (K), EuGRZ 1999, 242; s. dazu Stephan Rixen, Die Regelung des TPG zur postnatalen Organspende vor dem Bundesverfassungsgericht, NJW 1999, 3389 ff. 40 s. die Überlegungen von Karl Albrecht Schachtschneider/Dagmar I. Sebald, Die „erweiterte“ Zustimmungsklösung des Transplantationsgesetzes im Konflikt mit dem Grundgesetz, DÖV 2000, 129 (130 f.). 41 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Art. 1 Rn. 56.

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Hillgruber,42 Höfling,43 Murswieck,44 Lang45 und wohl auch Horn.46 Befürwortet wird die Hirntodkonzeption dagegen von di Fabio,47 Jarass,48 Schulze-Fielitz,49 Sodan50 und Starck.51 Ähnlich verhält es sich mit der übrigen verfassungsrechtlichen Literatur.52 Bei dieser Bestandsaufnahme wird man aber feststellen müssen, daß wirklich vertiefte Auseinandersetzungen eher selten sind.53 Dies wiederum korreliert mit dem weitgehenden Verzicht auf eine problemabschichtende Strukturierung der Argumentation, etwa mit der Unterscheidung zwischen diagnostischer, kriteriologischer und definitorischer/attributiver Ebene.54 3. Das White Paper des Presidents Council on Bioethics vom Dezember 2008

Derartigen Bemühungen wird sich die Rechtswissenschaft indes auf Dauer nicht entziehen können – allenfalls um den Preis einer systematischen Ausblendung der einschlägigen nationalen und internationalen Diskussion.

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s. Hillgruber, in: Epping/ders., GG-Komm., 2009, Art. 1 Rn. 5.1 und 17. Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG-Komm., 5. Aufl., 2009, Art. 1 Rn. 63. 44 Murswieck, in: Sachs (Hrsg.), GG-Komm., Art. 2 Rn. 142. 45 Lang, in: Epping/Hillgruber, GG-Komm., Art. 2 Rn. 60 f. 46 Horn, in: Stern/Becker (Hrsg.), GG-Komm., 2010, Art. 2 Rn. 55: In dem Maße, in dem Leben im Sinne eigener reproduktiver Erhaltungsprozesse auch bei ausgefallenen Gehirnfunktionen möglich sei, verliere das Hirntodkriterium seine Validität. Deshalb müsse aus verfassungsrechtlicher Sicht abgestellt werden auf den völligen Zusammenbruch des gesamten biologischen Organismus. – Genau dies aber ist, wie noch zu zeigen sein wird, nach Feststellung des sog. Hirntodes nicht der Fall. 47 s. Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 2 Rn. 21. 48 Jarass, in: ders./Pieroth, GG-Komm., 11. Aufl., 2011, Art. 2 Rn. 81. 49 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG-Komm., Bd. I, 2. Aufl., 2004, Art. 2 Abs. 2 Rn. 30 f., der es jedenfalls als Sache des Gesetzgebers ansieht, durch wertende, unvermeidliche Festlegung einer Zäsur Rechtsklarheit zu schaffen. 50 s. Sodan, in: ders. (Hrsg.), GG-Komm., 2009, Art. 2 Rn. 20. 51 Starck, in: von Mangoldt/Klein/ders., Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl., 2010, Art. 2 Rn. 191. 52 Als Befürworter des Hirntodkriteriums seien hier genannt etwa Michael Anderheiden, „Leben“ im Grundgesetz, KritV 84 (2001), 353 (366 ff.); Eberhard Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, 2001, S. 13 f., der im Hirntodkriterium eine „verfassungsrechtlich akzeptable gesetzgeberische Konkretisierung“ sieht; als Kritiker seien noch genannt: Hans-Ulrich Gallwas, Der andere Standpunkt: Anmerkungen zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben für ein Transplantationsgesetz, JZ 1996, 851 f.; Sachs (Fn. 8), S. 146 f. 53 Von den monographischen Aufbereitungen sei hier – neben der Pionierarbeit von Rixen – noch genannt Ines Klinge, Todesbegriff, Totenschutz und Verfassung, 1996; auch Anderheiden (Fn. 13), 509 ff. 54 Dazu noch unten IV. 3. 43

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Nur wenige Stimmen seien hier kurz referiert: (1) In den USA wird bereits seit den 90er Jahren eine intensive Debatte geführt, in der das Gesamthirntod-Konzept und mit ihm die sog. Dead-Donnor-Rule aus unterschiedlichen Richtungen angegriffen wird.55 Dies gilt etwa für die Vertreter eines Teilhirntod-Kriteriums,56 aber auch jene Kritiker, die zum traditionellen Todeskriterium des irreversiblen Herz-Kreislauf-Stillstandes zurückkehren und zur Legitimation der Organentnahme spezifisch entwickelte Kriterien erarbeiten.57 (2) Für die deutsche Diskussion wichtig – und dennoch erstaunlicherweise kaum rezipiert – ist eine jüngere Stellungnahme des Düsseldorfer Philosophen und Medizinethikers Dieter Birnbacher, der maßgebend an den Verlautbarungen des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer zur Begründung des Hirntodkonzepts beteiligt war und dieses auch mehrfach verteidigt hat.58 Inzwischen vertritt er die Auffassung, daß aus der Sicht einer an wissenschaftlichen Kriterien orientierten Explikation „gerade die Hirntoddefinition kaum befriedigen (könne), und zwar deshalb nicht, weil sie auch nur moderaten Kohärenzansprüchen nicht genügt, z. B. der nach Symmetrie zwischen Lebensbeginn und Lebensende“. (3) Nicht nur für die deutsche, sondern die internationale Diskussion von ganz besonderer Bedeutung dürfte indes die Stellungnahme des „Presidents Council on Bioethics“ vom Dezember 2008 zu „Controversies in the Determination of Death“59 sein. Das Papier räumt nunmehr ein, daß die bisherige Annahme über den unterstellten engen zeitlichen und kausalen Zusammenhang zwischen diagnostiziertem Hirntod und der Desintegration der körperlichen Funktionen insgesamt empirisch widerlegt sei. Das Gehirn sei nicht der Integrator der verschiedenen Körperfunktionen, vielmehr sei die Integration eine emergente Eigenschaft des ganzen Organismus.60 Insoweit verweist der Bericht über die seit langem bekannten Tatsachen hinaus, daß bei hirntod-

55 Hierzu s. etwa zusammenfassend in der Schmitten, in: Höfling (Hrsg.), TPG, Anhang zu § 3 Rn. 60 ff. m.w. N. 56 Einer der Hauptvertreter ist R. M. Veatch, The empanding collapse of the HoleBrain Definition of Death, Hastings Centre Report 93, 18 ff. 57 s. insbesondere Robert D. Truog, Is it time to abandon Brain Death?, Hastings Centre Report 1997, 29 ff.; D. Alan Schewmon, „Brain-stem Death“, „Brain Death“ and Death: A critical Re-Evaluation of the purported evidence. Issues in Law and Medicin 14 (1998), 137 ff.; s. auch dens., „Hirnstammtod“, „Hirntod“ und Tod, in: Schweidler/ Neumann/Brysch (Hrsg.), Menschenleben – Menschenwürde, 2003, S. 293 ff. 58 s. etwa Dieter Birnbacher, Definition, Kriterien, Desiderate, Universitas 50 (1995), 343 ff. 59 Presidents Council on Bioethics, Controversis in the Determination of Death. White Paper, Dezember 2008. 60 s. White Paper, S. 39 f.

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diagnostizierten Patienten das Herz aufgrund der technischen Unterstützung der Zwerchfelltätigkeit selbständig schlägt, sie ihren Stoffwechsel aufrechterhalten, ihre Körpertemperatur regulieren, Infektionen und Verletzungen bekämpfen können, auf Schmerzreize mit Blutdruckanstieg und Streßhormonen reagieren, Exkremente produzieren und ausscheiden. Erwähnt werden auch die mehr als 10 Fälle hirntoddiagnostizierter Schwangeren, die nach teilweise monatelangem „Hirntod“ von gesunden Kindern entbunden worden sind. Vor allem aber sind bis 1998 175 Fälle „chronischen Hirntodes“ dokumentiert, in denen zwischen Hirntod und Herzstillstand eine Woche bis 14 Jahre lagen.61 Der Council räumt darüber hinaus ein, daß die immer wieder aufgestellte Behauptung, kurz nach dem Hirntod trete unweigerlich der Tod ein, kaum überprüft sei und sich gar als eine selbsterfüllende Prophezeihung darstelle: Patienten mit der Diagnose Hirntod würden entweder Organspender oder die Beatmung würde abgestellt.62 Der Ethikrat diskutiert anschließend drei unterschiedliche Konsequenzen: den Verzicht auf die Organentnahme bei hirntoddiagnostizierten Patienten, die Aufgabe der Dead-Donnor-Rule, nach der lebensnotwendige Organe nur toten Spendern entnommen werden dürfen, und schließlich als dritte und von der Mehrheit favorisierte Variante eine neue „philosophische“ Definition des lebendigen Organismus. Danach soll als notwendiges Kriterium für Leben gelten, daß der Mensch sich aktiv mit seiner Umgebung auseinandersetzt. Dies sei erfüllt durch einen Zustand des Bewußtseins, der Wachheit, durch Schmerzreaktionen oder Spontanatmung. Erstaunlicherweise (oder auch nicht) wird damit auf die bisherigen Hirntodkriterien Bezug genommen. Mit anderen Worten: Mit diesem „Kunstgriff“ hält der Council an der Gleichsetzung von Tod und Hirntod fest, obwohl er deren bisherige Begründung als empirisch widerlegt ansieht.63 IV. Bauelemente einer bereichsspezifischen Todes-Dogmatik aus grundrechtlicher Perspektive Vor diesem Hintergrund sieht sich die Bereichsdogmatik des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erneut und fundamental herausgefordert:

61 Zu diesen Fällen s. auch insbesondere D. Alan Schewmon, Chronic ,Brain Death‘: Meta-Analysis and Conceptual Consequences, Neurology 51 (1998), 1538 ff. 62 s. Council, White Paper, S. 41 f., 55; s. ferner D. Alan Schewmon, Neurology 51 (1998), 1538 (1542). 63 s. auch Müller (Fn. 7), 5 (10 f.), die auch auf neue, aufgrund der modernen funktionellen Bildgebung mögliche Schwächen der bisherigen Hirntoddiagnostik hinweist (S. 11 ff.); dazu auch Nicola Siegmund-Schultze, Anlaß zu zweifeln: Wie sicher ist die derzeitige Diagnostik des Hirntodes?, Ärztezeitung vom 24. Juni 2010, S. 2.

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1. „Leben“ oder „Tod“: tertium non datur

Zunächst sollte in einem Ausgangspunkt Konsens bestehen: Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kennt als Schutzgut das „Leben“. Ist dieses Tatbestandselement nicht erfüllt, entfaltet die Verfassungsnorm keinerlei abwehr- oder schutzrechtliche Wirkungen. Das Konzept einer „Grenzzonen-Definition“ des Todes, wie es etwa von der amerikanischen Medizinethikerin Linda Emanuel vor einigen Jahren vorgeschlagen worden ist und das die Möglichkeit der individuellen Wahl pathophysiologischer Zustände als Tod des Menschen eröffnet,64 lassen sich auf die Grundrechtsdogmatik nicht übertragen.65 Entweder kann man im Blick auf einen bestimmten Menschen sagen, er lebt, oder man kann sagen bzw. man sagt: er lebt nicht. Der Begriff „Tod“ meint aber nun „Nicht-Leben“, präziser: „Nicht-mehrLeben“, und der Terminus markiert damit die Scheidelinie, jenseits derer das Grundrecht auf Leben als Maßstabsnorm ausscheidet. Hierin offenbart sich der überaus enge „Zusammenhang von Tod und Leben: ein Mensch ist genau dann tot, wenn er nicht mehr lebt. Es ist also eine ebenso notwendige wie hinreichende Bedingung dafür, tot zu sein, nicht mehr zu leben“.66 2. Konsistenz der dogmatischen Konstruktion

Nicht selten unbeachtet bleibt in der einschlägigen rechtsdogmatischen Diskussion ein immanentes Gebot jeder wissenschaftlichen Arbeit: das der Konsistenz. Zwei Aspekte sollen hier kurz angesprochen werden: (1) Zunächst ist zu beachten, daß die definitorische Verknüpfung von bestimmten „Eigenschaften“ mit dem Tatbestandselement „Leben“ in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG jedenfalls insoweit symmetrisch zu erfolgen hat, als die Fortexistenz eines Kriteriums, dessen Vorliegen für die Bejahung des Lebens(beginns) hinreichend ist, die Feststellung des Lebensendes, des Todes ausschließt. Oder allgemeiner formuliert: „Ein Ding einer bestimmten Art beginnt erst dann zu existieren, wenn all ihre wesentlichen Eigenschaften vorliegen, und sie hört auf zu existieren, wenn es nicht mehr der Fall ist, daß alle ihre wesentlichen Eigenschaften realisiert sind.“ 67

Diesem Konsistenz- oder Kohärenzgebot wird die grundrechtliche Literatur keineswegs immer gerecht. Diese Feststellung gilt nicht nur für jene Auto64

s. Linda Emanuel, Hastings Center Report 25 (1995), no. 4, S. 27 ff. Als literarischer Gegenentwurf s. etwa Edgar Allan Poe, Das vorzeitige Begräbnis: „Die Grenzen, die das Leben vom Tode scheiden, sind besten Falles schattenhaft und vag. Wer könnte sagen, wo das eine endet und wo das andere beginnt?“; hierauf verweisend Ralf Stoecker, Der Hirntod. Ein medizinisches Problem und seine moralphilosophische Transformation, Studienausgabe, 2010, S. 24. 66 So Stoecker (Fn. 65), S. 51 und S. 80 ff. 67 So zu Recht Birnbacher, EthikMed 18 (2006), 315 (318) unter Bezugnahme auf Jeff McMahan, The Ethics of Killing. Problems at the Margins of Life, 2002, S. 436. 65

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ren, die sich zwar um eine Konkretisierung des Begriffs „Leben“ an dessen Anfang bemühen und insoweit eine „rein biologisch-physische Definition“ als verfassungskonform qualifizieren, sodann aber – ohne jede Begründung und Subsumtion – das Recht auf Leben mit dem „Hirntod“ enden lassen.68 Sie trifft auch zu für literarische Stimmen, die zwar das Lebensende „in Entsprechung zur Entstehung des Lebens“ interpretieren wollen, dann aber die Umschreibung des Schutzguts als „biologisch-physische menschliche Existenz“ nur für den Lebensbeginn gelten lassen, für das Endes Lebens aber auf den „endgültigen Ausfall des mensch-spezifischen und person-begründenden Steuerungszentrums“ abstellen.69 (2) Die letztzitierte Äußerung verweist auf einen weiteren wichtigen Punkt. Diese betrifft die Abschichtung kategorial differenter Argumentationsmuster. Bei den Begründungsversuchen zur Gleichsetzungsthese – „Hirntod“ = Tod des Menschen – lassen sich nämlich zwei deutlich voneinander abweichende Argumentationsstränge unterscheiden, nämlich die sog. Geistigkeitstheorie und das biologisch-physiologische Ganzheitskonzept.70 Mit dem Begriff der „Geistigkeitstheorie“ soll auf Begründungsmuster verwiesen werden, die das Spezifische des menschlichen Lebens in kognitiven, psychischen, emotionalen Fähigkeiten erkennt. Als anatomischer Repräsentant dieser Fähigkeiten und „Geistigkeit“ gilt das Gehirn. Demgegenüber betont die biologisch-physiologische Ganzheits-/Integrationsthese die unentbehrliche Steuerungs- und Koordinierungsfunktion des Gehirns für den Organismus in seiner Gesamtheit. Während in der Frühphase der Diskussion die sog. Geistigkeitstheorie der dominierende Begründungsansatz war,71 veränderte sich später die Diskussionslage. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer hat – in zutreffender Einschätzung der defizitären Begründungsstruktur der anthropologischen „Geistigkeitstheorie“ 72 – das Hirntodkonzept ausschließlich mit biologischen Argumenten zu stützen versucht.73 Oft genug aber werden beide Begründungsebenen – bewußt oder unbewußt – immer wieder miteinander vermischt. So lehnt etwa Winfried Kluth die sog. Geistigkeitstheorie ab und verweist auf den biologischen Untergang des Organismus bei diagnostiziertem Hirntod, führt insoweit aber dann doch wieder methaphysische 68 So beispielsweise Starck, in: von Mangoldt/ders., Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl., 2010, Art. 2 Rn. 192. 69 In diesem Sinne beispielhaft Dieter Lorenz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1. Aufl., 1989, § 128 Rn. 8 und 15. 70 s. hier nur Rixen (Fn. 5), S. 216 ff.; Wolfram Höfling, Plädoyer für die enge Zustimmungslösung, Universitas 50 (1995), 357 (359 f.). 71 s. m.w. N. Rixen, Lebensschutz am Lebensende, S. 217 f. 72 Dazu noch unten. 73 s. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer, Deutsches Ärzteblatt 1993, C-1975.

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Elemente ein, nämlich den „Daseinsvollzug“ als „ganzheitliche, seelischleibliche Verwirklichung“.74 Dies aber unterminiert die Kohärenz der dogmatischen Konstruktion in erheblicher Weise. 3. Komplexitätsadäquate Transformation medizinischer Erkenntnisse in den (grund-)rechtlichen Interpretationsprozeß

Aus den vorstehenden Überlegungen ist bereits deutlich geworden, daß ein sachangemessener Zugriff der Grundrechtsdogmatik auf die Problematik gelingene Interdisziplinarität75 voraussetzt. Mindestvoraussetzung eines solchen Vorgehens ist dabei erneut eine Unterscheidung wichtiger Argumentationsebenen. In Übereinstimmung mit einer für die internationale Diskussion seit langem geläufigen und auch in der deutschen Diskussion aufgegriffenen76 läßt sich nämlich mit Hilfe eines Drei-Ebenen-Modells problemabschichtend folgende Differenzierung treffen: (1) Auf der ersten Ebene stellt sich die Frage: Was ist der Tod des Menschen? Hier ist die attributive Ebene („wer stirbt?“) untrennbar verknüpft mit der definitorischen Ebene („Was ist der Tod?“). (2) Sodann stellt sich auf der zweiten Ebene die Frage: Woran läßt sich der Tod erkennen? Auf dieser kriteriologischen Ebene werden die Zeichen umschrieben, die den Eintritt des Todes abbilden. (3) Schließlich ist auf der diagnostischen Ebene zu fragen: Wie lassen sich die Todeskriterien nachweisen? Es liegt nun auf der Hand, daß es allein für die dritte, die diagnostische Ebene eine gleichsam naturwüchsige Kompetenz der medizinischen Wissenschaft gibt.77 Ebenso zweifellos läßt sich feststellen, daß für die erste Ebene die Medizin über keinerlei Erkenntnisdominanz verfügt. Aus einer grundrechtsdogmatischen Perspektive ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß insoweit eine normative Frage zu beantworten ist, nämlich die nach dem Tatbestandselement „Leben“ in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.78 Die eigentliche interdisziplinäre Heraus-

74 s. Winfried Kluth, Die Hirntodkonzeption: Medizinisch-anthropologische Begründung, verfassungsrechtliche Würdigung, Bedeutung für den vorgeburtlichen Lebensschutz, ZfL 1996, 3 (4 und 6); ähnlich Heun (Fn. 34), 203 (216). 75 Dazu s. jüngst etwa Eric Hilgendorf, Bedingungen gelingender Interdisziplinarität, JZ 2010, 913 ff. 76 s. etwa M. Kurthen/D. B. Linke/E. Moskopp, Teilhirntod und Ethik, EthikMed 1989, 483 (484); Höfling (Fn. 5), 26 (30). 77 Das bedeutet nicht, daß nicht auch die Rechtswissenschaft kritisch zu beobachten hat, ob und inwieweit die jeweils angewandten Methoden hinreichend und aussagekräftig genug sind, um bestimmte Todeskriterien – möglichst evidenzbasiert – abzubilden. 78 Dazu s. bereits oben sub II.

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forderung betrifft die zweite Ebene, auf der die Kriterien für ein bestimmtes Todesverständnis genannt werden. Hier ist die Rechtswissenschaft angesichts der existentiellen Entscheidungsfrage: „Leben oder Tod?“ elementar herausgefordert. Sie muß den „nachbarwissenschaftlichen“ Diskurs in seiner Komplexität wahrnehmen und im Blick auf den disziplinären Interpretationsvorgang aufbereiten. 4. Ausrichtung des Konkretisierungsvorgangs an der Teleologie des Lebensgrundrechts

Schließlich hat sich jeder Versuch einer Konkretisierung des Tatbestandselements „Leben“ in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG der teleologischen Ausrichtung der beiden Eingangsartikel des Grundgesetzes bewußt zu sein. Insoweit ergibt eine an systematischen und teleologischen Auslegungskriterien orientierte Konzeption eine partielle Parallelisierung der beiden Gewährleistungen des Art. 1 Abs. 1 GG und des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Das Schutzsubjekt beider Grundrechtsnormen ist identisch.79 Ein Interpretationsansatz, der das Tatbestandselement „Mensch“ (in Art. 1 Abs. 1 GG; deckungsgleich: „jeder [Mensch]“ in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) synonym mit „menschliches Leben“ verwendet, kann zur Begründung zunächst auf einen entstehungsgeschichtlich-teleologischen Aspekt verweisen. Die elementaren grundgesetzlichen Garantien der Menschenwürde und des Menschenlebens sollten gerade einer kategorialen Differenzierung zwischen Würdeund Integritätsschutz beanspruchenden Personen sowie defizitären Nur-Menschen verfassungsnormativen Widerstand leisten. Das Grundgesetz schlägt insoweit eine Brücke zwischen kulturanthropologischen sowie aufklärerisch-humanistischen Deutungen und manipulationsresistentem, inklusivem Integritäts- und Würdeschutz, indem es die Sonderstellung des Menschen genau darin (an)erkennt, daß die Menschen bereit sind, jedem Mitglied ihrer Gattung – und zwar unabhängig von seinem Entwicklungsstand, seinem Alter, seinem pathophysiologischen Zustand, seiner Todesnähe – in gleichem Würde- und Integritätsstatus zu begegnen.80

79 Dies kann nicht im einzelnen dargelegt werden; insoweit darf ich auf andere Arbeiten verweisen, z. B.: Wolfram Höfling, Wer definiert des Menschen Leben und Würde?, in: Festschrift für Isensee, 2007, S. 525 (528 ff.). 80 s. hier nur Höfling (Fn. 79), S. 525 (531 f.) m.w. N.; zu einem Verständnis des Menschenwürdebegriffs als eines Kommunikationsbegriffs s. Hasso Hofmann, Die versprochene Menschenwürde, AöR 118 (1993), 353 ff. – allerdings mit einer engen Variante der Anerkennungstheorie; instruktives Plädoyer für ein inklusives Menschenbild als normative Reaktion auf epistemische Unsicherheit bei Steffen Augsberg, Die Würde des Menschen als Gattungswesen, in: Dabrock/Denkhaus/Schaede (Hrsg.), Gattung Mensch, 2010, S. 385 (394 ff.) und Stephan Rixen, Der Embryo zwischen Person und Sache, in: Ahrens/Biermann/Toepfer (Hrsg.), Die Diffusion des Humanen, 2007, S. 121 (128 ff.).

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V. Schlußfolgerungen für die Konkretisierung des Schutzguts „Leben“ im Blick auf das Lebensende 1. Empirische Widerlegungen der biolgisch-physiologisch argumentierenden Integrationsthese

Kehren wir an dieser Stelle noch einmal zu den beiden Argumentationssträngen zurück, mit denen auf je unterschiedliche Weise die Gleichsetzung von „Hirntod“ und Tod des Menschen legitimiert werden soll, und nehmen zunächst die biologisch-physiologische Ganzheits-/Integrationsthese kritisch in den Blick. Der Ausgangspunkt ist – auf der ersten, der attributiven und definitorischen Ebene – zustimmungswürdig. Danach ist die wesentliche Eigenschaft von Leben die Selbststeuerung, ggf. auch unter Nutzung externer Ressourcen.81 Der Tod kann dementsprechend – in Übereinstimmung mit dem Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer82 – als Ende eines Organismus in seiner funktionellen Ganzheit beschrieben werden.83 Im interdisziplinären Transformationsprozeß ist nunmehr zu klären, ob die Hirntodkriterien84 jenen Todesbegriff abbilden. Diese Frage ist – jedenfalls heute – eindeutig zu verneinen. Seit langem ist bekannt, daß das Herz eines „Hirntoten“ selbständig schlägt und daß seine Vitalfunktionen, also die klassischen Anzeichen biologischen Lebens, nämlich Blutkreislauf, im physiologischen Sinne auch die Atmung (nur das Atemholen, die Zwerchfelltätigkeit, wird maschinell unterstützt), Stoffwechsel, erhalten sind. Entsprechendes gilt für die reproduktiven Vitalfunktionen. Das Blutgerinnungs- und das Immunsystem, die wichtige regulative und integrative Funktion für den Gesamtorganismus wahrnehmen, sind ebenfalls intakt.85 Diese Argumente sind seit langem bekannt. Nunmehr aber hat das White Paper des Presidents Council on Bioethics die – illusionäre – Selbsttäuschung vieler Vertreter der Hirntodkonzeption endgültig widerlegt. Er hat noch einmal die Erkenntnisse etlicher neuer Studien zusammengetragen, die allein bis 1998 175 Fälle „chronischen Hirntodes“ dokumentieren, in denen zwischen Hirntoddiagnose und Herzstillstand eine Woche bis 14 Jahre (!) lagen.86 Die Schlußfolgerung des amerikanischen Ethikrates, damit sei die biologisch-physiologische Integrationsthese empirisch widerlegt, ist zwingend. 81 Dazu näher aus philosophischer Perspektive: Michael Quante, Personales Leben und menschlicher Tod, 2002, S. 69 ff. 82 s. Fn. 29. 83 s. Wolfram Höfling, Todesverständnisse und Verfassungsrecht, in: Bondolfi/Kostka/Seelmann (Hrsg.), Hirntod und Organspende, S. 81 (85 ff.). 84 In der Umschreibung des Gesetzes § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG: „Der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms“. 85 s. hier nur M. Kurthen, Ist der Hirntod der Tod des Menschen?, Ethica 2 (1994), 419 ff.; eingehend Ralf Stoecke, Der Hirntod, Studienausgabe, 2010, S. 43 ff. 86 s. dazu bereits oben bei Fn. 59 ff.

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Wolfram Höfling

Vor diesem Hintergrund wird es interessant sein zu beobachten, wie entsprechend argumentierende Stimmen in der (Verfassungs-)Rechtswissenschaft hierauf reagieren.87 2. Die „Geistigkeitsthese“ auf Kollisionskurs mit dem grundgesetzlichen „Menschenbild“

Will man das Hirntodkonzept noch „retten“, so bleibt allein eine – wie auch immer näher ausgeformte – Spielart einer materiell, mit bestimmten kognitiven, psychischen, emotionalen Fähigkeiten operierende „Geistigkeitstheorie“. Damit aber sind wir auf der ersten Ebene, der attributiven bzw. definitorischen, angelangt. Jedes so argumentierende Modell sieht sich also mit jenem „Menschenbild“ 88 konfrontiert, wie es oben kurz skizziert worden ist, und wie es auch vom Jubilar nachdrücklich vertreten wird.89 Und ich vermag nicht zu erkennen, wie eine materiell argumentierende Hirntodkonzeption mit dieser Deutung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (und des Art. 1 Abs. 1) GG kompatibel sein sollte.90

87 s. z. B. Otfried Seewald, Ein Organtransplantationsgesetz im pluralistischen Verfassungsstaat, VerwArch 88 (1997), 199 (213 n. Fn. 94): An der Integrationsfunktion des Gehirns bestehe „kein Zweifel“. 88 Hier geht es nicht um das vielbeschworene Menschenbild des Grundgesetzes; s. zur Kritik Wolfram Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 111 ff. 89 s. nachdrücklich Stern (Fn. 8), S. 71. 90 Dazu IV. 4.

Preisstabilität und Grundrechtsschutz Randnotizen zur europäischen Staatsschuldenkrise Von Jörn Axel Kämmerer* Die Debatte um die grundrechtliche Verankerung der Preisstabilität ist nicht neu. Die in Währungsreformen mündenden Inflationsspiralen der 1920er Jahre und der unmittelbaren Nachkriegszeit haben in der kollektiven Psyche der Deutschen bis heute traumatische Spuren hinterlassen. Sie erklären, warum die deutsche Währungs- und Europapolitik der Preisstabilität einen hohen Stellenwert beimisst und die Übertragung währungspolitischer Zuständigkeiten auf die EZB unter den Vorbehalt ihrer unabhängigen Wahrung gestellt wurde (Art. 88 S. 2 GG). Dass gerade die deutsche Staatsrechtslehre1 sich bereits vor Jahrzehnten auf die Suche nach einem „Grundrecht auf Preisstabilität“ begeben hat, passt in dieses Bild. Über die Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft des Euro nach der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise der letzten Jahre scheint die Frage nach Bestand und Reichweite eines solchen Grundrechts wieder an Bedeutung zu gewinnen. Geldwertverlust ist – wie noch zu zeigen sein wird – nicht nur ein gesamtwirtschaftliches Phänomen, sondern zugleich auch ein individuelles Schicksal. I. Geld und Preisstabilität als Verfassungsgüter Non olet – und doch sieht das Verfassungsrecht Geld, wie es scheint, als einen recht profanen Gegenstand an. Die Deutsche Mark würdigte das Grundgesetz zunächst, obschon gerade sie zur wirtschaftlichen Prosperität beigetragen hatte und zu einem der Identifikationskerne der jungen Republik geworden war, mit keinem Wort. Die ihr versagte verfassungsrechtliche Dignität wurde erst dem Euro zuteil, zunächst unter der alten Bezeichnung ECU (European Currency Unit, vgl. Art. 117 Abs. 3 Uabs. 1 Spstr. 5 und Art. 118 EG), im Lissabon-Vertrag dann unter seinem aktuellen Namen. Nicht einmal die Stabilität des Geldwertes war dem Grundgesetz eine ausdrückliche Erwähnung wert, bis im Jahre

* Herr Wiss Mit. Dominik Kuhn hat mich bei der Erstellung der Nachweise unterstützt, wofür ich ihm vielmals danke. 1 Vgl. Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 338 m.w. N.

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1969 durch Art. 109 Abs. 2 und 3 GG das sog. „gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ – und damit auch ein „stabiles Preisniveau“ – in Verfassungsrang erhoben wurde.2 Klaus Stern betrachtet unabhängig davon Währungssicherung „als einen zwar nicht ausdrücklich formulierten, aber dem Grundgesetz“ – von Anfang an – „immanenten Verfassungsauftrag.“ 3 Er gehörte überdies zu den ersten, die sich mit Art. 109 Abs. 2 GG unter rechtswissenschaftlichem Vorzeichen auseinandersetzten.4 Bei dieser Bestimmung handelt es sich um ein – in der Verfassungswirklichkeit kaum einklagbares5 – Staatsziel.6 Für die Bundesbank als Hüterin der „harten“ DM fand sich in Art. 88 GG zwar ein Platz, ihre Rechte und Aufgaben aber blieben unerwähnt. Es entbehrt nicht gewisser Ironie, dass die Verpflichtung der Bundesbank auf Sicherung der Preisstabilität erst in jenem Moment, als sie zum Exekutivarm der Europäischen Zentralbank degradiert wurde, verfassungskräftig – wenn auch über die Bande der EZB bzw. des ESZB (Art. 108 EG, jetzt Art. 127 Abs. 1 S. 1 und 282 Abs. 2 S. 2 AEUV) – festgeschrieben wurde (Art. 88 S. 2 GG).7 Im Zuge der Föderalismusreform wurden die europäischen Stabilitätskriterien (an denen nicht nur das Recht, den Euro einzuführen, gemessen wird, sondern die auch die Anforderungen an eine solide Haushaltspolitik verkörpern8) mit dem „magischen Viereck“ 9 des Art. 109

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s. u. Fn. 9. Stern, Staatsrecht, Bd. II, 2. Aufl., 1980, § 35 V 6 b b. 4 Stern, NJW 1967, 1831 (insbes. 1833). 5 Vgl. Häde, WM 2008, 1717 (1722); Ossenbühl, in: Festschrift für Carstens, 1984, S. 743 (752 f.); kritisch zu einer eingeschränkten Justiziabilität: G. Kirchhof, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., 2010, Art. 109 Rn. 65 ff.; s. a. BVerfG, NVwZ 1990, 356 (357) und Prokisch, Die Justiziabilität der Finanzverfassung, 1993, S. 137 ff. 6 Waldhoff, in: Degenhart/Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V: Rechtsquellen, Organisation, Finanzen, 3. Aufl., 2007, § 116 Rn. 2. 7 Vgl. Hahn/Häde, Währungsrecht, 2. Aufl., 2010, §12 Rn. 27; Kämmerer, in: von Münch/Kunig, GG, 5. Aufl., 2003, Art. 88 Rn. 13, 26; Ruge, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Hopfauf, GG, 11. Aufl., 2008, Art. 88 Rn. 1; i. E. auch Stern, Staatsrecht, Bd. II, 2. Aufl., 1980, § 35, V 2 b; a.A (Unabhängigkeit schon durch Art. 88 GG a. F. – jetzt S. 1 – gesichert): Studt, Rechtsfragen einer europäischen Zentralbank, 1993, S. 86 f.; Uhlenbruck, Die verfassungsmäßige Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank und ihre Grenzen, 1968, S. 26 f.: wieder anders Weikart, NVwZ 1993, 834 (840): Unabhängigkeit der Bundesbank genießt auch nach Einfügung des Art. 88 S. 2 GG keinen Verfassungsrang. Damit wird jedoch die Bedeutung der Einbindung der Bundesbank in das (unabhängige) System der Europäischen Zentralbanken verkannt, vgl. Art. 130 AEUV; s. a. das obiter dictum in BVerfGE 62, 169 (183) zu Art. 88 GG a. F. 8 Vgl. Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Stand: 33. Erg. Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 3. 9 Vgl. § 1 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft (StWG) vom 8. Juni 1967, BGBl. I 1967, 582: Angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum, Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht; vgl. näher BVerfGE 79, 311 (338 f.); G. Kirchhof, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., 2010, Art. 109 Rn. 42; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 109 Rn. 9. 3

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Abs. 2 GG verbunden, mit dem Ergebnis, dass die Preisstabilität nach Maßgabe dieser Bestimmung praktisch doppelt geschützt ist. Diese knappe tour d’horizon könnte erwarten lassen, dass zu Sorge um die Preisstabilität kein Anlass besteht, da die verantwortlichen Akteure durch aufeinander bezogene Vorgaben des Europarechts sowie des Grundgesetzes wirkungsvoll in die Pflicht genommen werden. Zu Zweifeln berechtigen allerdings Lehren aus der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise der Jahre 2008 bis 201010: Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) hat sich als labil, ja fragil erwiesen – weil es an einer Balance zwischen den beiden Flügeln fehlt, aber auch, weil die Anforderungen an die Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten nicht streng genug gefasst sind. In der Liquiditätskrise – und vielfach schon früher – konnten sanktionslos erhebliche Haushaltsdefizite angehäuft werden; Kontrollmechanismen gegenüber disziplinlosen Mitgliedstaaten erwiesen sich als wenig effizient; das in Art. 125 AEUV eigentlich angelegte Verbot des finanziellen „Bailout“ musste schließlich (zunächst im Auslegungswege11, dann über eine Vertragsänderung12) aufgeweicht werden, um spekulative Angriffe auf einzelne Mitgliedstaaten zu begrenzen und ihnen noch jenen Rest an Bonität zu bewahren, der ihren Zugang zu den Finanzmärkten sicherte. Doch auch die lange als „Hohepriesterin der Preisstabilität“ gerühmte EZB zog Kritik auf sich, als sie ihre Bonitätsstandards für die Annahme von Staatspapieren13 senkte und 2010 in größerem Umfang Schuldtitel just derjenigen Mitgliedstaaten erwarb, die in budgetäre Krisen geraten waren.14 Damit hat die EZB nach Auffassung ihrer Kritiker gegen Art. 123 AEUV, zumindest aber gegen den Geist dieser Vorschrift verstoßen, mit der „monetäre Haushaltsfinanzierung“ unterbunden werden soll15: Die Zusage, solche Staatsanleihen (wenn auch von den Finanzmärkten) anzunehmen, wirke wie eine Ermächtigung zum Drucken von Geld. Zwar hielt sich die durchschnittliche Inflationsrate innerhalb der Euro-Zone bis 2010 noch unterhalb der 2%Schwelle, doch wird die angehäufte Staatsverschuldung mittelfristig als Risiko für die Preisstabilität16 eingeschätzt. 10

Vgl. hierzu einleitend: Herrmann, EuZW 2010, 413 und Knopp, NJW 2010, 1777. Vgl. Schlussfolgerungen des Rates (Wirtschaft und Finanzen) vom 9. Mai 2010, Rat-Dok. SN 2564/1/10 REV 1; Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus, ABl. 2010/ L 118/1; s. hierzu Kube/Reimer, NJW 2010, 1911. 12 Vgl. Schlussfolgerungen des Rates vom 16. Dezember 2010, EUCO 30/10. 13 Vgl. Beschluss der Europäischen Zentralbank vom 6. Mai 2010 über temporäre Maßnahmen hinsichtlich der Notenbankfähigkeit der von der griechischen Regierung begebenen oder garantierten marktfähigen Schuldtitel, EZB/2010/3, ABl. 2010/L 124/ 102. 14 Vgl. Beschluss der Europäischen Zentralbank vom 14. Mai 2010 zur Einführung eines Programms für die Wertpapiermärkte, EZB/2010/5, ABl. 2010/L 124/8. 15 Vgl. Frenz/Ehlenz, EWS 2010, 210 (212); Seidel, EuZW 2010, 521; a. A.: Herrmann, EuZW 2010, 645 (646); Neyer, WiDi 2010, 503 (505 f.). 16 Vgl. Hayo, WiDi 2010, 507 (510). 11

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Wo politische Akteure, wie es scheint, ihre Verpflichtung zum Einsatz für Preisstabilität vernachlässigen, wachsen die Erwartungen an die disziplinierende Kraft der Justiz, namentlich der Verfassungsgerichtsbarkeit.17 Die beschriebenen Ereignisse rühren nicht nur erneut an die Frage nach den Grenzen der von Deutschland erklärten Einwilligung in die europäische Integration, sondern scheinen auch die Debatte um ein „Grundrecht auf Preisstabilität“ und seine Reichweite neu zu beleben. So rügen die Verfassungsbeschwerden18, welche u. a. gegen den „Euro-Rettungsschirm“ (Europäischer Finanzstabilitätsmechanismus, EFSM19 und Europäische Finanzstabilisierungsfazilität, EFSF20) und die Griechenland gewährte Unterstützung21 erhoben wurden, eine Ersetzung der vertraglichen Grundlagen durch eine apokryphe „Transferunion“ 22, sind aber auch von der Sorge um den Geldwert getragen: Das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 Abs. 1 GG sei verletzt, zumal jene Vorschriften des AEU-Vertrags, welche die Geldwertstabilität schützen sollten, entwertet und die Stabilität des Euro untergraben würden.23 In beiden Verfahren lehnte das BVerfG den Erlass einer einstweiligen Anordnung ab24; die Hauptsache war zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Beitrages jeweils noch anhängig. Auffällig ist, dass die Kritiker des „Rettungspakets“ die Stabilität des Wertes der gemeinsamen Währung höher gewichten als die Stabilität ihrer Existenz: Ein Verbot von Finanztransfers würde einzelne Mitgliedstaaten in die Insolvenz stürzen und somit das Ende des Euro in seiner bisherigen Gestalt besiegeln. Da Mitgliedstaaten mit Ausnahmeregelungen (die den Euro nicht eingeführt – oder auch wieder abgeschafft – haben) über Art. 143 AEUV aber weit einfacher an finanzielle Unterstützung der anderen Mitgliedstaaten gelangen können25, dürfte der

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Vgl. bereits BVerfGE 73, 339 – Solange II. BVerfG, Beschl. v. 07.05.2010, Az.: 2 BvR 987/10 und BVerfG, Beschl. v. 9.6. 2010, Az.: 2 BvR 1099/10, zum Teil abgedruckt in NJW 2010, 1586 und NJW 2010, 2418. 19 Verordnung (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11. Mai 2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus, ABl. 2010/L 118/1. 20 Gesellschaftsvertrag der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität v. 07.06.2010; s. a.: Faßbender, NVwZ 2010, 799. 21 Vgl. hierzu Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten des Euro-Währungsgebiets v. 25.03.2010; Statement on the support to Greece by Euro area Members States v. 11.04.2010 (Memo/10/123); Erklärung der Eurogruppe – Erklärung zur Unterstützung für Griechenland v. 02.05.2010 (2492/10) und Erklärung der Staatsund Regierungschefs des Euro-Währungsgebiets v. 07.05.2010 sowie Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen zum Erhalt der für die Finanzstabilität in der Währungsunion erforderlichen Zahlungsfähigkeit der Hellenischen Republik vom 07.05.2010, BGBl. I 2010, S. 537. s. zum Ganzen: Knopp, NJW 2010, 1777. 22 Vgl. hierzu: Seidel, in: Festschrift Vieregge, 1995, S. 793 (797 f.); Häde, Finanzausgleich, 1996, S. 546; Rometsch, Kreditwesen 1993, 662 (664). 23 Vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 9.6.2010, Az.: 2 BvR 1099/10, Abs. 22. 24 BVerfG, NJW 2010, 1586 und BVerfG, NJW 2010, 2418. 18

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„Austritt“ von Mitgliedstaaten aus der Eurozone die Entwicklung zur „Transferunion“ eher noch forcieren. Doch sollen im Mittelpunkt dieses Beitrags weder die Inkonsistenzen der Wirtschafts- und Währungsunion noch die Inkonsistenzen der gegen ihre praktische Umsetzung geführten Attacken stehen. Vielmehr geht es um die Frage, ob Grundrechte oder auch grundrechtsgleiche Rechte in einer überstaatlichen monetären Ordnung Schutz gegen Geldentwertung bieten können und – soweit dies nicht der Fall sein sollte – das System der Grundrechte insoweit womöglich eine offene Flanke aufweist. II. Das Spektrum der Maßnahmen und des Individualrechtsschutzes Das eingangs erwähnte kollektive deutsche Inflationstrauma schien seit der Nachkriegszeit von einem trügerischen bundesdeutschen Gefühl der Stabilität überlagert worden zu sein. Antiinterventionistische Wirtschaftspolitik und verantwortungsvolle Geldpolitik bildeten das Substrat für wirtschaftliche Prosperität und niedrige Inflationsraten (die allerdings in einzelnen Jahren deutlich über den heute maßgeblichen 2% lagen). Die privative Wirkung selbst einer moderaten Geldentwertung dürfte jedoch – speziell unter den in Deutschland gegebenen Voraussetzungen – unterschätzt werden: In dem Maße, wie die Gehälter ihr folgen, steigt die steuerliche Belastung des Einzelnen, die nicht linear verläuft, an: Während die Löhne nominal, aber seit der Währungsunion nur selten noch real, ansteigen, werden die normativ festgelegten Grenzsteuersätze in aller Regel nicht nach unten angepasst. Dieses als „kalte Progression“ bekannte Phänomen26 beruht auf dem Schein des Wertzuwachses, den Inflation generiert, und sie verbindet den Verlust des Geldwertes mit einem solchen der individuellen Kaufkraft. Beide Verlusteffekte betreffen nur Personen, deren Lohnsteigerung unterhalb der Inflationsrate liegt, was jedoch nicht selten der Fall ist. Beide Effekte verstärken sich, wenn der Binnenmarkt in die Betrachtung einbezogen wird: Nicht nur die Inflation, sondern auch die Lohnzuwächse liegen in anderen Mitgliedstaaten höher als in Deutschland, so dass die Auslandskaufkraft in Deutschland erzielter Einkünfte sinkt. Gerade die Europäisierung nicht nur der währungspolitischen Zuständigkeiten, sondern auch des Grundrechtsschutzes rüttelt nun an alten (Un-)Gewissheiten und wirft neue Probleme auf. Sicher ist, dass das Grundgesetz für den Schutz individueller Rechte nicht mehr allein Maßstab und Autorität ist. Der Geldwert kann beeinträchtigt werden durch Handlungen oder Unterlassungen von Organen der EU. Hierbei ist zu differenzieren ist zwischen der Ausübung 25 Vgl. hierzu am Beispiel der osteuropäischen EU-Staaten: Lang/Schwarzer, SWPAktuell 12 (März 2009), 1. 26 Vgl. hierzu allgemein: Siegel, ZSteu 2010, 54.

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einer vertraglichen Ermächtigung, die das Ziel der Preisstabilität missachtet – eine jedenfalls de lege ferenda nicht auszuschließende Konstellation –, der unsachgemäßen Wahrnehmung einer Zuständigkeit und der Anmaßung von Hoheitsgewalt („ausbrechender Rechtsakt“ oder „Ultra-vires-Handeln“). Auch Handlungen oder Unterlassungen von Mitgliedstaaten können den Euro in Wertverfall bringen. Insoweit muss unterschieden werden zwischen Maßnahmen, die in ihre originäre Zuständigkeit fallen – was nach Art. 119 ff. AEUV auf die Grundzüge der Wirtschaftspolitik zutrifft –, Akten, mit denen unionsrechtliche Vorgaben umgesetzt werden, und schließlich Handlungen, zu denen der Mitgliedstaat laut Vertrag nicht mehr befugt ist. Je nachdem, ob und in welchem Maße ein Rechtsakt unionsrechtlich determiniert ist oder originär deutscher Hoheitsgewalt entspringt, finden EU-Grundrechte oder deutsche Grundrechte Anwendung, während die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Prinzip für beide Typen von Maßnahmen gelten.27 Für die Änderungen der vertraglichen Grundlagen, aber auch für „ausbrechende Hoheitsakte“, reklamiert das BVerfG eine Prüfungszuständigkeit nicht nur an den Grundrechten, sondern auch an Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG (in Verbindung mit dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip)28, hat sie gegenüber mutmaßlichen Ultra-vires-Akten aber zuletzt stark zurückgenommen29. Das ungleiche Gespann von Wirtschafts- und Währungsunion unterliegt nach alledem auch in grundrechtlicher Hinsicht keinem einheitlichen Maßstab. Wo Zuständigkeiten, wie in der Währungsunion, vollständig „vergemeinschaftet“ sind und eine ausschließliche Zuständigkeit der Union begründet worden ist (Art. 3 lit. c AEUV), weichen die deutschen den EU-Grundrechten. In der Wirtschaftspolitik, wo das Europarecht sich darauf beschränken muss, den Staaten wirtschaftspolitische Grundregeln aufzuerlegen, muss für die Anwendung nationaler Grundrechte dagegen Raum bleiben. Mit dieser Maßstabsverteilung ist allerdings noch keine Aussage über einen wirksamen Schutz des Geldwertes durch die jeweiligen Grundrechte, insbesondere die Eigentumsgarantien, getroffen. Sollten weder das Grundgesetz noch die Grundrechte-Charta auf Individualrechtsebene ein wirksames Bollwerk gegen den Wertverfall des Euro errichten, könnte allenfalls die EMRK zum „Taktgeber“ 30 für diese Ordnungen werden.

27 Vgl. zum Ganzen: Ehlers, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, § 14 Rn. 12 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 26. Aufl., 2010, Rn. 55 ff. m.w. N. 28 BVerfGE 89, 155 – Maastricht; BVerfGE 123, 267 – Lissabon. 29 BVerfGE 123, 267 – Lissabon; BVerfG, NJW 2010, 3422 – Honeywell. 30 Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung der EMRK: Walter, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Auflage 2009, § 1 Rn. 6 ff.

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1. Grundrechte des Grundgesetzes

Rechtsakte der Europäischen Union und solche, bei denen das Unionsrecht den Mitgliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum lässt, unterliegen nach übereinstimmender Auffassung des EuGH31 und des BVerfG32 den europäischen und nicht den deutschen Grundrechten. Für ihre Anwendung bleibt im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik bei drei Konstellationen Raum: bei Vertragsänderungen – hier allerdings nur in Gestalt einer „strukturangepassten Grundsatzkongruenz“ 33, ggfs. bei „ausbrechenden“ Rechtsakten34, vornehmlich aber bei solchen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, für welche die EU keine Zuständigkeit beansprucht. a) Die geplante Änderung des Art. 136 AEUV Unter dem Eindruck der geradezu infektiösen Budgetkrisen der Mitgliedstaaten schnürte die EU im Frühjahr 2010 – nach einem „Erste-Hilfe-Pflaster“ in Form bilateraler Kredite der Euro-Länder für den „Patient Zero“ Griechenland – ein „Euro-Rettungspaket“, bestehend aus einem Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus35 und einer Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität36. Nicht nur seine Wirksamkeit wurde angezweifelt, sondern auch das Bestehen einer primärrechtlichen Ermächtigung für solche Maßnahmen abstrakt-generellen Charakters37. Die Mitgliedstaaten einigten sich daher im Dezember 2010 auf eine im „vereinfachten Verfahren“ des Art. 48 Abs. 6 ff. EU durchzuführende Ergänzung des Art. 136 AEUV um einen dritten Absatz38, die eine sehr allgemein gefasste Ermächtigung zur Aufstellung eines Stabilitätsmechanismus umfasst.39 Kommt diese Vertragsänderung zustande, würde der Vorwurf einer Kompetenzanmaßung obsolet, doch muss sich die Zustimmung der Bundesrepublik 31 EuGH, Slg. 1964, 1253 (1270 f.); EuGH, Slg. 1970, 1125 (1135); EuGH, Slg. 1989, 2609. 32 BVerfGE 118, 79 (95); BVerfGE 22, 293 (195); BVerfGE 73, 339 (375 f.) – Solange II; BVerfGE 102, 147 (161 ff.) – Bananenmarktordnung; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 1 Rn. 46. 33 Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 254 ff.; BVerfGE 73, 339 (378) – Solange II. 34 BVerfGE 89, 155 – Maastricht; BVerfG, NJW 2010, 3422 (3423 f.) – Honeywell. 35 s. o. Fn. 19. 36 s. o. Fn. 20. 37 Vgl. nur Faßbender, NVwZ 2010, 799 (800); Kube/Reimer, NJW 2010, 1911 (1912 f.). 38 „Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“ Vgl. oben Fn. 12. 39 s. dazu auch BR-Drs. 872/10 vom 11.2.2011.

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Deutschland an Art. 23 Abs. 1 GG messen lassen. Um dessen materielle Barrieren zu aktivieren, muss der Grundrechtsschutz auf breiter Front der Erosion preisgegeben sein; eine gewisse Rücknahme des Schutzstandards bei einzelnen Grundrechten – wie Art. 14 Abs. 1 GG – genügt nicht.40 Wenn es zutrifft, dass Geld „geprägte Freiheit“ 41 ist, sein Besitz – und Wert! – also den Gebrauch aller anderen Freiheiten determiniert, würde zumindest eine Ermächtigung, die „Notenpresse anzuwerfen“, eine programmierte „Inflationsgemeinschaft“ also, das Niveau des Grundrechtsschutzes allgemein beeinträchtigen. Ein solcher Effekt kann dem künftigen Art. 136 Abs. 3 AEUV indes nicht unterstellt werden. Der Ausgleichsfonds operiert, solange Kredite zu marktüblichen Bedingungen vergeben werden, nicht mit der Umverteilung von Vermögen, sondern lässt die in Not geratenen Mitgliedstaaten an der Bonität der stärkeren teilhaben. Er kann überhaupt nur unter der Voraussetzung funktionieren, dass die Geberstaaten nicht in einer Weise Schulden auf sich häufen, die ihre erstklassige Bonität beeinträchtigt. Nicht auszuschließen ist, dass die Teuerungsrate aufgrund der akkumulierten Schulden europaweit die 2%-Marke überspringt. Selbst wenn eine moderate Geldentwertung in Deutschland bereits als grundrechtswidrig bewertet werden müsste (dazu III. 1.), würde mit ihr ein vergleichbarer Grundrechtsschutz noch längst nicht preisgegeben. Dies gilt umso mehr, als – wie zu zeigen sein wird – auch unter dem Grundgesetz Art. 14 Abs. 1 GG gegen Inflation nur in Ausnahmesituationen in Stellung gebracht werden kann. b) Nationale Schuldenpolitik und Eigentumsschutz Die EU ist für die Währungspolitik ausschließlich zuständig, für die Preisstabilität aber nicht. Da Währungsunion und gemeinsame Wirtschaftspolitik – in Wahrheit wenig mehr als eine Koordinationsplattform der Mitgliedstaaten – zueinander konnex sind, wird auch Letztere durch Art. 119 Abs. 3 AEUV dem Imperativ stabiler Preise unterworfen. Solange es an einer „europäischen Wirtschaftsregierung“ 42 als echtem Gegengewicht zum ESZB fehlt, verpflichten die Art. 120 ff. AEUV die Mitgliedstaaten auf Verhaltensmaßstäbe, die allesamt imoder explizit der Preisstabilität verschrieben sind: Kreditfazilitäten bei Zentralbanken sind beispielsweise verboten, weil sie funktional auf monetäre Haushaltsfinanzierung43 – „Betätigung der Notenpresse“ – hinauslaufen (Art. 123 AEUV). Andere Vorschriften wollen (ebenso) die Inflationsgefahr bannen, die Haushalts40 BVerfGE 102, 147 (1164); Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 23 Rn. 20. 41 BVerfGE 97, 350 (371) (nach Dostojewskij). 42 Vgl. hierzu Frenz/Ehlenz, GewArch 2010, 329 (334). 43 Vgl. Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl., 2007, Art. 101 EGV Rdn. 1, 5; Smeets, in: Gröner/Schüller (Hrsg.), Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, 1993, S. 97 (119).

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defiziten innewohnt. Ganz direkt untersagt Art. 126 Abs. 1 und 2 AEUV den Mitgliedstaaten „übermäßige Defizite“, also die Überschreitung jener Referenzwerte von 3% jährlicher Nettoneuverschuldung und 60% Gesamtverschuldung44, in deren Fall auch der Euro nicht eingeführt werden darf (Art. 140 Abs. 1 AEUV). Haftung für Schulden eines Mitgliedstaates oder Einstehenmüssen für diese durch die Union oder Mitgliedstaaten zugunsten von Schuldnerstaaten erklärt Art. 125 AEUV für unzulässig, weil damit Fehlanreize gesetzt werden: Ein Mitgliedstaat, der auf ein „Bailout“ vertrauen darf, wird – wie man aus dem föderalen Finanzausgleich45 weiß – von der notwendigen Haushaltskonsolidierung Abstand nehmen. Über allen Kontroversen um die Auslegung der in Art. 125 AEUV enthaltenen Rechtsbegriffe besteht über dessen Zielsetzung doch Einigkeit. Auch Art. 123 AEUV dient der Inflationsbekämpfung, indem er dem Staat den privilegierten Zugang zu Geldquellen verschließt.46 Obschon alle diese Verbote dem Unionsrecht entspringen, haben sie doch Maßnahmen zum Gegenstand, die als nationale Rechtsakte – jedenfalls auf der Basis überkommener Dogmatik – grundsätzlich an den Grundrechten des Grundgesetzes gemessen werden können. Handelt Deutschland also den teils auch verfassungsrechtlich abgefederten Geboten der Art. 119 ff. AEUV zuwider und bringt dadurch die Stabilität des Euro in Verfall, ist verfassungsrechtlicher Grundrechtsschutz gegen diesen Geldwertverlust nicht schon deswegen ausgeschlossen, weil gegen ein unionsrechtliches Verhaltensgebot verstoßen wird. Inwieweit dies auch für den materiellen Inhalt von Verpflichtungen gilt, die Deutschland im Rahmen europäischer Stabilitätsinitiativen eingeht, kann dahinstehen. Die Staatsverschuldung insgesamt, zu der diese Pflichten stets nur einen unter mehreren Kausalbeiträgen liefert, ist am Grundgesetz zu messen (Art. 115 Abs. 2 GG). Insofern liegt der Gedanke nahe, Inflation – wenn sie sich als Fernwirkung solcher Staatsverschuldung einstellt – ebenfalls nach deutschen Grundrechten zu beurteilen. Entgegen steht, dass die Verbraucherpreise überstaatlich erfasst werden und an eine überstaatliche Währung gebunden sind, der Beitrag Deutschlands zu ihrem Anstieg also überhaupt nicht feststellbar wäre. So könnte das Verdikt der Eigentumsverletzung allenfalls darauf gestützt werden, dass eine Maßnahme aufgrund des ihr immanenten Inflationspotenzials per se grundrechtswidrig ist. Voraussetzung dafür wiederum ist, dass der Geldwert vom Schutzbereich des Eigentumsrechts überhaupt umfasst wird (dazu III. 1.) und dass ein Wertverlust sicher prognostizierbar ist. Für ein „Betätigen der Notenpresse“ wie 44 Vgl. Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Stand: 33. Erg. Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 3. 45 Vgl. hierzu allgemein: Häde, Finanzausgleich: die Verteilung der Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen im Recht der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, 1996. 46 Khan, in: Geiger/ders./Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl., 2010, Art. 123 AEUV Rn. 3; Pipkorn, CMLRev 1994, 263 (275).

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in den frühen 1920er Jahren, durch das sich der Staat auf Kosten Privater entschuldet, darf dies angenommen werden; hingegen ist zumindest für die Vergangenheit ein Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung (ob über oder unter 3% p.a.) und Inflationsrate empirisch nicht festzustellen. 2. EU-Grundrechte

Akte von Organen der EU, insbesondere der EZB, sind an Unionsgrundrechten zu messen. Damit ist nicht das BVerfG, sondern der EuGH dafür zuständig, etwaige Abweichungen vom „Pfad der Tugend“ im Lichte des Art. 123 AEUV und ggfs. der EU-Grundrechte zu beurteilen. Auch Akte der Mitgliedstaaten, die unionsrechtlich vorgeprägt sind, sind nicht an den Grundrechten des GG, sondern an EU-Grundrechten zu messen. Mit dem Erstarken der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) in Rechtsverbindlichkeit (Art. 6 Abs. 1 EUV) ist diese als Grundrechtsquelle neben die EMRK und die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten getreten.47 Diese Mehrfachverwurzelung des EU-Grundrechtsschutzes erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der überstaatliche Schutzstandard für Eigentum oder Vermögen über die Verheißungen des Grundgesetzes hinausgeht. Eine Annäherung zwischen EU- und deutschen Grundrechten bewirkt allerdings die EMRK, die in ihrer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) auch für die Interpretation deutscher Grundrechte maßstäblich ist.48 Wo die Unionsorgane selbst Rechtsakte mit evident preistreibender Wirkung erlassen, also z. B. gegen Art. 123 oder 124 AEUV verstoßen, treten an die Stelle verfassungsrechtlicher Eigentumsgarantien die einschlägigen Unionsgrundrechte (Art. 6 Abs. 1 EUV bzw. Art. 17 Abs. 1 GRCh). Insoweit ist allerdings nicht nur streitig, ob sie auch gegen Geldentwertung Schutz bieten49, sondern auch, ob Akte, mit denen die Verpflichtung zur Wahrung von Preisstabilität (bei der EZB: Art. 127 Abs. 1, 282 Abs. 1 S. 2 AEUV) verletzt wird, Individuen unmittelbar und gegenwärtig in ihrem Recht zu betreffen vermögen50.

47 Vgl. Geiger, in: ders./Khan/Kotzur, EUV/AEUV, 5. Aufl., 2010, Art. 6 EUV Rn. 8; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 23 Rn. 20. 48 Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 343 f.; Jarass, in: ders./Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 1 Rn. 29. 49 Ablehnend: Hahn/Häde, Währungsrecht, 2. Aufl., 2010, § 9 Rn. 46; Seidler, Währungspolitik als Sozialpolitik, 2005, S. 9 (Reihe „ZEI Working Papers“, abrufbar unter http://www.zei.de/zei_deutsch/publikation/publ_zeib_pp.htm); Ohler, JZ 2008, 317 (324). 50 Bejahend: Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 346; zweifelnd bzw. ablehnend: Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG; Stand: 60. Erg. Oktober 2010, Art. 88 Rn. 40; Seidler, Währungspolitik als Sozialpolitik, 2005, S. 19 (Reihe „ZEI Working Papers“, vgl. Fn. 49; s. zum Ganzen auch Selmayr, Das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion, 2002, S. 232 ff.

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III. Zur Reichweite eines Grundrechtsschutzes gegen Inflation 1. Verfassungsrechtliche Befundaufnahme

Die hier behandelte Frage lautet, welche potenziell preistreibenden Maßnahmen an den Grundrechten welcher Hoheitsebene zu messen und ob dabei der unionsrechtliche Eigentumsschutz insoweit hinter dem deutschen zurückbleibt oder im Gegenteil über ihn hinausgeht. Sie wird jedoch ad absurdum geführt, wenn keine der beiden Ordnungen einen wirksamen Grundrechtsschutz gegen Inflation gewährleistet. Hochfliegende Erwartungen an preisstabilisierende Wirkungen sollten an Art. 14 Abs. 1 GG nicht gestellt werden. Zur rechtsdogmatischen Reserviertheit gesellt sich die Schwierigkeit, Kausalketten zwischen staatlichem Handeln und der Preisentwicklung zu etablieren, aber auch die Notwendigkeit, Zielkonflikte zu berücksichtigen: Selbst Art. 115 Abs. 2 GG erkennt an, dass in bestimmten Situationen die Aufnahme höherer Kredite zur Erfüllung wichtiger Ziele unumgänglich sein kann. Im Zentrum der Debatte über einen – auf Art. 14 Abs. 1 GG gestützten – grundgesetzlichen Schutz des Geldwertes in Deutschland stehen drei Fragen: ob Preisstabilität überhaupt Grundrechtsschutz verdient, wie weit dieser ggfs. reicht und inwieweit inflationäre Effekte staatlichen Stellen als Grundrechtseingriff zugerechnet werden können. Ein Teil des Schrifttums51 begrenzt mit dem BVerfG52 den eigentumsrechtlichen Schutz des Geldes auf dessen individuelle Zuordnung und die Möglichkeit, darüber (dem Nominalwert gemäß) zu verfügen, schließt den Tauschwert jedoch vom Schutzbereich grundsätzlich aus. Zum einen wird darauf abgestellt, dass der Transaktionswert als bloße Vermögenskomponente von Art. 14 Abs. 1 GG nicht erfasst sein könne. Zum anderen soll der Geldwert, der „in besonderer Weise gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsabhängig“ sei, durch den Staat in Ansehung der multiplen Faktoren, die ihn determinieren, nicht garantiert werden können.53 Art. 14 Abs. 1 GG könne „auch beim Geld nur die institutionelle Grundlage und die individuelle Zuordnung gewährleisten“, den Tauschwert aber nicht.54 Eine Einschränkung des formulierten Grundsatzes konzedieren manche55 für den Fall der Hyperinflation (monatliche Preissteigerung 51 Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 60. Erg. Oktober 2010, Art. 88 Rn. 40; Hahn/Häde, Währungsrecht, 2. Aufl., 2010, § 9 Rn. 35; Knopp, NJW 2010, 1777, 1781; Lepsius, JZ 2002, 313 (321); Weikart, Geldwert und Eigentumsgarantie, 1993, S. 205 ff.; Zwissler, NJW 1997, 179 (180). 52 BVerfGE 97, 350: BVerfGE 105, 17 (30). 53 BVerfGE 97, 350 (371). 54 Axer, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Onlinekommentar GG, Stand: 15. Januar 2011, Art. 14 Rn. 54; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl., 2011, Art. 14 Rn. 20; Knopp, NJW 2010, 1777 (1781). 55 Hahn/Häde, Währungsrecht, 2. Aufl., 2010, § 9 Rn. 28, 30; Häde, WM 2008, 1717 (1720).

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von 50%56), da diese nicht nur den Tauschwert, sondern auch die Verwendungsmöglichkeit des Geldes de facto beeinträchtige. Beide Argumentationsstränge weisen, wie zuletzt Herrmann57 herausgearbeitet hat, Schwächen auf. Gegen die Abstraktion zwischen Verfügungs- und Tauschwert hat sich bereits frühzeitig Papier ausgesprochen, welcher dem Geld als Zahlungsmittel eine eigentumsrechtliche Sonderfunktion zuweisen will.58 Die heutige wirtschaftliche Bedeutung des Geldes reicht über diejenige eines Transaktionsinstruments indessen weit hinaus: Auf Finanz- und Kapitalmärkten wird es – vereinfacht gesprochen – selbst zum Gegenstand der Marktprozesse. Tauschwert und Objektwert des Marktgutes fallen dann zusammen. Auch deswegen – und im Lichte der zunehmenden volks- (und vermögens-)wirtschaftlichen Bedeutung der Finanzmärkte – erscheint eine Reduktion des Eigentumsschutzes auf die sachenrechtliche Zuordnung des Geldes nicht (mehr) angemessen. Ironischerweise wirkt sich ein Wertverfall des Geldes dort besonders verheerend aus, wo die Tauschfunktion desselben gerade nicht aktiviert ist und auch nicht aktiviert werden kann: bei längerfristig gebundenen Anlagen. Der inflationsbedingte Wertverlust kann durch Korrektive (wie z. B. in Gestalt von Tarifverhandlungen beim Arbeitslohn) hier auch nicht abgefangen werden. Auf einer anderen Ebene liegt das Argument, der Staat sei unfähig, den Geldwert zu garantieren, da mit diesem verfassungsrechtliche Verantwortlichkeit negiert wird. Strukturelle Unfähigkeit zur Ergebnissicherung kann aber nicht mit struktureller Unfähigkeit gleichgesetzt werden, den Geldwert dennoch zu schädigen. Solange zwischen staatlichem Wirken und einer inflationären Entwicklung der Verbraucherpreise keine Kausalitätskette etabliert werden kann, bedeutet dies zunächst nur, dass ein Eingriff mit enteignender Wirkung dann nicht positiv feststellbar ist. Gezielte Angriffe des Staates auf die Preisstabilität sind aber durchaus denkbar59 und können, so selten sie sind, verheerende Wirkungen zeitigen: Man denke nur an die Hyperinflation des Jahres 1923, mit welcher die Reichsregierung zugleich den Ruhrkampf zu finanzieren als auch sich der Reparations56 Hahn/Häde, Währungsrecht, 2. Aufl., 2010, § 9 Rn 29 unter Verweis auf Issing, Einführung in die Geldtheorie, 14. Aufl., 2007, S. 48, 203; s. zu den (Inflations-)Begrifflichkeiten ferner Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 332 Fn. 324. 57 Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 345 ff. 58 Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 59. Erg. Juli 2010, Art. 14 Rn. 186; ebenso: Kröger/Gas, VersR 1998, 1338 (1340); Luttermann, ZErb 2009, 77 (83); Siekmann, Modelle des Eigentumsschutzes, 1998, S. 217 f., 280; s. a. Hoffmann-Riem, Rechtsfragen der Währungsparität, 1969, S. 55 ff.: Tauschwert des Geldes als Ausfluss der Wertgarantie des Art. 14 Abs. 3 GG und K. Schmidt, Festschrift 125-jähriges Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, 1984, S. 665 (674 f.): Staatliche Schutzpflicht gegen Geldentwertung. 59 Vgl. Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 346; Kröger/Gas, VersR 1998, 1338 (1340).

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verpflichtungen zu entledigen versuchte. Da die Wirtschafts- und Währungsunion den nationalen Regierungen solche unmittelbaren Zugriffe auf die Notenpresse heute „verbaut“, stellt sich die Frage nach der (faktisch) enteignenden Wirkung praktisch nur noch für „unspezifische“ Maßnahmen, die (auch) wegen ihres Informationspotenzials untersagt sind: übermäßige Staatsschulden, die europaund verfassungsrechtlich fixierte Schuldengrenzen (Art. 109 Abs. 2 GG i.V. m. Art. 126 AEUV sowie Art. 115 Abs. 2 GG) überschreiten, aber auch durch Art. 123 und 124 AEUV untersagte kreditpolitische Akte. In solchen Fällen lassen sich zwischen erlaubt und verboten schwerlich klare Grenzen ziehen. So steht die Aufnahme von Staatsschulden zur Bankenrettung mit Art. 126 Abs. 1 und 2 AEUV, materiell betrachtet, nicht im Einklang. Sie war jedoch zur Stützung des Wirtschaftssystems erforderlich60 und diente der Finanzierung von Programmen, die als Beihilfen von der Europäischen Kommission genehmigt worden sind61. Fehlt es an einer solchen Legitimation, können Einzelne den Staat wegen Eigentumsverletzung jedenfalls dann nicht belangen, wenn die Inflationsrate – wie in den vergangenen Jahren – im zulässigen Rahmen (0 bis 2% p.a.62) bleibt: Der Geldeigentümer hat keinen Tauschwertverlust erlitten. Und selbst wenn diese Marge überschritten wird, können die inflationären Wirkungen kaum so eindeutig dem Staat zugerechnet werden63, dass das Verdikt einer Eigentumsverletzung (i. S. einer übermäßigen Inhaltsbestimmung oder eines sonstigen rechtswidrigen Eingriffs) gefällt werden kann – abgesehen davon, dass sich eine für die Inanspruchnahme gerichtlichen Schutzes ausreichende individuelle Betroffenheit schwerlich einstellen wird. Dies gilt umso mehr, als der Zusammenhang etwa zwischen Staatsverschuldung oder Ankauf von Staatspapieren durch die Zentralbank auf der einen und Verlust des Geldbinnenwertes auf der anderen Seite ökonomisch nicht unumstritten ist.64 Beschleunigt sich, wie erwartet, die Inflation, reicht dies als Beleg eines „staatlich verursachten Geldwertverlustes“ dennoch nicht aus, solange nicht andere Faktoren als (Mit-)Ursachen der Geldentwertung ausgeschlossen werden können. Es ist schon unrealistisch, den Verursachungsanteil des Staates an einer Inflationsrate von z. B. 4% bestimmen zu wollen. Erst recht geht die Frage, ob eine hälftige Verantwortlichkeit da60 Zu Zielkonflikten: Hahn/Häde, Währungsrecht, 2. Aufl., 2010, § 9 Rn. 41; Häde, WM 2008, 1717 (1722 f.). 61 Vgl. Mitteilung der Kommission Vorübergehender Unionsrahmen für staatliche Beihilfen zur Erleichterung des Zugangs zu Finanzierungsmitteln in der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise, ABl. 2011/C 6/5. 62 Vgl. Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 332 f.; Luttermann, ZErb 2009, 77 (80). 63 Hahn/Häde, Währungsrecht, 2. Aufl., 2010, § 9 Rn. 30, 42. 64 Vgl. hierzu Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl., 2007, Art. 101 EGV Rn. 7; Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, 1997, S. 75 m.w. N.; vgl. zu den wirtschaftswissenschaftlichen Inflationstheorien auch Weikart, Geldwert und Eigentumsgarantie, 1993, S. 77 ff.

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für – wenn sie sich denn feststellen ließe – als Verfassungsverstoß zu werten sei oder nicht (weil sie für sich genommen die Grenze zulässiger Preissteigerung nicht überschreitet), an den Marktrealitäten vorbei. Das Ergebnis überrascht nicht, muss aber doch ernüchtern: Obschon die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG – nach hier vertretener Überzeugung – im dogmatischen Ansatz auch die Stabilität des Tauschwerts des Geldes schützt, kann sie als „Grundrecht auf Preisstabilität“ im Ergebnis nicht als dogmatisches Geschütz in Stellung gebracht werden. Als verfassungsrechtliche Auffangbestimmungen wirken insoweit Art. 109 Abs. 2 GG i.V. m. Art. 126 AEUV und Art. 115 Abs. 2 GG. Ihnen immanent ist das Paradoxon, dass sie wirkmächtiger sind als Art. 14 Abs. 1 GG, weil sie gerade nicht an Wirkungen, sondern nur an Handlungen anknüpfen. Auch diese Wirksamkeit steht und fällt allerdings mit der Bereitschaft der Verfassungsgerichte, die haushaltsrechtlichen Vorgaben – wie jüngst in Nordrhein-Westfalen65 – zu justiziablen Maßstäben für den Gesetzgeber fortzuentwickeln. 2. Europarechtlicher Schutzstandard und „Solange“-Maßstäbe

Der vorgelegte verfassungsrechtliche Befund legt einen weiteren Schluss nahe: Als Bollwerk gegen Maßnahmen, die im Rahmen der WWU getroffen werden, muss Art. 14 Abs. 1 GG versagen. Wenn dieser schon gegenüber staatlichen Akten kein durchsetzbares Recht auf Preisstabilität gewährleistet, dürften Rechtsakte der EU – selbst wenn sie an Art. 14 Abs. 1 GG gemessen werden könnten – nicht strenger beurteilt werden. Dass auch fragwürdige Rechtsakte im Bereich der WWU grundsätzlich nicht nach deutschen Grundrechten beurteilt werden dürfen, ist allerdings eine weitere Konsequenz aus dem obigen Befund. Denn auch wenn sich erweisen sollte, dass dem Unionsrecht kein wirksamer grundrechtlicher Schutz gegen Inflation innewohnt, bliebe dessen Standard nicht – wie es die „Solange“-Rechtsprechung voraussetzt66 – hinter demjenigen der deutschen Grundrechte zurück; er würde – speziell mit Blick auf den Eigentumsschutz – nur nicht über ihn hinausgehen. Bereits Zurechnungserwägungen legen nahe, dass europarechtlicher Individualrechtsschutz der Preisstabilität – selbst wenn der Tauschwert im Ansatz in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie hier eingeschlossen sein wollte – im Ergebnis nicht signifikant weiter reichen dürfte als der des Grundgesetzes. Rechtsprechung des EuGH zu dieser Frage ist, soweit ersichtlich, nicht vorhanden, so dass Schlüsse auf das europäische Schutzniveau allenfalls aus der Judikatur des EGMR (zu Art. 1 Abs. 1 ZP I zur EMRK) und ggfs. aus der nationalen 65

VerfGH NW, Urt. v. 15.3.2011, Az.: VerfGH 20/10. BVerfGE 37, 271 (280 ff.) – Solange I; BVerfGE 73, 339 (387) – Solange II; s. zum Ganzen: Grimm, Der Staat 48 (2009), 475 (478 f.). 66

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Verfassungsgerichtspraxis der Mitgliedstaaten, insbesondere der Euro-Zone, gezogen werden können. Der EGMR hat das Eigentumsgrundrecht durch verzögerte Befriedigung von Individualansprüchen durch den Staat verschiedentlich für verletzt erkannt67; Hinweise darauf, dass er den Geldwert insgesamt dem Grundrecht unterordnen will, fehlen jedoch.68 Auch die nationale Verfassungsjudikatur liefert keinen Hinweis darauf, dass das europäische Eigentumsgrundrecht, das sich als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch aus den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten nährt (Art. 6 Abs. 3 EUV), die Preisstabilität in stärkerem Maße schützt als die deutschen Grundrechte. Hinzu kommt, dass die verfahrensrechtlichen Spielräume für die Grundrechtsdurchsetzung in Europa enger sind als im deutschen Rechtskreis: Kaum einer der mit potenziell preisbeeinflussender Wirkung ausgestatteten Rechtsakte, die an EU-Grundrechten gemessen werden müssen, ist hinreichend individualisiert, um die Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 AEUV zu eröffnen.69 Dies gilt insbesondere für die Festlegung der Leitzinsen durch die EZB, aber selbst z. B. bei Verstößen gegen Art. 123 AEUV. Das BVerfG hat seit seiner Maastricht-Entscheidung70 die Befugnis reklamiert, „ausbrechende Rechtsakte“ – das heißt: Handlungen der EU-Organe, die von den primärrechtlichen Ermächtigungen nicht mehr gedeckt sind – zu überprüfen. Ob die im Jahre 2010 beschlossenen Finanzstabilisierungsmaßnahmen (soweit die EU als ihr unmittelbarer Urheber identifiziert werden kann71) sich noch innerhalb des von Art. 122 Abs. 2, 125 AEUV gesetzten Rahmens bewegen, ist im juristischen Schrifttum umstritten72; die Frage liegt dem BVerfG, wie eingangs erwähnt, zur Entscheidung vor. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass Karlsruhe auf „Ultra-vires“-Handeln erkennt, wird dies die Bekämpfung der Inflation mit dem Mittel der Grundrechte wenig befeuern können, denn es fehlt dem Eigentumsgrundrecht insoweit an Schlagkraft. Dies gilt umso mehr, als das

67 EGMR, Urt. v. 12. Juli 2005 – Solodyuk/Russland, No. 67099/01: Verletzung des Eigentumsrechtes durch verzögerte Auszahlung monatlicher Renten bei gleichzeitig erheblicher Inflation. 68 Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, 2010, S. 344. 69 Vgl. zum Merkmal der individuellen Betroffenheit im Rahmen der Klagebefugnis: Borchardt, in: Lenz/ders., EUV/AEUV, 5. Aufl., 2010, Art. 263 AEUV Rn. 28 ff.; Kotzur, in: Geiger/Khan/ders., EUV/AEUV, 5. Aufl., 2010, Art. 263 AEUV Rn. 30. 70 BVerfGE 89, 155 – Maastricht. 71 Vgl. zur ebenfalls umstrittenen europarechtlichen Zulässigkeit von bi- oder oligolateralen Maßnahmen außerhalb des EU-Rahmens: Belke WiDi 2010, 152 (153); Faßbender NVwZ 2010, 799 (801); Kämmerer WiDi 2010, 161 (164); Kube/Reimer, NJW 2010, 1911 (1914). 72 Vgl. Frenz/Ehlenz, EWS 2010, 65; Häde, EuZW 2009, 399; Kämmerer, WiDi 2010, 161.

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BVerfG genau genommen auch nicht den präsumtiven Ultra-vires-Akt (der nach Überzeugung des Verfassungsgerichts für Deutschland ohnehin nicht verbindlich zu werden vermag73), sondern nur Umsetzungsakte staatlicher Stellen zu überprüfen berufen ist – wie in der Rechtssache Honeywell 74 eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts. In dieser Entscheidung aber hat das BVerfG seinen Ultravires-Kontrollanspruch im Einklang mit dem staats- und europarechtlichen Schrifttum75 auf offensichtlich kompetenzwidriges Handeln, dem ein schwerwiegender – zu einer bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führender – Rechtsverstoß innewohnt, zurückgenommen.76 Bei Akten, die im Rahmen der Währungsunion erlassen worden sind, ist für eine Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG schon deswegen praktisch kein Raum, weil die Mitgliedstaaten der Union insoweit eine ausschließliche Zuständigkeit übertragen haben (Art. 3 Abs. 1 lit. c AEUV) – wohingegen die gemeinsame Wirtschaftspolitik, zu welcher finanzielle Rettungs- und Stützungsmaßnahmen gehören, auf Koordination beschränkt ist (Art. 5 AEUV). Zwar ist die Verpflichtung, durch Finanztransfers ggfs. den Ruin anderer Staaten abzuwenden, in hohem Maße haushaltswirksam und begrenzt staatliche Handlungsspielräume, aber selbst wenn Art. 2 Abs. 1 GG zusammen mit Art. 20 Abs. 3 GG und ggfs. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG als Prüfungsmaßstab verbleiben sollte, kann von der Offenkundigkeit eines Rechtsverstoßes bei finanzieller Unterstützung von Mitgliedstaaten durch die Union oder durch andere Mitgliedstaaten nicht die Rede sein. Dies zeigt sich bereits an der Kontroverse um die Auslegung der Begriffe „haften“ und „einstehen“ in Art. 125 AEUV: In Deutschland herrscht die Auffassung vor, damit seien freiwillige Zahlungen von Mitgliedstaaten in jeder Hinsicht und unter allen Umständen untersagt.77 Dem widersprechen EZB78 und andere Mitgliedstaaten: Freiwillige Leistungen fielen nicht in den Anwendungsbereich der Art. 122 Abs. 2, 125 AEUV. Man wird diese Feststellung zumindest erheblich einschränken müssen: Nur wenn freiwillige Zahlungen als Kredite zu einem (noch) marktadäquaten Zinssatz geleistet werden (der günstiger sein darf als der von privaten Instituten offe-

73

BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht; BVerfG, NJW 2010, 3422 (3424) – Honey-

well. 74

BVerfG, NJW 2010, 3422. Vgl. Isensee, Festschrift Stern, 1997, S. 1239 (1255); Kokott, AöR 1994, 207 (222, 233); Pernice, in: Dreier, GG, 2. Aufl., 2006, Art. 23 Rn. 32; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 56. Erg. Oktober 2009, Art. 23 Rn. 40; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, S. 238. 76 Vgl. BVerfG, NJW 2010, 3422 (3424) – Honeywell – und bereits BVerfGE 123, 267 (353, 400) – Lissabon. 77 Belke, WiDi 2010, 152 (153); Frenz EWS 2010, 181; Häde, EuZW 2009, 399 (403); Kube/Reimer, NJW 2010, 1911 (1914); so auch noch der Autor dieses Beitrags: Kämmerer, WiDi 2010, 161 (164). 78 „EZB-Präsident kritisiert Bankenbranche scharf“, in: Welt Online, 19. Juni 2010 (www.welt.de). 75

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rierte), ist Art. 125 AEUV nicht verletzt.79 Ob die Einrichtung des Europäischen Finanzstabilisierungsfonds bzw. der zugehörigen Fazilität von der Ausnahmebestimmung des Art. 122 Abs. 2 AEUV abgedeckt ist, ist nicht minder umstritten.80 Nach den Maßstäben des Honeywell-Urteils müsste das BVerfG diese Prüfung dem EuGH überlassen. IV. Ausblick: Grundrechtlicher Geldwertschutz in der „Transferunion“ Wenn Lehren aus den obigen Befunden gezogen werden können, dann vielleicht die folgenden: Für die Sicherung der Geldwertstabilität scheint – erstens – die Kohärenz der Institutionen und der ihnen zu Gebote stehenden Mechanismen wichtiger zu sein als die Festschreibung von Stabilitätsmaximen als verfassungsrechtliche Prinzipien. Die Deutsche Bundesbank vermochte bis zur Einführung des Euro auch ohne explizite normative Absicherung einen maßgeblichen Beitrag zur Preisstabilität in Deutschland zu leisten. Umgekehrt scheint die Schutzwirkung der grundgesetzlich rückgebundenen Festschreibung von Preisstabilität in der EU begrenzt, wo das System der Wirtschafts- und Währungspolitik nicht hinreichend ausbalanciert und „vergemeinschaftet“ ist, um sie zu gewährleisten. Ob eine frühe Einigung der Vertragsparteien auf begrenzte Transfermechanismen eine wirksame Staatsschuldenkontrolle generiert hätte, kann nur Gegenstand von Spekulationen sein. Manches spricht dafür, dass die dramatische „Rettung“ des Euro durch finanzielle Transfers, die ihrerseits Staatsschulden und Inflationsrisiko anfachen, nicht hätte zu erfolgen brauchen, wenn mit „checks and balances“ gekoppelte Ausgleichsmechanismen von vornherein verankert worden wären. Auch die preisstabilisierende Wirkung des Eigentumsgrundrechts – dies ist die zweite Beobachtung – ist durch das System, in dem sie zur Wirkung kommt, begrenzt. Nicht nur würden Wertungswidersprüche generiert, wenn der objektivrechtliche Schutz des Eigentums mit Blick auf Preisstabilität gegen Entscheidungen, die geld- und währungspolitisch erlaubt sind, in Stellung gebracht werden könnte. Auch der subjektiv-rechtliche Eigentumsschutz ist den Bedingtheiten eines Systems unterworfen, das dem Ausgleich zwischen divergierenden Zielen verschrieben ist. Wo der Vertrag Solidarität zwischen Mitgliedstaaten vorschreibt, kann der Einzelne sie schwerlich mit dem Hinweis unterbinden, dass die Inflationsrate infolge von Hilfsaktionen auf 3% gestiegen sei.

79 Kämmerer, in: Kommentar zur Europäischen Währungsunion, Art. 122 AEUV Rn. 38 f.; ähnlich bereits Herrmann EuZW 2010, 413 (415); Knopp, NJW 2010, 1777 (1780 f.). 80 Vgl. Faßbender, NVwZ 2010, 799 (800); Kube/Reimer, NJW 2011, 1911 (1914), und die Nachweise in Fn. 72.

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Drittens wird die Geldwertentwicklung, wie schon andere Autoren betont haben81, durch vielfältige interne wie externe Faktoren bestimmt. Notenbanken und staatliche Haushaltspolitik können sie beeinflussen, aber nicht steuern. Der Nachweis, dass ein individueller Geldwertverlust (der nach hier vertretener Auffassung im Ansatz durchaus an Art. 14 Abs. 1 GG und Art. 17 GRCh gemessen werden kann) einer spezifischen hoheitlichen Maßnahme zugerechnet werden kann, lässt sich so gut wie niemals führen. Bei einer bloßen Bedrohung der Preisstabilität durch (evident verbotene) staatliche oder europäische Maßnahmen fehlt es zudem an einer für die verfahrensrechtliche Durchsetzung von Grundrechtspositionen erforderlichen individuellen Betroffenheit. Der Weg der EU zur „Transferunion“ ist durch die eingeleitete Ergänzung des AEU-Vertrages um Art. 136 Abs. 3 vorgezeichnet. Auch diese Vertragsänderung modifiziert die Bedingungen für den Schutz der Preisstabilität innerhalb der Union. Der Eigentumsschutz lässt sich gegen sie schon deswegen nicht ins Feld führen, weil Preisstabilität, wie gezeigt, nicht zum individualrechtlichen Acquis des Grundgesetzes zählt, der durch Europäisierung nicht preisgegeben werden darf. Dass andere Verfassungsgrundsätze durch eine solche Rechtsänderung – die letztlich nur der Absicherung des Status quo dient – berührt werden, ist nicht ersichtlich. Dies gilt umso mehr, als finanzielle Ausgleichsleistungen auch außerhalb von Notlagen ein typisches Merkmal föderaler Systeme darstellen (vgl. z. B. Art. 107 Abs. 2 GG). Das bekannte und nur allzu berechtigte Diktum, wonach der Verfassungsstaat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann82, zeigt sich bei Geld in besonderem Maße. Die „geprägte Freiheit“, die es verkörpert, beschränkt sich nicht auf die Verfügung über das Geldeigentum, sondern sie erlaubt auch – auf der Ebene anderer Grundrechte, wie etwa der Berufsfreiheit –, Transaktionen (wie Kreditvergabe an den Staat, Währungsspekulation u. ä.) vorzunehmen, die an hoheitliche Weichenstellungen anknüpfen und Inflation zu schüren vermögen. Auch die Existenz des Euro selbst ist Ausdruck einer Freiheitsidee, die auf die Beseitigung von Transaktionsbarrieren gerichtet ist. Auf seinen Tauschwert aber vermag die Freiheitsprägung im Ergebnis kaum abzustrahlen. Das System der Grundrechte mag staatliches Handeln lückenlos erfassen, doch manifestiert sich, wie der obige Befund beweist, nicht schon in jeder Beeinträchtigung privater Handlungsspielräume durch Geldwertverluste eine justiziable staatliche Maßnahme.

81 82

Hahn/Häde, Währungsrecht, 2. Aufl., 2010, § 9 Rn. 40 m.w. N. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 60.

Das Recht als Garant und Grundlage künstlerischen Schaffens* Von Karl Korinek Im zuletzt erschienenen Band seines Staatsrechts widmet sich Klaus Stern – wie gewohnt umfassend, souverän und ausgewogen – der Kunstfreiheit,1 zeigt sie in ihrer Entwicklung und aktuellen Bedeutung und bezieht zu den wesentlichen der diskutierten Fragen Stellung. Das hat den Verfasser ermuntert, die folgende Skizze Klaus Stern in großem Respekt und verehrungsvoll zu seinem besonderen Geburtstag zu widmen.

I. Einleitung Die Formulierung des Themas geht von einer nicht explizit gemachten Voraussetzung aus. Sie wird erst verständlich, wenn wir bedenken, dass das Recht in unserer Staats- und Gesellschaftsordnung alle Lebensbereiche erfasst und ordnet und in diesem Sinn auch für das kulturelle Geschehen – und damit auch für die Kunst – seine Bedeutung hat. Im Prinzip war das auch schon zu Zeiten so, in denen das künstlerische Schaffen vor allem im Dienste des Adels und der Kirche stand: Auch hier regelten rechtliche Bestimmungen das Schaffen der Künstler – denken wir beispielsweise an die von Äbten, Bischöfen, Fürsten oder Grafen mit den Künstlern abgeschlossenen Anstellungsverträge oder die darauf beruhenden Anordnungen der Dienstgeber und die an die künstlerischen Leiter eingeräumten Anordnungsbefugnisse gegenüber den „Subalternen“ oder die ihnen delegierte Kompetenz zum Abschluss von Werkverträgen. Man findet hier – was uns heute überraschen mag – oft ganz präzise rechtliche Regelungen.2

* Schriftliche Fassung eines am 18.11.2010 im Rahmen der „Salzburger Vorlesungen“ gehaltenen Vortrags. – Die Vortragsfassung ist weitgehend beibehalten; die Hinweise beschränken sich auf Belege und den Verweis auf Stellen, in denen hier nur kurz Angedeutetes näher ausgeführt wurde. 1 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/2: Die einzelnen Grundrechte, 2011, insb. S. 106 ff, 605 ff. 2 Vgl. paradigmatisch in Bezug auf Joseph Haydn Karl Geiringer, Joseph Haydn – Eine Biografie3, 2009, insb. S. 67 ff.

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Als sich an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert langsam eine bürgerliche Kultur emanzipierte,3 war es im Prinzip nicht anders, nur dass die Verträge etwa in Deutschland und Italien vornehmlich von den Kommunen abgeschlossen wurden4 und in England, dann später aber auch in Kontinentaleuropa von Vereinen und Gesellschaften.5 Erst recht war es so, als die Kunst vornehmlich vom Staat gesteuert und veranstaltet wurde, was in autoritären Staaten oft mit der Funktionalisierung „erwünschter“ und dem Verbot bestimmter – „entarteter“ – Kunst oder bestimmter – „artfremder“ – Künstler Hand in Hand ging.6 Der Inhalt der rechtlichen Regelungen hat sich natürlich geändert, vor allem die Grundausrichtung der Regelungen. Heute ist – dank der Gewährleistungen auf Verfassungsebene, sonders der Kunstfreiheit – das Recht Garant und Grundlage freien künstlerischen Schaffens geworden. Freilich darf man nicht schwarz-weiß malen; auch hier kommt es auf die „Zwischentöne“ an, wie das Arik Brauer einmal in einem Chanson formuliert hat: Man muss sehen, dass es auch zu Zeiten, als Kunst im Auftrag der Kirche und Höfe geschaffen wurde, Freiheitsräume gab – aber das war primär von der Großzügigkeit oder Engstirnigkeit des Auftraggebers abhängig: Michelangelo durfte sein jüngstes Gericht malen, ein Ärgernis für weite Kreise der damaligen Zeit und ein Beispiel freien künstlerischen Schaffens; aber letztlich abhängig von der Großzügigkeit des Papstes, der ihm die Freiheit gewährte. Ein Fürst Esterhazy hat Haydn die Freiheit gegeben, neue Wege in der Entwicklung der symphonischen Musik und der Kammermusikkompositionen zu gehen, und er hat es ihm sogar erlaubt, heitere Melodien für seine Messkompositionen zu verwenden – was damals ebenfalls weithin als Ärgernis gesehen wurde. Aber die Freiheiten wurden Michelangelo und Haydn gewährt, sie waren nicht – wie heute – rechtlich garantiert. Andererseits muss man auch sehen, dass es heute trotz der verfassungsrechtlichen Garantie der Kunstfreiheit Abhängigkeiten gibt, vertraglich festgelegte und faktische Abhängigkeiten. Aber die Grundstruktur ist eine andere: Die künstlerische Freiheit wurde früher – nach Gutdünken des Dienstgebers – gewährt und es hat Zeiten gegeben, in denen sie teilweise oder ganz untersagt war. Heute ist sie garantiert, wenn auch nicht ohne Einschränkung und in ihrer Wirkung nicht umfassend. Aber das sind Folgen des Inhalts der rechtlichen Regelungen. Es sind 3 Vgl. – wieder am Beispiel Haydns – Karl Korinek, Joseph Haydn – Erneuerung und Vollendung, 2009, insb. S. 7 ff. 4 Vgl. dazu (m.w. H.) Dieter Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL Bd. 42, 1984, S. 47 f. 5 Man denke an die Welle der Gründung derartiger Gesellschaften (insb in den großen Städten) im Gefolge der Erringung bürgerlicher Freiheiten in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 6 Vgl. für das nationalsozialistische Regime etwa die Hinweise bei Stern (Fn. 1), S. 612.

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aber immer rechtliche Regelungen, die das künstlerische Schaffen ordnen, ermöglichen und begrenzen, also ihre Grundlage darstellen. II. Die Brennpunkte der rechtlichen Ordnung des künstlerischen Schaffens Die Freiheit der Kunst und die staatliche Verantwortung für die Kunst sind die beiden Brennpunkte der heute bestehenden rechtlichen Ordnung des künstlerischen Schaffens7 und das deutlich zu machen und zu demonstrieren soll Aufgabe dieses Beitrags sein. Zunächst thesenhaft: Das Recht, und zwar das Verfassungsrecht, garantiert die Freiheit künstlerischen Schaffens, sichert sie gegen ungerechtfertigte Eingriffe, sichert aber auch – insbesondere über die Gewährleistung der Freiheit der Meinungsäußerung – die Freiheit von Kunstrezipienten und Kunstkritikern. Auf diese Weise sichert unsere Verfassung die Freiheit der Kommunikation auch im Kunstbereich. So können etwa provokante Theater- und Opernproduktionen unter Bezug auf die Kunstfreiheit gerechtfertigt werden, aber die Kritik an solchen Aufführungen kann sich ihrerseits auf die Meinungsäußerungsfreiheit berufen; dementsprechend darf die Kritik in gleicher Weise provokativ und fundamental erfolgen, denn das Schutzniveau der beiden Grundrechte ist prinzipiell nicht unterschiedlich. Alles andere wäre ja unerträglich, wenn man bedenkt, dass die Meinungsäußerungsfreiheit zu den essentialia einer pluralistischen Demokratie gehört. Dass die Äußerung von Meinungen privilegiert sein soll, wenn sie in künstlerischen Formen vor sich geht, würde das demokratische Prinzip unserer Rechtsordnung nur schwer ertragen können. Der andere Brennpunkt der rechtlichen Ordnung des künstlerischen Schaffens ist die staatliche Verantwortung für die Kunst: Verantwortung für die Kunst übernimmt der Staat zum einen dadurch, dass er den rechtlichen Rahmen schafft (und „kunstgerecht“ ausgestaltet), dass er also rechtliche Regeln setzt, die für das künstlerische Schaffen für notwendig erachtet werden. Denn es wäre ein grobes Missverständnis, die Freiheit der Kunst als Freiheit von rechtlichen Bindungen zu verstehen. Architektur bleibt an das Bau- und Raumplanungsrecht gebunden, Konzertveranstaltungen finden im Rahmen des Veranstaltungsrechts statt und bedürfen zivilrechtlicher Vereinbarungen verschiedenster Art und auch arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Regelungen werden oft erforderlich sein, um nur einige Beispiele zu nennen.8 Auch ist es notwendig, die Konsequenzen künstlerischen Schaffens (vom Urheberrecht bis zum Steuerrecht) zu ordnen. Zum anderen übernimmt der Staat die Aufgabe der Förderung der Kunst, was in Kunst7

Vgl. Karl Korinek, Staat und Kunst, 2006, insb. S. 18 ff. Vgl. etwa die kursorische Darstellung relevanter Vorschriften bei Karl Korinek et al., Kulturrecht im Überblick, 2004, S. 86 ff. 8

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förderungsgesetzen, in Richtlinien, letztlich aber vor allem in den Budgets der Gebietskörperschaften seinen rechtlichen Niederschlag findet. Und er stellt schließlich rechtliche Einrichtungen oder zumindest rechtliche Regeln für die Präsentation von Kunst zur Verfügung.9 III. Die Freiheit des künstlerischen Schaffens Der eine der beiden Brennpunkte der rechtlichen Ordnung des künstlerischen Schaffens und der Vermittlung von Kunst ist deren – in Österreich durch Art. 17a StGG und in Deutschland durch Art. 5 Abs. 3 GG – als durchsetzbares subjektives Recht gewährleistete Freiheit. 1. Wenn wir uns den Implikationen und Konsequenzen dieser Freiheitsgewährung widmen wollen, kommen wir nicht darum herum, uns der Frage nach dem Inhalt des Kunstbegriffs zu stellen. Ich möchte mich damit nur kurz aufhalten, denn das Thema ist ausreichend bearbeitet10 und ich kann mich auf ein Resümee beschränken: Ich glaube, dass alle Versuche, den verfassungsrechtlichen Begriff von Kunst definitorisch zu erfassen, gescheitert sind.11 Da nützt auch die provokant-polemische Formulierung von Josef Isensee nichts, der einmal geschrieben hat: „Was der Staat nicht definieren kann, das kann er auch nicht schützen“.12 Nun: Der Staat muss es, will er es schützen, nicht definieren; aber er muss schon deutlich machen, was hier geschützt ist, und er muss das von anderen Phänomenen abgrenzen. Ich glaube, dass sich in Österreich inzwischen die Auffassung durchgesetzt hat, dass das nur mithilfe einer typologischen Umschreibung13 des Inhalts des Begriffs „künstlerisches Schaffen“ gelingen kann.14 Aber für die Zwecke der Abgrenzung reicht das allemal.

9 Man denke an die Organisation von Bundes- oder Landestheatern, Festspielen, Museen oder Ausstellungen. 10 Vgl. für Deutschland die zusammenfassende Darstellung bei Stern (Fn. 1), S. 621 ff. (m.w. H.) und für Österreich statt aller Walter Berka, Die Freiheit der Kunst (Art. 17a StGG) und ihre Grenzen im System der Grundrechte, JBl. 1983, S. 281 ff. sowie Michael Holoubek/Heinrich Neisser, Die Freiheit der Kunst, in: Rudolf Machacek et al. (Hrsg.), Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd. II, 1992, S. 159 ff. 11 So schon BVerfGE 67, 213 (225). 12 Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 35. 13 Dazu insb. Arthur Kaufmann, Analogie und Natur der Sache – zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, 1965, S. 37. Allgemein zur typologischen Begriffsbildung insb. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft2, 1969, S. 416 ff. Zur Verwendbarkeit typologisch zu verstehender Rechtsbegriffe in der rechtlichen Argumentation und bei der Rechtsanwendung vgl. Karl Korinek, Der gewerberechtliche Industriebegriff nach Wilburgs beweglichem System, in: FS Walter Wilburg zum 70. Geburtstag, 1975, S. 163 ff. 14 Der Sache nach ähnlich das von Stern angebotenen „kombinierte“ Begriffsverständnis der Kunst: vgl. Stern (Fn. 1), S. 626 (m.w. H.).

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Will man ein Phänomen mit Hilfe typusprägender Merkmale beschreiben, dann muss man diese Merkmale nennen. Ganz entscheidende Bedeutung hat für die Inhaltsbestimmung dessen, was wir als Kunst verstehen, das Selbstverständnis des schaffenden Künstlers.15 Als Kunst geschützt ist das Produkt „freier schöpferischer Gestaltung“,16 in der die individuelle Persönlichkeit des Künstlers zum Ausdruck kommt. Dabei wird es sowohl auf ein ernsthaftes künstlerisches Streben wie auf Kreativität und Intention der Schaffung eines Kunstwerks bzw. einer künstlerischen Darstellung ankommen. Neben diesen subjektiven Komponenten dürfte es aber auch objektive Elemente geben, auf die man mit abstellen muss. Vom Erfordernis eines „objektivierten künstlerischen Gestaltungswillens“ wird in der Literatur gesprochen,17 wobei der Rezeption und Resonanz in der Kunstszene und beim Kunstpublikum sicher eine gewisse Bedeutung zukommt. So ungeeignet dieser Aspekt für einen definitorisch gebildeten Kunstbegriff ist, da er letztlich zum Erfordernis staatlichen Kunstrichtertums führt, so geeignet scheint er im Rahmen einer typologischen Betrachtung zu sein,18 nicht zuletzt um Extreme auszuschließen und Kunst von „Pflanzerei“ abzugrenzen.19 Auch die Akzeptanz von Kunstwerken, ihre Anerkennung als Kunst ist typischerweise von Bedeutung, wobei die Begriffe „Akzeptanz“ und „Anerkennung“ neutral verstanden werden müssen: auch die Herausforderung zur Auseinandersetzung mit dem Kunstzweck ist als „Anerkennung in der Gesellschaft“ zu verstehen. All das zeigt, dass der Kunstbegriff der Verfassung ein offener, weiter ist.20 Nur ein solches Verständnis entspricht der Teleologie einer Grundrechtsverbürgung. 15

Korinek (Fn. 7), S. 26 ff (m.w. H.). BVerfGE 30, 173 (188 f.). 17 So etwa Karl Heinz Ladeur, Art 5, Abs 3 II (Freiheit der Kunst), in: (Alternativ-) Kommentar zum GG für die BRD3, 2001, Rz. 10. 18 Ähnlich Stern (Fn. 1), S. 630 f., der von einer bloß „indiziellen Bedeutung“ spricht. 19 Umstritten etwa die künstlerische Bedeutung einer „Komposition 40 3300 “ in der der Pianist nach seinem Auftritt vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden regungslos vor Flügel zu verharren hat. Dann ist das Stück zu Ende. Ob das eine von der Verfassung geschützte Kunstausübung ist, kann man ja immerhin bezweifeln. 20 Das bedeutet natürlich nicht, dass der Begriff der Kunst in anderen Zusammenhängen denselben weiten, offenen Inhalt hat. Zu Recht hat das BVerwG formuliert: „Wenn der Gesetzgeber den Begriff der ,Kunst‘ verwendet, kann es ihm nicht verwehrt sein, ihm in seiner Funktion als Rechtsbegriff den für den jeweiligen Gesetzeszweck erforderlichen Inhalt zu geben“ (JZ 1972, S. 207). Der zu Begünstigungen führende einkommenssteuerrechtliche Begriff der Kunst ist naturgemäß viel enger als der Begriff der Grundrechtsverbürgung und auch im Urheberrecht bedeutet „Kunst“ anderes und spezifisches: Nicht jede künstlerische Tätigkeit, die unter dem Schutz der Kunstfreiheit steht, führt auch zu einem urheberrechtsfähigen Kunstwerk. 16

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2. Wie jede verfassungsrechtliche Vorschrift hat diese Verbürgung primär Wirkungen für die Gesetzgebung und für die Vollziehung: Der Verfassungsgerichtshof hat in einigen Entscheidungen in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts die Bedeutung der Kunstfreiheit näher entfaltet.21 Danach sind gesetzliche Regelungen, die kunstspezifische Beschränkungen der künstlerischen Freiheit enthalten, als intentionale Eingriffe in das Grundrecht unzulässig. An allgemeine Gesetze ist die Kunst jedoch gebunden, doch dürfen die Gesetze und ihre Anwendung im Effekt zu keiner übermäßigen Beeinträchtigung der Grundrechtsträger führen. Einschränkungen sind also selbst dann, wenn sie einem im Allgemeininteresse liegenden Zweck dienen, nur zulässig, wenn sie die Freiheit der Kunst nicht übermäßig einschränken. Manchmal, aber nur selten, wird eine Unverhältnismäßigkeit zur Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes führen, wie im Fall der Wiener Kammeroper. Damals hat der VfGH das undifferenzierte Erfordernis des Vorhandenseins von Ausländer-Beschäftigungsbewilligungen für unselbständig tätige Künstler als dem Grundrecht der Freiheit der Kunst widerstreitend aufgehoben.22 Die Unverhältnismäßigkeit einer Beschränkung wird aber nur selten auf das Gesetz selbst durchschlagen. Der Regelfall ist doch, dass ein Gesetz einer grundrechtskonformen Anwendung zugänglich ist, also so vollzogen werden kann, dass es dem Grundrecht der Freiheit der Kunst nicht widerspricht. Insofern hat die Kunstfreiheit unmittelbare Wirkung für die Vollziehung. Denn: Würde eine gesetzliche Vorschrift so angewendet werden, dass sie im Effekt die Kunstfreiheit unverhältnismäßig beeinträchtigt, so wäre der Vollzugsakt verfassungswidrig (und vom Verfassungsgerichtshof aufzuheben). So etwas kann – um Beispiele zu nennen – etwa im Baurecht vorkommen, wenn Auflagen in Bescheiden das Schaffen von Architekten in unverhältnismäßiger Weise einschränken, also in einer Weise, die nicht mehr durch Anforderungen der Sicherheit, des Ortsbildschutzes oder des Naturschutzes oder „schönheitliche Rücksichten“, wie das früher geheißen hat, geboten ist. Für die darstellende Kunst relevant sind etwa Regeln aus dem Bereich des Sicherheitsrechts. So ist es nicht unverhältnismäßig, durchgehend im Theater eine Notbeleuchtung zu verlangen23; verfassungsrechtlich zulässig ist es – wie der VfGH 21 VfSlg. 10.401/1985 (Kugelmugel), 11.567/1987 (Konzertpianistin), 11.737/1988 (Kammeroper). 22 Im zugrundeliegenden Fall wurde einem Bariton aus England über Intervention des ÖGB die Beschäftigungsbewilligung als Don Giovanni versagt; der ÖGB hatte argumentiert, es gäbe in Österreich einige gemeldete arbeitslose Sänger aus dem Fach eines Baritons, weshalb das Engagement eines Ausländers überflüssig sei. 23 An der Einhaltung dieser Vorschrift bei der von Claus Peymann inszenierten Salzburger Premiere von Thomas Bernhards „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ scheiter-

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entschieden hat – auch, die Verwendung von offenem Feuer auf der Bühne zu begrenzen.24 Auswirkungen der Kunstfreiheit lassen sich auch anhand der Genehmigungsregime der Veranstaltungsgesetze der Länder zeigen. Dabei darf von den Behörden der Kern der Kunstfreiheit nicht verletzt werden; dieser liegt nach einem dictum des Verfassungsgerichtshofes darin, dass der Staat künstlerische Betätigung „weder unterdrücken noch verordnen darf“.25 Wenn ein Gesetz von der Behörde Derartiges verlangte, wäre es verfassungswidrig. Wie etwa die – inzwischen aufgehobene – Regelung des Kärntner Veranstaltungsgesetzes, das als Voraussetzung für die Erteilung einer Bewilligung für bewilligungspflichtige Veranstaltungen auf die Erwartung „kulturell wertvoller Darbietungen“ abstellte.26 Wenn ein Gesetz aber mehrere Deutungen zulässt, ist es verfassungskonform anzuwenden; es ist also den Vollzugsbehörden untersagt, gesetzliche Ermächtigungen in einem der Kunstfreiheit widersprechenden Sinn auszulegen. Kunstfreiheit verlangt eben eine abwägende Rechtsanwendung, um übermäßige Beschränkungen zu verhindern. Dabei geht es darum, die Interessen der künstlerisch Schaffenden ins Verhältnis zu setzen mit anderen Schutzgütern: Etwa die Freiheit des Karikaturisten mit den Persönlichkeitsrechten der von der Karikatur Betroffenen; denn die mit vielen Karikaturen verbundenen Beeinträchtigungen von Persönlichkeitsrechten sind wohl in gewissem Ausmaß, aber nicht in jedweder Intensität in Kauf zu nehmen. Gleiches gilt für die Abwägung der Freiheit des Künstlers mit kollektiven Schutzgütern wie etwa dem religiösen Frieden. Kunstfreiheit hat auch im Bereich von Strafverfolgungen Relevanz. Es besteht zwar keine einhellige Auffassung, wie die Kunstfreiheit strafrechtsdogmatisch einzuordnen ist, doch dürfte sich doch folgender Gedanke durchgesetzt haben: Die zur Umschreibung des Tatbilds eines verbotenen Handelns verwendeten Begriffe sind, soweit die Verletzungshandlungen künstlerisch motiviert sind, restriktiv auszulegen und bei der Güterabwägung ist im Zuge einzelfallbezogener Rechtfertigungsüberlegungen Platz für den Grundsatz „in dubio pro arte“.27 Schließlich müssen wir auch daran denken, dass die Kunstfreiheit in vielen zivilrechtlichen, aber etwa auch in arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen eine Rolle spielt. Hier sind die Zivilgerichte verpflichtet, bei ihren Entscheidungen die Gewährleistungen der Kunstfreiheit mitzubedenken – man denke etwa an die ten 1972 die weiteren Aufführungen des Stücks in Salzburg (vgl. Robert Kriechbaumer, Salzburger Festspiele 1960–1989, 2009, S. 397 ff.). 24 Vgl. dazu Christian Neuwirth, Durch den Dschungel der Gesetze, 2009, S. 122 ff. 25 VfSlg. 10.401/1985. 26 Vgl. § 8 Abs. 2 des (früheren) Ktn. VeranstaltungsG, LGBl. 42/1977. 27 Vgl. umfassend Otto Triffterer/Kurt Schmoller, Die Freiheit der Kunst und die Grenzen des Strafrechts, ÖJZ 1993, S. 547 ff. und S. 573 ff.

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Frage, ob ein bestelltes Bild den Intentionen des Auftragsgebers entsprechend gestaltet wurde oder ob der Künstler ein Recht auf Präsentation ein Werkes hat, das den Intentionen des Auftraggebers widerspricht. Allein im „Vorspiel“ der Oper „Ariadne auf Naxos“ von Hofmannsthal und Strauss stecken Fälle für zivilrechtliche Auseinandersetzung drinnen, die für mehrere Klausurarbeiten reichen würden. 3. Wir sind – sowohl in der Lehre wie in der Judikatur – nicht nur sehr großzügig bei der Beantwortung der Frage, ob etwas verfassungsrechtlich gesehen Kunst ist, sondern auch bei der Behandlung der Frage, wer Träger der Kunstfreiheit ist.28 Der Dichter und der Komponist, um das Beispiel der Oper zu nehmen, der Regisseur, der Dirigent, die Darsteller, aber auch – angesichts seiner „unentbehrlichen Mittlerfunktion“29 – der Direktor oder Intendant. Und im Bereich der bildenden Kunst ist es nicht nur der Maler, Bildhauer oder sonstige Hersteller eines Werkes, sondern auch der Galerist, Aussteller und Museumsdirektor, wohl aber auch der Kurator einer Ausstellung. Diese im Prinzip gerechtfertigte Ausweitung des Kreises der Personen, die sich auf das Grundrecht berufen können, führt freilich dazu, dass es zu Interessenkonflikten zwischen verschiedenen Personen kommen kann, die am Zustandekommen eines Kunstwerks oder – wenn wir an den Wirkbereich denken – an dessen Präsentation beteiligt sind. Und die sich dann alle auf die Kunstfreiheit berufen können.30 Beispiele werden in Erinnerung sein. Konflikte zwischen dem Intendanten und dem „Leading Team“ einer Produktion oder zwischen dem Regisseur und dem Dirigenten etwa oder solche, die sich aus dem Verlangen eines Regisseurs nach gefährlichem, künstlerisch problematischem oder obszönem Verhalten von Darstellern ergeben. Oder denken Sie an die Situation, wo dem Kurator durch den Ausstellungsveranstalter oder durch den Künstler, dessen Werk ausgestellt wird, etwa im Hinblick auf die Hängung eines Bildes widersprochen wird. In derartigen Fällen können sich häufig mehrere der Beteiligten auf das Grundrecht der Freiheit der Kunst berufen. Die Lösung solcher Konflikte ist oft aus der Grundrechtsordnung allein nicht zu finden; es bedarf weiterer rechtlicher Vorkehrungen. Gesetzliche Regelungen sind selten, kollektivvertragliche Konkretisierungen kommen in Teilbereichen (etwa hinsichtlich von Anordnungsbefugnissen gegenüber Chor, Orchester, Statisten oder im Hinblick auf technische Bühnentätigkeiten) vor; häufig aber bedarf es einzelvertraglicher Regelungen.31 28

Vgl. statt aller Stern (Fn. 1), S. 665 ff. Vgl. im Anschluss an BVerfGE 30, 173 (191) etwa Erhard Denninger, Freiheit der Kunst, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI: Freiheitsrechte, 1989, S. 847. 30 Zum Problem insgesamt Korinek (Fn. 7), S. 37 ff.; dort werden auch typische Konstellationen an Beispielen dargestellt. 29

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Das österreichische Schauspielerrecht sieht – um bei den Beispielen aus dem Bereich der darstellenden Kunst zu bleiben – an sich eine Rollenverweigerungsmöglichkeit vor. Der Darsteller kann eine Rolle u. a. dann zu übernehmen verweigern, wenn die Darstellung geeignet ist, seine Gesundheit oder körperliche Sicherheit zu gefährden oder wenn sie ihm aus Gründen der Sittlichkeit nicht zugemutet werden kann, aber auch wenn sie außerhalb der künstlerischen Mittel des Darstellers liegt.32 Aber die Konsequenz ist natürlich gravierend. Es ist eine „Alles oder Nichts-Lösung“, die wie die meisten derartigen Lösungen, nicht wirklich befriedigend ist. Aber möglicherweise kann ein Protagonist gegenüber dem Theaterleiter, unter dessen Verantwortlichkeit ja letztlich der Auftritt stattfindet, unter Hinweis auf das Rollenverweigerungsrecht Änderungen erwirken. Freilich, das Problem liegt im häufig bestehenden Ungleichgewicht in den Verhandlungspositionen des Darstellers einerseits und der Theaterleitung andererseits. Daher gibt es auch nur wenige Beispiele, in denen Darsteller derartige Konsequenzen gezogen haben; eine Gruberova etwa ist dafür bekannt und Ramon Vargas hat sich auch getraut, bei der Münchner Rigoletto-Inszenierung auszusteigen und Bruno Ganz hat Claus Peymann in Berlin einmal eine Rolle zurückgegeben.33 In der österreichischen Rechtspraxis spielen auch Bühnenschiedsgerichte eine Rolle, wie sie in vielen Kollektivverträgen vorgesehen sind.34 Sie werden vornehmlich für die Lösung von der Sache nach arbeitsrechtlichen Streitigkeiten in Anspruch genommen und sind für die Interpretation einschlägiger Kollektivverträge und Betriebsvereinbarungen durchaus relevant, vor allem indem sie häufig vernünftige Vergleiche zustande bringen. Die umfassende Letztverantwortlichkeit liegt aber beim Theaterleiter, und zwar gegenüber dem Regisseur, dem Dirigenten, dem Orchester, der Technik und gegenüber den Darstellern.35 Wenn der Direktor seiner Aufgabe entsprechend nachkommen können soll, wenn er – geschützt durch die auch ihm zukommende Freiheit künstlerischer Gestaltung – eine seinen Überzeugungen entsprechende Vorstellung durchsetzen will, bedarf er entsprechender vertraglicher Grundlagen für sein Tätigwerden. Der Staat stellt hier nur rudimentäre Regeln zur Verfügung; vieles bleibt der Regelung durch konkrete Bühnendienstverträge und Werkver31 Vgl. dazu die bei Uwe Schmitz-Gielsdorf, Rechtsfragen der Kunstfreiheit zwischen Intendant und Gastregisseur, in: Christiane Zentgraf (Hrsg.), Musiktheater und Recht, 1995, S. 190 ff. referierten Entscheidungen deutscher Gerichte. 32 § 19 TheaterarbeitsG, Art. 1 des BGBl. I 100/2010. 33 In zwei Konfliktfällen zwischen dem Regisseur und dem Dirigenten in Opernproduktionen der Salzburger Festspiele haben die Maestri Philippe Jordan und Riccardo Muti die Dirigate zurückgelegt. 34 Schiedsgerichte müssen im Einzelfall vereinbart werden; ein ständiges Bühnenschiedsgericht gibt es nicht mehr. 35 Korinek (Fn. 7), S. 42 f.

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träge vorbehalten, wobei freilich zwingende Regeln etwa des Arbeitsrechts oder des Urheberschutzes Grenzen für die Vertragsgestaltung bilden. In Verträgen mit Regisseuren etwa reicht das Arsenal von der Pflicht zur Vorlage von Konzepten mit Freigabeerfordernis über zeitlich fixierte Berichtspflichten und Pönale-Vereinbarungen bis zu Änderungsmöglichkeiten bei der Hauptprobe. Nicht überall wird freilich bei der Gestaltung der Verträge ausreichend Vorsorge dafür geschaffen, dass der künstlerische Leiter im Konfliktfall entsprechend handeln kann. IV. Rechtliche Regelungen im Interesse der „Kunstpflege“ Der Staat – das ist der andere der beiden Brennpunkte des Kunstrechts – übernimmt in verschiedener Weise Verantwortung für die Kunst, etwa dadurch, dass er den rechtlichen Rahmen für künstlerisches Schaffen und Präsentation von Kunstwerken schafft, aber auch für das, was man in Deutschland – im Anschluss an die Terminologie der Weimarer Reichsverfassung36 – als „Kunstpflege“ bezeichnet. Dabei geht es – um die beiden wichtigsten Elemente zu nennen – einerseits um rechtliche Einrichtungen für die Präsentation von Kunst und andererseits um Kunstförderung. Es entspricht unserem Verständnis eines auf die Kunst bezogenen staatlichen Kulturauftrags, anzunehmen, dass es hier eine Verantwortung des Staates gibt. Es ist aber klarzustellen, dass diese Verantwortung grundsätzlich eine politische ist: der Kulturauftrag beruht nicht auf verfassungsrechtlichen Verpflichtungen; in aller Regel bedeutet er bloß Ermächtigung – nur in ganz besonderen Situationen kann das zur verfassungsrechtlichen Pflicht werden, etwa wenn anders verfassungswidrige Konsequenzen nicht vermieden werden können – man denke etwa an Implikationen aus dem Gleichheitsgrundsatz oder dem Prinzip des Vertrauensschutzes. Realisiert wird die kulturpolitische Verantwortung des Staates zum einen dadurch, dass organisatorische Einrichtungen für die Präsentation von Kunst zur Verfügung gestellt werden, zum anderen durch die Bereitstellung öffentlicher Mittel: 1. Die organisatorischen Voraussetzungen dafür, dass sich Kunst ereignen kann, werden häufig von Institutionen im Bereich der Gesellschaft geschaffen. Es gibt aber nicht nur private Konzertvereine, Privattheater, Stiftsbibliotheken und kirchliche Sammlungen, private Verlage oder Literaturzeitschriften, private Galerien usw; es gibt auch die großen Museen, die Bühnen der öffentlichen Hände – seien es nun – um Beispiele aus Österreich zu nennen – die Bundestheater oder Landesbühnen, die Salzburger Festspiele oder die Nationalbibliothek und die verschiedenen „Literaturhäuser“ des Bundes. Schon diese Beispiele zeigen, dass der Staat nicht nur private Theater, Konzerthäuser und privat organisierte Festspiele fördert, sondern – wohl aus der 36

Art. 142 WRV.

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nördlich der Alpen seit Jahrhunderten bestehenden Tradition der Hof- und Residenztheater und königlicher und fürstlicher Sammlungen heraus – in verschiedenen Formen selbst als Veranstalter von Kunst auftritt, also die organisatorischen Voraussetzungen für künstlerisches Schaffen oder die Vermittlung von Kunst zur Verfügung stellt. Dabei haben sich verschiedene Grundformen der Organisationsstruktur entwickelt. Zum Teil – aber das ist (jedenfalls in Österreich) in seiner Bedeutung deutlich zurückgegangen – ist die Organisation in die Verwaltung integriert, wird also etwa von einer Abteilung des Amtes der Landesregierung besorgt. In zunehmendem Ausmaß finden wir aber verschiedene Formen der Ausgliederung: Die Gebietskörperschaften schaffen eigene Rechtsträger, die die Aufgabe haben, als Organisatoren künstlerischer Veranstaltungen tätig zu werden; die staatlichen Verwaltungsorgane ziehen sich dann auf die Rolle des Kapitaleigners oder des Aufsichtsorgans zurück. Dabei finden sich neben der noch immer mitunter anzutreffenden Form des Vereins vor allem zwei Typen: Zum einen werden öffentlich-rechtliche Einrichtungen geschaffen; diesem Konzept entsprechen in Österreich etwa die Bundesmuseen37 oder die Salzburger Festspiele.38 Spezialgesetzlich werden dabei vor allem Regeln über die Organisation der Einrichtung aufgestellt, im Bundesmuseengesetz aber etwa auch über die Aufgaben und die Gestion der Institution sowie über vermögensrechtliche oder dienstrechtliche Fragen. Zum anderen sieht der Gesetzgeber mitunter die Gründung von Kapitalgesellschaften vor, um die Organisation künstlerischer Veranstaltungen zu ordnen. Als wichtigstes Beispiel ist hier die Ausgliederung der Bundestheater in GesmbHs zu nennen, die zu einer Bundestheaterholding zusammengefasst wurden, die ebenfalls als GesmbH konstruiert ist.39 Dabei sind freilich durch Spezialgesetz sondergesellschaftsrechtliche Regelungen geschaffen worden, die vor allem der Sicherung der kulturpolitischen Verantwortlichkeit der obersten Organe des Staates dienen und verstärkte strategische Gestaltungskompetenzen für die Aufsichtsorgane begründet haben. In künstlerischen Fragen ist der künstlerische Leiter jedoch weisungsfrei.40 In den Ausgliederungsgesetzen wird meist auch ein – je und je unterschiedlich ausgestaltetes – Finanzierungssystem vorgesehen, das eine gewisse Planungssicherheit vermitteln soll und die Aufgabe hat, die Gestaltungsverantwortung und die Kostenverantwortung zur Deckung zu bringen. Es ist interessant, dass etwa 37 BundesmuseenG 2002, BGBl. I 14/2002; dazu insb. Theo Öhlinger, Das Recht der Museen, in: Walter Berka et al. (Hrsg.), Res universitatis, 2003, S. 113 ff. 38 Salzburger FestspielfondsG BGBl. 147/1950. 39 BundestheaterorganisationsG (BuThOG), BGBl. 108/1999; dazu Korinek et al. (Fn. 8), S. 86 ff. 40 Zum Problem der Schwierigkeit des Trennens von künstlerischen und wirtschaftlichen Fragen vgl. Korinek (Fn. 7), S. 55 f.

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bei den Bundestheatern die staatliche Finanzierung im Gesetz als „Abgeltung der Erfüllung des kulturpolitischen Auftrags“ umschrieben ist,41 was dem Staat theoretisch die Möglichkeit gibt, zu überprüfen, ob dem – gesetzlich festgelegten – Kulturauftrag entsprochen wird, was freilich angesichts der Implikationen der Freiheit der Kunst nur „in extremis“ praktische Relevanz erlangen wird. 2. Eine wesentliche Rolle spielt für die Kunstpflege die Kunstförderung. Dabei ist daran zu erinnern, dass hier die Subventionsgeber weniger verfassungsrechtlich gebunden als politisch verantwortlich sind. Diese Verantwortlichkeit resultiert aus der enormen Bedeutung von Kunst und Kultur für die Gesellschaft – Förderungen auf diesen Gebieten sind einerseits für die Identität eines Staates als Kulturnation von Bedeutung42 und andererseits für das intellektuelle Niveau der Gesellschaft, denn die „Förderung von Kunst und Kultur ist letztlich eine Investition in die geistige Infrastruktur einer Gesellschaft“.43 Verfassungsrechtlich bestehen für die öffentlichen Subventionstätigkeiten zwei wesentlichen Grenzen:44 a) Zum einen ist sie an das Effizienzgebot, also an die Kriterien der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit gebunden. Die herrschende österreichische Lehre leitet aus dieser Bindung für die Subventionstätigkeit ein Gebot zur Optimierung der Effizienz ab.45 Die Rechtskontrolle der Einhaltung dieses Gebots ist freilich der Sache nach auf eine Vertretbarkeitskontrolle reduziert. Anders liegen die Dinge im Bereich der Gebarungskontrolle durch den Rechnungshof. Hiefür bildet das Effizienzgebot einen Kontrollmaßstab, dessen Kontrolldichte mit jener der Ermessensprüfung durch Verwaltungsgerichte vergleichbar ist. Die Rechnungshofberichte geben dafür ein beredtes Zeugnis. b) Eine weitere verfassungsrechtliche Bindung ergibt sich aus der Grundrechtsordnung: Der Staat bleibt an die Grundrechte gebunden, auch wenn er in privatrechtlichen Formen handelt. Dabei kommt natürlich insbesondere dem Gleichheitsgrundsatz, der auch für das Subventionsrecht ein Sachlichkeitsgebot und ein Willkürverbot bedeutet, besondere Bedeutung zu. Der offene Kunstbegriff der Grundrechtsverbürgung bedeutet nicht, dass alles was sich unter dem 41

§ 7 BuThOG; der kulturpolitische Auftrag ist in § 2 leg.cit. gesetzlich festgelegt. Aus dieser Verantwortung heraus hat man etwa in Österreich unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs große kulturpolitische Leistungen erbracht: die Wiener Staatsoper spielte – in Ausweichquartieren – seit 1. Mai 1945 und wurde ebenso wie das Burgtheater 1955 nach weitgehender Zerstörung wieder errichtet und im Sommer 1945 gab es in Salzburg schon wieder Festspiele. 43 Karl Korinek, Auch das ist Kultur, Hörbuch, 2007, Nr. 29. 44 Korinek (Fn. 7), S. 59 ff. 45 Vgl. Karl Korinek/Michael Holoubek, Grundlagen staatlicher Privatwirtschaftsverwaltung, 1993, S. 173 ff. 42

Das Recht als Garant und Grundlage künstlerischen Schaffens

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Schutz der Kunstfreiheit frei entfalten kann, auch in den gleichen Genuss staatlicher Kunstförderung gelangen können muss. Man kann dem Staat und seinen Verantwortungsträgern nicht verbieten, zu werten,46 aus ihrer Sicht förderungswürdige von nicht förderungswürdigen Werken und Veranstaltungen zu trennen und Schwerpunkte zu setzen. Die Entscheidungen müssen aber immer nachvollziehbar und sachlich begründbar sein. So würde etwa eine Kunstförderung, die bestimmte Kunstrichtungen oder Kunstwerke mit bestimmter Tendenz – z. B. religiöse oder antireligiöse Literatur – ohne sachliche Rechtfertigung von einer Förderung ausschließt, dem Gleichheitsgrundsatz widersprechen. In diesem Sinn hat sich in der Lehre die Auffassung durchgesetzt, dass die Kunstfreiheit in ihrer Wirkung für die Kunstförderung jedenfalls Neutralität, Pluralität und Transparenz verlangt.47 Für die Ausgestaltung der Kunstförderung ist eine Realisierung der Forderung nach größtmöglicher Transparenz wichtig. Diese Forderung bezieht sich auf drei verschiedene Ebenen:48 Zum einen scheint demokratiepolitisch eine gesetzliche Grundlage der Kunstförderung sinnvoll – ein Gesetz, das eine allgemeine Grundlage für Kunstförderungen bewirkt und auch entsprechende Beratungsgremien institutionalisiert, die Notwendigkeit verbindlicher Förderungsrichtlinien postuliert und die wesentlichen Inhalte vorgibt, die in Subventionsverträge Eingang finden sollen. Von ganz wesentlicher Bedeutung für eine saubere, korrekte und transparente Förderungspolitik sind zum Zweiten präzise Förderungsrichtlinien für die einzelnen Förderungsfelder. Auch ist – zum Dritten – für die Transparenz und demokratische Kontrolle die Publikation der Förderungsvergaben wichtig.49 Eine ganz entscheidende Funktion hat im Subventionsrecht die Gestaltung der Subventionsverträge. Von diesen hängt es letztlich ab, ob Subventionen „greifen“, ob eine effiziente Subventionsverwendung sichergestellt ist und welche Berichtspflichten vorgeschrieben werden. In diesem Zusammenhang ist auf den ganz wesentlichen Punkt der Subventionskontrolle zu verweisen. Rechnungshofberichte dokumentieren, dass es gerade im Bereich der kleineren Kunstförderungen Subventionsnehmer gibt, die keine entsprechenden Aufzeichnungen führen, keine Abrechnungen legen, die Berichtspflicht vernachlässigen oder sich einer Subventionsverwendungskontrolle widersetzen; daher bedarf es entsprechender rechtlicher Vorkehrungen, um die Kontrolle sicherzustellen und nicht-subventionsgerechtes Verhalten zu sanktionieren. 46

s. z. B. BVerfGE 36, 321 (330 ff.). s. insb. Ernst-Gottfried Mahrenholz, Freiheit der Kunst, in: Ernst Benda et al. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der BRD2, 1994, Rz. 136 ff. 48 Auch dazu schon Korinek (Fn. 7), S. 62 ff. 49 Dieses Postulat ist in Österreich auf Bundesebene durch den jährlich erscheinenden „Kunstbericht“ des für die Kunst zuständigen Ressorts mustergültig realisiert. 47

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V. Schlussbemerkung Kunst kann sich – so lässt sich das Ergebnis dieser Gedanken kurz resümieren – in einem rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen nicht außerhalb des Rechts ereignen. Unsere Verfassungsordnung garantiert das freie künstlerische Schaffen, setzt ihm aber im Interesse bestimmter Gemeinwohlziele und im Interesse anderer auch Grenzen. Intentionale Eingriffe und unverhältnismäßige Beschränkungen des freien künstlerischen Schaffens sind jedoch unzulässig. Aber nicht nur insofern hat das staatliche Recht Relevanz für das künstlerische Schaffen. Es enthält eine Vielzahl von rechtlichen Regelungen – vom Urheberrechtsschutz bis zu arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen –, die Grundlage für die Ausübung künstlerischer Freiheit sind. Es schafft Institutionen für die Darbietung von Kunst und enthält vielfache Möglichkeiten, künstlerisches Schaffen zu fördern. Das „ob“ der Kunstförderung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben, wohl aber gibt die Verfassung Leitlinien für deren Ausgestaltung. Wie weit der Staat Kunst und Kultur fördert, ist Ergebnis kulturpolitischer Verantwortung. Es ist aber deshalb nicht weniger wichtig; denn es geht dabei letztlich um das kulturelle und geistige Niveau einer Gesellschaft. In diesem Sinn sind Kunstfreiheit und staatliche Verantwortung für Kunst die beiden Brennpunkte einer Ellipse, in der sich Kunst ereignet, geschaffen und aufgenommen wird.

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Gewährleistungsrecht als leistungsrechtliche Grundrechtsdimension Von Thomas Mayen I. Einleitung „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. [. . .] Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.“ 1

Mit diesen gleichsam programmatischen Sätzen leitet das BVerfG in seinem Urteil vom 09.02.2010 zur Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) eine verfassungsrechtliche Deduktion ein, die in gleicher Weise politisch folgenreich wie grundrechtsdogmatisch bedeutsam ist. Es erkennt nicht nur erstmals2 (jedenfalls ausdrücklich) einen unmittelbaren verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch3 auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums an. Mit der Figur des „Gewährleistungsrechts“ hat es auch die seit Jahren eher festgefahrene wissenschaftliche Diskussion um Existenz und Inhalt grundrechtlicher Leistungsrechte vorangebracht. II. Die staatliche Sicherung des Existenzminimums – vom objektiven staatlichen Schutzauftrag zum originären grundrechtlichen Leistungsrecht Im Schrifttum ist zu Recht hervorgehoben worden, dass sich die gerichtliche Anerkennung leistungsrechtlicher Inhalte von Grundrechten stets besonderer Auf1 BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 u. a., BVerfGE 125, 175 (hier und im Folgenden jeweils zitiert nach http://www.bervg.de/entscheidungen – Abs.-Nr. 133). 2 Dazu sogleich unten II.1. 3 So ausdrücklich BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 135.

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merksamkeit sicher sein kann.4 Auch wenn das Thema nicht mehr so intensiv diskutiert wird wie in den 70er und frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts,5 zählt es doch weiterhin zum Pflichtprogramm der Grundrechtsdogmatik6. Die Skepsis gegenüber originären grundrechtlichen Leistungsrechten überwiegt bis heute. Paradigmatisch hierfür mag noch immer die Kennzeichnung bei Klaus Stern im ersten Band seines Staatsrechts sein: „Obschon die Entwicklung in dieser Frage noch im Fluß ist und nunmehr eher retardierend verläuft, muß zweierlei unterschieden werden: einmal das Problem der Existenz subjektiver Rechte auf Leistung in der Verfassung, zum anderen der Auftrag der Verfassung an den Staat zur Förderung der Grundrechtsinanspruchnahme ohne einen damit ,komplementären‘ Rechtsanspruch des Bürgers. Anders gewendet: Die verwaltungsrechtlich altbekannte Unterscheidung von subjektiv öffentlichem Recht und Rechtsreflex hat auch für die Verfassungsebene zu gelten. [. . .] Die Feststellung solcher Handlungspflichten bedeutet aber keinen Anspruch des Einzelnen auf Tätigwerden. Sozialstaatliche Aktivitäten wollten vom Verfassunggeber gerade nicht als einklagbare Rechtsansprüche verwirklicht werden, wie die Ablehnung der sog. sozialen Grundrechte im Parlamentarischen Rat erkennen lässt. Der Gedanke, Freiheitsrechte in Teilhaberechte umzupolen, kann danach nur ,höchst begrenzt‘ in ,extremen Ausnahmen‘ in Frage kommen [. . .].“ 7

Als eine solche extreme Ausnahme wurde im Schrifttum vor allem das Grundrecht auf Fürsorge bzw. auf Sicherung des Existenzminimums genannt.8 Nachdem das Bundesverwaltungsgericht in seiner berühmt gewordenen sog. Fürsorgeentscheidung im Jahr 1954 geurteilt hatte, die „Leitgedanken des Grundgesetzes“ führten dazu, das Fürsorgerecht dahin auszulegen, dass „die Rechtspflicht zur Fürsorge deren Träger gegenüber dem Bedürftigen obliegt und dieser einen entsprechenden Rechtsanspruch hat“ 9, schienen manche jede weitere Diskussion für 4

Sönke E. Schulz, SGb 2010, 201. Vgl. dazu namentlich: H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, S. 65 f.; Häberle, VVDStRL Heft 30 (1972), S. 43 (112); Martens, VVDStRL Heft 30 (1972), S. 7 (30 ff.); Friesenhahn, Der Wandel des Grundrechtsverständnisses, Festvortrag 50. DJT, 1974, G 1 ff.; Starck, in: Festgabe BVerfG, 1976, Bd. II, S. 480 ff.; Breuer, in: Festgabe 25 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 1978, S. 89 ff.; Sendler, DÖV 1978, 581 ff.; Zacher, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 857 ff.; E.-W. Böckenförde, in: ders./Jeckewitz/Ramm (Hrsg.), Soziale Grundrechte, 1981, S. 7 ff.; Rüfner, in: FS Wannagat, 1981, S. 379 ff.; weitere Nachweise bei Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl., 1984, § 21 V 2 a), S. 934 Fn. 340; ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 67 I, S. 690 ff. 6 Aus den differenzierenden Ansätzen der späteren Literatur seien insbesondere hervorgehoben: Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 395 ff.; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988, S. 40 ff.; E.-W. Böckenförde, Der Staat Bd. 29 (1990), S. 1 ff. 7 Stern, Staatsrecht I (Fn. 5), § 21 V 2 a), S. 934, 935. 8 Dürig, in: Maunz/ders., GG-Kommentar, Art. 1 Abs. 1 GG (Loseblatt Stand: 1958), Rdnr. 43 f.; Starck (Fn. 5), S. 521 f.; Breuer (Fn. 5), S. 95 f.; Alexy (Fn. 6), S. 398. 9 BVerwGE 1, 159 (161) – Hervorhebung nicht im Original. 5

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überflüssig zu halten. So bemerkte H. H. Klein, es wäre „schade um die Zeit, wenn man an diesem Beispielsfalle dogmatische Streitfragen austragen wollte“.10 Allerdings ersetzt die Beschwörung von – vermeintlichen oder tatsächlichen – Evidenzen nicht das sachliche Argument und die dogmatische Begründung. Jedenfalls das BVerfG, bei genauer Lektüre der Entscheidungsgründe im Übrigen aber auch das Bundesverwaltungsgericht waren deutlich zurückhaltender in Bezug auf die Anerkennung eines unmittelbaren verfassungsrechtlichen Leistungsanspruchs des Bedürftigen auf Fürsorge durch den Staat.11 1. Die Entwicklung der Rechtsprechung

Das Bundesverwaltungsgericht hatte in der Fürsorgeentscheidung die Frage nach der Existenz grundrechtlicher Leistungsansprüche ausdrücklich offen gelassen12 und sich auf die Aussage beschränkt: „Soweit das Gesetz [sic!] dem Träger der Fürsorge zugunsten des Bedürftigen Pflichten auferlegt, hat der Bedürftige entsprechende Rechte“ 13. Dieser Unterschied ist bedeutsam: Es geht nur um die Subjektivierung vorhandener gesetzlicher Leistungspflichten, also um einfachgesetzliche Rechtsansprüche; das Grundproblem verfassungsunmittelbarer Leistungsansprüche, Inhalt und Umfang eines Anspruchs auf staatliche Fürsorge in hinreichend bestimmter Form unmittelbar aus der Verfassung abzuleiten, stellt sich hier nicht.14 Einen solchen verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruch auf staatliche Fürsorge hatte hingegen das BVerfG schon 1951 ausdrücklich abgelehnt. Der „Grundgedanke“ der Grundrechte sei der „Schutz des Einzelnen gegen den als allmächtig und willkürlich gedachten Staat, nicht aber die Verleihung von Ansprüchen des Einzelnen auf Fürsorge durch den Staat“; der „ vergleichsweise neue Gedanke des Anspruchs auf positive Fürsorge durch den Staat [habe] in die Grundrechte nur in beschränktem Maße Eingang gefunden“.15 In Bezug auf die staatliche Fürsorge begründe das Sozialstaatsgebot lediglich (objektiv-rechtliche) Leistungspflichten.16 Sie zu erfüllen sei aber allein Sache des Gesetzgebers. Nur 10 H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, 2. Aufl., 1974, S. 90 (Fn. 73). 11 Vgl. auch Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 6. Aufl., 2010, Art. 20 Rdnr. 120 (in Fn. 430); Spellbrink, DVBl. 2011, 661 („erstmals in dieser Deutlichkeit anerkannte leistungsrechtliche Dimension des Art. 1 GG“). 12 BVerwGE 1, 159 (161): „Es braucht daher nicht geprüft zu werden, ob ein solches Recht [. . .] durch bestimmte Einzelvorschriften des Grundgesetzes geschaffen worden ist.“ 13 BVerwGE 1, 159 (162) – Hervorhebung nicht i. O. 14 Hierauf weist zu Recht Lübbe-Wolff (Fn. 6), S. 15 f., 115, hin. 15 BVerfGE 1, 97 (104). 16 BVerfGE 1, 97 (105).

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für den Ausnahmefall, dass der Gesetzgeber diese Pflicht „willkürlich, d. h. ohne sachlichen Grund versäumte“, könne hieraus dem Einzelnen „möglicherweise“ ein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer Anspruch erwachsen.17 Damit hatte sich das Gericht nur eine Hintertür für extreme Fälle offen gehalten, nicht hingegen – wie teilweise angenommen – eine „zwiespältige“ 18 Haltung zur Frage originärer grundrechtlicher Leistungsansprüche eingenommen. Dieser Extremfall ist nicht die Gefährdung der Mindestvoraussetzungen eines menschenwürdigen Existenzminimums als solche, sondern die willkürliche Versäumung der staatlichen Fürsorgepflicht, also ein Verhalten des Gesetzgebers, für das sich kein – wie auch immer gearteter – sachlich vertretbarer zureichender Grund finden lässt19. Entgegen vielfacher Behauptung kann auch die Entscheidung im 40. Band der amtlichen Sammlung20 nicht als Kehrtwende des BVerfG und als Beleg für die Anerkennung eines verfassungsrechtlichen Anspruchs auf staatliche Fürsorge verstanden werden.21 Im Gegenteil fügt sich die dortige Aussage, die Fürsorge für Hilfsbedürftige zähle zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaates22, nahtlos in die Linie des Urteils aus dem Jahre 1951 ein. Deutlicher akzentuiert wird lediglich die (objektive) Pflicht des Staates zur Sicherung der „Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein“. Auch wenn man beide Entscheidungen zusammennimmt23, belegen sie deshalb allein die Anerkennung (objektiver) staatlicher Handlungspflichten, nicht aber eines verfassungsunmittelbaren subjektiven Leistungsanspruchs. In den späteren Entscheidungen bis ins Jahr 201024 setzt das BVerfG diese zurückhaltende Linie fort. 2. Defizitäre Begründung des Urteils vom 09.02.2010

Umso überraschender mutet vor diesem Hintergrund die bündige Kürze an, mit der das BVerfG nunmehr – im Jahre 2010 – verkündet, aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG ergebe sich das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, und dies sodann explizit 17

BVerfGE 1, 97 (105). So aber Alexy (Fn. 6), S. 397. 19 BVerfGE 33, 44 (51); 71, 39 (58); 75, 108 (157). 20 BVerfGE 40, 121. 21 So aber Starck (Fn. 5), S. 522. Wie hier etwa Lübbe-Wolff (Fn. 6), S. 115 (in Fn. 128). 22 BVerfGE 40, 121 (133). 23 So der Ansatz von Alexy (Fn. 6), S. 398. 24 Das gilt insonderheit für die im Urteil vom 09.02.2010 (Fn. 1), Abs.-Nr. 133 zitierten Entscheidungen BVerfGE 45, 187 (228); 45, 376 (387); 82, 60 (85); 87, 153 (172); 87, 209 (228); 91, 93 (112); 99, 246 (261); 100, 271 (284); 113, 88 (108 f.); 120, 125. (155 f.). Ebenso auf dieser Linie BVerfGE 112, 268 (280); 123, 267; BVerfG (Kammer), NVwZ 2005, 927. 18

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gleichsetzt mit dem „unmittelbar[en] verfassungsrechtliche[n] Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums“ 25. Mit der Berufung auf die in diesem Zusammenhang angeführten früheren Judikate, insbesondere die Entscheidungen BVerfGE 1, 97 und 40, 121, erweckt das BVerfG den Eindruck einer Rechtsprechungskontinuität, die es tatsächlich – wie gezeigt (oben 1.) – in dieser Form nicht gibt. In Wahrheit wird hier ein Schritt vollzogen, den Konrad Redeker zu Recht als „ungewöhnlich und kühn“ 26 bezeichnet hat. Für einen solchen Schritt darf man eine der Bedeutung entsprechende Begründung erwarten. Das BVerfG enttäuscht diese Erwartung. Sein insoweit tragendes Argument bündelt sich in folgendem Satz: „Dieser objektiven Verpflichtung [scil. dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen] aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt (vgl. BVerfGE 87, 209 [228]) und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann“ 27. Beide Gedanken können – so isoliert – die Subjektivierung der Pflicht noch nicht ausreichend begründen: Dass das Grundrecht jeden individuellen Menschen schützt, ist nicht nur dem Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG eigen, sondern gilt für jede Grundrechtsbestimmung; dennoch wird dies nicht als ausreichender Grund angesehen, dass die aus dem objektiven Grundrechtsgehalt abgeleitete Leistungspflicht des Staates im Sinne der Schutznormtheorie zumindest auch dem Schutz der Interessen des einzelnen Grundrechtsträgers zu dienen bestimmt ist28. Und dass die Würde des Einzelnen in Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann, begründet zwar die objektive Leistungspflicht des Staates, besagt aber für sich genommen nichts über deren Subjektivierung.29 3. Dennoch: „Gewährleistungsrecht“ als überzeugende Konzeption zur Begründung originärer grundrechtlicher Leistungsansprüche

Dennoch und ungeachtet ihrer insoweit defizitären Begründung überzeugt die Entscheidung des BVerfG vom 09.02.2010 im Ergebnis. Mit der Figur des „Ge25

BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 135. K. Redeker, in: Festgabe 25 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 1978, S. 511 (513 f.). 27 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 134 – Hervorhebung nicht im Original. 28 Nachweise bei Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 5), § 67 II 3a, S. 712 m.w. N.; Mayen, Der grundrechtliche Informationsanspruch des Forschers gegenüber dem Staat, 1992, S. 259 f. 29 s. dazu bereits oben II. (bei und in Fn. 7). 26

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währleistungsrechts“ entwickelt sie eine grundrechtsdogmatische Konzeption, welche die zentralen Einwände gegen die Anerkennung originärer, also nicht (derivativ) aus einer leistungsgewährenden Verwaltungspraxis über Art. 3 Abs. 1 GG abgeleiteter grundrechtlicher Leistungsansprüche30 ausräumen kann. a) Die Einwände gegen die Anerkennung originärer grundrechtlicher Leistungsansprüche Diese Einwände sind vielfach zusammengefasst worden.31 Neben dem historischen Argument, dass der Parlamentarische Rat seinerzeit in bewusster Abkehr von der Weimarer Reichsverfassung auf die Aufnahme sozialer Grundrechte in das Grundgesetz verzichtet hatte32 (das allerdings angesichts der notwendigen Offenheit der Verfassung einen „Wandel der Grundrechte“ hin zu Leistungsrechten auch nicht ausschließt33), und dem Hinweis auf die finanziellen Auswirkungen solcher Leistungsrechte auf die staatlichen Haushalte34 wird insbesondere auf die fehlende Bestimmtheit unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteter Ansprüche abgestellt.35 In der Tat ist hier ein zentraler Punkt berührt, da die Grundrechte des Grundgesetzes in Art. 1 Abs. 3 GG betont als unmittelbar bindende und insbesondere justitiable Rechte ausgestaltet sind.36 Während die Grundrechte als Abwehrrechte diese Bedingung erfüllen – ihr Inhalt wird stets durch den (abzuwehrenden) konkreten Eingriffsakt bestimmt –, fehlt es bei grundrechtlichen Leistungsrechten an einem solchen „definitiven verfassungsmäßigen Gegenteil“.37 Die Begründung für den grundrechtlichen status positivus, dass nämlich jedes Freiheitsrecht ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch 30 Zu den Begriffen des originären und derivativen grundrechtlichen Leistungsanspruchs vgl. Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 5), § 67 II.1. a) und c), S. 697, 700 ff. 31 Vgl. etwa Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 5), § 67 I., S. 690 ff., III, S. 716 ff., sowie V. 3., S. 745 ff.; Alexy (Fn. 6), S. 401 ff. 32 Vgl. dazu JöR n. F. Bd. 1 (1950/51), S. 54 ff.; H. v. Mangoldt, AöR Bd. 75 (1949), S. 273 (275 f.). 33 Vgl. dazu Friesenhahn, 50. DJT, 1974, S. G 1 (G 13); Saladin, Grundrechte im Wandel, 2. Aufl., 1975, passim; Rupp, AöR Bd. 101 (1976), S. 161 ff. 34 Dieser Einwand bedarf allerdings der sorgfältigen Differenzierung. Das Argument, Leistungsansprüche könnten nur in den Grenzen der verfügbaren Ressourcen gewährt werden und würden nahezu die gesamte Haushaltspolitik verfassungsrechtlich festlegen (so etwa Starck [Fn. 5], S. 518), greift nur bei allgemeiner flächendeckender Umwertung der Grundrechte in positive Leistungsansprüche (Mayen [Fn. 28], S. 240 f.). Zu Recht ist auch darauf hingewiesen worden, dass das Haushaltsrecht unter dem Vorbehalt des Verfassungsrechts steht und nicht umgekehrt (so etwa Alexy [Fn. 6], 1986, S. 466; Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1 [Fn. 5], § 67 III 2d, S. 719 ff.). 35 In diesem Sinne namentlich Martens (Fn. 5), S. 7 (30 ff.); Starck, in: Festgabe BVerfG (Fn. 5), S. 518 f.; weitere Nachw. bei Mayen (Fn. 28), S. 235 Fn. 66. 36 Vgl. dazu etwa Stern, HdbStR, 2. Aufl., 2000, Bd. V, § 109 Rdnrn. 71 ff. 37 Lübbe-Wolff (Fn. 6), S. 40.

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nehmen zu können, wertlos wäre38 und Freiheit ohne reale Grundlage keine wirkliche ist39, überzeugt zwar inhaltlich dem Grunde nach. Sie beantwortet aber nicht, in welchem Umfang reale Freiheit durch positive Leistungen des Staates zu sichern ist. Handelt es sich um ein Minimum, ein Maximum oder um eine wie immer zu bestimmende „Normalausstattung? Welcher Art müssen die Leistungen sein? Handelt es sich um Geldleistungen oder Sachleistungen oder genügt eine beratende und begleitende Fürsorge? Bei aller kreativen Phantasie, die namentlich den Verfassungsjuristen auszeichnen mag: Man kann schlechterdings nicht begründen, dass sich alle diese Fragen aus der Verfassung herauslesen ließen. Verfassungsunmittelbare grundrechtliche Leistungsansprüche sind deshalb leges imperfectae40, genauer: sie geben den Anspruchsinhalt grundsätzlich nur als Ziel vor, als Verfassungsauftrag, der auf verschiedene Weise erfüllt werden kann. Hier setzen zwei Einwände gegen die Anerkennung originärer grundrechtlicher Leistungsansprüche an: – Erstens: Positive Leistungsansprüche, die nach Inhalt und Ausmaß nicht feststehen, sind mit der Vorgabe des Art. 1 Abs. 3 GG nicht vereinbar, wonach Grundrechte unmittelbar bindendes Recht und nicht bloße Programmsätze sind.41 – Zweitens: Die Konkretisierung derartiger leges imperfectae, d.h. die Vervollständigung des Normprogramms hin zu konkret einklagbaren Leistungsansprüchen, ist schon nach der gewaltenteiligen und demokratischen Ordnung des Grundgesetzes Sache des Gesetzgebers und nicht der Gerichte.42 b) Gültigkeit dieser Einwände auch gegenüber einem Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Es verwundert schon, wie wenig im Schrifttum die Relevanz dieser Einwände für den grundrechtlichen Leistungsanspruch auf ein menschwürdiges Existenzminimum erkannt wurde. So meint etwa Christian Starck, im Übrigen ein prononcierter Gegner originärer grundrechtlicher Leistungsrechte: 38 BVerfGE 33, 303 (331); 75, 40 (65); ähnlich jetzt auch BVerfG (Fn. 1), Abs.Nr. 134: Sicherung der „materiellen Voraussetzungen“ zur Gewährleistung eines „menschenwürdigen Daseins“. 39 Starck (Fn. 5), S. 525; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, Darmstadt 1977, S. 250 ff. 40 Martens (Fn. 5), S. 7 (30). 41 Vgl. etwa Häberle (Fn. 5), S. 43 (97 ff.); E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529 (1535 f., 1538); S. 29; Breuer, in: Festgabe BVerwG (Fn. 5), S. 92 (bei Fn. 25); Zacher, Sozialpolitik und Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland, 1980. 42 Dies wird nicht zuletzt in BVerfGE 1, 97 (104 f.) deutlich: „Das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates aber kann nur der Gesetzgeber tun“.

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„[. . .] die Sicherung eines Existenzminimums stellt den Staat nicht vor unlösbare Aufgaben. Der Umfang des Existenzminimums ist abhängig vom allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Standard. Verfassungsrechtliche Leistungspflichten des Staates nur hinsichtlich eines Existenzminimums überfordern schließlich den Staatshaushalt nicht.“ 43

Schon die Aussage fehlender Überforderung des Staatshaushalts wird man heute – nach Haushalts- und Finanzkrisen – sicher nicht mehr so leicht treffen. Jedenfalls aber ist auch ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums eine lex imperfecta. Auch hier gibt die Verfassung keinen Aufschluss über Art und Umfang der hierfür erforderlichen Leistungen. Daran ändert der Umstand nichts, dass dieses Grundrecht nur ein Existenzminimum, also den sog. verfassungsrechtlichen Minimalstandard fordert. Das BVerfG formuliert dies selbst in aller wünschenswerten Deutlichkeit: „Der Umfang dieses Anspruchs kann im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel jedoch nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden [. . .]. Er hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab [. . .].“ 44

Insoweit bestehen vielfältige Möglichkeiten, den gebotenen Schutz zu verwirklichen. Damit ist auch hier das Grundproblem verfassungsunmittelbarer grundrechtlicher Leistungsansprüche aufgeworfen: „Es liegt grundsätzlich in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, den ihm geeignet erscheinenden Weg zu bestimmen, besonders zwischen den verschiedenen Formen finanzieller Hilfe für den Unterhalt und die Betreuung gebrechlicher Menschen zu wählen und entsprechend die Anspruchsberechtigung festzulegen. Ebenso hat er [. . .] zu entscheiden, in welchem Umfang soziale Hilfe unter Berücksichtigung der vorhandenen Mittel und anderer gleichrangiger Staatsaufgaben gewährt werden kann und soll.“ 45

c) Verfassungsunmittelbare grundrechtliche Gewährleistungsrechte als „dritter Weg“ Diese wenigen Überlegungen zeigen: Die im Urteil vom 09.02.2010 in einigen knappen Sätzen formulierte Anerkennung eines Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Das BVerfG war auch hier vor das Dilemma zwischen fehlender Justiziabilität grundrechtlicher Leistungsansprüche und Verlagerung der Kompetenz der Parlamente in die des Verfassungsgerichts (bei Anerkennung bindender Leistungsrechte)46 gestellt. 43 44 45

Starck (Fn. 5), S. 522. BVerfGE 91, 93 (111 f.); 115, 118 (153); BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 138. BVerfGE 40, 121 (133).

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Mit der Ausformung des Leistungsanspruchs als einem Gewährleistungsrecht ist es diesem Dilemma entronnen. Das Gewährleistungsrecht ist nur dem Grunde nach gewährt. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass die Verfassung dem Staat zwar die Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als solche aufgeben kann, der Umfang dieses Anspruchs aber nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden kann. Seine Konkretisierung ist dem Gesetzgeber zugewiesen. Diesem obliegt es, den Leistungsanspruch „in Tatbestand und Rechtsfolge“ zu konkretisieren.47 Eine Überforderung der Verfassung (und der Verfassungsinterpretation) wird so vermieden. Gleichzeitig gibt das BVerfG den Anspruch der Justiziabilität des verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruchs nicht auf. Der Leistungsanspruch ist zwar nur dem Grunde nach gegeben, ist insoweit aber „unverfügbar und muss eingelöst werden“ 48. Dies bedeutet: Der Gesetzgeber darf nicht untätig bleiben. Er muss ein Parlamentsgesetz erlassen, welches zudem einen konkreten (einfachgesetzlichen) Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält. Kommt der Gesetzgeber dem nicht hinreichend nach, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig.49 Dogmatisch ist diese Lösung schlüssig. Jürgen Schwabe hat bereits 1977 auf den logischen Bruch hingewiesen, der darin liegt, aus der fehlenden verfassungsrechtlichen Bestimmbarkeit des Leistungsanspruchs nach Tatbestand und Rechtsfolge nur für das subjektive Recht nachteilige Konsequenzen zu ziehen, nicht hingegen für die objektive Leistungspflicht des Staates. Er hat hieraus die Forderung abgeleitet, man müsse „Pflicht wie subjektives Recht realistisch zuschneiden. Auf das subjektive Recht zu verzichten, besteht aber kein Anlass.“ 50 Die darin liegende Idee eines subjektivierten Verfassungsauftrags51 wird vom BVerfG mit der Figur des Gewährleistungsrechts aufgegriffen. Terminologisch erinnert sie an eine Aussage von Hans Heinrich Rupp, wonach Grundrechtsnormen in der Leistungsdimension nicht unverbindliche Programmsätze, sondern „positive Gewährleistungsprinzipien“ sind, die den Gesetzgeber zwar weitmaschig, aber „mit verfassungsrechtlicher Kraft verpflichten“.52 Das Gewährleistungsrecht bedeutet die (von Rupp allerdings noch abgelehnte) Subjektivierung solcher Gewährleistungsprinzipien.

46

Formulierung von Alexy (Fn. 6), S. 461 (bei Fn. 245). BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 138. 48 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 133. 49 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 137. 50 Schwabe (Fn. 39), S. 209. 51 Vgl. dazu Böckenförde (Fn. 5), S. 7 (14 f.); auch Sommermann (Fn. 11), Art. 20 Rdnr. 120 (in Fn. 430). Ablehnend demgegenüber Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 5), § 69 VI 4c, S. 993 f. 52 Rupp, VVDStRL Heft 30 (1972), S. 181. 47

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III. Die einzelnen Gewährleistungsinhalte eines Rechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum Inhaltlich ähnelt das so beschriebene Gewährleistungsrecht dem aus dem Verwaltungsrecht bekannten Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung, der im Wege der Bescheidungsklage (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO) gerichtlich geltend gemacht werden kann.53 Seine rechtlichen Konturen können wie folgt präzisiert werden: 1. Anspruch auf normative, nicht auf faktische Leistung

Der durch ein Gewährleistungsrecht verbürgte Leistungsanspruch ist auf eine normative, nicht auf eine faktische Leistung gerichtet.54 Er begründet ein „Recht auf Rechte“ 55. Mit ihm kann ausschließlich ein Tätigwerden des Gesetzgebers in Form von einfachgesetzlichen Leistungsbestimmungen geltend gemacht werden, nicht hingegen die Gewährung einer konkreten Leistung selbst (etwa eines bestimmten Geldbetrags oder von Leistungen für Bildung oder Teilhabe am gesellschaftlichen Leben). Das BVerfG kann demzufolge allein den Gesetzgeber zu entsprechenden gesetzlichen Maßnahmen verpflichten; selbst bei evident unzureichenden Leistungen des Gesetzgebers ist es „nicht befugt, aufgrund eigener Einschätzungen und Wertungen gestaltend selbst einen bestimmten Leistungsbetrag festzusetzen“.56 Dies ist in der Tat zwingende Konsequenz daraus, dass der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG nur dem Grunde, nicht aber seinem Umfang nach unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden kann.57 Wenn die Verfassung keine quantifizierbaren Vorgaben dafür liefert,58 welche Bedarfsarten und in welcher Höhe zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zu erfüllen sind, dann fehlt es an den rechtlichen Maßstäben, mit deren Hilfe erst die Rechtsprechung in der Lage (und legitimiert) wäre, eine eigene Entscheidung über den erforderlichen Leistungsumfang zu treffen. Würden die Gerichte – bei Fehlen solcher Maßstäbe – dennoch selbst die Leistung konkretisieren, würden sie die Grenze zur politischen Gestaltung überschreiten.59

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Mayen (Fn. 28), S. 260 (in Fn. 82). Alexy (Fn. 6), S. 403. 55 Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 392, 501 f. 56 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 212. 57 So ausdrücklich BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 138. 58 Spellbrink, ArchsozArb 2008, 4; ders., DVBl. 2011, 661 (662 bei Fn. 13); Frommann, NDV 2004, 246; BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 142. 59 Dies verbieten auch das Demokratieprinzip und der Grundsatz der Gewaltenteilung (BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 136). 54

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Dies gilt in gleicher Weise für das BVerfG, die Fachgerichte und die Verwaltungsbehörden. Ihnen ist es deshalb verwehrt, allein gestützt auf den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums einem Hilfebedürftigen konkrete Geld- oder Sachleistungen zusprechen, die keine Grundlage in den gesetzlichen Regelungen des Sozialgesetzbuchs finden.60 Für sie alle gilt: „Die hierbei [scil. bei der Festsetzung bestimmter Leistungen nach Art und Umfang] erforderlichen Wertungen kommen dem parlamentarischen Gesetzgeber zu. Ihm obliegt es [scil. und nicht den Gerichten], den Leistungsanspruch in Tatbestand und Rechtsfolge zu konkretisieren.“ 61

Im Rahmen dieser Wertungen darf er namentlich auch die Finanzierbarkeit der Leistungen berücksichtigen; denn die Notwendigkeit der Konkretisierung des Leistungsanspruchs auf menschenwürdiges Existenzminimum durch den Gesetzgeber folgt nicht zuletzt auch daraus, dass die Begründung solcher Leistungsansprüche mit erhebliche finanziellen Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte verbunden ist.62 Im Ergebnis bleibt damit das Gewährleistungsrecht deutlich hinter dem bisher im Schrifttum befürworteten Leistungsanspruch auf Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums zurück.63 Dort stand der Anspruch auf faktische Leistung in Höhe des grundrechtlichen Minimalstandards im Zentrum, der im Falle nicht hinreichender gesetzlicher Anspruchsregelungen, ja sogar für den Fall eines nur möglich erscheinenden Gesetzesdefizits unmittelbar von den Fachgerichten und dem BVerfG zugesprochen werden soll.64 2. Der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum und seine verfassungsgerichtliche Kontrolle

Ein Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers führt als seine Kehrseite notwendig zu Einschränkungen der gerichtlichen Kontrolldichte.65 Dies gilt auch für das 60 Für die Fachgerichte ausdrücklich Wenner, SozSich 2010, 68 (69). In der Rechtspraxis ist dies alles vielfach übersehen worden, wie die Flut der Klagen zeigt, die nach Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber gesetzten Frist bis zum schließlich erfolgten Erlass des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (BGBl. I S. 453) bei den Sozialgerichten anhängig gemacht worden sind. 61 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 138. 62 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 136; ablehnend hierzu hingegen Rothkegel, ZFSH SGB 2010, 135 (144). 63 Vgl. etwa Spellbrink (Fn. 11), 661 (664): „Abwertung zur kleinen Münze“. Ähnlich Kingreen, NVwZ 2010, 558 („tendenziell eher geschwächt“). 64 So ausdrücklich Breuer (Fn. 5), S. 97 (nach Fn. 45). 65 Rothkegel (Fn. 62), 135 (137); Wenner (Fn. 60), 68 (69), hält hingegen die Anerkennung eines Gestaltungsspielraums bei Ableitung des Leistungsanspruchs aus Art. 1 Abs. 1 GG für „ungewöhnlich“.

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Gewährleistungsrecht. Auch hier beschränkt sich die materielle Kontrolle des Gesetzgebers durch das BVerfG auf evident unzureichende Leistungen.66 Hätte es an dieser Stelle mit den rechtlichen Wirkungen des Gewährleistungsrechts sein Bewenden, so wäre freilich mit Blick auf die tatsächliche Wirksamkeit des Grundrechtsschutzes wenig gewonnen. Ein Anspruch, der sich nur in Fällen evident unzureichenden, willkürlichen Handelns des Gesetzgebers realisierte, im Übrigen aber der Politik jeden Freiraum beließe, ginge in den praktischen Folgen für den betroffenen Grundrechtsträger über die bisherige Konzeption der objektiv-rechtlichen Leistungspflicht nicht hinaus. An dieser Stelle geht nun das BVerfG in seinem Urteil vom 09.02.2010 einen beherzten Schritt nach vorne. Es respektiert zwar einen gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum, engt diesen aber gegenüber seinen früheren Entscheidungen deutlich ein.67 a) Notwendigkeit eines einfachgesetzlichen Leistungsanspruchs Eine erste Grenze ergibt sich daraus, dass der Gesetzgeber zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums einen einfachgesetzlichen Anspruch schaffen muss. Den Hilfebedürftigen muss ein – einklagbares – subjektives Recht an die Hand gegeben werden;68 eine objektive gesetzliche Leistungspflicht genügt also nicht. Dies greift den bereits in der Fürsorge-Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts69 formulierten Gedanken auf und bezeichnet die Stelle, an der sich Aufgabe und Funktion der Fachgerichte entfalten. Der Unterschied zum verfassungsunmittelbaren Anspruch auf Geld- oder Sachleistungen besteht darin, dass die Verfassung dem Gesetzgeber nur die Begründung eines subjektiven Anspruchs zugunsten der Hilfebedürftigen vorgibt, nicht hingegen den Inhalt der von diesem zu beanspruchenden Leistung. Dieser gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.70 Ein Vorgehen in Teilschritten, gleichsam im Wege der gesetzgeberischen „Salamitaktik“, ist unzulässig. Wenn der Gesetzgeber seiner verfassungsmäßigen Pflicht zur Bestimmung des Existenzminimums nicht hinreichend nachkommt, ist das einfache Recht im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig.71 66 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 141. Nachdrücklich zustimmend Spellbrink (Fn. 11), 661 (663 f.). 67 Sommermann (Fn. 11), Art. 20 Rdnr. 116 (Fn. 418) und Rothkegel (Fn. 62), 135 (136) weisen zu Recht darauf hin, dass das BVerfG nicht mehr wie bisher von einem „breiten“ Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers spricht, sondern nur noch von einem Gestaltungsspielraum. 68 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 136. 69 BVerwGE 1, 159 (161). 70 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 137. 71 Ebd.

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b) Größere Eingrenzung des Gestaltungsspielraums bei Leistungen zur Sicherung der physischen Existenz Kritik gefunden hat die Differenzierung des BVerfG, der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum sei weiter, wenn es um die Möglichkeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben geht, und enger, soweit der Gesetzgeber das zur Sicherung der physischen Existenz eines Menschen Notwendige konkretisiert.72 Hier ist angemerkt worden, dies widerspreche der Radizierung auch des zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben Erforderlichen im Grundrecht des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG und der Betonung der Einheitlichkeit des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum.73 Sachlich ist dies nicht nachzuvollziehen, wenn man den Ansatz der Wandelbarkeit des menschenwürdigen Existenzminimums ernst nimmt; hier kann nur ein „Menschenwürdesockel“ der Disposition des Gesetzgebers entzogen sein.74 Damit beschränkt sich die Unterscheidung – anders als vom BVerfG betont – indes nicht auf die gerichtliche Kontrolldichte,75 sondern erfasst auch den Gewährleistungsinhalt.76 c) Vor allem: Gesteigerte Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren Die wohl größte Bedeutung liegt in den verschärften Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren.77 Der Gesetzgeber muss zur Konkretisierung des Anspruchs alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, bemessen.78 Werden diese Anforderungen nicht eingehalten, steht die Entscheidung des Gesetzgebers über die Konkretisierung des Existenzminimums bereits wegen dieser verfahrensrechtlichen Mängel (sic!) nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang.79 Hieraus leitet das BVerfG eine detaillierte Verfahrenskontrolle80 für das Gesetzgebungsverfahren ab.

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BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 138. Rothkegel (Fn. 62), 135 (143). Zustimmend hingegen Schulz (Fn. 4), 201 (205). 74 Höfling, in: Sachs, GG, 5. Aufl., 2009, Art. 1 Rdnr. 32 m.w. N. 75 So aber BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 138; zustimmend Schulz (Fn. 4), 201 (203, 205). 76 In diesem Sinne wohl Höfling (Fn. 74). 77 So zu Recht Rixen, SGb 2010, 240 (242); ähnlich Rothkegel (Fn. 62), 135 (145); im Ergebnis auch Hebeler, DÖV 2010, 754. 78 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 139. 79 So ausdrücklich für das Gebot transparenten Verfahrens BVerfG (Fn. 1), Abs.Nr. 144). 80 Kingreen (Fn. 63), 558 (559). 73

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aa) Sach- und realitätsgerechtes Verfahren Die realitätsgerechte Bedarfsermittlung muss auf der Grundlage verlässlicher empirischer Zahlen erfolgen,81 die einen Bezug zum Existenzminimum aufweisen.82 Hierzu muss der Gesetzgeber zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür aufzuwendenden Kosten ermitteln und auf dieser Basis sodann die Höhe des Gesamtbedarfs bestimmen. Die dafür anzuwendende Ermittlungsmethode gibt das Grundgesetz nicht vor. Der Gesetzgeber darf sie selbst auswählen, muss insoweit aber ein sachgerechtes und taugliches Verfahren wählen.83 Dies ist schon dann der Fall, wenn die zugrunde liegende Methode vertretbar ist.84 Allerdings verletzt das BVerfG selbst diese Maßstäbe, wenn es beanstandet, für die Hochrechnung der Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998 stünden „andere, sachgerechtere“ Anpassungsmechanismen zur Verfügung.85 Dies bedeutet, dass die Sachgerechtigkeit nicht genügt, wenn andere Methoden noch besser geeignet sind. bb) Folgerichtiges Verfahren Das Gebot der Folgerichtigkeit des Verfahrens bedeutet nicht nur eine „prozedurale Systemkonsistenz“ 86, sondern erkennt den Grundsatz der Selbstbindung des Gesetzgebers an:87 Abweichungen von der gewählten Methode bedürfen der sachlichen Rechtfertigung.88 Wann eine sachliche Rechtfertigung gegeben ist, erläutert das BVerfG nicht. Nach allgemeinen Maßstäben genügt hierfür jeder vernünftige, sachlich einleuchtende Grund. Nur objektiv willkürliche, sachlich nicht nachvollziehbare Erwägungen scheiden aus. cc) Transparentes Berechnungsverfahren Die Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens verlangt, dass die eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offen gelegt werden.89 Der 81

BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 142. BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 184. 83 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 139 – unter Berufung auf seine Rechtsprechung zu den grundrechtlichen Schutzpflichten (vgl. BVerfGE 46, 160 [164]; 96, 56 [64]; 115, 118 [160]). 84 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 162: „verfassungsrechtlich zulässige, weil vertretbare Methode zur realitätsnahen Bestimmung des Existenzminimums“. 85 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 185 – Hervorhebung nicht im Original. 86 So Kingreen (Fn. 63), 558 (560). 87 Rixen, SGb 2010, 240 (243). 88 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 139. 89 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 144. 82

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Gesetzgeber kann sich nicht auf bloße Leerformeln oder kursorische Darlegungen zurückziehen, sondern muss seinen Gesetzesvorschlag schlüssig und nachvollziehbar begründen. Tut er dies nicht, ist das Gesetz schon deshalb (!) verfassungswidrig. Nach den Worten des BVerfG wird dem Gesetzgeber hiermit eine besondere „Obliegenheit“ 90 auferlegt. Diese Formulierung scheint nahezulegen, dass es sich um eine bloße Begründungslast handelt, deren Verletzung – im Unterschied zur Begründungspflicht – noch nicht zur Nichtigkeit führt.91 Eine solche Folge stand dem BVerfG aber offensichtlich nicht vor Augen.92 Denn schon die Verletzung der Obliegenheit soll dazu führen, dass das Gesetz schon dann nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang steht.93 Ob dies zur Nichtigkeit oder „nur“ zur Unvereinbarerklärung mit der Verfassung führt, beurteilt sich hingegen nach allgemeinen verfassungsprozessualen Grundsätzen, ohne dass hierfür der Unterscheidung von Obliegenheit und Pflicht Bedeutung beigemessen würde.94 dd) Pflicht zur fortwährenden Überprüfung und Weiterentwicklung Diese verfahrensrechtlichen Anforderungen beschränken sich nicht auf das eigentliche Gesetzgebungsverfahren. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, das einmal gefundene Ergebnis fortwährend zu überprüfen und weiterzuentwickeln, weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden kann, in dem er besteht.95 Diese verfahrensrechtliche Pflicht wird klar formalisiert: Schon im Vorfeld sind „Vorkehrungen“ zu treffen, ist also eine Art Frühwarnsystem aufzubauen, das es dem Gesetzgeber ermöglicht, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen.96 IV. Übertragbarkeit auf andere Grundrechtsbestimmungen? Angesichts dieser Ausführungen drängt sich die Frage auf, ob die Konzeption des grundrechtlichen Gewährleistungsrechts auf die Sicherung des menschenwür90

Ebd. Zur Unterscheidung namentlich Skouris, Die Begründung von Rechtsnormen, 2002, S. 174, 182. 92 Wie hier Meßling, in: Festschrift R. Jäger, 2010, S. 787 (813 f.); Rixen (Fn. 77), 240 (243 f.). 93 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 144. 94 Vgl. dazu BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nrn. 210, 220. 95 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 140. 96 Ebd. 91

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digen Existenzminimums beschränkt ist oder ob es auch auf andere Grundrechtsbestimmungen übertragen werden kann. In den ersten Anmerkungen zum Urteil des BVerfG vom 09.02.2010 ist diese Frage bisher nur für die verfahrensrechtlichen Anforderungen an den Gesetzgeber behandelt worden.97 Diese Perspektive ist zu eng. Vielmehr ist auch zu fragen, ob die Figur des Gewährleistungsrechts geeignet ist, die Frage nach der leistungsrechtlichen Dimension von Grundrechten grundrechtsübergreifend zu beantworten. 1. Das Gewährleistungsrecht als neue leistungsrechtliche Dimension von Grundrechten

Für das dogmatische Konzept des Gewährleistungsrechts als einem von der Verfassung dem Grunde nach vorgegebenem Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers ist dies eindeutig zu bejahen. Zwar wird es im Urteil vom 09.02.2010 damit begründet, dass das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG die Würde jedes individuellen Menschen schützt und diese Würde in Notlagen, in denen die für ein menschenwürdiges Dasein notwendigen Mittel fehlen, nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.98 Dies scheint aber allenfalls auf den ersten Blick dafür sprechen, dass das Gewährleistungsrecht auf das Grundrecht des Art. 1 Abs. 1 GG beschränkt ist. Die individualschutzbezogene Zielrichtung ist nicht nur dem Art. 1 Abs. 1 GG eigen, sondern gilt für jedes Grundrecht;99 folgert man hieraus für Art. 1 Abs. 1 GG die Anerkennung eines Gewährleistungsrechts, dann muss dieser Gedanke auch für die übrigen Grundrechtsbestimmungen gelten. Ebenso lässt sich der Gedanke verallgemeinern, dass die Würde des Einzelnen in Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann. Hierin kommt der ebenfalls schon erwähnte100 Gedanke der materialen Freiheit zum Ausdruck, dass nämlich jedes Freiheitsrecht ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch nehmen zu können, wertlos wäre101, mithin ihre Ausübung in solchen Notlagen, in denen die diese Voraussetzungen fehlen, nur durch materielle Unterstützung102 gesichert werden kann.

97

Hebeler (Fn. 77), 754; Meßling (Fn. 92), S. 787; Spellbrink (Fn. 11), 661 (664). BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 134. 99 Nachweise bei Mayen (Fn. 28), S. 259 f.; Sachs, in: Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 5), § 67 II 3a, S. 712 m.w. N. 100 Vgl. oben II.3.a) (bei Fn. 38). 101 BVerfGE 33, 303 (331); 75, 40 (65); Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 5), § 69 VI.3a, S. 981 ff.; Jarass, AöR Bd. 110 (1985), S. 363 (389); Böckenförde (Fn. 6), S. 1 (12). 102 Dies ist keineswegs auf finanzielle Leistungen beschränkt, sondern gilt beispielsweise auch für Informationen (als Voraussetzungen für die Gewährleistung realer Forschungsfreiheit; dazu Mayen (Fn. 28), S. 247 ff., 261 ff.). 98

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2. Recht auf einfachgesetzliche Leistungsansprüche?

Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach der Übertragbarkeit des Gewährleistungsinhalts des einfachgesetzlichen Leistungsanspruchs. Die dahinter stehende Erwägung, dass ein Hilfebedürftiger nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter angewiesen sein darf, hat erkennbar ihre Wurzel in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG: Der Hilfesuchende soll in den Stand versetzt werden, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht;103 hiermit wäre es nicht vereinbar, wenn er vom Wohlwollen des Staates abhängig und damit gleichsam permanent in der Position des Bittstellers bliebe. Aber auch hier sollte man sich den Blick nicht vorschnell verengen. Für eine Übertragbarkeit auch dieses Gewährleistungsgehalts auf andere Grundrechtsbestimmungen spricht insbesondere die Effektivität des Grundrechtsschutzes. Eine bloß objektivrechtliche einfachgesetzliche Pflicht, deren Erfüllung nicht vor den Fachgerichten erzwungen werden kann, würde dem Anspruch, dem Grundrechtsträger die für die Ausübung seines Freiheitsrechts notwendigen realen Voraussetzungen zu gewähren, nicht gerecht. Wenn das Leistungsrecht in Gestalt des Gewährleistungsrechts als subjektives Recht dem Grunde nach besteht, dann steht es als subjektives Recht gleichsam unter dem Vorbehalt seiner inhaltlichen Konkretisierung durch den Gesetzgeber. Ist diese Konkretisierung erfolgt, dann setzt sich das verfassungsrechtlich zunächst dem Grunde nach bestehende subjektive Recht als einfachgesetzlicher Anspruch fort. 3. Grundrecht auf gute Gesetzgebung?

Den Vorgaben im Urteil vom 09.02.2010 für das Gesetzgebungsverfahren haben früh schon Rixen104 und Meßling105 Leitbildwirkung auch für andere Grundrechtsbereiche zugemessen. Folgt hieraus gar – noch weitergehend – ein Grundrecht auf „rationale“ oder „richtige“, auf „gute Gesetzgebung“? Spellbrink fordert hier zu Recht eine „dogmatische Unterfütterung“ 106 ein. Mit einigem Recht hat die bisherige Debatte um ein allgemeines Gesetzgebungsverfahrensrecht107 ergeben, dass dem politischen Charakter des parlamentarischen Verfahrens durch sparsame Verfahrensregelungen Rechnung zu tragen ist und generalisierende Pa103 BVerwGE 25, 23 (27); dazu auch etwa Horrer, Das Asylbewerberleistungsgesetz, die Verfassung und das Existenzminimum, Berlin 2001, S. 150 ff. 104 SGb 2010, 240 (nach Fn. 1). 105 Meßling (Fn. 92), S. 816 f. 106 Spellbrink (Fn. 11), 661 (664). 107 Vgl. dazu etwa Schwerdtfeger, in: FS für H. P. Ipsen, 1977, S. 173 ff.; Mengel, ZRP 1984, 153 ff.; Schulze-Fielitz, NVwZ 1983, 709 ff.; Lücke, ZG 2001, 1 ff.; Kloepfer, DVBl. 1995, 441; H. Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl., 2000; Blum, Wege zu besserer Gesetzgebung, Gutachten I zum 65. Deutschen Juristentag Bonn 2004, S. I 29 ff.; Hebeler (Fn. 77), 754 ff.

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rallelen zur verwaltungsrechtlichen Abwägungs(fehler)lehre verfehlt sind.108 Dies zeigt sich namentlich bei der Frage nach einer allgemeinen Begründungspflicht des Gesetzgebers, die überwiegend mit dem Hinweis verneint wird, der Gesetzgeber schulde nichts als das Gesetz.109 Den Schlüssel für die gebotene Abgrenzung liefert auch hier das Gewährleistungsrecht, in dessen Konzeption das BVerfG seine Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren einbettet. Es geht gerade nicht um ein allgemeines Grundrecht auf (folge-)richtige Gesetzgebung im grundrechtsrelevanten Bereich,110 sondern um die Einlösung einer grundrechtlich radizierten Pflicht des Gesetzgebers und deren verfassungsgerichtliche Kontrolle.111 Ihre verfassungsrechtliche Begründung folgt aus der Verbindlichkeit des Gewährleistungsrechts und dem Gebot effektiver verfassungsgerichtlicher Kontrolle seiner Befolgung. Sie ist somit die Kehrseite der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit: „Der Grundrechtsschutz erstreckt sich auch deshalb auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums, weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab dieses Grundrechts nur begrenzt möglich ist.“ 112

Darin kann das BVerfG anknüpfen an frühere Entscheidungen, in denen es – freilich ohne einheitliche Linie113 – im Interesse effektiver Kontrolle von Übermaß- und Willkürverbot bei grundrechtsbeschränkenden Gesetzen Begründungspflichten des Gesetzgebers gefordert hatte.114,115 Der VerfGH NRW hat dies nochmals sehr prononciert in seiner Entscheidung zu § 24a LEPro NRW herausgearbeitet. Da für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer gesetzgeberischen 108 Gusy, ZRP 1985, 291 (292); Badura, ZG 1987, 300 (310); Blum (Fn. 107), I 31 (bei Fn. 59). 109 Geiger, in: Berberich u. a., Neue Entwicklungen im öffentlichen Recht, 1979, S. 131 (141); Schlaich, VVDStRL Heft 41 (1981), S. 99 ff.; Kischel, Die Begründung, 2003, S. 304; Skouris (Fn. 91), S. 119 ff., 174; Hebeler (Fn. 77), 754 (759 ff.); Waldhoff, in: Festschrift Isensee, 2007, 325 ff. Anders vor allem Schwerdtfeger (Fn. 107), S. 173 ff.; Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987, S. 95 ff.; eher de constitutione ferenda: Redeker/Karpenstein, NJW 2001, 2825 (2827, 2829). Vermittelnd Blum (Fn. 107), I 126 ff. („Mindestbegründungsgebot“). Eingehende Nachzeichnung bei Meßling (Fn. 92), S. 793 ff. 110 Diese Frage wird – mit deutlicher Skepsis – aufgeworfen bei Spellbrink (Fn. 11), 661 (664). 111 Wie hier auch Meßling (Fn. 92), S. 815. 112 So ausdrücklich BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 142. Zustimmend Meßling (Fn. 92), S. 818; ablehnend demgegenüber Hebeler (Fn. 77), 754 (760): „noch kein verfassungsrechtliches Argument“. Rothkegel (Fn. 62), 135 (141 nach Fn. 89) spricht insoweit von einem „Danaergeschenk für den Gesetzgeber“. 113 Meßling (Fn. 92), S. 804 („Zick-Zack-Kurs“). 114 BVerfGE 39, 210 (226 ff.); 50, 50 (51 f.); 50, 290 (334 ff.). Dezidiert anders aber etwa BVerfGE 75, 246 (268). Eingehender Überblick bei Hebeler (Fn. 77), 754 (756 ff.); Meßling (Fn. 92), S. 803 ff. 115 Zustimmend Blum (Fn. 107), I 31 (nach Fn. 59): „gewisse Folgerichtigkeit“. Ablehnend Hebeler (Fn. 77), 754 (759 ff.).

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Maßnahme nachvollziehbar sein müsse, welche Erwägungen den Erlass der Rechtsnorm rechtfertigen, treffe den Gesetzgeber eine besondere „Begründungslast“. Aus den Gesetzesmaterialien muss sich erschließen, welcher sachliche Grund gerade für die gesetzliche Festlegung streitet.116 Schönenbroicher hat dies plastisch kommentiert, hierdurch würden die verfassungsrechtlichen Anforderungen an gesetzliche Eingriffe erstmals gleichsam „scharf gestellt“.117 Es ist das Verdienst des Urteils vom 09.02.2010, diesen Gedanken für die leistungsrechtliche Dimension aktiviert zu haben. Gerade an dieser Stelle erweist sich die Parallele des verfassungsunmittelbaren Gewährleistungsanspruchs zum verwaltungsrechtlichen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung auch mit Blick auf die gerichtliche Kontrolle als tragfähig: Weil eine Ergebniskontrolle am Maßstab des Grundrechts nur begrenzt möglich ist, beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle der materiellen Ergebnisrichtigkeit auf eine Evidenzprüfung und erstreckt sich statt dessen auf das Verfahren zur Ermittlung des Existenzminimums. Nicht anders als beim Verwaltungsermessen wird der materielle Gestaltungsspielraum des Staates ausgeglichen durch rechtliche Anforderungen an das Verfahren.118 Somit ist in der Tat das Recht auf Einhaltung verfahrensrechtlicher Anforderungen als solches, eben weil auf das Engste mit dem Konzept des leistungsrechtlichen Gewährleistungsrechts verknüpft, ebenso wie dieses auch auf andere Grundrechtsbestimmungen übertragbar. Freilich gilt dies nicht für alle im Urteil vom 09.02.2010 beschriebenen verfahrensrechtlichen Anforderungen in gleicher Weise. Differenzierung tut auch hier Not: a) Realitätsgerechte Bedarfsermittlung Die Pflicht zur realitätsgerechten Bedarfsermittlung im engeren Sinne ist nur auf solche Gewährleistungsrechte beschränkt, die auf finanzielle Leistungen gerichtet sind. Insoweit reicht sie aber jedenfalls weiter als nur für das Recht zur Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums. In einem weiteren Sinne ist sie auch auf andere Gewährleistungsrechte übertragbar. Da es um einen Minimalstandard geht, muss der für die Freiheitsausübung erforderliche Mindestbedarf realitätsgerecht ermittelt werden.119

116 VerfGH NRW, NVwZ 2009, 1287 (juris Rdnr. 66); ebenso schon VerfGH NRW, NJW 1976, 2209 (2210); NVwZ 1995, 579; NWVBl. 1996, 58; DVBl. 1999, 1271 (1272 f.), Urteil vom 15.03.2011 – Az. 20/10 (juris Rdnr. 105). 117 Schönenbroicher, NWVBl. 2009, 474 (478). 118 So auch der Ansatz von Schwerdtfeger (Fn. 107), S. 173; Mengel, ZRP 1984, 153 (159 f.); Lücke (Fn. 107), 1 (47 f.). 119 Einschränkend (nur für „andere besonders empfindliche Grundrechte“) Meßling (Fn. 92), S. 818 (bei Fn. 131).

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b) Begründungspflicht des Gesetzgebers Unmittelbar übertragbar auch auf andere Gewährleistungsrechte sind hingegen die Anforderungen an die Begründungspflicht des Gesetzgebers. Sie sind nicht auf den Gedanken der Sicherung gerade der Menschenwürdegarantie durch Verfahren beschränkt.120 Mit diesen verfahrensrechtlichen Bindungen erhält vielmehr die tatsächliche Wirksamkeit des grundrechtlichen Gewährleistungsrechts Kontur. Es geht um ein notwendiges verfahrensrechtliches Element, um dem BVerfG die Kontrolle der Einlösung des Verfassungsauftrags zu ermöglichen. In dieser Eigenschaft sind Transparenz des Gesetzgebungsverfahrens und Begründungspflicht des Gesetzgebers Bestandteile eines grundrechtlichen Gewährleistungsrechts, das als solches auch aus anderen Grundrechtsnormen abgeleitet werden kann. Näher zu konkretisieren ist freilich, was als Begründung „des Gesetzgebers“ anzusehen ist. Das BVerfG scheint hier jedenfalls auch auf die Begründung des Regierungsentwurfs abzustellen.121 Dies ist angesichts des Gesetzesinitiativrechts der Bundesregierung nachvollziehbar.122 Demgegenüber wäre die Zulassung eines Nachschiebens von Gründen im Verfassungsprozess durch die Bundesregierung, die das BVerfG nicht per se auszuschließen scheint,123 mit den prozeduralen Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren nicht mehr zu vereinbaren. Hier bedarf der Ansatz des BVerfG noch weiterer dogmatischer Konkretisierung. c) Folgerichtigkeit Auch das Gebot der Folgerichtigkeit ist in seiner dogmatischen Ableitung nicht auf den Kontext des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum beschränkt. Der darin aufscheinende Gedanke der Selbstbindung des Gesetzgebers ist vielmehr schon Konsequenz des allgemeinen Willkürverbots und insofern auch bei anderen Gewährleistungsrechten als Schranke des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers zu beachten. d) Fortwährende Überprüfung Nur eingeschränkt verallgemeinerungsfähig ist hingegen die Pflicht zur fortwährenden Überprüfung. Sie ist Konsequenz der gerade für das Grundrecht auf 120

Ebenso Rothkegel (Fn. 62), 135 (141); Meßling (Fn. 92), S. 817. Vgl. etwa BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 160. 122 Ebenso Meßling (Fn. 92), S. 820; anders hingegen Kischel, Die Begründung – zur Erläuterung staatlicher Entscheidungen gegenüber dem Bürger, 2002, S. 293 f. 123 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 138; ebenso die Deutung des Urteils bei Meßling (Fn. 92), S. 820 f. 121

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ein menschenwürdiges Existenzminimum maßgeblichen Vorgabe, dass sein Inhalt und Umfang von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten abhängt124 und damit Wandlungen unterworfen ist. Für andere Grundrechtsbestimmungen gilt dies nicht notwendig in gleicher Weise. V. Praktische Durchsetzbarkeit des Gewährleistungsrechts? Bei alledem bleibt die Frage nach der hinreichenden Justitiabilität des Gewährleistungsrechts. Die Nagelprobe stellt sich dann, wenn der Gesetzgeber seinen Pflichten aus dem verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch nicht nachkommt. Wie kann das BVerfG den verfassungsunmittelbaren Leistungsanspruch, sprich: die Neuregelung eines hinreichend dimensionierten einfachgesetzlichen Leistungsanspruchs durch den Gesetzgeber durchsetzen? Robert Alexy meint, ein Verfassungsgericht sei „gegenüber einem untätigen Gesetzgeber keineswegs hilflos“; das Spektrum seiner Möglichkeiten reiche von der bloßen Feststellung eines Verfassungsverstoßes über die Setzung einer Frist, innerhalb derer eine verfassungsgemäße Gesetzgebung zu erfolgen hat, bis zum unmittelbaren richterlichen Ausspruch des durch die Verfassung Gebotenen.125 Die letztgenannte Alternative hat das BVerfG im Wege „freiwilliger Selbstbeschränkung“ aus der Hand gegeben. Selbst bei evidenten Verfassungsverstößen des Gesetzgebers hat es „wegen des gesetzgeberischen Gestaltungsermessens“ keine Befugnis, „aufgrund eigener Einschätzungen und Wertungen gestaltend selbst einen bestimmten Leistungsbetrag festzusetzen“.126 Dafür hat es das Instrument der Fristsetzung zur Neuregelung durchaus kreativ weiterentwickelt: Dem Gesetzgeber wird für die Neufassung der Regelsätze nach dem SGB II nicht nur eine Frist bis zum 31.12.2010 gesetzt;127 sollte der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Neuregelung nicht fristgerecht nachgekommen sein, wäre ein „pflichtwidrig später erlassenes Gesetz“ rückwirkend schon zum 1. Januar 2011 in Kraft zu setzen.128 Dieses Instrumentarium dient dem Grundrechtsschutz durchaus. Setzt der Gesetzgeber den verfassungsgerichtlichen Auftrag verspätet um, wird die hieraus entstehende Lücke nachträglich rückwirkend geschlossen. Seine Grenzen wurden indes schon unmittelbar bei der Umsetzung des Urteils vom 09.02.2010 deutlich. 124 125 126 127 128

BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 138. Alexy (Fn. 6), S. 467 f. BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 212. BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 216. BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 218.

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Nachdem der Bundesrat dem Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 26.10. 2010 zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch129 seine Zustimmung verweigert hatte,130 konnte dieser nicht mehr bis zum 31.12.2010 umgesetzt werden. Schlussendlich wurde das Gesetz dann nach Anrufung des Vermittlungsausschusses erst am 25.02.2011 beschlossen131 und am 29.03.2011 im Bundesgesetzblatt verkündet.132 Das Gesetz sieht als Leistungen zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums133 nicht nur höhere Regelleistungen vor,134 sondern zusätzlich Leistungen für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.135 Das Beispiel macht eine Schwäche der Konzeption des BVerfG deutlich: Die rückwirkende Inkraftsetzung der Neuregelung greift nicht, wenn die in der Neuregelung vorgesehenen Leistungen rückwirkend gar nicht nachgeholt werden können. Schulausflüge und die gemeinschaftliche Mittagsverpflegung etwa lassen sich nicht im März 2011 nachträglich mit Wirkung für die Monate Januar und Februar 2011 nachholen. Genau besehen verhält es sich auch bei den Regelbedarfsleistungen (Arbeitslosengeld II) nicht anders. Sie können zwar rein abwicklungstechnisch rückwirkend nachgezahlt werden. Rechtlich genügt dies zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aber nicht; denn der elementare Lebensbedarf eines Menschen kann grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt werden, in dem er entsteht.136 Auch darüber hinaus mag man mit Fug und Recht bezweifeln, ob das BVerfG auf Dauer den (subsidiären) Anspruch auf eigene Festsetzung des Leistungsanspruchs aufgeben kann. Dies zeigen schon die Umstände um die dem Gesetzgeber aufgegebene Neuregelung der Regelsätze nach dem SGB II oder des Bundeswahlrechts.137 Erzwingen kann das BVerfG eine Neuregelung nicht. Wenn der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Neuregelung dauerhaft oder über einen übermäßig langen Zeitraum nicht nachkommt, bliebe dies sanktionslos. Es wäre deshalb 129

BT-Drucks. 17/3404, S. 1 ff. BR-Drucks. 789/10. 131 BR-Drucks. 109/11. 132 BGBl. I S. 453. 133 BT-Drucks. 17/3404, S. 42, 104. 134 § 20 Abs. 2 Satz 2 SGB II-E (BT-Drucks. 17/3404, S. 14). 135 Im Einzelnen sind dies Leistungen zur Deckung des Bedarfs für Schulausflüge und mehrtägige Klassenfahrten, für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf, für eine schulische Angebote ergänzende angemessene Lernförderung, für die Teilnahme an gemeinschaftlicher Mittagsverpflegung und zur Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft (§ 28 Abs. 2 bis 6 SGB II). 136 BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 140. 137 Vgl. dazu BVerfGE 121, 266. Zur Gefahr des Autoritätsverlusts des BVerfG infolge der auch hier nicht fristgerechte Umsetzung zum 30.06.2011 durch den Bundesgesetzgeber vgl. etwa FAS vom 19.06.2011, S. 1. 130

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nicht überraschend, wenn das Gericht zum ursprünglichen Konzept einer Art Notfallkompetenz in Fällen willkürlicher und nachhaltiger „Erfüllungsverweigerung“ des Gesetzgebers138 zurückkehren würde. Allerdings offenbart sich an dieser Stelle exakt das Dilemma, in dem das BVerfG mit der Anerkennung verfassungsunmittelbarer Leistungsrechte steckt. Ein justitiables Konzept verlangt – als ultima ratio – eine Befugnis des BVerfG zur „Ersatzvornahme“ bei dauerhaft pflichtwidrigem Untätigbleiben des Gesetzgebers; andernfalls bliebe der Ausspruch des Gerichts, der Gesetzgeber habe die Verfassung verletzt, ein zahnloser Tiger. Andererseits fehlen dem BVerfG auch in solchen Fällen die rechtlichen Maßstäbe, eben weil sich der Umfang des Leistungsanspruchs aus der Verfassung nicht ableiten lässt. Die einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG erscheint noch als der beste aller schlechten Wege139: Sie würde die Rechte der betroffenen Grundrechtsträger auch in der Zwischenzeit wahren; da die einstweilige Anordnung auf einer Interessenabwägung beruht, würde sie nicht den Anspruch erheben, den Umfang des Leistungsanspruchs verbindlich abschließend festzulegen und so die Entscheidungsbefugnis des Gesetzgebers so weit wahren, wie dies in einer solchen Situation noch möglich ist.

VI. Zusammenfassung Die ersten Bewertungen des Urteils des BVerfG vom 09.02.2010 konnten unterschiedlicher nicht sein: Während die einen von einer „neuen Grundrechtskreation“ sprachen,140 meinten andere Autoren, dieses Grundrecht sei schon seit 1954 fester Bestandteil der Grundrechtsdogmatik141. Beide Bewertungen treffen nicht den eigentlichen Kern. Das eigentlich Neue des Urteils ist die dogmatische Konzeption des „Gewährleistungsrechts“.142 Es erweist sich bei näherem Hinsehen als gelungener Kompromiss zwischen den Befürwortern und Gegnern originärer grundrechtlicher Leistungsansprüche. Der Sache nach handelt es sich um einen – dem verwaltungsrechtlichen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung verwandten – Anspruch auf gesetzgeberisches Tätigwerden dem Grunde nach, der einerseits (in diesem Umfang) justitiabel ist, andererseits den notwendigen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers respektiert. Dies führt hinsichtlich der verfassungsgerichtlichen Kontrolle zur Implementierung einer Art Ermessensfehlerlehre in das Gesetzgebungsverfahren, welche die Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers verfahrensrechtlich diszipliniert. Die Effektivität dieser Kon-

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BVerfGE 1, 97 (105). Diesen Weg hat das Gericht für die sog. Sonderbedarfe beschritten: BVerfG (Fn. 1), Abs.-Nr. 220. 140 Kingreen (Fn. 63), 558 (bei Fn. 4); a. A. Rixen (Fn. 77), 240; Schulz (Fn. 4), 201. 141 Ruland, JuS 2010, 844 (848). 142 Rothkegel (Fn. 62), 135 (140); ebenso Rixen (Fn. 77), 240 (nach Fn. 4). 139

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trolle durch das BVerfG wurde freilich schon durch das Gesetzgebungsverfahren zur Neuregelung der Regelbedarfe nach dem SGB II an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gebracht. Insoweit müssen neue Entscheidungen des BVerfG und die wissenschaftliche Diskussion an einer Fortentwicklung der neuen Grundrechtsdimension mitwirken.

Konkurrenzschutz durch Grundrechte Von Reiner Schmidt I. Einleitung Im imposanten Lebenswerk von Klaus Stern spielen die Grundrechte eine herausragende Rolle. Dies wird nicht zuletzt durch den Umfang ihrer Behandlung im Gesamtwerk dokumentiert. Allein die allgemeinen Grundrechtslehren werden in zwei voluminösen Teilbänden, zusammen mehr als 4.600 Seiten lang, behandelt.1 Darüber hinaus erschien im Jahr 2010 ein von Klaus Stern und Florian Becker herausgegebener Grundrechte-Kommentar2, der sich insbesondere durch die Einbeziehung europäischen Rechts auszeichnet. Nimmt man beispielsweise ein wesentliches Element unserer Wirtschaftsordnung, das Konkurrenzprinzip und dessen rechtliche Absicherung in den Blick und versucht hierbei, die allzu verfeinerte Rechtsprechung zur Konkurrentenklage aus esoterischen Höhen auf ihre Grundlagen zurückzuführen, dann wird der Rückgriff auf das Werk von Klaus Stern unausweichlich. Diese Grundlagen sollen im Folgenden näher untersucht werden. Zu Recht wird bei Stern die Wettbewerbsfreiheit unter Heranziehung volkswirtschaftlichen Schrifttums als zentraler Bestandteil der wirtschaftlichen Freiheit herausgestellt, obwohl sie im Grundgesetz im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung nicht ausdrücklich erwähnt wird. Stern bezieht selbstverständlich die unterschiedliche Schwerpunktsetzung des Bundesverfassungsgerichts (Verankerung der Wettbewerbsfreiheit in Art. 12 GG), des Bundesverwaltungsgerichts (Betonung des Art. 2 Abs. 1 GG) und das Schrifttum mit ein. Die Betrachtung verliert sich aber nicht in den Verästelungen überzogener Dogmatik, sondern stellt auf das Grundprinzip ab. Sie betont, dass Wettbewerb nur eine Chance, aber keinen Anspruch auf Erfolg gibt und benennt als Elemente der Wettbewerbsfreiheit ausdrücklich die freie Teilnahme am Markt und die freie Gestaltung von Verträgen. Zugleich wird klargestellt, dass Art. 2 Abs. 1 GG nicht vor Konkurrenz schützt.3 1 K. Stern in Verbindung mit M. Sachs und J. Dietlein, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, 2422 S. und Bd. IV/2, 2011, 2235 S. 2 K. Stern/F. Becker, Grundrechte-Kommentar, 2010. 3 K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. IV/1, 2006, S. 906 f.

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II. Wettbewerb, Konkurrenz und Grundrechte Chancengleichheit ist nicht nur ein Gebot des Freiheitsschutzes, sondern Voraussetzung eines unverfälschten Wettbewerbs, was insbesondere im Gemeinschaftsrecht betont wird. Wettbewerb zwischen den Wirtschaftssubjekten kann ohne ein Mindestmaß an Chancengleichheit nicht funktionieren.4 Jedes Verhalten, das maßgeblich von Erwerbsmotiven geprägt ist und nicht bereits durch eigentumsrechtliche Verfestigungen oder durch Merkmale des Berufs erfasst wird, ist zur allgemeinen wirtschaftlichen Handlungsfreiheit zu rechnen.5 Das Grundgesetz hat sich nicht auf eine bestimmte Wirtschaftsverfassung festgelegt. Die Grundrechte können und müssen aber in einem Wirkungs- und Ordnungszusammenhang gesehen werden, aus dem sich eine Funktionsgarantie für dezentrales Wirtschaften ergibt. Die verfassungsrechtlichen Garantien des Privateigentums und seiner Nutzbarkeit (Art. 14 GG), die mit Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Berufs-, Gewerbe- und Unternehmensfreiheiten und die Möglichkeit, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen, vor allem aber die durch Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Vertragsfreiheit sowie die grundrechtliche Garantie der Wettbewerbsfreiheit zeigen, dass das Grundgesetz gegenüber der Wirtschaft keineswegs neutral ist, sondern sich für eine grundsätzlich staatsfreie Wirtschaft entschieden hat.6 Das bedeutet allerdings nicht, dass Wirtschaftsregelungen des Staates im prinzipiellen Gegensatz zur freien Wirtschaft stehen, es handelt sich vielmehr um Komplementärattribute. 7 Die Erneuerungskraft einer Gesellschaft hängt nicht unwesentlich von der rechtlichen Gestaltung des freiheitlichen Wettbewerbs ab. Es kommt darauf an, wie dieser in das Gesamtgefüge des Verfassungsstaats eingebunden wird. „Der Rechtsstaat vergibt Rechte und Leistungen nach Bedarf und Berechtigung, nicht nach höchstem Entgeltgebot.“8 Wettbewerb bedarf eines festen und verlässlichen rechtlichen Rahmens. Er ist auf den Staat und dessen Gesetzgeber angewiesen. Dieser gerät in einem weltoffenen Markt, in dem Wettbewerber grenzüberschreitend agieren, an die Grenzen seiner Gestaltungsmacht.9 Der Verfassungsstaat be4 EuGH, Urt. v. 13.12.1991, Slg. 1991, I-5941 (5981) – RTT/GB-Inno-BM; EuGH, Urt. v. 20.10.2005, NJW 2006, 37 (39), Rn. 39; näheres bei M. Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, Jus Publicum, Bd. 176, 2008, S. 403 m.w. N. 5 So U. Di Fabio, in: Maunz/Dürig/Herzog, GG-Kommentar, 2001, Art. 2 Abs. 1 Rn. 81. 6 Vgl. statt vieler Reiner Schmidt, Die staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), HStR, Bd. IV, 3. Aufl., 2006, S. 895 Rn. 22. 7 So Di Fabio (Fn. 5), Rn. 78. 8 So P. Kirchhof, Freiheitlicher Wettbewerb und staatliche Kultur des Maßes, in: Festschrift Reiner Schmidt, 2006, S. 280. 9 So Kirchhof (Fn. 8), S. 280; vgl. auch Reiner Schmidt, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, VVDStRL 36 (1978), S. 65 ff.

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ruht auf der Wahrnehmung des Wettbewerbs durch einen freiheitsbewussten und leitungsfreudigen Bürger oder wie dies P. Kirchhof formuliert hat: „Die Kraft des Staates zur Gewährleistung eines lauteren Wettbewerbs hängt deshalb auch davon ab, dass die Bürger nicht ausschließlich oder überwiegend für den Erwerb leben und sich nicht allein im Erwerbserfolg definieren, sie vielmehr auch und vor allem die anderen Lebensbereiche . . . erfahren.“ 10 Die Verantwortlichkeit des Staates für den Wettbewerb verlange nach einer Unterscheidung zwischen wettbewerblich wahrzunehmender Freiheit und der Verantwortlichkeit für die Freiheit anderer. Im Grundsatz ist die Staatsfreiheit der Wirtschaft geboten. Das Maß der zulässigen Ausnahmen darf nicht die freie Wirtschaft als Institution erdrücken. Andererseits dürfen staatliche Interventionen nicht nur als Grundrechtsbeschränkungen, sondern sie müssen auch als Grundrechtsausgestaltung und Voraussetzung für die Grundrechtsverwirklichung angesehen werden. Das Primat kommt der Freiheit zu. Die Intervention ist die rechtfertigungsbedürftige Ausnahme und bedarf der Legitimation. Die Freiheit des Wettbewerbs ist durch Art. 12 GG und 14 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG nicht nur als Abwehrrecht geschützt, sondern11 Wirtschaftsfreiheit und Wettbewerb sind für eine freiheitliche Verfassungsordnung so unverzichtbar wie die Meinungs- oder die Wahlfreiheit. Dass Wirtschaftsfreiheit nicht nur individuelle Grundrechtsgewährleistung, sondern auch Verfassungsvoraussetzung ist, wird heute zu Recht, auch und gerade wegen des Aussterbens der großen Ideologien des 20. Jahrhunderts betont. Für die Wettbewerbsfreiheit bedeutet dies, dass Eingriffe in den Wettbewerb als Institution deutlicher als individuelle Freiheitsrechte erkennbar werden, dass bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung dem Gesetzgeber keine unbegrenzte wirtschaftspolitische Gestaltungsfreiheit zugestanden werden darf und dass die verfassungsrechtliche Rechtsprechung in Zukunft deutlicher als bisher die Wirkkraft des Wettbewerbsprinzips erkennen muss.12 III. Schutz vor privater Konkurrenz „Art. 2 Abs. 1 GG schützt nicht vor Konkurrenz. Dies gilt unbestritten für Konkurrenz von privater Seite.“13 In ihrer Funktion als Eingriffsabwehrrechte sichern Grundrechte bestimmte Lebensbereiche und die mit ihnen zusammenhängenden Interessen nur gegenüber rechtswidrigen Eingriffen des Staates, d. h. also gegenüber Grundrechtsverletzungen.14 Aus der Wettbewerbsfreiheit lässt sich 10

Kirchhof (Fn. 8), S. 281. Vgl. C.-W. Canaris, Verfassungs- und europarechtliche Aspekte der Vertragsfreiheit in der Privatrechtsgesellschaft, in: Festschrift Lerche, 1993, S. 879 f. 12 Ähnlich auch Di Fabio (Fn. 5), Rn. 84. 13 So Stern (Fn. 3), S. 907. 14 Zum Ganzen P.-M. Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, Jus Publicum, Bd. 1, 1991, passim. 11

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kein Recht auf Abwehr gegen unliebsame Konkurrenz herleiten.15 Die Situation ändert sich aber grundsätzlich, wenn der Staat den privaten Konkurrenten etwa durch Subventionen oder anderweitig begünstigt. In diesen Fällen kann sich ein Abwehranspruch des nicht begünstigten Konkurrenten ergeben, der weder materiell-rechtlich von der Handlungsform der Verwaltung noch etwa vom Subventionsbegriff, sondern ausschließlich von der Rechtsstellung des betroffenen Konkurrenten abhängt. Wird der Mitbewerber in seinen subjektiven Rechten verletzt, so steht ihm ein Anspruch auf Aufhebung der Subventionsgewährung zu, auch und gerade wenn die Verletzung in der Begünstigung eines anderen liegt.16 Anders gelagert ist das dem Gesetzgeber im Zusammenhang der Berufsfreiheit zugestandene Recht, Berufsbilder zu fixieren. Das soziale Prestige eines Berufs, das mit der Beschränkung der Zahl seiner Angehörigen verbunden ist, wird vom Bundesverfassungsgericht jedenfalls nicht zur Rechtfertigung einer objektiven Zulassungsschranke im Sinne von Art. 12 Abs. 1 GG anerkannt.17 Auch bereits im Beruf tätigen Personen wird kein Konkurrenzschutz eingeräumt. Der Bestand und die Funktionsfähigkeit öffentlicher Einrichtungen, die zu den „überragend wichtigen Gemeinschaftsgütern“ zählen, werden jedoch geschützt.18 Eine grundsätzlichere Frage ist, ab welchem Punkt der Staat verpflichtet ist, die Privatautonomie und damit das Konkurrenzprinzip zu begrenzen, auch um den Einzelnen vor sich selbst zu schützen. In mehreren Fällen hat das Bundesverfassungsgericht eine staatliche Verpflichtung zur Korrektur von Verträgen angenommen, die nach seiner Ansicht unter einem strukturellem Kräfteungleichgewicht zustande gekommen sind.19 Deutlich wird hierbei nicht, ob sich die Schutzpflicht des Gerichts gegen die Vertragsmacht des überlegenen Vertragspartners oder gegen die eigene unvernünftige Vertragsentscheidung des schwächeren Vertragsteils richtet.20 Die Argumentation, die letztlich auf eine Annullierung von frei ausgehandelten Verträgen hinausläuft, ist bedenklich, weil die Privatautonomie im Wesentlichen von der Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen lebt. Ein Schutzpflichtgewährleistungsgehalt der Privatautonomie kann nur in exzeptionellen Fällen, in denen etwa ein Vertragspartner getäuscht wurde, in Betracht kommen.21

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Vgl. BVerfGE 24, 236 (251); 34, 252 (256); BVerwGE 10, 122 (123). Vgl. Huber (Fn. 14), S. 375 f. 17 BVerfGE 7, 377 (408). 18 Vgl. R. Breuer, Berufsregelung und Wirtschaftslenkung, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 3. Aufl., 2010, S. 230 Rn. 74. 19 Vgl. BVerfGE 89, 214 (232). 20 Vgl. M. Cornils, Allgemeine Handlungsfreiheit, in: Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrecht, Bd. VII, 3. Aufl., 2009, S. 1172 Rn. 25. 21 Vgl. Stern (Fn. 3), S. 905. 16

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Klaus Stern hat die durch diese Rechtsprechung sanktionierten Eingriffe in die Privatautonomie deutlich kritisiert und vor einer Bevormundung durch den Staat gewarnt. Tendenzielle Verallgemeinerungen wie „strukturelle Unterlegenheit“ oder „strukturelle Störung der Vertragsparität“ 22 seien geeignet, die Vertragsfreiheit auszuhebeln. Die Argumentation des Gerichts müsse deshalb auf die Fälle beschränkt werden, die nicht mit Hilfe des Privatrechts gelöst werden könnten.23 IV. Schutz vor Konkurrenz der öffentlichen Hand „Art. 2 Abs. 1 GG schützt nicht vor Konkurrenz. Dies gilt unbestritten für Konkurrenz von privater Seite, gilt aber grundsätzlich auch gegenüber der Wirtschaftstätigkeit der öffentlichen Hand“24. Hier ist man versucht, Stern gegen Stern in Stellung zu bringen. Die Freiheit, die durch Art. 2 Abs. 1 GG umfassend garantiert wird, meint grundsätzlich Beliebigkeit im Sinne von Willkür und damit „negative Freiheit“.25 Akzeptiert man diesen Ausgangspunkt, dann stellt jede Beschränkung der Beliebigkeit einen Freiheitseingriff dar. Nicht die Modalität staatlichen Handelns, sondern der grundrechtswidrige Effekt wird maßgeblich.26 Ein grundrechtsrelevanter Eingriff kann eben nicht nur als Schutzbereichsverkürzung verstanden, er kann nur von seinen Auswirkungen her begriffen werden. Die formalen Kriterien klassischen Grundrechtseingriffs sind nicht ausschlaggebend.27 Nicht erst ein Verdrängungswettbewerb durch die öffentliche Hand wird grundrechtsrelevant, vielmehr ist dies jeder Behinderungswettbewerb, soweit er in die Wettbewerbsfreiheit Einzelner eingreift. Fraglich ist nur, wo die Eingriffsschwelle liegt. Kann man wirklich aus dem Freiheitscharakter der Grundrechte heraus zunächst eine niedrige Eingriffsschwelle annehmen, um dann im Einzelfall die Rechtfertigung des Eingriffs am konkreten Fall zu überprüfen? Damit wird die unterschiedliche Intensität der Grundrechtseingriffe und der Grundrechtsrelevanz akzeptiert und letztlich für staatliche Konkurrenz die Eingriffsdogmatik etwa der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG angewendet. Man unterscheidet beispielsweise zwischen drei Fallgruppen, der Wettbewerbsteilnahme der öffentlichen Hand, die spürbare grundrechtsrelevante Auswirkungen auf die Wettbewerbsteilnahme Privater hat, deren Eingriffsintensität aber nicht zu erheblichen Behinderungen führt, zum zweiten der Gruppe, in der der private Wettbewerber erheblich in seiner Wettbewerbsteil22

C.-W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 47 ff. Stern (Fn. 3), S. 905; Di Fabio (Fn. 5), Art. 2 Abs. 1 Rn. 115. 24 Stern (Fn. 3), S. 907. 25 Vgl. K. Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 628. 26 So schon H.-U. Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, 1970, S. 25. 27 So zutreffend S. Storr (unter Berufung auf J. Ipsen), Der Staat als Unternehmer, JuS Publicum, Bd. 78, 2001, S. 169. 23

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nahme behindert, wenn auch noch nicht vom Markt verdrängt wird, und schließlich der Monopolisierung bzw. dem Verdrängungswettbewerb.28 Konsequenter ist es, von einem generellen Ausschluss der Erwerbswirtschaftlichkeit des Staates auszugehen. Eine Betätigung des Staates nur wegen des Erwerbszwecks ist verfassungsrechtlich unzulässig.29 Freier Wettbewerb heißt, dass der Einzelne seine Freiheit gegen die Freiheit anderer durchzusetzen versucht. Oder anders: Das Entdeckungsverfahren des Marktes kann nur als Verhalten des Einzelnen in Freiheit verstanden werden. Wettbewerb ist Ausdruck privater Autonomie, ist Wettbewerb unter Privaten. Tritt der Staat als Marktteilnehmer auf, dann ist dies Intervention und wird damit rechtfertigungsbedürftig. Als Rechtfertigung kommt nicht der reine Erwerbszweck in Betracht, sondern nur ein Gemeinwohlbezug, der näher zu konkretisieren ist. Deshalb stehen dem privat Wirtschaftenden gegen staatliche Marktteilnahme grundrechtliche Abwehransprüche zu. Dies wird verkannt, wenn die kommunalen Vorschriften, welche die wirtschaftliche Betätigung der Gemeinden einzuschränken versuchen, als nicht drittschützend verstanden werden. Die Diskussion um die staatliche oder kommunale Eigenbetätigung leidet darunter, dass sie vielfach die Grundproblematik ausblendet.30 Sie besteht darin, dass der Staat dann, wenn er eine öffentliche Funktion übernimmt, verfassungsgebunden oder konkreter grundrechtsverpflichtet ist. Von der herkömmlichen Eingriffsdogmatik wird dies nicht gesehen. Die Beeinflussung des Wettbewerbers besteht eben nicht in einem direkten Eingriff des Staates durch die Teilnahme am Wettbewerb, sondern darin, dass das Ergebnis des Wirtschaftens durch die Teilnahme eines weiteren, staatlichen Wettbewerbers mitbestimmt wird. Ähnlich wie bei staatlichen Warnungen und Empfehlungen grundsätzlich auf eine „Erfolgsbeeinträchtigung“ abgestellt wird, muss bei der Wettbewerbsteilnahme der öffentlichen Hand die grundrechtliche Dimension des Vorgangs berücksichtigt werden.31 Eine moderne, an materiellen Schutzzielen ausgerichtete Arrondierung des Grundrechtsschutzes nimmt deshalb an, dass die „öffentliche Konkurrenzwirtschaft“ eine faktische Grundrechtsbeeinträchtigung darstellt und deshalb der rechts- und sozialstaatlichen Rechtfertigung bedarf.32 Der Ertrag der auch nach Auffassung von R. Breuer gewichtigen und überzeugenden Gründe „für eine 28

So etwa Storr (Fn. 27), S. 178 f. Vgl. E. Löwer, Der Staat als Wirtschaftssubjekt und Auftraggeber, VVDStRL 60 (2001), S. 418. 30 Grundsätzlicher z. B. U. Hösch, Öffentlicher Zweck und wirtschaftliche Betätigung von Kommunen, DÖV 2000, S, 393 ff. 31 Ähnlich der Diskussionsbeitrag von T. Koch, in: VVDStRL 60 (2001), S. 608 f. 32 So zutreffend R. Breuer, Berufsregelung und Wirtschaftslenkung, in: Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, 3. Aufl., 2010, Bd. VIII, S. 239 Rn. 84. 29

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grundrechtliche Restriktion der ,öffentlichen Konkurrenzwirtschaft‘ ist jedoch gering geblieben“.33 Aus der allgemeinen, seit dem Jahr 1970 langsam ins juristische Bewusstsein dringenden Erkenntnis über faktische Beeinträchtigungen der Grundrechte34 wurden gegenüber der öffentlichen Konkurrenzwirtschaft in der Bundesrepublik bisher kaum Konsequenzen gezogen. Es wird noch darzustellen sein, dass das europäische Wettbewerbsrecht in diesem Punkt konzeptionell überzeugender ist. V. Konkurrenzfreiheit und Eingriffsdogmatik Ob die vornehmlich durch Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Freiheit, sich unbeeinträchtigt im Wettbewerb zu bewegen, eingeschränkt ist, entscheidet sich letztlich danach, wie die Eingriffsdogmatik in diesem Bereich verstanden wird. Jedenfalls wird man sich nicht mit dem klassischen Eingriffsbegriff begnügen können.35 Bei den in Betracht kommenden Freiheitsrechten ist der Eingriff in den Abwehrbereich die häufigste Form der Beeinträchtigung, die dann anzunehmen ist, wenn eine generelle oder individuelle Regelung besteht, die „unmittelbar und gezielt (final) durch ein vom Staat verfügtes . . . Ge- oder Verbot, also imperativ zu einer Verkürzung grundrechtlicher Freiheit führt.“ 36 Wesentlich schwieriger sind aber die Fälle, bei denen es nicht um klassische Eingriffe, sondern um sonstige belastende Einwirkungen geht, weil der „Abwehrgehalt der Grundrechte auch bei faktischen und mittelbaren Beeinträchtigungen betroffen sein kann.“ 37 Diese sonstigen Eingriffe, d. h. Einwirkungen faktischer oder mittelbarer Art, sollen nur dann eine Grundrechtsbeeinträchtigung darstellen, wenn sie „in der Zielsetzung und ihren Wirkungen klassischen Eingriffen gleichkommen.“ 38 Es ist also festzustellen, wann die Eingriffsschwelle überschritten ist. Aus der bisherigen Diskussion ist die allgemeine Erkenntnis gewonnen, dass es nicht auf die Hoheitlichkeit eines Eingriffs ankommt, weil, wie das Beispiel der öffentlichen Unternehmen zeigt, die öffentliche Hand auch auf der Ebene des Privatrechts handeln kann. Auch kommt es nicht auf das Erfordernis eines formalen Rechtsakts an, denn Herrschaft kann kraft Verwaltungsmacht ausgeübt werden. Längst ist auch nicht mehr das Kriterium der Unmittelbarkeit im Rahmen der erweiterten Eingriffsdogmatik der Wettbewerbsfreiheit maßgebend, wie die Fallgruppen der Subventionierung von Konkurrenten und der Warnung vor be33 34 35 36 37 38

So zu Recht Breuer (Fn. 32), Rn. 85. Vgl. schon die Monographie von Gallwas (Fn. 26). BVerfGE 105, 279 (303); 116, 202 (222). BVerfGE 105, 279 (299 f.). BVerfGE 116, 202 (222); 105, 279 (303); 110, 177 (191). BVerfGE 116, 202 (222); 105, 252 (273); 110, 177 (191).

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stimmten Produkten zeigen. Abgestellt hierbei wird auf einen bestimmten Erfolg, sei es, dass dieser mittelbar oder unmittelbar herbeigeführt wird. Angesichts dieses erweiterten Eingriffsbegriffs spielt das Kriterium der Finalität eine wichtige Rolle. Grundrechtsrelevanz soll dann gegeben sein, wenn der Staat „zielgerichtet gewisse Rahmenbedingungen verändert, um zu Lasten bestimmter Unternehmen einen im öffentlichen Interesse erwünschten Erfolg“ herbeizuführen.39 Gefahren, die mit der Finalisierung im modernen Regulierungsverwaltungsrechts und demzufolge mit der Gestaltung des Wettbewerbsrechts verbunden sind, dürfen allerdings nicht übersehen werden. Die Herstellung eines gemeinwohlpflichtigen Wettbewerbs, der auf die Lösung der Konflikte zwischen sozialen, ökonomischen, ökologischen, technischen und territorialen Ziele angelegt ist, musste zwangsläufig zu Unsicherheiten in Bezug auf die der Verwaltung einzuräumenden Freiräume führen. Die Warnungen vor einer regulierungspolitischen Hyperfinalisierung sind deshalb durchaus berechtigt.40 Entscheidend ist, wie in der erweiterten Eingriffsdogmatik mit dem Kriterium der Intensität umgegangen wird. Eine gewisse Eingriffstiefe muss angenommen werden; man mag diese mit Begriffen wie „unzumutbar“, „unerträglich“, „spürbar“, „nachhaltig“, „schwerwiegend“ etc. bezeichnen. Die richtige Eingriffsschwelle wird zu finden sein, wenn man nicht auf überkommene Grundrechtstheorien wie beispielsweise im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 GG auf die „Drei-Stufen-Theorie“ zurückgreift, weil diese ein zu grobes Raster ist, sondern wenn man auf die Gestaltung des jeweiligen Marktes abstellt, d. h. indem man beispielsweise untersucht, ob dieser oligopolistisch oder monopolistisch ausgerichtet ist. Es kommt demnach auf die Sensibilität der Wettbewerbssituation an. Eine auf den ersten Blick unbedeutend wirkende Beteiligung eines öffentlichen Unternehmens am Wettbewerb kann durchaus geeignet sein, ein vorhandenes Gleichgewicht zu stören.41 VI. Schutz des Wettbewerbs durch Grundrechte Die bisherigen Ausführungen setzten beim grundrechtlichen Schutz der Konkurrenz genauer des Konkurrenzprinzips, also vornehmlich bei Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 12 GG an. Einen grundrechtlichen Schutz des Wettbewerbs als solchen sucht man im Grundgesetz vergeblich. Ob und wie sich die Konstituierung des Wettbewerbsprinzips im EUV und im AEUV auf die Grundrechtssituation in der Bundesrepublik auswirkt, ist deshalb besonderer Überlegungen wert. Zunächst aber: Wettbewerb bedarf rechtlicher Regelungen und ihrer Durchsetzung. 39

BVerwGE 71, 181 (193 f.). Vgl. J. Kersten, Herstellung von Wettbewerb als Verwaltungsaufgabe, VVDStRL 69 (2010), S. 323. 41 Vgl. zum Ganzen Storr (Fn. 27), S. 167 ff.; s. auch Reiner Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Allgemeiner Teil, 1990, S. 526. 40

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Zentraler Bestandteil neoliberaler Wettbewerbstheorie ist die Aufrechterhaltung einer strengen Ordnung.42 Wettbewerb ist ein ergebnisoffenes, rechtlich geregeltes Verfahren, bei dem unabhängige Akteure im Einsatz für die Ziele des jeweiligen Wettbewerbs untereinander vergleichbare Leistungen erbringen.43 Wettbewerb in diesem Sinne findet sich im deutschen Recht nur als einfaches Bundesrecht.44 Voraussetzung ist unter anderem eine dezentrale Eigentumsordnung. Inwieweit sich unternehmerische Freiheit im Rahmen der einschlägigen Grundrechte entwickeln kann, bestimmt sich nach den Möglichkeiten Grundrechte einzuschränken bzw. danach wie das Kriterium der Verhältnismäßigkeit als „Schranken-Schranke“45 gehandhabt wird. Beherzigenswertes zum Verhältnis der Grundrechte zum Wettbewerb findet sich in einer neueren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: „In der bestehenden Wirtschaftsordnung schützt das Freiheitsrecht des Art. 12 Abs. 1 GG das berufsbezogene Verhalten einzelner Personen oder Unternehmen am Markt (vgl. BVerfGE 105, 252 (265 ff.); 106, 275 (298 f.)). Erfolgt die unternehmerische Berufstätigkeit am Markt nach den Grundsätzen des Wettbewerbs, wird die Reichweite des Freiheitsschutzes auch durch die rechtlichen Regeln mitbestimmt, die den Wettbewerb ermöglichen und begrenzen. Art. 12 Abs. 1 GG sichert in diesem Rahmen die Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen (vgl. BVerfGE 105, 252 (265); 115, 205 (229)). Dagegen umfasst das Grundrecht keinen Anspruch auf Erfolg im Wettbewerb und auf Sicherung künftiger Erwerbsmöglichkeiten (vgl. BVerfGE 24, 236 (251); 34, 252 (256)). Vielmehr unterliegen die Wettbewerbsposition und damit auch der Umsatz und die Erträge dem Risiko laufender Veränderung je nach den Marktverhältnissen. Bei der Vergabe eines öffentlichen Auftrags beeinflusst die handelnde staatliche Stelle den Wettbewerb nicht von außen, sondern wird selbst auf der Nachfrageseite wettbewerblich tätig und eröffnet so einen Vergabewettbewerb zwischen den potentiellen Anbietern . . . Soweit der Staat sich als Nachfrager am Markt der Mittel des Wettbewerbs bedient, hat grundsätzlich auch er die allgemein geltenden Regeln zu beachten, die Wettbewerb ermöglichen und begrenzen, insbesondere solche, die den Missbrauch wirtschaftlicher Macht entgegenwirken.“46

Das EU-Wettbewerbsrecht folgt der liberalen wirtschaftspolitischen Philosophie eines Franz Böhm. Zum Wohl der Wirtschaft und vor allem auch des Ver-

42 So schon die Klassiker F. Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1950, S. 27 f. und W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik (1950), 6. Aufl., 1990, S. 291 f.; zum Neoliberalismus s. Reiner Schmidt, Neoliberalismus als Königsweg, in: Kluth/Müller/Peilert (Hrsg.), Wirtschaft-Verwaltung-Recht, Festschrift für Rolf Stober, 2008, S. 19 ff. 43 So auch K. M. Meessen, Prinzip Wettbewerb, JZ 2009, S. 697 (701). 44 Im Recht der Welthandelsorganisation (WTO), das deutschem Recht vorgeht, sind wesentliche Elemente zum Schutz des Wettbewerbs enthalten. Näheres bei T. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl., 2009, S. 724 f. 45 Ähnlich Meessen (Fn. 43), S. 702. 46 BVerfGE 116, 135 (151 f.).

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brauchers soll ein unverfälschter, d. h. von privaten und öffentlichen Einschränkungen und Machtkonzentrationen möglichst befreiter Wettbewerb konstituiert werden. Die Gewährleistung von individueller und unternehmerischer Freiheit, institutionelle Gesichtspunkte, wie die Sicherung ökonomischer Effizienz im Sinne bestmöglicher Ressourcenallokation einerseits und andererseits die Erkenntnis, dass das für die Steuerung von Wirtschaftsprozessen erforderliche Wissen kaum zentral vorgehalten werden kann, gehen so eine sachgerechte Verbindung ein. Dieses ordnungspolitische Konzept wurde in den letzten Jahren allerdings immer wieder modifiziert, insbesondere wurde der Gedanke eines „more economic approach“ stärker betont. Danach werden die Instrumente des Wettbewerbsrechts mit Hilfe von ökonomischen Modellüberlegungen zielgenauer eingesetzt. Es soll darauf ankommen, inwieweit technischer Fortschritt und Verbraucherwohlfahrt gefördert werden können oder anders: die Wirkungen sind ausschlaggebender als das Verhalten. Die freiheitssichernde Aufgabe einer Wettbewerbsordnung gerät so in die Gefahr hinter die Funktion des Wettbewerbs als Sicherung bestimmter Allgemeinwohlbelange zurückzutreten. Bedenklich in diesem Zusammenhang ist, dass Art. 3 lit. g EGV entwertet wurde. Er enthielt den unbedingten Auftrag, ein System zu schaffen, das den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen schützt. Der in Art. 4 und 98 EGV hervorgehobene „Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ war auf diese Weise abgesichert worden. Diese rechtliche Konstellation wurde mit dem Vertrag von Lissabon geändert. Der Binnenmarkt gehört zwar, ergänzt um das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft weiterhin zu den grundlegenden Zielen der Union (Art. 3 EUV). Der mit dem Prinzip der Marktwirtschaft untrennbar verbundene Wettbewerb wurde auf Initiative Frankreichs in ein Zusatzprotokoll abgeschoben. In Verbindung mit dem Binnenmarkt findet sich aber die ausdrückliche Nennung der Wettbewerbsregeln in Art. 3 Abs. 1 b) AEUV; der Binnenmarkt mit den Wirtschaftsfreiheiten wird in Art. 26 Abs. 2 AEUV genannt. Der EU kommt in Zukunft weiterhin die Aufgabe zu, den freien Wirtschaftsverkehr im Binnenmarkt zu überwachen.47 VII. Das Konzept des Europäischen Wettbewerbsrechts Das Konzept des europäischen Wettbewerbsrechts bedarf einer näheren Betrachtung. Die einschlägigen Normen der Art. 101 ff. AEUV wollen einen freien und fairen Wettbewerb in der Union zwischen den privaten und öffentlichen Unternehmen erreichen. Dies soll durch eine abgestimmte Kontrolle zwischen EU und Mitgliedstaaten gewährleistet werden. Wichtige Instrumente sind das Kartell47 Vgl. zum Ganzen T. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 4. Aufl., 2009, S. 362 ff.

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verbot (Art. 101 ff. AEUV), das Verbot einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV) und die im Wesentlichen durch Sekundärrecht geschaffene Fusionskontrolle. Erfasst werden soll jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung.48 Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, keine Maßnahmen zu erlassen, die das Entstehen von Kartellen begünstigen. Entsprechendes gilt für private Verbände, die mit bereichsspezifischer Regulierungsmacht ausgestattet sind. Beeinträchtigt sein muss ein bestimmter konkreter Markt, der sich durch verschiedene handelbare Produkte (Waren, Dienstleistungen) auszeichnet, die untereinander austauschbar sind. Der Wettbewerb muss räumlich in der Union insgesamt, zumindest aber in wesentlichen Teilen eingeschränkt werden. Zentral ist das Kartellverbot des Art. 101 AEUV. Das grundsätzliche Verbot bestimmter Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmter Verhaltensweisen zwischen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, wird durch eine Typisierung konkretisiert. Verboten ist nur, die Verfälschung des Wettbewerbs auf relevanten Märkten „spürbar zu bewirken“. Sogenannte Bagatellkartelle fallen nicht unter das Verbot.49 Rechtsfolge eines Kartellverbots ist nach Art. 101 Abs. 2 AEUV die Nichtigkeit, die zivil- und öffentlich-rechtliche Nichtigkeit. Die zweite tragende Säule des europäischen Wettbewerbsrechts ist das Verbot der missbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung (Art. 102 AEUV), das ähnlich wie bei Art. 101 AEUV zu einem unmittelbar wirkenden Verbot führt. Die wettbewerbsrechtlich wichtigen Instrumente werden ergänzt durch eine Fusionskontrolle mit der verhindert werden soll, dass sich Monopole, Oligopole oder anderweitig marktbeherrschende Strukturen bilden, die geeignet sind, den Wettbewerb außer Kraft zu setzen.50 VIII. Daseinsvorsorge als Durchbrechung des Wettbewerbsprinzips? Am deutlichsten wird der ordnungspolitische Ansatz des EU-Rechts durch die grundsätzliche wettbewerbliche Gleichbehandlung öffentlicher und privater Unternehmen (Art. 106 AEUV). Zwar bleibt die Eigentumsordnung nach Art. 345 AEUV nationale Angelegenheit. Dies bedeutet aber nur, dass das Verhältnis zwischen öffentlichem und pri48

EuGHE 1995, I-637, verb. Rs. C-159 f./91 „Poucet“. Vgl. die „De-minimis-Bekanntmachung“ der Kommission, ABl. 2001, C 368/11. 50 VO Nr. 139/2004 des Rates v. 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 2004, L 24/1 ff. 49

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vatem Sektor der Wirtschaft in den Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt werden kann. Die wettbewerbsrechtlich grundsätzlich gleiche Behandlung ist ein wichtiges Beispiel dafür, wie unter Wahrung berechtigter Gemeinwohlinteressen nationale Reservate angeglichen, ja geschliffen wurden.51 Ein deutsches Modell der Daseinsvorsorge ist nicht mehr zu erkennen. Zwar spricht die Kommission von einer Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten, die Leistungen der Daseinsvorsorge festzulegen. Es handelt sich aber um einen gemeinschaftsrechtlichen Begriff, dessen Grenzen der EuGH deutlich markiert. Weiter noch geht die Kommission, wenn sie inhaltliche Anforderungen stellt, indem sie Qualität, Dauerhaftigkeit und Gleichbehandlung solcher allgemeinen wirtschaftlichen Dienste einfordert. Gestützt auf die Ermächtigung des Art. 106 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Abs. 2 AEUV konnte eine beträchtliche gemeinschaftsweite Liberalisierungskraft entfaltet werden. Die Wettbewerbsregeln sollen als Allokationsmechanismus auch das Prinzip der Daseinsvorsorge optimieren.52 Für unsere Überlegungen ist entscheidend, wie sich das europäische Wettbewerbsrecht auf die Wettbewerbsfreiheit des Einzelnen auswirkt. Dies hängt primär davon ab, wie der Schutzzweck des europäischen Wettbewerbsrechts eingeschätzt wird. Ist dieser nur in der Konsumentenwohlfahrt und in einer effizienten Ressourcenallokation zu sehen oder geht es um ein ergebnisoffenes Entdeckungsverfahren im Sinne eines gestuften Gemeinwohlkonzepts? Auch weiterhin, auch nach den Veränderungen im Vertrag von Lissabon, kann davon ausgegangen werden, dass das europäische Wettbewerbsrecht unmittelbar den Wettbewerbsprozess als ergebnisoffenes Entdeckungsverfahren „mit der mittelbaren Erwartung bisher unbekannter sozialer, technischer und wirtschaftlicher Innovation verbindet“.53 Dieser Grundsatz würde durchbrochen, wenn ein Marktteilnehmer durch die Wahrnehmung seiner individuellen Wettbewerbsfreiheit Wettbewerb beeinträchtigen dürfte, ihn aber mit konkreten Effizienzvorteilen für das Gemeinwohl rechtfertigen könnte.54 Wenn die Rolle der Wettbewerber europarechtlich primär funktional über ihre institutionelle Leistung für das Wettbewerbssystem als solches bestimmt wird, dann ist die Wettbewerbsfreiheit keineswegs als grundrechtlicher Maßstab des Wettbewerbsrechts anerkannt. Jens Kersten55 hat deshalb Bedenken gegen den „more economic approach“ geäußert. Die unternehmerische Handlungsfreiheit der Wettbewerber würde nicht mehr voneinander abgegrenzt, vielmehr finde eine Einzelabwägung 51

So auch Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 44), S. 383. Zum Ganzen vgl. Reiner Schmidt, Die Liberalisierung der Daseinsvorsorge, Der Staat, Bd. 42 (2003), S. 225 ff. 53 So zutreffend Kersten (Fn. 40), S. 302. 54 Vgl. auch Kersten (Fn. 40), S. 302. 55 Kersten (Fn. 40), S. 307. 52

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zwischen dem freien Wettbewerb und der individuell maximierten Wettbewerbsfreiheit im Hinblick auf soziale, technische und wirtschaftliche Gemeinwohlbelange statt. Die normative Entfaltung der in Art. 16 der Europäischen Grundrechtscharta garantierten Wettbewerbsfreiheit stehe noch aus. IX. Das subjektive öffentliche Recht auf faire Konkurrenz Das subjektive öffentliche Recht ist ein „Angelpunkt der gesamten Systematik“.56 Die hohen Schutzstandards für das Individuum sind ein Spezifikum des deutschen Verwaltungsrechts, aber für das Recht der EU ist das Recht des Unionsbürgers besonders wichtig. Er wird weniger individual-zentriert verstanden. Dies zeigt sich, wie Schmidt-Aßmann57 deutlich gemacht hat, an den Klagebefugnissen, die der Einzelne gegenüber den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von EG-Recht hat. Dort wird in weit geringerem Maße auf materielle Interessenwertungen als im deutschen Recht abgestellt. Auch im Unions-Recht gibt es zwar keine Popularklagen. Die Klagebefugnis kann aber schon aus unspezifischem allgemeinem Interesse hergeleitet werden. Das „Konzept funktionaler Subjektivierung“ (Friedrich Schoch) ist uns bereits bei der Behandlung des „more economic approach“ begegnet. Anders gesagt: Der Unionsbürger wird mit seinen Klagemöglichkeiten deutlicher als im deutschen Recht in den Dienst einer wirksamen Umsetzung des EU-Rechts gestellt. Der zweite ebenso mehr auf eine objektiv-rechtliche Ausrichtung gerichtete Trend des Gemeinschaftsrechts ist die Einbeziehung der Öffentlichkeit. Ein Gesichtspunkt, der in unserem Zusammenhang allerdings weniger interessiert. Vertieft werden sollen stattdessen nochmals die Überlegungen zur rechtlichen Absicherung des Wettbewerbs oder der Konkurrenz durch Grundrechte. Nach deutschem Recht handelt es sich bei diesen um rahmengebende Rechte, die mit Unterlassungs-, Beseitigungs-, Herstellungs-, Erstattungs- oder Entschädigungsansprüchen und zugehörigen Hilfsrechten ausgestattet sind.58 Die gewachsene schutzrechtliche Bedeutung der Grundrechte hat die Subjektivierungstendenzen verstärkt, indem auch Nichtadressaten, eben beispielsweise der Konkurrent klagebefugt werden. Das Verständnis des subjektiven Rechts im EU-Recht geht aber in dieselbe Richtung. Zentrales Gestaltungselement der Rechtsordnung wird die Anerkennung der individuellen Rechtsmacht.59 Das Kernproblem, das sich in beiden Rechtsordnungen stellt, ist die Einbeziehung einer faktischen Betroffenheit in den Schutzbereich. Soll diese dem Rechtsinterpreten oder dem Gesetzge56 So E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., 2004, S. 35. 57 Schmidt-Aßmann (Fn. 56), S. 35. 58 So Stern (Fn. 3), S. 558 ff. 59 So Schmidt-Aßmann (Fn. 56), S. 75.

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ber überantwortet werden?60 Trotz der festgestellten Gemeinsamkeiten ergibt sich für die Rechtsstellung des Individuums ein unterschiedliches Konstitutionsprinzip. Das Europäische Unionsrecht als supranationale Rechtsordnung wird durch die Rechtssubjektstellung des Einzelnen und eben nicht nur durch die der Mitgliedstaaten charakterisiert. Dem Einzelnen sollen nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs unabhängig von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten Rechte verliehen werden. Insoweit geht der Gerichtshof zugunsten des Individuums über die Schutznormtheorie hinaus. Es kommt ihm weder auf die besondere Individualisierbarkeit61 des Kreises der Begünstigten noch auf eine individualschützende Intention des Gemeinschaftsgesetzgebers an. Es soll ausreichen, wenn von der fraglichen Rechtsnorm Rechtsgüter des Einzelnen mittelbar betroffen sind. Man kann von „personenbezogenen bzw. personalen Rechtsgütern“ sprechen.62 Durch die Instrumentalisierung des Bürgers zur Durchsetzung der europäischen Rechtsordnung erhalten dessen individuelle Befugnisse eine ganz spezifische Qualität. Sie ist geeignet, die Stellung des Bürgers im Staat mit eigenen Konturen auszustatten.63 Angesichts der verbleibenden Unterschiede zwischen deutschem und europäischem Grundrechtsverständnis ist im Hinblick auf die Dynamik des europäischen Rechts von besonderem Interesse, inwieweit sich der Schutz der Konkurrenz oder der Wettbewerbsfreiheit durch die Entwicklung des Europarechts ändert. Dies geschieht auch durch die Integration der Charta der Grundrechte und durch den Beitritt der EU zur EMRK, wie er in Art. 6 EUV geregelt ist. Dort erkennt die Union ausdrücklich die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2002 in der am 12. Dezember 2007 angepassten Fassung niedergelegt sind. Die Charta der Grundrechte und die Verträge werden als rechtlich gleichrangig behandelt. Außerdem trat inzwischen die Union der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei (Art. 6 Abs. 2 EUV). Während die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten für unsere Problematik weniger ergiebig ist, ist die Behandlung der unternehmerischen Freiheit und mit ihr auch der Wettbewerbsfreiheit durch die Charta der 60 Vgl. H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen der Lehren vom subjektiven öffentlichen Recht, Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 507, 1986, S. 167. 61 Es genügt das Berührtsein auf Grund bestimmter persönlicher Eigenschaften oder sonstiger, den Betroffenen aus den Kreis der übrigen Personen heraushebenden Umstände, vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn. 44), S. 266. 62 So A. Epiney, Primär- und Sekundärrechtsschutz im öffentlichen Recht, VVDStRL 61 (2002), S. 362 (397 ff.). 63 So J. Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 716, 1997, S. 51. Zu den Entstehungsvoraussetzungen subjektiver Rechte im europäischen Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht vgl. auch C. Herrmann, Währungshoheit, Währungsverfassung und subjektive Rechte, Jus Publicum, Bd. 187, 2010, S. 285 ff.

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Grundrechte der Europäischen Union durchaus von Bedeutung. Die Wettbewerbsfreiheit wird als Ausprägung der unternehmerischen Freiheit des Art. 16 GrCH angesehen. In den aktualisierten Erläuterungen zu Art. 16 wird auf Art. 119 Abs. 1 und 3 AEUV Bezug genommen. Wie erinnerlich wird in Art. 119 Abs. 1 AEUV der Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb genannt, werden in Abs. 3 die richtungweisenden Grundsätze herausgestellt. Diese werden allgemein als ordnungspolitische Programmsätze verstanden. Ob der Wettbewerbsfreiheit Grundrechtsqualität zukommen soll, bleibt offen. Sie lässt sich auch nicht Hilfe der in Bezug genommenen Rechtsprechung des EuGH ermitteln. Der EuGH hat es beispielsweise in der Rechtssache Rau64 und in der Frage der Marktorganisationen für Bananen65 vermieden zu entscheiden, ob die Wettbewerbsfreiheit subjektiv-rechtlich zu verstehen ist. Im Mittelpunkt der Prüfung steht jeweils der Grundsatz des unverfälschten Wettbewerbs. Die individuelle Wettbewerbsfreiheit wird durch diejenige anderer Wirtschaftsteilnehmer begrenzt, aber eben auch gesichert.66 Lassen wir hierzu Klaus Stern zu Wort kommen: „Mehr denn je können auf dem Sektor wirtschaftlicher Freiheit die supranationalen Einflüsse des europäischen Gemeinschaftsrechts nicht ausgeblendet werden. Vor allem die Grundfreiheiten des EG-Vertrags – freier Waren-, Personen-, Dienstleistungsund Kapitalverkehr – ergänzen und verstärken die wirtschaftlichen Freiheiten der nationalen Grundrechte . . . Sie gewährleisten europäische Marktfreiheit, die jedoch nicht unbeschränkt ist, wie die allenthalben bei der Normierung der Grundrechte enthaltenen Vorbehalte (jetzt Art. 28 EUV) zeigen. Aber auch die die Wirtschaft der Union konstituierenden Zielvorgaben . . . – ,harmonische, ausgewogene und nachhaltige Entwicklung des Wirtschaftslebens‘, ,hohes Beschäftigungsniveau‘, ,hohes Maß an sozialem Schutz‘, ,beständiges, nicht-inflationäres Wachstum‘, ,hoher Grad von Wettbewerbsfähigkeit‘, ,Binnenmarkt‘ – sind fundamentale Faktoren für ein Konzept der Wirtschaftsfreiheit in den Mitgliedstaaten der Union. Gestützt wird dieses Wirtschaftssystem nicht zuletzt durch die Einführung einer einheitlichen Währung und einer einheitlichen Geld- und Währungspolitik durch die Europäische Zentralbank . . . Darin liegen über die Einzelfreiheiten hinaus grundlegende institutionelle Festlegungen, die das Thema wirtschaftliche Handlungsfreiheit in diesem europarechtlichen Kontext erneut auf die Tagesordnung setzen. Sicher ist jedenfalls, dass diese Gemeinschaftsziele in ihrer Aussagekraft über die grundsätzlichen Zielvorgaben der Art. 109 Abs. 2 und Art. 88 GG hinausreichen. Sie dürfen nicht außer Betracht bleiben, wenn Art. 2 Abs. 1 GG (im Zusammenhang mit den anderen ökonomischen Grundrechten) auf dem wirtschaftlichen Sektor interpretiert wird. Art. 4 EG (jetzt Art. 119 AEUV67) verpflichtet Gemeinschaft und Mitgliedstaaten auf diese Ziele.“ 68

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EuGH – Walter Rau Lebensmittelwerke 133 bis 136/85 – Slg. 1987, 2289. EuGH – Deutschland/Rat C 280, 93 – Slg. 1994, I-4973. 66 Vgl. J. Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl., 2011, Rn. 9 ff. 67 Einfügung durch den Verfasser. 68 Stern (Fn. 3), S. 912. 65

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Klarer kann die uns gestellte Aufgabe kaum formuliert werden. Es wird darauf ankommen, das im Europäischen Recht im Vordergrund stehende Prinzip des unverfälschten Wettbewerbs und die Wahrnehmung von Interessen der Allgemeinheit durch Einzelne angemessen mit der individualrechtlich bestimmten Tradition deutschen Verfassungsrechts zu vereinen. Damit ist die Chance verbunden, gewisse Erstarrungen der deutschen Grundrechtsdogmatik zu lösen und die einschlägigen Grundrechte deutlicher auf subjektive Rechtspositionen, auf Gemeinwohl und Wettbewerb auszurichten.

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in der Informationsgesellschaft Von Friedrich Schoch I. Datenverarbeitung in der Informationsgesellschaft Schon vor geraumer Zeit hat die Bundesregierung die „Informationsgesellschaft“ als eine Wirtschafts- und Gesellschaftsform qualifiziert, „in der der produktive Umgang mit der Ressource ,Information‘ und die wissensintensive Produktion eine herausragende Rolle spielen“.1 Mittlerweile ist der Terminus „Informationsgesellschaft“ zu einem Gesetzesbegriff geworden.2 Er beschreibt – ungeachtet einer gewissen Unschärfe an den Begriffsrändern – in seinem Kern anschaulich den Bedeutungszuwachs von „Information“ als Handlungs- und Steuerungsressource im Gemeinwesen und kennzeichnet prägnant die signifikante Zunahme der Informationsgenerierung, -verarbeitung, -verteilung und -vernetzung, die vor allem durch moderne Informations- und Kommunikationstechnologien geprägt werden und nachhaltig das Verhalten Einzelner sowie gesellschaftlicher Organisationen und staatlicher Behörden bzw. Organe bestimmen.3 1. Ausgangspunkt: Schutzbedürfnis für personenbezogene Daten

Nach dem mittlerweile erreichten Stand der Entwicklung kann ohne Übertreibung festgestellt werden, dass der „Informationshunger“ von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und (vielen) Individuen schier unbegrenzt ist. Dieser Befund mutiert nicht zwangsläufig und schon gar nicht in toto zu einem Rechtsproblem. Viele (Sach-)Informationen sind für interessierte Nutzer hilfreich und freiheits1

BT-Drs. 13/4000, S. 15. Vgl. Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vom 10.9.2003 (BGBl. I S. 1774) sowie Zweites Gesetz zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft vom 26.10.2007 (BGBl. I S. 2513). 3 Näher dazu Hoffmann-Riem, in: ders./Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht in der Informationsgesellschaft, 2000, S. 9 (10 f.); Schmidt-Aßmann, ebd., S. 405 (406 f.); Hassemer, in: Freundesgabe für Büllesbach, 2002, S. 225 (228); Stohrer, Informationspflichten Privater gegenüber dem Staat in Zeiten von Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung, 2007, S. 6 ff.; Kaiser, Die Kommunikation der Verwaltung, 2009, S. 245 f. 2

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erweiternd; das gilt z. B. für statistische Informationen und Geoinformationen ebenso wie für Informationen zu Wirtschaft, Kultur oder Tourismus. Die Rechtsordnung ist indessen auf den Plan gerufen, soweit die Generierung, Verarbeitung und Verteilung personenbezogener Informationen zu beurteilen ist. Am Beispiel des „Mikrozensus“ war das Bundesverfassungsgericht schon früh gefordert, soweit es um den staatlichen Zugriff auf derartige Informationen geht. Das Gericht hat dazu Art. 1 Abs. 1 GG mobilisiert und erklärt, mit „der Menschenwürde wäre es nicht zu vereinbaren, wenn der Staat das Recht für sich in Anspruch nehmen könnte, den Menschen zwangsweise in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren, sei es auch in der Anonymität einer statistischen Erhebung, und ihn damit wie eine Sache zu behandeln, die einer Bestandsaufnahme in jeder Hinsicht zugänglich ist“.4 In seinem berühmten „Volkszählungsurteil“ von 1983 hat das Gericht bekanntlich – gestützt auf das durch Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht – mit Blick auf moderne Entwicklungen der automatischen Datenverarbeitung das besondere Schutzbedürfnis des Einzelnen betont, vor diesem Hintergrund das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ entwickelt und, basierend auf dem Gedanken der Selbstbestimmung, die „Befugnis des Einzelnen“ postuliert, „grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden“.5 Seinen Grundgedanken hat das Bundesverfassungsgericht stetig perpetuiert:6 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung trage Gefährdungen und Verletzungen der Persönlichkeit Rechnung, die sich für den Einzelnen aus informationsbezogenen Maßnahmen, insbesondere unter den Bedingungen moderner Datenverarbeitung, ergeben könnten.7 Das Bundesverfassungsgericht bezieht das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen ausdrücklich auf persönliche „Daten“ 8 bzw. personenbezogene „Daten“,9 obgleich es der Sache nach und auch terminologisch um das Recht auf „informationelle“ Selbstbestimmung geht. Überzeugend ist diese begriffliche Ungenauigkeit nicht. Zwischen „Daten“ und „Informationen“ muss rechtlich unterschieden werden;10 eine Freiheitseinbuße droht dem Einzelnen durch den Zugriff des Staates bzw. Dritter auf personenbezogene Informationen bzw. deren Verar4

BVerfGE 27, 1 (6). BVerfGE 65, 1 (42). 6 Genauer zur dogmatischen Konstruktion des BVerfG unten II. 1. 7 So aus neuerer Zeit z. B. BVerfGE 120, 351 (360), m.w. N. 8 BVerfGE 65, 1 (43). 9 BVerfG, NVwZ 2011, 94 Tz. 158. 10 Trute, JZ 1998, 822 (825); Masing, VVDStRL 63 (2004), 377 (400); Albers, Informationelle Selbstbestimmung, 2005, S. 96 f. – Näher dazu am Beispiel der Legaldefinition des § 2 Nr. 1 IFG („amtliche Information“) Schoch, Informationsfreiheitsgesetz, Kommentar, § 2, Rn. 18 ff. 5

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beitung oder Verwendung.11 Nicht zu Unrecht wird daher der – inzwischen allerdings eingebürgerte – Begriff „Datenschutz“ als irreführend bezeichnet.12 2. Quantensprung: ubiquitous computing

Die geradezu explosionsartige Fortentwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie lässt – aus heutiger Sicht – die Gefahren der modernen Datenverarbeitung für den Einzelnen zu den Zeiten des Volkszählungsurteils als überschaubar und (einigermaßen) beherrschbar erscheinen. Unterdessen befinden wir uns in einer „Welt allgegenwärtiger Datenverarbeitung“.13 Soweit es um die elektronische Datenverarbeitung geht, erleben wir die räumliche Entkoppelung der Computernutzung von der Lokalisierung der Soft- und Hardware; im Zeitalter des „Cloud Computing“ kann auf die feste Zuordnung physikalischer Ressourcen verzichtet werden; die Nutzung von Rechnerkapazitäten wird (nicht mehr lokalisierbar) weltweit auf verschiedenen Servern nachfrageorientiert und einzelfallabhängig zur Verfügung gestellt.14 Die dadurch aufgeworfenen Datenschutzprobleme (z. B.: anwendbares Recht? Geltung des Territorialprinzips? Auftragsdatenverarbeitung als Kategorie?) werden gerade erst benannt, Lösungen müssen erst noch entwickelt werden. Im Grundsätzlichen muss gesehen werden, dass die individuelle informationelle Selbstbestimmung nach dem erreichten Entwicklungsstand der Informationsgesellschaft längst nicht mehr allein oder auch nur vornehmlich durch den Staat bedroht ist;15 im Gegenteil, die wirklichen „Datenskandale“ der jüngsten Vergangenheit fanden im privaten Sektor statt. Unabhängig davon findet der Informationsaustausch im „Internetzeitalter“ zunehmend im world wide web statt, bei dessen Nutzung schon rein quantitativ private Stellen gegenüber staatlichen Behörden dominieren. Die ubiquitäre Präsenz personenbezogener Informationen betrifft Vorgänge von hohem Allgemeininteresse ebenso wie Szenen individueller Tragödien. So hat etwa die Veröffentlichung von mehr als 250.000 vertraulichen 11

Britz, in: Hoffmann-Riem, Offene Rechtswissenschaft, 2010, S. 561 (567). Garstka, DVBl. 1998, 981; Roßnagel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 5–6/2006 vom 30.1.2006, S. 9 (10); Bull, Informationelle Selbstbestimmung – Vision oder Illusion?, 2009, S. 3. 13 Näher dazu Kühling, Die Verwaltung 40 (2007), 153 ff.; ferner Roßnagel/Müller, CR 2004, 625 ff.; auch Hoffmann-Riem, in: Vieweg/Gerhäuser (Hrsg.), Digitale Daten in Geräten und Systemen, 2010, S. 41 (45). 14 Schulz, MMR 2010, 75 ff. (zum Cloud Computing in der öffentlichen Verwaltung); Nägele/Jacobs, ZUM 2010, 281 ff. (289 f. zum Datenschutz); Gercke, CR 2010, 345 ff. (zum Strafrecht); Laue/Stiemerling, DuD 2010, 692 ff. (zu technischen Fragen und rechtlichen Risiken); Weichert, DuD 2010, 679 ff. (zum Datenschutz). 15 Dass Bedrohungen der informationellen Selbstbestimmung mittlerweile eher von privaten Dritten als vom Staat ausgehen, wird zunehmend herausgestellt; vgl. etwa Hassemer, FAZ Nr. 153 vom 5.7.2007, S. 6; Kühling, Die Verwaltung 40 (2007), 153 (158 ff.); Ronellenfitsch, RDV 2008, 55 (58). – Vgl. auch unten Text zu Fn. 81. 12

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Friedrich Schoch

bzw. (streng) geheimen amerikanischen Botschaftsdokumenten durch „WikiLeaks“ weltweites Aufsehen erregt;16 mancher Politiker mag wegen seiner öffentlich gemachten Äußerungen über andere Politiker peinlich berührt gewesen sein. Geradezu tragisch erscheint demgegenüber die Geschichte eines jungen Paares, das – nach eigenem Bekunden – bei Facebook sein „ganzes Leben online gestellt“ hatte, da es nach dem Tod des jungen Mannes der hinterbliebenen jungen Frau nicht gelingen sollte, das Nutzerprofil ihres verstorbenen Partners zu löschen.17 Diese beiden Beispiele zeigen, dass im „Internetzeitalter“ personenbezogene Informationen zeitlebens (und darüber hinaus) omnipräsent und für Dritte ständig verfügbar sein können. II. Konzept der Rechtsprechung und wissenschaftliche Kritik 1. Grundmodell: Abwehrrechtliche Konzeption

a) Schutzgut: Informationelle Selbstbestimmung und individuelle Entscheidungsfreiheit Das Bundesverfassungsgericht hat das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG von Anfang an abwehrrechtlich konzipiert. Entstehungsgeschichtlich ist dagegen nichts einzuwenden. Der „A