Kritik der Politik. Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag 3924627665, 9783924627669

“Jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören”: Daß

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Kritik der Politik. Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag
 3924627665, 9783924627669

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Kritik der Politik Johannes Agnoli zum 7 5. Geburtstag

Kritikder Politik Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag herausgegeben von Joachim Bruhn, Manfred Dahlmann und Clemens Nachtmann

Die Deutsche Bibliothek

CTP-Kurztitelaufnahme

Kritik der Politik: Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag/ hrsg. von Joachim Bruhn .... - Freiburg i. Br. : 9a ira, 2000 ISBN 3-924627-66-5 © 9a ira-Verlag, Freiburg 2000 Postfach 273 79002 Freiburg www.isf-freiburg.org

Umschlag: Volker Maas, Freiburg Druck: Litosei s.r.l, Rastignano (Bologna) Veröffentlicht mit Unterstützung des Instituts für Sozialkritik Freiburg e.V.

Inhalt

Vorwort

7

Hans-Georg Backhaus Über den Begriff der Kritik im Marxschen Kapital und in der Kritischen Theorie

13

Werner Bonefeld Die Betroffenheit und die Vernunft der Kritik Eine Polemik

61

Manfred Dahlmann Michel Foucault Das Rätsel der Macht

83

Ulrich Enderwitz Imperium Romanum ante portas

109

Georg Fühlbert Exegese Philologisches zu einem Kriegs-Aufsatz von Jürgen Habermas

131

Stefan Grigat Die Kritik der Politik, das Elend der Politikwissenschaft und der Staatsfetisch in der marxistischen Theorie

145

Fabian Kettner In welchem Detail steckt der leibhaftige Gott? Über merkwürdige Genossenschaften

173

Antonio Negri Paschukanis lesen Notizen anläßlich der erneuten Lektüre von Eugen Paschukanis 'Allgemeine Rechtslehre und Marxismus

201

Kosmas Psychopedis Das politische Element in der Darstellung dialektischer Kategorien

259

Gerhard Scheit Heroen des Kriegs, Gott des Reichtums Trägodie und Komödie der Politik

279

Michael Wilk Technik des sozialen Friedens ,,Beteiligung als Akzeptanzmanagement"

301

Johannes Agnoli zum 7 5. Geburtstag

In jenen, nur posthumer Verklärung sich so darstellenden und so lange gar nicht zurückliegenden ,goldenen' vierzig Nachkriegsjahren galt die Bundesrepublik Deutschland zuerst in den Augen ihrer Fürsprecher, und seit den späten 70er Jahren auch ihren früheren Antagonisten als das ganz Andere, als das absolute Gegenmodell zum so genannten nationalsozialistischen „Unrechtsregime". Man hatte Wohlstand, Frieden und Freiheit. Verelendung, Armut, Hunger gab es früher oder anderswo, jedenfalls ganz weit weg. Der Klassenkampf war eine Erscheinung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, den der prosperierende Wirtschaftswunderkapitalismus, der jetzt soziale Marktwirtschaft hieß, überwunden hatte. Dazu gab es eine Demokratie die freiheitlichste der deutschen Geschichte, wie es immer hieß-, die zudem von ihrer Vorgängerin, der Weimarer, gelernt hatte, daß man den Feinden der Demokratie rechtzeitig und wehrhaft entgegentreten muß. So posaunte es das Herrschaftspersonal aus und die Bevölkerung richtete sich in einem von Wüstenrot, Rasenmäher, Fernsehquiz und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bestimmten Leben behaglich ein. Eingerichtet haben sich über kurz oder lang auch die linken Intellektuellen: anfangs störten sie sich noch an den alten Nazis in Staat und Gesellschaft, bittere Anklagen und Aufrufe wurden verfaßt, aber es nützte erst mal nichts: die Linken saßen schmollend in der Ecke und ,nahmen übel': denn keiner honorierte ihr selbstloses Engagement fürs deutsche Ansehen und sie mußten sich vom Wirtschaftswunderkanzler Erhard als Pinscher beschimpfen lassen. Aber die Zeit heilte die gerne in aller Öffentlichkeit hergezeigten Wunden, und als der Staat sich seinen verstoßenen Kindern gegenüber konzilianter zeigte, da wurde es noch ein richtiges happy-end. Emsig widmeten sich die Linken der Festigung und Verschönerung der Demokratie, entwarfen Parlamentsreformen, plebiszitäre oder basisdemokratische Repräsentationsmodelle, proklamierten das Grundgesetz als Bibel der Emanzipation und starteten Anfang der 80er Jahre ihre große Ver7

gangenheitsbewältigungsoffensive - als die Alt-Nazis größtenteils schon weggestorben oder in einen mit fetten Pensionen dotierten Lebensabend gegangen waren und der antifaschistische Lerneifer garantiert niemandem mehr weh tun konnte. Nur für eine kurze Zeit, die zudem unter tatkräftigem Engagement ihrer ehemaligen Protagonisten als , 1968' kulturindustriell verwertet und schließlich entsorgt wurde, gab es hier Irritationen. So formulierte etwa Hans-Jürgen Krahl: ,,Was heißt es, wenn wir ... immer wieder den Begriff des autoritären Staates vorgestellt haben? Damit wollten wir die Problematik der Notstandsgesetze aus dem Bezugsrahmen traditioneller Politik der Abwehr von Restaurationstendenzen, wie sie in den fünfziger Jahren gängig waren ..., insgesamt einer Politik also, die darauf aus war, Demokratie im bürgerlichen Sinne zu retten, herausnehmen. Mit dem Begriff des autoritären Staates wollten wir einen anderen Bezugsrahmen revolutionärer Theorie setzen." 1 Johannes Agnoli dechiffrierte, erstmals in der „Transformation der Demokratie", den Pluralismus der Cliquen und Parteien als formierten Pluralismus, als die demokratisierte Variante jener Einheitsstiftung, die der Faschismus noch via Einheitspartei und unmittelbar staatlich gelenkten Organisationen besorgt hatte. 2 Wer von der BRD als von einem autoritären Staat oder einer transformierten Demokratie sprach, rührte am nur scheinbar harmlosen und gemütlichen Erscheinungsbild der BRD, indem er aufzeigte, daß dieser Staat, von dem man damals noch nicht als dem „unseren" sprach, nicht nur in personeller, sondern auch in institutioneller und ideologischer Kontinuität zu seinem Vorgänger, dem Nationalsozialismus, steht. Damit veränderte sich der Begriff des Faschismus selbst. Faschismus, so wäre im Anschluß an Ulrich Enderwitz thesenhaft zu formulieren, meint, anders als im wissenschaftlichen Common sense und in der Mehrzahl der marxistischen Faschismustheorien, nicht im engeren Sinne die Regime, wie es sie zwischen 1924 und 1945 in Europa in unterschiedlichen Formen gegeben hat, sondern einen epochalen Versuch, das aufgrund seiner immanenten Widersprüchlichkeit in die Zusammenbruchskrise geratene Kapitalverhältnis auf seinem eigenen Boden zu reorganisieren und neu zu fundamentieren. Es ist dies ein Krisenlösungsprogramm, das im Banditenregime Louis Bonapartes bereits aufleuchtet, das sicn ideologisch, kulturell und im Zerfall 8

der bürgerlichen Subjektivität schon im 19. Jahrhundert ankündigt, das gleichermaßen unter unmittelbar autoritär-diktatorischen wie demokratisch-rechtsstaatlichen Vorzeichen Verbreitung finden kann und dessen Zerfall wir heutzutage erleben. Alle gewiß notwendige Differenzierung ist nur soweit sinnvoll, wie die Einheit der faschistischen Epoche nicht aus dem Blickfeld gerät. Helmut Dubiels und Alfons Söllners Kritik an den Faschismusanalysen des exilierten Instituts für Sozialforschung, in ihnen sei das Verhältnis einer allgemeinen Theorie des Spätkapitalismus zu der Theorie seiner spezifisch faschistischen Form unbestimmt geblieben3, ist als Feststellung zwar zutreffend, kann aber keinen Einwand begründen, weil Adorno und Horkheimer im Gegensatz zu Dubiel und anderen mental abgerüsteten Enkeln der Kritischen Theorie zurecht davon überzeugt waren, daß die Restauration liberalistischer Vermittlungsformen in der Bundesrepublik scheinhaft bleiben muß und die vorangegangene Barbarei nicht beendet, sondern nur suspendiert. Der Faschismus ist also die naturwüchsig-katastrophische Tendenz, in der die negative Dialektik des Liberalismus über sich selbst hinaustreibt. Sie läßt sich modellhaft am Beispiel Deutschlands herausarbeiten, dessen historische Verspätung, anders als es die sozialdemokratische Geschichtsschreibung a Ja Wehler und Co. und anders als bestimmte Antideutsche schildern, eben keine „Zurückgebliebenheit" hinter den anderen westlich-demokratischen Gesellschaften darstellt, sondern eine spezifische Fortschrittlichkeit auf dem Weg zur Barbarei. Die immer wieder diskutierte Frage, ob der Nationalsozialismus nun der „besonderen deutschen Geschichte" oder dem „Kapitalismus im allgemeinen" anzulasten sei, ist abgeschmackt, weil sie falsch gestellt ist. Der Nationalsozialismus als eine besondere, das heißt von den Deutschen und niemand anderen verbrochene Untat vollstreckt die naturwüchsig-barbarischen Implikationen, die der Wertvergesellschaftung im allgemeinen innewohnen. Er ist die Besonderung eines Allgemeinen, welches wiederum nur an seinen Besonderungen aufscheint. Seit nunmehr zehn Jahren erodiert das System des faschistischautoritärenStaates zusehends und derzeit sind wir Zeugen seines Zerfalls. Das Ganze gleicht immer mehr einem morschen Gebäude, das an allen Ecken und Enden bröckelt, ohne daß derzeit absehbar wäre, 9

was an dessen Stelle tritt. Damit ist auch die Rede vom autoritären Staat oder von der Transformation der Demokratie ihres unmittelbar kritischen Sinnes bzw. ihrer provokanten Qualität beraubt. Sie veraltet- aber nicht etwa deshalb, weil sie gegenstandslos geworden wäre, oder die Realität sich grundlegend geändert hätte, sondern weil sie mit ihrem Gegenstand nur allzu eng zusammenfällt. Gesellschaftskritik in revolutionärer Absicht lebt von der bestimmten Differenz zwischen Begriff und Sache; ihr Kritikcharakter liegt darin begründet, daß sie die wesentlichen Bestimmungen der Realität begrifflich nachmodelliert, in der Hoffnung, das derart von ihr ins Auge gefaßte gesellschaftliche Unheil möge abgewendet werden. Ihre Absicht ist es, nicht recht zu behalten. Wenn die Realität sich also zu ihrem theoretischen Begriff emanzipiert hat, behält der Gesellschaftskritiker zwar recht, aber das kann kein Anlaß zur Genugtuung sein, da er seine traurige Wissenschaft dann unter weit ungemütlicheren Bedingungen wieder neu justieren muß. Das wäre in etwa die gegenwärtige Situation. Wenn man also heute über die Transformation der Demokratie spricht, dann reicht man ein Abschiedsfoto herum, dann macht man ein Erinnerungsbild in dem Moment, worin das Abgebildete gerade Anstalten macht, sich aufzulösen. Gerade darin sind Agnolis Analysen unverzichtbar, denn aus ihnen läßt sich erfahren, was sich da gerade auflöst und was nach Lage der Dinge sich mit einiger Sicherheit ausschließen läßt. Dem allfälligen Geschwätz von der Globalisierung, in deren Gefolge der Liberalismus wiederkehre (,,Neoliberalismus") oder Politik überhaupt überflüssig werde, wäre entgegen zu halten, daß die sogenannte „Deregulierung" erstens ein dezidiert politisches und vom politischen Personal durchgesetztes Programm ist, um in der internationalen Konkurrenz der „Standorte" mithalten zu können: darin ist der Staat nach wie vor „realer Gesamtorgansiator"4. Zweitens handelt es sich bei diesem Prozeß weniger um eine Deregulierung als vielmehr um eine Entgarantierung: der Staat entledigt sich zusehends seiner Erscheinung als allgemeiner Sozialfürsorger. Die allgemeine „Wohlfahrt" war sowieso nur der schöne Schein des autoritären Staates, sein (Un-) Wesen dagegen seine Selbstermächtigung, für alle Belange des gesellschaftlichen Verlaufs im Prinzip zuständig zu sein. Wenn der Staat also immer mehr als repressiver Kontrollstaat und allgemeiner Zucht10

meister auf den Plan tritt und seine Bürger zur „Eigenverantwortung" zwingt, dann hat dies mit einer Rückkehr des seit mehr als einem Dreivierteljahrhundert unwiderruflich vernichteten Liberalismus nichts zu tun: ,,Der heutige politische Staat darf den Notstand auf alle Bereiche ausdehnen, deren Regelung ihm gesellschaftlich übereignet worden ist. Deshalb zerstört seine Praxis die alte liberale Formel von der Trennung von Staat und Gesellschaft." 5 In dem Maße, wie der längst überreife Kapitalismus sein Unwesen immer offener hervorkehrt, wird er, allem Komplexitätsgerede zum Hohn, immer durchschaubarer. Wieder einmal scheint die Chance, den Zwangscharakter gesellschaftlicher Reproduktion abzustreifen, unmittelbar greifbar - und gleichzeitig unmittelbar verbaut. Denn im Bewußtsein der subalternen Massen war die Erscheinung des Staates sein Wesen, Wohlfahrt sein „eigentlicher" Auftrag, auf den sie ihn nach wie vor verpflichten wollen. Gerade in den Protesten der subalternen Massen zeigt sich, bis auf weiteres, der leider durchschlagende Erfolg des demokratisierten faschistischen Leviathans: in der Verstaatung des Bewußtseins. Wie dem auch immer sei: die Kritik der Politik wird sich auf gesellschaftliche Verläufe einstellen müssen, von deren barbarischen Charakter sie sich bislang nicht einmal in ihren verstiegensten Alpträumen eine Vorstellung gemacht hat. Von Johannes Agnolis Arbeiten hat sie dabei alles zu lernen. Die Herausgeber

1

Hans-Jürgen Krahl, Autoritäten und Revolution, in: ders., Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt a. M. 1971, S. 257 2 Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, in: ders. Gesammelte Schriften Band 1, Freiburg 1990, S. 53ff 3 Max Horkheimer et al., Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus (Hrsg. Helmut Dubiel und Alfons Söllner); Frankfurt a. M. 1981, S. 9 4 Johannes Agnoli, Der Staat des Kapitals, in: ders., Gesammelte Schriften Band 2, S. 46 5 Johannes Agnoli, Die Transformation ..., a.a.O., S. 64f

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Hans-Georg Backhaus

Über den Begriff der Kritik im Marxschen Kapital und in der Kritischen Theorie 1

Es charakterisiert den traditionellen Marxismus ebenso wie die akademische Marx-Kritik, daß beide den Untertitel des Marxschen Hauptwerks - Kritik der politischen Ökonomie - weithin ignoriert haben, wie er in der nationalökonomischen Literatur selbst heute weiterhin ignoriert wird. Dies vermöchte man damit zu rechtfertigen, daß es primär doch auf das Verständnis des Haupttitels ankomme, dieser aber im Sinn dessen zu deuten sei, was Marx selbst mehrfach „positive Wissenschaft" (32/181) genannt hat. Daraus scheint sich zu ergeben, daß mit dem im Untertitel verwandten Begriff „Kritik" in Übereinstimmung mit dem alltäglichen Sprachgebrauch nur eine Ergänzung zur Thematik des Haupttitels, ein dogmengeschichtlicher Exkurs angekündigt werden sollte; der scheinbar rein „positiven Wissenschaft" des Kapitals oder des Kapitalismus scheint nur eine ergänzende, die positive Analyse jedoch voraussetzende Kritik konkurrierender Lehrmeinungen hinzugefügt. ,,Kritik" in diesem traditionellen Sinn wird primär als eine Kritik der Literatur verstanden. Marx selbst hatte nirgendwo im Kapital, aber ebensowenig in anderen Dokumenten seinen Kritikbegriff systematisch erläutert; in den drei Bänden seines Hauptwerks wird er einschließlich der Abwandlung „kritisch"/,,kritiklos", ,,unkritisch" auch nur selten verwandt, insgesamt bloß 18 Mal. Die herrschende Lehre konnte sich vor allem darin bestätigt sehen, daß Marx ihn überwiegend im alltagssprachlichen Sinn, nämlich als Kritik eines Textes gebrauchte. Zwar gibt es hiervon einige bemerkenswerte Ausnahmen, so im zweiten Band, wo sich die merkwürdige Formulierung findet, daß die zweite Form des Kreislaufs „die Kritik der Form I bildet" (24/78), eine Form demnach eine andere „kritisiert". Doch über solcherlei esoterische Verwendun-

13

gen des Kritikbegriffs - auch wenn sich außerhalb des Kapital mehrere solcher Beispiele finden, meinte man sich hinwegsetzen zu können. Nun war es naheliegend, den Untertitel nicht bloß auf Texte, sondern primär auf Fakten zu beziehen, nämlich auf solche, die von Marx offenkundig in kritischer Absicht beschrieben und auch definiert worden sind. Das wichtigste Beispiel eines solch unausdrücklichen, impliziten Gebrauchs des Kritikbegriffs ist bekanntlich das der Analyse des „Fetischcharakters" der Ware, vpr allem aber das der Beschreibung der verschiedensten Formen der „Entfremdung". Doch eine systematische Erörterung dieses Phänomens ist die traditionelle, insbesondere volkswirtschaftliche Marx-Diskussion bis heute schuldig geblieben. Als in den 50er Jahren jene scheinbar bloß philosophische Angelegenheit seitens der Evangelischen Akademien endlich zur Sprache gebracht wurde, ging es korrelierend zur „ökonomistischen" Marx-Lektüre ebenso einseitig um das „Menschenbild des jungen Marx". So mußten beinahe hundert Jahre verstreichen, bis der Zusammenhang zwischen dem vermeintlich rein philosophischen Begriff der Entfremdung und dem Untertitel des scheinbar rein ökonomischen Hauptwerks Marxens zur Diskussion gestellt wurde: Alfred Schmidt definierte 1965 die „Kritik der politischen Ökonomie als Kritik der Entfremdung, des Warenfetischismus und der Ideologie", also den Untertitel primär als eine „Kritik des Kapitalismus" im Sinn einer realen Entfremdung und eines realen Fetischismus, und bloß sekundär der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen; er begründete es damit, daß die Marxsche Rede „von den ,Naturgesetzen' der Gesellschaft" einen „kritischen Sinn" habe, daß die ökonomische Struktur der Gesellschaft „als ,zweite' Natur" kritisiert werde, der ihre Mitglieder „subsumiert"2 seien. Diese Umdeutung des Begriffs „politische Ökonomie" dürfte einem breiteren Publikum wohl erst 1967 bewußt geworden sein, als eine Konferenz über das Marxsche Hauptwerk vermutlich auf Anregung von Schmidt unter diesem neu gedeuteten Untertitel stattfand: „Kritik der politischen Ökonomie heute. 100 Jahre Kapital"; wenn das Schmidtsche Referat dementsprechend den Titel „Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie" 3 trug, schienen für das herkömmliche Verständnis Unter- und Haupttitel in ihrer Rangfolge willkürlich vertauscht; doch es ging gar nicht um die Begründung ei14

ner Dogmenkritik, sondern um die der „positiven" Kapitalanalyse, um den Gegenstand des Haupttitels. Nun bleibt selbst noch jene Umdeutung zweideutig und daher kontrovers. Zunächst einmal deshalb, weil mit dem mehrdeutigen Begriff der Entfremdung auch die Definitionen des Kapital als „Kritik der Entfremdung" oder der Ökonomie als „zweiter Natur" bis heute umstritten geblieben ist. Vor allem aber deshalb, weil sie zugleich eine auf den ersten Blick befremdliche Umdeutung des im Untertitel verwendeten Begriffs „politische Ökonomie" einschließt, sofern sie dem traditionellen Verständnis dieses Begriffs als ökonomischer Doktrin gänzlich widerspricht. Bewußt oder unbewußt und scheinbar ganz willkürlich wird ihm eine zweite, ganz ungewöhnliche Bedeutung unterschoben: ,,politische Ökonomie" soll jetzt auch eine zu „kritisierende" ökonomische Realität bezeichnen. Unter rein philologischem Aspekt scheint es sich in der Tat um eine künstliche und überaus fragwürdige Interpretation zu handeln, denn mit bloß einer Ausnahme verwendet Marx selbst diesen Begriff im Kapital ausschließlich in der Bedeutung von kritisch zu untersuchenden ökonomischen Doktrinen, also nicht im Sinn einer realen Struktur. Dies im Gegensatz zum Begriff „Nationalökonomie", den Marx 1844 tatsächlich in doppelsinniger Bedeutung 4 gebraucht: Möglicherweise von Heß und Proudhon inspiriert, bezeichnet in den Pariser Manuskripten dieser Terminus unbezweifelbar sowohl die ökonomische Realität als auch die ökonomische Literatur. Die Schmidtsche Vertauschung und die in ihr eingeschlossene doppelsinnige Deutung des Begriffs „politische Ökonomie" hat Vorgänger: sie wurzelt unmittelbar in der Tradition der Kritischen Theorie. So statuierte Max Horkheimer 1937: das Wort „kritisch" werde im Sinn der „dialektischen(!) Kritik der politischen Ökonomie verstanden" (H 4/180). Mehr noch, die grundlegende Unterscheidung von „traditioneller" und „kritischer Theorie" als ein „Unterschied zweier Erkenntnisweisen" wurde damit erläutert und auch begründet, daß die eine im Descartesschen „Discours de Ja methode ... die andere in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie" (H 4/217) ihre charakteristische Ausprägung gefunden habe; ,,Erkenntnis" ist die der Realität, doch inwiefern ist die befremdliche Behauptung gerechtfertigt, daß die Marxsche „ Weise" der Erkenntnis nicht bloß als eine „Kri15

tik" schlechthin, sondern obendrein als eine „dialektische" zu verstehen sei? Was soll man unter einer „dialektischen Kritik" im Unterschied zu einer Kritik im Sinn der „traditionellen Theorie'' und damit im Sinn der traditionellen Deutung des Untertitels verstehen? Nun war es nicht Horkheimer, sondern Georg Lukacs, dem die erstmalige Umdeutung des Untertitels zuzuschreiben ist. In seinem 1926 erschienenen Aufsatz über Mo_sesHeß, der Horkheimer unbekannt geblieben sein könnte, hat er allen anderen Sozialwissenschaften die „Kritik der politischen Ökonomie ... als ,Grundwissenschaft' ... übergeordnet". Es versteht sich, daß mit dieser „grundwissenschaftlichen"5 Deutung der „Kritik" ihre Umdeutung mitgesetzt war, denn eine Kritik der Volkswirtschaftslehre, der ökonomischen Literatur konnte unmöglich die Funktion einer „Grundwissenschaft" erfüllen. ,,Umfaßt" sie doch „die gesamte Weltgeschichte der ,Daseinsformen' (der Kategorien) der menschlichen Gesellschaft" als ihren Gegenstand. Als einer „Grund-Wissenschaft" war ihr eine quasi-philosophische Aufgabe zugewiesen, oblag ihr doch die Begründung des scheinbar ganz unabhängig von der Ökonomie entwickelten Historischen Materialismus: ,,die Ableitung des Bewußtseins aus dem gesellschaftlichen Sein ... folgt notwendig aus der - dialektischen Auffassung der Kategorien, als Daseinsformen, Existenzbestimmungen"'. Auf der Basis ihrer Neubestimmung wird die „Kritik der politischen Ökonomie" sogar als eine „Grundlegung der materialistischen Dialektik"6 verstanden. Hierbei steht eine ältere These von Lukacs im Hintergrund, die maßgeblich auch den Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie geprägt hat: Sofern sich das „gesellschaftliche Geschehen" als „Kern des Seins", des „gesellschaftlichen Seins" enthüllt habe, ,,kann das Sein als bisher freilich unbewußtes Produkt menschlicher Tätigkeit erscheinen" 7; es kommt ihm also im Gegensatz zum philosophischen Verständnis des insbesondere von Engels inspirierten traditionellen Marxismus keine ontologische Priorität zu. Lukacs bezieht sich hierbei nicht auf die Definition der Kategorien im Kapital als „objektive Gedankenformen" (23/90), sondern auf die zehn Jahre ältere in der Einleitung zum Rohentwurf, wonach sie ,,Daseinsformen, Existenzbestimmungen ... dieser bestimmten Gesellschaft ... ausdrücken" (42/40). Die mißverständliche, extrem idealistisch anmutende Definition der ökonomischen Kategorien im Kapi16

tal ist freilich unter dem Aspekt zu deuten, daß sie einige Sätze vorher auf derselben Seite scheinbar entgegengesetzt, nämlich als „Naturformen des gesellschaftlichen Lebens" charakterisiert werden. Hiermit stimmt auch überein, daß die Kategorie nicht bloß im Fall des Geldes als eine „fertige Form" gegeben und auch allen ökonomischen Subjekten „vorausgesetzt", also von ihrem Denken unabhängig ist; daß sie zudem eine soziale Funktion ausübt, nämlich soziale Verhältnisse, die sie „ausdrückt", in einem damit auch „verschleiert, statt sie zu offenbaren" (23/90). Man darf vermuten, daß Lukacs diesen widersprüchlichen Charakter der Kategorien vor Augen hat, wenn er ihre Auffassung als „dialektisch" bezeichnet. Der Begriff „Naturformen des gesellschaftlichen Lebens" verweist auch darauf, daß die „Kategorien" oder „Formen" als „gesellschaftliche Natureigenschaften" (23/86, 107) auftreten, als Eigenschaften ,,gesellschaftlicher Naturzusammenhänge" (23/ 126), Inbegriff dessen, was Lukacs „zweite Natur" genannt hat. In der Rede von der „übernatürlichen Eigenschaft" der „Dinge" (23/71 ), die als Dinge doch immer „natürliche" sind und bleiben, kommt das Paradoxe dieser Wortverbindungen - das Prädikat widerspricht seinem Subjekt- noch klarer zum Ausdruck. Statt von „Naturformen" des sozialen „Lebens" spricht Marx auch von „Lebensformen" (26.2/162), Formen des „Lebensprozesses", der „wirklichen Physiologie" und „wirklichen Bewegung" des „bürgerlichen Systems" (26.2/163 ), das in diesem Kontext ebenfalls als ein „wirkliches", reales „System" verstanden werden muß. Die ökonomischen Kategorien zeichnen sich bei Marx mithin durch einen merkwürdigen Doppelcharakter aus: Sie sind einerseits ideelle ,,Gedankenformen", andererseits reelle „Daseinsformen", ,,Lebensformen", offenbar im Sinn von „wirklichen Bewegungsformen" (23/119). Dieser widersprüchliche Doppelcharakter kommt in einer dritten, nicht minder in sich widersprüchlichen Bestimmtheit zum Ausdruck: Sie daß' sind „gegenständlicher Schein" (23/88, 95), Gegenständlich~ auch Nicht-Gegenständliches, Schein ist. Unter den weiteren Funktionsbestimmungen der „Kategorie'-t--tag! nun eine hervor, die schlagartig ihren reell-ideellen Doppelcharakter hervortreten läßt: Die Produzenten „sind in Verhältnisse gesetzt, die ihren mind bestimmen, ohne daß sie es wissen brauchen. Jeder kann Geld ... brauchen, ohne zu wissen, was Geld ist. Die ökonomischen 17

Kategorien spiegeln sich im Bewußtsein sehr verkehrt ab" (26.3/ l 63 ). Nur als reale Kategorien vermögen sie das Bewußtsein dergestalt zu determinieren, wobei „selbst das einfachste Element, wie z. B. die Ware, schon eine Verkehrung" (26.3/498) ist, ein „Quidproquo" (26.3/290), das sich in einem „verkehrten" Bewußtsein auch des Nationalökonomen ausdrückt; jeder seiner Begriffe ist eine „verdrehte Form, worin die wirkliche Verkehrung sich ausdrückt" (26.3/445), die wirkliche Kategorie. In dieser Weise „entspringt" die volkswirtschaftliche „Vorstellungsweise ... aus dem realen(!) Verhältnis selbst" (26.3/290). Diese Thesen bestätigen die Interpretation von Lukacs, daß mit dem Verständnis der national ökonomischen Kategorien als „Daseinsformen" der Historische Materialismus bewiesen wird. Diese Kategorien als Bestandteile eines „realen Verhältnisses", als „Daseinsformen", sind als zugleich „verkehrte" Gedankenformen in den volkswirtschaftlichen Grundbegriffen präsent, die als „Verkehrungen" zu analysieren, ,,genetisch darzustellen" oder „abzuleiten" sind. Die Kategorien als Strukturen der „realen Verhältnisse", die Kategorien der „politischen Ökonomie" als ökonomischer Basis, determinieren den volkswirtschaftlichen Überbau, d. h. die „politische Ökonomie" als ideologischen Überbau. Steht und fällt mit der einen oder anderen Interpretation der nationalökonomischen Kategorie als „Element" des „realen Verhältnisses", d. h. der „Basis" oder als volkswirtschaftlicher Grundbegriff, d. h. ,,verkehrter" Widerspiegelung oder Bestandteil des volkswirtschaftlichen „Überbaus" zugleich die Basis/Überbau-Lehre des auf die Analyse des „kapitalistischen Prozesses" eingeschränkten Historischen Materialismus, wird damit auch die doppelsinnige Deutung des Begriffs „politische Ökonomie" durch Lukacs bestätigt: wird mit dem Nachweis der doppelsinnigen Charakters der ökonomischen Kategorie doch zugleich die doppelsinnige Bedeutung des Begriffs „politische Ökonomie" bestätigt. Man kann auch umgekehrt argumentieren: Bestreitet man den Doppelsinn dieses Begriffs, bestreitet man auch den der Kategorie, womit man zugleich dem Basis/Überbau- Theorem seine Begründung entzieht. Der vordergründig bloß philologisch anmutende Streit über die Bedeutung des Untertitels des Kapital erweist sich als eine prinzipielle Auseinandersetzung um die Struktur und Begründung der gesellschaftstheoretischen Grundbegriffe und Theoreme. 18

Über Lukacs hinaus zur Kritischen Theorie führte die Einsicht in die kritischen Implikationen seiner ketzerischen These, das gesellschaftliche Sein sei ein „bisher ... unbewußtes Produkt menschlicher Tätigkeit": daß es nämlich als bewußtes Produkt sich in seinem das Bewußtsein determinierenden Seinscharakter selbst aufhebt. Herbert Marcuse hat dies 1937 und 1941 so formuliert: ,,Mit der Veränderung der Gesellschaft hebt sich das ursprüngliche Verhältnis von Basis und Überbau auf. In der vernünftigen Wirklichkeit soll ja nicht mehr der Arbeitsprozeß schon über das allgemeine Dasein der Menschen entscheiden ... das Bewußtsein (ist) nicht mehr vom Sein getrennt"; ,,die Marxsche Position (ist) eine kritische, indem sie besagt, daß die herrschende Beziehung zwischen Bewußtsein und gesellschaftlichem Sein falsch ist ... Die Wahrheit der materialistischen These soll sich so in ihrer Negation erfüllen. " 8 Adorno drückte diese „kritische" Intention des Marxschen Basis/ Überbau-Theorems 1966 so aus: ,,Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigne Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse" (A 6/207); diese These folgt zwingend aus der Marxschen Interpretation der ökonomischen Kategorien als „gegenständlichen Scheins"; bilden diese die reale Struktur der ökonomischen Basis, kann Adorno ganz im Sinn von Lukacs folgern, daß das „Allerwirklichste ... zugleich auch Schein" (A 8/292) ist. Max Horkheimer dürfte von Anfang an diese„ kritische" Intention der Marxschen Theorie als ganzer im Auge gehabt haben, als er erstmals 1933 in „Materialismus und Moral" die Marxsche Theorie als eine „materialistische Kritik der politischen Ökonomie" und „dialektische Kritik an der Welt" (H 3/137) charakterisierte. Er trug diese These kommentarlos vor und unterließ auch ihre philologische Begründung. Immerhin war mit der Interpretation der Kritik als einer ,,Kritik der Welt" der Doppelcharakter der „Kritik der politischen Ökonomie" zumindest angedeutet. Erst in „Traditionelle und kritische Theorie" von 1937, als er die als „dialektische Kritik der politischen Ökonomie" bezeichnete Marxsche Kapitalanalyse mit der Kritischen Theorie identifizierte, begründete Horkheimer, warum die „politische Ökonomie" gemäß dem Untertitel des Kapital nicht bloß als theoretische, sondern auch als reale kritisiert worden sei: Die Gesellschaft sei „außermenschlichen Naturprozessen ... zu vergleichen" und die 19

„Vernunft" könne „sich selbst nicht durchsichtig werden, solange die Menschen als Glieder eines vernunftlosen Organismus handeln". Die Gesellschaft wird also holistisch als ein „Organismus" verstanden, doch unterscheidet sich dieser Marx-Horkheimersche Holismus prinzipiell vom holistisch-irrationalistischen Zweig der traditionellen Theorie: ,,Der Organismus als natürlich wachsende und vergehende Einheit ist für die Gesellschaft nicht etwa ein Vorbild, sondern eine dumpfe Seinsform, aus der sie sich zu emanzipieren hat ... Wenn von Vernunft bestimmtes Handeln zum Menschen gehört, ist die gegebene ... Praxis unmenschlich und diese Unmenschlichkeit wirkt auf alles zurück" (H 4/182). Begreift man die Gesellschaft als einen „Organismus" im Sinn einer „dumpfen Seinsform", unterstellt man zugleich einen „Unterschied in der Existenz von Mensch und Gesellschaft", die sich „zwar aus Individuen zusammensetzt", ihrer Eigengesetzlichkeit wegen aber nicht als deren Summierung begriffen werden kann; sie ist als ,,ein bewußtloses und insofern uneigentliches, jedoch tätiges Subjekt" (H 4/174), ein „Gesamtsubjekt" oder „Ganzes", stets mehr oder ein anderes als die Summe seiner Teile. Wie der „Begriff der Notwendigkeit in der kritischen Theorie selbst ein kritischer" (H 4/204) ist, so werden auch die ökonomischen Strukturen der bestehenden Ordnung „kritisch" analysiert. Zwar müssen die „ökonomischen Kategorien Arbeit, Wert" etc. als reale, damit als „in dieser Ordnung" geltende, analysiert werden, doch es wäre die „gröbste Unwahrheit, die Geltung einfach hinzunehmen". Die „kritische Anerkennung" jener das „Leben beherrschenden Kategorien" - als solchermaßen reale und nicht bloß gedachte handelt es sich keineswegs bloß um volkswirtschaftliche Grundbegriffe - ,,enthält zugleich seine Verurteilung" (ebd. ). Nun kennzeichnet Horkheimer nicht bloß seine Kritik, sondern generell die kritische Theorie als eine „dialektische" (H 4/ 180); mehr noch, er ordnet der methodologisch an Descartes' dritter Maxime orientierten „traditionellen Gestalt der Theorie" die von ihm auch als ,,Verstandeslogik" (H 4/198) gekennzeichnete „formale Logik" (H 4/ 190) zu, und zwar im Gegensatz zur kritischen Theorie, für die nachdrücklich eine Logik sui generis in Anspruch genommen wird, eine „dialektische Logik" (H 4/ 185). So dürfte es gerechtfertigt sein, auch 20

Horkheimers kritischen und zugleich dynamischen Holismus vom traditionellen Holismus prinzipiell dadurch zu unterscheiden, daß man ihn als einen dialektischen kennzeichnet. Wenn im Hinblick auf das Verhältnis von Logischem und Historischem ausdrücklich Hegels Phänomenologie des Geistes und Logik einerseits, Marxens Kapital andererseits „als Zeugnisse der gleichen Methode" (H 4/208) charakterisiert werden, muß dies auch im Hinblick auf die „dialektische Logik" gelten. Nun wird seit etwa 30 Jahren unter diesem Aspekt bekanntlich der erst 1953 veröffentlichte Rohentwurf diskutiert; wenn hierbei weiterhin die Relevanz seines dialektischen Gehalts für das Verständnis des Kapital bestritten wird, sollte Horkheimers dialektische Interpretation der „Kritik der politischen Ökonomie" besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, bezieht sie sich doch auf das mit der einzigen Ausnahme von Lukäcs Lenins Nachlaß wurde erst später veröffentlicht - immer als nicht-dialektisch verstandene Kapital. Wenn Horkheimers These über die dem Kapital und damit implizit der Kritischen Theorie zugrundeliegende „dialektische Logik" in den großen Kontroversen über die Frankfurter Schule vollständig ignoriert werden konnte, indiziert dies gewisse Schwächen seiner diesbezüglichen Darlegungen. In „Traditionelle und kritische Theorie" und dem zugehörigen „Nachtrag" wird dieses Thema unmittelbar bloß unter zwei Aspekten angesprochen; es geht einmal um die These vom ,,Umschlag der die Wirtschaft durchherrschenden Begriffe in ihr Gegenteil", vor allem des „gerechten Tauschs in die Vertiefung der sozialen Ungerechtigkeit" (H 4/220) sie scheint für den Begriff der „dialektischen Kritik" bedeutsam und zum andern um das Problem der „real" (H 4/178) bestehenden oder „inneren Widersprüche" (ebd., 189) bzw. ,,Gegensätze". Die kritische Theorie sei „als ganze ein einziges entfaltetes Existenzialurteil. Es besagt, daß die Grundform der Warenwirtschaft, auf der die neuere Geschichte beruht, ... die ... Gegensätze der Epoche in sich schließt, in verschärfter Form stets aufs neue zeitigt" (H 4/201 ). Es ist plausibel, daß die für die Kritische Theorie charakteristische Form der Aussage, die des „Existenzialurteils", den „hypothetischen Urteilen" der traditionellen Theorie entgegenzusetzen ist, doch es muß befremden, daß nirgendwo der Begriff des „realen" Widerspruchs 21

philologisch und systematisch untersucht worden ist. Der philologische Vorwurf läßt sich verallgemeinern: Nirgendwo - mit einer einzigen, freilich gewichtigen Ausnahme - findet sich in diesen frühen Abhandlungen irgendein Marx-Zitat als philologischer Beleg zur Begründung jenes vor allem damals extravagant anmutenden Programms einer Reformulierung der Marxschen Kapitalismustheorie. Daß Horkheimer dennoch, wenn wohl auch nur intuitiv, meist das Richtige, jedenfalls das Wesentliche getroffen hat, ist erstmals von Alfred Schmidt aufgezeigt worden. Er hat darauf aufmerksam gemacht, daß die Horkheimersche Reformulierung auf Einsichten beruht, die er erstmals in der grundlegenden, dennoch bis heute meist ignorierten Abhandlung „Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie" von 1934 entwickelt hat. Hier findet sich jener einzige wörtlich aus dem Kapital zitierte Satz, den Horkheimer seinem Versuch zur dialektischen Rekonstruktion des Kapital zugrundegelegt hat: ,,Die Forschung(!) hat den Stoff sich ... anzueignen, seine ... Entwicklungsformen zu analysieren (!) und deren inneres Band aufzuspüren. Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche (!) Bewegung ... dargestellt (!) werden." (Zit. n. H3/187 f.) Die traditionelle oder besser klassische Ökonomie betreibt in diesem Sinn ausschließlich analytische „Forschung", bereitet die „wirkliche Wissenschaft", die Marxsche „Darstellung", erst vor; diese allein besitzt das begriffliche Rüstzeug, die „wirkliche Bewegung" oder das „Leben des Stoffs" (23/27) wiederherzustellen, ,,die immanente Seele dieses Stoffs zu erkennen" (42/8), seine „immanente Form" (42/5); dies im Unterschied zur „analytischen Methode" der „Forschung", ,,womit das Begreifen anfangen muß", die also bloß den Anfang der „genetischen Darstellung ... des wirklichen (!) Gestaltungsprozesses" (26.3/491) ausmacht. Schmidt begreift nun die Horkheimersche Erfassung der prinzipiellen Differenz zwischen der „Forschung" genannten Methode der traditionellen Ökonomie, d. h. ,,des , isolierenden', analytischen Verstandes" und der auf ein „lebendiges Ganzes" oder den „Gesamtprozeß" gerichteten „Darstellung" als den eigentlichen Geburtsakt der Kritischen Theorie, damit die Abhandlung über den „Rationalismusstreit" als jenes Dokument, in der eigentliche Grundlegung erfolgt, während die folgenden Aufsätze, also auch „Traditionelle und kritische Theorie", dieses lediglich präzisieren und ergänzen. Geht es doch 22

in dieser Abhandlung erstmals um die Begründung eines ganz neuen Theorietyps, der neben Empirie und logischer Analyse jetzt „Darstellung" als einen Erkenntnisgrund sui generis, als dritte Erkenntnisquelle begreift: Sie „macht den eigentlichen Erkenntnisakt aus" und kann daher als „das Existenzmedium der kritisch-dialektischen Theorie"9 bezeichnet werden. Den erstmals von Horkheimer erfaßten Marxschen Begriff der ,,Darstellung" erläutert Schmidt einmal mit der Deutschen Ideologie, in der „positive Wissenschaft" als „Darstellung ... des wirklichen Lebensprozesses" (3/27) definiert wird, näher der „Sache in ihrer Totalität", der „Wechselwirkung" ihrer „verschiedenen Seiten aufeinander" (3/38), zum andern mit der ersten Formulierung des Kritikprogramms in dem vor den Schmidtschen Hinweisen seitens der MarxInterpreten m. W. völlig ignorierten Marxschen Brief an Lassalle vom 22. Februar 1858. Bekanntlich wird hier das geplante Werk als eine ,j(ritik der ökonomischen Kategorien" angekündigt, ,,oder, if you like, das System der bürgerliche Ökonomie kritisch dargestellt"; die „Darstellung" soll also eine „kritische" sein, denn „durch die Darstellung" des Systems sei sie „Kritik desselben". Lediglich einmal noch findet sich bei Marx eine ähnliche Aussage, wonach die Erklärung des Mehrwerts eine „allgemeine Kritik des Gesamtsystems der ökonomischen Kategorien mit sich führe" (26.3/250). Sollten keine volkswirtschaftlichen Grundbegriffe, sondern reale Kategorien gemeint sein, drängen sich sogleich zwei von Marx nur indirekt beantwortete Fragen auf. Es geht einmal darum, was es mit jenem „Gesamtsystem" auf sich haben kann, wenn es sich um ein reales System realer Kategorien und keine bloß subjektive Klassifizierung einzelner Kategorien handeln soll; es geht zum andern um die schlichte Frage, was es eigentlich sinnvoll heißen kann, reale Kategorien „kritisieren" zu wollen, zumal normative Maßstäbe der Kritik nicht in Betracht kommen. Die Klärung des Streits über den Stellenwert jener Sätze sowohl innerhalb des Marxschen Systems wie auch als „Existenzmedium der kritisch-dialektischen Theorie" sollte damit beginnen, sich zunächst einmal über ihre philologische Basis bei Marx und Hegel zu verständigen, weiterhin darüber, ob und in welcher Weise auch der späte Adorno am ursprünglichen Ansatz Horkheimers festgehalten hat. 23

Die Interpretation des Kritikbegriffs sieht sich gegenwärtig einem unauflösbaren Dilemma ausgesetzt. Bedenkt man, daß die analytische oder strukturalistische Interpretation bzw. Rekonstruktion einen Bruch zwischen dem Rohentwurf und dem Kapital behauptet, gar einen ,,Paradigmenwechsel" zugunsten der „analytischen Methode" im Kapital, scheint es insofern problematisch, seine Interpretation als „kritisch-dialektische Theorie" von älteren Definitionen und „Roh"-Entwürfen, also von möglicherweise bloß vorläufigen, experimentellen Überlegungen her zu begründen. Andererseits erzwingt das fast vollständige Schweigen des Kapital über den Kritikbegriff den Rückgriff auf ältere Texte, die einen breiteren Zugang verschaffen. Hierzu sei auf jene fünf Fälle verwiesen, anhand deren Marx explizit oder implizit seinen eignen Kritikbegriff erklärt. Dies geschieht bekanntlich schon in den Frühschriften und zwar erstmals in der Dissertation, wonach die „Darstellung" des „erscheinenden Wissens" - der Bezug auf den Hegelschen Begriff der „Darstellung" ist hier unübersehbar - ein „ kritisches Moment" (40/246) enthält und „Kritik" die „einzelne Existenz am Wesen ... mißt" (40/ 327), im Unterschied zur normativen geht es also um eine immanente Kritik, die den „Verhältnissen ihre eigne Melodie vorsingt" (1/381). Man denke weiterhin an die Unterscheidung zwischen der „wahren Kritik" und einer „dogmatischen" oder „vulgären Kritik" von 1843, wonach jene „vulgäre" Widersprüche nur „findet" und als „bestehend" aufzeigt, statt im Sinn der „wahren" deren „Genesis, ihre Notwendigkeit" ( 1/296) zu begreifen. Es geht weiterhin um den Kritikbegriff des dritten Briefs an Ruge, wonach der Kritiker ein „sich selbst unklares Bewußtsein" analysiert, ihm „nachzuhelfen" sucht, die eignen „Sätze sich klarzumachen" sowie um das Programm, die „Selbstentfremdung in ihren unheiligen Gestalten zu entlarven" (1/379). Es geht vor allem um die praktische Dimension der Kritik, die „ Waffe der Kritik" in die „Kritik der Waffen" (1/385) zu überführen. In diesem Sinn charakterisiert er in der Heiligen Familie die „Kritik der Franzosen und Engländer", deren „Kritik zugleich praktisch" sei. Möglicherweise will Marx mit der folgenden Definition zugleich seinen eigenen Kritikbegriff als Einheit von Theorie und Praxis vorstellen: Es sei die „Tätigkeit von Individuen ..., die als Menschen leiden, fühlen, denken und handeln .... Darum ist ihre Kritik zugleich prak24

tisch, ihr Kommunismus ein Sozialismus, in dem sie nicht nur denken, sondern noch mehr handeln, ist die lebendige, wirkliche Kritik der bestehenden Gesellschaft die Erkenntnis der Ursachen ,des Verfalls," (2/162). Er akzeptiert dort die junghegelianische „Kritik" der ,,Institution", daß sie „sich selbst widerspricht und ... aufhebt", insbesondere als „Dasein" der „sich selbst widersprechenden ... Gleichheit"; die „Erkenntnis" der entfremdeten „Zustände" deuteten „auf die wirkliche Aufhebung derselben" (2i42 f.) hin. Man erfahrt hier auch, daß die wahre „Kritik der Nationalökonomie" den „Standpunkt der Nationalökonomie" transzendieren, nämlich ihre unreflektierten „Voraussetzungen", d. h. ihre Kategorien, ,,Arbeitslohn ... Wert, Preis, Geld etc:' (2/32 f.), ,,begreifen" will; die Nationalökomomie war schon in den Pariser Manuskripten dafür kritisiert worden, daß sie „unterstellt, was sie entwickeln soll" (40i5 l 0). Die „Kritik" geht methodologisch über den „Standpunkt der Nationalökonomie" insofern hinaus, als sie das „Verhältnis zwischen zwei Dingen" nicht mehr empiristisch als eine „zufallige" Tatsache „unterstellt"; Marx will es vielmehr dialektisch als „notwendig" erkennen, ,,deduzieren", d. h. es soll „entwikkelt und begriffen" (40i5 l l ), es sollen aus „ersten Grundlagen", Prinzipien, ,,alle (l) nationalökonomischen Kategorien entwickelt werden" (40/521 ), d. h. ein Gesamtsystem der Kategorien. Außer dem schon diskutierten Brief an Lassalle finden sich in den späteren Aufsätzen und Schriften nur zwei Passagen, die in der Auseinandersetzung mit alternativen Ansätzen zur „Kritik" der Ökonomie - Andeutungen des eignen Kritikbegriffs enthalten. In Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859 findet sich in einer Fußnote die einzige, freilich indirekte Erläuterung dessen, was Marx unter „Kritik der Ökonomie" versteht. Er kennzeichnet den folgenden Auszug aus einer Schrift I. Pereires von 1832 als eine „sentimentale Kritik der Ökonomie", sofern sie nur eine „ganz oberflächliche Form des Antagonismus", der sich in „Kaufund Verkauf darstellt", thematisiert: ,,Weil die Individuen isoliert sind, die einen von den andern getrennt in ihren Arbeiten, darum gibt es unter ihnen Austausch. Aus der Notwendigkeit des Tausches entspringt die Notwendigkeit, den relativen Wert zu bestimmen. Die Ideen von Wert und vom Tausch ... drücken ... den Individualismus und Antagonismus aus .... Man konnte sich nur da mit Preis, mit Wert beschäftigen, wo jedes Indivi-

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duum gezwungen war, zu kämpfen, um sich die zur Erhaltung der Existenz notwendigen Gegenstände zu verschaffen." (Zit. n. 13/76) Es geht in der „Kritik der Ökonomie" primär also nicht um eine Kritik ökonomischer Texte, sondern um eine „Kritik" der realen Kategorien Wert und Tausch; und zwar deshalb, weil sie nicht bloß Arbeit überhaupt „ausdrücken", sondern „getrennte Arbeit", einen sozialen, nicht bloß psychologischen oder gar physiologischen Sachverhalt, nämlich einen „Antagonismus" der Gesellschaft, den Existenzkampf atomisierter Individuen. Die „Kritik der Ökonomie" ist also die Kritik der Kategorien - hier „Ideen", d. h. objektive Gedankenformen genannt - sofern diese die „antagonistische" Gesellschaft, d. h. gesellschaftliche Arbeit „ausdrücken". In seinem Nachruf auf Proudhon von 1865 spricht er von der „kritischen Analyse" der „Produktionsverhältnisse" ( 16/26), wobei die „Wissenschaft aus der kritischen(!) Erkenntnis der geschichtlichen Bewegung zu schöpfen" sei, ,,die selbst die materiellen Bedingungen der Emanzipation produziert" ( 16/28). In einem Brief an Cafiero, der einen „populären Abriß" des Kapital verfaßt hatte, sollte Marx auf denselben Gedanken zurückkommen. Hinsichtlich der einleitenden Darlegung der „Grundgedanken der Sache" meinte er eine „augenscheinliche Lücke" feststellen zu müssen, nämlich den „Beweis dafür", daß „die zur Emanzipation des Proletariats notwendigen materiellen Bedingungen spontan hervorgebracht werden durch den Gang der kapitalistischen Produktion" (34/384). Marx empfahl, diese „materialistische Basis des Kapital mehr hervorzuheben". Nun findet sich im Anschluß an die von Horkheimer rezipierten Überlegungen zur „Darstellung" der „wirklichen Bewegung" eine aufschlußreiche These, warum die Marxsche Form der Dialektik „ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär" sei, der einzige Satz des Kapital über die Intention der „Kritik": Die als „kritisch" charakterisierte Dialektik wolle „in dem positiven(!) Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation ... einschließen, jede gewordne Form im Flusse der Bewegung ... auffassen" (23/28). Marxens scheinbar analytisch verstandene „positive Wissenschaft" ist also das genaue Gegenteil dessen, was man landläufigerweise hierunter versteht. Es soll eine dem „Bestehenden", dem Realem inhärierende „Negation" als eine reale und die ökonomische Form als eine 26

dynamische, ,,vergängliche", sich selbst aufhebende verstanden werden. Die „Kritik" besteht also primär im Nachweis des dem „Positiven" inhärierenden „Negativen" der darzustellenden „wirklichen Bewegung", nämlich der „widerspruchsvollen Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft" (ebd. ), ihres Krisenpotentials. Neben dieser „kritischen Erkenntnis" quasi „materialistischer" und „dialektischer" Art existiert jener eingangs angedeutete esoterische Kritikbegriff, der sich ebenso wie die Kritikfigur der „Verkehrung" Hegelschen Konstruktionen verdankt. Wie steht es nun mit dem Begriff „Kritik" in der folgenden Passage, die offenkundig auf das frühe Kritikprogramm von 1857, auf das Programm der„ Kritik der ökonomischen Kategorien", verweist? ,,Die klassische politische Ökonomie entlehnte dem Alltagsleben ohne weitere Kritik die Kategorie ,Preis der Arbeit' ... Die Bewußtlosigkeit über ... ihre eigne Analyse, die kritiklose Annahme der Kategorien , Wert der Arbeit' ... usw.... verwickelte die klassische Ökonomie in unauflösbare Wirren und Widersprüche ... (sie) stößt annähernd auf den wahren Sachverhalt, ohne ihn jedoch bewußt zu formulieren" (23/559 ff.). Wenn es im dritten Band des Kapital ähnlich heißt, die klassischen Ökonomen blieben in der „von ihnen kritisch (!) aufgelösten Welt des Scheins befangen" (25/838), drängt sich die Frage auf, in welcher Weise in diesen drei Fällen und darüber hinaus generell die Termini „Kritik", ,,kritiklos" bzw. ,,unkritisch" sowie „kritisch" verwendet werden? Es sticht zunächst einmal ins Auge, daß dieser Text die Existenz zweier Formen der Kritik ausdrücklich demonstriert; kritisiert wird unmittelbar die politische Ökonomie als ein Lehrsystem. Indem sich ihre Kritik darauf bezieht, daß sie sich „kritiklos" zu einer realen ökonomischen Kategorie verhält, wird unterstellt, daß es auch eine „Kritik der Kategorien" der politischen Ökonomie gibt, womit implizit dem Begriff „politische Ökonomie" eine zweite Bedeutung unterstellt wird. Es muß weiterhin auffallen, daß zwischen den beiden Kritiken eine Rangfolge besteht. Marx begnügt sich nicht mit einer bloß logischen Kritik des Lehrsystems, d. h. dem Aufweis von „Wirren und Widersprüchen", der „vulgären Kritik"; die Ökonomie als Lehrsystem wird vielmehr der Unterlassung einer anderen Kritik wegen kritisiert; sie wird kritisiert, weil sie „ohne weitere Kritik" der Kategorien diese „bewußtlos" und in diesem Sinn „kritiklos" hinnimmt, obwohl sie der 27

„Kritik" bedürfen. Die versäumte Kritik der realen Kategorie hat eine zweite Kritik des Lehrsystems zur Folge; diese zweite Kritik ist Kritik im Sinn der Alltagssprache, eine exoterische; sie gilt als eine sekundäre, weil sie jene erste esoterische Kritik voraussetzt, die der Alltagssprache unbekannt ist. Die unterlassene esoterische oder „wahre Kritik" der Kategorien ist aber eine genetische, wie dies. in dem Nachweis deutlich wird, daß der Begriff des „ Werts der Arbeit" als „irrationeller Ausdruck für den Wert der Arbeitskraft" (23/56 l) bzw. ihr „Preis" einem objektiven Entstehungsgrund zuzuschreiben ist: sie sind keine willkürlichen Bestimmungen der Ökonomen, sondern „entspringen aus den Produktionsverhältnissen selbst" (23/559). Darzustellen ist daher die „Notwendigkeit, die raisons d'etre dieser Erscheinungsform" eines unmittelbar Nicht-Erscheinenden, eines Wesens oder „wesentlichen Verhältnisses", nämlich des „Werts" bzw. des „Preises der Arbeitskraft", der ,, Ware" Arbeitskraft; und zwar dergestalt, daß die „Erscheinungsform" das Wesen oder Wirkliche „unsichtbar macht und grade sein Gegenteil zeigt" (23/562) - also „verkehrt"; genauer: die „Kritik der Kategorie" ,,Wert der Arbeit" gilt ihrer verschleiernden Eigenschaft, einen antagonistischen Sachverhalt, den Verkauf der eignen Arbeitskraft als Ware in den nicht-antagonstischen des Verkaufs einer Leistung zu verkehren und den allerdings „notwendigen Schein" einer harmonischen Kooperation von Produktionsfaktoren vorzuspiegeln. Die Verkehrung wird auch „Verwandlung" genannt: die „Verwandlung von Wert resp. Preis der Arbeitskraft" in Wert resp Preis der Arbeit qua Lohnarbeit, ein anonymer, bewußtloser, überindividueller Prozeß, der ,,konstruiert" oder „dargestellt", aber nicht empirisch erfahren werden kann. Das Versäumnis nicht bloß der klassischen Ökonomie, sondern der politischen Ökonomie überhaupt kann auch so ausgedrückt werden: Sie behandelt die Kategorien, die doch nicht nur „gegenständliche", reale, sondern zugleich „Schein" sind, als etwas „Unmittelbares" im Sinn eines Nicht-Erzeugten, quasi-apriorisch Vorgegebenen; sie behandelt sie unreflektiert, ,,bewußtlos" als eine „Voraussetzung" und nicht als „Resultat". Allerdings stellen sich die Kategorien selbst so dar und dürfen deshalb nicht „kritiklos" hingenommen werden; ihre ,,Kritik" gilt also dem „Schein" ihrer „Unmittelbarkeit". 28

Der Doppelcharakter der Kritik betrifft nicht die Kategorie„ Wert" bzw. ,,Preis der Arbeit", sondern jede ökonomische Kategorie. So heißt es einmal: ,,Wir sehn nur fertige, vorhandne Werte" (25/42); sie verbergen also ihre Genesis. Korrespondierend hierzu kann das „kritiklose" und „bewußtlose" Verhalten der Ökonomen allgemein daher auch als „Standpunkt der fertigen Phänomene" (24/218) charakterisiert und kritisiert werden - Lukacs' ,,Standpunkt der Unmittelbarkeit"10, der das bürgerliche Denken überhaupt auszeichnen soll. Nun bezieht sich die Marxsche Kritik der „kritiklosen Annahme" von Kategorien nicht bloß auf die des Werts und Preises der Arbeit; „ohne weitere Kritik" werden in der akademischen Ökonomie damals wie heute auch die beiden anderen Distributionsformen bzw. Preise der sog. ,,Faktorleistungen" von Boden und Kapital, die Bodenrente und der sog. Kapitalzins, also Leihzins plus Unternehmergewinn, der Empirie „entlehnt". Es geht daher um die „Vermittlungen (!) der irrationellen Formen" (25/787) generell, die als „irrationell" charakterisiert werden, weil hier eine „historische Gestalt" oder „soziale Form" (25/824) auf Physisches, auf die „natürliche Form der Arbeitsmittel" (25/833), auf ihr „stoffliches Dasein" (25/832) bezogen oder aber die „okkulte Qualität eines Werts" unterstellt werden muß, ,,sich selbst ungleich zu sein" (25/826); sie stellen mithin kein „rationelles Verhältnis" (25/83 1) dar, so daß die Thematisierung dieser „inkommensurablen Größen ... , unter sich beziehungslosen und unvergleichbaren Dinge" (25/832) zu „ungelösten Widersprüchen" (25/838), zu einen „fehlerhaften Kreislauf und dem Progreß ins Unendliche" (25/ 850) führen muß. Die Irrationalität der „irrationellen Formen" erscheint „in der höchsten Potenz", in ihrer „Vollendung" im zinstragenden Kapital als „Mutter aller verrückten Formen" (25/483); es ist „verrückt" als ein „Verhältnis eines Dings ... zu sich selbst" (25/ 405), wobei zu bedenken ist, daß das Kapital überhaupt als ein„ Verhältnis zu sich selbst" (25/58) beschrieben werden muß, als ein sich reproduzierendes Selbstverhältnis oder „Subjekt" (23/169). Marxens Beschreibung der „Verrücktheit" dieser Formen und daher auch die generelle Kennzeichnung der ökonomischen Kategorien als „verrückter Formen" (23/90) ist ebenso überzeugend gelungen wie ihre Bestimmung als „irrationelle Formen", die zugleich als solche „Gestaltungen des Scheins" (25/838) zu begreifen sind, der „not29

wendig" entsteht, näher aus der „Bewegung der Einzelkapitale" (25/ 877) entspringt. Die Aufgabe, ,,Vermittlungen der irrationellen Formen" aufzusuchen, enthält zugleich ihre Charakterisierung als das, was Marx mehrfach auch „unmittelbare Formen" genannt hat, wobei zweierlei zu bedenken ist: Im Hegelschen Sinn verwandte er den Begriff „unmittelbar" synonym mit „unvermittelt" und den Begriff der „unmittelbaren Form" synonym mit „fertiger Form", im Kontext der einfachen Zirkulation auch im Sinn von „abstrakter", ,,unentwickelter", vor allem aber „einfacher Form". Die „einfache Form" des Werts und der Zirkulation oder die Zirkulation als „einfache" wird als ein „unmittelbares Sein" beschrieben; von diesem heißt es nun, daß es „reiner Schein" ist, weil das „unmittelbar Vorhandne an der Oberfläche" nur ,,ist ..., sofern sie beständig vermittelt ist" (42/180); zwar„ verschwindet" bekanntlich die „vermittelnde Bewegung" in der „fertigen Form" und „läßt keine Spur zurück" (23/107), sie produziert also ein „Unmittelbares"; doch dieses selbst „verschwindet" und erweist sich insofern als „Schein", als in seiner theoretischen Rekonstruktion wie in seiner realen Reproduktion die „Vermittlung" ausbleibt. Dies gilt offenbar auch für das, was Marx den „unmittelbaren Produktionsprozeß" nannte, der nämlich nur als „Moment" des „Gesamtprozesses" als „Ganzes und Einheit" (25/357), nämlich der „Einheit des unmittelbaren Produktionsprozesses und des Zirkulationsprozesses" (25/ 836), wirklich und nicht bloß gedacht „ist". Die im Kapital gestellte Aufgabe der „Vermittlungen" ist also immer die von „Unmittelbaren", die als „Momente", ,,Glieder" des ,,Ganzen" auszuweisen sind, des „ Kapitals als Ganzes betrachtet" (25/33), das im Sinne Horkheimers „nicht bloß mehr, sondern überhaupt etwas Anderes ist als die Summe seiner Teile" (H 3/204), ein „Ganzes" freilich im Sinne des „Gesamtprozesses", des Kapitals„ als Ganzes" eines „Bewegungsprozesses". Die „Vermittlungen" der „irrationellen Formen" in ihrer Eigenschaft als „fertige" und „unmittelbare", ,,unvermittelte" geschehen zunächst einmal so, daß ihr „innerer Zusammenhang" erkannt wird, der ,,zerrissen", ,,ausgelöscht" (25/838 f.) ist. Zwar ist es unmittelbar plausibel, daß diese Formen aufeinander verweisen, bloße „Momente" einer antagonistische Einheit bilden, doch werden sie in der National30

ökonomie „für sich isoliert" (25/787), ,,für sich genommen" (25/823) und stellen sich dadurch als unmittelbare Elemente des Produktionspreises dar, der hinsichtlich des von ihm repräsentierten Neuwerts als bloße Summe dieser drei irrationellen Formen erscheint. Tatsächlich bedarf es der Konstruktion eines theoretischen Ganzen, mithin eines dem realem „Gesamtprozeß" korrespondierenden theoretischen „Gesamtsystems der ökonomischen Kategorien", das es erlaubt, das „Dasein" dieser Formen „von dem verborgenen Zusammenhang und den vermittelnden Zwischengliedern" (26.3/445) her zu entwickeln; sollen die „fertigen Formen ... fertigen Voraussetzungen" nicht wie in der akademischen Ökonomie damals und heute unreflektiert „als gegeben vorausgesetzt" und in ihrer Einzelheit „fixiert" werden, kommt es darauf an, jene „vielen Verwandlungen(!), Vermittlungen(!)" des absoluten Werts, die „ausgelöscht und unerkennbar" geworden sind, zu rekonstruieren, d. h. aus einem „rationalen Verhältnis" durch eine ,,Masse unsichtbarer Mittelglieder" (26.3/476 f.) hindurch „abzuleiten", zu „entwickeln". Es versteht sich, daß die Vermittlungen - im Kapital wird fast ausschließlich der Terminus „Verwandlung" gebraucht - keinen infiniten Regreß enthalten dürfen, weshalb sie ihre Funktion nur innerhalb eines Systems erfüllen können, eines aus Teilsystemen bestehenden „Gesamtsystems von Kategorien", einem Kreis von Kreisen, in dem sich eine „Masse von Mittelgliedern" mit Anfangs- und Endgliedern zu einem theoretischen Ganzem zusammenschließen, in dem jedes mit jedem vermittelt ist. Das Programm der„ Vermittlung" betrifft nicht nur die jener schlechthin „irrationellen Formen", sondern ,jedes, selbst das einfachste Element, wie z. B. die Ware", die „schon eine Verkehrung ist" (26.3/498), sahen wir doch, daß der Preis überhaupt als „gesellschaftliche Natureigenschaft" zu beschreiben ist, als eine scheinbar „unmittelbare(!) Eigenschaft von Dingen" (26.3/503), wobei freilich nur „in den letzten vermitteltsten Formen", den konkretesten, also dem Preis des Kapitals, die„ Vermittlung nicht nur unsichtbar geworden, sondern ihr direktes Gegenteil ausgesprochen ist" (26.3/504), nämlich als ein Unmittelbares schlechthin erscheint, als Urphänomen. Das Moment der „Unmittelbarkeit" der Formen ist das ihrer Vorgegebenheit und ihres Fürsichseins, ihrer Einzelheit, mithin das Moment der Gegenständlichkeit des Scheins, ihrer „Realität". 31

Damit ist nun aber implizit auch der „Formunterschied" (23/565), der Unterschied zwischen den einzelnen Formen als ein „realer", und sind korrelierend hierzu die „Formbeziehungen" (42/223 ff.) als „reale" begriffen. So spricht Marx denn auch von einem „realen Unterschied" (42/43, 175) der Kategorien, ihrer „realen Formbestimmtheit" (26.3/452), den „realen Gegensätzen" (26.3/492), der Analyse der ,,realen Verhältnisse (32/552), der „reellen Mystifikation" (13/35), schließlich auch von einem „realem Gegensatz" (26.3/492). Nur unter der Voraussetzung realer „Formunterschiede", damit auch realer Kategorien, kann ich sinnvoll von einer „Einheit des Mannigfaltigen" sprechen, erst recht von „Gliedern einer Totalität ... Unterschiede innerhalb einer Einheit" (42/34 f.), von Kategorien als Ausdrücken einer ,,inneren Gliederung" (42/42) der Gesellschaft, einer realen mithin. Lukacs erkannte als wohl erster Interpret, daß wir es im Kapital mit einer „Reihenfolge", ,,qualitativen Abstufungen", einer „Hierarchie dieser Kategorien" zu tun haben, Marx sogar mit „abgestuften Seinsbegriffen arbeitet", die die Erkenntnis vor „falschen Trennungen der Gegenstände" und ihre „noch falschere Verknüpfung" durch „abstrakte Reflexionsbestimmungen", also vor modelltheoretischen Konstruktionen bewahren, insbesondere der „Verknüpfung der Gegenstände auf der Oberfläche" 11 Dies tritt am deutlichsten in dem Lukacs unbekannten Rohentwurfhervor, wo Marx die ökonomischen Spähren und Kategorien in ihrer „Gliederung" (42/30 f., 39) untersucht, ihre „Aufeinanderfolge" (42/41), gar von einer „niedren Form" (42/176) des Kapitals spricht sowie von „höhren Formen" (42/173), einer „höhren Stufe des Tauschwerts" (42/239), generell „Entwicklung" als „niedre" und „höhere Realisation" (42/176) einer Sache begreift - vom Standpunkt der „analytischen" Interpretation illegitime Begriffe. Wenn sich diese Konstruktionen im Kapital bloß noch in abgeschwächter Gestalt wiederfinden, so kann die Ökonomiekritik als Vermittlung unmittelbar gegebener Formen nicht darauf verzichten, an dem Postulat der realen und dynamischen Gliederung des „Stoffs" festzuhalten. Kulminiert seine „Kritik der politischen Ökonomie" als Lehrsystem, sein Vorwurf der „kritiklosen Annahme" von Kategorien doch schließlich in dem Vorwurf ihrer „unmöglichen Kompositionen" (25/825), vor allem aber ihrer permanenten „Verwechslungen", die nur solche von realen Strukturen sein können. 32

Ist es richtig, daß die Kategorien hierarchisch aufeinanderfolgen, bedeutet eine „Verwechslung" von niederen und höheren, daß Ursache und Wirkung „verwechselt" werden. In einer seiner zahlreichen Erörterungen der bekanntesten „Verwechslung", der „des empirischen Profits mit dem Mehrwert", drückt Marx dies so aus, in der Konkurrenz erscheine, ,,was Wirkung ist ..., als Ursache, die verwandelte Form als die ursprüngliche etc." (11.3/1630), So wird Ricardo vorgeworfen, er treffe diese Unterscheidung „nie mit Bewußtsein". Generell geht es um die „Verwechslung" einer „ursprünglichen Form" mit einer ,,abgeleiteten oder sekundären Form" (26.3/460), sowie einer „ursprünglichen Einheit" (25/870) mit den „Produkten" ihrer „Spaltung", „Zersetzung", also Derivaten. Da die Notwendigkeit des „Scheins" in dieser „Quidproquo" genannten Verwechslung gründet, ist es letztlich diese, die „notwendig" (25/875) ist. Die „Verwechslung" besteht näher in einer falschen „Identifizierung" von gegensätzlichen Momenten einer Einheit. Marx erwähnt die „Verwechslung und Identifizierung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses mit dem einfachen Arbeitsprozeß" (25/890), sodaß die „gesellschaftliche Form" mit ihrem „stofflichen Dasein" identifiziert wird, also Gegensätzliches „zusammenfällt" (25/833), und charakterisiert sie einmal als „die ökonomische Verwechslung" (26.1/281) überhaupt. Die „Verwechslung" von Wert und Gebrauchswert, konkreter und abstrakter Arbeit ist wohl der Ursprung und Grund aller anderen Verwechslungen. Wie Marx am Beispiel Condillacs eine „Verwechslung von Gebrauchswert und Tauschwert" (23/173) als Ursache der Entstehung subjektivistischer Mehrwerttheorien nachzuweisen vermochte, so läßt sich eine solche Verwechslung auch am Beispiel von Böhm-Bawerks und Wicksells Theorie der „Wertproduktivität" des Kapitals oder an Schumpeters Kapitaltheorie demonstrieren, ihrer permanenten „ Verwechslung und Identifizierung" von Gebrauchswert und Wert als primärer Grund ihrer falschen Kapitaltheorien. Nun erinnert die zentrale Stellung der Kritikfigur „Verwechslung" sogleich an Kants Untersuchungen über die „Amphibolie" philosophischer Grundbegriffe in der Kritik der reinen Vernunft, ,,d. i. einer Verwechslung des reinen Verstandesobjekts mit der Erscheinung" (KrV A 270), also von Übersinnlichem und Sinnlichem. So besteht denn auch Einigkeit darüber, daß der Werktitel sich nicht bloß auf die 33

,,Grenzbestimmung für das menschliche Einsichts vermögen" bezieht, sondern noch eine zweite Bedeutung in sich schließt: ,,kritisch d. h. scheidend-unterscheidende (griechisch: krinein) Untersuchung" 12 • Der junge Marx spricht in diesem Sinn von einer „ kritischen Scheidekunst" (1/85) und einer „unkritischen Verwechslung" (1/351). Wenn später etwa eine „Verwechslung oder der Mangel von Unterscheidung zwischen Mehrwert und Profit" (II.3/1606) konstatiert wird und Marx in der „Kritik" Ricardos „unterscheiden" will, ,,was er nicht unterschieden hat" (26.2/170), geht es um die Kritik einer „unkritischen Verwechslung". Besonders in den ökonomischen Schriften verwendet er die Termini „kritisch" etc. in einer Weise, die man wohl nur im Sinne von „krinein" qua „scheiden, trennen" zu deuten vermag. So hinsichtlich jener Passage, in der Marx sich darauf beruft, daß er zuerst den Doppelcharakter der Arbeit, den „Springpunkt" zum Verständnis der Ökonomie „kritisch nachgewiesen" (23/56) habe, nachgewiesen im Sinne von „kritisch entwickelt" (11.5/22),wie es in der Erstausgabe hieß. Bezeichnete er die „Analyse der Ware auf Arbeit in Doppelform" als das „kritische Endergebnis" ( 13/56) mehr als l 50jähriger Forschungen der ökonomischen Klassik, so ist klar, daß hier nur eine „scheidend-unterscheidende" Analyse gemeint sein konnte, die durch „kritische Entwicklung" bloß vollendet worden sei; in diesem Sinn dürfte er auch von dem „Geheimnis" seiner „kritischen Auffassung" (32/11) gesprochen haben, seiner Lehre vom Doppelcharakter. Die Rede von den „klassischen und daher kritischen Ökonomen" (26.3/493) wird man ähnlich deuten müssen, waren damit doch weniger die Linksricardianer als ihre liberalen Wortführer gemeint; wird ihnen doch vorgeworfen, daß sie die Distributionsformen von denen der Produktion „trennen" (26.3/490), also Zusammengehöriges. Auch der berühmte Satz, daß die klassischen Ökonomen in ,,der von ihnen kritisch aufgelösten Welt des Scheins" dennoch „befangen" blieben und sie sich daher in „Widersprüche" (25/838) verwickelten, dürfte sich auf den scheidend-unterscheidenden Charakter ihrer Analyse beziehen, nämlich die irrationellen Formen von ihrer Substanz, vom Wert „abzustreifen" (26.3/493), ,,abzuschälen" (26.3/490), also zu scheiden, zu trennen. Nun liegt es auf der Hand, daß diesem Sinn von „Kritik" eine untergeordnete Bedeutung zukommt und das Problem des Untertitels 34

des Kapital sich auf die schwierig zu beantwortende und m. W. bislang unerörtert gebliebene Frage zuspitzt, ob die „Kritik der politischen Ökonomie" der „Kritik der ökonomischen Kategorien" gleichzusetzen ist. Dieses Kritikprogramm hat mit dem Kantischen wenig gemein, es entstammt der Hegelschen Logik, wo man in der ersten Anmerkung zum Abschnitt „Werden" den Ausdruck „Kritik der Kategorien" als Ursprungsort des Marxschen wiederfindet. Die Vorrede zur zweiten Ausgabe der Logik ebenso wie die zur zweiten Ausgabe der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften können als Erläuterungen jener „Kritik der Kategorien" gelesen werden, die im Kontext einer „Kritik ... der Vernunft" oder besser des „Verstandes" geschieht. Daß Marx sich hierauf direkt bezieht, läßt sich der schon herangezogenen Passage über die „Vermittlungen der irrationalen Formen" entnehmen. Es tritt dort zutage, daß Marxens Programm, eine Kritik ,,der" politischen Ökonomie qua Lehrsystem auszuarbeiten, also aller vorhandenen wie aller möglichen Doktrinen der Volkswirtschaftslehre, in der Hegelschen Kritik der „verständigen" oder „endlichen" Wissenschaft gründet. Die oberste Maxime seiner Kritik leitet Marx aus der Hegelschen Kritik des „Formalismus" der Geometrie wie „anderer Wissenschaften" ab, wonach der sich in ihnen betätigende „Verstand" das „irrationell findet", was in Wahrheit „das Rationelle" sei, während in der Sicht von Hegel und Marx dieses „Rationelle" der ,,verständigen" Wissenschaft „die Irrationalität selbst ist" (25/787). Die Redaktion der Werkausgabe macht zu Recht darauf aufmerksam, daß Marx hierbei an den Paragraphen 23 l der Hegelschen Enzyklopädie denkt, damit an jenen Abschnitt mit der Überschrift „Das Erkennen", den vorzugsweise auch Horkheimer seiner Interpretation der „dialektischen Darstellung" Marxens und seiner Kritik des „Formalismus" (H 3/226, 307 f.) der Nationalökonomie zugrundelegt. Dabei handelte es sich um denselben Paragraphen 227 - bzw. die entsprechenden Passagen der Wissenschaft der Logik über die „Mittelglieder" -, dessen Kritikfigur Marx bereits anläßlich seiner methodologischen Kritik der klassischen Ökonomie benutzt hatte, ihrer ,,analytischen Methode" (26.3/491). Die Hegelsche Kritik im Paragraphen 231 am „verständigen Prinzip" und „verständigen Fortgehen" der Wissenschaften enthüllt in der Tat die „Irrationalität" jenes forma35

listischen Paradigmas der Ökonomie, deren Denkstil Marx einmal als ,,die Natürlichkeit des flachen Rationalismus" (24/96), die „Natürlichkeit" des „natürlichen Bewußtseins", charakterisierte: ihr „verständiges Fortgehen" stößt Hegel zufolge auf ,Jnkommensurabilitäten und lrrationalitäten ... Sie brechen die Konsequenzen desselben ab und nehmen, was sie brauchen, oft das Gegenteil des Vorhergehenden von Außen, aus der Vorstellung, Meinung ... oder woher es sonst sey, auf'. Die mit den Termini „Inkommensurabilität" und „Irrationalität" bezeichneten beiden Hauptmotive der Marx.sehen Kritik „der" Volkswirtschaftslehre entstammen also der Hegelschen „Kritik der Kategorien" des „verständigen" Denkens. Wenn Marx schon in den Pariser Manuskripten forderte, statt der „Unterstellung" von „Tatsachen" das „notwendige Verhältnis zwischen zwei Dingen" zu „deduzieren", dürfte er ferner an das Postulat des Paragraphen 232 gedacht haben, einen „gegebenen und zufälligen Inhalt ... als einen nothwendigen", d. h. den „Schein" des Unmittelbaren und Irrationalen als einen „notwendig" existierenden in der Absicht zu „entwickeln", das „Irrationelle" in rationeller Weise „begreifen" zu können. Wie nun aber Adornos „Kritik der soziologischen Kategorien" (A 8/557 f.) - er bezieht sich hier offenkundig auf Marxens „Kritik der ökonomischen Kategorien" - ihn zur „Kritik des soziologischen Objekts", zur „Kritik der Gesellschaft" führen mußte, so verweist auch Marxens „Kritik der politischen Ökonomie" qua Kritik der volkswirtschaftlichen Grundbegriffe notwendig auf die „Kritik der politischen Ökonomie" qua „Kritik der Gesellschaft". Konstatierte er, daß für die scheinbar „rationelle", nämlich an der „analytischen Methode" orientierte Volkswirtschaftslehre gewisse „Phänomene ... unbegreiflich bleiben", die „neben der Theorie als unverdauliche Wirklichkeitsbrocken herlaufen" (II.3/1607), also die Rationalität ihres „flachen Rationalismus" in die „Irrationalität selbst" umschlagen muß, insistiert er zugleich darauf, daß es eine „Irrationalität der Sache selbst" (26.3/509), der ökonomischen Realität gibt, die freilich an sich, weil durch Menschen produziert, intelligibel sein muß. Am Beispiel dieser „Vermittlung der irrationellen Formen" läßt sich wohl am plausibelsten demonstrieren, daß die Marx.sehe „Darstellung" ganz im Sinne ihrer Horkheimer-Schmidtschen Deutung in der Tat den „eigentlichen Erkenntnisakt" in der Analyse der sozial36

ökonomischen Realität ausmacht. Schmidt bezog sich überzeugend auf ihre Horkheimersche Interpretation, wonach die in die „Darstellung" aufgenommenen Grundbegriffe der akademischen Einzelwissenschaften, d. h. der analytischen „Forschung" innerhalb ihrer „nicht bleiben, was sie waren", sondern „neue Bedeutungsfunktionen" deshalb erhalten, weil sie „in der Verbindung" nicht mehr die „gleichen Eigenschaften behielten wie vor und nach ihrer Teilnahme an diesem Ganzen" der Darstellung, die auch als „theoretisches" oder „gedankliches Ganzes" (H 3/316 f.) bestimmt wird, in Marxscher Terminologie als „Gedankentotalität" (42/36). Gemäß der Doppelfunktion der ,,Darstellung" des „gegenständlichen Scheins" werden die Grundbegriffe als Glieder dieses Ganzen, sofern sie reale Kategorien bezeichnen, nicht bloß kritisiert, sondern zugleich in ihrer „realen Bedeutung" (H 3/ 185) erkannt, daß nämlich ,jeder Begriff erst als Moment des theoretischen Ganzen reale Gültigkeit besitzt; er kommt zu seiner eigentlichen Bedeutung erst, wenn über seine Verflechtung mit anderen Begriffen zur theoretischen Einheit fortgeschritten und seine Rolle in ihr erkannt ist" (H 3/302). Horkheimer verweist hierzu auf „die Grundbegriffe der klassischen englischen Nationalökonomie", die „im Zusammenhang zu Momenten neuer Sinneinheiten" werden und so ,,neue Funktionen" (H 3/317) gewinnen. Tatsächlich erlangen z. B. die Kategorien „fixes" und „zirkulierendes Kapital" ihre „eigentliche" und „reale Bedeutung" erst als Produkte der „Verwandlung, Vermittlung" von „konstantem" und „variablem Kapital", die „Profitrate" als Produkt der „Verwandlung" der „Mehrwertrate", die Figuren des „Kreislaufs" des Einzel- und Gesamtkapitals nur als Fortbestimmungen der ,,unentwickelten" oder „einfachen Zirkulation" von Ware und Geld, die irrationellen Formen erst als Produkte der „Spaltung" oder „Zerfällung" einer „ursprünglichen Einheit" (25/870), des Werts, und zugleich als dessen „verkehrte Formen" (25/876) etc. So sind in der Tat die Begriffe der klassischen Ökonomie „übernommen" und doch ist das „Ganze der materialistischen Ökonomik dem System der klassischen entgegengesetzt" (H 3/317) und muß ihm auch entgegengesetzt sein, sofern ihre Vertreter aufgrund ihrer permanenten „Verwechslungen" ursprünglicher und abgeleiteter Formen, damit von Grund und Folge, sich „in unauflösbare Wirren und Widersprüche" (23/561) verstrickt hatten. 37

Nun ist das Problem der „Vermittlung" jener „fertigen Formen" und „Voraussetzungen" der „klassischen" wie jeder ökonomischen Doktrin nicht bloß eines der „Vermittlung" innerhalb eines „gedanklichen Ganzen", sondern parallel hierzu auch und vor allem der Erzeugung durch ein reales Ganzes. Wollte man die Formen des Werts und diesen selbst als apriorische „Urphänomene" etwa im Sinne Georg Simmels verstehen, also aus der Perspektive einer irrationalistischen Lebensphilosophie, hätte schon der junge Marx dem im Sinne Vicos die sozialwissenschaftlich weit legitimere These entgegensetzen können: Ökonomische „Kategorien ... sind ... Produkte" (4/130), sofern die „kapitalistische Produktionsweise" nicht nur „das materielle Produkt reproduziert, sondern die ... Formbestimmtheiten seiner Bildung" (25/887). So hieß es in bezug auf die einfache Warenzirkulation: Wir „betrachten nur die ökonomischen Formen, die dieser Prozeß erzeugt" (23/161), und im „Buch II" war die „Zirkulationssphäre" des Kapitals „nur darzustellen in bezug auf die Formbestimmungen, die sie erzeugt" (25/836); schließlich geht es auch im Buch III um das „Auffinden" jener „konkreten Formen ..., welche aus dem Bewegungsprozeß des Kapitals als Ganzes betrachtet, hervorwachsen" (25/33) oder jener „Gestaltungen", die der „wirkliche Produktionsprozeß, als Einheit des unmittelbaren ... und des Zirkulationsprozesses, erzeugt" (25/836). Die „Erzeugung" der „Kategorien" oder „Formbestimmungen", ,,Gestaltungen" geschieht als ,,Hervorwachsen" aus einem Prozeß, der „als Ganzes und Einheit" (25/ 357) angeschaut, in seiner „Gesamtheit (Ganzheit) betrachtet" (II.3/ 1598) wird; als Erzeugnisse, Produkte eines sozialen Prozesses werden die Kategorien einmal schlicht „gesellschaftliche Bildungen" (26.1/367) genannt und in diesem Sinn die „Erzeugung" der Formen auch „Formbildung" (24/32). Ihr wichtigster, weil ursprünglichster Fall ist jener Prozeß der Formbildung, den Marx einmal die „Production der Werthform" (II.6/26) genannt hat; die beiden klassischen Termini für diese soziale „Production" sind jedoch die beiden Marxschen Fundamentalbegriffe „Darstellung" und „Verwandlung". Ihr ursprünglichster Sinn führt ins Zentrum der Werttheorie, als deren Aufgabe die „Darstellung der Sache als eines gesellschaftlichen Dings ... die Verwandlung des Arbeitsprodukts in Waare" (11.5/47) bestimmt wird, also die „Dar38

stellung" einer „wirklichen Bewegung", eines „Werdens". Sie „versteht sich von selbst" für die Volkswirtschaftslehre und definiert die ,,ökonomistische" (13/42) Einseitigkeit ihrer Perspektive, deren Kritik mit dem Nachweis des permanenten „Verwechselns von Produkt in seinem natürlichen und ökonomischen Sinn" ( 42/ l 98) beginnt, der ,,Verwechslung" der kategorialen Differenz von Produkt und Ware, „Produktentausch" und „Zirkulation". Die Marx.sehe These, daß in der Formgenese der „Zirkulation" erstmals „das Ganze der gesellschaftlichen Bewegung" sich darstellt, d. h. ein Überindividuelles „erscheint (!)", weshalb er sie auch als die „erste Totalität unter den ökonomischen Kategorien" ( 42/ l 27), als „große gesellschaftliche Retorte" (23/ 145) charakterisiert, zeichnet sie als eine „höhere Form" gegenüber dem „Produktentausch" aus. Im Kontext der Darstellung des „dialektischen Entstehungsprozesses" der Kategorie Kapital - der „ideale Ausdruck der wirklichen(!) Bewegung, worin das Kapital wird(!)" (42/231), seines „Werdens" (42/201) - hatte Marx ausdrücklich vermerkt, daß es sich hierbei um eine Geschichte eigentümlicher Art handelt, um eine solche „Geschichte", die „täglich vor unseren Augen" (23/161) stattfindet. Eine solch „contemporäre Geschichte" (11.3/2268) ereignet sich „täglich" aber auch hinsichtlich der„ Verwandlung des Arbeitsprodukts in Waare" sowie der Ware in Geld, deren Sein gleichfalls als „Gewordensein" (11.3/2280) aus einem Andern, als Resultat seiner „Verwandlung" begriffen werden soll. Einen wesentlichen Aspekt des Marx.sehen Programms, daß die „ wirkliche Bewegung ... dargestellt" werden soll, könnte man mit Maurice Godelier als „ideelle Genesis" von Kategorien bezeichnen, die zwar auch „als Werkzeug für die Analyse der konkreten Genesis der historischen Prozesse" 13 fungiert, doch primär als eines der Analyse „contemporärer Geschichte", der tagtäglichen Erzeugung von Geld als Geldkapital oder der „Wertschöpfung" in Gestalt der „Produktion" von Wertformen. Der Marxsche Holismus ökonomischer Ganzheiten hat diese als Objekt einer fundamentalen Kritik zum Gegenstand, begründet die „Kritik" der ökonomischen „Polis" (,,Ganzes") und unterscheidet sich dadurch prinzipiell vom überlieferten, der in zweierlei Ausprägungen auftritt, als philosophischer und als nationalökonomischer, als irrationalistisch-lebensphilosophischer und als rationalistisch-empiri39

stischer. Unabhängig von Marx sind in der Tradition der Historischen Schule der Nationalökonomie einige oberflächliche und dilettantische Versuche zur Synthese der beiden Stränge des ganzheitlichen Gedankenguts unternommen worden, nämlich von solch präfaschistischen Ökonomen wie Gott!, Spann und dem späten Sombart. In ihrer Auseinandersetzung mit dem rationalistischen, methodologisch am Neukantianismus oder Positivismus bzw. methodologischen Individualismus orientierten Hauptstrom der Nationalökonomie hielten sie auf der Grundlage begriffsrealistisch-irrationalistisch gefärbter Kategorien daran fest, daß die Realität objektiv gegliedert und das volkswirtschaftliche Ganze mehr als die Summe seiner Teile sei, weshalb es sich nicht auf seine Elemente reduzieren lasse, auf die willkürlich konstruierten Nutzenschätzungen und auf ihnen basierender Wahlhandlungen isolierter Robinsons. Wenn Horkheimer als richtigen Kern der irrationalistischen Kritik des Rationalismus hervorhob, die „begriffliche Betrachtungsweise ... zerstöre ihre Gegenstände" 14, versage vor den „Phänomenen des Lebens" (H 3/ 171) und diese Einwände auch auf die „formalistische Problematik" (H 3/226) der quantitativen Nationalökonomie bezog, hätte er sich hierbei auch auf deren Kritik durch Gott!, Sombart und Spann berufen können. Daß das richtige Moment dieses Denkens, insbesondere seine in ihm angelegte Kritik der quantitativen, walrasianischen Gleichgewichtstheorie, auf den Marxschen Totalitätsgedanken verweist, sollte 1937 Valentin F. Wagner demonstrieren, der von Spannsehen Vorstellungen über die „Funktion einer ökonomischen Kategorie" als „Leistung" eines „Teils" zur „Erhaltung des Ganzen" 15 ausgehend seinen kredit- und konjunkturtheoretischen Untersuchungen die kreislauftheoretisch begründete Marxsche Kredittheorie zugrundelegte. Doch auch die klassischen Repräsentanten des methodologischen Individualismus und der rationalistischen Sozialökonomie, Carl Menger und Schumpeter, waren in ihrer Beschäftigung mit dem volkswirtschaftlichen Holismus von Skrupeln geplagt, zeitlebens unentschieden oder aber bemüht, die keimenden Einsichten zu verdrängen wie Max Weber. Vor allem Carl Menger öffnete sich in seinen im Marxschen Todesjahr 1883 erschienenen Untersuchungen über die Methode der

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Socialwissenschaflen kategorialen und holistischen Fragestellungen. Seine Kritik der historischen Schule bestand eigentlich darin, daß er deren eignes Problem des ,,,organischen' Ursprungs" oder „Werdeprocesses" der „Sozialgebilde" oder „Institutionen" vertiefte und prinzipieller faßte als diese selbst. Ist ihm doch „vielleicht das merkwürdigste Problem der Socialwissenschaften" dieses: ,,Wieso vermögen dem Gemeinwohl dienende ... höchst bedeutsame Institutionen ohne einen auf ihre Begründung gerichteten Gemeinwillen zu entstehen?" Diese kursiv und in Fettdruck gesetzte Frage will er nicht bloß auf die Märkte, die Konkurrenz und das Geld bezogen wissen, sondern auch auf die ebenfalls „frei von jeder socialen Uebereinkunft" sich ,,bildenden" und „ändernden" Preise; darüber hinaus gelte das „Problem des Ursprungs der ... Socialgebilde" ebenso „von dem Capitalzinse, der Bodenrente, dem Unternehmer u. s. f.", nämlich auch für die „Arbeitslöhne". Das Hauptproblem der Historischen Schule, das des „Ganzen der Volkswirthschaft" als einer „organischen" und so ,,realen(!) Einheit", ist ihm daher keineswegs ein Scheinproblem. Menger hat damit als wohl erster Autor innerhalb der akademischen Ökonomie sich mit dem Problem der „Entstehung", des „sich Bildens" der ökonomischen Kategorien befaßt, wobei der Gedanke ihrer „Kritik" ihm allerdings ganz unbekannt geblieben sein dürfte. Er beschreibt auch klarsichtigjene wissenschaftslogischen Probleme, die bislang ihre genetische Darstellung blockiert haben: Es ist vornehmlich das der „Bedingtheit ... des Ganzen durch die Theile .... Daß die Theile ... und das Ganze selbst gegenseitig zugleich Ursache und Wirkung seien (eine gegenseitige Verursachung derselben stattfindet))"; ,,gegenseitige Bedingtheit der Sozialerscheinungen". Diesen zirkulären Sachverhalt begreift er sogar als das logischmethodologische Kardinalproblem der Sozialwissenschaft; es geht um eine dem volkswirtschaftlichen Ganzen zugrundeliegende causa sui. Doch dieser mit dem Gedanken eines sozialen Organismus notwendig mitgesetzte Begriff der Selbsterzeugung ist ihm ein „so dunkler ... Gedanke", daß es „unserem Zeitalter(!) an dem tieferen Verständnis des Wesens ... der Socialphänomene ... noch mangele" 16, also eine wahre Begründung der Politischen Ökonomie noch aussteht. Den Mangel eines tieferen Verständnisses empfand schmerzlichst Georg Simmel, der über den Zirkel von Ware und Geld - von Gott! 41

„wirtschaftlicher Zirkel" genannt-, ein Voraussetzungsverhältnis, in dem sich die Glieder gegenseitig bedingen, ,,stöhnt und verzweifelt". Es ist von beiden Theoretikern freilich unvollständig erkannt worden. Allein Marx führte den überzeugenden Nachweis, daß nicht bloß „relative Wertform" und „Äquivalentform", sondern jede Kategorie jede setzt und voraussetzt, insbesondere Ware und Geld einerseits, Kapital andererseits. Ähnlich Menger und ebenfalls in der Auseinandersetzung mit dem „Irrationalismus" oder den „logischen Problemen der historischen Nationalökonomie", primär mit Roscher, schien sich zeitweilig auch Max Weber mit dem Problem der „wechselseitigen Bedingtheit" von Teil und Ganzem zu befassen, daß jede „kausale Erklärung ... (nach Roscher)" sich „daher in einem Kreis" herumdreht; Marx sieht in diesem Kreis auch Roschers eignes Denken verfangen, daß er nämlich „beständig Ursache und Wirkung verwechselt" (26.3/493); nahezu mit den Worten Mengers und vermutlich von dessen den ersten deutschen Methodenstreit auslösenden Untersuchungen über die Methode inspiriert, jedoch unter Berufung auf Roscher erklärt Weber: ,,Vor wie nach ihm bildet nun das sachliche wie methodische Grundproblem (!) der Nationalökonomie die Frage: Wie haben wir die Entstehung und den Fortbestand nicht auf kollektivem Wege zweckvoll geschaffener und doch ... zweckvoll funktionierender Institutionen des Wirtschaftslebens zu erklären?" 17 Dieses „sachliche wie methodische Grundproblem der Nationalökonomie" bezieht Weber auf das „Entstehen", „Schaffen" der ökonomischen „Institutionen", worunter er ebenso wie Menger primär die ökonomischen Kategorien verstanden haben dürfte. In seinen späteren Schriften sollte von jenem „Grundproblem" m. W. nirgendwo die Rede sein. Die Vermutung ist naheliegend, daß Weber ähnlich wie Menger resignierte und in seiner Idealtypenlehre eine Ersatzlösung suchte, die jedoch gänzlich ungeeignet war, die Bearbeitung jenes „Grundproblems" in Angriff zu nehmen: Webers Subsumierung der ökonomischen Grundbegriffe unter die „Idealtypen" führte ihn nicht bloß zu hoffnungslosen Mißverständnissen von Marxens historischem Materialismus, sondern mußte ihn auch verleiten, das „Grundproblem" nicht bloß der Nationalökonomie, sondern der Sozialwissenschaft überhaupt zu verdrängen. 42

Die letztlich in der neukantianischen Methodologie nicht bloß Webers begründete Eliminierung des Grundproblems durch die Trennung von „Real-" bzw. ,,Erfahrungsobjekt" und idealtypisch konstruiertem „Erkenntnisobjekt" wurde nicht bloß von den Erben der historischen Schule zurückgewiesen, sondern etwa auch von Schumpeter, der schon in seinen frühen Schriften auf der Notwendigkeit seiner Auflösung beharrte: Er will sich dem „Zustand der Volkswirtschaft, der tatsächlich existiert", nicht etwa modelltheoretisch annähern, sondern ihn spekulativ „rekonstruieren": ,,wir lassen vor unseren Augen werden (!), was tatsächlich schon immer vorhanden ist"; er besteht hierbei darauf, daß es sich bei diesem„ Werden" keineswegs „um eine historische Genesis, sondern um eine begriffliche Rekonstruktion" handeln soll und warnt vor einer „Verwechslung dieser beiden toto coelo verschiedenen Dinge" als einem „sehr häufigen Trrtum";18 spricht er davon, ,,daß ,Geld' für unsere Auffassung fortwährend geschaffen wird und verschwindet", 19 also seine Erzeugung sich nicht allein dem Bankensystem, sondern einem anonymen Gesamtprozeß verdankt, geht es um dasselbe Problem: um das, was er „die historische, zum Unterschied von der logischen Quelle des Geldphänomens" nennt, die ,,logische Grundlage" seines Werts. So müsse auch in der Kapitaltheorie eine „wahrhaft ,kausale' Erklärung ,genetisch' sein": nämlich „die (logischen) Anfänge der Dinge bloßlegen". Sofern es aber letztlich auf eine „kausale" oder „genetische" Erklärung des „Zustands der Volkswirtschaft" als ganzer ankommt, bedürfe es der „unifizierenden Kraft" eines Prinzips, das vor allem als ein archimedischer Punkt zur Begründung der makroökonomischen Theorie des Ganzen zu fungieren vermag. Doch hinsichtlich dieser Funktion sah sich Schumpeter genötigt, das „Versagen(!) ... des Grenznutzensprinzips" 20 einzugestehen, damit der Schulökonomie überhaupt, sofern es darauf ankommen soll, die ökonomischen „Institutionen", ,,Gebilde" der Volkswirtschaft aus ein und demselben „(logischen) Anfang der Dinge" entstehen, ,, werden" zu lassen. Wird eine solch „begriffliche Rekonstruktion" des realen Ganzen der Nacherzählung seiner „historischen Genesis" entgegengesetzt, kann es sich offenbar nur um eine „logische Genesis" im Sinne Godeliers handeln, die der Marxschen „Rekonstruktion" der „Erzeugung" oder „Genesis" der Formen auf der Grundlage des Arbeitswertprinzips zugrundeliegt, dem alleinjene 43

„unifizierenden Kraft" zukommt, welche Schumpeter hinsichtlich des Grundprinzips der Schulökonomie vermißt. Inspiriert vom ganzheitlichen Denken Spanns geht es V. F. Wagner nicht bloß um eine „qualitative" Analyse oder „Morphologie des Wirtschaftskörpers", sondern in eins damit auch um eine Kritik des rationalistischen Typs der Nationalökonomie, nämlich der der Mechanik entlehnten mathematischen Gleichgewichtsanalyse von Walras. Im Sinn Horkheimers und Adornos scheint Wagner demonstrieren zu wollen, daß dies mechanistische Denken des mathematischen Nationalökonomen seine „Gegenstände zerstöre" oder sein „Objekt verfälsche". Muß es doch jeder auf die wirkliche Bewegung gerichteten Theorie auf „Kategorien" ankommen, deren „Wirksamkeit nicht als ... mathematische Funktion zu fassen ist". Ganz in Übereinstimmung mit der ihm unbekannten Kritik der Vorläufer von Walras im Marxsehen Rohentwurf, nämlich Says und insbesondere Bastiats, kritisiert Wagner die walrasianische „Reduktion auf das Quantitative". Diese morphologische Kritik läßt sich im Marxschen Sinn so reformulieren, daß die mathematische Ökonomie nicht bloß walrasianischen, sondern auch neoricardianischen Zuschnitts eine „Reduktion" der Formen des „entwickelten Tauschwerts" auf den „einfachen Begriff des Tauschwerts" (42/175) betreibe, also die Hierarchie der Formen ignoriert wird. Wagner insistiert darauf, daß nicht bloß quantitative, damit addierbare und formalistisch interpretierbare Wirtschaftsgrößen existieren, sondern „neben und über der Summenordnung (!) eine Gestaltordnung (!) der Dinge" vorhanden ist, ein Ganzes, das mehr sein muß als die Summe seiner Teile. Neben der quantitativen existiert also eine qualitative Ordnung der ökonomischen Fakten. Im Widerspruch zu der auch von der analytischen Wissenschaftstheorie postulierten rein „mengenhaften Betrachtung" sowie in Antizipation der Robinsonschen Kritik der Neoklassik, betont Wagner, daß also „nicht schlechthin Kapital als eine homogene Masse" gegeben ist - dies hieße in der Tat, die „Kapitalaustattung als einen großen Klumpen Kitt vorzustellen" 21 - sondern nur in ,,mannigfaltigen Sachgestalten" existierendes. Der funktionell-strukturellen Analyse des ökonomischen Ganzen liegt schließlich ähnlich der Marxschen die These zugrunde: Jede „Funktion, die aus der fundamentalen Struktur dieser Gestalt heraus notwendig wird, ... 44

erzeugt(!) auch entsprechende Institutionen, in denen sie sich gestalthaft manifestiert". 22 Im diametralen Gegensatz zum Ursprung der Spann-Wagnerschen funktionell-strukturellen Theorie im irrationalistischen Ganzheitsdenken entstammt die Marxsche Konzeption der „Ganzheit" des ökonomischen „Gesamt-Prozesses" ganz anderen Quellen: einerseits der als „großer Fortschritt" gewürdigten Hegelschen Theorie des sozialen „Organismus"(] /210) und andererseits der Quesnay-Smithschen Theorie der „Gesamtproduktion und Gesamtzirkulation", die in ein ,,einziges Ganzes" (20/233) zusammengefaßt worden sind. Es ist dieselbe Behandlung der „Wirtschaft als Ganzes" und ihrer Elemente als „Gesamtgrößen ... wie es auch die Keynesianer tun", 23 generell die „moderne" Makroökonomie tut und wie es illegitimerweise auch in der „Totalanalyse" des Walrasianers Schumpeter geschieht. Marx exzerpierte und kommentierte schon 1844 die einschlägige Passage bei Smith, wonach die Menschen ihre Produkte „sozusagen in eine gemeinsame Masse geworfen finden" (zit. n. 40/559), der Gedanke des verteilbaren Sozialprodukts, der „gemeinschaftlichen Masse, wovon jeder kaufen kann" (40/561 ). Im Rohentwurf und anderen Schriften weisen zahlreiche Zitate Gesamtheiten, die oft als spezifisch Marxsche mißverstanden werden, nämlich Begriffe wie „Gesamtkapital" (zit. n. 42/849, Anm. 84), ,,Kapital im allgemeinen" (zit. n. 42/645), ,,Kapitalvermögen der Gesellschaft" (zit. n. 26.2/226) als unreflektierte Grundbegriffe der klassischen Ökonomie aus. Schumpeter ist gegenüber diesen „Gesamtgrößen"-Analysen mit „kritischem Unbehagen" erfüllt und weiß, daß sie vom Standpunkt der dominierenden Werttheorie her „streng genommen" eigentlich „keinen Sinn haben", daß sie „sinnlos" sind. Die physiokratische Rede von den verschiedenen „Becken", dem einen großen „volkswirtschaftlichen Reservoir", in das jeder seinen „Beitrag einwirft", vom „Sozialprodukt", das „irgendwo aufgehäuft beisammen liegen ... und verteilt" werden soll, ist für ihn einerseits ein „künstliches Gebilde", das „nirgends in der Wirklichkeit" als solches „existiert", andererseits eine ,,nützliche Abstraktion". Mehr noch, es existiere eine „soziale Zentralbuchhaltung" auch in der kapitalistischen Verkehrswirtschaft, und diese sei „als eine Tatsache und nicht bloß als eine theoretische Konstruktion gegeben"; auch die physiokratische Vorstellung vom „einheitli45

chen Lebensprozeß" und der „steten Selbsterneuerung" der Wirtschaft, das hieran anknüpfende Marx.sehe „Bild eines ... sich selbst reproduzierenden" Kreislaufs ist „nicht bloß Fiktion". Ähnlich Luhmann hinsichtlich seines Systembegriffs weiß Schumpeter sich nicht zu entscheiden, was er als „Wirklichkeit", ,,Existenz", ,,Tatsache" und was er als „Fiktion", ,,künstliches Gebilde", ,,Konstruktion", ,,Abstraktion" begreifen soll. Wenn er die monetären Institutionen und Formen als ein „sinnreiches Ganzes(!)" bezeichnet, das „das Leben ... gewoben" haben soll - eine anonyme überindividuelle Ganzheit als Produzent der Formen-, dabei aufihreAbleitung verzichtet, demonstriert Schumpeter die von Hegel, Marx und Horkheimer beschriebenen Ambivalenzen des „verständigen" Denkens, dessen „flacher Rationalismus" aufgrund seines „formalistischen" Charakters dazu tendiert, in „Irrationalitäten" (Enz. § 232), in eine irrationalistische Lebensphilosophie umzuschlagen. Wenn Schumpeter sich nicht entschließen konnte, einen Teil der hier zitierten Arbeiten zu veröffentlichen, indiziert dies sein Bewußtsein davon, daß auch die moderne Ökonomie von „Wirren und Widersprüchen" nicht verschont blieb. Offenbar sind es zwei Grundprobleme, deren Lösung sich ihrem subjektivistischen und formalistischen Denken entzieht: einmal das Problem dessen, was er als „die große Einheit ... unter der vielgestaltigen Oberfläche" bezeichnete, dasjenige, ,,was die Gesellschaft zusammenhält", zum andern das Problem der „Eigenbewegung der Wirtschaft ... , des Eigenlebens des Wirtschaftskörpers", das „alles beherrschende Grundphänomen", das erst „die Erscheinungen zeitigt", also erzeugt, die wir „in unseren Vorstellungbild (!)" von der „kapitalistischen Wirtschaft" zu denken „gewohnt(!) sind", deren „befriedigende Theorie" jedoch „fehlt". 24 Die fehlende Theorie wird der Sache nach als die einer eigengesetzlichen Selbsterneuerung beschrieben, der Produktion und Reproduktion realer Kategorien. Hierzu bedürfte es der Ableitung eines „realen" und ausdifferenzierbaren „Allgemeinen" und in eins damit der Lösung des von Menger, Simmel und Max Weber erkannten Zirkels von Teil und Ganzem; beides ließ sich mit der von diesen drei Denkern neubegründeten bzw. favorisierten subjektiven Werttheorie nicht in Einklang bringen. Schärfer noch als die drei führenden Repräsentanten der „tradi-

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tionellen Theorie" erfaßte bereits der junge Marx die hier auftretenden methodologischen und materialen „Grund"-Probleme, die schon mit dem des „Anfangs" anfangen, der Priorität eines ausgezeichneten Ersten, aus dem die ökonomischen „Kategorien" als Teile oder Glieder eines realen Ganzen abgeleitet werden können. Wie Menger und Weber geht auch er davon aus, daß der „Gesellschaftskörper" ein Etwas ist, ,,in dem alle Beziehungen gleichzeitig existieren und einander stützen" (4/131 ); später sollte er diese Struktur so ausdrücken, daß sich ein „organisches System" wie das „bürgerliche System" dadurch vor dem mechanischen auszeichnet, daß hier ,jedes Gesetzte zugleich Voraussetzung" ist; Marx antizipiert in diesem Kontext Valentin Wagners Überlegung, daß es einem solchen System oder der „ Totalität" eigentümlich sei, ,,die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen(!)" (42/203), wobei man diese „Erzeugung" als eine spezifische Leistung des „Systems" oder besser „Gesamtprozesses", als eine emergente Eigenschaft zu begreifen hat, die nur dem System als System zukommt. Er behandelte später dieses von Menger und Weber als für ihr „Zeitalter" unlösbar betrachtete Problem der „wechselseitigen Bedingtheit" nicht bloß in dem am überzeugendsten im Rohentwurf thematisierten Voraussetzungsverhältnis von Ware/ Geld und Kapital, sondern auch noch im Kapital, nämlich in seiner Theorie der drei Kreislaufprozesse des Einzel- und Gesamtkapitals, ,,deren Einheit" das eine Kapital bildet, sofern sie trotz ihres unabhängigen Nebeneinanders eine „ innere Einheit" bilden, in der ,jeder besondere Kreislauf den andern (implizite) voraussetzt" (24/105)", ,jeder als Voraussetzung des andern" existiert. In diesem Kontext wiederholt Marx die These von der eigenständigen Leistung des Systems selbst, daß nämlich „das Ganze(!) der Produktion ... die notwendigen Momente seiner Selbstgestaltung(!) alle realisieren muß" (42/317). An Mengers und Webers Problem, daß hier jede „kausale Erklärung" sich „in einem Kreis herumdreht", scheiterte bereits Proudhon, sofern es ihm darauf ankam, den „Anfang" eines Systems qua Lehrund Realsystem zu finden, Schumpeters „logischen Anfang der Dinge", den er im Kredit, Proudhon hingegen im Geld als erster Kategorie gefunden haben wollte. Der junge Marx erkannte den antinomischen Charakter seiner Konstruktion und sah ihn darin, daß hier ein „einzelnes Glied in der ganzen Verkettung" der ökonomischen For47

men, ein Vermitteltes, isoliert, einseitig als Nicht-Glied, als ein nur Unmittelbares bestimmt werden sollte, daß er Geld „aus einem unbekannten oder erst wieder zu ermittelnden Zusammenhang ... herauszureißen" suchte, ,,um es zum ersten Glied eines ... noch zu findenden Zusammenhangs zu machen" (4/107). Die Antinomie von Teil und Ganzem stellte sich als die des Anfangs des Systems dar, sofern ein ,,einzelnes", vom Ganzen bedingtes, dennoch aus ihr „herausgerissenes Glied", als ein „erstes Glied" fungiert, das aber so kein Glied mehr ist, sondern ein nicht-determinierter, insofern „unbedingter", ,,absoluter" Anfang. Ob es Marx gelungen ist, den auch hier sich wechselseitig voraussetzenden, in „Wechselwirkung" sich befindlichen „Gliedern", ,,Momenten" des „organischen Ganzen" (42/34) von Produktion, Zirkulation, Distribution und Konsumtion eines der Glieder, die Produktion, als ein Erstes oder „übergreifendes" (ebd.) auszuzeichnen, damit die Ware als dialektisch strukturierte „Ware überhaupt", als existierendes Prinzip den anderen hieraus abzuleitenden und zu begründenden „Gliedern" ,,voraus" zu „setzen", dadurch die Antinomie des Anfangs eines sozialökonomischen Systems aufzulösen, kann hier nicht untersucht werden; greifen hier doch werttheoretische Reflexionen und jene Hegelschen ineinander, die sich auf die „Wechselwirkung" als Kategorie des „lebendigen Organismus" (Enz. § 156) beziehen, auf das „absolute Verhältnis", das zu den von Marx u. a. im Kontext der einfachen Zirkulation verwendeten „drei Totalitäten" von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem überleitet, also zu einer dialektischen Werttheorie. Hier geht es allein um den Nachweis, daß Horkheimers Interpretation der Marxschen „Darstellung" als eine ,,dialektische", von Schmidt mit Sartre näher als „progressiv-regressive" Methode charakterisierte Darstellung" keineswegs als eine beliebige, ,,äußere Zutat zum untersuchten Stoff" betrachtet werden darf, sondern in der Tat den „eigentlichen Erkenntnisakt" ausmacht: ist doch mit einem „ersten Glied" immer schon eine hierarchisch gegliederte Reihe von „einfachen" und „entwickelten" Gestalten, primären und sekundären Ursachen mitgesetzt, ,,real" unterschiedenen „Gliedern" einer „Totalität", eines „Subjekts", das „außerhalb des Kopfes" bestehen soll und daher ausdrücklich als „real" (42/36) bezeichnet wird, ein reales Gesamt-,,Subjekt". Ist dieses „mehr" als die Summe seiner 48

Teile, sind nämlich Horkheimer zufolge „die einzelnen Kategorien als abhängig von einem sie erzeugenden (!) Prozeß zu begreifen" (H 3/ 196), einem dynamischen „Gesamtsystem der ökonomischen Kategorien" als Objekt der „Kritik", kommt notwendig das von Menger und Schumpeter vage erkannte Problem der Selbsterzeugung des realen Systems als einer realen und dynamischen „Einheit" ins Spiel, modern gesprochen der „Autopoiesis". 25 Wie aber ist der Beweis dafür zu erbringen, daß die holistische Rede vom ökonomischen „Ganzen" als einem „Mehr" gegenüber seinen Teilen, den Subtotalitäten und handelnden Individuen, die Rede von der Gesellschaft als einem „realen Subjekt" über den einzelnen Subjekten oder „hinter ihrem Rücken", tatsächlich auf Reales und nicht bloß auf etwas Fiktives und Konstruiertes gerichtet, also einer Art „transzendentalem Schein" entsprungen ist? Die bloße Existenz analytisch-positivistischer Interpretationen des Kapital demonstriert, daß Marx in diesem Werk seine Beweise für die Existenz von Ganzheiten, Totalitäten kaum überzeugend darzulegen verstand, so daß auch der Kritikbegriff weithin im Dunklen geblieben und kaum je systematisch diskutiert worden ist. Seine Klärung wird in einem ersten Schritt von Adornos These in der „Einleitung" zum Positivismusstreit ausgehen müssen: ,,Totalität ist keine affirmative, vielmehr eine kritische (!!)Kategorie. Dialektische Kritik möchte retten oder herstellen helfen, was der Totalität nicht gehorcht ... oder was, als Potential einer noch nicht seienden Individuation, erst sich bildet." (A 8/292) Zwar weist Adorno sogleich auf die nicht bezweifelbare Existenz des etwa auch von Georg Simmel konstatierten Prozesses der Realabstraktion hin, daß „objektiv abstrahiert", abgesehen wird „von der qualitativen Beschaffenheit der Produzierenden ... sogar vom Bedürfnis, das als Sekundäres befriedigt" wird, daß also die „Abstraktheit des Tauschwertes apriori mit der Herrschaft(!) des Allgemeinen über das Besondere, der Gesellschaft über ihre Zwangsmitglieder verbündet" sei. Diese der esoterischen 26 Werttheorie Marxens entnommene Argumentation konnte als Replik auf den Angriff Hans Alberts allenfalls von jenen verstanden werden, die das Problem der Realabstraktion kannten und es im Gegensatz zu Habermas ernstnahmen, also weder von der Habermasschen Schule noch von Albert, der im Blick auf die scheinbar von Adorno übernommene Habermassche Herme-

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neutik meinte, ausgerechnet jenem Autor, der seine ,Negative Dialektik, als einen ersten Schritt zur Begründung einer „materialistischen Dialektik" (A 6/ 193, 198) verstanden hatte, ,,idealistische Tendenzen" und „Irrationalismus" 27 anlasten zu können. Alberts eigentlichen Angriff auf die Kritische Theorie, seine in Gestalt eines Verdachts gekleidete Annahme, hinter dem „Begriff der Totalität" stecke „nicht vielmehr ... als die Idee, daß irgendwie alles mit allem zusammenhänge", wollte Adorno nicht-hermeneutisch, nämlich „materialistisch" mit dem Beweis widerlegen, daß die „notwendige" Unterscheidung von „Besonderem und Allgemeinem", also ihre Trennung im nominalistischen Sinn, zugleich den Charakter einer „falschen Abstraktion" hat, einer einseitigen. Die sich anschließende Erläuterung und Begründung verwies auf die Marxschen Theoreme der „Entwicklungstendenzen der Gesellschaft wie die zur Überakkumulation und Krisen" als „Modelle des Prozesses von Allgemeinem und Besonderem" (A 8/324), ihrer widersprüchlichen Einheit, und zwar als Beweis dafür, daß und wie jene „falsche Abstraktion" des Nominalismus überwunden werden kann. Da in diesen Kontext der Begriff einer dem „Einzelnen ... immanenten Allgemeinheit" (ebd., 323) 28 eingeführt worden ist, die Adorno der „komparativen Allgemeinheit" entgegengesetzt wissen wollte, handelt es sich bei jenen ,,Modellen" offenbar um solche der Wechselwirkung zwischen realen Allgemeinheiten und Besonderen im Sinne von Wert und Gebrauchswert. Daß diese Überlegungen auf eine „antinominalistische" (A 6/299) Interpretation der Marxschen Werttheorie gerichtet waren, konnte nur von seinen „Notizen" zur Diskussion mit Sohn-Rethel her verstanden und konkretisiert werden. Unverständlich blieb daher Adornos Grundgedanke, daß es sich hierbei um einen mit dem „Nominalismus" oder „Positivismus" ausnahmslos aller Spielarten unverträglichen Begriff des Allgemeinen im Sinne des Marxschen Wertbegriffs handelt, der in der Tat von einem komperativen und zugleich ,,statischen Allgemeinbegriff'' (A 8/232), einer bloßen „Merkmalseinheit" (A 6/153), prinzipiell zu unterschieden ist. Jener intendierte Begriff des Allgemeinen ist ein „emphatischer", ,,objektiver Begriff'' (A 8/265, 4 71 ), ein dem Einzelnen - auch und gerade dem einzelnen Gebrauchswert - immanenter, an dem es daher auch gemessen und nur so „kritisiert" werden kann. Daß ein solcher unter dem Aspekt der 50

Marx.sehen „Überakkumulations- und Krisentheorie" zu entfaltender Begriff von „Totalität" oder real „Allgemeinem" dem einer idealistisch-irrationalistischen Hermeneutik total entgegengesetzt ist, mußte im Positivismusstreit verborgen bleiben. Unverstanden blieb daher auch die andere Hauptthese, daß das ,,Undurchdringliche" Durkheims, ein „Blindes, Opakes, insofern ,Irrationales'" (A 8/258), als „Ausdruck" eines „das Einzelne durchherrschenden ... schlechten Ganzen'' (ebd., 257) abgeleitet werden müsse. Der Dualismus zwischen der holistischen Soziologie Durkheims und der individualistischen Max Webers spiegele eine soziale Realität, die „rational und irrational in eins" (ebd., 548) sei: ,,Ratio schlägt in Irrationalität um" (A 6/ 152). Adornos Begriff der „Irrationalität des rationalen Systems" (ebd., 48) beschreibt aber nur das, was Marx als die Verschränkung von Rationalität oder besser „rationalem Schein" (26.3/489) und „Verrückheit" verstand, ,,ein Moment der Ökonomie und das praktische Leben der Völker bestimmend" (42/ 194). Beide gehören zur „objektiven Gesetzlichkeit von Gesellschaft", und eine wesentliche Aufgabe ihrer Kritik besteht darin, die „Irrationalität ... womöglich abzuleiten", statt sie „wegzudisputieren" (A 8/327), also die „Vermittlung" aller „irrationeller Formen" und Handlungen aufzuzeigen. Die „Ableitung" setzt eine reale „Totalität", ,,Ganzheit" voraus, aus der „hinter dem Rücken" ihrer Mitglieder „sich" irrationelle Formen „erzeugen". Ihre Kritik, generell die „Kritik am über Menschen herrschenden System" (A 8/583), ist an den Nachweis der Existenz „eines objektiven, ansichseienden Systems" (A 8/289) gebunden. Will sich Kritik nicht dem Vorwurf „willkürlicher Begriffskonstruktion" (A 8/471) und des „Schwadronierens über Begriffe wie ,der Imperialismus"' aussetzen,2 9 daß sie statt auf der Basis eines Kategoriensystems lediglich im Sinne eines bloßen „Vorstellungsbilds von der kapitalistischen Wirtschaft" (Schumpeter) daherherrede, muß gezeigt werden können, ,,was diesen Worten als Sachverhalten entspricht, und wie weit ihr Geltungsbereich sich erstreckt" (A 8/357), wie weit sie „ihre Objektivität haben, einen Zwang des Allgemeinen hinter den Sachverhalten bekunden" (A 8/3 17). Vergewissert sich die Rede über den ,Kapitalismus' doch nur selten, daß hier eine „Herrschaft des Allgemeinen über das Besondere" (A 8/14, 294) mitgedacht, näher eine 51

,,Herrschaft" der „Abstraktheit des Tauschwerts" über den Gebrauchswert, die Existenz eines „Begrifflichen" behauptet wird. Meist bewußtlos geschieht dies in der These: ,,das" Kapital, näher der Kapital-Wert, im weiteren Sinn der abstrakte Tauschwert - ,,ein bloß Gedachtes" - ,,herrscht über das ... Bedürfnis" (A 8/209). Gilt die Kritik der ökonomischen Gesellschaft als „das Verselbständigte" schlechthin und kommt es darauf an, ,,das Gesetz von Verselbständigung" (A 8/296) zu begreifen, geht es der Sache nach um höchst umstrittene Thesen, nämlich um jene Genesis der „Verselbständigung" des Werts gegenüber dem Gebrauchswert, eines Allgemeinen, Übersinnlichen gegenüber dem Besonderen und einzelnen Sinnlichen; es ist fraglich, ob sie sich überhaupt auf der Grundlage des Kapital begründen lassen und nicht vielmehr jener „logischen Entwicklung" bedürfen, die allein in dem als „hegelianisch" verrufenen Urtext 30 von 1858 stringent demonstriert worden ist. Nun führt der Nachvollzug der Stufen der „Verselbständigung" ins Zentrum der Kritik der politischen Ökonomie, die in der These kulminiert, daß es diesem „kapitalistischen System" eigentümlich sei, die ,,Produktion um der Produktion willen" zu betreiben und den Kapitalisten zu zwingen, ,,sein Kapital fortwährend auszudehnen, um es zu erhalten" (23/618) 31 , daß so „die Arbeitsmittel den Arbeiter anwenden", umschlagen in seine „Beherrschungs- und Exploitationsmittel", ihn „entwürdigen zum Anhängsel der Maschine", ihn während des Arbeitsprozesses einer „Despotie" unterwerfen und seine „Lebenszeit in Arbeitszeit" (23/67 4) verwandeln. Es geht um jene Kernthese, die „das heute universale Tabu überm Zweifel an Produktion als Selbstzweck" (A 6/302) verletzt und gegen die subjektivistischen Wert- und Gleichgewichtstheorien der akademischen Ökonomie aufgeboten werden, damit die ihnen immanente Basisideologie der „Modeme", die Souveränität des „freien" Einzelnen als Konsumenten. Die wissenschaftslogische Legitimation der fundamentalen Kritik des „kapitalistischen Systems" als „Ganzheit" der „Bewegung des Capitals", eines gegliederten und selbstbezüglichen „Ganzen" und seiner „wirklichen Bewegung" (25/33), führt zurück zu Horkheimers Interpretation der „Darstellung" der „wirklichen Bewegung" (23/27) sowie zu den von Adorno am nachdrücklichsten gestellten Fragen nach der Realität des Allgemeinen; sie verweist ferner auf jene von beiden 52

gleichermaßen wie auch vom jungen Marx verwandte Hegelschen Grundfigur der „immanenten Kritik" im Sinne der „bestimmten Negation"32,der „Differenz zwischen der Sache und ihrem Begriff" (A 8/276). Es handelt sich um bloß verschiedene Aspekte jener in der zweiten Ausgabe des Kapital am meisten „versteckten" (30/207) Methode, die er immerhin noch im Juni 1867 „dialektische Entwicklungsmethode" (31/313) genannt hat. Einige esoterische Passagen, darunter jener eingangs erwähnte esoterische Kritikbegriff im Kontext der Theorie des Kreislaufs des Einzelkapitals, lassen sich bloß als Relikte jener Methode qua „dialektischer Darstellung" erklären. Der abstrakte und gelegentlich schlecht spekulativ anmutende Charakter der methodologischen Darlegungen Horkheimers und Adornos hat hierin seinen eigentlichen Grund. Daß sie überhaupt den esoterisch-dialektischen Sinn des Ganzen selbst noch in der extrem popularisierten zweiten Ausgabe intuitiv erfaßt haben, verweist auf die von Marx thematisierte eigentümliche Logik des Gegenstandes selbst, seiner ,,wirklichen Bewegung" und damit auf die Interpretation ihrer „Darstellung" als „Nachkonstruktion lebendiger Prozesse" (H 3/186), als ,,dem Leben der Sache folgende Darstellung" (H 3/285). Unabhängig von den Marxschen Texten erkannte daher Horkheimer, daß in der ökonomischen Analyse dem holistischen Objektbegriff ein dynamischer Charakter eigentümlich ist, dem Bewegungsbegriff aber ebenfalls ein holistischer Charakter zukommt: man kann „durch bloße Addition von begrifflichen Merkmalen keinen wirklichen Prozeß rekonstruieren" (H 3/243), denn „alle Veränderungen" lassen sich unmöglich als bloßes „Hinzufügen" neuer und fixer „Unterarten unter" schon bekannte und ebenso fixe „Gattungen" (H 3/314) und Begriffe begreifen. Dem holistischen Objekt- und Bewegungsbegriff3 3 entspricht ein holistischer Wahrheitsbegriff: Das „gedankliche Ganze" hat „andere Eigenschaften als die Summe aller in es aufgenommenen Begriffe" (H 3/316), hier ist daher „das Wahre das Ganze" (H 3/288), und es ist allein dieses „Mehr", das der „Darstellung" neben Erfahrung und Analyse den Rang einer dritten Erkenntnisquelle verschafft. Nun setzt die „Darstellung der wirklichen Bewegung" der Ökonomie die „Kritik an abstrakten Bestimmungen" voraus, an „abstrakten Begriffen und Regeln", die das „Produkt der Analyse" (H 3/186), der analytischen Methode sind, genauer der volkswirtschaftlichen 53

Begriffe und Theorien, die ihren Ursprung „statischen Anschauungen" bzw. ,,unkritischer isolierter Anwendung" (H 3/3 17) verdanken. Soll doch der „wirklichen Bewegung" eine „Bewegung des Begriffs" (H 3/308) oder der Kategorie korrespondieren, die „Bewegung der Realität" sich spiegeln in „der ,Flüssigkeit' der Begriffe" (H 3/317). Im Sinn der Paragraphen 12 und 81 der Enzyklopädie verweist Horkheimer darauf, daß die „Darstellung" ein „kritisches, wie Hegel sagt, ein skeptisches Moment" (H 3/186) enthält: es geht um „das eigene Sich-Aufheben" der statischen und abstrakten Bestimmung dergestalt, daß sie „in ihr Entgegengesetztes umschlägt" (Enz. § 81). Horkheimer beschränkte sich darauf, den „Umschlag der die Wirtschaft durchherrschenden Begriffe in ihr Gegenteil" nur mit dem Hinweis auf einige Beispiele zu veranschaulichen, an dem des „gerechten Tauschs in die Vertiefung der sozialen Ungerechtigkeit, der freien Wirtschaft in die Herrschaft der Monopole" (H 4/220) usw. Mühelos ließen sich verwandte Formulierungen heranziehen: Es scheine „in unseren Tagen jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen" ( 12/3), das Positive ins Negative umzuschlagen - Umschreibungen der „antagonistischen Form" (26.3/254 ff.) der kapitalistischen Entwicklung- sowie weitere Beispiele dieses „Umschlagens" der realen Kategorien und Gesetze, die sich als dialektische prinzipiell in ihrem Gegenteil verwirklichen müssen. So soll auch die eingangs als Beispiel dieses esoterischen Kritikbegriffs herangezogene Form II des Kreislaufs, die Form des produktiven Kapitals, ,,die Kritik der Form 1", der Form des Geldkapitals bilden, sofern dieser Formentwicklung zufolge der „Schein der Selbständigkeit in der ersten Form" in der zweiten „verschwindet" (24/ 78), sie „weist ... selbst auf andere Formen hin" (24/67), beide Formen „sind unvollendet ... müssen also weiter fortgesetzt werden und schließen daher die Reproduktion ein" (24/97), und auch die dritte Form des Kreislaufs „weist ... über sich selbst hinaus" (24/102). Die Struktur des „Über-sich-Hinausweisens" der Formen charakterisiert die „logische Entwicklung" der „dialektischen Entwicklungsmethode" wie sie bloß noch partiell im Kapital, im Rohentwurf hingegen weit systematischer praktiziert worden ist. Sofern das Problem der Realität des Allgemeinen selbst noch im Wertkapitel der zweiten Auflage des Kapital den verborgenen Hintergrund der Formentwicklung bil54

det, nicht mehr explizit, wenn auch kursorisch wie in der ersten Ausgabe diskutiert wird, ist nunmehr dem ersten Abschnitt des zweiten Bandes, der Lehre von den drei Formen des Kapitalkreislaufs, die Aufgabe zugefallen, den Existenzbeweis zu führen. Diese Formen sind nicht bloß die des „individuellen Kapitals", sondern auch die des „gesellschaftlichen Gesamtkapitals", besitzen also makroökonomische Relevanz. Sowohl Hans Alberts Frage nach dem Sinn des Begriffs„ Totalität" als auch Mengers, Simmels und Webers Problem der zirkulär strukturierten Ganzheiten, ferner Schumpeters Problem der „Eigenbewegung" und des „fiktiven" oder realen Charakters der makroökonomischen „Gesamtgrößen" finden hier eine vorläufige Antwort; vorläufig insofern, als sie einen dialektischen Kapital- und damit einen dialektischen Wertbegriff voraussetzen, der im ersten Band mehr angedeutet als expliziert worden ist. Immerhin macht die Lehre von der „Metamorphosenverschlingung der Kapitale" (24/117) plausibel, daß zwischen den Formen und den individuellen, vielen Kapitalien ein nicht bloß fiktiver, gedanklicher, sondern ein „realer Zusammenhang" (24/ l 04) besteht. Im ersten Entwurf des zweiten Bandes, der den Begriff „Totalität" synonym mit „Ganzes" verwendet, finden sich noch prägnantere Formulierung. Für „Gesammtproceß" steht hier auch ,,Gesammtkreislauf'' wie auch das Ganze „als sich bewegendes Ganzes" (24/106) oder plastischer „sich bewegender Kreis" genannt wird und die „Voraussetzungen des Processes" in ihren paradoxen Charakter als „gesetzte Voraussetzungen" (II.4. l /178 ff.) charakterisiert werden. Hier wird auch klar, daß es die zirkuläre Struktur der „ Totalität" Kapital selbst ist, die die „Einheit" des „Gesammtprocesses" ausmacht, also „so daß sowohl der unmittelbare Productionsproceß als vermittelndes Moment des Circulationsprocesses, wie der Circulationsproceß als vermittelndes Moment des Productionsprocesses erscheint ... seine Einheit als Einheit dieser Teile besteht eben im Proceß" (ebd. ). Wie man sieht, steckt hinter den Marxschen „Totalitäten" doch wohl etwas mehr als die „Idee, daß irgendwie alles mit allem zusammenhängt", nämlich daß jedes jedes andere sowohl setzt wie voraussetzt - Mengers „dunkler", aber aufzuhellender Gedanke, soll je ein ,,tieferes Verständnis" der „Sozialphänomene" erlangt werden können. Allerdings haben diese realen und dynamischen „Totalitäten" mit 55

dem hermeneutischen Totalitätsbegriffund seinem „Zirkel" kaum etwas gemein. Jede von ihnen ist als Kapital eine „reale (! !) Einheit seiner verschiednen Momente", näher eine „flüssige Einheit", die als vorgeschossene Wertsumme nur eine „ abstrakte Einheit" vorstellt. Die Begründung dieser kreislauftheoretischen Thesen bedient sich dialektischer Argumentationsfiguren, die im Kapital immer schon vorausgesetzt werden und auf den Rohentwurf, insbesondere auf den Urtext verweisen.

Anmerkungen 1

Werke von Marx und Engels werden im fortlaufenden Text in Klammern zitiert. Dabei verweisen arabische Ziffern vor dem Schrägstrich auf die MEW, Berlin (DDR) 1956 ff., römische auf die MEGA, Berlin (DDR) 1975 ff. Mit Sigeln zitiert werden die Gesammelten Schriften von Theodor W. Adorno, Frankfurt/M. 1972 (A) und Max Horkheimer, Frankfurt/M. 1988 (H). 2 A. Schmidt, ,,Zum Verhältnis von Geschichte und Natur im dialektischen Materialismus", wiederabgedruckt in: Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx, Hamburg 4 1993, S. 192 und 201 3 Kritik der politischen Ökonomie heute, hg. von W. Euchner und A. Schmidt, Frankfurt/M. 1968 " Eine philologische Analyse des Doppelsinns des Begriffs „politische Ökonomie" bzw. ,,Nationalökonomie" vornehmlich in den dem Kapital vorausgegangenen Schriften hat der Verfasser in der folgenden Untersuchung vorgetragen: ,,Über den Doppelsinn der Kritik der politischen Ökonomie bei Marx und in der Frankfurter Schule", in: Wolfgang Harich zum Gedächtnis, hg. von S. Dornufund R. Pitsch, Bd. 2, München 2000. 5 Lukacs vermöchte sich auf die Marxsche Feststellung zu beziehen, ,,daß Ricardo den ökonomischen Gegensatz der Klassen ... aufdeckt ... und daher in der Ökonomie der geschichtliche Kampf und Entwicklungsprozeß in seiner Wurzel ... entdeckt wird." (26.2/163) 6 G. Lukacs, ,,Moses Hess und die Probleme der idealistischen Dialektik", in: ders., Werke, Bd. 2, Frühschriften II, Darmstadt und Neuwied 2 1977, S. 684 7 G. Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein ( 1923 ), in: ders., Werke, Bd. 2, a. a. 0., S. 192 8 H. Marcuse, ,,Philosophie und kritische Theorie", wiederabgedruckt in: ders., Kultur und Gesellschaft, Bd. l, Frankfurt/M. 1965, S. 112 und 117; ders., Vernunft und Revolution, dt.: Neuwied 1962, S. 242 9 A. Schmidt, ,,Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie", a. a. 0., S. 36 ff.

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G. Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, a. a. 0., S. 381; siehe ferner

S. 178, 267, 339, 366, 380 f., 677, 681. Seine Rede vom „Standpunkt des verdinglichten Bewußtseins" (S. 280) der Wissenschaft oder des „Standpunkts der Verdinglichung" (S. 383) im Blick auf die sozialdemokratische Bürokratie besagt Verwandtes Ebd., S. 395, 306, 346, 363 H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, 1. Teil, Berlin 1966, S. 16. Siehe ferner das Stichwort „kritisch" im Großen Duden: ,,Zugrunde liegt das gr. Verb krinein ,scheiden, trennen; entscheiden, urteilen,", Bd. 7, Herkunftswörterbuch, Mannheim 1963, S. 372 M. Godelier, Rationalität und Irrationalität in der Ökonomie, Frankfurt/M. 1972, S. 241 Adornos gegen Popper gerichtetes Argument - die „Verselbständigung der Methode gegenüber der Sache ... die vermeintliche Freiheit in der Wahl des Koordinatensystems schlägt um in die Verfälschung des Objekts" (A 8/550) - erinnert an die Horkheimersche Kritik, daß die rationalistische Betrachtungsweise ihre Gegenstände zerstöre, wobei die beiden Kritiker Marxens „Totalität" oder ,,lebendiges Ganzes" im Sinn hatten. In Unkenntnis dieses ,,darstellungslogischen" Hintergrunds - im Sinne Schmidts des „Existenzmediums der kritisch-dialektischen Theorie" - meinte Habermas im Positivismusstreit Adornos Argumentation auf ihren hermeneutischen Begriff bringen und dadurch erläutern bzw. untermauern zu können. Dies sollte sich als ein Bärendienst erweisen, der das sozialwissenschaftliche Verständnis des Totalitätsbegriffs der Kritischen Theorie hoffnungslos blockierte und in die Irre führte. Die Inkonsistenz des solchermaßen transformierten Totalitätsbegriffs führte u. a. dazu, daß er damit, wie sein Kontrahent Hans Albert befriedigt konstatierte, Adornos Argument der ,.Verfälschung des Objekts" stillschweigend fallenließ (H. Albert, in: Th. W. Adorno u. a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 3 1971, S. 200 f. und 281 f.). Adorno dürften diese Mißverständnisse nicht entgangen sein. Insistierte Habermas gegen den Positivismus darauf, daß Phänomene „vorgängig" verstanden, ,,vorverstanden" werden müssen und es zur Auflösung des damit gesetzten „Zirkels" daher einer Hermeneutik" (S. 158 f.) bedürfe, mahnte Adorno, diese „Idee des , Vorgriffs' auf Totalität" - ,,Idee" im kantianischen Sinn als „unendlich Aufgegebenes" - reiche nicht aus, Totalität müsse vielmehr als „reale(!)" (A 8/315) gedacht werden, ein nicht bloß Albert sondern auch Habermas befremdlicher Gedanke. Zu dessen späterer Entwicklung, in der er jetzt auch den „dialektischen Totalitätsbegrifl" fallen ließ, siehe die Kritik von Helmut Reichelt, ,,Geldmedium und Rechtsform als Konstrukte", sowie von Heinz Steinert, ,,Über die organisierte Verhinderung von Wissen über die Gesellschaft"; beide Aufsätze in: Kein Staat zu machen. Zur Kritik der Sozialwissenschaften, hg. von Ch. Görg und R. Roth, Münster 1998 V. F. Wagner, Geschichte der Kredittheorien, Neudruck Aalen I 966, S. 38

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C. Menger, Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften und der Politischen Oekonomie, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von F. A. Hayek, Tübingen 1969, S. 167, 181, 165 tL 144. Menger spricht auch vom ,,Process der Gestaltung" (S. 146) wie Marx von „Begreifen des Gestaltungsprozesses'' (26.3/491 ). M. Weber, ,,Roscher und Knies und die logischen Probleme der Nationalökonomie" (1903-1906); in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschafts/ehre, Tübingen 1968, S. 34 und 29 J. A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, München 2 1926, S. 9 f. J. A. Schumpeter, Aufsätze zur ökonomischen Theorie, Tübingen 1952, S. 65 J. A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, Göttingen 1965, S. 368 f. und 1107, 1350, 1121 J. Robinson, Ökonomische Theorie als Ideologie. Über einige altmodische Fragen der Wirtschaftstheorie, Frankfurt/M. 1974, S. 62; siehe auch K.-H. Brodbeck, der kritisch darauf verweist, daß der bekannte Kapitaltheoretiker J. E. Meade Kapital als „vollkommen verformbare" Maschinen und Samuelson es als „eine Art Brei (,jelly ,)" bezeichnet. (Die fragwürdigen Grundlagen der Ökonomie. Eine philosophische Kritik der modernen Wirtschaftswissenschaften, Darmstadt 1998, S. 63) - klassische Beispiele der kategorialen Ohnmacht der heutigen Ökonomie, nämlich dessen, was Marx als die „begriffslos dumpfen Vorstellungen" (13/139) der Ökonomie klassifizieren und kritisieren würde V. F. Wagner, Geschichte der Kredittheorien, a. a. 0., S. 6 ff. J. A. Schumpeter, Geschichte der ökonomischen Analyse, Bd. l, Göttingen 1965,S.313 Ebd., 754; Bd. II, S. 1213; ders., Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, a. a. 0., S. 8 f.; ders., Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte, Tübingen 1914, S. 45, 40; ders., Das Wesen des Geldes, Göttingen 1970, S. 126, 110, 231, 287; ders., Aufsätze zur ökonomischen Theorie, Tübingen 1952, s. 562,556 Siehe hierzu und generell zum Problem von Kritik und Dialektik in der Frankfurter Schule die instruktiven und in mancherlei Hinsicht weiterführenden Überlegungen von Jürgen Ritsert, Kleines Lehrbuch der Dialektik, Darmstadt 1997, S. 87; siehe weiterhin das großangelegte und gedankenreiche Werk von Hans Heinz Holz, Einheit und Widerspruch, Bd. lll, Stuttgart 1997; der Verfasser wirft auch der Kritischen Theorie vor, daß ihre Vertreter „die dialektische Figur des Übergreifens verfehlen" (S. 428 ff.) und schlägt ein ,,Forschungsprogramm" vor, das sich u. a. mit der „Ausarbeitung einer Logik des Übergreifens" befassen sollte. Dies ist gewiß zu begrüßen, wenn diese Kritik auch insofern zu relativieren ist, als Adornos Begriff des „Umgreifenden" (A 6/165) und damit auch sein Begriff des „Allgemeinen" jene

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dialektische Figur im Sinn hat. Hingegen ist Holz zu kritisieren, daß er kaum anders als Habermas sowohl Adornos Wertreflexionen als auch Horkheimers Problemkomplex der „kritischen Darstellung" übersehen hat, den, auf die Grundrisse bezogen, erstmals Helmut Reichelt bearbeitet hat (Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx, Frankfurt/M. 1970). Siehe hierzu die von Adorno verfaßten Gesprächsnotizen zu einer mit Alfred Sohn-Rethel 1965 geführten Diskussion; Adorno sucht hier ansatzweise das Verhältnis von philosophischer und ökonomischer Kategorie zu thematiseren, definiert den Historischen Materialismus trefflich als „Anamnesis der Genesis" und offenbart hier und bloß hier sein dialektisches Verständnis des Marxschen Wertbegriffs als „Einheit des Vielen, der ... Gebrauchswerte". Daß er diese Thesen als Forschungshypothesen verstanden hatte, geht aus dem vorgeschlagenen Forschungsprogramm hervor: ,,Systematische enzyklopädische Analyse der Tauschabstraktion notwendig" (abgedruckt in: A. Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, rev. Neuaufl. Weinheim 1989, S. 223 und 226); siehe hierzu auch J. Ritsert, ,,Realabstraktion", in: Kein Staat zu machen. Zur Kritik der Sozialwissenschaften, a. a. 0. H. Albert, ,,Kleines verwundertes Nachwort zu einer großen Einleitung", in: Th. W. Adorno u. a., a. a. 0., S. 337 und 339. Während Adorno aus wohl diskussionsstrategischen Gründen meinte, trotz seiner Vorbehalte Habermas als einen „Dialektiker" (A 8/292) ernst nehmen und verteidigen zu müssen, hatte Albert längst schon dessen „Entfernung von der Dialektik" (S. 286) und „Selbsttäuschung" (S. 282), die „Wandlung seiner Anschauungen" erkannt, die ihn von der „Frankfurter Schule noch um einiges mehr entfernt, als das bisher schon zu erkennen war" (S. 298). Man kann dessen unüberbrückbare Differenz zu Adorno schon an den ersten Sätzen im Beitrag von 1963 aufzeigen. Er zitiert Adornos Satz über die „Totalität" oder das „Ganze" und den „Antagonismus seiner Elemente". Worauf es Adorno hierbei ankam, hatte er nicht erst 1969 in seinem eigenen Beitrag bekundet: ,,Der dialektische Widerspruch drückt ... reale Antagonismen aus" (A 8/308). Schon beim jungen Habermas ist weder von dem einen noch vom andern die Rede. Tatsächlich hatte er sich trotz seiner mehrfach betonten ökonomischer Inkompetenz aufgrund sachfremder, ,,lebensweltlicher" Vorurteile für die subjektive und gegen die Marxsche Wert- bzw. Ausbeutungstheorie entschieden. Wie sollte es ihm dann noch in den Sinn kommen, sich mit der von Alfred Schmidt als „Existenzmedium der kritisch-dialektischen Theorie" beschriebenen Methode der „Darstellung" der Bewegung jenes Werts zu beschäftigen? Wie sollte er Adornos „Antagonismus" der „Totalität" als „realen" und gar als „dialektischen" im Sinne des „realen" Antagonismus von Lohnarbeit und Kapital, der Existenz von Mehrwert und der Produktion als Selbstzweck begreifen wollen und können? Solcherlei häßliche Dinge hatten in seinen angeblichen Bemühungen um einen „dialektischen Begriff der

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Totalität" schon l 963 keinen Platz; seiner „Rekonstruktion'· der Kritischen Theorie und ihre Ersetzung durch eine „neue" entspricht historisch die Rekonstruktion der Sozialdemokratie durch die Blair, Schröder, Veltroni etc. und ihre Schaffung einer „neuen", d. h. ihrer faktischen Liquidierung unter ihrem alten Namen; in beiden Fällen geht es tatsächlich um puren Etikettenschwindel. 18 Siehe ferner die auf die Argumentationsfigur des „Umgreifenden" (A 6/165) verweisenden parallelen Überlegungen zur „immanenten Allgemeinheit" in der Negativen Dialektik Es geht auch hier um die „Begrifflichkeit" des Werts „als eine in der Sache selbst waltende", um ein „begriffliches Wesen", das der „Realität ... immanent· (A 8/209) ist, der ökonomischen Realität, dem Gebrauchswert immanente, kurzum um das, was Marx auch „qualitative Allgemeinheit" (13/109) oder „innerliche Allgemeinheit" (42/196) nannte, den selbstrcproduktiven Kapitalwert. 29 Die Intention des Max Weberschen „erbitterten Kampfes um die scheinbar elementarsten Probleme ... , die Art der Bildung ihrer Begriffe und deren Geltung'', ist wesentlich gegen die .,marxistischen" gerichtet, sofern sie nicht als „heuristische", sondern „als empirisch geltend oder gar als reale (d. h. in Wahrheit: metaphysische), wirkende Kräfte, ... usw. vorgestellt werden" (Gesammelte Aufsätze zur Wissenschafts/ehre, a. a. 0., S. 147 L 205). 30 Siehe hierzu Verf., ,,Über die Notwendigkeit einer Ent-Popularisierung des Marxschen Kapitals", in: Kein Staat zu machen. Zur Kritik der Sozialwissenschaften, a. a. 0. 31 Die beiden anti-ökologischen Imperative des Systems - sie schließen sein ,,Nullwachstum" aus - stehen im Mittelpunkt von Adornos Systemkritik; siehe hierzu Negative Dialektik, A 6137, 300, 387; A 8/221, 229, 232 f., 335 n ,.Kritik bedeutet ... Konfrontation des Gegenstandes mit seinem eigenen Begrifl", das „Messen" der Dinge an dem, ,,was sie selber sein wollen", ,,bestimmte Negation, Konfrontation von Geistigem mit seiner Verwirklichung" (Adorno, in: Soziologische Exkurse. hg. vom Institut für Sozialforschung, Frankfurt/M. 1956, S. 18 und 169); siehe ferner A 8/472, 557; A 6/161, 230 und H 3/285. Siehe hierzu J. Ritsert, der vor allem im Abschnitt „Dialektik als Logik der Absenz" seines Kleinen Lehrbuchs im Anschluß an Roy Bhaskar einen bedeutsamen Beitrag zur begriftlichen Präzisierung geleistet hat. 33 In „Traditionelle und kritische Theorie'· wird der „traditionellen Theorie" als wesentliches Merkmal die „Verstandeslogik" deshalb zugeordnet. weil dieser die „lebendige Entwicklung", das „lebendige Ganze ... logische Schwierigkeiten" (H 4/198, 212) bereitet, es daher nicht zu begreifen vermag. Die sog. ,,neue kritische Theorie" des rechen Flügels der sog. ,,älteren" ignoriert dieses fundamentale Problem und besteht nur darin, deren Rückbildung in die „traditionelle", die Rückverwandlung der „dynamischen" Theorie in eine „statische" zu betreiben.

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Werner Bonefeld

Die Betroffenheit und die Vernunft der Kritik Eine Polemik

I.

Jürgen Habermas charakterisierte die konservative Wende der frühen 80er Jahre als „Neue Unübersichtlichkeit". Diese Wende fiel mit dem Wahlerfolg der Grünen zusammen, die 1983 erstmals in das Parlament der westdeutschen Republik einzogen. Die Wende und der grüne Wahlerfolg schienen frühere Einsichten und politische Orientierungen in Frage zu stellen. Die Zeit der Unübersichtlichkeit erfordere, so wurde gemutmaßt, neue theoretische Einsichten, um aus der theoretischen Sackgasse, und damit der Krise der Theorie, herauszukommen. Der Unübersichtlichkeit wurde bald durch analytische Klärungsprozesse und vergleichende Klassifizierungen auf die Sprünge geholfen. Dem Kapitalismus wurde nachgesagt, er habe sein Gesicht geändert. Der nicht so schöne Fordismus sei vom häßlichen PostFordismus ersetzt worden, und dieser sei, so wurde bekundet, so mächtig, daß er alle Gegenmacht zermalme. Die Linke wurde aufgefordert, ihre Strategie den dem post-fordistischen Kapitalismus innewohnenden Möglichkeiten anzupassen, um zu vermeiden, daß es zu einer sozialen Apartheit komme. Diese Apartheit sei unausweichlich, gelänge es nicht, die existierenden Spielräume der postfordistischen Transformation für einen menschlicheren Post-Fordismus zu nutzen. Diese defensive Frontstellung scheint wenig Erfolg gehabt zu haben. Den „neuen sozialen Bewegungen" wurde bescheinigt, sie seien zu einem Stabilisierungselement der neo-liberalen Politik umfunktioniert worden, und der Arbeiterbewegung wurde attestiert, sie habe sich verabschiedet. 61

Kurz vor dem Ende des Jahrzehnts wurde dem Kapitalismus bestätigt, er sei ohne Alternative. Der nachfolgende Zusammenbruch des „Sozialismus", der sich selbst für real hielt, schien diese Einsicht zu vindizieren. Ungeachtet der tatsächlichen Konstitution des sich auf die Sowjets berufenen Systems des realen Sozialismus und ohne RUcksicht auf die linkskommunistische Kritik des Leninismus geriet die hoffnungsvolle Melodie der „Internationale" in Verruf. Der Versuch, die nun schon recht angejahrte „neue UnUbersichtlichkeit" durch zeitgemäße Denkansätze zu klären, nahm sich selbst so ernst, daß die List der Vernunft zur List der theoretischen Innovation wurde~ selbst dem Alten wurde bescheinigt, daß es neu sei: aus dem Fordismus wurde der Post-Fordismus; aus der Moderne die Post-Modeme, aus dem Weltmarkt die Globalisierung. Im Wettkampf um die innovative Trendsetzung wird die gegenwärtige kapitalistische Entwicklung nicht nur als post-fordistische Globalisierung gefaßt, sondern zudem noch als post-moderner „Casino-Kapitalismus" bezeichnet. 1 Sicherlich handelt es sich hier um eine gelungene akademische Formulierung; was damit jedoch bestimmt werden soll, ist nicht recht begreiflich. Allgemein wird bekundet, die Globalisierung des Kapitals habe die „Internationale" obsolet werden lassen besser: die „Internationale" scheint die Seite der Barrikade gewechselt zu haben. Den konventionellen Analysen der Globalisierung zufolge scheint es, als habe das Kapital den Weltmarkt erst neuerdings entdeckt, als sei vor dieser Entdeckung national interessiert und gesinnt gewesen. Auch scheint es, daß sich der Staat vor der Globalisierung des Kapitals nicht so sehr um den Wettbewerb bemUht, sondern sich vielmehr um soziale Harmonie und Demokratie besorgt und verdient gemacht habe. Die Globalisierung des Kapitals habe der national organisierten, liberalen Demokratie den Boden entzogen und damit dem Staat die Möglichkeit genommen, ,,seine" Gesellschaft und Wirtschaft im Sinne eines umfassenden sozialstaatlichen Regulierungsprogrammes zu integrieren. Kommentatoren sprechen von einem „sozialen Boot" der Vergangenheit, daß jetzt untergegangen sei. Um vor dem harten Liberalismus der Globalisierung zu retten, was zu retten ist, wird dazu aufgerufen, die Linke müsse ihre nationale Orientierung aufgeben und habe sich ebenfalls zu internationalisieren! In der Vergangenheit sei die nationale Orientierung der Linken dem Kapitalismus adäquat

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gewesen; doch nun gälte es, aus dem nationalen Rahmen herauszutreten, um den Kapitalismus weltweit „einzuholen". Jedoch könne es bei dieser Internationalisierung nicht um die Internationalisierung prinzipieller Gegenmacht gehen. Dies sei aus strukturellen Gründen unmöglich. Statt dessen ginge es um die Etablierung einer kosmopolitischen Demokratie und damit um die Herstellung liberal-demokratischer Einwirkungsmöglichkeiten im globalen Maßstab. Die Etablierung demokratischer Prinzipien wird als eine Überlebensfrage der Menschheit bezeichnet. Die Forderung, die Linke müsse nun aus dem nationalen Rahmen heraus, damit es gelänge, das Kapital auf liberaldemokratische Prinzipien zu verpflichten, zielt auf nichts geringeres als auf die Rettung der Menschheit vor der Barbarei, die der Globalisierung des Kapitals innewohnt.

II. Es kann allerdings nicht darum gehen, dem analytischen Vergleichungsfleiß, der zwischen der nicht so schlechten - nationalen Vergangenheit und der um vieles schlechteren globalen - Gegenwart und ihrer Zukunft unterscheidet, mit Hinweisen auf die Wahrheit der Vergangenheit zu begegnen. Es kann auch nicht um die Kritik der darauf gegebenen Antworten gehen. 2 Statt dessen geht es um die Kritik der Fragen. Vorab möchte ich einige Hinweise anführen und demonstrieren, daß aus der Vergangenheit vieles für das Verständnis der Gegenwart zu lernen ist. Daß das, was als Globalisierung diskutiert wird, hinein in das dunkle Gespenst der Barbarei führen kann, ist gewiß eine ganz and gar berechtigte Sorge. Jedoch scheint die Rede vom drohenden Rückfall in die Barbarei doch recht geschichtsblind zu sein. Der Rückfall droht nicht, sondern Auschwitz war er. Richtig ist, daß die Barbarei fortbesteht, solange die Zustände, die diesen Rückfall ermöglichten, wesentlich andauem. 3 Inwieweit die geforderte Erneuerung der liberalen Demokratie im globalen Maßstab die der Globalisierung innewohnende Barbarei mit Hilfe des demokratischen Volksgerichts ausreden kann, ist jedoch unverständlich. Sicherlich könnte die Re-Konstitutionalisierung der bürgerlich verfaßten Herrschaft im globalen Maßstab manche Mißstände aufdecken und sie in 63

zivilisierender Weise bereinigen, damit Ordnung herrscht. Doch muß zwischen Mißständen und Zuständen unterschieden werden. Die Kritik der Mißstände setzt schlechte Zustände voraus, und diese sind es, die es zu verändern gilt. Fraglos haben die Vertreter der kosmopolitischen Demokratie recht, wenn sie sagen, daß die kapitalistische Akkumulation mit der liberalen Demokratie in der Vergangenheit gut zusammengepaßt hat. Alle Souveränität geht vom Volke aus! Wo aber geht sie hin? Zur historischen Metapher des „nationalen Boots" bedarf es nicht vieler Worte. Seit römischen Zeiten, und von Agrippa hübsch beschrieben, steht dieses Bild für eine konservative Konzeption der guten Gesellschaft und Geselligkeit: Die Mehrheit schuftet sich beim Rudern ab, und die Wenigen geben die Richtung an! Die Rede vom Untergang des sozialen Boots stellt für die Gegenwart fest, daß die Gesellschaft in Klassen geteilt ist. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Fraglich ist jedoch, inwieweit die Verhöhnung der Vergangenheit als einer harmonischen Einheit nicht die richtige Erkenntnis der Klassengesellschaft der Gegenwart affiziert. Dies scheint mir durchaus der Fall zu sein. Es wird von einer Klassengesellschaft ohne Klassen gesprochen. Eine solche Behauptung ist der positivistischen Verteidigung der Zustände nicht unverwandt. Die darin gepflogene Rede von sozialen Schichten wird hierin zum Kriterium des betroffenen Staunens über die Vielfalt der Interessen der sozialen Akteure. Die Rede von der Klassengesellschaft ohne Klassen zieht sich resignierend vor der Einsicht zurück, daß der Proletarier derjenige ist, der gezwungen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen oder sie subaltern zur Verfügung zu stellen. Die Identifizierung des Proletariats mit der abhängigen Masse wird allerdings von den Theoretikern der neuen Gesichter des Kapitalismus mit der Begründung zurückgewiesen, daß die Globalisierung des Kapitals die sozialen Konflikte derart segmentiert habe, daß aus strukturellen Gründen von einem einheitlichen Klassensubjekt nicht mehr gesprochen werden könne. Die Rede von der Unmöglichkeit des Klassensubjekts im „post-modernen Kapitalismus der Globalisierung" ist allerdings nichts weiter als eine polemische Hypothese, deren Zweck darin zu liegen scheint, das Kapital als das einzige und alleinige Subjekt anzuerkennen und zu hypostasieren. Das Klassensubjekt (oder das revolutionäre Subjekt) kann nicht 64

aus der Anatomie der kapitalistisch verfaßten gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse abgeleitet werden. Die abstrakte Analyse der klassenlosen Klassengesellschaft gehört zum Geschäft der bürgerlichen Soziologie. Die Grundlage des wissenschaftlichen Denkens, an allem zu zweifeln, ist ihr zutiefst zuwider. Demgegenüber zeigt der Zweifel, daß nichts ist, wie es scheint, die eigensinnige Aufgabe des kritischen Denkens an, den Grund der gesellschaftlichen Segmentierung der Konflikte zu bestimmen. Bestimmen heißt negieren und nicht, die menschlichen Verhältnisse in Ansehung des Gegebenen und Scheinbaren zu definieren. Eine weitere Bemerkung: Die Globalisierung wird immer nur als die Globalisierung des Kapitals verstanden, und damit eines Unbegriffenen. Es wird von der Globalisierung des Kapitals gesprochen, als handle es sich beim Kapital um nichts anderes als um einen ökonomischen Mechanismus, der von den multinationalen Konzernen im Sinne des egoistischen Profitinteresses repräsentiert wird, und den es gelte, durch demokratischen Eingriff zu einer den Menschen freundlicheren Funktionserfüllung zu veranlassen. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie sollte von neuem gelesen werden, vor allem hinsichtlich der begründeten Feststellung, daß das Kapital ein bestimmtes gesellschaftliches Produktionsverhältnis ist, das die Menschen erst nach blutigem Kampf eingegangen sind, das sie durch ihre eigene Arbeit erneuern und das die Menschen versklavt. Das Verhältnis der Menschen zur Reproduktion des Kapitals ist ein inneres Verhältnis, und nicht, wie es die Vertreter der Globalisierung verkünden, ein äußerliches. Wiewohl das Kapital - nach Marx als „Kommando über fremde Arbeit" zu begreifen ist4, so bleibt es doch von den Menschen und ihren Potenzen abhängig. Es ist nicht das Kapital, das die soziale Praxis der Menschen strukturiert, sondern es sind die Menschen selbst, die sich, in der Form des Kapitals, durch ihre eigene soziale Praxis als Charaktermasken konstituiert haben und sich als solche bewegen. Daß das Kapital nichts als ein ökonomischer Mechanismus sei, gehört zur Lesart der von Marx als vulgär bezeichneten ökonomischen Theorie der Apologeten des Kapitals. Es sollte also nicht von der Globalisierung des Kapitals gesprochen werden, sondern, wenn das Wort schon bemüht werden muß, von der Globalisierung der kapitalistisch verfaßten gesellschaftlichen Verhältnisse 65

und damit von der Etablierung und besser: Reformierung der Weltgesellschaft. Mit anderen Worten: die sogenannte Globalisierung des Kapitals muß in Ansehung des Menschen begriffen werden. Sicherlich geht es manchem beim Aufriß der Globalisierung um das Wohl der Menschen; aus diesem Grunde soll die liberale Demokratie ja weltweit erneuert werden. Jedoch muß angemerkt werden, daß die gängige Redeweise, ohne demokratische Erneuerung drohe der Rückfall in die Barbarei, den armseligen Trost bekundet, es könne noch schlimmer werden als es schon war. Der Versuch, Mißstände zu humanisieren, scheitert an dem Paradox, daß jedwede Humanisierung die schlechten Verhältnisse voraussetzt. Die Forderung nach humanen Verhältnisse bezeichnet die richtige Perspektive. Jedoch bleibt diese Forderung rein normativ und moralisch, wenn sie, statt zur Kritik der Verhältnisse aufzufordern, diese als gegeben voraussetzt und somit bloß eine bessere Herrschaft einklagt. Es geht also nicht um die Humanisierung innerhalb sogenannter „Rahmenbedingungen", sondern um die Kritik dieser Rahmenbedingungen in Antizipation ihrer Abschaffung. Die unreflektierte Hinnahme der Anatomie der kapitalistischen Gesellschaft hypostasiert zugleich die Hoffnungslosigkeit des Menschen, zum Produzenten seiner eigenen Geschichte zu werden. Statt dessen wird die Geschichte zu einer Geschichte der Strukturen, denen die Menschen sich anpassen müssen, wollen sie überleben. Solche Einsicht erschöpft sich in der Festigung der „verrückten Formen" 5 der kapitalistisch verfaßten gesellschaftlichen Reproduktion, ganz so, als seien diese der Weisheit letzter Schluß. Die zentrale Fragestellung der Kritik der politischen Ökonomie dagegen ist die nach der Zurückführung dieser verrückten Formen auf ihre menschliche Basis. Die Arbeit des Begriffs besagt, daß die geschichtliche Wahrheit nicht eine der Strukturen, sondern eine der Menschen selbst ist. Anders ausgedrückt: die Kritik der Globalisierung kann keine Kritik des „Systems" zum Zwecke der Vermenschlichung des Systems sein. Daß das Kapital nur ist, wenn es lebendige Arbeit ausbeutet, besagt, daß die Menschen nicht außerhalb ihrer eigenen Welt leben, sondern diese durch ihre Arbeit konstituieren und reproduzieren. Die Reduzierung der Verhältnisse auf die menschliche Basis denunziert das Kapital nicht nur als Kommando über die Arbeit, sondern zeigt zudem an, daß die widersprüchli-

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chen Formen des Kapitals durch die Präsenz der Arbeit im Kapital selbst konstituiert sind. Diese Präsenz bezeichnet den archimedischen Punkt, der die Kritik der politischen Ökonomie begründet. Entgegen dieser Einsicht projiziert die innovatorische Rede von den ständig wechselnden Gesichtern des Kapitals nichts außer Betroffenheit; sie erkennt nicht, sondern lamentiert in Anerkennung der existierenden Zustände.

III „Die wahre Kritik analysiert nicht die Antworten, sondern die Fragen." Karl Marx

Der wirklichen Kritik der Zustände geht es um die Sache selbst. Die jeweiligen Antworten setzen Fragen voraus, und um diese geht es. Dagegen bezieht sich die Kritik der Antworten auf die Problemstellung, ob der Post-Fordismus oder die Globalisierung so oder so gedacht und konzipiert werden könne. Es geht also um die „richtige" Ableitung der kapitalistischen Entwicklung aus einer dem Kapitalismus scheinbar eigenen, über den Menschen stehenden Strukturdynamik. Die Grundlage der kapitalistisch verfaßten gesellschaftlichen Reproduktion wird somit als strukturelle Anatomie vorausgesetzt und sodann, von ihr ausgehend, die Entwicklungsdynamik nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit vorausberechnet. Die Frage, wie es denn mit den Menschen stehe, wird dabei nicht vergessen. Sie ist Teil der Antwort: die Menschen werden als funktionale Akteure in die Welt des Kapitals eingebaut; sie haben die Aufgabe, die Strukturen zu reproduzieren. Zugleich wird aber das Schicksal der menschlichen Akteure mit Sorge betrachtet. Es wird für die Verbesserung der menschlichen Bedingungen geworben und zur Verteidigung der Lebenswelt gegen die Dynamik des Systems aufgerufen. Diese scheint an sich weder gut noch schlecht zu sein; zu Gewalt und Barbarei tendiere sie nur dann, wenn sie schlecht reguliert würde: Mißstände also. Der theoretische Entwurf von Post-Fordismus und Globalisierung als Formen der sozialen Apartheit gibt Antworten auf eine Frage, die

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keinesfalls begriffen wurde; genauer: das hypostasierende Denken des Forschungstechnikers stellt sie erst gar nicht. Und das mit gutem Grund. Die gegebene Wirklichkeit wird aus der Empirie in die Analyse hineingenommen, und die Frage des Menschen gerät zu einer nach der Verbesserung der Bedingungen, unter denen die Menschen ihre strukturreproduzierende Tätigkeit ausüben. Darüber wird der emphatische Begriff des Menschen inhaltsleer: der Mensch vermag nichts, außer das zu reproduzieren, was ihn bedrückt. Der Mensch wird so zum Objekt der praktischen Tätigkeit der Strukturen; sein Begriff ist die tätige Passivität. Die Fähigkeit, Geschichte zu machen, läge demnach in den Strukturen, nicht in der sozialen Praxis der Menschen. Daher ist es kein Wunder, daß immer nur von der Einwirkung der Menschen auf die Strukturen vermittels Demokratisierung gesprochen wird. Die Strukturen sollen eben nicht soziale Apartheit schaffen, sondern ihre Funktionen menschlicher erfüllen! Die Kritik der Antworten ist ein zutiefst konstruktives Geschäft. Die Wissenschaft von der strukturellen Notwendigkeit des Geschehens meint dasselbe wie die Verkündung der menschlichen Freiheit in der bürgerlich verfaßten Gesellschaft. Die Rede vom Menschen als einem Agenten vorausgesetzter Strukturen kritisiert ohne Kritik. Sie tut dies in Ansehung der Macht und indem sie um die Macht wirbt. Die Warnung, es könne noch schlimmer kommen, als es schon war, sollte die Demokratisierung mißlingen, ist, daran ist nicht zu zweifoln, gut gemeint. Jedoch kapituliert die Vorstellung, die verrückten Fonnen seien dadurch zu humanisieren, vor dem Menschenunwürdigen. Sie propagiert die Vermenschlichung unmenschlicher Zustände. Dieser Defaitismus der Humanität, einer Humanität mit gutem Gewissen, macht einen großen Bogen um den archimedischen Punkt, von dem aus die Welt der selbst verschuldeten Unmündigkeit aus den Angeln zu heben wäre. Was jeweils gegeben ist, hängt nicht nur von der Natur ab, sondern auch davon, was der Mensch über sie vermag. Es geht also um das Vennögen der Menschen, und nicht um das der Strukturen. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie besagt, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der sich die Menschen bewegen, nichts Invariantes, nichts von ihnen unabhängig Existierendes ist. 6 Es geht ihr darum, die gesellschaftliche Konstitution von Ausbeutung und 68

Herrschaft bewußt zu machen, mit dem Ziel, daß es dem Menschen gelingen möge, aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszutreten. Die Antizipation des Menschen als ein mündiges Wesen bezeichnet die Richtung und den Inhalt der Kritik. Sie ist ein grundsätzlich negatives Geschäft, das sich nicht mit dem Fortbestand der schlechten Zustände verträgt. Die Kritik der Zustände ist eine Kritik der Dinge, nicht deren abstrakte Darstellung. Sie zeigt, daß die Welt der Dinge nur „dinglicher Ausdruck eines Verhältnisses zwischen den Menschen ist, eines gesellschaftlichen Verhältnisses, des Verhältnisses der Menschen zu ihrer wechselseitigen produktiven Tätigkeit". 7 Dieses Verhältnis kann nicht aus der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft abgeleitet werden. Vielmehr geht es darum, die Konstitution der Welt der Dinge und die Notwendigkeit ihrer Bewegungsweise aus dem Verhältnis des Menschen zum Menschen zu begreifen. Die Ableitung des Menschen aus der hypostasierten Form ihrer Gesellschaftlichkeit dagegen fragt nicht nach der Grundlage der menschlichen Welt, sondern sie sucht in durchaus friedensstiftender Absicht nach Möglichkeiten, die Menschen den unmenschlichen Bedingungen ihrer Existenz anzupassen. Marx faßte derlei Ansinnen in dem Satz zusammen: ,,Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln" 8 Die Ableitung des Menschen von den hypostasierten oder unreflektierten - Strukturen setzt, anders gesagt, die blutige Fratze der Ausbeutung voraus, und gibt sie denen, um die es geht, als Antwort. Die Rede von den Mißständen und der liberal-demokratischen Möglichkeit ihrer Verbesserung akzeptiert die Menschenökonomie als eine zu humanisierende Ökonomie. Im Unterschied zur friedfertigen Analyse der unreflektierten Voraussetzungen ist die Kritik der politischen Ökonomie begriffliche Maulwurfsarbeit. Sie gräbt in den dunklen Dingen, um das, was unten liegt, nach oben zu bringen. Ihr geht es um die Kritik der verrückten Formen, und damit um ihren Begriff: Dieser Begriff ist der des Menschen und seiner Möglichkeiten. Sie kritisiert daher ad hominem und sie demonstriert „ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein heißt die Sache an den Wurzeln zu packen. Die Wurzel für den Menschen ist der Mensch selbst". 9 Es besteht kein Zweifel, daß die Menschen von Abstraktionen beherrscht werden. Weiterhin besteht kein Zweifel, daß die Bewe69

gungsgesetze der Gesellschaft von den einzelnen Menschen abstrahieren und sie zu bloßen Exekutoren erniedrigen. Dieser Erniedrigung ist auf den Grund zu gehen, um sich dessen, was in den Fonnen versteckt ist, bewußt zu werden. Die rein empirische Abstraktion des Gegebenen versagt vor der Erkenntnis, daß nichts in der Gesellschaft ohne die Menschen ist. Die Wissenschaft von den menschlichen Verhältnissen hat es allein mit dem lebendigen Zusammenhang der Menschen zu tun und mit seinen geschichtlichen Derivaten den geronnenen sozialen Formen. Diese sind aus den Beziehungen der Menschen selbst abzuleiten und nicht gegenüber dem Menschen zu hypostasieren. 10 „Die Geschichte tut nichts, sie ,besitzt keinen ungeheuren Reichtum', sie ,kämpft keine Kämpfe'! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht die ,Geschichte', die den Menschen zum Mittel braucht, um ihre -als ob sie eine aparte Person wäre-Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen." 11 Daß die kapitalistisch verfaßte Form der gesellschaftlichen Reproduktion verrückt ist und als von den Menschen getrennte zu existieren scheint, verneint keinesfalls, daß das, was sich hinter dem Rücken der einzelnen Menschen bewegt, zugleich ihr Werk ist. 12 Die Anerkennung des Kapitals als eines Dings an sich beflügelt die theoretische Sichtweise, daß die Globalisierung strukturelle Prozesse in Gang gesetzt habe, die das Geschäft der Negation zu einem Anachronismus verdammen. Der Gegensatz von Revolution und Refonn sei geschichtlich überholt, und es gelte, ein radikal-refonnistisches Programm zu entwickeln: radikal für den Menschen und reformistisch in Ansehen der Strukturen. Der Globalisierung wird nachgesagt, daß sie die sozialen Spaltungen verstärke und verfestige. Zum Beweis wird eine modifizierte Fassung der bürgerlichen Schichtentheorie propagiert. Die Welt des Menschen wird in Konfliktfelder differenziert, die in Analogie zu spezifischen „Strukturkomplexen" entwickelt werden. Jeder dieser Komplexe erzeuge ihm immanente soziale Konflikte: Der Ökonomiekomplex produziere den Klassenkampf, der Ökologiekomplex den ökologischen Konflikt, der patriarchalische Komplex den Konflikt der Geschlechter, der nationale Komplex den des rassistischen Konflikts, der politische Komplex den 70

Konflikt um die Bürgerrechte usw. Diese Konflikte stünden antagonistisch zueinander, und es gäbe wenig Hoffnung, über diese sich selbst blockierenden Bewegungen hinaus eine verbindliche Alternative zum neoliberalen Globalisierungsschub zu entwickeln. Die Suche nach einer Macht mit menschlichen Antlitz muß demnach auf gutwillige Individuen setzen, die, an den viel zitierten runden Tischen, zum Wohle der Menschheit an der Macht teilnehmen. Leider, so wird zugleich pessimistisch bekundet, habe es solche Einflußnahme nicht leicht, der Herrschaft Menschliches abzuzwingen, da es an einer die sozialen Konflikte übergreifenden, radikal-reformistischen Bewegung fehle. Daß dem so ist, wurde schon vorab aus systemimmanenten Gründen bewiesen. Solche Einsicht führt natürlich mitten hinein in die resignative Stimmung, daß alles immer noch schlimmer werde. Natürlich gibt es eine Alternative zu diesem Lamento. Das Mitwirken an der Macht kann an sich schon als Zeichen einer erfreulichen Veränderung in Richtung Menschlichkeit gefeiert werden. Dem gegenwärtigen Außenminister, Joseph Fischer, gereichte diese Argumentation zur Rechtfertigung des Krieges. Der Umstand, daß theoretische Mysterien ihre rationale Erklärung in der Erkenntnis der menschlichen Lebensverhältnisse und der sozialen Praxis der Menschen finden 13, ist dem innovatorischen Denken des immer Neuen ein Dorn im Auge. Nicht nur, weil solche Einsicht der Arbeit des Begriffs bedarf, d.h. des soliden Denkens und Studierens, sondern auch, weil sie Unbotmäßiges und Ungehöriges zu sagen hat. Den Zeitgeist stört das veritable Denken der Negation. Er bemüht sich um Respektabilität, um Positives, und er freut sich nicht, wenn er daran erinnert wird, daß, nach Hegel, die Kriminalisierung der Subversion und die Verkündung des Endes der Utopie ,,pissendes Denken" ist. Solches Denken steht nicht in den Dingen, die es zu bestimmen, und das heißt: zu negieren gilt. Die Negation sucht nicht nach Respektabilität. Sie fordert, ,, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist". 14 Es geht der Negation um die menschliche Würde schlechthin. Und das heißt: der Negation geht es nicht um ihre eigene Negation, nicht um die Negation der Negation und damit um ihre Versöhnung mit der Macht. Es geht ihr um deren Abschaffung. Die Aufgabe der Negation ist die rücksichts71

lose Kritik des bestehenden Unrechts und vermittels ihrer die Antizipation menschlicher Verhältnisse, in denen der Mensch nicht Mittel ist, sondern Zweck. Sie ist der Kopf der Leidenschaft. Die Rede vom Wesen des Menschen wird gemeinhin von den Theoretikern der herrschaftlichen Welt als vorwissenschaftliche Romantik belächelt oder als Zeichen jugendlicher Unreife scharf zurückgewiesen. Zudem sei das Geschäft der Negation zu „negativ", ihr fehle das Positive, sie sei den Zeiten, ,,unseren Zeiten", nicht angemessen und im Grunde anachronistisch. Schlechte Zeiten, so wird bekundet, verlangten die Verteidigung der Menschenrechte und nicht ihre Denunziation als Rechte, die Herrschaft voraussetzen. Überdies sei die Rede vom Wesen des Menschen zu anthropologisch und holistisch, gar zu spekulativ und idealistisch. ,,Den" Menschen gebe es nicht, und es mache keinen Sinn, ihn als „abstrakte" Größe zu fordern. Überdies sei die Menschheit zu sehr gespalten und die gesellschaftlichen Konflikte zu sehr segmentiert. Um Herrschaft zu verstehen, müßten die Strukturen verstanden werden; nur so sei herauszufinden, wie zum Schutz der Lebenswelt gegen die Dynamik des Systems eingegriffen werden könne. Richtig an dieser Argumentation ist, daß es den Menschen als Subjekt seiner eigenen Geschichte noch nicht gibt, und es ist dieser Einsicht wegen, daß die Negation den kategorischen Imperativ der Emanzipation vertritt. Natürlich müssen die Strukturen begriffen werden. Und dies heißt, daß „die verhärteten Institutionen, die Produktionsverhältnisse, ... kein Sein schlechthin [sind], sondern noch als allmächtige ein von Menschen Gemachtes, Widerrufliches"Y Dieser Widerruf, dem es um die Freiheit als eine noch nicht existierende geht, kann keine materiellen Beweise vorzeigen. Die Begriffe der Kritik der politischen Ökonomie kritisieren die Gegenwart, und ihre Kategorien sind Momente eines begriffenen Ganzen. Es geht ihnen nicht um die Reproduktion der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern um die reale Möglichkeit einer Assoziation freier Menschen. Und das heißt: die Kritik der politischen Ökonomie kritisiert in Ansehung der Menschen und ihrer Möglichkeiten. Es geht ihr um die Umkehrung der verkehrten und verrückten Verhältnisse der Ausbeutung. Sie ist demnach subversiv; es geht ihr darum, das Unterste nach oben zu kehren, und sie tut das, indem sie zeigt, daß die Grundlage der unnachgiebigen Strukturen der kapitalistischen Herrschaft der 72

Mensch selbst ist, daß diese Strukturen durch die Verhältnisse der Menschen konstituiert sind, daß sie durch die lebendige Arbeit der Menschen reproduziert werden, und daß es ihre eigene gesellschaftliche Arbeit ist, die sie zu Charaktermasken degradiert. Die Warnung an die Adresse der Negation, sie sei durch die sei es post-fordistische, sei es globalisierende - Bewegung des Kapitals zu einem irrationalen, identitätsstiftenden Fähnchen verkümmert, das jedwede politische Praxis denunziere und somit die notwendige Wendung zum Positiven behindere, d.h. die radikal reformistische Bemühung um die demokratische Regulation des Kapitals, vergißt, daß die Kritik der politischen Ökonomie ein einziges „entfaltetes Existenzurteil" begründet. 16 Den Theoretikern der neuen Gesichter des Kapitalismus zufolge soll dies Existenzurteil durch die Bewegung des Kapital selbst hinfällig geworden sein. Daß dem so sei, ist allerdings theoretisch schon vorab ausgemacht: Das Kapital fungiert als vorausgesetzte Größe und fällt daher nicht in den Gesichtskreis des bestimmenden Denkens. Die Ablehnung der Negation besorgt sich um das Denken als eine begriffslose Angelegenheit. Sie akzeptiert die „unsichtbare Hand" der Marktökonomie als gegeben und erbietet sich zugleich, ihre Handlungen in Ansehung der Menschen zu regulieren. Hingegen besagt Max Horkheimers Diktum, daß die wahre Wissenschaft nur eine subversive Wissenschaft sein kann; eine Wissenschaft, die erkennt, daß die Basis der menschlichen Existenz der Mensch selbst ist. Es geht ihr darum, das Verkehrte umzukehren, indem sie, statt die verrückten Formen anzubeten, sich um die Aufklärung der wahren Beschaffenheit der zu Dingen geronnenen Verhältnisse bemüht. Es geht also um die Menschenwürde: Der Menschen ist das Maß aller Dinge. Die geforderte Wende von der Kritik der politischen Ökonomie zu einer Theorie der ökonomischen Entwicklung propagiert die konformistische Rebellion, eine Revolution für die Sklaverei, indem sie, in Ansehung der Macht, die Menschen menschenfreundlicher zu regulieren bestrebt und die menschlichen Möglichkeiten als Möglichkeiten einer demokratisch geregelten Menschenökonomie definiert. Die Kritiker der Negation haben allerdings recht, wenn sie sagen, daß das Geschäft der Negation ein eigensinniges und eigenwilliges Unternehmen ist. Denn das unbotmäßige Geschäft der Kritik bedient sich 73

tatsächlich des eigenen Verstandes. Es richtet sich gegen die Spezialisten des Gemeinwohls. Weder kapituliert die Kritik vor den menschenunwürdigen Verhältnissen noch gibt sie sich angesichts der schlechten Zustände „betroffen". Denn die Zustände sind mit Notwendigkeit schlecht, und aus genau diesem Grund lehnt sie diese Zustände ab. Die Rede von der „Notwendigkeit" der radikalen Reform innerhalb der Zustände vertauscht Mittel und Zweck. Die Einsicht, daß der Mensch der Zweck und nicht ein Mittel zu sein habe, wird radikalreformistisch in die Rede von der Vermenschlichung des Menschen als eines Mittels verrückt. Die in Betroffenheit schwelgende, lügenhafte Publizität, daß der Mensch in Ansehung der Herrschaft zu schützen sei, empfiehlt sich ob bewußt oder unbewußt, sei hier dahingestellt der knechtenden Ordnung als dienende Instanz.

IV „Es gibt nur einen menschlichen Maßstab, den wir nicht verändern, sondern nur verlieren können." Max Frisch

Die Ma~sche Feuerbach-Kritik besagt, daß dieser die Form des religiösen Bewußtseins zwar als das Produkt der Menschen selbst dechiffriere, aber im weiteren nicht dazu übergehe, diese Form selbst noch aus den von den Menschen eingegangenen Verhältnissen zu verstehen. ,,Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen .... Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.'m Die von Ma~ betriebene Auflösung der religiösen und später der ökonomischen Welt in ihre weltliche Grundlage besagt, daß die Welt sich von den Menschen abhebt als wäre sie ein von den Menschen apartes Ding, und daß diese Abhebung aus „der Selbstzerrissenheit und dem Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären" ist. 18 Die verkehrte

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Welt ist demnach das Produkt der gesellschaftlichen Praxis der Menschen und zugleich ein Dasein, das den Menschen beherrscht. Diese Herrschaft zu kritisieren heißt, sie auf die menschliche Basis zurückzuführen, als eine von Menschen konstituierte zu bestimmen. Gelingt dies nicht, so ist die Kritik der politischen Ökonomie dazu verurteilt, die bürgerliche Welt nur unter einer Form wahrzunehmen, nämlich unter der des Objekts. Eine Unterscheidung von Wesen und Erscheinung gäbe es damit nicht Die Kritik der politischen Ökonomie wäre dann nichts anderes als eine überaus spitzfindig formulierte oder gar unverständliche Wirtschaftslehre. Die Marxsche Konzeption der Wissenschaft verlangt jedoch nach etwas anderem. Ihr zufolge wäre die Wissenschaft überflüssig wenn „Erscheinungsformen und Wesen der Dinge zusammenfielen". 19 Die Wissenschaft, und damit das Geschäft der Negation, konstituiert sich vermöge der Differenz von Wesen und Erscheinung. Für die bürgerliche Theorie existiert diese Differenz nicht, und die Erscheinungsformen werden, nach den Regeln des Zirkelschlusses, durch die Erscheinungsformen selbst erklärt. Folgerichtig wird der Mensch, wenn es denn um ihn geht, aus der Welt der Dinge abgeleitet, ein Derivat, das es zum Zwecke der funktionalen Ordnung zu schützen und zu integrieren gilt der Menschenschutz verbindet sich guten Gewissens mit der zoologischen Arbeit der Hege und Pflege; damit auch alles seine Ordnung hat. Die gelehrte Welt der links sich orientierenden konstruktiven Erbaulichkeit argumentiert, der „reife Marx" habe die Erkenntnisse des „jungen Marx" nicht weiterentwickelt; der „späte Marx" habe sich vielmehr um eine ökonomische Theorie bemüht. Wenn dem so sein sollte, dann wäre das schlimm für Marx. Gewiß, Marx war ein Mensch wieder jeder andere, was heißt, daß ihm Irrtümer und Fehler unterlaufen sind. Aber die Rede vom reifen Marx erkennt doch an, daß er viel und mit Leidenschaft studiert hat. Es ist daher richtig, dem „reifen" Marx zuzugestehen, daß er ein höchst gelehrter Mensch gewesen ist. Wenn er daher im Kapital von den Erscheinungsformen als „verrückten Formen" spricht und in den Theorien über den Mehrwert und anderen „reifen" Veröffentlichungen behauptet, daß „der Ökonom ein Schaf' sei und es vielmehr um die „Kritik des Gesamtsystems der ökonomischen Kategorien" ginge, dann muß das natürlich ernst genommen werden. 20 75

Marx geht es um die Bestimmung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse als „verdrehte Form, worin sich die wirkliche Verkehrung ausdrückt". Die „ökonomischen Kategorien", so wird argumentiert, ,,spiegeln sich im Bewußtsein sehr verkehrt ab", und daher stelle sich die Aufgabe, herauszufinden, ,,warum dieser Inhalt jene Form annimmt". 21 Warum stellt sich die gesellschaftliche Arbeit im Wert als einem über den Menschen stehenden dinglichen Zwangsverhältnis dar? Es geht also um die Kritik des Fetischismus. Das bekannte Zitat lautet: Den Produzenten „erscheinen ... die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen". 22 Die „Kritik der ökonomischen Kategorien" 23 hat demnach, wie es beim ,jungen" Marx heißt, ad hominem zu demonstrieren, oder, wie es der „reifen" Marx schreibt, die „Verhältnisse der Dinge unter sich auf Verhältnisse zwischen den Menschen" zurückzuführen. 24 Entgegen der Annahme, es handle sich bei dieser Aufgabe um das präzise Abwägen des Verhältnisses zwischen Lebenswelt und Systemwelt, geht es dabei um die Kritik der Verhältnisse der Menschen in ihren verkehrten und verrückten Formen. Die Freiheit der Individuen in der kapitalistisch verfaßten sozialen Reproduktion ist eine von Charaktermasken. ,,Nicht die Individuen sind frei gesetzt in der freien Konkurrenz; sondern das Kapital ist freigesetzt .... Diese Art individueller Freiheit ist daher zugleich die völligste Aufhebung aller individuellen Freiheit und die völlige Unterjochung der Individualität unter gesellschaftliche Bedingungen, die die Form von sachlichen Mächten, ja von übermächtigen Sachen ... annehmen." 25 Die Arbeit des Begriffs meint also, die Kategorien zum Sprechen zu bringen, oder, wie der junge Marx sagt, die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zu bringen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt. ,,Die Analyse der herrschenden Form von Arbeit ist gleichzeitig eine Analyse der Voraussetzungen ihrer Abschaffung .... (Die Marxschen) Kategorien sind negativ und zur gleichen Zeit positiv: sie schildern einen negativen Zustand im Licht einer positiven Aufhebung." 26 Dieses Licht wird 'zur „materiellen Gewalt", sobald es die Menschen ergreift27,das heißt, sobald die Menschen sich der wahren Konstitution der verkehrten Verhält76

nisse bewußt werden. Der Zusammenhang zwischen der ,jungen" Melodie und dem „reifen" Sprechen des Begriffs wird in der Erkenntnis deutlich, daß sich in der Arbeit der Individuen der gesellschaftliche Charakter ihrer Tätigkeit zeigt, daß es sich bei der Produktion des Werts um gesellschaftliche Produktion handelt - allerdings nicht um bewußt gemeinschaftliche Produktion. 28 Der Kritik der politischen Ökonomie geht es nicht um eine den national ökonomischen Kategorien angemessene Darstellung, sondern vielmehr um die begriffliche Bestimmung der wirklichen Verhältnisse, in denen die Menschen in ihrer Selbstentäußerung sich bewegen. Gegenüber der lügenhaften Publizität der Nationalökonomie besagt die marxsche Bestimmung ihrer Kategorien, daß sie keine über den Menschen stehenden und somit von den Menschen aufkündbare sind. Demnach geht es der Kritik der politischen Ökonomie um das Umgraben und Umkehren - um Maulwurfsarbeit, um mühsame Aufklärung. Die Ablehnung der Vernunft dagegen, der sich der Zeitgeist zum Zwecke einer freundlicheren Menschenökonomie widmet, ist ein Verschleierungsunternehmen. Er macht für Menschlichkeit Reklame, ohne um die Geschichte des Menschen, seine Verhältnisse und Zustände, seine praktische Tätigkeit und um seine Möglichkeiten sich zu bemühen. Die gelehrte Welt- wie auch immer sie mit Marx-Zitaten sich ausstaffieren mag - wirkt mit an der Festigung des Ordnungsgefüges, indem sie den Menschen als Objekt und das Kapital als Subjekt voraussetzt. Statt zu bestimmen, träumt sie, um des sozialen Friedens willen und mit Blick auf eine besser funktionierende Ordnung, mit Betroffenheit die schlechte Utopie einer konformistischen Rebellion.

V

Der These, daß die kapitalistische Entwicklung die sozialen Konflikte in Richtung „neue Unübersichtlichkeit" segmentiert habe - und das zu einer Zeit, in der die Globalisierung des Kapitals die staatliche Möglichkeit einer durch liberaldemokratische Prinzipien abgestützten, umfassenden wohlfahrsstaatlichen Regulierung unterminiert habe -, mangelt es an kritischer Einsicht. Natürlich hat sich einiges geändert, 77

und vieles, was Ober die Globalisierung geschrieben wird, trifft sicherlich zu - genauer: es spiegelt die empirischen Gegebenheiten wider und die Träume der Managermagazine dazu. Es muß also zwischen der ideologischen Funktion der Rede von der Globalisierung und der wirklichen Bewegung der Subsumtion der Menschen unter das von ihnen erzeugte und reproduzierte Kommando des Kapitals im Weltmaßstab unterschieden werden. Zweifellos gehen wir keinen freundlichen Zeiten entgegen. Vom unbotmäßigen Geschäft der Negation sollte aber, insbesondere in dürftigen Zeiten, nicht abgesehen werden. Die Wendung ins Positive muß in Ansehung der Menschen und ihrer Möglichkeiten als unvernünftig zurückgewiesen werden. Die Rede davon, die Errichtung einer internationalen Demokratie sei schlicht und einfach eine Frage des gesellschaftlichen Überlebens, ersetzt die Utopie der Gesellschaft der Freien und Gleichen durch die bürgerliche Freiheit der Menschen als Charaktermasken. Die Feststellung, daß keine Kräfte zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse existierten, sollte durch die Einsicht ersetzt werden, daß man, einem Diktum Max Horkheimers gemäß, desto verzweifelter für den Sozialismus einzutreten hat, je unwahrscheinlicher er erscheint. 29 Die Forderung nach der Errichtung einer politischen Kontrolle des globalen Ausbeutungsprozesses, d.h. die Behauptung, man müsse für die Durchsetzung von Formen der Regulation kämpfen, um gewisse Mindeststandards sozialer Sicherheit, materieller Freiheit und demokratischer Selbstbestimmung zu gewährleisten, reduziert den Grund des Übels auf eine Frage der wohlwollenden Ausübung der Macht. Statt das Übel im Wesen des Staates zu finden, liegt dieser Perspektive das Übel allein in einer bestimmten Staatsform, an deren Stelle eine freundlichere Staatsform zu setzen sei. Sollte es wirklich möglich sein, die Ausbeutungsverhältnisse von Staats wegen in Ansehung der Menschenwürde zu regulieren? Wäre dem so, dann hätten wir es angesichts des Kapitals nicht mit einem gesellschaftlichen Ausbeutungsverhältnis zu tun, sondern bloß mit einem ökonomischen Mechanismus der, wenn er nur gut reguliert wird, dem Menschen nützlich wäre. Die Sache der Menschenwürde wäre demnach nichts anderes als ein Gegenstand der staatlichen Planung. Kann der Staat jedoch überhaupt darauf verzichten, die Verwertungsbedingungen des Kapitals zu ver-

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bessern? Ist die Massenarbeitslosigkeit nur eine Folge der auf „Standortvorteile" sich konzentrierenden Politik? Im Vergleich mit konstruktiven Vorschlägen, wie dem globalen Kapitalismus die Massenarbeitslosigkeit im Wege der Demokratisierung auszureden sei, erscheint das Geschäft der Negation nutzlos. Sie hat einfach nichts Produktives vorzuzeigen. Jedoch konzentriert auch sie sich auf die Abschaffung der Massenarbeitslosigkeit. Nach ihrer Einsicht wird Vollbeschäftigung dort zu einem Ideal, wo Arbeit nicht länger das Maß aller Dinge ist. 30 Vollbeschäftigung macht Sinn in einer Gesellschaft, in der der Mensch ein Zweck ist und kein Mittel ist. Die Frage der Menschenwürde, der Überwindung der selbstverschuldeten Unmündigkeit, ist demnach eine der Transformation der Produktionsmittel in Mittel der Emanzipation. Der schöne Begriff der Vollbeschäftigung in der Emanzipation, von Marx als Reich der Freiheit konzipiert, hat nichts Gutes über die kapitalistischen Zustände zu berichten. Vielleicht hat Bellofiore recht, wenn er sagt, daß es nötig wäre, die Welt neu zu interpretieren, d.h. unerschrockene und rücksichtslose Aufklärung über die Zustände zu leisten. 31

Anmerkungen 1

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Joachim Hirsch, Der nationale Wettbewerbsstaat, Berlin 1995, S. 7 Eine andere Frage an die Adresse der Globalisierungstheoretiker, die hier nicht diskutiert wird, ist die, warum sie die schlechten Einsichten konservativer und gar faschistischer Denker ohne Wenn und Aber akzeptieren. Siehe zum Beispiel Giselher Wirsings Vorstellungen über das Ende revolutionärer Politik und die in Anlehnung an Ernst Jünger konzipierte Errichtung einer weltstaatlichen Föderation. Sicherlich ist von solchen Denkern einiges über die Politik des Klassenkampfes zu erfahren. Den innovativen Theoretikern allerdings scheint es zu genügen, deren Mutmaßungen als gegebene Wahrheit unbefangen zu akzeptierten. Vgl. G. Wirsing, Schritt aus dem Nichts: Perspektiven am Ende der Revolution, Düsseldorf 1951 Siehe Theodor W. Adorno, ,,Erziehung nach Auschwitz", in: Ders., Stichworte, Kritische Modelle 2, Frankfurt 1969, S. 85. Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1974, S.236 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd.1, in: MarxEngels-Werke (MEW) Bd. 23, Berlin 1973, S. 90

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c, Siehe Alfred Schmidt, ,,Praxis", in: Beiträge zur Marxschen Theorie 2, Frank-

furt 1974 Karl Marx, Theorien über den Mehrwert, Bd. 3, in: MEW 26. 3, S. 145 8 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEWl, S. 385 " Ebd. 10 Siehe Th. W. Adorno, ,,Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien", in: Ders., Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt 1975, S. 32 11 Friedrich Engels/Karl. Marx, Die heilige Familie, MEW 2, S. 98 12 Herbert Marcuse, ,,Philosophy and critical Theory'\ in: Ders .. Negations, Free Association Books 1988, S. 151 13 Siehe Karl Marx, ,,Thesen über Feuerbach", in: MEW 3, S. 5 14 Marx. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 385 15 Adorno, ,,Fortschritt", in: Ders., Stichworte, S. 44 16 Max Horkheimer, ,,Traditionelle und kritische Theorie", in: Ders., Kritische und traditionelle Theorie, Frankfurt 1992, S. 244 17 Marx, Zur Kritik der Hege/sehen Rechtsphilosophie. S. 378 18 Marx, ,,Thesen über Feuerbach", a.a.O., S. 6 19 Marx, Das Kapital, Bd. 3, in: MEW 25, S. 825 20 Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 90 und S. 483; Ders., Theorien über den Mehrwert, Bd. 3, S. 250; vgl. ebd. auch S. 268 21 Marx, Das Kapital, Bd. 1, S. 445; Ders., Theorien ..., a.a.O., S. 169; K. Marx, Das Kapital. Bd. I, S. 95 22 Ebd., S. 87 Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort, in: MEW 13, S. 10 24 Marx, Theorien über den }vfehrwert. Bd. 3, S. 145 25 Marx, Grundrisse, S. 544 f 26 Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, Darmstadt/Neuwied 1979, S. 260 27 Marx, Zur Kritik der Hege/sehen Rechtsphilosophie, S. 385 28 Die Produzenten „existieren nur sachlich füreinander, was in der Geldbeziehung, wo ihr Gemeinwesen selbst als ein äußerliches and darum zufälliges Ding allen gegenüber erscheint, nur weiterentwickelt ist. Daß der gesellschaftliche Zusammenhang, der durch den Zusammenstoß der unabhängigen Individuen entsteht, als sachliche Notwendigkeit und zugleich als ein äußerliches Band gegenüber ihnen erscheint, stellt eben die Unabhängigkeit dar, für die das gesellschaftliche Dasein zwar Notwendigkeit, aber nur ein Mittel ist, also den Individuen selbst als ein Äußerliches erscheint, im Geld sogar als ein handgreifliches Ding. Sie produzieren in und für die Gesellschaft, als gesellschaftliche, aber zugleich erscheint dies als bloßes Mittel, ihre Individualität zu vergegenständlichen. Da sie weder subsumiert sind unter ein naturwüchsiges Gemeinwesen, noch andererseits als bewußt Gemeinschaftliche das Gemeinwesen unter sich subsumieren, muß es ihnen als den

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unabhängigen Subjekten gegenüber als ein ebenfalls unabhängiges, äußerliches, zufälliges Sachliches ihnen gegenüber existieren. Es ist dies eben die Bedingung dafür, daß sie als unabhängige Privatpersonen zugleich in einem gesellschaftlichen Zusammenhang stehen." (Marx, Grundrisse, S. 909) Max Horkheimer, Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland, Frankfurt 1974, S. 253

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Vgl. Adorno, ,,Über Statik ...~\ a.a.O., S. 44

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Siehe R. Bellofiore, ,,Plan, Kapital, Demokratie", in: Wildcat Zirkular Nr. l, Berlin 1994

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Manfred Dahlmann

Das Rätsel der Macht Über Michel Foucault

Bezeichnend für das Denken von Foucault ist dessen Leitfaden für das Alltagsleben, den er nach der Lektüre des Anti-Ödipus von Deleuze/ Guattari zusammengestellt hat: 1. Befreie die politische Aktion von jeder vereinheitlichenden und totalisierenden Paranoia! 2. Verweigere den alten Kategorien des Negativen (das sind Gesetz, Grenze, Kastration, Mangel, Lücke), die das westliche Denken so lange als eine Form der Macht und einen Zugang zur Realität geheiligt hat, jede Gefolgschaft! Gib dem den Vorzug, was positiv ist und multipel, der Differenz vor der Uniformität, den Strömen vor den Einheiten, den mobilen Anordnungen vor den Systemen! Glaube daran, daß das Produktive nicht seßhaft ist, sondern nomadisch! 3. Denke nicht, daß man traurig sein muß, um militant sein zu können - auch dann nicht, wenn das, wogegen man kämpft, abscheulich ist! Es ist die Konnexion des Wunsches mit der Realität (und nicht sein Rückzug in Repräsentationsformen), die revolutionäre Kraft hat. 4. Gebrauche das Denken nicht, um eine politische Praxis auf Wahrheit zu gründen - und ebensowenig die politische Aktion, um eine Denklinie als bloße Spekulation zu diskreditieren! Gebrauche die politische Praxis als Intensifikator des Denkens und die Analyse als Multiplikator der Formen und Bereiche der Intervention der politischen Aktion! 5. Verlange von der Politik nicht die Wiederherstellung der „Rechte" des Individuums, so wie die Philosophie sie definiert hat! Das Individuum ist das Produkt der Macht. Viel nötiger ist es, zu „entindividualisieren", und zwar mittels Multiplikation und Verschie83

bung, mittels diverser Kombinationen. Die Gruppe darf kein organisches Band sein, das hierarchisierte Individuen vereinigt, sondern soll ein dauernder Generator der Ent-[ndividualisierung sein. Und schließlich: 6. Verliebe dich nicht in die Macht! (Michel Foucault, Dispositive der Macht, Berlin l 978, S. 228 ff) Weil es so etwas wie eine Zusammenfassung seines Selbstverständnisses ist, sei noch eine längere Stelle zitiert: ,,Ich träume von dem Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und Universalien, der in den Trägheitsmomenten und Zwängen der Gegenwart die Schwachstellen, Öffnungen und Kraftlinien kenntlich macht, der fortwährend seinen Ort wechselt, nicht sicher weiß, wo er morgen sein noch was er denken wird, weil seine Aufmerksamkeit allein der Gegenwart gilt; der, wo er gerade ist, seinen Teil zu der Frage beiträgt, ob die Revolution der Mühe wert ist und welche (ich meine: welche Revolution und welche Mühe), wobei sich von selbst versteht, daß nur die sie beantworten können, die bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um sie zu machen." (Ebd, S. 198) Foucault also geht es um die Zerstörung von Evidenzen und Universalien. Sein Motiv ist eindeutig: Diese Evidenzen und Universalien dazu zählt er etwa die in den Wissenschaften produzierten Wahrheiten und Begriffe gelten ihm als Orte, von denen aus die Macht ihre Herrschaft ausübt. Gegen diese, in Allgemeinbegriffen repräsentierte Macht gilt es, ,,unter Einsatz des Lebens zu kämpfen." Dem Machtbegriff von Foucault liegen zwei Ebenen zugrunde: Die erste Ebene ist die konzeptionelle, ist das „Analyseraster einer Mikrophysik der Macht". Hier geht es um das Verhältnis der „lokalen Mächte zur allgemeinen Macht", um die Beziehung der Mächte zu ihrem außen ~ den Körpern, sowie um die Konsequenzen für die Analyse, die in dieser Konzeption von Macht enthalten sind: vor allem um die Subjektlosigkeit der Macht und um den Positivismus, den Foucault seiner Mikrophysik der Macht zugrundelegt. Die zweite Ebene wäre dann die Mikrophysik der Macht selber, also, wie man sich früher einmal ausgedrückt hat, die Realanalyse der bürgerlichen Gesellschaft.

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1. Mikrophysik der Macht

Zuerst einmal wäre also zu klären, was Foucault eigentlich unter Macht versteht. Gibt er doch freimütig zu, nicht zu wissen, was die Macht ist. Seit Marx wisse man zwar, was Ausbeutung sei, aber schon der Begriff Herrschaft sei unklar, da keiner wisse, von wo aus sich die Macht bestimmt. Die Tatsache allerdings, daß die Macht existiert, kann nicht geleugnet werden. Und, so Foucault weiter, bevor wir wissen können, was die Macht ist, müssen wir uns darüber verständigen, aufweiche Art und Weise sie wirkt. Foucault also geht es in seinen Analysen immer um das „Wie" der Macht und in zweiter Linie erst um ihr „Was". Dem Dilemma, Wirkungen analysieren zu wollen, ohne zu wissen, was die den Wirkungen zugrundeliegende allgemeine Ursache ist, entzieht sich Foucault mit einem Verfahren, das so alt ist wie die Wissenschaft. Zur Anleitung der Forschungspraxis wird eine Hypothese formuliert, um im Verlauf des Forschungsprozesses herauszufinden, ob sich mit der Ausgangshypothese arbeiten läßt, ob sie modifiziert oder von einer anderen abgelöst werden muß. Der Inhalt der Ausgangshypothese ist völlig ohne Belang. Auch der Satz, daß der Urbaustein der Materie aus grünem Käse besteht, erfüllt vom Prinzip des kritischen Rationalismus aus gesehen bekanntlich durchaus die Funktion, einen Forschungsprozeß sinnvoll anleiten zu können. Als eine solche Konstruktion Foucault nennt dies seinen Nominalismus - versteht er seinen Machtbegriff und seine Arbeiten sollen den Einsatz zu einem allumfassenden Spiel abgeben, einen Einsatz, der schließlich zeigen soll, ob man so wie er denken kann. Macht also ist, zuerst einmal, nichts weiter als ein Name, ist nicht mehr als ein Zeichen, mit dem „komplexe strategische Situationen" belegt werden sollen. Ein wichtiger Unterschied der Konstruktion von Foucault zu den wissenschaftlich üblichen ist hier allerdings festzuhalten; und in diesem Unterschied liegt so etwas wie ein Glanz, der in all dem Elend seiner Konzeption von Macht steckt, verborgen, ein Glanz, der ihn (im Gegensatz zu seinen ihm folgenden Schülern) zu einem Gegner macht, mit dem eine Auseinandersetzung durchaus zu Erkenntnissen führen kann: Denn im Gegensatz zum Wissenschafts-

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betrieb heutzutage macht er mit seinem Nominalismus ernst. Sein Nominalismus problemematisiert ein Verhältnis, das der Wissenschaft schon lange kein Problem mehr ist: Äpfel und Birnen zusammengenommen heißen Obst der Allgemeinbegriff Obst enthält, unter anderen natürlich, Äpfel und Birnen als seine konkreten Bestimmungen in sich. In dieser Abstraktion vom Besonderen zum Allgemeinen aber ein Problem zu sehen, das mit Macht, mit Herrschaft, mit Ausbeutung auch nur im entferntesten zu tun hat, dies gilt der Wissenschaft, seit sie die theologische Scholastik überwunden hat, nachgerade als lächerlich. Foucault dagegen erkennt, daß zumindest dort, wo es nicht um den Allgemeinbegriff Obst, sondern um den der Macht geht, im Verhältnis der je besonderen Kräfte zu deren Verallgemeinerung zu einer einheitlichen Macht ein Problem steckt, das mit dem Verweis auf die bloße Formalität von Abstraktion nicht in den Griff zu bekommen ist. Macht als Allgemeinbegriff als „nominale Konstruktion" ist also bei Foucault erst einmal zu verstehen als „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen, die ein Gebiet bevölkern und organisieren". Die, wie er sie nennt, archäologischen Forschungen in abgelegenen Archiven, während der jedem Ereignis die gleiche Bedeutung gegeben werden soll (hier hat im übrigen die poststrukturale Beliebigkeit ihren Ausgangspunkt, eine Basis allerdings, die logisch natürlich längst in der Warenform angelegt ist, das aber hier nur am Rande), sollen nun den Prozeß rekonstruieren, in dem es den einzelnen Mächten schließlich gelingt, sich miteinander zu einer Einheit zu verbinden. Das Ergebnis ist dann die Mikrophysik der Macht, die deutlich werden lassen soll, daß das, was als Errungenschaften der abendländischen Zivilisation gilt: Individualität, Sozialität, Wahrheit, Wissenschaft, Technologie usw. nichts weiter ist als das Resultat der Verkettung einzelner Mächte zu einer einheitlichen, den modernen Gesellschaftskörper beherrschenden und ihn durchziehenden „Strategie der Macht." Bevor anhand der konkreten Analysen nachvollzogen werden kann, wie Foucault dieses Konzept einlöst, wäre auch schon auf das Elend hinzuweisen, dem er sich ausgeliefert hat, als er den Machtbegriff in dieser Form seinen „nomadischen Untersuchungen" zugrunde gelegte. Dieses Elend ist, wie der Glanz, Resultat derselben Konsequenz, mit 86

der er seinen Nominalismus durchzuhalten gewillt ist: Wo Allgemeinbegriffe wie Gesellschaft, Staat, Wahrheit, Natur etc. als Resultate von Machtverhältnissen begriffen sind, ist es nur konsequent, sich gegen jede Theorie zu wenden, die die herrschende Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit auf den Begriff bringen will. Der Hegelianismus etwa gilt Foucault als das Grundübel abendländischen Denkens denn im hegelianischen Diskurs (und damit auch im marxistischen) hat die Macht sich besonders effektiv zu einer einheitlichen Strategie verketten können. Und die Konsequenz seines Nominalismus zwingt ihn, von seinen Analysen zu behaupten, daß ihnen kein einheitlicher, aufs Ganze zielender Charakter zuzusprechen ist. Wo jeder Allgemeinbegriff als das Resultat der Vereinheitlichung je besonderer Mächte zum Zwecke der Steigerung und Effektivierung von Macht ist, dort muß der, der gegen diese allgemeine Macht kämpft, auf jede Theorie, auf den allgemeinen Diskurs überhaupt verzichten. Folgerichtig gehört das Bedürfnis nach Theorie für Foucault noch zu dem System, ,,von dem man genug hat." Foucault ist sich des Dilemmas, dem er sich mit seinem Machtbegriff aussetzt, durchaus bewußt und mit einem Erfindungsreichtum, der seinesgleichen sucht (der nur noch von seinen Plagiatoren übertroffen werden dürfte), versucht er eine umfassende Mikrophysik der Macht vorzulegen, die sich beständig dagegen sträubt, als eine einheitliche, ganzheitliche Theorie zu erscheinen, als eine Theorie, der ein inhaltlicher Allgemeinbegriff, der ein reales Subjekt, etwa ,die Macht', zugrunde liegt.

II Macht und Körper Das Dilemma Foucaults ist das Verhältnis von besonderen, lokalen Mächten zu ihrer Einheit als allgemeiner Macht. Als Einheit ist Macht von ihm doppelt bestimmt: einmal bloß nominal, als Forschungshypothese, und einmal real, als geschichtlich gewordene Einheitlichkeit der Macht in der bürgerlichen Gesellschaft. Nun ist sich Foucault darüber klar, daß man Mächte nicht voneinander unterscheiden kann, wenn es außerhalb dieser Mächte nichts gibt, über das das spezifische einer Macht bestimmt werden kann. Jede Analyse muß auf 87

mindestens einer Differenz, auf mindestens einer Verdopplung beruhen, sonst bewegt sie sich in Tautologien. Es muß etwas geben, was außerhalb der Mächte steht, etwas, das es überhaupt erst erlaubt, die eine Macht von einer anderen zu unterscheiden. Die Verdopplung, auf die Foucault sich beständig beruft, um Tautologien zu vermeiden, ist, daß er den Mächten Körper gegenüberstellt. Körperlichkeit steht bei ihm für all das, was nicht zur Ordnung der Macht gehört. Körperlichkeit ist dabei zwar immer als das Außen der Macht gedacht: Macht und Köper sind aber nicht als Gegensätze zu verstehen, Gegensätzlichkeit in der Form, daß „in den Körpern Freiheit stecke, in der Macht dagegen Zwang." Vor allem ist diese Verdopplung nicht als bloße Umformulierung der alten philosophischen Verdopplung in Subjekt (etwa: die Macht) und Objekt (hier: die Körper) gedacht. Die Spaltung der Welt in Subjektivität, die üblicherweise für Freiheit, Irrtum, Gefühl, Individualität oder anderes steht, und Objektivität, womit meist Wahrheit, Natur, Gesetzlichkeit, Gesellschaftlichkeit oder auch Zwang verbunden wird: all diese Verdopplungen und Gegensätze begreift Foucault als Ausdruck spezifischer Machtstrategien, als Verfestigungen, als Dispositive, die in einer je spezifischen Weise und an einem ganz spezifischen Ort eine Verbindung mit den ihnen äußerlichen Körpern eingegangen sind. Weder die Macht noch die Körper können unabhängig voneinander untersucht werden. Untersucht werden kann immer nur die Art und Weise, in der Körper und Macht eine spezifische Verbindung eingegangen sind. Von dieser für seine Mikrophysik grundlegenden Verdopplung der Welt in Mächte und Körper meint Foucault nicht weniger, als daß er auf diesem Wege das gesamte Denken der abendländischen Zivilisation vom Kopf auf die Füße stellen kann. Diese Grundlegung soll es ihm erlauben, eine politische Geschichte der Wahrheit zu schreiben, eine Geschichte, die für sich selbst ohne Wahrheitsbegriff auskommt, die auf Metaphysik und Transzendenz, die auf Ontologie verzichten kann, die also ohne Rückgriff auf absolute, nicht weiter erklärbare, für evident gehaltene Wahrheiten auskommt. Und die vor allem nicht darauf angewiesen sein will, gegenwärtigen und vergangenen Prozessen ein allgemeines Subjekt unterstellen zu müssen. Kein Gott, kein Gesetz, keine Natur, kein Souverän, keine Klasse und erst recht kein Mensch ist Subjekt der Geschichte. Und vor allem - dies ist der ei-

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gentliche Zweck seiner nominalistischen Konstruktion von Macht auch die Macht selbst ist nicht das historische Subjekt. Die Geschichte wird nicht regiert - sie regiert sich selbst in einem ungeregelten, an sich chaotischen Prozeß ohne Anfang und Ziel, einem Prozeß, der sich allerdings für eine bestimmte Zeit wie in der heutigen zu einer einheitlichen Strategie verketten kann, ohne daß dieser Strategie aber ein Stratege als Subjekt unterstellt werden müßte. Souveränität etwa- die Abhängigkeit der Gesellschaft also von der Willkür eines allmächtigen Herrschers, war eine solche vorübergehende Verkettung von Macht im Mittelalter und im Absolutismus. Die bürgerliche Gesellschaft dagegen sei vom Fehlen dieser Souveränität gekennzeichnet - und dies zeige, daß Macht sich vereinheitlichen kann, ohne daß dieser Macht ein Subjekt unterstellt werden muß. Auf dieses Verständnis von Souveränität und Subjektivität wird näher einzugehen sein. So viel wird aber hier schon deutlich: Foucault beschreibt - auf einer hohen Ebene der Abstraktion - nichts anderes als die Wirkungsweise des ,automatischen Subjekts' , ohne von ihm tatsächlich reden zu wollen. Anstelle dessen redet er von ,Macht'. Kommen wir zur Kategorie des Körpers zurück. Der Körper - und hierunter ist nicht etwa nur der menschliche Leib zu verstehen, auch die Gesellschaft bildet, unter Umständen, einen Körper - spielt bei Foucault dieselbe Rolle für die Macht, wie das Ding an sich bei Kant für die Vernunft. Er muß zwar als existierend vorausgesetzt werden, Aussagen über ihn können aber nur durch die Machtbeziehungen hindurch formuliert werden. Damit ist auch schon der wesentliche Unterschied von Körper und ,Ding an sich' benannt: Kant zieht aus der Unerkennbarkeit des Dinges an sich den Schluß, daß ihn dieses überhaupt nicht weiter zu interessieren habe. Er wendet sich der Vernunft zu und überantwortet die Rätselhaftigkeit dieses Dinges an sich den Theologen und anderen Okkultisten. Bei Foucault allerdings muß das Rätsel der Körperlichkeit: abstrakt als existierend vorausgesetzt werden zu müssen, konkret aber nur durch Machtbeziehungen hindurch erkannt und entdeckt werden zu können, zum wesentlichen Gegenstand seiner Analysen avancieren. Jeder von ihm entwickelten Kategorie: etwa Zeichen, Dispositiv, Natur, Vergegenständlichung, Diskurs, ja alle seine Begriffe, etwa die vom Sex, von der Seele, von Gesellschaft, Staat, Lust, Gefühl sind nur zu verstehen, wenn in ih-

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nen die Verdopplung von Macht und Körper mitgedacht wird. Die Kategorien von Foucault bezeichnen also nie Gegenstände, wie man etwa, scheinbar problemlos, einen Tisch alltagssprachlich als einen Gegenstand begreift. Vielmehr liegt jeder Kategorie eine Relation zugrunde, eine Beziehung zwischen Macht und Körper oder, wie Foucault sich ausdrücken würde: Seine Begriffe bezeichnen einen Knoten in einem Netz, in dem beständig neue Knoten geknüpft und alte gelöst werden. Einwände gegen Foucault's Konzeption können bis hier noch gar nicht formuliert werden. Kritisiert werden kann diese erst, wenn gezeigt worden ist, daß sein Konzept der Macht in der Realität nicht eingelöst werden kann - gegen bloß philosophisch bleibende Kritik hat Foucault sich immunisieren können. Dies, auch darauf wird noch einzugehen sein, weil sein Konzept genau die Kriterien erfüllt, die etwa Hannah Arendt für die Basis aller totalitären Ideologie ausgewiesen hat: es beruht auf einer allumfassenden, leicht verständlichen Logik, mit deren Hilfe jeder, der die Grundelemente einmal als geltend akzeptiert hat, sich mühelos die gesamte Welt erklären kann. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, daß Foucault ab Ende der siebziger Jahre in den Köpfen der Intellektuellen Marx ersetzen konnte. Hier sei noch darauf hingewiesen, wozu es führt, wenn der Diskurs über das Ding an sich nicht den Pfaffen überlassen bleibt - und auch dies begründet die Attraktivität der Theorie Foucault's. Das von Foucault angereizte Interesse an den Körpern brachte bei seinen Schülern schon früh solch originelle Aufsätze hervor, wie die der Zeitschrift Tumult. Zitiert seien die Titel der Nr. 2, unter dem Generalthema: Körperherstellungen. Die Titel einiger Aufsätze lauten: Nacktheit als Kleidung; Schminke und Prothesen; über das Verdunsten des Einzelkörpers; Gesicht, Gefühl, Gehäut usw. Die Aufsätze selbst halten, was die Titel versprechen. Sie sind unterhaltsam - aber von Kämpfen, wie noch beim Meisterdenker Foucault, von wirklicher Politik ist in diesen poetisierenden, die blaue Blume suchenden Traktaten nicht mehr die Rede. Und neuerdings sind es etwa die Autoren um die Zeitschrift l 7°C und um Günter Jacob, die immer schon die Moden, die Verpackung der Körper also und all den sonstigen kulturindustriellen Kram affirmiert haben, die nun die noch übrig gebliebenen Linken mit Foucault das Hirn vollstopfen wollen. 90

Die Wahl, und dies Resultat der Kritik sei an dieser Stelle vorweggenommen, zwischen Scheinradikalität und Sektierertum ist die Konsequenz für die, die sich mit Foucault's Denken identifizieren wollen. In einer Gesellschaft, die, wie auch immer, einzelnes und isoliertes zu einem Ganzen synthetisiert, ist ein konsequenter Nominalismus, d.h. einer, der die Existenz einer realen Synthesis der einzelnen Ereignisse leugnet, schlechterdings undurchführbar. Selbst der, der in einem vor Jahren in der Taz erschienenen Gedicht mit dem Titel: , Wider das leichtsinnige Anfertigen von Gedichten' forderte: ,,Zeigt eure Sprachlosigkeit. Entlaßt das Stammeln aus dem Käfig der alltäglichen Verdrängung ...", auch der will noch verstanden werden und er wird es. Auch das bloße Von-Sich-Geben völlig unzusammenhängender Lautverbindungen wird in einer synthetisierten Gesellschaft zum Moment dieser Gesellschaftlichkeit: Wird zum Realismus dort, wo Nominalismus beabsichtigt war. Doch zurück zu der Verdopplung in Mächte und Körper und der für Foucault's Analysen entscheidenden Konsequenz aus ihr: Wo es allein um ein historisches, subjektloses Verhältnis der Mächte zu den ihrer „Objektivität entkleideten Körpern" geht, gibt es weder ein subjektives noch ein objektives Kriterium mehr, das irgend etwas als negativ, als schlecht, als böse, als häßlich oder sonstwie werten kann. Jede Negation kann, wie das Subjekt/Objekt-Verhältnis selbst, wiederum nur als Ausdruck eines spezifischen Machtverhältnisses betrachtet werden - etwa als der Widerstand der einen lokalen Macht gegen eine andere. Für die Analyse der Macht heißt das, daß alle Kategorien des Negativen (vor allem der Begriff der Kritik - wie immer auch verstanden) am Problem der Macht vorbeigehen müssen. Wer wie Foucault konsequenter Nominalist sein will und diesem Nominalismus die Verdopplung von Macht und Körper zugrunde legt, der muß Positivist sein - muß einen Positivismus vertreten, der den empirischen Positivismus der Naturwissenschaften rigoros auf alle Phänomene und Ereignisse überträgt.

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III Foucault

s Realanalyse

In der Darstellung der Realanalyse von Foucault ist zu zeigen, wie er sein Konzept am Gegenstand erprobt und ernst macht mit dem Diktum von Nietzsche, daß Wirklichkeit sich nur im Jenseits von Gut und Böse ereigne. Im folgenden sei, weitgehend in Foucault's eigenen Worten, seine , Theorie' der bürgerlichen Gesellschaft zusammengefaßt: dabei wird deutlich werden, einserseits wie konsistent, also alles andere sls „unzusammenhängend" und unsystematisch Foucault argumentiert und andererseits, wie exakt Foucault, nur in ganz anderen Worten, die Wirkungsweise des Kapitals beschreibt. Und hingewiesen sei noch auf einen anderen Aspekt: Foucault gilt der bürgerlichen Schicht, die im Kapitalismus die Rolle zu erfüllen hat, die kapitalistische Wirklichkeit mit den Idealen zu vermitteln, die das Kapital aus sich heraus freisetzt, also den Intellektuellen, als jemand, der streng empiristisch, also mit dem unmittelbaren Verweis auf die Fakten, argumentiert. Gerade die linke Fraktion des Berufsstandes der Vermittler ist ja bekanntlich strikt antiintellektualistisch, theoriefeindlich ausgerichtet: mit Foucault (und heute besonders Derrida) glaubt sie, jemanden gefunden zu haben, der ,die Differenzen' aus dem Korsett der allumfassenden Theorie befreit habe. Jeder wirkliche Empirist kann da natürlich nur lachen: empirisch stimmt bei Foucault nur selten etwas. Beispielsweise ist das architektonische Modell, das Foucault zur Grundlage seiner Theorie dient, nie tatsächlich gebaut worden. Aber das soll hier nicht weiter interessieren: kritisierbar ist Foucault, wie jeder Empirist eben auch, in der den Ereignissen und den Differenzen zugrunde gelegten, vereinheitlichenden und verallgemeinernden Theorie. Und diese geht so: Die für die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft entscheidenden Mächte sind die Disziplinarmächte. Ihre Wirkungsweise erscheint als anonyme Strategie, die deshalb so erfolgreich sein konnte, weil die Disziplinarmächte mit einfachsten Instrumenten unerschöpfliche Gestaltungsmöglichkeiten entfalten können. Ihre Instrumente sind der Panoptismus und die Normierung. Mittels dieser Instrumente wird jeder Körper immer enger an die neuen Mächte angebunden, wobei den anderen Mächten immer mehr der Boden entzogen wird. 92

Die Verfahren der Disziplinarmächte arbeiten im wesentlichen nicht mit dem Recht, sondern mit der Technik, nicht mit dem Gesetz, sondern mit der Normalisierung, nicht mit der Strafe, sondern mit der Kontrolle und vollziehen sich auf einer Ebene und in Formen, die sowohl über die Ökonomie als auch über den Staat und seine Apparate hinausgehen. Die von den Disziplinen bewirkte konkrete Dressur aller nutzbaren Kräfte vollzieht sich somit hinter der großen Abstraktion des Tausches - und nicht in dieser. Und dem Gesellschaftsvertrag, als der idealen Grundlegung des Rechts und der politischen Macht, gibt das Zwangsverfahren der Disziplinierung von unten her seinen Inhalt. Die Aufklärung, welche die Freiheit entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden. Das juristische System staatlich garantierter Gleichheit und Freiheit der Individuen ist nicht das Resultat ökonomischer Prozesse, sondern ist das Ergebnis einer historischen Transformation der Machttechniken: ist Ergebnis der Disziplinarmächte, die die Machttechniken ablösten, die dem feudalen Souveränitätsprinzip entsprangen. Das Kennzeichen dieser Disziplinarmächte ist, daß es ihnen weniger um Ausbeutung als vielmehr um Synthese, weniger um Entwindung des Produkts als um Zwangsbindung an den Produktionsapparat geht. Ziel dieser Disziplinarmächte ist die Vermehrung der ihr eigenen Kräfte und die der Gesellschaft - und zwar so, daß die Gesellschaft nicht enteignet und deren Kräfte nicht gefesselt werden. Der Panoptismus ist die Lösung des Problems, die Macht steigern zu können auch und gerade dort, wo sie sich selbst unsichtbar macht. Der feudale Souverän konnte seine Macht nur ausüben, indem er die Körper unmittelbar in seine Gewalt nahm. Er mußte den von ihm beherrschten Körpern die Zeichen seiner Überlegenheit aufbrennen und diese Überlegenheit immer wieder neu beweisen. Als unsichtbare Macht kann der Panoptismus auf die jähen, gewalttätigen und lükkenhaften Verfahren feudal-souveräner Machttechniken verzichten und dringt dennoch bis in die elementarsten und feinsten Bestandteile der Gesellschaft ein. Architektonisch, also gegenständlich wurde der Panoptismus im Gefängnis entwickelt und erprobt. Die Körper der Gefangenen wurden auf einen einzigen Ort hin ausgerichtet, von dem aus jeder Ge93

fangene gesehen werden konnte - die Gefangenen selbst aber sahen den Aufseher nicht. Die Gefangenenen wußten also nicht, wann, und ob sie überhaupt beobachtet wurden - sie wußten nur, daß sie an jedem Ort und zu jeder Zeit, der Möglichkeit nach, gesehen werden konnten. Dieses Zusammenspiel von Wissen und Nicht-Wissen ist die Grundlage, auf der die Gefangenen ihre Körper nach außen hin disziplinieren, um den Aufsehern sowenig wie möglich Gründe zum Eingreifen zu geben. Diese Disziplinierung ist aber andererseits wiederum die Grundlage dafür, daß der Aufseher sich mittels Beobachtung, Registrierung und Strukturierrung ein Wissen von den Körpern der Gefangenen und deren Verhaltensweisen aneignen kann. Ein Wissen, daß ihm die Aufgabe der Überwachung immer mehr erleichtert. Der allgemeine, den Gesellschaftskörper unserer Tage abstrakt durchziehende Panoptismus ist das Ergebnis dieser vom Strafvollzug ausgehenden, sich dann in anderen Disziplinareinrichtungen wie dem Militär, der Schule, den Spitälern, den Irrenanstalten usw. verallgemeinernden, vielfältigen Beobachtungs- und Registrierungsmechanismen, die nichts anderes verfolgen als zu katalogisieren und zu strukturieren. Er gewinnt schließlich an Wirksamkeit und dringt immer tiefer in das Verhalten der Menschen ein. Auf jedem Machtvorsprung - bildlich gesprochen in jedem Aufseher - sammelt sich ein Wissen an und deckt an allen Oberflächen, an denen sich Macht entfaltet, neue Erkenntnisgegenstände auf. Ausgehend von vereinzelten, diskreten Verfahren verallgemeinern sich historisch die Techniken der Disziplinarmächte und erzeugen den Effekt einer einheitlichen Strategie. Die Disziplinen, erprobt in den verschiedenen Modellen des Strafvollzuges, welche im 18. Jahrhundert entwickelt wurden, dringen in die innerfamiliären Beziehungen, in die Verwaltungsapparate und sonstigen Institutionen ein und ändern den Charakter dieser Apparate selbst: Diese haben von jetzt an weniger die Aufgabe, den Souverän zu repräsentieren, also zu verkörpern, sondern die, die Disziplinierungstechniken im Gesellschaftskörper zu verallgemeinern. Sind die Körper schließlich allseits diszipliniert, können die Mächte auf ihre körperliche Präsenz verzichten: die Aufseher, und in ihrem Gefolge die Souveränität selbst, können die Bühne verlassen. Bei den armen Klassen zum Beispiel setzte man zur Disziplinie94

rung folgende Verfahren ein: das Eintrichtern einer Grundgesetzlichkeit, die unverzichtbar war, sobald das System des Srafgesetzbuches an die Stelle der Gewohnheitsrechte trat; das Beibringen der Grundregeln des Eigentums und des Sparens; das Abrichten zum Arbeitsgehorsam, zur Seßhaftigkeit usw. Foucault bezeichnet schließlich alle in der Gesellschaft angelegten Disziplinareinrichtungen (dazu zählen Wohltätigkeitsgesellschaften, Sittlichkeitsvereine, Unterstützungsund Überwachungsinstitute, Arbeitersiedlungen und -Wohnungen) als das große Kerkernetz. Dieses Kerkernetz, oder genauer: die darauf basierende Machttechnik, verdrängt andere, unproduktivere Mächte und wird universell. Nicht alle alten Machttechniken werden dabei verdrängt: die Disziplinarmacht tritt zu anderen, schon bestehenden hinzu, erzwingt aber neue Grenzziehungen: sie tritt hinzu zur Macht des Wortes und des Textes, zur Macht des Gesetzes, zur Macht der Tradition. In den Disziplinen kommt schließlich die Macht der Norm zum Durchbruch. Dient der Panoptismus dazu, die Körper beobachten, registrieren und differenzieren zu können, so stellt die Norm die Ersetzung des Aufsehers dar, auf den hin die Körper differenziert werden. Jede Normalisierungsmacht ist doppelt bestimmt: Einerseits zwingt sie zur Homogenität - was seinen umfassendsten Ausdruck im System der formellen Gleichheit findet, andererseits wirkt sie in Verbindung mit dem Panoptismus individualisierend, da von ihr aus Abstände gemessen, Besonderheiten fixiert und die Unterschiede nutzbringend aufeinander abgestimmt werden können. Und das Hauptziel aller Verfahren der Disziplinierung und Normalisierung ist die Individualisierung, die durch den Abbruch jeder Beziehung, die nicht von der Macht kontrolliert oder hierarchisch geordnet ist, hervorgerufen wird. Von einer einheitlichen, also von der Macht darf erst gesprochen werden, wenn sie als historisch gewordene Einheitlichkeit den gesamten Gesellschaftskörper durchzieht. Einzelne lokale Mächte, denen gemeinsam ist, daß sie die Körper disziplinieren, wo die anderen Mächte die Körper gewaltsam unterwerfen, haben sich nun zu einer gemeinsamen Finaltät, zu einer einheitlich wirkenden, auf eine einheitliche Norm hin bezogenen Srategie verketten können. Und das Kennzeichen dieser Strategie ist, daß es sich in ihr um Machtmecha95

nismen handelt, die nicht durch Abschöpfung oder Ausbeutung wirken, sondern durch Wertschöpfung. An die Stelle des Prinzips Gewalt und Beraubung setzen die Diszilinen Milde, Produktion und Profit. Es stellt sich die Frage, wie in die Disziplinarmächte die Zielgerichtetheit, die Finalität also, hineinkommt, die es erst erlaubt, überhaupt von Strategie zu sprechen. In Interviews auf dieses Problem angesprochen, antwortet Foucault immer wieder ausweichend: Man wisse nicht, wer die Macht eigentlich hat, aber man wisse, wer sie nicht hat: Es gibt keine Person und keine Klasse, von der die Macht ausginge. Beispielhaft führt er dazu aus, daß etwa das Gefängnis einen Effekt produziert, der im vorhinein absolut nicht vorgesehen war und der nichts zu schaffen hat mit der strategischen List irgendeines meta- oder transhistorischen Subjekts, das ihn geahnt oder gewollt hätte. Die bürgerliche Klasse habe die Strategie der Disziplinierung auf jeden Fall nicht erfunden und der Arbeiterklasse aufgezwungen. Die Bourgeoisie habe zwar durch alle Arten von Mechanismen und Institutionen hindurch (etwa dem Parlamentarismus, die Informationsverarbeitung, die Verlage, die Handelsmessen, die Universitäten usw.) groß angelegte Strategien erarbeiten können ohne daß es indessen Not täte, ihnen ein Subjekt zu unterstellen. Dagegen sei die massive Projektion von militärischen Methoden auf die industrielle Organisation ein Beispiel dafür, wie sich die neuen Mächte realisieren, ohne daß hier eine Klasse wie die Bourgeoisie als Subjekt dieses Prozesses unterstellt werden müßte. Die Priorität bei Foucault ist klar: Im Verhältnis einzelner Mächte zueinander entwickelt sich eine Strategie, die dann von den Trägern des industriellen Produktionsprozesses nutzbar gemacht wurde. Damit konnte die Bourgeoisie ihreMacht steigern •- ohne sie jedoch zu besitzen. Und mehr noch: auch die Bourgeoisie wird von diesen Mächten diszipliniert, wenn auch, dies gesteht Foucault zu, in einer anderen Weise als das Proletariat.

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IV. Der Wissensdiskurs

Die Form, in der jede Macht ob als Disziplinarmacht oder als eine andere es schafft, bis in die winzigsten und individuellsten Verfahrensweisen vorzudringen ist der Diskurs. Auf den Diskurs als Träger sind alle Mächte angewiesen. Die Diskurse sind die strategischen Elemente, über die die Mächte als Mächte erst erkennbar werden. In den Diskursen der verschiedenen Disziplinarmächte wird, wie oben schon gesehen, Wissen erhoben, erzeugt und formiert. Aus einer Kombination von Panoptismus und Normalisierung wird das Prüfungsverfahren entwickelt, das die Verallgemeinerung und vor allem die Objektivierung des in den Disziplinen erzeugten Wissens erst ermöglicht. Erst durch das Überziehen des Gesellschaftskörpers mit den verschiedensten Prüfungsverfahren wird ein abrufbereites, allgemeines und daher objektiviertes Wissen konstituiert. Mit den Prüfungen entstehen die Humanwissenschaften und mit ihnen tritt man in das Zeitalter der unbegrenzten Überprüfung und der zwingenden Objektivierung ein. Das oben schon angesprochene Kerkernetz bildet das Arsenal des Komplexes aus Macht und Wissen, der die Humanwissenschaften geschichtlich ermöglicht hat. Der erkennbare Mensch ( seine Seele, seine Individualität, sein Bewußtsein, sein Gewissen, sein Verhalten usw.) ist Effekt der von den Disziplinen ermöglichten analytischen Erfassung der Körper. Diesen neuen Wissenschaften vom Menschen ist gemeinsam, daß der Mensch nicht mehr als Gattungswesen betrachtet wird, sondern als Individuum. Die Aufzeichnungs- und Registrierungsverfahren, die Überprüfungsmechanismen, die Formierung der Disziplinaranlagen, die Herausbildung eines neuen Typs von Macht über die Körper, haben die Körper erst als Individuen in das Feld des Wissens eintreten lassen. In jenen ruhmlosen Archiven, in denen das moderne System der Zwänge gegen die Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen erarbeitet worden ist, hat sich die Geburt der Wissenschaften von den Menschen zugetragen. Und, diese Bemerkung Foucault's, der ihre Evidenz nicht abzusprechen ist, am Rande: Die empirischjen Verfahren, auf die sich diese Wissenschaften, wie auch die Naturwissenschaf97

ten stützen, sind in den Gerichtsverfahren der Inquisition erarbeitet und entwickelt worden. Das Besondere dieser Erarbeitung von Wissen ist nun, daß die Wissenschaften vom Menschen beständig nach etwas Geheimen fragen, daß sie immer etwas entdecken wollen, was hinter den besonderen, empirischen Erscheinungen steckt. Foucault geht nun davon aus, daß es das, wonach diese Wissenschaften fragen: das Geheime, das Wahre, das Wesen hinter den Erscheinungen gar nicht gibt. Vielmehr seien es die Fragen der Wissenschaft selbst, die das produzieren, was diese dann auch finden. Individualität etwa ist demnach das Ergebnis der Fragen der Wissenschaft nach Individualität, ist also nichts, was den Körpern von Natur aus eigen ist. Ähnlich verhält es sich mit der Seele: sie entsteht als inneres Gegenstück zu der den Körpern von außen auf gezwungenen Disziplin: Hier wird sie produzert, um dann von den Psychologen für die Macht genutzt werden zu können. Als Modellfall für dieses zirkuläre Wechselspiel der Produktion und späteren Entschleierung von Geheimnissen gilt Foucault die Freud'sche Verdrängungshypothese, gegen die er seine Anti-Repressionshypothese entwickelt: Indem die Psychoanalyse beständig nach dem Unbewußten fragt, indem sie ständig über das Unbewußte redet, erzeugt sie es erst. Sie entdeckt im Unbewußten nicht das wahre Sein des Subjektes, ebensowenig wie die Humanwissenschaften Individualität als die Wahrheit der Körper entdeckt haben. Der hinter jedem Wissenwollen steckende Wille zur Wahrheit, der in der Psychoanalyse einen seiner historischen Höhepunkte feiert, ist ein Resultat der abendländischen Kultur - und damit der Macht. Die Ordnung der Wahrheit ist für die Struktur und das Funktionieren der heutigen Gesellschaft fundamental. Die Macht produziert Wahrheitswirkungen und diese ihrerseits reproduzieren die Macht. Indem das Wissenwollen der Menschheit auf Wahrheit zielt, befreit es sich nicht aus den Technologien der Macht. Die Objektivität der Erkenntnis ist nicht der Ort der völligen Freiheit von Macht sie ist ihr Zentrum. Die gegenwärtige Ordnung der Wahrheit hat ihre Geschichte: Entstanden ist die Einteilung der Diskurse in wahre und falsche mit der Vertreibung der Sophisten bei den alten Griechen. Diese Teilung in 98

wahr und falsch war neu, denn der wahre Diskurs ist von nun an nicht mehr der kostbare und begehrenswerte Diskurs, der an die Ausübung der Macht gebunden ist. Seit den Griechen wird im Abendland das Objektive gesucht, wird das gesucht, was jenseits des Begehrens und Wollens vermutet wird. In der Marterung der Körper als Strafpraxis vorbürgerlicher Gesellschaften ist die Verbindung von Macht und Wahrheit, ähnlich wie im philosophischen Diskurs bei den altgriechischen Sophisten, noch unmittelbar: Durch die Marterung vollzieht sich die Machtausübung über die Körper und das durch die Marterung hervorgerufene Geständnis ist der Wahrheitsbeweis. Mit der Entkörperlichung der Macht gewinnt auch wenn die Marterung als Folter in der Strafpraxis nicht gänzlich verschwindet·~ das Geständnis bei der Suche nach Wahrheit immer mehr an Bedeutung. Dies sowohl in der modernen Strafpraxis, in der sich der Angeklagte mit dem Geständnis für die Wahrheit der Untersuchung verbürgt als auch in der Psychoanalyse, in der sich das Geständnis der Wahrheit in das Herz all der Verfahren eingeschrieben hat, durch die die Macht die Individualisierung betreibt. Besonders in seinem letzten Projekt, unter der Überschrift , Sexualtät und Wahrheit' ging es Foucault darum, eine politische Geschichte der Wahrheit zuschreiben. Mit ihr wollte er die traditionellen Linien der Philosophie umkehren. Dieser traditionellen Philosophie schreibt Foucault folgende Erkenntnisse zu: Das Geständnis befreit, die Macht zwingt zum Schweigen, die Wahrheit gehört nicht zur Ordnung der Macht, sondern steht in einem ursprünglichen Verhältnis zur Freiheit. Die politische Geschichte der Wahrheit dagegen hätte zu zeigen, daß die Wahrheit weder von Natur aus frei noch der Irrtum unfrei ist. Daß dies so ist werde beim Geständnis am deutlichsten: denn in der Forderung nach einem Geständnis des Wahren, sei es bei der Ermittlung von Straftaten, bei der Ermittlung von Pathologien in der Medizin oder bei der Preisgabe des Unbewußten in der Psychoanalyse ist der Zusammenhang der Macht mit der Wahrheit noch deutlich erkennbar.

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V Das Gespenst der Macht

Wahrheit wird von Foucault in ein „Dispositiv der Macht'' verwandelt. Was in der traditionellen Philosophie am Anfang steht: die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis von Wahrheit, steht bei Foucault am Ende: denn das, was wir heute unter Wahrheit verstehen, soll das umfassendste Resultat der geschichtlichen Techniken der Macht sein. Sexualität etwa ist kein Naturvermögen, ist keine von der Wissenschaft entdeckte ewig-gültige Wahrheit des Mensch-Seins, Sexualität entsteht vielmehr als ein geheimes Wissen im strategischen und politischen Zusammenspiel von Körper, Lust, Sex und Macht. Das gemeinsame aller von Mächten erzeugten Wahrheitswirkungen ist nun, daß in diesen Wahrheiten Mächte am Werk sind, die wirken können, ohne daß ein Aufseher, ein Mächtiger, ein Souverän körperlich erscheint. Denn, und das ist das allgemeine Ergebnis der Analysen Foucault's: Je unsichtbarer, und, hinzuzufügen wäre, je einheitlicher eine Macht auftritt, um so effektiver ist sie. Wahrheit, und hier liegt nun der entscheidende Fehler seiner Mikrophysik, ist aber nicht unabhängig von der Form zu denken, die eine jede Wahrheit annehmen muß, will sie allgemein als solche anerkannt werden. Eine Technologie der Macht etwa, für die zwei plus zwei fünf ist, wird jeden Einfluß, und damit jede Fähigkeit, Körper ihrem Willen gefügig zu machen, sofort verlieren. Von dieser Formbestimmtheit einer jeden Wahrheit kann man nicht abstrahieren, wenn man die Wahrheitswirkungen der Macht analysieren will. Wahrheit ist, zuerst einmal, nichts anderes als die allgemeine Anerkennung der Geltung reiner Formen. Wenn Foucault Macht in der Wahrheit entdeckt, dann entdeckt er einen bestimmten Inhalt in einer reinen Form. Der Archäologe, der Positivist und Empiriker, dem nur das etwas gilt, was auch erscheint, dieser Anti-Metaphysiker Foucault in der Wahrheit sieht er ein Gespenst: das Gespenst der Macht. In einer reinen Form einen Inhalt suchen, ist so okkult wie die Absicht, ein Geldstück mit den raffiniertesten Verfahren chemisch zu analysieren, um darin am Ende das gesellschaftliche Verhältnis zu finden, das das Geld aber seinem Wesen nach ist. Die Entstehung und die Geltung reiner Formbestimmungen - etwa der Mathematik -- ist als ein gesellschaftsbedingter 100

Prozeß nur zu verstehen, wenn man diese Formen als das ansieht, was sie sind: Formen, in denen Machtbeziehungen - also Gesellschaftlichkeit im weitesten Sinn nicht nur suspendiert scheinen, sondern auch suspendiert sind. Erst über die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Reproduktion, erst also, wenn man einen Begriff von Totalität hat, ist die Bedeutung zu erkennen, die die beständige Überbrückung des Gegensatzes von Form und Inhalt für den Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft hat. Machtverhältnisse sind immer Resultate da hat Foucault völlig recht. Und auch Wahrheitswirkungen mögen Resultate sein. Die Frage ist nur: Resultat von was? Trotz all seiner Beteuerungen, daß Macht nur lokal existiere, kommt Foucault im Resultat nicht darum herum, ganz allgemein zu behaupten, daß Macht von Macht erzeugt wird. In einer jeden Form, und sei es nur in der sprachlich-nominalen Identität von Macht und Mächten fallen Anfang und Ende, Ausgangspunkt und Resultat, Teil und Ganzes, Besonderes und Allgemeines zusammen. Von dieser Vertracktheit seines Gegenstandes muß Foucault beständig abstrahieren und wird diesem Gegenstand somit nicht gerecht. Zu sagen, Macht erzeugt Wahrheit und Wahrheit Macht ist dasselbe, wie zu sagen, Geld erzeugt Geld. Durch die Gleichsetzung von Wahrheit und Macht muß Foucault die Macht zum automatischen Subjekt der Geschichte machen: zur Wahrheit, die Wahrheit produziert. Die moderne bürgerliche Gesellschaft mag als ein derart tautologisches Gebilde erscheinen - mit Foucault's Machtbegriff ist sie als eine solche Erscheinung aber nicht erklärt. Eine solche Erklärung wäre nur möglich, wenn gezeigt werden kann, wie aus der allgemeinen Anerkennung reiner Formbestimmungen sich in der bürgerlichen Gesellschaft Gewaltverhältnisse reproduzieren. Dies erfordert, neben einem Begriff von Totalität, auch einen Begriff von negativer Vergesellschaftung und von Verkehrung. Und dann erweist sich der Machtbegriff Foucault's als Fetischisierung des Kapitals. Bevor dies ausgeführt wird, noch ein weiterer Beleg dafür, daß es Foucault nicht gelingt, in seiner Realanalyse das Rätsel der Macht zu lösen. Bei der „Strategie ohne Strategen" wurde es schon erwähnt: Foucault läßt die Frage unbeantwortet, wie in die Mächte Zielbestimmungen hineinkommen. Wenn diese Mächte körperlos, willenlos, also subjektlos sind, 101

woher ihr Bestreben - das ihnen allen ja gemeinsam ist - sich zu steigern, effektiver und unsichtbarer zu werden? Es mag ja noch angehen, daß ihre Verkettung zu eine reinheitlichen Strategie dem Zufall geschuldet ist - oder einem chaotischen Wechselspiel von Zufällen und Notwendigkeiten. Das Bestreben jeder einzelnen Macht aber, nicht ineffektiv, sondern effektiv, nicht mehr, sondern weniger Widerstandspunkte zu produzieren, dieses Bestreben muß Foucault als Einheit, als allgemeine Wahrheit jeder einzelnen Macht voraussetzen: Damit aber bricht seine Behauptung, das Allgemeine immer nur als Resultat der Verkettung je besonderer Ereignisse analysieren zu wollen, in sich zusammen. Das, was allen Mächten gemeinsam ist: das Bestreben, ihre Kräfte zu vermehren, also ein sehr menschliches, anthropologisches Bedürfnis eigentlich, bestimmt die Wirkungsrichtung der Macht: wie bei jeder traditionellen Philosophie ist das Allgemeine hier Subjekt, das Besondere nur Ausdruck dieser Subjektivität. Und in diesem Punkt: der Zielgerichtetheit der Mächte, wären die Analysen Foucault's etwas, was sie am wenigsten sein wollen: Anthropologie. Foucault sei unumwunden zugestanden, daß er mit seinem Positivismus wesentliche Phänomene der bürgerlichen Gesellschaft besser beschreibt als viele seiner Wissenschaftskollegen. Wenn es allerdings nur um den Wert einer positivistischen Beschreibung dessen geht, was im modernen Kapitalismus aktuell geschieht, dann gibt es zumindest einen Autoren, der noch informativer, wenn auch für weniger unterhaltsam argumentiert: Niklas Luhmann.

VI. Nominal- versus Realabstraktion

Nach all dem, was Foucault an konkreten Untersuchungen vorgelegt hat, wäre zuerst einmal zu fragen, mit welchem Recht Foucault sich gegen totalisierende Universalien und gegen systematische Theorien so vehement gewehrt hat. Zugegeben sei, daß Foucault, wie Luhmann, ohne Naturgesetzlichkeit, ohne Geschichtsteleologie auskommt, daß er der Geschichte eine allumfassende Kausalität nicht unterstellt. Fortschrittsmythen haben bei ihm keinen Platz. Wenn man außer acht 102

läßt, daß auch die Aussage, alles Sein ist Werden, ontologisch ist, so kommt Foucault sogar ohne ahistorische Prämissen aus. Aber sein Konzept der Macht dürfte, was Einheitlichkeit, Universalität und innere Konsistenz anbelangt, sowohl methodologisch als auch in der inhaltlichen Ausgestaltung, als auch in der sich daran anschließenden politischen Programmatik den Weltgeist hegelianischer Prägung in jeder Interpretation weit in den Schatten stellen. Zu streiten wäre nicht darüber, daß das, was Foucault an Ereignissen und Strategien in den Archiven aufgestöbert hat, einem Marxismus, dem der Machtanspruch im allgemeinen Wahrheits- und Objektivitätsbegriff kein Problem ist, an Erkenntniswert überlegen ist. Und vor allem eines sei an Foucault's Analysen hervorgehoben. Dem Utopismus vermag Foucault in der Nachfolge von Nietzsche sehr anschaulich vorzuführen, daß hinter diesem Utopismus dieselbe Macht steht, die das Kapital so mächtig macht. Wer, egal in welcher Spielart, programmatisch von der bürgerlichen Gesellschaft verlangt, sie solle die Subsumtion besonderer Interessen und Bedürfnisse unter eine allgemeine Macht, ob diese nun Leben, Natur, Glück, Liebe, Arbeit, Wahrheit oder sonstwie genannt wird, weiter treiben als sie es bisher schon treibt, der betreibt genau das Geschäft des Kapitals. Dieser Vorzug der Konzeption bei Foucault wird aber sofort wieder von denen verspielt, die sich in seiner Nachfolge poetisierend auf die Körperlichkeit als angeblich etwas Ursprünglichem stützen. Der depolitisierende Effekt dieserPoetisierung dürfte dem der Utopisten in nichts nachstehen. Das Richtige bei Foucault ist nur zu retten, wenn man die positivistische Konstruktion der Macht durchbricht. Es sei kurz angedeutet, wie dies geschehen kann: Was Foucault die singulären, lokalen Mächte nennt, das läßt sich mit Marx sehr viel genauer und von allen Mystzismen entkleidet als die Verausgabung konkreter Arbeit im Produktionsprozeß beschreiben. Diese konkrete Arbeit wird bekanntlich unter kapitalistischen Produktionsbedingungen in ihr Gegenteil verkehrt: sie wird zu abstrakter Form, sie verwandelt sich in Wert. Dieser im Produktionsprozeß erzeugte Wert wird auf dem Markt realisiert - erscheint dort als gerechter Preis und, okkult, als Geld, als sinnlich-übersinnliche Form. Was Foucault mit der Universalisierung der Disziplinar- und Normalisierungsmächte beschreibt, wäre hingegen nichts anderes als die Verallgemeinerung 103

der Form des Werts: die Wertform ist es, die das Denken und Verhalten der Individuen kolonialisiert. Und zwar hinter und in den Disziplinierungen. Ihres metaphysischen Charakters als subjektlose Mächte entledigt, kann dann all das, was Foucault mit den Kategorien von Disziplinierung, Panoptismus, Normalisierung und Prüfung faßt, weitgehend akzeptiert werden. Mit der einen Einschränkung, einer wichtigen, die am Anfangsbeispiel von den Äpfeln und den Birnen verdeutlichen sei: Die Disziplinen, von denen Foucault spricht, verlangen von den Körpern nicht nur, daß diese den Allgemeinbegriff Obst als das Gemeinsame in Apfel und Birne akzeptieren. Wenn bei Foucault von der Ausrichtung der Körper auf eine einheitliche, allgemeingültige Norm die Rede ist, dann bekommt er nur diesen Aspekt der Normierung in den Blick. So richtig dieser Aspekt der Disziplinierung auch gesehen wird: was die Disziplinierung aber schließlich erreicht, ist, daß die Individuen den Widersinn akzeptieren, daß zwei Äpfel genauso viel wert sind wie fünf Birnen. Und wichtiger, aber um so schlimmer, daß acht Stunden private Abtretung von Lebendigkeit an einen Kapitalisten dasselbe wert ist wie das, was in vier 'itunden gesellschaftlicher Tätigkeit produziert werden kann. Erst die Verallgemeinerung dieser Realabstraktion auf dem Gebrauchtwagenmarkt ebenso, wie auf dem Arbeitsmarkt bringt das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinen auf den Begriff. Weil Foucault, wie jede Wissenschaft, nur Nominalabstraktionen kennt wie die vom Obst, oder die von der Macht-, muß ihm der für die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft entscheidende Schritt entgehen: Daß nämlich vom Kapitalismus erst gesprochen werden kann, wenn die Realabstraktion des Tausches auch die Produktion erfaßt hat. Erst wo die Arbeitskraft selbst zur Ware geworden ist, sie selbst wertförmig ist und auch so denkt, erst von diesem Zeitpunkt an können sich die Disziplinierungen gesellschaftlich verallgemeinern, erst jetzt kann das Kapital zu einer sich aus sich selbst heraus reproduzierenen Macht werden. In der Verkehrung lebendiger Arbeit zu abstrakter Form im Produktionsprozeß liegt die Grundlage, liegt das Subjekt all der Mächte verborgen, von denen Foucault als angeblich subjektlosen spricht. Im gleichen Maße, in dem Individuen die Geltung der Wertform akzeptieren und als allgemeingültige Denkform für alle Bereiche ihres Lebens verinnerlichen, setzen sich in der Folge die von Foucault 104

beschriebenen disziplinierenden Mächte durch. Die einheitliche Macht des Kapitals, dessen Universalisierung, Anonymisierung, sowie das Wirken des Kapitals als automatisches Subjekt - in dem Macht Macht wie Geld Geld erzeugt- ist somit das Resultat eines historischen Prozesses, der dem Kapital selbst durchaus äußerlich ist. Das Kapital als Macht, Ausbeutung also, ist geschichtliches Resultat eines sozialen Verhältnisses, das vom Äquivalententausch beherrscht wird, einem Tausch, in dem selbst weder ein Gramm Naturstoff, noch irgendein Moment von Ausbeutung, Herrschaft oder Macht enthalten ist, der eben reine Form ist. Erscheinung ist, in der ihr Wesen, auf Ausbeutung zu beruhen, nicht erscheint und dennoch nur in eins mit ihm existieren kann. Wer in der Nachfolge Foucaults bestreitet, dieses Wesen existiere nicht, weil es nicht erscheine, ist gezwungen, jedes Ereignis als Ausdruck von Macht zu begreifen: daß die Macht nicht das Wesen der Sache sei, sondern im Ereignis unmittelbar erscheine, ist eine Schutzbehauptung, deren Unwahrheit und Widersinn offen zutage liegt: das Geld hat eventuell ,Macht' ist aber an sich vollkommen machtlos, sondern Ausdruck reiner Form und nichts anderes. Er wird zum Ideologen, zum Vermittler, dem das Denken, das nur in der Differenz von Erscheinung und Wesen existieren kann, den Kampf angesagt hat.

VII. Positivismus und Politik Wenn man davon ausgeht, daß der kapitalistische Produktionsprozeß die Lebendigkeit der Individuen in das leblose Funktionieren einer abstrakten Form von Vergesellschaftung verkehrt, wenn erkannt wird, daß dieses Subjekt der Produktion zugleich deren Objekt ist, dann erweisen sich die positivistischen Konsequenzen, die Foucault aus seinem Machtkonzept ziehen muß, eindeutig als falsch. Überall da, wo Foucault Mächte und Körper zu einer bruchlosen Einheit zusammenzieht und dies ist bei ihm in jeder Kategorie der Fall muß eigentlich immer schon von einer realen Verkehrung der Subjekt-Objekt-Verdopplung ausgegangen werden. Der alte philosophische Subjekt-Objekt-Dualismus behält damit seine Gültigkeit und mit ihr alle Kategoren des Negativen, die Foucault abzulehnen ge-

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zwungen ist. Die Verdopplung in Mächte und Körper erweist sich als x-beliebige Hypothese, vergleichbar der vom grünen Käse als dem Urbaustein der Materie. Die Begriffe Repression, Ausbeutung und vor allem der Begriff der Kritik behalten nicht nur ihre Berechtigung, sie werden notwendige Bausteine in der Analyse. Und dann wird auch der in seiner Schlichtheit zu einer Reihe von Abstrusitäten führende Charakter einer politischen Programmatik deutlich, die sich aus dem Positivsmus beziehungsweise Nominalismuskonzept notwendig ergeben. Wer, wie Foucault, Macht als beständigen Kampf einzelner Mächte gegeneinander definiert, hat es sehr einfach, wenn es darum geht, zu bestimmen, was Widerstand ist: Wo Macht ist, dort ist dann eben auch Widerstand. Und weil jeder Knoten im umfassenden Netz der einheitlichen Macht für den Zusammenhalt des ganzen Netzes gleich bedeutsam ist, reicht es aus, einen einzigen Knoten aufzulösen, um das Ganze in die Luft zu sprengen - auf diese einfache Formel gerinnt die politische Programmatik bei Foucault. Er kann aus seinem Machtkonzept keine weiteren Kriterien zur Differenzierung der Politik entwickeln. Nimmt man diese Formel, so hat der Nazi, der seinen Offizier aus welchen Gründen auch immer um die Ecke gebracht hat, durchaus Widerstand geleistet. Bei aller Anerkennung ftir die Konsequenz, mit der Foucault seinen Nominalismus durchzieht: in einem politisch fatalen Punkt seines Denkens scheut Foucault davor zurück, eine klare Sprache zu finden. Diese Konsequenz hat Foucault's Vordenker, also Nietzsche, gezogen was im übrigen beweisen könnte, daß das Aufstöbern unbekannt gebliebener Diskurse durchaus interessantes Material an die Oberfläche bringen kann, daß es aber die berühmten Diskurse solcher Leute wie Nietzsche, Hegel, Kant und Marx vorbehalten geblieben ist, die entscheidenden Punkte all dieser Diskurse auch zu benennen. In einer Hymne auf Nietzsche spricht Foucault davon, daß die Regeln der Logik der Machtbeziehungen in sich blind, gewalttätig und ohne Zwecksetzung sind. Sie könnten diesem oder jenem unterworfen werden. Das große Spiel der Geschichte gehöre dem, der in den komplexen Mechanismus eindringt und ihn so umfunktioniert, daß die Herrscher von ihren eigenen Regeln beherrscht werden. Foucault verschweigt, daß Nietzsche eindeutig sagt, wer es ist, der 106

sich dieser blind wirkenden Regeln bemächtigt: der Übermensch und das ist, politisch gesprochen, der Souverän, der, aus Foucault's Konzept der Macht heraus nicht erkennbar, hinter und in den Anonymisierungen und Verallgemeinerungen der Macht sein Unwesen effektiviert und geduldig darauf wartet, wie der Phoenix aus der Asche die bürgerliche Gesellschaft auf ihren Begriff bringen zu können. Ich möchte behaupten, daß Foucault über diese Problematik genau Bescheid wußte, daß es aber seine Konzeption nicht zuließ, über den Souverän der bürgerlichen Gesellschaft sich anders als hinter der hohlen Hand zu äußern. Der Positivismus von Foucault kann von Krise, Notstand, Ausnahmestaat, Souveränität oder Führer nicht reden, wenn diesen Begriffen keine real-existierende Person, kein Ereignis, kein Körper, kein aktueller Diskurs zugeordnet werden kann. Dem Positivisten, der keinerlei Gesetzlichkeit mehr kennen mag, ist etwa die Aussage, daß der Kapitalismus seine Schuldenkrise nur über die Zerstörung von Kapital was gleichzeitig den Tod vieler Menschen zur Folge hat wird lösen können, nur dann keine metaphysische, wenn dem in ihr beschriebenen Ereignis ein empirisch-aktueller Vorgang zugeordnet werden kann. Wenn Foucault von Faschismus spricht, muß er diesen Begriff synonym mit dem des ganzheitlichen, totalisierenden Diskurses gebrauchen, muß er das Problem des Faschismus zumindest solange lediglich als ein Problem des Denkens und Fühlens begreifen, bis der wirkliche Faschismus sich real nicht durchgesetzt hat. Den Positivisten a Ja Foucault ist es unmöglich, Faschismus, Souveränität oder Krise als Realität zu verstehen, die die bürgerliche Gesellschaft auch dann noch kennzeichnet, wenn ihr aktuell-empirisch nichts entspricht. Ohne die Unterschiede verwischen zu wollen: daß demokratische Republik und Faschismus, Volkssouveränität und Führertum zwei Seiten ein- und derselben politischen Vergesellschaftung durch das Kapital sind dies zu erkennen, muß jedem Anti-Dialektiker unmöglich bleiben. Nicht nur im Verständnis des Souveräns rächt sich die positivistische Konzeption Foucault's. Ganz gegen seine Absicht, keine universalistische Theorie vorzulegen, hat sein Universalismus zu allen Teilbereichen der Wissenschaft etwas zu sagen: Staat/Ökonomie/Politik/ Ethik/ Ästhetik/Wissenschaft/Philosophie und vieles andere mehr. 107

Foucault's Universalismus ist aber ein schlechter, weil er den empirischen Ereignissen nur eine einzige Ebene der Abstraktion zugrunde legen kann: eben die der positiven, produzierenden, wertschöpfenden Macht. Deswegen müssen seine Untersuchungen, trotz der Fülle des in ihnen verarbeiteten Materials, viel zu sehr pauschalieren, bekommen sie die wirklichen Differenzierungen der bürgerlichen Wirklichkeit, die auf sehr verschiedenen, in sich vielfach abgestuften A bstraktionsebenen funktioniert, nicht in den Griff. Deshalb wird schließlich von Foucault die Katastrophe, auf die die bürgerliche Gesellschaft nicht erst zusteuert, sondern die sie schon längst ist, zum politischen Programm erhoben. Der, der Gesellschaftlichkeit und Individualität als die Gegner seines politischen Kampfes ausmacht, der muß den Tod als Erlösung betrachten. Nehmen wir mal an, die von Foucault geforderte Entindividualisierung gelingt, wer soll dann noch irgend etwas besonderes, konkretes oder singuläres gegen die Ausbeutung durch eine verallgemeinernde Macht zur Geltung bringen? Die Verwirklichung des an sich richtigen Ziels, das Besondere von seiner Beherrschung durch das Allgemeine zu befreien, verbaut sich Foucault mit seiner Forderung nach Entindividualisierung. Das politische Programm Foucault's für sich genommen, mag es auch noch so nichtssagend sein, ist allerdings kein Einwand gegen die diesem Programm zugrundeliegende Theorie. Eine Theorie ist nicht deshalb verkehrt, weil sie der Praxis keine Auswege aus irgendeiner Misere weisen kann. Jeder Positivismus, Moralismus, Utopismus und Idealismus steht vor dem Dilemma, Auswege konstruieren zu müssen, die sich auf eine Analyse der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr stützen können. An jede Theorie wäre, bevor man sich über Praxis unterhalten kann, die Frage zu stellen, ob sie die reale Mystifikation des Kapitals als einem sich selbst setzenden Subjekt kenntlich machen kann. Weil Foucault sich mit dem Machtbegriff den Weg hierzu verbaut, ist sein Konzept gescheitert und damit erweist sich seine politische Programmatik als Irreführung, die, zumindest stellenweise, auch noch gefährlich ist.

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Ulrich Enderwitz

Imperium Romanum ante portas•

Der platonische Vorschlag zu einer Sanierung der Polis, zu ihrer Errettung aus dem Teufelskreis Armut erzeugenden Reichtums und vom Reichtum zehrender Armut, setzt die arbeitsteilig-kooperative Polisgemeinschaft, die eigentlich nur Wirkung einer in der Anhäufung kommerziellen Reichtums bestehenden Ursache beziehungsweise . Mittel zum Zwecke weiterer handelskapitaler Akkumulation ist, als die ursprüngliche Sache selbst, das unvermittelte Wesen der Polis, ihr zeitlos vergangenes Sein, während er den kommerziellen Reichtum kurzerhand der Stadt verweist, ihn als fremdbürtigen Überfluß und Luxus zu einer äußerlichen Zutat erklärt, die dorthin zurückgeschickt werden müsse, wo sie herkomme, in die territorialherrschaftlich-frondienstlichen Gesellschaften, von denen die Polis umgeben ist. Die Möglichkeit zu dieser Entmischung liegt in der Tatsache beschlossen, daß der in der Polis sich sammelnde kommerzielle Reichtum nicht nur seinen Ausgangspunkt, sondern mehr noch seinen ständigen Kontrapunkt im territorialherrschaftlich-frondienstlichen Reichtum hat, daß er also, nachdem er einer anfänglich bloß auf den Austausch territorialherrschaftlichen Überflusses beschränkten Maklertätigkeit entsprungen ist und kraft der gemeinschaftsbildend kritischen Masse, die er schließlich verkörpert, die Polis mitsamt der in ihr entfalteten Produktionsgemeinenschaft ins Leben gerufen hat, sich auch weiterhin Der folgende Beitrag ist dem dritten Teil des in Arbeit befindlichen dritten Bandes von „Reichtum und Religion" entnommen und handelt von der spezifischen Differenz zwischen den Stadtstaaten Athens und Roms und von den Veränderungen im mittelmeerischen Umfeld, die Voraussetzung für die Verwirklichung des römischen Provinzialsystems sind. Er ist eine Hommage an den Verhaltensforscher auf dem Gebiet des neuzeitlichen Leviathan, der auch auf den Fährten oder vielmehr Heerstraßen der imperialen Staatsbestie der Spätantike wohlbewandert ist.

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ebensosehr aus den Korn- und Schatzkammern der territorialherrschaftlichen Nachbarn wie aus den poliseigenen landwirtschaftlichen und handwerklichen Erzeugnissen speist, daß er mit anderen Worten seine fortlaufende Akkumulation nicht weniger auf den durch das Produktivitätsgefälle zwischen Polis und Nachbarn höchst profitablen Außenhandel als auf den binnen wirtschaftlichen Austausch gründet. Indern der platonische Lösungsvorschlag diese amphibolische Natur des kommerziellen Reichtums nutzt, um letzteren mit verdrängender Ausschließlichkeit seinem territorialherrschaftlichen Aspekt, seiner mit Überfluß und Luxus assoziierten Rolle als fronwirtschaftlicher Überschuß, zuzuschlagen, eskamotiert er ihn in der Tat aus der Stadt und behält den abstrakt-unvermittelten Gegensatz einer um ihren eigengesetzlich-akkumulativen Zweck gekürzten und strikt auf die Polis beschränkten gemeinschaftlichen Arbeit und eines um sein eigennützig-distributives Mittel gebrachten und streng aus der Stadt verbannten herrschaftlichen Reichtums zurück. Und indem er nun aber durch diesen Coup einer theoretischen Liquidation der die innerstädtische Arbeit und den territorialherrschaftlichen Reichtum verbindenen Mitte des kommerziellen Reichtums oder Handelskapitals die städtische Produktionsgenossenschaft von ihrer eben darin, im kommerziellen Reichtum, gewahrten zentralen Krankheitsursache befreit hat, zeigt sich, daß er mit dem sie krank machenden Faktor zugleich auch ihr Lebensprinzip aus der Stadt eskamotiert hat. Die arbeitsteilig-kooperative Produktionsgenossenschaft, um deren Rettung und Aufrechterhaltung es beim platonischen Lösungsvorschlag geht, ist, gekürzt um ihren in der kapitalen Bewegung bestehenden Antrieb, ihr als Akkumulationsprinzip perennierendes Motiv, nur mehr der Schatten ihrer selbst, kein von heteronomen Entstehungsbedingungen befreiter und zu sich gekommener Selbstzweck, sondern ein um seinen heteronomen Zweck gebrachtes, autistisch leerlaufendes Mittel. Um diese vom Akkumulationsprinzip losgedachte Produktionsgenossenschaft auch nur theoretisch zu erhalten, bedarf es jener Zwangsveranstaltung, die Platon in der Politeia beschwört und die aus der marktbezogenen, relativ freien Gesellschaft ein betriebsfixiertes, absolut diszipliniertes Zwangslager, aus der weltoffenen, austauschhungrigen Metropole eine xenophobe, isolationistische Trutzburg werden läßt. l IO

So gesehen, scheint der platonische Lösungsvorschlag nur geeignet, die dilemmatische Unlösbarkeit der Situation der Polis ins rechte Licht zu rücken und für jedermann sichtbar werden zu lassen. Einerseits kann die auf der Grundlage des kommerziellen Reichtums und seines Akkumulationsprinzips entstandene und zu einem arbeitsteilig-kooperativen Gemeinschaftstyp sui generis oder jedenfalls eigenen Rechts entfaltete städtische Produktionsgenossenschaft mit diesem ihrem Existenzgrund unmöglich auf Dauer sozial verträglich und politisch konfliktfrei auskommen, weil er sie in einen Teufelskreis verstrickt, bei dem sich der durch Konzentration von Reichtum hervorgerufenen Armut nur durch weitere Reichtumkonzentration begeg. nen läßt oder bei dem mit anderen Worten die Armut erzeugende handelskapitale Akkumulation stets schon wieder Voraussetzung jeder die Armut bekämpfenden wohlfahrtsstaatlichen Distribution ist. Andererseits aber kann, wie das Platonische Gedankenexperiment zeigt, diese städtische Produktionsgenossenschaft auch nicht ohne den kommerziellen Reichtum und sein Akkumulationsprinzip leben, weil sie sich damit ihres treibenden Motivs und objektiven Beweggrundes begibt und sie selbst in ihrer arbeitsteilig-kooperativen Verfassung zu einer nichts bezweckenden und nichts bewirkenden Leerlaufreaktion erstarrt. Einer Leerlaufreaktion, die eben deshalb, weil ihr der objektive Beweggrund fehlt, als stetige Bewegung oder ständige Veranstaltung nur durch eine auf Ritualisierung zielende Gewaltausübung, kurz, durch eine Dressur oder zwangsweise Konditionierung der Beteiligten, aufrechtzuerhalten ist, womit die Aufrechterhaltung denn aber den Verlust genau dessen einschließt, um dessen Erhaltung es beim platonischen Lösungsvorschlag doch eigentlich geht: den Verlust nämlich der mit der arbeitsteilig-kooperativen Produktionsgemeinschaft der Polis von Haus aus einhergehenden relativen ökonomischen Freiheit, sozialen Mobilität und politischen Mitwirkung der einzelnen. Diese praktisch-politischen, zivilgesellschaftlichen Folge- und Begleiterscheinungen der sich im Kraftfeld des marktspezifischen Austauschsystems und seines Akkumulationsprinzips entfaltenden städtischen Arbeitsgemeinschaft gibt also der platonische Lösungsvorschlag preis, indem er ihre Bedingung, die um den Markt zentrierte Arbeitsgemeinschaft selbst, zu erhalten strebt und dabei das die letztere in den Teufelskreis aus Bereicherung und Verarmung 111

verstrickendeAkkumulationsprinzip loszuwerden sucht. Wie die von Platon entwickelte Staatsidee deutlich macht, begibt sich mit dem kommerziellen Akkumulationsprinzip und seinem Geschöpf, dem handelskapitalen Reichtum, die Polis nicht nur ihres Krankheitsherds, sondern auch ihres Lebensquells, gibt sie nicht nur auf, was ihre Bürger fraktioniert und in Konflikt miteinander geraten läßt, sondern auch und ebensosehr, was sie zusammenführt und in der spezifischen Form von kommunaler Freiheit, Mobilität und Anteilnahme assoziiert, um deren Rettung es den platonischen Wesenssuchern eigentlich geht. Scheint demnach dies der dilemmatische Schluß des theoretischen Rettungsversuchs, daß mit dem kommerziellen Reichtum etwas aufgegeben wird, das aufgegeben werden muß, soll die städtische Produktionsgemeinschaft ihre generelle Existenz retten und nicht völliger Zerstörung anheimfallen, aber nicht aufgegeben werden kann, soll die städtische Produktionsgemeinschaft ihre spezielle Identität wahren und sich nicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt wiederfinden, so zeigt indes die große Lehrmeisterin der Theorie, die Praxis, daß sich diesem Dilemma durch eine jene spezielle Identität erst einmal weitgehend unangetastet lassende funktionelle Umorientierung der Gemeinschaft und Verlagerung ihres Tätigkeitsbereichs, durch ihren Wechsel nämlich von einer ökonomisch-produktiven zu einer militärisch-appropriativen Organisation durchaus entrinnen läßt. Solange, wie beim Rettungsversuch der platonischen Wesenssucher der Fall, der kommerzielle Reichtum zwar abgeschafft und aus der Stadt verbannt erscheint, gleichzeitig aber die städtische Gemeinschaft in ihrer ursprünglichen Form als arbeitsteilig-kooperative Produktionsgemeinschaft festgehalten wird, das heißt, in eben der Gestalt bestehen bleiben soll, in der sie wesentlich Mittel zum Zwecke der Akkumulation kommerziellen Reichtums ist, kann das theoretische Lösungsmodell gar nicht anders, als sich selbst ad absurdum zu führen. Was es postuliert, ist ja nur ein um seinen Zweck gebrachtes und kurzerhand zum Selbstzweck erklärtes Mittel, ein Mechanismus, der, weil er bei der Stange einer Aufgabe gehalten wird, die er zugleich nicht mehr erfüllen darf, im Wortsinne leerläuft und dessen fortdauerndes Funktionieren mangels natürlicher, sprich, ökonomischer Motivation nurmehr durch den künstlichen Antrieb politisch-polizeilicher 112

Gewalt sichergestellt werden kann - womit dann allerdings die Züge von persönlicher Freiheit, sozialer Mobilität und aktiver Anteilnahme des einzelnen preisgegeben werden und verloren gehen, die doch eigentlich das Mittel als einen Selbstzweck erhaltenswürdig, die städtische Produktionsgemeinschaft als eine vom Akkumulationsprinzip unabhängige Organisation erstrebenswert erscheinen lassen. Von daher gesehen, besteht der das Dilemma provozierende Fehler des platonischen Lösungsmodells nicht sowohl darin, daß die kommerzielle Akkumulationsperspektive aufgegeben, sondern vielmehr darin, daß sie nicht radikal genug aufgegeben wird, daß nicht die vollen Konsequenzen gezogen werden, die sich für die städtische Produktionsgemeinschaft aus ihrer Entmischung, ihrer Trennung von ihrem bisherigen Beweggrund, dem kommerziellen Reichtum, ergeben. Soll die städtische Produktionsgemeinschaft nicht der nur mit politischem Zwang und polizeilicher Gewalt aufrechtzuerhaltenden Leerlaufreaktion eines Mittels verfallen, dem sein Zweck abhanden gekommen ist und das so tut, als wäre nichts geschehen soll sie dieser Leerlaufreaktion entrinnen, so muß sie aufhören, bloße ökonomische Produktionsgenossenschaft, nichts als ein arbeitsteilig-kooperativer Erzeugerzusamenhang zum fahrengelassenen Zwecke handelskapitaler Bereicherung, kurz, das in völliger formaler Identität mit sich perennierende und nur eben um seinen materialen Sinn gebrachte Gespenst ihrer selbst sein zu wollen, und muß sich auf Basis der Qualifikationen, die sie sich im Zuge ihrer Entfaltung zur städtischen Produktionsgemeinschaft erworben hat, gestützt mit anderen Worten auf die technischen, organisatorischen und strategischen Fähigkeiten, die sie beim Aufbau des neuen Gemeinschaftstyps Polis ausgebildet hat, soweit umstellen und soweit verändern, daß sie sich aus einem - nur überhaupt theoretisch auf diese Weise vorstellbaren - Mittel ohne Zweck, aber in der vollen Montur seines Mittelcharakters, aus einer Hinterbliebenen des aus der Stadt verbannten kommerziellen Reichtums, die zum Denkmal oder vielmehr zur Fehlanzeige des Verschwundenen versteinert ist, in ein selbstbezüglich lebendiges, für seine vom kommerziellen Reichtum unabhängige Selbsterhaltung praktisch tätiges Gemeinwesen, in einen mit eigener Zweckmäßigkeit, mit einer zur Kapitalakkumulation positiv alternativen Zweckbestimmung, versehenen Organismus überführt. Positiv muß dieser eigene Zweck in113

sofern sein, als er ihr das, was die kommerzielle Akkumulation ihr, wenn auch mit zunehmend gravierenden sozialen Einschränkungen und auf Kosten immer bedrohlicherer politischer Konflikte, immerhin gewährte, die materielle Grundlage für ihr Bestehen, ein gedeihliches Auskommen, die ihrem Lebensstandard gemäße Subsistenz, gleichfalls gewährleistet. Und alternativ muß dieser eigene Zweck in dem Sinne sein, daß er nicht mehr, wie die kommerzielle Akkumulation das tut, solche Subsistenz nur und höchstens als Nebenerscheinung seiner aparten, amphibolisch-heteronomen Bestimmung garantiert, sondern daß seine Bestimmung in solcher Subsistenz vielmehr rückhaltlos aufgeht, daß er selbst mit dem, was vorher bloß Nebeneffekt seines amphibolisch-heteronomen Treibens war, als mit der allen andren Bezug ihm verschlagenden identischen Sache selbst seines Bestehens koinzidiert. Das, was das kommerzielle Prinzip der städtischen Produktionsgemeinschaft nur quasi als ein Abfallprodukt seines erfolgreichen Wirkens und nur um den Preis ökonomischer Divergenzen, sozialer Spaltungen und politischer Konflikte gewährt: der für die Erhaltung ihrer differenzierten Lebensgewohnheiten und entfalteten Sozialbeziehungen nötige relative Wohlstand, der dem Entwicklungsstand ihres Bedürfnissystems und ihrer Anforderungen ans Milieu entsprechende Lebensstandard - ihn muß sie sich jetzt auf anderem Wege und ohne die zweifelhafte Hilfestellung des sein privates Interesse verfolgenden kommerziellen Prinzips, will heißen, als die Hauptsache, das A und O einer auf nichts als auf den eigenen Fortbestand gemünzten und ebenso selbstverantwortlichen wie eigennützigen Tätigkeit zu sichern suchen; und um aber diese unmittelbare, vom Umweg über das kommerzielle Prinzip befreite Selbsterhaltungsleistung erbringen, diese zum zentralen Anliegen erhobene, der heteronomen Beziehung auf die Wahrung des kommerziellen Interesses entzogene Wahrung ihrer Identität ins Werk setzen zu können, muß sich die städtische Produktionsgemeinschaft wandeln. Um sich als solche, das heißt, als ein von ökonmischer Freiheit, sozialer Mobilität und politischer Teilhabe geprägter Gemeinschaftstyp, erhalten zu können, muß sich die städtische Produktionsgemeinschaft als solche, das heißt, als eine Produktionsgemeinschaft, die bis dahin in der arbeitsteilig-kooperativen Beziehung auf den Markt gleichermaßen ihr organisierendes Prinzip und ihr disponierendes Tätigkeits114

merkmal hatte, verändern. Kurz gesagt, muß sie sich aus einem auf den Austausch eigener Produkte mit fremdem Reichtum ausgerichteten ökonomisch-produktiven Verein in einen auf die kompensationslos-eigenmächtige Beschlagnahmung fremden Reichtums eingestellten militärisch-appropriativen Verband transformieren. Wo sonst nämlich soll sie den relativen Wohlstand, den ihre eingefleischten Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten erheischen, die ihrem Entwicklungsstand gemäße Subsistenz, hernehmen, wenn nicht aus dem Fundus eben jenes fremden Reichtums, dem Füllhorn jenes territorialherrschaftlichen Überflusses, zu dem der Markt mit seinem kommerziellen Austauschprinzip ihr den Zugang eröffnet und den sie, wenn die Dazwischenkunft und Vermittlung des Marktes keine Rolle mehr spielen soll, sich nun aber auf andere und direktere Weise erschließen muß? Zugang zum fremden Reichtum verschafft der städtischen Produktionsgemeinschaft der vom Akkumulationsprinzip bestimmte kommerzielle Austausch eben dadurch, daß er sie zu einer Produktionsgemeinschaft im Sinne des Wortes entfaltet, zu einem hauptsächlich handwerklichen, aber auch spezialisiert agrarischen, arbeitsteiligkooperativen Erzeugersystem, das ihm die Waren liefert, die er dann bei den territorialstaatlichen Nachbarn in den benötigten fremden Reichtum, in landwirtschaftliche Giiter, Rohmaterialien, Edelmetalle, Luxusartikel, verwandelt. Diese durch den kommerziellen Austausch, den Markt, gelenkte Entwicklung präsupponiert und befördert, wie gesagt, neue, den Betroffenen durchaus willkommene gesellschaftliche Verhaltensweisen und Verkehrsformen: eine relative Eigenständigkeit und Eigeninitiative in der ökonomischen Betätigung, eine relative Beweglichkeit und Orientierungsfreiheit bei der sozialen Einordnung, eine relative Intensität und Effektivität der politischen Mitwirkung. Und sie bringt dank des Produktivitätsgefälles zwischen der städtischen Produktionsgemeinschaft und den territorialherrschaftlichen Produktionssystemen und dank der dadurch für die Produkte der ersteren gegebenen günstigen Austauschbedingungen Reichtum mit sich, Reichtum, der dank der Tatsache, daß ein Teil davon auch in die Hände derer gelangt, die durch ihre Produkte den Grund zu ihm legen, der städtischen Produktionsgemeinschaft ein nie gekanntes gedeihliches Auskommen und subsistentielles Wohlbefinden bescheren. Aber weil das gedeihliche Auskommen der Produktionsgemein115

schaft beileibe nicht das zentrale Anliegen des vom Akkumulationsprinzip bestimmten Austausches, sondern höchstens und nur eine Nebenerscheinung des mit dem Austausch verfolgten eigentlichen Zweckes ist und weil dieser eigentliche Zweck, wie gesehen, darin besteht, um der politischen Emanzipation vom traditionellen Herrschaftszusammenhang willen in einem machtstrategisch ebenso erfolgreichen wie herrschaftssystematisch unabschließbaren ökonomischen Wettstreit mit den umgebenden Territorialherrschaften immer mehr Reichtum anzuhäufen, nur um immer mehr Reichtum anhäufen zu können weil dies der zum logischen Zirkelschluß sich verlaufende eigentliche Zweck des kommerziellen Austausches ist, schafft die durch ihn gesteuerte Entwicklung nun auch zunehmend ökonomische Not und politischen Konflikt. Indem die Vertreter der kommerziellen Akkumulation dank des Produktivkraftgefli11es zwischen der Stadt und ihren territorialen Nachbarn im Austausch mit letzteren wohlfeilen fremden Reichtum, insbesondere in Gestalt landwirtschaftlicher Erzeugnisse, in die Stadt bringen, zerstören sie die Existenzgrundlage der als kleine Landbesitzer subsistierenden mittleren Schichten und gesellen diese der dank der Attraktivität der Stadt ohnehin wachsenden Gruppe der in den Gewerben, im Schiffswesen und im Handel Lohnarbeitsuchenden bei. Und indem sie, um noch mehr fremden Reichtum in die Stadt bringen zu können, den eingeschlagenen Weg fortsetzen und durch Konzentration und Rationalisierung der Produktion das Produktivitätsgefälle zu erhalten beziehungsweise zu vergrößern bestrebt sind, verschaffen sie dem Heer der Lohnarbeitsuchenden weiteren Zulauf und sorgen für jenen Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt, der ihnen erlaubt, der städtischen Produktionsgemeinschaft durch Billiglöhne noch mehr Waren für den Austausch mit den territorialen Nachbarn abzupressen, ohne daß das Mehr an fremdem Reichtum der durch die schlechte Entlohnung beziehungsweise durch Arbeitslosigkeit in ihren konsumtiven Möglichkeiten zunehmend eingeschränkten städtischen Produktionsgemeinschaft selbst irgend zugute käme. Je mehr Reichtum die städtische Produktionsgemeinschaft durch ihrer Hände Arbeit also schafft, um so weniger Reichtum gelangt, relativ gesehen zumindest, in ihre Hände zurück, je mehr eigenes Produkt sie dem Handel zur Verfügung stellt, um so weniger fremdes Produkt läßt er, wenigstens proportional 116

genommen, ihr zukommen. Wenn so aber der kommerzielle Segen zum subsistentiellen Fluch wird und die städtische Arbeit, die in den Dienst des Kommerzes tritt, sich in eben dem Maß, wie sie als Mittel zum akkumulativen Zweck erfolgreich ist, um die Früchte ihres Wirkens gebracht und nämlich mit einem relativ immer geringeren Teil des mit ihrer Hilfe Akkumulierten entlohnt und vielmehr abgespeist findet, was Wunder dann, daß die städtische Produktionsgemeinschaft allmählich den Glauben an den kommerziellen Mechanismus als Garanten ihrer ökonomischen Wohlfahrt, sozialen Eintracht und politischen Freiheit verliert und dem Gedanken an alternative Methoden, sich ihren Status quo als Polis zu erhalten, an mögliche andere, nichtkommerzielle Weisen, für ihre ökonomische Wohlfahrt, soziale Eintracht und politische Freiheit zu sorgen, nähertritt? Was Wunder, daß sie darüber nachzusinnen beginnt, wie sie sich den territorialherrschaftlichen Überfluß, den fremden Reichtum, den sie als städtische Gemeinschaft mit ebenso massiertem Lebensmittelbedarf wie differenziertem Bedürfnissystem und kultivierten Milieuansprüchen braucht, auf anderem Wege als dem des kommerziellen Austausches beschaffen kann? Zwar erst einmal sucht sie, wie gesehen, der vom kommerziellen Prinzip heraufbeschworenen Nöte und erregten Konflikte mit den politischen Mitteln einer auf dem Wege wohlfahrtsstaatlicher Demokratisierung durchgesetzten Umverteilung, eines von Staats wegen betriebenen Lastenausgleichs Herr zu werden. Das heißt, sie läßt die ökonomische Struktur der Polis unangetastet, läßt das kommerzielle Prinzip als solches gewähren und beschränkt sich darauf, die durch die Wirksamkeit des Prinzips produzierten Krankheitssymptome der Polis mittels staatlicher Zuwendungen, die aus dem akkumulierten Fonds, dem der Wirksamkeit des Prinzips entspringenden kommerziellen Reichtum, finanziert werden, nachträglich zu lindem und auf ein erträgliches, mit dem inneren Frieden, der Koexistenz der Fraktionen in der Stadt vereinbares Maß zurückzuführen. Weil indes die Umverteilung das kommerzielle Prinzip dazu anspornt, die Einbußen, die es erleidet, durch verstärkte Akkumulationstätigkeit wettzumachen, und weil die verstärkte Akkumulation wiederum die ökonomische Not vergrößert und den politischen Konfliktstoff vermehrt, kurz, aufneue und verstärkte Umverteilung hinausläuft, die wiederum vom 117

kommerziellen Prinzip mit erneuter und verstärkter Akkumulationsanstrengung beantwortet wird, verrennt sich diese Problemlösungsstrategie zwangsläufig in einem Teufelskreis und erweist sich das Heilmittel oder, besser gesagt, Palliativ, das die Krankheit der Polis zu kurieren oder jedenfalls zu lindem verspricht, vielmehr als ein Weg, die Krankheit zu verschlimmern und chronisch werden zu lassen. Angesichts einer solch niederschmetternden, in der Geschichte des demokratischen Athen exemplarisch vorgeführten Empirie verliert nun aber die städtische Produktionsgemeinschaft den Glauben an die Segnungen des kommerziellen Prinzips und seines spezifischen Reichtums und vollzieht einen Prozeß der radikalen inneren Ablösung und schließlich auch äußeren Abwendung von dem, was bis dahin als dynamischer Kern und tragender Mechanismus gleichermaßen des ökonomischen Gedeihens der Polis selbst und des subsistentiellen Wohlergehens aller ihrer Bürger galt. Theoretischer Niederschlag solch fundamentalen Vertrauensverlustes und radikalen Ablösungsprozesses ist die platonische Philosophie mit ihrer Verwerfung des kommerziellen Reichtums und seines generalbevollmächtigten Repräsentanten, des Geldes, mit ihrem Versuch, den kommerziellen Reichtum aus der Stadt zu verbannen und zur Gänze jenem fremden, territorialherrschaftlichen Reichtum zuzuschlagen, von dem er nicht zuletzt dank der Arbeit der städtischen Produktionsgemeinschaft von Haus aus systematisch separiert ist und den er unter dem besagten Vorbehalt seines Akkumulationsinteresses und mit den beschriebenen fatalen Auswirkungen, die sein Akkumulationsvorbehalt auf die ökonomische Entwicklung der Polis hat, für die städtische Produktionsgemeinschaft per Austausch zu organisieren und zu beschaffen dient. Zu diesem fremden, der Stadt äußerlichen Reichtum erscheint aus Sicht der platonischen Philosophie der kommerzielle, polisspezifische Reichtum restlos übergelaufen, in ihm zeigt er sich spurlos verschwunden, während die von letzterem befreite, durch die Wächter vor ihm gefeite städtische Produktionsgemeinschaft ihr arbeitsteilig-kooperatives Leben, ihr handwerkliches Tun und gewerbliches Treiben wie gewohnt, aber nunmehr in Ruhe und Frieden, weil von der zerstörerischen Dynamik des Verschwundenen verschont, fortsetzen soll. Allerdings ist die platonische Philosophie damit zugleich theoretischer Ausdruck der Unfähigkeit der athenischen Polis, jenen Ablösungs118

prozeß Wirklichkeit werden zu lassen, Beweis ihrer durch die lange kommerzielle Empirie verschuldeten deforrnation professionelle, Symptom ihrer chronischen Verfallenheit an die vom kommerziellen Prinzip geschaffenen Lebensbedingungen, ihrer krankhaften Abhängigkeit von einer stricto sensu produktionsgemeinschaftlichen Lebensführung. Weil dank langer Gewöhnung Platon sich die ökonomische Wohlfahrt, die soziale Eintracht und die politische Unabhängigkeit der Polis zwar nicht mehr verknüpft mit dem die städtische Produktionsgemeinschaft zeitigenden kommerziellen Prinzip, wohl aber strikt gebunden an das fait accompli der städtischen Produktionsgemeinschaft als solcher, als arbeitsteilig-kooperativ entfalteter handwerklich-gewerblicher Assoziation, und nur als deren unmittelbaren Ausfluß, ihr natürliches Korollar, vorstellt, sucht er, während er den kommerziellen Reichtum der Stadt verweist, die Produktionsgemeinschaft als solche zu behaupten und zu kontinuieren. Als solche aber ist die städtische Produktionsgemeinschaft Geschöpf des kommerziellen Prinzips und ohne das letztere objektiv nicht lebensfähig und kaum oder bloß im eklatanten Selbstwiderspruch denkbar. Will die platonische Philosophie die Produktionsgemeinschaft in fehlgeleiteter Amalgamierung ihres generischen Seins mit ihrem spezifischen Tun, ihrer politisch-praktischen Konstitution mit ihrer ökonomischen-technischen Funktion, dennoch als solche, als Produktionsgemeinschaft, kontinuieren, so kann sie das höchstens mit Gewalt, höchstens dadurch, daß sie in der Theorie das in genere seines urheberschaftlichen Daseins vertriebene, aber zugleich in specie seines Geschöpfes festgehaltene kommerzielle Prinzip durch eine personale Zwangsinstanz, durch das Diktat des Weisen und seiner Helfershelfer, ersetzt. Damit aber gibt sie an der Gemeinschaft eben den besonderen Charakter preis, dessentwegen sie sie doch eigentlich bewahren und als Grundlage der ökonomischen Wohlfahrt, sozialen Eintracht und politischen Freiheit der Polis kontinuieren will: die relative ökonomische Eigeninitiative, soziale Mobilität und politische Mitwirkung der einzelnen, durch die sich die Gemeinschaft vor den traditionellen, theokratischen oder auch ständehierarchischen Gesellschaften auszeichnet und als Gemeinschaftstyp sui generis behauptet. Will die städtische Produktionsgemeinschaft diese Preisgabe des eigentlich Erhaltenswerten an ihr, nämlich ihrer politisch-praktischen Kon119

stitution, verhindern, so muß sie vielmehr mit der Abdankung des kommerziellen Prinzips als maßgebender Zweckbestimmung auch das dem Zweck entsprechende Mittel, ihre ökonomisch-technische Funktionsweise, ihre produktive Ausrichtung, zur Disposition stellen, muß beides, die kommerziell fundierte ökonomische Funktionsweise und die funktionell bedingte politische Konstitution, als voneinander trennbar erweisen und muß sich von der abstrakt gesetzten letzteren her auf die ökonomisch eigenen Füße stellen, kurz, jene militärisch-taktische Reorganisation und Umfunktionierung vornehmen, durch die sie sich den fremden Reichtum, den sie für ihren Unterhalt braucht, aus eigener Kraft und mit ihr selbst als ausschließlichem Zweck der appropriativen Veranstaltung zu beschaffen vermag, statt ihn sich vermittels des hierbei sie in ein Mittel seiner eigenen Zweckmäßigkeit heteronomisierenden kommerziellen Prinzips besorgen lassen zu müssen. Nicht, daß der athenischen Polis dieser Wechsel der Unterhaltsstrategie, der den ökonomisch-technischen, marktbezogenen Produktionsmechanismus durch einen militärisch-taktischen, tributorientiertenAppropriationsapparat ersetzt, völlig unvorstellbar wäre! Nicht, daß sie nicht sogar schon selbst mit ihm experimentiert und Erfahrungen mit ihm gesammelt hätte! Schließlich ist der mittels Peloponnesischem Bund inszenierte Aufstieg der athenischen Demokratie zur Hegemonialmacht des Ägäischen Raumes als eben ein solcher Strategiewechsel anzusehen. Das kommerzielle Prinzip und seine Austauschmechanismen abdankend, rüstet die Konspiration aus Demos und aristokratischer Führung die athenische Polis militärisch auf und organisiert sie taktisch um und versetzt sie damit in die Lage, sich den Reichtum anderer auf dem Wege direkter Tributzahlungen und das heißt, ohne die Dazwischenkunft des Marktes und ohne die Gegenleistung der durchs kommerzielle System erheischten eigenen Beiträge zum Markt zu beschaffen. Weil indes die anderen, deren Reichtum sich die athenische Demokratie auf diese Weise verschafft, nicht etwa die territorialherrschaftlichen Nachbarn, sondern vielmehr die übrigen Handelsstädte der Ägäis, die kommerziellen Partner Athens beim Austausch mit den territorialherrschaftlichen Nachbarn, sind, trifft die Rede von einer Abdankung des kommerziellen Prinzips nur bedingt oder eigentlich gar nicht zu. In Wahrheit dankt die athenische Demo120

kratie mit dem Strategiewechsel, den sie durch Verwandlung der Polis aus einer Austausch treibenden Handelsrepublik in eine Tribut empfangende Hegemonialmacht vollzieht, das kommerzielle Prinzip gar nicht ab, sondern funktioniert es nur um und überführt es aus einem in der Polis selbst und mit ihrer Hilfe seinen akkumulativen Zweck verfolgenden und hierbei höchstens marginal den nichtkommerziellen Interessen der ersteren dienlichen Intendanten in einen mitsamt seinem akkumulativen Zweck den Bundesgenossen zugeschobenen und vermittels der Bündnisverpflichtungen der letzteren gegenüber der Polis deren nichtkommerziellen Interessen zentral dienstbar gemachten Agenten. Das heißt, die athenische Demokratie verlagert das kommerzielle Prinzip einfach nur aus der eigenen Stadt in die Städte der Bundesgenossen, läßt es dort wie gehabt agieren, den gewohnten Austausch mit den territorialherrschaftlichen Nachbarn pflegen, und beschränkt sich selbst darauf, durch die Eintreibung von Tributzahlungen bei den Bundesgenossen, die als Beiträge zum Bündnis kaschiert sind, die Früchte der dortigen kommerziellen Aktivitäten einzuheimsen, den Gewinn aus dem dort mit den territorialen Nachbarn praktizierten Austausch abzuschöpfen. Daran, daß es das kommerzielle Prinzip ist, das der Polis fremden Reichtum zuführt, ändert sich demnach nichts; nur der Modus der Zufuhr ändert sich. Durch ihre auf Militarisierung und die Taktik hegemonialer Bündnisbeziehungen abgestellte Strategie gelingt es der athenischen Polis, sich dem ägäischen Handelssystem in der bis dahin von ihr gewahrten Funktion eines wie immer auch integrierenden Bestandteiles zu entziehen, um sich statt dessen dem System in der neuen Rolle der dominierenden Hauptsache zu revindizieren, sich aus einem tragenden Moment des Ganzen in dessen springenden Punkt, aus einem beitragenden Glied des Corpus in dessen nutznießenden Wasserkopf zu verwandeln. Aber vielmehr gelingt, wie gesehen, der athenischen Polis dieser Strategiewechsel nicht, weil sich zeigt, daß in der Rolle eines den nichtkommerziellen Interessen der athenischen Demokratie dienenden Faktotums, in das es sich durch die Reduktion auf die Sphäre der Bundesgenossen gedrängt findet, das kommerzielle Prinzip partout nicht zu Hause ist und weil es die erste, in Gestalt des lakedämonischen Widerstandes gegen die hegemoniale ExpansionAthens sich bietende, 121

Gelegenheit nutzt, seine Träger, die Bundesgenossen, zum Aufstand gegen die es als Mittelbeschaffer für den Unterhalt der demokratischen Polisgemeinschaft zweckentfremdende Hegemonialmacht anzustacheln. Indem im Verein mit der aristokratischen Territorialmacht Sparta das in Gestalt des Peloponnesischen Bundes zum Unterhaltspflichtigen umfunktionierte und tributär ausgebeutete kommerzielle Prinzip sich aus seiner Dienstbarkeit gegenüber der Polis gewaltsam befreit und diese in die Schranken ihrer handelsrepublikanisch bestimmten Existenz weist, macht es deutlich, daß die militärisch-taktische Inanspruchnahme des kommerziellen Mechanismus durch sein eigenes soziales Geschöpf, die Polis, kein gangbarer Weg zur nichtkommerziellen Aneignung fremden Reichtums und zur Begründung einer auf solchem Reichtum aufbauenden und vor der Dynamik kommerzieller Akkumulationsprozesse geschützten Subsistenz ist. Für Athen selbst, die betroffene Polis, kommt die Erfahrung des Scheiterns ihrer hegemonialen Strategie einer Abdankung der militärischtaktischen Aneignungsperspektive als solcher gleich. Eben weil sie nicht durch Abstandnahme vom 1 George Thomson: Die ersten Philosophen. Westberlin o.J. (Forschungen zur altgriechischen Gesellschaft Bd.2) S. 238 10 Thomson, Die ersten Philosophen, S. 241 11 Sophokles: Antigone. In: Gesamtausgabe der griechischen Tragödien in der Übersetzung von Ernst Buschor. Zürich- München 1979. Bd. 3 12 Aristophanes: Sämtliche Komödien. Hg. v. Hans-Joachim Newiger. (Neubearbeitung der Übersetzung von Ludwig Seeger, Frankfurt am Main 18451848). München 1976. V. 495-498; im folgenden wird aus dieser Übersetzung mit Angabe der Verszeilen im Text zitiert. 13 Die altattische Komödie, schreibt Victor Ehrenberg in Hinblick auf die griechische Antike, ,,enthält mehr Anspielungen auf Geld als jede andere literarische Quelle." (Victor Ehrenberg: Aristophanes und das Volk von Athen. Eine Soziologie der altattischen Komödie. Zürich 1968. S. 224) 14 Gerhard Scheit: Dramaturgie der Geschlechter. Frankfurt am Main 1995. S. 43 15 Ehrenberg, Aristophanes und das Volk von Athen, S. 308 1 '' Ebd. S. 54 17 Vgl. hierzu Lauren K. Taaffe: Aristophanes and women. London 1993

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'" Ehrenberg, Aristophanes und das Volk von Athen, S. 70 19 Aristoteles: Politik. Übersetzt u. hg. v. Olof Gigon. 5. Aufl. München 1984. S. 61 (1. Buch 1258a) 20 Ehrenberg weist auf die veränderte soziale Lage hin, der das Stück sich unmittelbar verdankt: ,,In den unteren Klassen begann es zu gären, und die Religion hatte nicht mehr die Macht, diese Unruhe einzudämmen ... Obwohl zunächst die Not unter der Landbevölkerung am größten war, hatte die Anhäufung großen Reichtums in Handel und Gewerbe dazu geführt, daß sich auch beim arbeitenden Stadtvolk eine arme Schicht herausbildete." (Ehrenberg, Aristophanes und das Volk von Athen, S. 81) 21 Dies ist die eigentliche Fragestellung des Stücks, nicht aber was konkret mit dem Reichtum geschehen solle: am Anfang heißt es, er solle den Gerechten zugute kommen; im Agon mit Penia hingegen, er solle gleichmäßig verteilt werden. Diese Differenz läßt manche Forscher darauf schließen, daß zwei Fassungen des Stücks aufgeführt wurden und nur eine davon überliefen worden ist. Vgl. Eugen Wöltle: Plutos. Eine literar-kritische Untersuchung der letzten erhaltenen Komödie des Aristophanes. Diss. Mannheim 1981. S. 230 ff. 12 Ehrenberg, Aristophanes und das Volk von Athen, S. 70 23 finley, Die antike Winschaft, S. 236 24 Mit dieser eingeschränkten Bedeutung des Kredits hängt der relativ niedrige Status jener zusammen, die sich auf das Geldgeschäft spezialisierten: Die Hauptkreditgeber waren Nichtbürger, Metöken, die sich gleichwohl in den höchsten Kreisen der Gesellschaft bewegen konnten; ja das größte Bankunternehmen Athens im 4. Jahrhundert v. Chr. wurde sogar von einem Sklaven namens Pasion geleitet, der allerdings bald freigelassen und schließlich sogar die Bürgerrechte erhielt. An oberster Stelle der antiken Hierarchie der Werte stand der Landbesitz der Handel mit Waren und Geld rangierte weit darunter und blieb meist den politisch Rechtlosen überlassen. Diese soziale und politische Gradation zwischen Landbesitzern und Geldhändlern bildete gleichfalls eine Schranke für mögliche Produktivitätssteigerung: sie stellte eine „Mauer zwischen Landbesitz und liquidem Kapital" dar - denn athenische Bürger, die Geld brauchten, konnten „nicht ohne weiteres von Nichtbürgern leihen" (Finley, Die antike Wirtschaft, S. 48); während umgekehrt jener Kephalos, der 120 Sklaven zur Produktion von Schildern beschäftigte, kein Land - ja nicht einmal das Haus, in dem er wohnte - besitzen durfte. 25 In dieser Hinsicht wären auch Georg Thomsons Studien zur antiken Warenproduktion etwas zu relativieren. Thomson stützt sich dabei aufSohn-Rethels Geldtheorie, worin die Differenz zwischen antiker und moderner Gesellschaft in mancher Hinsicht zu wenig beachtet wird. Die Kritik Moishe Postones lautet mit gewissem Recht: ,,Sohn-Rethel, however, does not distinguish between a situation such as that in fifth-century Attica, where commodity production was widespread but by no means the dominant form of production, and capitalism, a situation in which the commodity form is totalizing." (M.

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P.: Time, labor, and social domination. Cambridge-New York 1996. S. 156. Das Buch von Moishe Postone wird im Herbst 2000 im ca ira Verlag erscheinen.) Zwar wurde in Athen das Sündenbock-Ritual praktiziert: jedes Jahr am Thargelienfest im Mai trieb man zwei zum Tode Verurteilte zur Stadt hinaus und tötete sie zur Entsühnung von Athen (Aristophanes spielt auf dieses Ritual in den Fröschen an); und ebenso konnten einzelne führende Persönlichkeiten der Polis gezwungen werden, den Giftbecher zu trinken (ebenfalls in den Fröschen empfiehlt Pluton dem wiederauferstehenden Aischylos, einige bekannte Personen mit Schwert, Giftbecher und Strick- zu töten). Solche Sündenbock-Rituale waren aber noch nicht mit der fetischisierten Dynamik des Zinses gekoppelt.

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Michael Wilk

Technik des sozialen Friedens ,, Beteiligung als Akzeptanzmanagement"

,,Ich habe kein Rezept, ich schlage nur vor, die sogenannte subversive Arbeit zu leisten, subversiv in einem sehr praktischen Sinne: man muß praktisch im Untergrund arbeiten. Das nenne ich überwintern, denn der Winter kommt auf jeden Fall." Johannes Agnoli 1

Es fröstelt schon geraume Zeit. Das eine, durchschlagende Rezept, im Sinne einer politischen Handlungsstrategie, ist nicht in Sicht und ist schlechterdings auch nicht vorstellbar angesichts der Komplexität der Herrschaftsstrukturen, der Diversifikation der Macht und vor allem der scheinbar grenzenlosen Akzeptanzbereitschaft der Menschen, die den Verhältnissen eben nicht nur passiv ausgeliefert sind, sondern deren Anpassungsvermögen ein aktiver und integraler Bestandteil dieser Macht- und Herrschaftsstrukturen ist Die Gegenwartsrepublik wird in ihrer politischen Schamlosigkeit durch nichts besser beschrieben als durch das Beispiel des Joseph Fischer, der als grüner Außenminister mit der dicken deutschen Klappe mehrere Fliegen auf einmal schlägt und im Rahmen des deutschen Truppeneinsatzes in Jugoslawien nicht nur die deutsche Schuld, das Unvorstellbare der Shoah, entsorgt, sondern der im selben Atemzug deutsches Großmachtstreben mit der Aura demokratischer, ja antifaschistischer Intervention umgibt und zu rechtfertigen sucht. Fischer ist zurecht der beliebteste aller deutschen Politiker. Wenig wird in Deutschland mehr gewürdigt als eine persönliche Wandlung, die in Versöhnung und Anpassung mündet. Aufgebrochen, und dies darf in keiner biographischen Abhandlung fehlen, als Frankfurter Straßenkämpfer, aufgestiegen als grüner Parlamentarier, Umweltminister in Hessen und jetzt Außenminister der BRD, ist er nicht nur 301

die Inkarnation der Adaptierung an die bestehenden Verhältnisse, sondern, und dies ist weitaus interessanter, das Symbol auch für die flexible integrative Wirkfunktion des gegenwärtigen Herrschaftssystems. Das Shaking hands des damaligen ,,Turnschuhministers" mit dem hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner, der zugleich die Frankfurter Startbahn West gegen erbitterten Widerstand durchsetzte, symbolisierte nicht nur den Willen zur Teilnahme an der Staatsmacht auf Seiten der Grünen, sondern eben auch die Bereitschaft der „alten Macht", diese zu „teilen" und ehemalige Gegner zu assimilieren. Hervorgegangen aus Teilen sozialer Bewegungen, insbesondere der Ökobewegung, diente die Ökopartei vor allem nach den für viele als enttäuschend empfundenen schweren Auseinandersetzungen um den Bau neuer Atomanlagen (wie in Brokdorf und Grohnde), aber auch in Bezug auf das allgemein verschärfte Klima des „Deutschen Herbstes" 1977 als Sammelbecken für all diejenigen, die noch die Hoffnung hegten, parlamentarisch etwas verändern zu können. Für die Politstrategen der Altparteien wurde bald klar, daß es sich hierbei, im Gegensatz zu den anderen, die offen repressiv bekämpft wurden, um die zukUnftigen Hoffnungsträger einer frisch belebten Parteienlandschaft handelte, die es als zukünftige Koalitionspartner zu hegen und zu pflegen galt. Auch wenn noch einige Jahre der Läuterung vergehen sollten, in deren Verlauf einerseits die „Politikfähigkeit", sprich: Verläßlichkeit und Kalkulierbarkeit, unter Beweis gestellt werden mußte und man sich andererseits einiger unbotmäßiger „radikal-fundamentalistischer Feigenblätter" zu entledigen hatte, bis es zur ersten rotgrlinen Koalition kam. Das System hatte es geschafft, es hatte die GrUne Partei da, wo es sie wollte. Und auch die sich vormals „alternativ" Schimpfenden waren auf der höheren Ebene aktiver Teilnahme angelangt. Man hatte sich gleichsam Uber die Akzeptanz der parlamentarischen Spielregeln bis hinauf zur eigenen Regierungsteilnahme kollaboriert. ,,Zum Wechselmechanismus gehört auch ein Wechselprogramm, das pragmatisch einerseits sich als sogenannte Alternative darstellt (Korrekturen verspricht), ohne andererseits praktisch verändern zu wollen. Erst durch die Alternative bietet sich die parlamentarische Linke als zuverlässige, Wähler bindende Kraft an, die sichtbar und daher wirkungsvoll eine Wachablösung in Aussicht stellt, ( ...) wenn 302

die Regierungsgarnitur sich abgenutzt hat. Es steht fest, daß auf diese Weise die instrumentalisierte Opposition Regierungskrisen überwinden und Staatskrisen vermeiden hilft" 2 : Der von Johannes Agnoli schon 1967 beschriebene Prozeß der Instrumentalisierung linker Parteien hatte seinen „realpolitischen" Niederschlag gefunden. Die Vorstellung, parlamentarische Aktivität könne Teil einer emanzipativen Strategie sein, hatte sich als das Gegenteil erwiesen. Die Einbeziehung der Grünen Partei in den Machtapparat etablierte diese als integrierenden Faktor gegenüber der außerparlamentarischen Bewegung und als Vermittlerin zwischen „radikalem" Ansatz und staatlichem Interesse. Das mit dem Einstieg ins Parlament zwangsläufig verbundene Bekenntnis zur Stellvertreterpolitik ermöglichte es, das direkte Austragen sozialer Konflikte „vor Ort", die Gewinnung eigener Erfahrungen und die Bildung von Lernprozessen der Betroffenen selbst als einen unbequemen Weg und somit als zweite Wahl erscheinen zu lassen. Auch wenn grüne Parlamentarier anfangs nicht müde wurden, die Bedeutung des „außerparlamentarischen" sozialen Widerstandes zu beteuern, erwies sich die Etablierung der Grünen als Schlag ins Gesicht all derer, die Eigeninitiative und direkten Widerstand als Basis eines jeden emanzipativen Prozesses betrachten. ,,Wozu (noch) selber handeln wenn doch Parlamentarier wieder wählbar sind" die Prämisse einer passiven und doch moralisch noch vertretbaren Haltung gegenüber der Obrigkeit wurde massenhaft zur inneren Legitimation eigener Inaktivität. Wer glaubt, erst mit der Beteiligung an Regierungen verlöre eine Partei ihre politische Unschuld, der irrt. Zwar erfährt das obskure Verlangen, auf parlamentarischer Ebene Macht auszuüben, erst in der Regierungsbeteiligung seine höheren Weihen aber letztlich beginnt die Koketterie mit der Staatsmacht bereits mit der Gründung einer Partei, die schon durch die Anerkennung des Gesamtmodus zur Stabilisierung des Staatsapparats beiträgt. Der Einstieg in die Parlamentsebene ist in diesem Sinne, egal, ob als Regierung oder Opposition, gleichbedeutend mit der Aufnahme in eine oligarische Runde von Parteien, die, mit unterschiedlicher Funktion im Machtgetriebe verzahnt und selbst bei vordergründiger Differenz, um den gesamtgesellschaftlichen Konsens bemüht sind. Die Machtstrategie eines Systems, das nach dem altbewährtem Motto „divide et impera'' verfährt und 303

für Unbeugsame den gesamten Repressionsapparat bereit hält, ist gerne bereit, den kooperativen Teil der gesellschaftlich Unruhigen in sich aufzunehmen, auch dazu, einige inhaltliche Zugeständnisse zu machen, geht es doch letztendlich um die Stabilisierung des Status quo der Macht. Einer Macht, die so korrumpierend auf die zu Vater Staat Heimgekehrten wirkt, daß sich ihr Denken und Handeln verändert; oft genug in einer Dynamik, die mit Überanpassung noch milde umschrieben ist. ,,Wer sich in die Institutionen begibt, kommt darin keineswegs um; verliert seine Identität nicht, sondern gewinnt eine neue, in der er sich prächtig gefällt und mächtig gedeiht - wenn es möglich ist, bis zur Ministerabilität. " 3 Diese Einschätzung Agnolis findet ihre düstere Bestätigung in der grünen Regierungsbeteiligung. Man ist förmlich erpicht darauf, unter Beweis zu stellen, daß man ,,gesamtgesellschaftlich verantwortungsvoll", sprich: staatskonform, handeln kann. Es ist in diesem Sinne kein Zufall, wenn der Prozeß sozialer Entgarantierung unter Rotgrün zur hohen Dynamik aufläuft, und wenn die Masse derer, die sich vom Wechsel der Regierung einen Wechsel der Politik versprochen hatten, enttäuscht wird: sei es durch die Sanierung der Staatsfinanzen auf dem Rücken der Einkommensschwachen und der Rentner, sei es durch eine Atompolitik, die die Forderung nach der sofortigen Abschaltung aller Atomanlagen zu Endlaufzeiten von bis zu dreißig Jahren prolongiert, sei es durch einen grünen Atomminister, der Zwischenlager an den einzelnen AKW optimiert und jetzt für die „saubere" Entsorgung der atomaren Dreckschleudern zuständig ist, last not least durch den besagten Fischer, der die deutsche Außenpolitik ohne Skrupel mit einem noch nicht mal von der UNO legitimierten Angriffskrieg garniert. Setzte Agnoli noch einige, wenn auch abgespeckte Hoffnung in das berühmte „geringere Übel, das zugleich Vorteile, die Möglichkeit eines freieren Atems und die Illusion des sozialen Staats mit sich bringt"4, so ist inzwischen zu hoffen, daß die „grüne Enttäuschung" sich im emanzipatorischen Sinne günstig, d. h. im Sinne des „Endes einer Täuschung", auszuwirken beginnt. Wohlgemerkt: Die Grilnen sind in diesem Zusammenhang immer nur ein Beispiel, wenn auch ein sehr treffendes, für Anpassung und Integration - jede andere Partei unterliegt denselben Bedingungen. 304

Es bleibt abzuwarten, wie vielen Menschen nach den immer deutlicher zu Tage tretenden Adaptierungsprozessen der Grünen bewußt wird, daß eine Veränderung der gesellschaftlichen Situation im grundsätzlichen Sinne nicht über eine hochflexible parlamentarische Ebene funktionieren kann. Wohlgemerkt: im grundsätzlichen Sinne. Wer sich mit gesellschaftlichen Veränderungen zufrieden gibt, die sich aus der Integration vormals kritischer und teilweise gegenläufiger Strömungen ergibt, der erleidet beileibe keinen intellektuellen oder emotionalen Mangel. Die Grünen im Parlament entsprechen gewissermaßen der Öko-Ecke im Supermarkt, eine Bereicherung, eine Facette mehr im Angebot. Wer jedoch mehr erwartet und unter gesellschaftlicher Veränderung emanzipative Prozesse versteht, die nicht nur für das System notwendige immanente „Modernisierungs"-Korrekturen beinhalten, sondern die Infragestellung der Herrschaftsstrukturen selbst, der sollte sich außerparlamentarischer Aktivität befleißigen. Jedoch bringt die Aufforderung, etwas nicht zu tun, nämlich parlamentarisch wählbar zu werden, noch lange nicht automatisch den erleuchtenden Hinweis auf die Lösung der strategischen Probleme der Emanzipation. Die naheliegende Konsequenz, sich außerparlamentarisch in kleinen Gruppen oder den bewährten Bürgerinitiativen, und damit parteiunabhängig, zu organisieren, ist zwar richtig - und doch hat diese Form der Organisierung ihren Schrecken für das System verloren. Galten Bürgerinitiativen einstmals als unberechenbar, und gar als „Keimzellen der Anarchie" (was der Autor gerne hört), so hat sich die Perspektive der Gesellschaftsingenieure mittlerweile geändert. Längst wird auch in den parteiunabhängigen Initiativen der staatlich integrative und verwertbare Anteil wahrgenommen und ihr gesellschaftskritisches Moment als fruchtbar fürs Gesamtsystem gesehen - Bürgerinitiativen als Salz in der kapitalistischen Verwertungssuppe. Noch 1975 war dies anders: Die Bewegung gegen den Bau des Atomreaktors bei Wyhl ließ die Frankfurter Allgemeine schaudern. „Hier wird so wenig wie möglich sortiert und reglementiert. Bei den oft leidenschaftlichen Meinungsverschiedenheiten sucht man lediglich das unvermeidliche Maß an Übereinstimmungen. Das geschieht vielfach mit erstaunlicher Disziplin. Dennoch haftet diesen Bürgerinitiativen etwas Anarchistisches an. Nicht zufällig entziehen sie sich vollständig den Parteien." 5 305

Die damaligen Bestrebungen, sich den Zwangsvorgaben der Regierungsvertreter aus eigener Initiative entgegenzustellen und deren Bau- und andere Pläne nicht einfach „strahlende" Realität werden zu lassen, löste bei uns Begeisterung aus, bei anderen die Vision eines zerbröselnden Rechtsstaats: ,,Ein Alptraum des BundeskriminalamtsPräsidenten Herold, weil dies nach seiner Ansicht das Ziel aller ,Staatsfeinde' ist: der , bewußte Aufbau von Gegenmacht gegenüber diesem Staat oder die Leugnung des staatlichen Gewaltmonopols', weshalb bereits der Versuch von „Gegenmachtsymbolen" zu unterbinden sei. Wyhl - wie auch immer es dort ausgehen mag - ist zu einem solchen , Gegenmachtsymbol' geworden. " 6 Die Staatsvertreter reagierten vor nunmehr 25 Jahren klassisch: im Februar 1975 erfolgte mittels eines massiven Polizeieinsatzes die Räumung des von 20.000 Menschen besetzten Baugeländes. Viele Verhaftungen und Strafverfahren folgten. Trotz der Versuche, den breiten Widerstand mit den üblichen Mitteln zu kriminalisieren, gelang es nicht, die Bewegung zum Aufgeben zu zwingen. Das AKW Wyhl wurde nicht gebaut, und der Widerstand gegen das Projekt wurde zum Meilenstein der Bürgerinitiativbewegung, zum viel zitierten Beispiel erfolgreichen Vorgehens gegen selbstherrliche Staatsmacht. So sehr auf unserer Seite die Begeisterung für die Möglichkeit, die scheinbare Omnipotenz des Staates zumindest partiell zu brechen, zu der Illusion führte, daß mit dem Widerstand gegen das Atomprogramm ein entscheidender Hebel gegen eine uns autokratisch erscheinende Herrschaftsmaschinerie gefunden sei, so sehr hinterließen die Ereignisse auf Seiten der Politiker die unangenehme Erfahrung einer neuen Art von Konfrontation. Neu deshalb, weil sich, anders als 1968, nicht nur „wildgewordene Bürgerkinder", sondern die Bürger und Bäuerinnen selbst der Staatsmacht als Träger des Widerstands entgegenstellten. Der Dissens gegenüber dem System war über eine leicht zu isolierende radikale Minderheit hinausgewachsen und hatte eine Form angenommen, die den Rahmen einer üblichen Bürgerpetition deutlich sprengte, ja, sie verließ sogar den tugendhaften Rechtsweg und ging zur direkten Aktion über; eine bittere Angelegenheit in einer Situation, in der die staatlichen Organe eher auf die Unterstützung ihrer Bürger angewiesen waren, galt es doch die gerade im Verlauf der siebziger Jahre gewachsene „Bedrohung durch terroristische 306

Gruppen" durch die „Mithilfe der Bevölkerung" in den Griff zu bekommen. Die folgende massive Aufrüstung der „inneren Sicherheit", die Verschärfung der Strafgesetze und der Prozeßordnung sowie die materielle und personelle Verstärkung der Polizei waren nur der primäre Reflex der staatlichen Institutionen auf die vielfältigen Gefahren, denen sich der Rechtsstaat ausgeliefert sah. Diese schnelle Antwort der Obrigkeit wurde damals mit der Bedrohung der Rechtsordnung, die von „terroristischen Organisationen", namentlich der RAF und dem 2.Juni, ausging, begründet. Die Zuspitzung der Ereignisse, die Verschärfung einer militanten und militärischen Gangart in der Auseinandersetzung zwischen Staatsorganen und bewaffnet kämpfenden Gruppen waren vordergründiger Anlaß für jenes staatliche Vorgehen, das in den „Deutschen Herbst" von 1977 mündete und die BRD einem beispiellos repressiven Klima unterwarf. Es ging jedoch um mehr als um den Versuch, die relativ kleine Guerilla zu zerschlagen; die Angst der bundesdeutschen Repräsentanten beschränkte sich nicht auf die zunehmend in die Isolation geratenden Aktionen der RAF (erinnert sei nur an die grauenhafte Selektion der jüdischen Passagiere durch ein palästinensisch-deutsches Kommando in Entebbe 1976 und das Desaster der Entführung der Lufthansamaschine Landshut nach Mogadischu 1977), sondern sie fürchteten breiteren Unmut: ,,Die Angriffe auf die Ordnung", so der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, ,,haben in den terroristischen Aktivitäten nur einen besonders dramatischen Ausdruck gefunden. Das Gesamtbild ist durchaus ernster. Es wird auch im Falle einer vollständigen Zerschlagung solcher Tätigkeiten der kriminellen Vereinigungen weiter Anlaß zu Besorgnis und Wachsamkeit geben .... Die Gefahr (geht) von gesellschaftlichen Gruppen mit verfassungsfeindlicher Zielsetzung aus, und die trifft mit einer sich langsam verbreitenden Verfassungsverdrossenheit in der Bevölkerung zusammen, die sich bei den Älteren in Gleichgültigkeit ausdrückt, bei vielen jüngeren Menschen als Skepsis, offene Ablehnung oder romantische Hinwendung zu den Idealen anderer Gesellschaftssysteme erscheint." 7 Daß es den Menschen weniger um die Ablehnung einer abstrakten Verfassung, sondern, am Beispiel der Atomkraftwerke, um existentielle Ängste und um die mangelnde Möglichkeit ging, auf staat307

liehe Entscheidungen Einfluß nehmen zu können, die sich eher an den Bedürfnissen der Industriemagnaten als an denen der Bevölkerung orientierten, kümmerte wenig. Ein von der CDU am 4. Juli 1975 vorgelegtes „Offensivkonzept" beschrieb gar Schreckliches: ,,Die Aufnahmebereitschaft für die von den Anarchisten vertretenen gesellschaftspolitischen Utopien wurde gefördert durch ... den Verlust von Orientierungswerten, durch einen fortschreitenden Autoritätsverlust des Staates aufgrund einer falsch verstandenen Liberalisierung, durch die gezielt propagierten Zweifel an familiären, nachbarschaftlichen und religiösen Bindungen ... Es geht nicht an, daß in Jahrhunderten gewachsene Werte und kulturelle Leistungen leichthin in Frage gestellt werden; daß jungen Menschen in Schulen und Hochschulen ein Weltbild vermittelt wird, das den einzelnen Menschen und von ihm geschaffene kulturelle Werte nichts und die angebliche Kraft der Gesellschaft und deren Evolution alles sein läßt ... Es ist eine vorrangige Aufgabe des Staates als ordnender Kraft, daß die grundlegenden Prinzipien unserer staatlichen Ordnung nicht zur Disposition gestellt werden." Noch genauer brachte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt auf einem „Rechtspolitischen Kongreß" der SPD das auf den Punkt, was von allen Regierungen gleichermaßen gefürchtet wird: „Gefährlicher, ja existenzbedrohender wäre es, wenn der Rechtsstaat die Solidarität und die Selbstidentifikation seiner Bürger verlöre. " 8 Es kann darüber spekuliert werden, ob derlei Äußerungen der staatstragenden Parteien Mitte der siebziger Jahre Ausdruck einer bewußten Angstpropaganda waren oder das Resultat soziologischer Analyse. Fest steht jedoch, daß Helmut Schmidts Befürchtungen den Kern der aktuellen herrschaftspolitischen Strategie betreffen, deren wichtigste Maxime in der Identifikation der Menschen mit dem Staat, der Einbeziehung des Abweichenden und der Assimilation des Gegners besteht. Die Integration und Einbeziehung von Widerstand sind als wesentliche Herrschaftsmechanismen die Regel - nicht etwa seine polizeiliche Bekämpfung und Kriminalisierung. Nach dem Maßstab emanzipativer Politik, der nicht Gleichstellung innerhalb der vom System gesetzten Grenzen, sondern das Ringen um die herrschaftsfreie Gesellschaft meint, hat die „linke Politik" weitgehend versagt - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich viel zu sehr an der repressiven Seite des Systems abgearbeitet hat. Das Starren auf 308

die Verfolgung, die zudem für viele zum Maßstab der eigenen Wichtigkeit avancierte, verstellte über Jahrzehnte den Blick auf die subtilen Mechanismen staatlicher Herrschaftssicherung. Emanzipative Politik, die diesen Namen verdient, die sich nicht in der gesellschaftlichen Selbstaufwertung der eigenen Person erschöpft, sondern die grenzüberschreitend das Herrschaftskonzept als solches in Frage stellt, kommt nicht umhin, Strategien gegen die filigranen Ebenen staatlicher Macht und Herrschaft zu entwickeln. Gemeint ist ein Staat, der sich in der Regel eben nicht dadurch auszeichnet, daß er seine Organisation den Menschen entgegenstellt, sondern der flexibel die Bedürfnisse und Wünsche aufgreift, moduliert und formt. In der Wahrnehmung der Menschen erscheint „Vater Staat" weitaus mehr als der Garant der Erfüllung von Versorgungs- und Sicherheitsbedürfnissen denn als autoritäre und entmündigende Instanz. Nicht die leichter wahrnehmbare und zu entlarvende Herrschaft über Menschen, sondern die Herrschaft durch die Menschen hindurch, die die Individuen (im Sinne Foucaults) in den Maschen der Macht zirkulieren läßt, eröffnet, über die Ebene der Bedürfnisbefriedigung hinaus, die Möglichkeit des aktiven eigenen Anteils an gesellschaftlicher Kompetenz. Die Fähigkeit des Staates, flexibel und sogar integrativ auf Kritik zu reagieren, Assimilation und Versöhnung über dumpfe Unterdrückung zu stellen, entzieht der Wahrnehmung seine Feindseligkeit. Polizei, Justiz und Psychiatrie werden zu flankierenden Instrumentarien, zuständig für die nichtintegrierbaren, nichtverwertbaren Elemente der Gesellschaft dann, wenn die zentralen Mechanismen der Identifikation und der Autoregulation versagen und der Konsens ernsthaft in Gefahr gerät. Staatlichkeit bedeutet mithin auch den Versuch der Berechnung, Planung und Steuerung gesellschaftlicher Prozesse~ nicht in Opposition gegen, sondern unter Inanspruchnahme des gesellschaftlichen Mainstreams. Die sogenannte „Mitte" hat als Bezugspunkt für Anpassung und Ausgrenzung schon lange sozialdynamisches Oberwasser. Linke Strategien, die sich am klassenbewußten „Die da oben, wir hier unten"-Schema orientieren, verkennen eine gesellschaftliche Situation gründlich, die vielmehr der „Wir hier drinnen, die anderen draußen"-Maxime folgt. Die über Jahrzehnte forcierte Strategie der Konsensbildung und Massenloyalisierung mit dem Ziel, das Entstehen 309

antagonistischer Gruppen zu unterbinden, trägt deutliche Früchte. Es ist daher kein Wunder, daß es möglich ist, im Zuge der fortschreitenden sozialen Entgarantierung auch einschneidende Maßnahmen gegen die betroffenen Bevölkerungteile durchzusetzen, ohne daß es zu Massenprotesten kommt. Im Resultat verunmöglichen das jahrzehntelange Einüben „sozialpartnerschaftlicher" Spielregeln, die gewerkschaftliche Kooperation und der damit einhergehende Verlust des Selbstbewußtseins gegenüber dem Gesamtsystem beinahe jede selbständige Aktion. Im Gegenteil. Vielfach mündet der spärliche Protest in Überanpassung, im Verzicht auf Lohn und freie Zeit. Fraglich bleibt, wann und in welchem Ausmaß der Wandel staatlicher Politikmuster, vor allem die Transformation des klassischen Versorgungsstaats als sozialökonomischer Garant zum Katalysator verschärfter ökonomischer Vernutzung, zu Rissen der sozialen Integration führt. Gegenwärtig ist hiervon wenig zu spüren; noch reichen die Rituale des Parlamentarismus aus, um die Illusion der Wahlfreiheit vorzugaukeln. Der Unmut kann durch das Angebot, ,,diesmal anders wählen zu können", neutralisiert werden. Ob die berühmte „Parteienverdrossenheit", die ihren Ausdruck in einem stetig wachsenden Anteil an Nichtwählern findet, Anlaß zur Freude bietet, kann bezweifelt werden, denn nur ein verschwindend geringer Prozentsatz handelt bewußt im Sinne eines Wahlboykotts. Von Staats wegen werden emanzipative Schritte, Lernprozesse und Ansätze von Gegenmacht allerdings nach wie vor gefürchtet. Gerade das gute Funktionieren der Identifikation mit dem Staat, die jeden, der Zweifel und Mißtrauen entwickelt, in Isolation und Hilflosigkeit bringt, läßt die Beispiele aktiven solidarischen Widerstands so brisant erscheinen. Nicht von ungefähr sind Konfliktvermeidungs- und Bewältigungsstrategien für die Fälle vorgesehen, in denen die Bürger dem Staat ihre Akzeptanz und ihren Gehorsam versagen. Diese werden am ehesten bei offensichtlichen und nicht zu kaschierenden Interessengegensätzen angewandt, wie sie zum Beispiel bei der Planung und Umsetzung von Großprojekten in Ballungsräumen auftreten oder im Falle des deutlichen Überschreitens einer Existenzangstschwelle (Großflughäfen, Atomkraftwerke). Bei außergewöhnlichen Ereignissen und Planungsvorhaben, die eine bestimmte Bevölkerungsgruppe in einer besonderen Region betreffen, kommt es offensicht310

lieh leichter zu Organisierungs- und Solidarisierungseffekten als bei allgemeinen Verschlechterungen etwa des Gesundheitsystems. Gerade daran wird deutlich, wie ausschließlich bestimmte Themen wie Gesundheit oder Altersversorgung auf der parteipolitischen Ebene ausgetragen werden. Obwohl gerade allgemeine Verschlechterungen dazu Anlaß geben sollten, massenhaften Protest und Widerstand hervorzurufen, wirken die scheinbare Hilflosigkeit und die Interessendelegation an Parteien oder Gewerkschaften handlungsblockierend. Anders bei extremen Verschlechterungen der Lebenssituation auf „engerem Raum". Bei Konflikten wie der Endlagerung von Atommüll in Gorleben oder der Flughafenerweiterung Rhein-Main wird sichtbar, daß die institutionalisierte Politik die alleinige Handlungshoheit verlieren kann. Möglicherweise kumulieren hier Politik- und Parteiverdrossenheit mit persönlicher Betroffenheit und einer leichter umzusetzenden Solidarisierung. Dann ist die gefürchtete Organisierung in Gruppen und Initiativen, die nicht mehr dem direktem Einfluß der klassischen politischen Institution „Partei" unterliegen, nicht mehr weit. An diesem Punkt setzen Verfahren an, deren Aufgabe darin besteht, die Abweichung nicht aus den akzeptierten Spielregeln des Systems entweichen zu lassen, sie kalkulierbar zu halten, sie im Idealfall wieder zu integrieren und für das Funktionieren von Gesellschaft und Staat zu nutzen.

Mediationsverfahren

Die sogenannten Mediationsverfahren erlangen zunehmende Bedeutung in der Bearbeitung von Konflikten zwischen einer Obrigkeit, die wieder als solche identifizierbar wird, und der betroffenen Bevölkerung. Anfang der siebziger Jahre vor allem im angelsächsischen Raum entwickelt, handelt es sich dabei um Verfahren zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte, vor allem zur Regulation spannungsgeladener Interessendivergenzen zwischen Bürgern und Regierung. Diese Verfahren riefen seit Anfang der achtziger Jahre in den USA einen „regelrechten Mediationsboom" hervor, ,,der vor allem auf die hohe Erfolgsquote dieser Verfahren zurückzuführen ist". Nicht ungenannt 311

bleiben sollte hierbei, daß in der USA Konflikte oft mit finanziellen Mitteln beigelegt wurden. Die Gegner bestimmter Projekte wurden ausgezahlt oder, genauer gesagt: bestochen. Bei diesen Verfahren geht es nicht darum, daß der die Runde leitende Mediator den Konflikt durch Schiedsspruch schlichtet oder entscheidet, sondern vielmehr darum, die Gesprächs- und Konsensbereitschaft der Konfliktparteien zu stärken. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß die „bei diesen Verfahren vereinbarte Einstimmigkeitsregel ... jeder Partei de facto ein Vetorecht einräumt." 9 Laut Hans Joachim Fietkau, Psychologe am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin (WBZ), konnten allein 1986 von den 136 durchgeführten Mediationsverfahren 103 mit einer einvernehmlichen Übereinkunft der Konfliktparteien beendet werden. Diese annähernd 80%ige Erfolgsquote hatte allerdings, nach der Analyse USamerikanischer Sozialwissenschaftler, einige besondere Voraussetzungen zur Bedingung: Religiöse oder ideologische Grundkonflikte sollten nicht zur Verhandlung stehen, die Machtungleichgewichte zwischen den Akteuren dürfen nicht zu groß sein und bei den Verhandlungen darf es sich nicht um ein reines Nullsummenspiel handeln. Ob es sich um eine Müllverbrennungsanlage in Bielefeld 1987 oder das Abfallwirtschaftskonzept von Neuss 1992 handelt, ob es um eine Sondermülldeponie inArnsfeld 1991 geht oder um den Bau des Großflughafens Berlin - Mediationsverfahren dienen auch in der BRD immer öfter zur Regulation sich anbahnender Auseinandersetzungen. Das aktuellste und gegenwärtig bekannteste Beispiel ist der um sich greifende Konflikt um den Ausbau des Flughafens Rhein-Main. Der Grund, möglichst frühzeitig mittels Mediation auf die Form der Auseinandersetzung einwirken zu wollen, liegt vor allem in der Erfahrung mit den schweren Kämpfen um den Bau der Startbahn 18 West, die Anfang der achtziger Jahre fast zum Sturz der damaligen SPDLandesregierung führten. Am Mediationsverfahren zum Flughafenausbau wird exemplarisch klar, worum es geht und wie dabei methodisch vorgegangen werden soll. Das Mediationsverfahren wird im Vorschlag der Regierung als „informelles Verfahren ohne normative Regelungen" beschrieben. Mit diesem Verfahren ließe sich „in bestimmten Situationen eher ein konsensuelles Ergebnis erzielen als mit einer einseitigen hoheitlichen 312

Maßnahme". Offen wird für die Einbeziehung der Bürger in das Prozedere geworben: ,,Mit der frühzeitigen Einbeziehung der Bürgerinteressen wird auch der gesellschaftlichen Bewegung weg vom Obrigkeitsstaat eher Rechnung getragen." Proklamiert wird, daß es, anders als bisher, möglich wäre, die „selektiven Verhandlungsprozesse zwischen Verwaltung und Vorhabenträger" auch für bisher nicht vertretene Interessengruppen zu öffnen. Das Papier wirbt für Sympathie bei den Betroffenen, stellt es doch die Möglichkeit einer relevanten Einflußnahme in Aussicht, ohne jedoch zu verschweigen, worum es tatsächlich geht: ,,Dies soll zum einen der Verwaltung helfen, ihren Auftrag zur neutralen Gemeinwohlorientierung und zum optimierenden Ausgleich aller rechtlich relevanten Interessen besser zu erfüllen, zum anderen die Akzeptanz umstrittener Maßnahmen fördern." Damit ist die Katze doch noch aus dem Sack. Was vordergründig als „kooperative Konfliktbewältigung" angepriesen wird, dient letztlich zur Durchsetzung bestimmter Vorhaben, die unter Einsatz klassischer zentralstaatlicher „Planungskompetenz" möglicherweise auf Widerstand der betroffenen Bürger stoßen würden. Der Köder, der die Mediation schmackhaft machen soll, besteht darin, eine sogenannte „win/ win"-Situation in Aussicht zu stellen. Gemeint ist ein Ergebnis, bei dem es keine Verlierer geben soll, sondern nur Gewinner. ,,Das Ziel von Konfliktvermittlung ist also, nicht die Betroffenen zur Interessenaufgabe zu bringen, sondern ihre Positionen verrückbar zu machen, d.h. die verschiedenen Interessen soweit wie möglich zu befriedigen, ohne daß es nur Verlierer oder Gewinner gibt, sondern jeder einen (Teil-)Gewinn verbuchen kann." 10 Dumm nur, daß es bei einer Flughafenerweiterung für die von Lärm und Verschmutzung Betroffenen nichts zu gewinnen gibt. Auch wurde der feste Wille zum Bau einer neuen Start- und Landebahn von Teilen der hessischen Landesregierung mehrmals bekundet, so daß niemand an ein „offenes" Verfahren glauben konnte. Das Manöver der Landesregierung, von Rot/Grün begonnen und nach der Landtagswahl 1999 von der CDU nahtlos fortgeführt, war zu durchsichtig, um Bürgerinitiativen und Umweltverbände einzubinden. Sie verweigerten die Teilnahme mit der Begründung, weder sei die Ergebnisoffenheit des Verfahrens gewährleistet noch sei der Ausgang des Verfahrens für die Landesregierung bindend. Ein, im übrigen nicht öffentli313

ches, Mediationsverfahren, in dem sich Ausbaubefürworter und Gegner unter der Leitung scheinbar neutraler Dritter gegenübersitzen und in dem es darum geht „Verständnis für die Position des Gegenüber" zu entwickeln, wurde konsequenterweise als hinderlich für das Vorgehen der Bürgerinitiativen gewertet. Unschwer zu erkennen, daß im Falle der geplanten Flughafenerweiterung für die Bürgerinitiativen weder ein „Machtgleichgewicht" noch die Möglichkeit bestand, aus der Mediation mit einem Erfolg hervorzugehen. Nach Maßgabe US-amerikanischer Kriterien handelte es sich bei dem Flughafen-Verfahren um reines „Akzeptanzmanagement", das wesentliche Bedingungen eines Mediationsverfahrens gar nicht erfüllt. Die Entscheidung der Bürgerinitiativen, nicht daran teilzunehmen, bedeutete daher nicht nur ein einfach Absenz, sondern war der darüber hinaus gehende Versuch, ein derartiges Prozedere zu sabotieren. Die Antwort auf den klar erkennbaren Versuch, die Bürgerinitiativen von direktem Widerstand und der Verbreiterung der Bewegung abzubringen, konnte nur sein, eben damit fortzufahren. Das Mediations verfahren kam zwar dennoch zustande, aber die Abwesenheit ausgewiesener Gegner der Flughafenerweiterung ließ es zur Farce werden.

,. Protest in Diskussion verwandeln"

Viele Sozialwissenschaftler spekulieren seit den Erfolgen der Mediation in den USA über die Möglichkeit, diese auch in der BRD als festen Bestand einer ganzen Palette von Verhandlungs-und Vennittlungsverfahren einzurichten. Interessanterweise wird dabei nicht nur von wachsender Politik- und Parteiverdrossenheit ausgegangen, sondern ebenso oft wird die zunehmende Unwilligkeit der Bürger beschrieben, den Entscheidungen von Behörden klaglos und ohne Widerstand Folge zu leisten. ,,Der Bürger ist also politisch selbstbewußter geworden, versteht sich gegenüber Politik und Verwaltung nicht mehr als Untertan, sondern erwartet die Berücksichtigung seiner Interessen durch den Leistungsstaat und verlangt nach mehr Mitsprache, wo es um seine Interessen geht. Andererseits wird der Bürger zunehmend 314

sensibler gegenüber den Belastungen und Risiken, die von politischen Entscheidungen oder administrativen Maßnahmen ausgehen, und er reagiert darauf mit zunehmenden Mißtrauen und Widerstand." 11 Diese partielle Distanzierung der Bevölkerung von staatlichem Verwaltungshandeln, die sich nicht mehr durch die Möglichkeit, alle vier Jahre an einer Wahl teilzunehmen, beheben läßt, läßt es notwendig erscheinen, über neue Möglichkeiten der „Bürgerbeteiligung" in der Demokratie nachzudenken. ,,Viele Bürger haben offenbar mit der repräsentativen Demokratie ihre Probleme ... Die wichtigste Beteiligungsmöglichkeit ist zwar die Ausübung des Wahlrechts. Da immer wieder von Wissenschaftlern und Bürgern Zweifel geäußert werden, ob es bei den allgemeinen, freien und geheimen Wahlen überhaupt etwas zu wählen gibt, kommen auch die Wahlen in die Diskussion. Der Nichtwähler erscheint als der besonders reflektierte Zeitgenosse. Die ,Partei der Nichtwähler' hat immer mehr Anhänger. " 12 Die „partielle Entfernung" der Menschen vom Staat und seiner „demokratisch legitimierten" Exekutive wird als heikel und seinem funktionieren abträglich eingestuft. Gefürchtet wird der Verlust von Einbindungsund Übereinstimmungsebenen, die das moderne Herrschaftssystem auszeichnen. Die Möglichkeit, daß, vor dem Hintergrund mangelnder Identifikation mit dem Staat, gesellschaftliche Konflikte nicht nur häufiger auftreten, sondern vor allem unberechenbarer ablaufen könnten, führt zu verstärktem Nachdenken über neue, die Kooperation mit dem Staat fördernde Strategien. Es gilt, jedweder kritischen Distanz gegenüber dem Staat, die, in libertärer Perspektive betrachtet, im Konfliktfall als Ausgangspunkt eines emanzipativen Prozesses dienen könnten, frühzeitig mit Integrationsversuchen zu begegnen. Propagiert wird, unter dem Eindruck eines in dieser Hinsicht ungenügend funktionierenden Parteiensystems, die „Demokratisierung aller Lebensbereiche": ,,Angesichts einer seit den 70er Jahren vorausgesagten ,partizipativen Revolution' glaubten die meisten wissenschaftlichen Beobachter, den Bürgern mehr Beteiligungsmöglichkeiten anbieten zu müssen, als in der Parteiendemokratie vorgesehen sind ... Durch Beteiligung der Bürger an Personen und Sachfragen soll in beschränktem Rahmen direkte Demokratie verwirklicht werden. Dem schlossen sich auch die etablierten Parteien, trotz jahrzehntelanger breiter Ablehnung direktdemokratischer Elemente, in den 90er Jahren an." 13 315

Die politikwissenschaftliche Debatte über „Konzepte institutioneller Modernisierung" vollzieht sich aus diesem Grund unter Stichworten wie ,,kooperativer Staat", ,,informales Verwaltungshandeln", ,,Vermittlungsfunktion des Staates" und „Modernisierung des Staates". Vordergründig geht es also darum, den in ökologischen Konflikten bislang durchaus hierarchisch agierenden Staat demokratisch zu wandeln und ihn derart den Menschen wieder näherzubringen. Wollte man äußerst gutwillig sein, könnte unterstellt werden, die einschlägig befaßten Politik- und Verwaltungswissenschaftler verfolgten innerhalb der intellektuell wie institutionell eng gesteckten Grenzen der Politik einen reformistischen Ansatz, der einem breiten Bedürfnis der Öffentlichkeit Rechnung trägt. Dies wäre dann „Ausdruck einer Entwicklung, die ein Verständnis von Staat und Verwaltung herbeiführt, das deren Autonomie und ,souveräne' Handlungsfähigkeit mehr und mehr in Zweifel zieht, und die einer ,Enthierarchisierung der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft' (Scharpf) mündet" 14• Nur Unbedarfte können jedoch ungetrübtes Wohlgefallen empfinden, wenn in diesem Zusammenhang von „Enthierarchisierung" die Rede ist, denn tatsächlich geht es darum, daß „der Staat seine wachsenden Aufgaben nur dann erfüllen kann, wenn er die gesellschaftlichen Akteure, betroffene oder sich betroffen fühlende Einzelpersonen und Organisationen in die Vorbereitung politischer oder administrativer Entscheidungen einbezieht" 15• Was sich aus der Perspektive klassischer Verwaltungstechnokraten geradezu als „revolutionär" ausnehmen mag, stellt sich bei kritischer Betrachtung als der Versuch dar, Konfrontationen zu vermeiden und das Widerstandspotentials der betroffenen Bürger staatlich einzubinden. Bei der Mediation geht es also um mehr als um die Durchsetzung einzelner Großprojekte und den daraus entstehenden besonderen Konflikt. Im gesamtstaatlichen Kontext gesehen, beabsichtigt die Einrichtung von Mediationsverfahren die erhöhte An- und Einbindung der Menschen an bzw. in einen Staat, der seine okkupierende Durchdringungskraft und Akzeptanz teilweise verloren hat oder zumindest zu verlieren droht. Neben der Funktion, spezielle Projekte möglichst konfliktarm durchzusetzen, geht es um das „Akzeptanzmanagement" im Gesamtsystem. Mediationsverfahren sind daher Teil einer Befriedungsstrategie, die die Funktion hat, Konflikte zu entspannen und 316

Risse im Funktionssystem des Staates zu kitten. Das „Erleben (der Mediation, d. Vf.) kann der verbreiteten Staats- und Politikverdrossenheit entgegenwirken und demokratiefördernde Wirkung zeitigen", heißt es: ,,Es geht um eine Neubelebung von Bürgerengagement in die Angelegenheiten des Staates und um den Aufbau langfristig harmonischer Beziehungen zwischen gesellschaftlich relevanten Interessengruppen." 16 Außerdem sei es „wichtig, daß die sich zu Wort meldenden Bürger nicht zurückgewiesen, sondern als Teil der Aktivdemokratie betrachtet werden. Das Ziel sollte sein, Protest in Diskussion zu verwandeln." 17 Mediation meint die „Professionalisierung" des Konflikts. Sie zielt auf eine „kooperative" Konfliktbewältigung ab, durch die zwangsläufig die Ebene verändert wird, auf der der Konflikt ausgetragen wird. Der Konflikt wird gewissermaßen auf ein „höheres Niveau" gehoben, und dies, was die Bedingungen von Emanzipation betrifft, auf der Mikro- wie auf der Makroebene. Das Mediationsverfahren greift direkt in das Konfliktverhalten widerstandsbereiter Menschen ein, indem es versucht, Wahrnehmung, Information und Erfahrung zu beeinflussen. Die Teilnahme an Mediationsverfahren führt zur Diskreditierung von direktem Protest und Widerstand. So entstehen neue Möglichkeiten der Anbindung an die Exekutive immer dann, wenn offener Dissens droht, wenn antistaatliche und antihierarchische Ansätze entstehen könnten. An die Stelle direkter Aktion und direkten Widerstands, die zudem Spielraum für die Erfahrung der eigenen Kraft schaffen würden, soll eine dem unmittelbaren Konflikt entrückte Diskussionsrunde treten. So soll der Ort der Austragung gesellschaftlicher Widersprüche gleichsam verschoben werden. Demonstrationen, Besetzungen, Streiks: Aktionen, die das Funktionieren der Gesellschaft sabotieren, können als undemokratisch und deshalb als sachlich unangemessen abgewertet werden, während die Mediation als kooperativ, nüchtern und demokratisch, d.h. als die eigentlich kultivierte Ebene der Konfliktbewältigung dargestellt wird. Die Entwicklung und Verfeinerung der Methoden der sozialen Integration, die sich in den Verfahren der Mediation niederschlägt, beweist deutlich, daß die Tendenz fortbesteht, Widerstandspotentiale nicht nur zu neutralisieren, sondern sie, darüber hinausgehend, zur Belebung der „Aktivdemokratie" zu benutzen. 317

Anmerkungen 1

3

' 6 7

8 9

10

11

Johannes Agnoli, "Die Europa-Wahlen sind Scheinwahlen", in:jungle World Nr. 24 vom 9. Juni 1999 Johannes AgnolL Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik, Freiburg l 990, S. 89 Ebd„ S. 188 Ebd„ S. 19 FAZ vom 14. Juni 1975. Sebastian Cobler, Die Gefahr geht vom Menschen aus, Berlin 1976, S. 23. Ernst Benda, Der Rechtsstaat in der Krise, Stuttgart 1972, S. 17 f., zitiert nach Cobler, a.a.O., S. 24 Zitiert nach Cobler, S. 120 Holtkamp/Schubert, ,,Verhandlungslösungen in Mediationsverfahren", in: Gegenwartskunde 4, S. 424 Mediation: Eine Zukunftsregion im offenen Dialog. Erläuterungen zur Beschlußvorlage (Mai 98), S. 5 Horst Zilleßen, Umweltpolitik als Modernisierungsprozeß, Opladen 1993,

s. 87 12

13 14

1 ' 16

17

Hildrud Naßmacher, ,,Mehr Bürgernähe durch neue Beteiligungsmöglichkeiten'\ in: Politische Bildung H.1/98, S. 62 Ebd. Zilleßen, a.a.O., S. 81 Ebd. Thomas Barbian, ,,Mediation bei Umweltkonflikten. Überlegungen zur erfolgreichen Anwendung", in: Sowi 22 ( 1993), S. I 61 Naßmacher, a.a.O., S. 73

318

JohannesAgnoli Gesammelte Schriften

ca lra-verlag postfach 273 79002 frelburg

tel.: 0761 137 939 fax: 0761 137 949

Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik

[email protected] www.isf.lrelburg.org

1990 • 220 Seiten• 25 DM• ISBN: 3-924627-20-7

Der Staat des Kapitals und weitere Schriften zur Kritik der Politik 1995 • 240 Seiten• 30 DM• ISBN: 3-924627-32-0

Subversive Theorie „Die Sache selbst" und ihre Geschichte 1999 (2.Aufl) • 260 Seiten• 30 DM• ISBN 3-924627-41-X

Faschismus ohne Revision 1997 • 177 Seiten• 30 DM• ISBN: 3-924627-47-9

1968 und die Folgen 1998 • 275 Seiten• 30 DM• ISBN 3-924627-59-2

Geduld und Ironie Johannes Agnoli zum 70. Geburtstag Herausgegeben von Joachim Bruhn, Manfred Dahlmann und Giemens Nachtmann 1995 • 196 Seiten • 30 DM • ISBN 3-924627 -42-8

Hans-GeorgBackhaus Dialektik der Wertform Untersuchungen zur Materialistischen Ökonomiekritik 1997 • 530 Seiten• 48 DM• ISBN: 3-924627-52-5

Gerhard Scheit Verborgener Staat, lebendiges Geld Zur Dramaturgie des Antisemitismus 1999 • 580 Seiten• 58 DM• ISBN: 3-924627-63-0

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... a -a

Ulrich Enderwitz Die Sexualisierung der Geschlechter Eine Übung in negativer Anthropologie 1999 • 240 Seiten • 28 DM • ISBN: 3-924627-60-6

Die Medien und ihre Information Ein Traktat 1995 • 146 Seiten• 24 DM• ISBN. 3-924627-46-0

Der Konsument als Ideologe 200 Jahre deutsche Intelligenz 1994 • 216 Seiten • 25 DM • ISBN 3-924627-39-8

Antisemitismus und Volksstaat Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung (2. erw. Aufl.) 1998 • 203 Seiten • 24 DM • ISBN: 3-924627-28-2

Totale Reklame Von der Marktgesellschaft zur Kommunikationsgemeinschaft 1986 • 160 Seiten • 21 DM • ISBN: 3-925789-03-0

Kritik der Geschichtswissenschaft 1988 • 300 Seiten • 25 DM • ISBN: 3-925789-09-X

Reichtum und Religion Vier Bücher in sieben Bänden Der Mythos vom Heros (Bd.1) 1990 • 200 Seiten• 34 DM• ISBN 3-924627-23-1

Der religiöse Kult (Bd. 2) 1991 • 250 Seiten • 28 DM • ISBN: 3-924627-27-4

Die Herrschaft des Wesens 1,:aira-vertag postlach 273 79002 freiburg tel.: 0761 / 37 939 fax: 0761 / 37 949 [email protected] www.isf-freiburg.org

Das Heil im Nichts (Bd. 3. 1) 1996 • 200 Seiten• 25 DM• ISBN: 3-924627-48-7

Die Polis (Bd. 3.2) 1998 • 450 Seiten • 48 DM • ISBN: 3-924627-49-5

Der Konkurs der alten Welt (Bd.3.3) (Herbst 2001) Die Macht des Kapitals (Bd.4) (Herbst 2002)