Der Tribunal Constitucional und die Kontrolle des Gesetzgebers: Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts [1 ed.] 9783428507771, 9783428107773

Gerade angesichts der europäischen Verfassungsentwicklung kommt dem Thema Verfassungsgerichtsbarkeit eine besondere Bede

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Der Tribunal Constitucional und die Kontrolle des Gesetzgebers: Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts [1 ed.]
 9783428507771, 9783428107773

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NICOLA GRAU

Der Tribunal Constitucional und die Kontrolle des Gesetzgebers

Schriften zum Internationalen Recht Band 133

Der Tribunal Constitucional und die Kontrolle des Gesetzgebers Eine Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts

Von Nicola Grau

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Regensburg hat diese Arbeit im Jahre 2001 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany

© 2002 Duncker &

ISSN 0720-7646 ISBN 3-428-10777-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Vorwort Die Arbeit wurde im Wintersemester 2000/2001 von der Juristischen Faklutät der Universität Regensburg als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur wurden bis Ende 2000 berücksichtigt. Mein besonderer Dank gehört meinen Eltern, die mir stets Rückhalt und Beistand während der Anfertigung dieser Arbeit waren. Großer Dank gebührt insbesondere meinem Doktorvater, Professor Dr. Rainer Arnold, der die Arbeit als kompetenter Gesprächspartner begleitet hat. Ihm verdanke ich viele wertvolle Anregungen und Hinweise. Dem Bundesverfassungsrichter, Herrn Professor Dr. Udo Steiner, danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens. Wesentlich gefördert wurde die Arbeit durch die Möglichkeit, meine Studien in der Bibliothek des Tribunal Constitucional zu vertiefen. Hierfür möchte ich für das herzliche Entgegenkommen, welches ich dort vorfand, stellvertretend dem damaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Don Pedro Cruz Villaion sowie dem Leiter der Bibliothek, Don Juan Luis Requejo Pagues, meinen herzlichen Dank aussprechen. Ferner möchte ich Dr. Stefanie Oberländer für ihre hilfsbereiten Ratschläge, meinem Bruder Dominik für den technischen Beistand und all denen, die ein offenes Ohr für mich während der Erstellung der Arbeit hatten, von Herzen danke sagen. Pullach, Februar 2002

Nicola Grau

Inhaltsübersicht Erstes Kapitel

Grundlagen der Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

19

A. Einführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 8. Der Tribunal Constitucional als Kontrollorgan des Gesetzgebers . . . . . . . 29

Zweites Kapitel

Gesetzgeberische Verfassungswidrigkeit und die Reaktion des Verfassungsgerichts

82

A. Formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung . . . . . . 82 B. Die Wirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . 107 C. Korrektur fehlender oder mangelhafter gesetzgeberischer Regelungen durch das Verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 D. Korrekturanweisungen an den Gesetzgeber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Drittes Kapitel

Konsequenzen aus der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Gesetzgebers

192

A. Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen in der Praxis 192 B. Schlussfolgerungen aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechungspraxis rür das Verhältnis des Verfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel

Grundlagen der Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Das Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die bisherigen Ansätze einer Grenzziehung für die verfassungsgerichtliche Kontrolle gegenüber dem Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Political-question doctrine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Judicial self-restraint . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Funktionell-rechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Geschichte und europäischer Kontext des spanischen Verfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Die europäischen Verfassungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der historische "Vorgänger" des heutigen Tribunal Constitucional . . 3. Die Rechtsprechungspraxis des spanischen Verfassungsgerichts . . . . III. Die Schwerpunkte der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Der Tribunal Constitucional als Kontrollorgan des Gesetzgebers . . . . . . I. Gesetzgeber und seine Handlungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Die verfassungsrechtliche Funktion des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . a) Die Legislativgewalt der Parlamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Aufgabe des Gesetzgebers gemäß der Verfassung . . . . . . . . . . 2. Die Gesetzgebungsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Stellung des Tribunal Constitucional in der Verfassung, gemäß dem Verfassungsgerichtsgesetz und laut seiner eigenen Aussagen . . . . . l. Die verfassungsrechtliche Stellung des Verfassungsgerichts . . . . . . . . a) Systematische Stellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhaltliche Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Funktion des Tribunal Constitucional gemäß dem Verfassungsgerichtsgesetz (LOTC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Oberster Interpret (interprete supremo) (Art. l Abs. I LOTC) . . . b) Die Garantie des Verfassungsvorrangs (Art. 27 Abs. I LOTC) . . . 3. Das Selbstverständnis des spanischen Verfassungsgerichts . . . . . . . . . a) Betonung der Funktion als oberster Verfassungsinterpret . . . . . . . .

19 19 19 19 22 23 24 24 25 25 27 27 28

29 29 30 30 31 32 33 33 34 34 35 35 36 37 37

10

Inhaltsverzeichnis b) Das Verfassungsgericht als Verteidiger des Gesetzes . . . . . . . . . . . . c) Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kontrollgegenstand und Kontrollabstinenz der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der gesetzgebensehen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kontrollgegenstand des Verfassungsgerichts bei der Überprüfung der gesetzgebensehen Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gesetzesprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) GesetzgebeTisches Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Umfassende Kontrolle gesetzgeberischer Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . 2. Die spezifischen Eigenheiten des Gesetzgebers abseits der verfassungsgerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Politischer Freiraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ideologische Wertungen und Opportunität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verfassungsgerichtliche Verfahrensarten zur gesetzgebensehen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die "nachträglichen" Normenkontrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abstrakte Normenkontrolle (recurso de inconstitucionalidad) . . . . b) Konkrete Normenkontrolle (cuesti6n de inconstitucionalidad) . . . c) Funktionen der nachträglichen Normenkontrollen gemäß der Verfassungsrechtsprechung .... . ..... ... .. . .......... . .. .... . . . . aa) Gemeinsamkeiten der abstrakten und konkreten Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Spezifische Aussagen zur konkreten Normenkontrolle cc) Spezifische Aussagen zur abstrakten Normenkontrolle . . . . . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die präventive Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Möglichkeiten einer Normenkontrolle ex ante . . . . . . . . . . . . . b) Die Normenkontrolle ex ante gegenüber Organgesetzen und Autonomiestatuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Abschaffung der präventiven Normenkontrolle für Organgesetze und die Statuten der Autonomien und ihre Bedeutung für das Verhältnis Verfassungsgericht und Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . d) Die präventive Kontrolle bei völkerrechtlichen Verträgen . . . . . . . 3. Verfahrensrechtliche Eigenheiten für die Normenkontrollen . . . . . . . . a) Das Plenumsprivileg bei Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Möglichkeiten einer Suspendierung für Gesetze während der verfassungsgerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Suspensivwirkung bei der Anfechtung gern. Art. 162 Abs. 2 CE .... ..... ................... . . . ........ .... .. bb) Suspensivwirkung bei präventiver Normenkontrolle . . . . . . . . c) Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Urteile bei der Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Urteile der nachträglichen Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . .

40 41 41 41 42 45 46 47 47 48 50 52 53 53 55 56 56 57 58 59 59 60 60 62 64 66 66 69 69 71 71 72

Inhaltsverzeichnis bb) Die Erklärung bei der präventiven Normenkontrolle . . . . . . . . 4. Verfassungsbeschwerde und Gesetzeskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die verdeckte Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . b) Kein Gesetz als Verfahrensgegenstand einer Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle bei fehlender gesetzgeberischer Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kontrolle bei unvollständiger Regelung (relatives Unterlassen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Kontrolle bei absolutem Unterlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kontrolle während des Gesetzgebungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ergebnis für die Unterlassenskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zweites Kapitel Gesetzgeberische Verfassungswidrigkeit und die Reaktion des Verfassungsgerichts A. FormeHe und mateneUe Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung . . . . . . I. Formelle Verfassungsmäßigkeit der Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Zuständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Abgrenzung der Einzelgesetze zu Akten der Exekutive . . . . . . . . . b) Erfordernis eines Gesetzesvorbehalts contra Verweisungsvorschriften an die Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die "Verhaltens"kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Gesetzgebungsverfahren als Parlamentsangelegenheit . . . . . . . b) Der politische Pluralismus als maßgebliches Kriterium für die Relevanz von Verfahrensvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kontrolle des richtigen Gesetzes"typs" (Form) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die materiellen Bestimmungen der spanischen Verfassung als Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Grundrechte und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die so genannten "Bürgerrechte" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Staatsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. "Bloque de constitucionalidad" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Verfassung als Werteordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kontrollintensität des Verfassungsgerichts bei der Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Evidenzkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Evidenzkontrolle bei Grundrechtskollision (STC 5/81) . . . . . . . . . b) Evidenzkontrolle bei Ungleichbehandlungen aus wirtschaftlichen und politischen Differenzierungskriterien (STC 6/84) . . . . . . . . . . .

82 82 82 82 83 83 84 84 85 88 89 89 90 90 91 92 92 93 94 94 95

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Inhaltsverzeichnis c) Evidenzkontrolle für diskriminierende Auswahlkriterien beim Zugang zu öffentlichen Ämtern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Evidenzkontrolle bei der Beurteilung wirtschaftlicher oder sozialer Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertretbarkeitskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die allgemeinen Differenzierungskriterien im Rahmen des Gleichheitsgrundsatzes (STC 99/84) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertretbarkeilskontrolle bei Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen (STC 19/88) .. .. .. .. . .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 3. Intensive Kontrolle .. . . .............. ..... .. ........... . .. .. . . a) Intensive inhaltliche Kontrolle für Möglichkeiten der Verletzung der Rechtsschutzgarantie in Einzelfällen (STC 3/83) .... . .. .... b) Intensive Kontrolle bei diskriminierenden Grundrechtseingriffen (SSTC 20/85, 72/94) ................................ .. .. .. . c) Intensive Kontrolle bezüglich Änderungen wirtschaftlicher Zusammenhänge (Prognosespielraum) (STC 209/88) .... ... .... 4. Zusammenfassende Bemerkungen zur Kontrollintensität . . . . . . . . . . .

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B. Die Wirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . I 07 I. Nichtigkeit "ex tune" von Gesetzen als Folge der Verfassungswidrigkeit II. Verfassungswidrigkeit ohne Nichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Wandel der Rechtsprechung seit STC 45/89 .......... . ...... 2. Gründe für Verfassungswidrigkeit ohne Nichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungswidrigkeit aufgrund einer lückenhaften Regelung (SSTC 45/89, 73/97) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schwerwiegende Rechtsfolgen als Hindernis einer Nichtigkeitserklärung (SSTC 75/89, 13/92, 195/98) ...................... c) Finalität bei Kompetenzstreitigkeiten (SSTC 75/89, 91/92, 16/96, 195/98) ........................... .... .................... III. "Auslegende Urteile" (sentencias interpretativas) . . ... . ....... ... .... I. Begriff und Begründung . . .. . .. .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . a) Der Begriff "sentencia interpretativa" .. .. . . ...... . . . ......... b) Gründe für eine Entscheidung in Form eines auslegenden Urteils 2. Die Grenzziehung zwischen Interpretation und Uminterpretierung . . 3. Anwendungsbereich der sentencias interpretativas .... ..... . .. ... . 4. Bedeutung der Entscheidungsform .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . IV. Rechtswirkungen von Appellentscheidungen ... ....... .. ........... I. Der Begriff der Appellentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung der Appelle . .. .. .. .. . .. . . . . . . .. . . .. . . .. .. . . . . . .. .. .

I 07 I09 109 110 III 112

114 115 116 116 117 118 121 122 124 124 126

C. Korrektur fehlender oder mangelhafter gesetzgeberäseher Regelungen durch das Verfassungsgericht . . . . . .. . . .. . . . . . . .. . . .. . . .. . . . . . . . .. . . . 128 I.

Die Korrektur am Gesetzestext . .. . . .. . . . . . . .. . .. . . . .. . .. . . . . .. . . . 128 I. Die verfassungskonforme Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 a) Begrenzung des Anwendungsbereichs von Art. 34 LOECE auf Privatschulen ohne öffentliche Finanzausstattung (STC 5/81) . . . . 129

Inhaltsverzeichnis b) Die Ausdehnung der Mietnachfolgeoption des überlebenden Ehegatten (Art. 58 Abs. I LAU) auf den nichtehelichen Lebenspartner (STC 222/92) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Integration ausgeschlossener Personengruppen in den Begünstigungstatbestand (STC 3/93) ............................ . .... 2. Teilnichtigkeit .......................................... ... . . a) Die Nichtigkeitserklärung einer die Berufungsberechtigung beschränkenden Tatbestandsvoraussetzung (SSTC 76/82, 27/85) . . . b) Nichtigkeit der Sonderbedingungen für die Rente männlicher Witwer bei der Sozialversicherung (STC 103/83) .............. c) Ausdehnung der Subventionsbegünstigung auf alle Gewerkschaften durch Teilnichtigkeitserklärung (STC 20/85) ............... d) Nichtigerklärung der durch Vorlage an einen Richter ermöglichten Fristverlängerung für die Dauer einer vorläufigen Festnahme (STC 199/87) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Ausdehnung der allgemeinen Möglichkeit zur Haftreduzierung durch Arbeit auf alle zur Freiheitsstrafe Verurteilten durch Teilnichtigkeitserklärung (STC 72/94) ................... . .... 3. Kombination von verfassungskonformer Interpretation und Teilnichtigkeit (STC 116/87) .... . ................................ .. ... II. Die Korrektur mittels Anweisungen an Judikative und Exekutive .... . I. Ergänzende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ergänzung gesetzlicher Lücken durch Verfassungsdoktrin und Grundprinzipien völkerrechtlicher Verträge (STC 36/91) . .... ... b) Ergänzung lückenhafter Regelungen einer bestimmten Sachmaterie durch Heranziehung anderweitiger gesetzlicher Bestimmungen (STC 96/96) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfassungsgerichtliche Vorgaben zur Rechtsschutzgewährleistung im Prozessrecht durch die Gerichte ............................ . a) Anweisungen an die Gerichte zur Anwendung der Verfahrensvorschriften im Lichte der Rechtsschutzgarantie (STC 42/82) ...... b) Analoge Anwendung verwaltungsgerichtlicher Ladungsvorschriften als verfassungrechtliches Erfordernis der Rechtsschutzgarantie (STC 63/82) ............................................... c) Flexibilität der Rechtsprechung bei der Akzeptanz gerichtlicher Vorschüsse als Erfordernis der Rechtsschutzgarantie (STC 3/83) . d) Aufforderung an Berufungsgericht, die Rechtsmitteleinlegung weitestgehend zu ermöglichen (STC 37/88) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Korrektur durch das Verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die unmittelbare Anwendung der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ergänzung und Ersetzung bestehender Regelungen durch die Verfassungsbestimrnungen (STC 36/82 Versammlungsrecht) . . . . . . . . b) Die Rechtswegerschöpfung des Art. 53 Abs. 2 CE als Zulässigkeitsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde (STC 67/82) .... c) Konkretisierung der Rechtsschutzgarantie für der Landessprache unkundige Spanier (STC 74/87) . . . . .. ... . . ........ . . .... . .. .

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14

Inhaltsverzeichnis 2. Bestimmung des "Minimalgehalts" ("contenido minimo") des betreffenden Grundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Minimalgehalt und Wesensgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Minimalgehalt der Gewissensfreiheit bei der Verweigerung des Militärdienstes (STC 15/82) ............ . .................... c) Dateninformationsanspruch als Minimalgehalt für den Schutz der Privatsphäre (STC 254/93) ............ . . . . ........... ... . ... 3. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen verknüpft mit der Gewährleistung des Minimalgehalts . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Anfänge des Privatfernsehens in der Verfassungsrechtsprechung (SSTC 12/82, 206/90, 189/91) .. .. . . .................. b) Anerkennung des lokalen Kabelfernsehens (STC 31/94) . .. . .... c) Fortsetzung dieser Verfassungsrechtsprechung zum Privatfernsehen (SSTC 47/94, 98/94, 240/94 und weitere) ......... ...... ..

D. Korrekturanweisungen an den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Appelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Appelle als Empfehlung für den Gesetzgeber (recomendaci6n) . . . . . a) Zur Rechtsklarheit (SSTC 9/81, 63/82) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Prävention einer missbräuchlichen Anwendung der Gesetze (SSTC 3/83, I 08/86) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anpassung an gewandelte soziale Umstände (STC 189/87) .. ... 2. Appelle als Aufforderung zum Tätigwerden des Gesetzgebers (llamamiento) . ... ......... . ............... .... ........... .. ..... a) Als Konsequenz einer Entscheidung "verfassungswidrig insofern als" (SSTC 36/91; 71 /90) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Schließung von Rechtslücken (SSTC 36/82, 127/94) .... .. . c) Appell mangels Möglichkeit zur Gewährleistung des Minimalgehalts (STC 88/95, Frequenzen für lokales Fernsehen) . . . . . . . . . . . 3. Appellative Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die weitreichenden Vorgaben im präventiven Normenkontrollverfahren (SSTC 76/83, 53/85) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorgaben im Rahmen nachträglicher verfassungsgerichtlicher Kontrolle des Gesetzgebers (SSTC 37/88, 45/89) . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Problem der Sanktionen bei Untätigkeit des Gesetzgebers . . . . . . . . 1. Keine Maßnahmen gegenüber dem Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fristsetzung wider Verfassungsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Keine Konsequenzen für Verzögerungen des Gesetzgebers . . . . . . 2. Problematik eigener Übergangsregelungen durch das Verfassungsgericht ................................. . ...................... a) Grundsätzlich keine explizite Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übergangsregelungen im weitesten Sinn durch das Verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Resümee für die verfassungsgerichtliche Reaktion bei gesetzgebenscher Untätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

156 156 158 160 163 163 165 168 170 170 170 171 171 175 175 175 176 177 178 178 181 183 183 184 185 187 187 188 190

Inhaltsverzeichnis

15

Drittes Kapitel

Konsequenzen aus der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Gesetzgebers A. Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen in der Praxis I. Die ersten verfassungsgerichtlichen Urteile zur Kontrolle des Gesetzgebers . ............... . . . ....... . ....... . . .. ............. ...... .. I. Die Regelung zur Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen (STC 15/82) durch LO 48/1984, vom 26. Dezember . . . . . . 2. Das Versammlungsrecht (STC 36/82) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Umsetzung bei der präventiven Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Straffreiheit der Abtreibung (STC 53/85) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Umsetzung des "Maastricht"-Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die verfassungsgerichtlichen Entscheidungen nach 1985 . . . . . . . . . . . . . l. Die Aufforderung zur Substitution des Gerichtsverfassungsgesetzes (STC 108/86) ......... . ... . ... ...... ... ............... . ...... 2. Ergänzung für Rechtsmittelmöglichkeiten für Verurteilte bei mangelhafter Verteidigung (STC 37/88, Ley 21/1988 vom 19. Juli) . . . . .. . 3. Einkommenssteuerregelung bei Familien (SSTC 209/1988, 45/1989, 146/94) ...... .. .... . ... . ........... . . . .............. ..... .. . a) STC 209/1988 und Art. 83 der Ley 37/ 1988 ............ . .. ... b) STC 45/89 und Ley 20/1989 .. ....... . . . .. .. .. .. ... .... .. ... 4. Die Jugendschutzgerichtsgesetzgebung (STC 36/91) ... . .. ..... .. . 5. Die Telekommunikationsentscheidungen (SSTC 31/94, 88/95) .. .. . a) Kabelfernsehen (STC 31/94, Ley 42/1995) ............ ..... . .. b) Lokale terrestrische Fernsehausstrahlung (STC 88/95, Ley 411 1995) . . ... . ...... .. .. . ...... ..... . . . ........ . ...... ... . ... 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Schlussfolgerungen aus der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechungspraxis für das Verhältnis des Verfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Methodischer und funktionell-rechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ausgangs- und Ansatzpunkt der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung . . .. .... ....... .. .... .. ... . .... . . .. . . ..... . ......... .. . a) Kontrollausübung entsprechend der jeweiligen Verfahrensart .... b) Kontrolle durch Verfassungsinterpretation . . . ......... . .... . . . . c) Urteilsvarianten als instrumentaler Rahmen . .. . .. .. . . . . . . . .. .. 2. Die bisherigen Ansätze der political-question doctrine und des selfrestraint sowie der funktionelle Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dynamik der Verfassungsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begrenzung der legislativen Gewalt bereits durch Existenz einer Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

192 192 193 193 194 194 195 196 197 198 198 199 199 200 201 202 202 202 203

204 205 205 205 207 209 209 212 213 213

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Inhaltsverzeichnis a) Die Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit . ......... ...... . .. b) Ausübung und Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle .. 2. Tendenzen in der verfassungsgerichtlichen Realität des Tribunal Constitucional . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Starke Ausgangslage und umstrittene Rechtsprechungspraxis .... b) Die fortschreitende Entwicklung in der Rechtsprechungspraxis .. 3. Verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers und der materielle Rechtsstaatsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Formeller und materieller Rechtsstaatsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Werteordnung als Leitfaden gegenüber modernen Entwicklungen ... . ........ .. .................. . ......... . .. . . ... . . 4. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

214 214 216 216 218 219 219 220 222

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Abkürzungsverzeichnis aaO Abs. Anm. AöR Art. BayVBI. Bd. BOE BVerfG BVerfGE BVerfGG CE DÖV DVBI EuGRZ etc. f./ff. FS GG hrsg. Hrsg. i.V.m. Jh. JöR Kap. KritVj LECrim. lit. LO LOAPA LOECE LOPJ LOTC LTTM

NJW 2 Grau

am angegebenen Ort Absatz Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Bayerische Verwaltungsblätter Band Boletin Oficial del Estado (deutsches) Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht Constituci6n Espaiiola Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Grundrechte-Zeitschrift et cetera folgende Festschrift Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland herausgegeben Herausgeber in Verbindung mit Jahrhundert Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Kapitel Kritische Vierteljahreszeitschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Ley de Enjuiciamiento Criminal (spanisches Strafverfahrensgesetz) Litera, Buchstabe Ley Organica Ley Organica de Armonizaci6n del Proceso Aut6nomico Ley Organica del Estatuto de Centros Escolares Ley Organica del Poder Judicial Ley Organica del Tribunal Constitucional Ley de Tribunales Tutelares de Menores (spanisches Jugendgerichtsgesetz) Neue Juristische Wochenschrift

18

Nr. REDC

s.

SSTC STC TC u.a. vgl. VVDStRL ZaöRV z.B. ZRP ZStW

Abkürzungsverzeichnis Nummer Revista espaiiola de Derecho Constitucional Seite(n) Sentencias del Tribunal Constitucional Sentencia del Tribunal Constitucional Tribunal Constitucional und andere vergleiche Veröffentlichung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Erstes Kapitel

Grundlagen der Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht A. Einführung "Dominanz des Rechts im politischen Prozess" - mit diesen Worten wird nach 50 Jahren Geschichte die Bedeutung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gewürdigt. 1 Für das Verhältnis der einzelnen Verfassungsorgane untereinander, die je nach ihren Funktionen den Bereichen von Recht und von Politik näher verbunden sind, lässt sich die Behauptung eines derartigen Rangverhältnisses nicht ohne weiteres aufrechterhalten. I. Problematik Als Ausgangspunkt wird dargelegt, worin die allgemeine Problematik einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Gesetzgebers liegt, und welche Lösungsversuche hierfür bisher vorgeschlagen werden. 1. Das Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber

An brisanten Entscheidungen der Verfassungsgerichte, insbesondere zu Themen mit wirtschaftspolitischer und sozialgesellschaftlicher Bedeutung, entzündet sich immer wieder die Diskussion über das Spannungsverhältnis des Verfassungsgerichts zum demokratisch legitimierten Gesetzgeber. 2 Diesem Komplex liegt als Grundproblematik die Idee zugrunde, dass die "Vorstellung von der Souveränität des Gesetzgebers (... ) sich schwerlich vereinbaren lässt mit dem Gedanken einer richterlichen Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes"3 • 1 Maier, in: Bundesministerium des Ionern (Hrsg.), Bewährung und Herausforderung, S. 26. 2 Über die Existenz dieses Spannungsverhältnisses herrscht Einigkeit, vgl. Cascajo Castro, in: EI Tribunal Bd. I, S. 640. 3 Vgl. Rubio Llorente, in: Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa Bd. I, S. 246~ Atvarez Conde, S. 278; vgl. auch Limbach, S. 10: "ge2•

20

I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Bereits Kelsen erklärt zur Verfassungsgarantie gegenüber dem Parlament: "Nur ein vom Gesetzgeber verschiedenes, von diesem und daher auch jeder anderen staatlichen Autorität unabhängiges Organ muss berufen werden, die verfassungswidrigen Akte des Gesetzgebers zu vernichten. Das ist die Institution eines Verfassungsgerichts". 4 Gleichzeitig legt Kelsen auch die zwei Haupteinwände, die einem Verfassungsgericht bei der Kontrolle des Gesetzgebers entgegen gebracht werden dar, die Einschränkung der Parlamentsoder gar Volkssouveränität und der Eingriff in das Prinzip der Gewaltentrennung.5 Das Verfassungsgericht wird als "vierte Gewalt"6 neben den drei klassischen Gewalten (Exekutive, Legislative und Judikative) oder als "dritte Kammer"7 angesehen; im Zusammenhang mit der Verfassungsgerichtsbarkeit wird von einer "Verrechtlichung der Politik"8 , vom Wandel des Rechtsstaats zu einem Richterstaat gesprochen. Kelsens Bezeichnung des Verfassungsgerichts als ;,negativer Gesetzgeber"9 macht klar, dass das Verfassungsgericht durch die Annullierung von Gesetzen dem Gesetzgeber reziprok gegenübergestellt ist und damit im staatlichen Gefüge quasi den Kontrapart zum "positiven" Gesetzgeber spielt. 10 Die Befugnis eines Verfassungsgerichts zur Aufhebung von Gesetzen kann der Gesetzgebung im Sinne einer "Erlassung (von Gesetzen, Anm. d. Verf.) mit einem negativen Vorzeichen gleichsam" 11 gegenübergestellt werden und wird unter diesem Gesichtspunkt als "Gesetzgebungsfunktion" angesehen bzw. das Verfassungsgericht selbst als "Organ der gesetzgebenden Gewalt" 12 bezeichnet. riebtliehe Normenkontrolle erscheint auf den ersten Blick als zutiefst undemokratisch". 4 Kelsen, VVDStRL 5 (1929), S. 53. 5 Kelsen, VVDStRL 5 (1929), S. 53, 54; vgl. auch Murillo de Ia Cueva, Revista de estudios polfticos 7 (1979), S. 209, Montaro Puerto, Jurisdicci6n constitucional y procesos constitucionales, S. 33. 6 Bezogen auf das spanische Verfassungsgericht: Rubio Uorente, in: Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa Bd. I, S. 274; vgl. auch Schneider, NJW 1980, S. 2103 ff. 7 Jimenez de Parga, Revista juridica de Castilla-La Mancha 3/4 (1988) S. 23, für das deutsche Bundesverfassungsgericht vgl. Zuck, ZRP 11 ( 1978), S. 194. 8 Bezogen auf das spanische Verfassungsrecht: Rubio Llorente, in: Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa Bd. 1, S. 274, vgl. zur allgemeinen Befürchtung gegenüber der Verfassungsgerichtsbarkeit Simon, in: Benda u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 34 Rn. 43. 9 Kelsen, VVDStRL 5 (1929), S. 56, ebenso Garcfa de Enterr{a, La Constituci6n como norma, S. 60. 10 Vgl. auch Rubio Llorente, in: Pizzorusso (Hrsg.), Law in the Making, S. 157. 11 Kelsen, VVDStRL 5 ( 1929), S. 54.

A. Einführung

21

Grundlage der Idee einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Gesetzgebers ist, dass der Allmacht des Gesetzgebers in den heutigen Verfassungsstaaten Grenzen gesetzt sind. Werden die vom Parlament verabschiedeten Gesetze einer verfassungsgerichtlichen Prüfung unterzogen, so wird durch diese Kontrolle die Souveränität des Parlaments beschränkt. Basis einer solchen Prüfung ist, dass die Verfassung dem Gesetzgeber einen Rahmen vorgibt, innerhalb dessen er seine Tätigkeit auszuüben hat. Im Rahmen einer strikten Gewaltentrennung ist nicht vorgesehen, dass der Gesetzgeber durch eine andere Staatsgewalt kontrolliert wird. Während im 19. Jh. der Parlamentssouveränität ein nahezu unantastbarer Bereich zugesprochen wurde, hat sich im 20. Jh. eine Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht durchgesetzt und das Prinzip der klassischen Gewaltenteilung damit ins Wanken gebracht. 13 Dieses und die Parlamentssouveränität werden durch eine verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers dem Prinzip des Verfassungsvorranges untergeordnet. 14 Gleichzeitig soll durch die Existenz eines Verfassungsgerichts vermieden werden, dass die verfassungsmäßige Balance der Staatsgewalten gestört wird. 15 Klar wird die schwierige Aufgabe des Verfassungsgerichts, eine solche Kontrolle durchzuführen, wenn man die primäre Funktion des Verfassungsgerichts darin sieht, die Grenze zwischen verfassunggebender Gewalt (die sich im Verfassungstext geäußert hat, poder constituyente, pouvoir constituante, "Konstituante" 16) und den von der Verfassung konstituierten Gewalten (poderes constituidos) zu ziehenY Bei einer solchen Betrachtung lässt sich das Verfassungsgericht nicht in das klassische System der Gewaltenteilung einordnen 18 und es drängt sich die Frage auf, wie das Verhältnis des Verfassungsgerichts zu den klassi12 Kelsen, VVDStRL 5 (1929), S. 54, vgl. auch Pereira Menaut, Temas de Derecho Constitucional, S. 206. 13 Vgl. Amold, in: Baur u.a. (Hrsg.), FS für Bodo Bömer, S. 13, siehe auch Simon, in: Benda u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts § 34 Rn. 42, der die Idee vom Vorrang der Verfassung als Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeit anführt. 14 Vgl. auch Amold, in: FS für Bodo Bömer S. 27. Bemerkenswert hingegen das polnische Verfassungsgerichtssystem, in dem das Parlament mit 2/3 Mehrheit das verfassungsgerichtliche Urteil über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes überstimmen kann. 15 Favoreu, Revue du droit public 5 (1984), S. 1196. 16 Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 253. 17 Garcfa-Pelayo y Alonso, in: Presidencia del Gobiemo (Hrsg.), EI Tribunal Constitucional, Acto solemne y otros documentos, S. 17.

22

l. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

sehen drei Gewalten ausgestaltet ist. Allein das Verfassungsgericht ist beispielsweise dafür zuständig, über den legitimen Gebrauch der Kompetenzen der übrigen Verfassungsorgane zu entscheiden. 19 Dieser Blickwinkel läßt erkennen, dass die Trennung der Gewalten, die sich in der Abgrenzung ihrer Kompetenzen und Aufgaben zeigt, im engen Zusammenhang mit der Verfassungsgerichtsbarkeit steht. 20 Insbesondere die Kontrolle des Gesetzgebers, der durch seine demokratische Legitimation Ausdruck der Volkssouveränität ist, dient oftmals als Anlass für die Erörterung der Stellung und Aufgabe des Verfassungsgerichts.Z 1 2. Die bisherigen Ansätze einer Grenzziehung für die verfassungsgerichtliche Kontrolle gegenüber dem Gesetzgeber

Früher wurde versucht, die Rechtsprechung von der Politik abzugrenzen. Dabei erkannte man jedoch, dass dies nicht gegensätzliche Begriffe sind und sie sich daher nicht zur Gegenüberstellung eignen. 22 Das Verfassungsgericht entscheidet über politische Fragen und führt politische Folgen herbei. Mit seinen verbindlichen Entscheidungen setzt es Kriterien, die von der Politik, insbesondere bei deren Umsetzung, nicht ignoriert werden können. Prüfungsmaßstab der Verfassungsgerichtsbarkeit ist die Verfassung, die die Grundlage der politischen Grundordnung darstellt. Politik und Verfassungsrecht sind so eng miteinander verflochten, dass diese Begriffe selbst nicht als Abgrenzungskriterien für Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung dienen können. Die Angelegenheiten, über die das Verfassungsgericht zu entscheiden hat, weisen politischen Charakter auf, wobei allerdings jede Rechtsanwendung auf das soziale Leben als Politik qualifiziert werden kann. 23 18 Murillo de la Cueva, Revista de estudios politicos 7 (1979), S. 211 stellt das Veifassungsgericht z.B. auf eine Ebene über die Gewaltenteilung, wodurch der Verfassungsvorrang gewährleistet wird: "se trata, pues, de un 6rgano constituido, que se sirua por encima de Ia separaci6n de poderes, incidiendo (...) tanto sobre el legislativo como sobre el ejecutivo y el judicial para asegurar frente a todos ellos Ia supremacia de Ia Constituci6n". 19 Vgl. Garda-Pelayo y Alonso, REDC 1 (1981), S. 22. 20 Rubio Llorente, Revista de Derecho Politico 16 (1982/83), S. 28. 21 Vgl. Zierlein, EuGRZ 1991, S. 341, der die "Kontrolle des Spannungsfeldes zwischen den veifassungsrechtlich legitimierten Kontrollrechten einerseits und dem ebenfalls verfassungsrechtlich legitimierten Gestaltungsspielraum eines demokratischen Gesetzgebers" als eine der schwierigsten Aufgaben bezeichnet. 22 Simon, in: Benda u. a. (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 34 Rn. 46, 47.

A. Einführung

23

Das von Montesquieu entwickelte Prinzip der Gewaltentrennung beruht auf dem Gedanken, die Konzentration aller staatlichen Gewalt zu verhindem und durch die Verteilung der Staatsgewalt auf mehrere Gewaltenträger zu einer Politik der Mäßigung zu führen. 24 Gleichzeitig wird damit aber auch eine gegenseitige Kontrolle der Gewalten impliziert, wobei unabhängig von der Einordnung eines Verfassungsgerichts in das staatliche Gefüge (sei es zur Rechtsprechung, sei es als vierte Gewalt oder sei es außerhalb dieser Einteilung) die Kontrolle des Gesetzgebers die Frage nach der Grenze einer solchen Gewalt aufwirft. In der juristischen Diskussion werden insbesondere die Ansätze der political-question doctrine des amerikanischen Supreme Court, das judicial selfrestraint und der funktionell-rechtliche Ansatz für eine Grenzziehung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gegenüber dem Gesetzgeber herangezogen und erörtert. a) Political-question doctrine Diese insbesondere in der USA vertretene Lehre besagt, dass das Verfassungsgericht bei Fragen politischen Charakters von einem Sachurteil Abstand nehmen kann, indem es hierfür seine Rechtsprechungskompetenz verneint oder beschränkt. Gefolgt wird diesem Ansatz durch den US-SupremeCourt, dem es möglich ist, die Entscheidung einer ihm vorgelegten Frage mit einem "non liquet" abzuwehren. Eine solche Praxis der richterlichen Selbstbeschränkung läßt sich jedoch bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen auf das spanische Verfassungsgericht nicht übertragen. In den Normenkontrollen hat das spanische Verfassungsgericht die Übereinstimmung der Normen mit der Verfassung zu überprüfen, das Verfassungsbeschwerdeverfahren dient dem Individualgrundrechtsschutz. Zwar kann das spanische Verfassungsgericht über seine fehlende Zuständigkeit und Gerichtsbarkeit erkennen (Art. 4 Abs. 3 LOTC), eine Beschränkung seiner Rechtsprechungstätigkeit aus politischen Gründen ist jedoch nicht vorgesehen und kommt daher im Sinne einer political-question doctrine nicht in Betracht.

23 Peces-Barba Martinez, in: EI Tribunal Bd. 3, S. 2040: "Ciertamente no todas las dificultades son superarlas y, como veremos algunas se mantienen pero el hecho de que el Tribunal Constitucional sea un 6rgano jurisdiccional y no politico, aunque Ia materia de Ia que entiende es politica, como lo es en realidad todo el ambito de Ia acci6n del Derechoen Ia vida social, es un progreso importante a mi juicio." 24 Vgl. Ke/sen, Allgemeine Staatslehre, S. 256.

24

I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

b) Judicial self-restraint Im Zeichen des liberalen Staates kam die Figur des "self-restraint" auf. 25 Die Forderung nach richterlicher Selbstbeschränkung kann jedoch schwerlich dazu dienen, die Grenzen zwischen Verfassungsrechtsprechung und Gesetzgebung zu determinieren. 26 Durch die Vagheit dieses Postulats und dem Fehlen jeglicher Kriterien bietet dieser Ansatz keine sichere Grundlage für eine Analyse der verfassungsrechtlichen Kontrolle des Gesetzgebers. Es kann vielmehr im umgekehrten Sinne davon ausgegangen werden, dass das Verfassungsgericht überhaupt nicht in den Grenzbereich seiner Kompetenzausübung gerät, soweit es richterliche Zurückhaltung im Sinne des "self-restraint" ausübt. Dieser Gedanke kann nicht als Voraussetzung für die Bestimmung einer Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit herangezogen werden, sondern stellt sich als Ergebnis einer Bewertung für die Ausübung der verfassungsgerichtlichen Kompetenzen dar?7 Gleichzeitig kommt durch diesen Ansatz zum Ausdruck, dass allein das Verfassungsgericht seine Grenzen (die ihm durch Verfassung und Verfassungsgerichtsgesetz vorgegeben werden) zu bestimmen hat, da es keine andere Institution gibt, deren Kontrolle es selbst unterworfen ist. Abgesehen von der Selbstkontrolle gibt es keine anderweitige Kontrollmöglichkeit für die verfassungsgerichtlichen Grenzen.28 c) Funktionell-rechtlicher Ansatz Dieses Konzept geht davon aus, dass dem Verfassungsgericht mit den durch die Verfassung auferlegten Aufgaben und Kompetenzen ein Rahmen zugewiesen ist, der gleichzeitig als Kriterium für die Grenzziehung der Verfassungsrechtsprechung heranzuziehen ist. 29 Jede funktionell-rechtliche Argumentation fußt im Endeffekt auf der Frage nach einer Funktionseinordnung des Verfassungsgerichts in das staat25 Aja/Gonzdlez Beilfuss, in: Aja (Hrsg.), Las tensiones entre el TC y el Legislador en Ia Europa actual, S. 288. 26 Vgl. Heun, S. II, 12, sowie dessen Literaturnachweise zu dieser Thematik auf S. II Fn. 8. 27 Vgl. L6pez Atvarez, in: Bronfman Vargas u.a. (Hrsg.), Manual de Derecho Constitucional Bd. 2, S. 334, der das Problem der Gesetzeskontrolle durch das Verfassungsgeeicht in dessen Selbstkontrolle verankert und bei der Lösung dieser Problematik auf die Richter als solche vertraut. 28 Tonuis y Valiente, in: Arozamena Sierra u. a., Jurisdicci6n Constitucional en Espaiia, S. 32, 33. 29 Vgl. Heun, S. 12, 13.

A. Einführung

25

liehe Machtgefüge. Die Funktionsbestimmung des Verfassungsgerichts ergibt sich wiederum aus einer Vielfalt von Aspekten, wie den verfahrensrechtlichen Kompetenzen des Verfassungsgerichts, dem Inhalt der Verfassung als verfassungsgerichtlichem Prüfungsmaßstab, dem tatsächlichen Bestand der zu überprüfenden Rechtsordnung und der Funktionswahrnehmung der übrigen staatlichen Gewalt. Der funktionell-rechtliche Ansatz findet sich daher bei der Analyse der Ausgangsbedingungen, der Ausübung und der Wirkung der Verfassungsrechtsprechung30, welche hier für das spanische Verfassungsgericht durchgeführt werden soll. II. Geschichte und europäischer Kontext des spanischen Verfassungsgerichts Zum besseren Verständnis des spanischen Verfassungsgerichtsbarkeitssystems wird dieses zunächst im Lichte seines geschichtlichen und europäischen Zusammenhangs beleuchtet. 1. Die europäischen Verfassungsgerichte

Das spanische Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional), das sich im Juli 1980 konstituierte31 , ist eines der jüngsten in Westeuropa32 • Im Vergleich zu den übrigen "besonderen" bzw. konzentrierten europäischen Verfassungsgerichten33 wird dem spanischen Verfassungsgericht aufgrund der breit angelegten verfahrensrechtlichen Möglichkeiten zu einer abstrakten Kontrolle von mancher Seite unterstellt, eine größere politische Natur aufzuweisen. 34 Die Verfassung von 1978 und das Verfassungsgerichtsgesetz vom 3. Okt. 197935 zeigen Einflüsse insbesondere der deutschen und italienischen Verfassungs(gerichts )systeme. 36 Die in der spanischen Verfassung gewährleisteten Grundrechte und Grundfreiheiten sind unter Berücksichtigung der EuroVgl. Heun, S. 17, 18. Vgl. EI Tribunal Constitucional, Acto solemne de Constituci6n del Tribunal Constitucional y otros documentos, Presidencia del Gobierno (Hrsg.), S. 7. 32 Österreich 1919, Bundesrepublik Deutschland 1951 , Italien 1956, Frankreich (Verfassungsrat) 1958, Türkei 1962, ehern. Jugoslawien 1963, Griechenland 1975, Portug_al 1982, (Belgien 1984), Polen 1986, Ungarn 1990, Tschech. Republik 1991, (vgl. Uberblick bei Zier/ein, EuGRZ 1991, S. 341). 33 "( .•• ) das sind die für ihre besondere Aufgabe konzipierten eigenständigen Gerichte" Faller, EuGRZ, 1986, S. 42. 34 So Perez Royo, in: EI Tribunal, Bd. 3, S. 2203. 35 Ley Organica del Tribunal Constitucional, LOTC, BOE 23911979 vom 5. Oktober, S. 23186. 30

31

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

päischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und der übrigen von Spanien ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen und Übereinkommen auszulegen (Art. 10 Abs. 2 CE). 37 Außerdem orientiert sich der Tribunal Constitucional an der Rechtsprechungspraxis des Straßburger Gerichtshofs für Menschenrechte38 und lässt vergleichende Erwägungen insbesondere bezogen auf die italienische Corte costituzionale39 und das deutsche Bundesverfassungsgericht40 in die Begründungen seiner Urteile einfließen.

36 Cruz Villa/on, in: Starck (Hrsg.) Grundgesetz und Verfassungsrechtsprechung, S. 199, Guerrera Roig, Revista juridica de Castilla-La Mancha 3/4 (1988), S. 536, Truyol y Serra, in: Stern (Hrsg.) 40 Jahre Grundgesetz, S. 235, 236, Knaak, S. 53 (für Verfassungsgerichtsbarkeit) und S. 274 ff. 37 Art. I 0 Abs. 2 CE: "Die Normen, die die von den der Verfassung anerkannten Grundrechte und -freiheiten betreffen, werden in Übereinstimmung mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie den von Spanien ratifizierten völkerrechtlichen Verträgen und Übereinkommen, die diese Materie betreffen, ausgelegt." 38 In seinem Urteil 34/81/3 c führt das Verfassungsgericht beispielsweise aus: "Die vorigen Überlegungen reflektieren außerdem die Kriterien, die durch den Gerichtshof für Menschenrechte in verschiedenen Urteilen, wie denen vom 23. Juli 1968 und vom 27. Oktober 1975 eingeführt wurden, bei denen er darauf hinwies, dass dann eine Diskriminierung vorliegt, wenn die unterschiedliche Behandlung einer Sache einer objektiven und vernünftigen Rechtfertigung entbehrt; dabei bekräftigt er, dass die Existenz einer solchen Rechtfertigung beurteilt werden muss anhand der Relation zwischen Zielsetzung und den Folgen der angestrebten Mittel, wobei diese Verknüpfung eine vernünftige Proportionalität zwischen angewandten Mitteln und dem angestrebten Ziel aufweisen muss." 39 Vgl. STC 36/82/6; dort Verweis auf das Urteil 54/1961 des italienischen Verfassungsgerichtshofes. 40 In seinem Urteil 4/81/l über die Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts gegenüber vorkonstitutionellen Gesetzen beispielsweise nimmt das spanische Verfassungsgeeicht Bezug auf die deutsche Rechtslage: "Was das System der Bundesrepublik Deutschland betrifft, ist anzumerken, dass das Bonner Grundgesetz durchaus eine Klausel zur Abschaffung (Art. 123) beinhaltet und dass das Bundesverfassungsgericht sich für zuständig erklärt hat für die abstrakte Normenkontrolle gegenüber Gesetzen, die zeitlich dem Grundgesetz vorangingen (Urteil vom 24. Februar 1953), eine Kompetenz, die es zur Nichtigerklärung einiger solcher Gesetze verwendet hat (Urteil vom 5. August 1966). Auf der anderen Seite hat es sich für unzuständig gehalten, im Rahmen der konkreten Normenkontrollen über vorkonstitutionelle Gesetze zu entscheiden, es sei denn, diese sind willentlich durch den nachkonstitutionellen Gesetzgeber aufgenommen worden." Auch in STC 53/85 über die Verfassungsmäßigkeit der Abtreibungsregelung im spanischen Strafgesetzbuch nimmt der Tribunal Constitucional Bezug auf das Urteil 39, l ff. des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1975.

A. Einführung

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2. Der historische "Vorgänger" des heutigen Tribunal Constitucional Der "Vorläufer" des heutigen Tribunal Constitucional ist der Verfassungsgerichtshof der zweiten spanischen Republik (1931-1963 ), der als Gerichtshof für Verfassungsgarantien41 (Tribunal de Garantlas Constitucionales) bezeichnet und 193342 errichtet wurde. Dieser Gerichtshof konnte sich jedoch in der angespannten politischen Lage der 30er Jahre nicht durchsetzen. Ein von Katalonien im Februar 1934 verabschiedetes Agrargesetz wurde vom Gerichtshof durch Urteil vom 8. Juni 1934 für verfassungswidrig erklärt. Mit der erneuten Verabschiedung desselben Gesetzes drei Monate später durch das Parlament von Katalonien trat die Bedeutungs- und damit einhergehende Wirkungslosigkeit dieser Institution offen zutage. 43 Trotz der Nichtbewährung dieses Verfassungsgerichts bestand bei den Debatten zur Schaffung der Konstitution von 1978 im wesentlichen Einigkeit über die Einführung eines Verfassungsgerichts in einem eigenen Titel der Verfassung. 44 Aufgrund der negativen geschichtlichen Erfahrung dieser verfassungsgerichtlichen Institution bemühte sich das spanische Verfassungsgericht von Anfang an, seine ihm eigene Stellung und Funktion klarzustellen. 3. Die Rechtsprechungspraxis des spanischen Verfassungsgerichts

Am 26. Januar 1981 fällte der Tribunal Constitucional sein erstes Urteil45 und kann daher auf 20 Jahre Rechtsprechungspraxis zurückblicken. Insbesondere in den ersten Entscheidungen, die gewöhnlich eine prinzipielle Bedeutung für die zukünftige Stellung des Verfassungsgerichts haben, macht er Ausführungen zu seinen Aufgaben und zu seiner Funktion und präzisiert im Laufe der Zeit anband der verschiedenen Fälle, die ihm zur Entscheidung vorgelegt werden, diese Aussagen. 46 Faller, EuGRZ 1979, S. 238. Ley del Tribunal de Garantlas Constitucionales vom 14. Juni 1933; vgl. Rubio Llorente, Revista de Derecho Politico 16 (1982/83), S. 31. 43 Rubio Llorente, in: Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa Bd. I, S. 247. 44 Vgl. Rubio Llorente, Revista de Derecho Politico 16 (1982/83), S. 34. 45 Vgl. chronologischen Index der Gesetzesausgabe "Constituci6n y Tribunal Constitucional" von Civitas 14 1998, S. 181; ebenso Cruz Villal6n, ZaöRV 43 (1983), s. 71. 46 Vgl. auch Cruz Villa/on, ZaöRV 43 (1983), S. 72, L6pez Garrido, Revista de Derecho PUblico 13 (1982), S. 199: "En el primer aiio de jurisprudencia del Tribunal Constitucional espaiiol (...) ha habido una tarea prioritaria en su Iabor interpretadora: Ia fijaci6n de su ambito funcional y competencial". 41

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l. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Der Urteilsstil des spanischen Verfassungsgerichts zeichnet sich durch seine weit ausholenden und erklärenden Erläuterungen zu seinen Entscheidungen aus47, in denen er beispielsweise auf die Funktion der Verfahrensarten, auf die Beweggründe für die mit deren Entscheidung verbundenen Rechtsfolgen sowie sein eigenes Selbstverständnis eingeht. Seiner Rechtsprechung kommt insoweit eine "verfassungspädagogische Funktion" zu48 . 111. Die Schwerpunkte der Untersuchung

Ausschlaggebend für das wirkliche Verhältnis dieser Verfassungsorgane zueinander sind auf der einen Seite die Kontrollmöglichkeiten de lege lata und die konkrete Entscheidungspraxis des jeweiligen Verfassungsgerichts auf der anderen Seite. Gerade durch die jeweilige Spruchpraxis gewinnt der jedem Verfassungsgericht zugewiesene Rahmen seiner Kompetenzen erst seine näheren Konturen.49 Diese verfassungsgerichtliche Realität soll die Grundlage dieser Arbeit bilden, um hieran anknüpfend die Kontrolle des Gesetzgebers durch das spanische Verfassungsgericht aufzuzeigen. Der Einführung in die Themenstellung folgen eine Erläuterung des Gesetzgebers in seinem Verhältnis zum Verfassungsgericht und die Bestimmung der Stellung des Verfassungsgerichts innerhalb des Staatsgefüges, wie sie sich aus den Verfassungsvorschriften und seinem Selbstverständnis ablesen lässt. Hieran schließt sich die Erörterung des Prüfungsgegenstandes des Verfassungsgerichts als des Kontrollorgans des Gesetzgebers an sowie eine kurze Darstellung der verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten, die für die Kontrolle des Gesetzgebers maßgeblich sind. Das folgende Kapitel untersucht die konkrete Ausgestaltung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Ausgehend von der Frage, inwieweit die Verfassungsinhalte für den Gesetzgeber eine Rolle spielen, wird zwischen den formellen und den materiellen Anforderungen der Verfassung an die Gesetzgebung differenziert und erläutert, inwiefern die Verfassungsvorgaben sich auch auf die Intensität der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auswirken.

47 Faller, EuGRZ 1986, S. 53, ebenso Rubio Llorente, in: Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa Bd. I, S. 254, 274. 48 Cruz Villa/on, ZaöRV 43 (1983), S. 99. 49 Vgl. ebenso Haller, DÖV 33 (1980), S. 465, vgl. auch Aragon Reyes. Revista de estudios poHticos 7 ( 1997), S. 194: "La funcionalidad del Tribunal Constitucional se Iograra solo en Ia medida en que consiga crear una doctrina juridicamente irreprochable".

B. Der Tribunal Constitucional als Kontrollorgan des Gesetzgebers

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Nach der Übersicht über das weite Spektrum der Folgen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen wird versucht, anband einzelner Urteile nachzuvollziehen, wie das spanische Verfassungsgericht die gesetzgebensehen Regelungen korrigiert. Unterschieden wird dabei zwischen einer Korrektur durch die Entscheidung selbst und solchen Entscheidungen, in denen sich das Verfassungsgericht an den Gesetzgeber mit einer Aufforderung zum Tätigwerden wendet. Schließlich wird die Frage nach Sanktionsmöglichkeiten für die Fälle gestellt, in denen derartige Appelle nicht zum gewünschten Erfolg führen. Im dritten und abschließenden Kapitel wird die tatsächliche Umsetzung verfassungsgerichtlicher Vorgaben durch den Gesetzgeber erörtert und eine Gesamtbilanz aus der dargestellten Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht für das Verhältnis dieser zwei Verfassungsorgane gezogen.

B. Der Tribunal Constitucional als Kontrollorgan des Gesetzgebers Es wird vertreten, dass die Kontrolle der gesetzgebensehen Tätigkeit als einzige zum Wesen der (konzentrierten) Verfassungsgerichtsbarkeit gehört50 und die Existenz des Verfassungsgerichts gerade mit der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze begründet wird.51 Unabhängig davon, ob allein die Gesetzeskontrolle als notwendige Essenz der Verfassungsrechtsprechung zu begreifen ist, gehört die Prüfungskompetenz gegenüber dem Gesetzgeber zu den wesentlichen Aufgaben des spanischen Verfassungsgerichts. I. Gesetzgeber und seine Handlungsformen Hierzu wird dargelegt, wer in Spanien die Legislativgewalt ausübt und in welchen Gesetzes"typen" sich die Ausübung der Legislativgewalt äußern kann. Anschließend wird darauf eingegangen, auf was sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers bezieht. 50 Perez Royo, Revista juridica de Castilla-La Mancha 3/4 (1988), S. 102: "Pues, a fin de cuentas, controlar los actos del legislador es lo unico que pertenece a Ia esencia de Ia Justicia Constitucional." 51 Perez Royo, aaO, S. 103: "Pero existir existe por el control de constitucionalidad de Ia ley y nada mas.", vgl. auch Umfrage Nr. 2309 der CIS vom Dez. 1998 im Boletin 20, April/Juni 1999 auf: www.cis.es/boletfn\20/democracia.html, S. 7, in der 37% die Vermeidung von verfassungswidrigen Gesetzen als wichtigste Funktion des Verfassungsgerichts ansehen, 35% hingegen den Individualrechtsschutz angeben und 28% keine Stellung hierzu nehmen.

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l. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

I. Die veifassungsrechtliche Funktion des Gesetzgebers Die Zuweisung der Aufgabe der Gesetzgebung in Spanien ergibt sich aus der Verfassung von 1978. a) Die Legislativgewalt der Parlamente Die spanische Verfassung, die in zehn Titel gegliedert ist, widmet sich in ihrem dritten Titel52 den Cortes Generales, dem spanischen Parlament. Ihm wird im Art. 66 Abs. 2 CE53 die Ausübung der Legislativgewalt, d.h. die Aufgabe der Gesetzgebung zugewiesen. Umstritten ist, ob auch der Regierung mit der Möglichkeit, Decretos Leyes (Gesetzesdekrete), die vom Abgeordnetenhaus noch bestätigt werden müssen, und Decretos Legislativos (gesetzgebende Beschlüsse) zu erlassen, eine beschränkte Legislativgewalt zusteht, oder ob diese Akte als Bestandteil der Exekutivgewalt anzusehen sind. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Grenzen dieser beschränkten "Gesetz"gebungsgewalt soll jedoch bei der vorliegenden Untersuchung ausgeklammert werden, da deren Erörterung zu weit führen würde. Auch die Autonomen Gemeinschaften (Comunidades Aut6nomas)54 haben Legislativgewalt, die sie durch ihre gesetzgebenden Versammlungen (Asambleas legislativas) ausüben55 , jedoch ist ihre Zuständigkeit auf die von der Verfassung (Art. 148 CE) und ihrem Statut (vgl. Art. 147 CE) aufgeführten Materien auf der einen Seite und auf den ihnen von den Cortes Generales durch Gesetz zugewiesenen Rahmen (Art. 150 CE, leyes marco, leyes de armonizaci6n) eng begrenzt. 56 Nach den Grundrechten und -pflichten sowie den Regelungen zur Krone. Constituci6n Espaiiola. 54 Spanien ist ein Regionalstaat, bei dem im Unterschied zum Bundesstaat die einzelnen Regionen keine Staatsqualität haben. 55 Art. 152 CE, vgl. auch Sanchez Agesta, Sistema polftico de Ia CE de 1978, s. 330, 338. 56 Art. 149 Abs. 3 der Verfassung bestimmt: "Die Materien, die nicht ausdrücklich dem Staat durch diese Verfassung zugewiesen sind, können den Autonomieregionen gemäß ihren jeweiligen Statuten zustehen. Die Kompetenz für Materien, die nicht in den Statuten Aufnahme gefunden haben, steht dem Staat zu (.. .). Das staatliche Recht ergänzt subsidiär in jedem Fall das Recht der Autonomen Gemeinschaft." Darüber hinaus bestimmt Art. 150 Abs. 3 S. I CE: "Der Staat kann Gesetze erlassen, die die notwendigen Prinzipien festlegen, um die normativen Vorschriften der Autonomen Gemeinschaften zu harmonisieren. Dies gilt auch für Materien, die den Autonomen Gemeinschaften ausschließlich zugewiesen sind, sofern es das Allgemeininteresse erfordert." 52

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B. Der Tribunal Constitucional als Kontrollorgan des Gesetzgebers

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Die Cortes Generales setzen sich aus zwei Kammern zusammen, dem Abgeordnetenhaus (el Congreso de los Diputados) und dem Senat (el Senado).57 b) Die Aufgabe des Gesetzgebers gemäß der Verfassung Die gesetzgebensehen Aufgaben ergeben sich aus der Verfassung. Diese bestimmt allgemein (Art. 1 Abs. 1 CE), dass "Spanien ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat ist, der sich zu Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und dem politischen Pluralismus als die obersten Werte seiner Rechtsordnung bekennt. "58 Als Teil der öffentlichen Gewalt sind die Cortes Generales sowie die Regionalparlamente gemäß Art. 9 Abs. 1 CE an die Verfassung gebunden. Als solche obliegt ihnen die Aufgabe, die "Bedingungen dafür herzustellen, dass die Freiheit und Gleichheit der Einzelnen und der Vereinigungen, zu denen sie sich zusammenschließen, real und wirksam sind, die Hindernisse, die ihre volle Entfaltung unterbinden oder erschweren, zu beseitigen und die Teilnahme aller Bürger am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen" (Art. 9 Abs. 2 CE). Der Grundrechtsteil der spanischen Verfassung befindet sich im zweiten Kapitel des ersten Titels. Im vierten Kapitel des ersten Titels der Verfassung (Art. 53, 54) wird die Gewährleistung dieser Grundrechte und Freiheiten besonders verankert. Art. 53 Abs. 1 S. 2 CE bestimmt diesbezüglich ausdrücklich, dass "nur durch Gesetz, das in jedem Fall den Wesensgehalt respektieren muss, die Ausübung der Rechte und Freiheiten geregelt werden kann". Sowohl für Eingriffe als auch für die Ausgestaltung der Grundrechte wird damit ein Gesetzesvorbehalt statuiert. Nicht nur bei Eingriffen in Grundrechte ist der Gesetzgeber an diese unmittelbar gebunden, sondern ihm obliegt auch deren aktive Ausgestaltung. Die verfassungsrechtlichen Aufgaben des Gesetzgebers finden sich in ihrer positiven Komponente in Form von Aufträgen, in ihrer negativen Ausprägung als Verbot, die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen zu beschränken, wieder. Problematisch ist hierbei, inwiefern der verfassungsrechtlich auferlegten Funktion zur Ausgestaltung und Ausstattung der Grundrechte Gesetzgebungspflichten innewohnen. 59

57

58 59

Art. 66 Abs. 1 CE.

Übersetzung übernommen von Umbach, EuGRZ 1979, S. 231. G6mez Puente, Revista de Derecho Administrativo 84 (1994), S. 633.

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

2. Die Gesetzgebungsakte

Während in der deutschen Rechtsdogmatik im Hinblick auf die verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten zwischen den Gesetzen nicht näher differenziert wird, ist in der spanischen Verfassungsordnung die Unterscheidung zwischen sog. Organgesetzen (auch als Verfassungsgesetze oder qualifizierte Gesetze bezeichnet)60 und den übrigen Gesetzen zu unterscheiden. Die gesetzgebensehe Tätigkeit, d.h. der Erlass von Gesetzen kann sich im spanischen Recht in verschiedenen Formen äußern. Während die einfachen Gesetze der Autonomen Gemeinschaften nicht weiter differenziert werden61 , können auf staatlicher Ebene verschiedene Gesetzestypen aufgrund inhaltlicher Kriterien voneinander abgegrenzt werden. Im wesentlichen62 kann hier im Bereich der Normen mit Gesetzesrang zwischen sog. Organgesetzen (Leyes Organicas)63 , gewöhnlichen Gesetzen (Leyes ordinarias)64, und den gesetzesvertretenden Verordnungen 65 (Decretos-Leyes, auch als "Normen mit vorläufiger Gesetzeskraft" bzw. "Gesetzesverordnungen"66 oder "Gesetzesdekrete"67 bezeichnet) unterschieden werden. 60 Faller, EuGRZ 1979, S. 239, vgl. auch L6pez-Pina, KritVj 73 (1990), S. 36; anders jedoch Roellecke, KritVj 74 (1991), S. 76, der mit dem Begriff der Verfassungsgesetze allein eine Verfassungsreform bezeichnet. 61 Die Statute der Autonomen Gemeinschaften stellen einen Sonderfall dar. Sie müssen vom Staat selbst verabschiedet werden und sind daher nicht den übrigen Gesetzen der Autonomen Gemeinschaften gleichgestellt. 62 Haushaltsgesetze (Presupuestos Generales del Estado) sollen bei dieser Kategorisierung z. B. außer Betracht bleiben. 63 Organgesetze (Legaldefinition Art. 81 Abs. l CE) sind solche, die "sich auf die Entfaltung der Grundrechte und der öffentlichen Freiheiten beziehen sowie diejenigen, die die Autonomiestatute und das allgemeine Wahlrecht regeln und alle anderen in der Verfassung ausdrücklich als solche qualifizierten Gesetze" (z. B. Zustimmungsgesetz für internationale Verträge, Art. 93 CE). Diese betreffen meist die Einrichtung und Verfahren von Verfassungsorganen, woraus auch der Name "organicas" verständlich wird. Vgl. Roellecke, KritVJ 74 (1991), S. 77. 64 Art. 90 CE, der das Gesetzgebungsverfahren im Parlament behandelt, unterscheidet nur zwischen ley ordinaria und organica. Allgemein ausgedrückt befassen sich diese Gesetze mit allen Materien, die nicht Organgesetzen vorbehalten sind. Teilweise haben sich für einzelne Regelungsbereiche spezifische Bezeichnungen innerhalb dieser Kategorie herausgebildet: leyes de bases (Ermächtigungsgesetz zur Gestaltung bestimmter Texte für die Regierung, Art. 82 Abs. 2 CE), ley marco (Rahmengesetz für die Ausübung der Legislativgewalt der autonomen Gebietskörperschaften, Art. 150 Abs. l CE), leyes de armonizaci6n (Gesetze über notwendige Prinzipien zur Harmonisierung der normativen Vorschriften der autonomen Gebietskörperschaften, Art. 150 Abs. 3 CE). 65 Art. 86 CE; Übersetzung übernommen aus Cruz Villal6n, ZaöRV 43 (1983), s. 103. 66 Weber, in: Horn/Weber (Hrsg.), Richterliche Verfassungskontrolle, S. 62, 63. 67 So die Bezeichnung bei Ritterspach, in: FS Zeidler, S. 30.

B. Der Tribunal Constitucional als Kontrollorgan des Gesetzgebers

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Letztere sind Akte der Regierung, die im Fall der außerordentlichen und dringlichen Notwendigkeit von der Regierung erlassen werden können68, innerhalb von 30 Tagen jedoch ihrer Bestätigung oder Verwerfung durch das Plenum des Abgeordnetenhauses bedürfen (Art. 86 Abs. 2 CE). Da bis zu diesem Beschluss die Akte als "provisorische Gesetzesakte" (disposiciones legislativas provisionales) bezeichnet werden (Art. 86 Abs. 1 CE) und für deren weitere Geltung zwingend ein Parlamentsbeschluss vorgeschrieben ist, werden diese Normen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung der gesetzgebensehen Tätigkeit zugerechnet.69 Für die Organgesetze ist eine absolute Mehrheit erforderlich (Art. 81 Abs. 2 CE), während ansonsten grundsätzlich eine einfache Mehrheit für die Beschlüsse der Kammern ausreichend ist (Art. 79 Abs. 2 CE). Den so genannten Organgesetzen kommt aufgrund ihrer Funktion, die Verfassungsnormen auszuführen, 70 eine besondere Bedeutung zu. Diese hat ihren Niederschlag in den verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten gefunden, da ihnen gegenüber zunächst (1979-1985) bereits eine präventive Kontrolle möglich war. Im Folgenden soll auf das Verfassungsgericht eingegangen werden, das als einziges Verfassungsorgan zur Kontrolle des Gesetzgebers berufen ist. II. Die Stellung des Tribunal Constitucional in der Verfassung, gemäß dem Verfassungsgerichtsgesetz und laut seiner eigenen Aussagen Ausgangspunkt für eine Kontrolle durch das Verfassungsgericht ist zunächst dessen Rollenverständnis, wie es ihm sowohl durch die Verfassung und das Verfassungsgerichtsgesetz zugewiesen ist, als auch wie es von ihm selbst vertreten wird. 1. Die verfassungsrechtliche Stellung des Verfassungsgerichts

Die Stellung des Verfassungsgerichts in der Verfassung wird insbesondere durch Systematik und Inhalt der einschlägigen Regelungen bestimmt.

68 Diese dürfen auch nicht die Ordnung der grundlegenden Staatsinstitutionen, die im ersten Titel der Verfassung niedergelegten Rechte, Pflichten und Freiheiten der Bürger, die Ordnung der Autononlien und das allgemeine Wahlrecht betreffen, vgl. Art. 86 Abs. I CE. 69 Vgl. Almagro Nosete, S. !53 ff., Sdnchez Agesta, Sistema polftico de Ia CE de 1978, s. 330. 70 Roellecke, KritVj 74 (1991), S. 77. 3 Grau

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

a) Systematische Stellung Die spanische Verfassung von 1978 widmet dem Tribunal Constitucional eigens den Titel IX (Art. 159-165 CE), getrennt von den Regelungen zur rechtsprechenden Gewalt in Titel Vt1 1 Aus dieser Verfassungssystematik leitet das Verfassungsgericht ab, dass es nicht als Teil der Judikative anzusehen ist, sowie dass es abseits der Organisation der Gerichtshöfe steht. Auch stellt es klar, dass die Beurteilung der gesetzgebensehen Gewalt nicht der Judikative, sondern dem Verfassungsgericht obliegt. 72 Diese Stellung des Verfassungsgerichts verhindert seine Einordnung in das klassische System der Gewaltenteilung. Indem es sich nicht der Judikative zuordnen lässt, stellt es sich als vierte Gewalt neben den drei klassischen Gewalten, der Legislative, der Exekutive und der Judikative dar. 73 Während der letzte Titel der spanischen Verfassung, Titel X, die Möglichkeiten einer Verfassungsreform regelt, schließt der vorletzte Titel, der das Verfassungsgericht betrifft, das von der Verfassung entworfene Bild des staatlichen Gefüges ab. Er stellt damit eine Art Schlusspunkt74 und Schlüsselfigur75 für die verfassungsrechtliche Ordnung dar. Stellung und Bedeutung des Verfassungsgerichts werden durch diese Plazierung besonders hervorgehoben. 76 b) Inhaltliche Bestimmungen Die Art. 159-165 CE beinhalten neben der Aufforderung an den Gesetzgeber zum Erlass eines Verfassungsgerichtsgesetzes die Regelungen über die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts, die Verfahrensarten und deren Antragsberechtigte sowie Bestimmungen zu den Urteilen, welche im spanischen Staatsblatt (Boletfn Oficial del Estado) samt Sondervoten zu 71 Bei den Beratungen für das Bonner Grundgesetz auf Herrenchiemsee wurde noch erwogen, das Bundesverfassungsgericht in einem eigenen Abschnitt aufzuführen. Letztendlich entschied man sich aber dafür, das Bundesverfassungsgericht zusammen mit den Bundesgerichtshöfen gemeinsam (Art. 92 GG) der rechtsprechenden Gewalt zuzuordnen. Während die deutsche Verfassung im Allgemeinen einen großen Einfluss auf die spanische ausübte, wurde dieses Regelung bewusst nicht übernommen; vgl. Die Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes in JöR I (1951), S. 664. 72 STC9/81/l. 73 Die Zuordnung des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur rechtsprechenden Gewalt durch Art. 92 GG, § I Abs. I BVerfGG wird beispielsweise als Ansatzpunkt zur Funktionsbestimmung des Verfassungsgerichts herangezogen, vgl. Kleuker, S. 20. 74 Sanchez Agesta, Sistema polftico de Ia CE de 1978, S. 437. 75 L6pez Guerra, S. 255. 76 Vgl. auch Ritterspach, in: FS für Zeidler, S. 33.

B. Der Tribunal Constitucional als Kontrollorgan des Gesetzgebers

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veröffentlichen sind. Außerdem ergibt sich die erga-omnes-Wirkung der verfassungsgerichtlichen Urteile bereits aus der Verfassung. 77 Die wichtigsten78 Verfahren, die dem spanischen Verfassungsgericht in der Verfassung zugewiesen sind, sind die abstrakte (recurso de inconstitucionalidad, Art. 161 Abs. 1 lit. a CE) und die konkrete (cuesti6n de inconstitucionalidad, Art. 163 CE) Normenkontrolle, die Verfassungsbeschwerde (recurso de amparo, Art. 161 Abs. 1 lit. b CE) und die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Staat und Autonomen Gemeinschaften bzw. zwischen den Autonomen Gemeinschaften untereinander (Art. 161 Abs. 1 lit. c CE). Außerdem kann das Verfassungsgericht auf Antrag der Regierung oder einer der Kammern die Vereinbarkeil von internationalen Verträgen mit der Verfassung vor deren Ratifizierung überprüfen (Art. 95 Abs. 2 CE).

2. Die Funktion des Tribunal Constitucional gemäß dem Veifassungsgerichtsgesetz (LOTC) Im Verfassungsgerichtsgesetz von 1979 (LOTC79 ) werden weitere Aussagen über die Funktion des Tribunal Constitucional formuliert. a) Oberster Interpret (interprete supremo) (Art. 1 Abs. I LOTC) Art. 1 Abs. 1 des spanischen Verfassungsgerichtsgesetzes stellt fest, dass das Verfassungsgericht als oberster Interpret der Verfassung unabhängig von den übrigen Verfassungsorganen ist und allein der Verfassung und dem vorliegenden Organgesetz (Verfassungsgerichtsgesetz) unterworfen ist. 80 Wesentlicher Bestandteil dieser Funktion als oberstes Auslegungsorgan der Verfassung ist die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der übrigen 77 Art. 164 Abs. I S. 3 CE: "Die (Urteile), die die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder einer Norm, die Gesetzeskraft hat, erklären sowie alle, die sich nicht auf die subjektive Anerkennung eines Rechts beschränken, besitzen volle Wirkungskraft gegenüber allen (plenos efectos frente a todos)." Vgl. auch die deutsche Regelung: Laut Bonner Grundgesetz müssen erst durch das Verfassungsgerichtsgesetz die Fälle bestimmt werden, in denen die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetzeskraft haben (Art. 94 Abs. 2 S. I GG, § 31 Abs. 2 BVerfGG). 78 Cruz Villa/on, ZaöRV 43 ( 1983), S. 74, 75. 79 Das Verfassungsgerichtsgesetz ist das erste der Organgesetze, die von dem Parlament zur "Ausführung" der Verfassung erlassen wurde, vgl. Peces-Barba Mart{nez, in: EI Tribunal Constitucional Bd. 3, S. 2039: "Ese mandato (del art. 165) se ha cumplido con la Ley Organica del Tribunal Constitucional que es Ia primera aprobada por las Cortes Generales en desarrollo de Ia Constituci6n." 80 Art. I Abs. 1 LOTC: "EI Tribunal Constitucional como interprete supremo de la Constituci6n, es iodependiente de los demas 6rganos constitucionales y esta sometido solo a la Constituci6n y a Ia presente Ley Organica".

3*

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Rechtsordnung. 81 Zwar kann sich auch in Form eines Gesetzes die Auslegung der Verfassung äußem,82 doch stellt dies nicht die letztverbindliche Verfassungsinterpretation dar. Insbesondere bei dieser Kontrolle verwirklicht sich die Rolle des Verfassungsgerichts als oberste Interpretationsinstanz. b) Die Garantie des Verfassungsvorrangs (Art. 27 Abs. 1 LOTC) Die Aufgabe zur Überprüfung der Verfassungskonformität der Gesetze wird im LOTC explizit aufgeführt. Gemäß Art. 27 Abs. 1 LOTC "garantiert das Verfassungsgericht durch die Normenkontrollverfahren ( . . .) den Vorrang der Verfassung"83 . Ergänzend muss hier erwähnt werden, dass das spanische Verfassungsgericht auch die Statuten der Autonomen Gemeinschaften als Maßstab für die Beurteilung der Verfassungskonformität heranzieht. Diese sind Bestandteil des sog. "bloque de constitucionalidad" (vgl. Art. 28 Abs. 1 LOTC). 84 Die bereits erwähnte Bezeichnung des Verfassungsgerichts als negativer Gesetzgeber85 ist auf die Möglichkeiten der Normenkontrolle zurückzuführen, in denen die vom "positiven" Gesetzgeber erlassenen Regelungen aufgehoben werden können. Hüter (Art. 27 Abs. 1 LOTC) und höchstes Auslegungsorgan (Art. 1 Abs. 1 LOTC) der Verfassung sind demnach die Eigenschaften, die dem Verfassungsgericht im Verfassungsgerichtsgesetz zugeschrieben werden.

81 Peces-Barba Mart{nez, in: EI Tribunal Constitucional Bd. 3, S. 2063: "A traves del control de constitucionalidad se expresa Ia funci6n del Tribunal Constitucional como interprete maximo y definitvo de Ia Constitucfon como norma juridica basica y SUperior de) Ordenamiento juridico y Se preserva esta frente a las vio]aciones procedentes del Iegislador ordinario." 82 Ehmke, VVDStL 20 (1963), S. 68, 69. 83 Art. 27 Abs. I LOTC: ,,Mediante los procedimientos de declaraci6n de inconstitucionalidad (. . .) e1 Tribunal Constitucional garantiza Ia primacfa de Ia Constituci6n". 84 Vgl. zum Begriff des bloque de constitucionalidad auch Anm. 91. Dieser Aspekt wird in der spanischen Rechtsliteratur betont, wenn die Reichweite der spanischen Verfassungsgerichtskompetenzen als die weitestgehende der bestehenden Verfassungsgerichtssysteme beschrieben wird.; vgl. Garda de Enterr{a, in: EI Tribunal Constitucional, Bd. l, S. 38, 39. Im Vergleich hierzu werden im deutschen Verfassungsgerichtssystem in der Regel (bis auf Schleswig-Holstein) die Konformität von Gesetzen mit der Landesverfassung von eigenen Landesverfassungsgerichten kontrolliert. 85 Kelsen, VVDStRL 5 (1929), S. 56.

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3. Das Selbstverständnis des spanischen Verfassungsgerichts

Besondere Bedeutung für die Rechtsprechungspraxis des Verfassungsgerichts kommt seinem eigenen Selbstverständnis zu. Die Auffassung, die das Verfassungsgericht von seiner eigenen Rolle im Verfassungsgefüge hat, findet in den verfassungsgerichtlichen Urteilen seinen Niederschlag. Die Vorstellung über seine eigene Funktion beeinflusst wiederum seine Rechtsprechungspraxis. 86 a) Betonung der Funktion als oberster Verfassungsinterpret Im Rahmen seiner Rechtsprechungspraxis führt das spanische Verfassungsgericht wiederholt seine Funktion als höchster Interpret der Verfassung (interprete supremo) an. Dadurch, dass seine Auslegung alle öffentliche Gewalt bindet, stellt es seine Stellung und Aufgabe gegenüber den anderen öffentlichen Gewalten klar. 87 So legt es zur Legitimation seiner Entscheidungen dar: .,Die Verfassung bestimmt nicht den Wesensgehalt der verschiedenen Rechte und Freiheiten. Die Streitigkeiten, die in dieser Hinsicht sich ergeben können, müssen von diesem Gericht gelöst werden, dem es als höchstem Verfassungsinterpreten (Art.l LOTC) obliegt, diese Bestimmung letztendlich und für jeden konkreten Fall zu treffen". 88 Da der Gesetzgeber die Grundrechte und Grundfreiheiten unter Berücksichtigung des Wesensgehalts auszugestalten hat (Art. 53 Abs. I S. 2 CE), sieht das Verfassungsgericht einerseits seine Aufgabe darin, zu überprüfen, dass die Regelungen des Gesetzgebers den Wesensgehalt respektieren (sog. positive Kontrolle), andererseits aber wacht das Verfassungsgericht auch darüber, ob überhaupt der Gesetzgeber die Grundrechte und Grundfreiheiten ausgestaltet hat (sog. negative Kontrolle). Die Kompetenz, den Wesensgehalt der einzelnen Grundrechte zu bestimmen, zeigt die fundamentale Bedeutung, die dem Verfassungsgericht zur Gewährleistung des verfassungsrechtlichen Inhalts zukommt.89 Vgl. auch Ebsen, S. 105. Vgl. auch Cruz Villal6n, ZaöRV 43 (1983), S. 73. 88 STC 37/81/2: .,No determina la Constituci6n cmil sea este contenido esencial de los distintos derechos y libertades, y las controversias que al respecto puedan suscitarse han de ser resueltas por este Tribunal al que, como interprete supremo de Ia Constituci6n (art. 1 de Ia Ley Organica del Tribunal Constitucional), corresponde, en ultimo termino y para cada caso concreto, llevar a cabo esa determina86 87

ci6n." 89

Vgl. auch G6mez Puente, Revista de Derecho Administrativo (84) 1994,

s. 633.

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Doch nicht nur über den materiellen Gehalt der Grundrechte und Grundfreiheiten beansprucht das Verfassungsgericht das letzte Wort. Hinsichtlich des Anwendungsbereiches der Basisgesetzgebung (leyes de base, Sonderform der leyes de marco) führt der Tribunal Constitucional beispielsweise aus: "Die Cortes haben zu bestimmen, was unter dem Begriff der Basis (base) zu verstehen ist, und im Falle der Notwendigkeit (d.h. bei streitigen Fällen, Anm. d. Verf.) steht diesem Tribunal in seiner Eigenschaft als oberster Verfassungsinterpret (Art. 1 LOTC) die Kompetenz zu, diese Aussage zu treffen. "90 Auch der Kompetenzbereich des Gesetzgebers, der sich größtenteils aus der Verfassung, teilweise erst aus dem Zusammenspiel mit den Statuten der autonomen Gebietskörperschaften ergibt, wird vom Verfassungsgericht überwacht. 91 Das Verfassungsgericht setzt damit die Verfassung gegenüber den durch die Verfassung konstituierten Gewalten92 durch. So sagt es über sich aus: "Dem Verfassungsgericht in seiner Funktion als oberstem Interpreten der Verfassung (Art. 1 LOTC) obliegt es, die dauerhafte Unterscheidung zu überwachen zwischen der Objektivierung der verfassunggebenden Gewalt und den Handlungen der konstituierten Gewalten, die nicht die durch die Verfassung festgelegten Grenzen und Zuständigkeiten überschreiten dürfen.'.93 In dieser sog. LOAPA-Entscheidung geht es um die Ley Organica de Armonizaci6n del Proceso Auton6mico (LOAPA), das Organgesetz zur Harmonisierung des Autonomieprozesses (Konsolidierung der Autonomen 90 STC 32/81/5: "Ciertamente no seni siempre facil Ia determinaci6n de que es lo que haya de entenderse por regulaci6n de las condiciones basicas o establecimiento de las bases del regimen juridico, y parece imposible Ia definici6n precisa y aprioristica de ese concepto. Las Cortes deberan establecer que es lo que haya de entenderse por basico, y en caso necesario sera este Tribunal el competente para decirlo, en su calidad de interprete supremo de Ia Constituci6n (art. l de Ia LOTC)"; ebenso wiederholt in STC l/82/l, vgl. auch Almagro Nosete, S. 43. 91 Die Gesamtheit derjenigen Regelungen, die das Verhältnis zwischen Staat und Autonomen Gemeinschaften genauer ausgestalten, wird als "bloque de constitucionalidad" bezeichnet. Dieser gegenüber der Verfassung erweiterte Kontrollmaßstab ergibt sich aus Art. 28 Abs. l LOTC. Die spanische Verfassung weist den Autonomen Gemeinschaften bestimmte Materien zur obligatorischen, andere zur fakultativen Regelung zu. Die Inanspruchnahme dieser Kompetenzen durch die Autonome Gemeinschaft muss sich dabei zusätzlich aus deren Statut ergeben, wodurch zur Beurteilung der Kompetenzverteilung auch die die Verfassung ausführenden Statuten als Messlatte für die verfassungsgerichtliche Überprüfung herangezogen werden. 92 Poderes constituidos. 93 STC 76/83/4: "Al Tribunal Constitucional en su funci6n del interprete supremo de Ia Constituci6n Je corresponde Ia distinci6n continua entre Ia objetivaci6n del poder constituyente y los actos de los poderes constituidos que no pueden ir mas alla de los lfmites y competencias determinados por Ia Constituci6n."

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Rechtsordnungen). Dieses knüpft an Art. 150 Abs. 3 CE an, der bestimmt: "Der Staat kann Gesetze erlassen, die die notwendigen Prinzipien bestimmen, um die nonnativen Vorschriften der autonomen Gebietskörperschaften, auch für den Fall der ihnen zustehenden Materien, zu hannonisieren, wenn das Allgemeininteresse dies erfordert". Hier wird u. a. Art. 2 LOAPA für verfassungswidrig erklärt, der als notwendigen Inhalt einer Grundsatzgesetzgebung die Nonnierung allgemeiner Kriterien bestimmt, um die grundlegende Gleichheit etc. zu gewährleisten.94 Damit wird nichts anderes ausgesagt, als ohnehin in der Verfassung bestimmt ist. Der Gesetzgeber greift hierbei einen Tenninus, den die Verfassung zur Abgrenzung der Zuständigkeiten verwendet, auf. Er schließt aber mit der gesetzlichen Definition, was unter dem Begriff der "base", d.h. der Grundlage zu verstehen ist, für diesen Verfassungsbegriff andere Interpretationsmöglichkeiten aus. 95 Das Verfassungsgericht führt dazu aus, dass die Cortes Generales nicht berechtigt sind, die Verfassung insoweit näher auszulegen, als dies inhaltlich allein eine Konkretisierung in Fonn einer Reduzierung des Verfassungstextes darstellt. "In diesem Fall setzt sich der Gesetzgeber unberechtigterweise an die Stelle, die dem Verfassungsgeber (poder constituyente) und dem Verfassungsgericht zusteht. "96 Gegenstand des Gesetzes, das auf der Grundlage einer Kompetenzzuweisung erlassen wird, ist die Ausübung dieser Kompetenz, nicht aber die Interpretation, was unter dieser Kompetenz zu verstehen ist. Diese Interpretation durch den Gesetzgeber würde nämlich andere Interpretationen ausschließen und damit die in der Verfassung enthaltene Aussage des Verfassungsgebers zur Kompetenzabgrenzung durch Gesetz ersetzen. Auch in STC 24/85 legt das Verfassungsgericht dar, dass der Gesetzgeber zwar die Grundsatzgesetzgebung (leyes de base) erlässt, die Festlegung, was darunter zu verstehen ist, aber allein dem Verfassungsgericht als höchstem Interpreten zusteht. 97 Damit wurde gleichzeitig dem Meinungsstreit, ob das Parlament als Organ, das den allgemeinen Willen ausdrückt, die Souveränität zur Verfassungsauslegung besitzt, ein Ende bereitet.98 Geradezu eifersüchtig bewahrt das Verfassungsgericht hier den Willen der Konstituante gegenüber den Übergriffen durch den Gesetzgeber, indem er ihm bestimmte Bereiche zur nonnativen Ausgestaltung entzieht. 99 94 95 96 97

98

Vgl. STC 76/83/6. Vgl. STC 76/83/7. STC 76/83/7. STC 24/85/8. Jimenez de Parga, Revista juridica de Castilla-La Mancha 3/4 (1988), S. 25.

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Die Funktion als höchstes Auslegungsorgan für die Verfassung rückt die Stellung des Verfassungsgerichts in die Nähe der verfassunggebenden Gewalt, womit es sich nicht mehr ohne weiteres in das klassische System der Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative einordnen lässt. Bereits der erste Präsident des spanischen Verfassungsgerichts, Garcfa Pelayo y Alonso, beschreibt in seiner Eröffnungsrede bei der Konstituierung des Tribunal Constitucional, dass es "eine primäre Funktion des Gerichts ist, die Trennungslinie zwischen verfassunggebender Gewalt (poder constituyente), objektiviert im Verfassungstext und den Verfassungsgewalten (poderes constituidos), zu interpretieren und zu überwachen. Diese Gewaltentrennung (... ) darf sich nicht auf den Zeitpunkt der Verfassungsgebung beschränken. Sie muss bestehen bleiben, was bedeutet (... ), dass man sich bewusst ist, dass die Aufgabe der Verfassung sich nicht darin erschöpft, eines Tages eine Ordnung für das politische Zusammenleben gegründet zu haben, sondern darin liegt, diese dauerhaft zu begründen." 100 Ein solches Selbstverständnis ist Ausdruck des materiellen Rechtsstaatsbegriffs, der die Prinzipien der Gewaltenteilung und der Parlamentssouveränität der Rechtsidee unterordnet. 101 b) Das Verfassungsgericht als Verteidiger des Gesetzes "In gewisser Weise ist dieses Gericht nicht nur Verteidiger der Verfassung, sondern auch Verteidiger für das Gesetz" 102, stellt das spanische Verfassungsgerlebt im Zusammenhang mit der konkreten Normenkontrolle fest. Angesichts der weitverbreiteten Qualifizierung als "Hüter der Verfassung"103 erscheint diese Aussage auf den ersten Blick vielleicht befremdlich. Jedoch lässt sich diese Rolle des Verfassungsgerichts, nicht nur als "negativer Gesetzgeber", sondern auch zur Stärkung des Gesetzes leicht erklären. Da die übrigen Gerichte nicht selbst über die Geltung oder Anwendung der nachkonstitutionellen Gesetze befinden dürfen, sondern in Zweifelsfallen über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes dazu verpflichtet sind, das Verfassungsgericht anzurufen, wird durch dieses System gleichzeitig die Geltung und Anwendbarkeit der Gesetze gewährleistet. 99 Cascajo de Castro, in: Cortes Generales, Congreso de los Diputados (Hrsg.), II Jomadas de Derecho Parlamentario, S. 18. 100 Garda-Pelayo y Alonso, in: Presidencia del Gobiemo (Hrsg.), EI Tribunal Constitucional, Acto solemne y otros documentos, S. 17. 101 Amold, in: FS für Bodo Bömer, S. II. 102 STC 17/81/1. 103 Vgl. Perez Gordo, EI Tribunal Constitucional y sus funciones, S. 26.

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Aufgrund seines Verwerfungsmonopols für nachkonstitutionelle Gesetze kommt dem Verfassungsgericht eine gewisse Garantiefunktion für die Gesetze gegenüber den anderen Gewalten, d.h. der Judikative 104 und der Exekutive, zu. 105 c) Bilanz Während im übrigen die Gesetze die gesamte öffentliche Gewalt binden, ist allein (abgesehen von den Möglichkeiten des Gesetzgebers selbst zur Änderung) das Verfassungsgericht als Richter über deren Geltung und Anwendung berufen. Es ist die einzige Institution, die diese Kontrolle des Gesetzgebers ausüben kann. Als oberstes Auslegungsorgan für die Verfassung hat es die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung (Art. 9 Abs. 2 CE) zu überwachen. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Gesetzgeber, der das Volk repräsentiert, und dem Verfassungsgericht, das dessen verfassungsrechtliche Grenzen interpretiert, lässt sich daher nicht verleugnen. ßl. Kontrollgegenstand und Kontrollabstinenz der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der gesetzgebensehen Tätigkeit

Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung können zum einen Gesetze und Gesetzesvorhaben sein, zum anderen kann auch das gesetzgebensehe Unterlassen vom Verfassungsgericht thematisiert werden. Demgegenüber lässt sich bei der Betrachtung der Kriterien, die in die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers einfließen, eine Enthaltung im politischen und ideologischen Bereich konstatieren. 1. Kontrollgegenstand des Verfassungsgerichts bei der Überprüfung der gesetzgeberischen Tätigkeit

Die Tätigkeit des Gesetzgebers äußert sich in seinem Ergebnis in Form von Gesetzen. Der Tätigkeitsbereich umfasst aber sowohl das Gesetzgebungsverfahren als solches mit dem Gegenstand des Gesetzesvorhabens als auch das Stadium, in dem der Gesetzgeber noch kein Gesetzesprojekt auf den Weg gebracht hat, sondern noch untätig geblieben ist. 104 Vgl. oben I. Kap. B. II. I. a): Gemäß der spanischen Verfassungsdogmatik steht die Verfassungsgerichtsbarkeit außerhalb der rechtsprechenden Gewalt. 105 Vgl. auch Crnz Villa/On, ZaöRV 43 (1983), S. 103.

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

a) Gesetze Die Kontrolle des spanischen Verfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber bezieht sich primär auf die von diesem verabschiedeten Gesetzesakte. Grundsätzlich ist die Kontrolle des spanischen Verfassungsgerichts auf eine repressive bzw. nachträgliche Kontrolle hin angelegt 106, wie es beispielsweise auch im deutschen, Österreichischen und italienischen Verfassungsgerichtssystem vorgesehen ist. 107 Erst wenn das Gesetz verabschiedet und veröffentlicht (vgl. Art. 31 LOTC) ist, kann es in der Regel einer Prüfung durch das Verfassungsgericht unterzogen werden. In der Regel prüft das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit allein der angefochtenen gesetzlichen Bestimmungen. Die sonstigen Artikel des Gesetzes, deren Verfassungswidrigkeit in dem Normenkontrollantrag nicht geltend gemacht werden, können jedoch vom Verfassungsgericht unter den Voraussetzungen des Art. 39 Abs. 1, 2.HS LOTC 108 ebenfalls für verfassungswidrig und nichtig erklärt werden. 109 Danach kann das Verfassungsgericht, sofern es die Verfassungswidrigkeit von angefochtenen Vorschriften erklärt, sein Urteil auf weitere Vorschriften desselben Gesetzes, die eine Verbindung kraft Zusammenhangs mit den als verfassungswidrig erklärten Bestimmungen oder eine logische Konsequenz derselben (relaci6n de conexi6n o de consecuencia) aufweisen, erstrecken. Zurückzuführen ist diese umfassende Kontrollkompetenz auf das Telos der Normenkontrolle. 1 10 Die Normenkontrolle dient einem objektiven öffentlichen Ziel, und dieses beinhaltet "zu bestimmen, ob das vorgelegte Gesetz mit der Verfassung vereinbar ist oder nicht." 111 Die Erklärung der Verfassungswidrigkeit kraft Zusammenhang ermöglicht es dem Verfassungsgericht, seine Entscheidung auf andere als die ihm vorgelegten Artikel auszudehnen. 106

Perez Royo, Tribunal Constitucional y divisi6n de poderes, S. 93.

Anders das französische Rechtssystem, das dem Conseil Constitutionnel allein eine präventive Kontrolle zuweist. 108 Die vergleichbare Vorschrift des deutschen Rechts ist § 78 BVerfGG: "Kommt das Bundesverfassungsgericht zu der Überzeugung, dass Bundesrecht mit dem Grundgesetz oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder dem sonstigen Bundesrecht unvereinbar ist, so erklärt es das Gesetz für nichtig. Sind weitere Bestimmungen des gleichen Gesetzes aus denselben Gründen mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht unvereinbar, so kann sie das Bundesverfassungsgericht gleichfalls für nichtig erklären." 109 Vgl. Weber, JöR 34 (1985), S. 267, der diesbezüglich vom Grundsatz der "prozessualen Kongruenz" spricht. 110 Weber, in: Horn/Weber (Hrsg.), Richterliche Verfassungskontrolle, S. 69. 111 STC 86/82/2. 107

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Dabei stellt sich die Frage, inwieweit das Verfassungsgericht diese Möglichkeit in Anspruch nimmt. Insbesondere im Zusammenhang mit einer Verletzung der effektiven Rechtsschutzgarantie (Art. 24 CE) hat das Verfassungsgericht bei prozessualen Beschränkungen für die Einlegung von Rechtsmitteln den Art. 39 Abs. 1, 2. HS LOTC angewendet. In dem Urteil 3/83, das im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens ergeht, stellt das Verfassungsgericht die beantragte Verfassungswidrigkeit der Einlegungsgebühr für die Berufung gemäß Art. 170 des Arbeitsgerichtsgesetzes fest und erklärt gleichzeitig unter Berufung auf Art. 39 Abs. 1 LOTC auch eine weitere Gebühr zur Einlegung eines anderen Rechtsmittels (der sog. suplicaci6n), die in Art. 154 dieses Gesetzes bestimmt wird, als verfassungswidrig. 112 Ein weiteres Beispiel für eine solche Ausdehnung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle ist das Urteil 27/85 über die Regelungen zur Berufungseinlegung von zu Militärgefängnisstrafe verurteilten Soldaten. 113 Der für die Berufung zuständige Richter ( hier der Capitan General de la 5.a Region Militar/Consejo Supremo de Justicia Militar) legte dem Verfassungsgericht die Frage vor, ob die Beschränkung des Art. 13 Abs. 1 des Militärgerichtsgesetzes, der die Einlegung der Berufung seitens der Verurteilten auf solche mit mehr als 3 Jahren Freiheitsstrafe beschränkt, verfassungswidrig sei (so die Vorlage). Dieser Artikel bestimmte, dass "gegen die Urteile der Kriegsräte durch den militärrechtlichen Staatsanwalt in allen Fällen und durch die, die im Urteil für schuldig befunden wurden, wenn über sie mehr als 3 Jahre Freiheitsstrafe, sei es als Einzelstrafe oder Gesamtstrafe, oder die Dienstentlassung als Haupt- oder Nebenstrafe verhängt wurde, Berufung vor der Militärgerichtsbarkeit eingelegt werden kann". 114 Das Verfassungsgericht sieht in der Beschränkung der Rechtsmittelmöglichkeit auf Verurteilte mit mehr als dreijähriger Haftstrafe eine Verletzung des Art. 24 CE, der effektiven Rechtsschutzgarantie, die es erfordert, die Rechtsmittelmöglichkeiten allen gleichermaßen zuzugestehen. Es erklärt daher den Art. 13 Abs. 1 des Militärgerichtsgesetzes teilweise für verfassungswidrig, der daher in folgender Fassung bestehen bleibt: "Gegen die Urteile der Kriegsräte können durch den militärrechtlichen Staatsanwalt und durch die Verurteilten vor der Militärjustiz Rechtsmittel eingelegt werden." (Tenor Nr. 1). STC 3/83/7 sowie Tenor, vgl. auch Gil Cremades, REDC 53 (1998), S. 103. Vgl. STC 27 /85/Sachverhalt (antecedentes) 2. 114 Art. 13 Abs. I des Organgesetzes 911980 vom 6. Nov. zur Reform des Militärgerichtsgesetzes. 112 11 3

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Auch Art. 14 desselben Gesetzes wird durch das Verfassungsgericht korrigiert. Hiernach war die Berufung gegen erstinstanzliehe Urteile des höchsten Militärgerichtsrates nur den zu Freiheitsstrafe Verurteilten möglich. 115 Diese Beschränkung wurde vom Verfassungsgericht unter Berufung auf die Reichweite der Verfassungskontrolle gemäß Art. 39 Abs. l LOTC aufgehoben.ll6 Das Urteil des Verfassungsgerichts führt hier zu einer "abstrakten Entschlackung des Gesetzes", so dass in der Folgezeit jeder Verurteilte auf dem Gebiet des Militärstrafrechts Berufung einlegen konnte. 117 In einem Sondervotum zu dem Urteil wird kritisiert, dass mit dieser Entscheidung des Verfassungsgerichts zu Art. 14 die durch Art. 39 Abs. 1 LOTC ermöglichte und begrenzte Reichweite der Verfassungswidrigkeilserklärung überschritten wurde: "Die Verknüpfung oder die Konsequenz, die diese Vorschrift (Art. 39 Abs. 1 LOTC, Anm. der Verf.) voraussetzt, muss darin gesehen werden, dass die Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift zur Nichtigkeit von anderen Vorschriften führt und zwar als Folge der getroffenen Entscheidung. Dass von Amts wegen eine vom konkreten Antrag losgelöste Prüfung durchgeführt wird, entspricht nicht der bisher vom Verfassungsgericht in seinen konkreten Normenkontrollverfahren verfolgten Linie. Dieser Bruch, der sich hier meiner Meinung nach zeigt, bewegt mich dazu, dieses Sondervotum zu formulieren." 118 Dadurch wird deutlich, dass das Verfassungsgericht durch eine weite Auslegung des Art. 39 Abs. 1, 2. HS LOTC seine Kontrolltätigkeit gegenüber Gesetzen über den ihm gestellten Antrag hinaus ausüben kann, die Anwendung dieser Vorschrift jedoch nicht frei von Kritik ist. Folgt man der in den Sondervoten geäußerten Auffassungen, so dehnt das spanische Verfassungsgericht in seinen ersten Jahren den Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 1, 2. HS LOTC über die Maßen aus. Die Erklärung der Verfassungswidrigkeit kraft Zusammenhangs wird vom spanischen Verfassungsgericht jedoch nicht in exzessiver Weise herangezogen, wie das Beispiel der STC 36/91 zeigt. 115 Bereits in STC 76/82 war die Beschränkung auf zu mehr als drei Jahren Haftstrafe Verurteilte für nichtig erklärt worden, so dass alle zu Freiheitsstrafe Verurteilte zur Berufungseinlegung berechtigt waren. 116 Der Grund, diese Beschränkungen als verfassungswidrig zu beurteilen, lag jeweils darin, dass in den vorliegenden Fallvarianten der Staatsanwalt ohne Rücksicht auf die Höhe der Sanktion oder Schwere der Verurteilung zur Einlegung des Rechtsmittels berechtigt war und die erwähnten Einschränkungen für den Verurteilten einen Verstoß gegen den effektiven Rechtsschutz in Verbindung mit dem Gleichheitsgebot begründeten. 117 Gi/ Cremades, REDC 53 (1998), S. 102. 118 Sondervotum des Richters Jer6nimo Arozamena Sierra zu STC 27/85, Absatz 3.

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In diesem konkreten Nonnenkontrollverfahren werden Bestimmungen des Jugendschutzgerichtsgesetzes dem Plenum des Verfassungsgerichts vorgelegt (texto refundido de Ia legislaci6n sobre Tribunales Tutelares de Menores). Das Verfassungsgericht begrenzt hier seine Kontrolle auf die entscheidungsrelevanten Artikel und erklärt zur Frage der Anwendbarkeit des Art. 39 Abs. l LOTC: "Die Klugheit rät dazu, das Urteil nicht im Wege des Zusammenhangs oder der Konsequenz auf andere Vorschriften desselben Gesetzes zu erstrecken, wie es der Art. 39 Abs. 1 LOTC ermöglicht, da weder der Zusammenhang dieser anderen Vorschriften mit dem, was wir gerade beurteilen, so eng ist, dass wir gezwungen sind, es zu tun, noch dies die Anpassung unseres Jugendgerichtssystems an die Verfassung fördern würde, sondern vielmehr jegliches Handeln unmöglich machen würde." 119 Statt Art. 39 Abs. 1 LOTC anzuwenden, wird hier ein Appell an den Gesetzgeber zu einer Reform der Jugendschutzgesetzgebung gerichtet. 120 Prima facie erscheint dies als "self-restraint" 121 , in Anbetracht der anvisierten Folgen einer umfassenden Reform zielt diese Entscheidungsform jedoch auf weitergehende Umgestaltungen durch den Gesetzgeber als eine Nichtigkeitserklärung von bestimmten einzelnen Nonnen ab. Festzuhalten ist, dass der Kontrollgegenstand des verfassungsgerichtlichen Nonnenkontrollverfahrens nicht auf die einzelnen im Antrag aufgeführten gesetzlichen Bestimmungen begrenzt ist, sondern im objektiven Interesse der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsordnung unter den Voraussetzungen des Art. 39 Abs. 1 S. 1 LOTC erweitert werden kann. Dabei ist allerdings festzustellen, dass das spanische Verfassungsgericht diese Möglichkeit nur verhalten nutzt. 122 b) Gesetzesprojekte Ausnahme zu diesem Grundsatz der nachträglichen Kontrolle ist insbesondere die Prüfung der Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen (Art. 95 Abs. 2 CE). Anfangs war im spanischen Verfassungsgerichtsgesetz auch gegenüber den sog. Organgesetzen und den Autonomiestatuten eine präventive Normenkontrolle vorgesehen (Art. 79 LOTC). Diese Kontrollmöglichkeit wurde 1985 abgeschafft. 123 Sie hatte den dem Parlament vorgelegten, aber STC 36/91/4 in fine. STC 36/91/6. 121 Gil Cremades, REDC 53 (1998), S. 105 bezeichnet diese Vorgehensweise des Tribunal Constitucional als "autolimitaci6n". 122 So auch Gil Cremades, REDC 53 ( 1998), S. II 0. 119

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noch nicht verabschiedeten Gesetzesentwurf, meist in seiner Gesamtheit und nicht beschränkt auf einzelne Bestimmungen, zum Gegenstand. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle, ob der völkerrechtliche Vertrag mit der Verfassung vereinbar ist, wird in der Verfassung (Art. 95 Abs. 2 CE) festgelegt und hat den bereits paraphierten, jedoch noch nicht ratifizierten völkerrechtlichen Vertrag zum Gegenstand (Art. 78 Abs. 1 LOTC). Mangels Verabschiedung handelt es sich hierbei nicht um "fertige" Gesetze. Die Kontrolle des Verfassungsgerichts erfolgt in einem Stadium, in dem das Gesetzgebungsverfahren noch nicht abgeschlossen ist, Gegenstand dieser präventiven verfassungsgerichtlichen Prüfung ist das Gesetzesvorhaben. c) GesetzgebeTisches Unterlassen Das Verfassungsgericht beschränkt sich in seiner Prüfung jedoch nicht auf die Akte des Gesetzgebers, die ihm vorgelegt werden, sondern erstreckt seine Kontrolle auch auf dessen "Untätigkeit". Unabhängig von der Frage nach den verfahrensrechtlichen Möglichkeiten, eine solche gesetzgebensehe Unterlassung geltend zu machen 124, geht es bei dieser Kontrolle darum, dass das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber seine verfassungsrechtlichen Pflichten aufzeigt. Erfüllt der Gesetzgeber den Verfassungsauftrag nicht, so spricht das Verfassungsgericht hier teilweise von der sog. Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen (inconstitucionalidad por omisi6n). 125 Bei der Beurteilung gesetzgebenscher Unterlassung geht das Verfassungsgericht dabei von der Prämisse aus, dass durch die Verfassung nicht nur der Freiheit des Gesetzgebers Grenzen gesetzt sind, sondern ihm auch bestimmte Pflichten auferlegt werden, tätig zu werden. Ausgangspunkt einer solchen verfassungswidrigen Unterlassung kann beispielsweise die fehlende Einbeziehung einer Gruppe in einen Begünstigungstatbestand sein (gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss) 126 oder wenn mangels gesetzlicher Verfahrensregelungen die Durchsetzung von Grundrechten nicht möglich ist (z. B. Fehlen einer Regelung zur Verweigerung des Militärdienstes aus Gewissensgründen als Ausdruck und Gewährleistung der Gewissensfreiheit) 127• Festzuhalten ist daher, dass auch die Untätigkeit des Gesetzgebers vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig beurteilt werden kann.

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Durch Ley Organica 4/l985, vom 7. Juni. Vgl. hierzu I. Kap. B. IV. 5. Vgl. auch Cruz Villa/on, ZaöRV 43 (1983), S. 85. Vgl. STC 24/82/3. STC 15/82.

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d) Umfassende Kontrolle gesetzgeberischer Tätigkeit Nicht nur der Tätigkeitsrahmen, sondern auch Tätigkeitspflichten werden dem Gesetzgeber von der Verfassung vorgegeben und können daher Fragen der Verfassungsmäßigkeit aufwerfen. Was beispielsweise die Grundrechte angeht, bestimmt das Verfassungsgericht "Tatsache ist, dass es einerseits Rechte gibt, die nur gegenüber der öffentlichen Gewalt bestehen (wie z.B. der Art. 24 128), dass sich auf der anderen Seite aber die Bindung der öffentlichen Gewalt an die Verfassung (Art. 9 Abs. 1) als positive Pflicht darstellt mit dem Inhalt, diesen Rechten zur Durchsetzung zu verhelfen, was ihre Geltung im sozialen Leben angeht. Diese Pflicht obliegt dem Gesetzgeber, der Exekutive und den Gerichten auf ihrem jeweiligen Gebiet". 129 Es geht bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nicht nur um eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der gesetzgebensehen Akte, sondern auch um die Frage, inwieweit der Gesetzgeber überhaupt tätig werden muss. Nicht allein das "wie", sondern auch die Frage nach dem "ob" der gesetzgebensehen Tätigkeit stellt sich für das Verfassungsgericht. Der Gesetzgeber unterliegt auf Grund der Bindung an die Verfassung nicht nur beim Erlass von Gesetzen, d.h. bei aktiver Tätigkeit, sondern in seinem gesamten Handeln ("Tun und Unterlassen") der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. 130

2. Die spezifischen Eigenheiten des Gesetzgebers abseits der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Die Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht hat die Verfassungsmäßigkeit seiner Tätigkeit zum Gegenstand, d. h. die Verfassung ist der Maßstab, der zur Überprüfung herangezogen wird. In diesem von der Verfassung bzw. dem Verfassungsgeber vorgegebenen Rahmen hat der Gesetzgeber seine eigenen Entscheidungen zu treffen. 131 Dieser statuiert die Rechtsschutzgarantie. STC 18/84/6: "Lo que sucede, de una parte, es que existen derechos que solo se tienen frente a los poderes publicos (como los del art. 24) y, de otra, que Ia sujeci6n de los poderes publicos a Ia Constituci6n (art. 9.1) se traduce en un deber positivo de dar efectividad a tales derechos en cuanto a su vigencia en Ia vida social; deber que afecta al legislador, al ejecutivo y a los Jueces y Tribunales, en el ambito de sus funciones respectivas. De donde resulta que el recuso de amparo se configura como un remedio subsidiario de protecci6n de los derechos y libertades fundamentales, cuando los poderes politicos han violado tal deber". 130 Vgl. auch STC 108/86/18: "Sicherlich ist ( ... ) auch die gesetzgeberische Gewalt der Verfassung unterworfen und es ist Aufgabe dieses Gerichts, darüber zu wachen, dass diese Bindung bestehen bleibt". 128

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l. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Bei der Gesetzgebung spielen nicht nur verfassungsrechtliche Gesichtspunkte eine Rolle, sondern es fließen noch andere Wertungskriterien ein, die für die verfassungsgerichtliche Kontrolle außer Betracht bleiben. Dies sind insbesondere politische und ideologische Gesichtspunkte sowie die Überlegungen, ob die getroffene Entscheidung die beste ist. In diesem Zusammenhang kann man daher von einer "relativen Freiheit"132 des Gesetzgebers sprechen. 133 a) Politischer Freiraum Eindeutig dem Gesetzgeber zugewiesen ist die Entscheidungskompetenz bei politischen Wahlmöglichkeiten. Dies betont das Verfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung 11/81, in der es um die Regelungen zum Streikrecht geht. "Es steht daher dem ordentlichen Gesetzgeber ( .. .) zu, eine Regelung für Bedingungen zur Ausübung des (Streik)Rechts aufzustellen, die restriktiver oder offener sein kann, vereinbar mit den politischen Richtlinien, durch die sie angetrieben wird (... ). Die Verfassung ist ein Rahmen, der ausreichend weit gefasst ist, damit in diesem Rahmen politische Wabimöglichkeiten unterschiedlichster Vorzeichen Platz finden." 134 Das Verfassungsgericht gibt hier klar zu verstehen, dass die nähere Ausgestaltung des Streikrechts verschiedene Formen annehmen kann, dass diese Auswahl aber allein dem Gesetzgeber frei steht, im Gegensatz zum Verfassungsgericht, das sich diese Frage nicht stellen darf. 135 Auch in dem Urteil bezüglich des Gesetzes über die Inkompatibilität bei Angestellten des öffentlichen Dienstes führt das Verfassungsgericht aus: " ... Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ist (.. .) im Übrigen sehr groß, so dass er immer (... ) unter sehr verschiedenen Lösungsmöglichkeiten wählen kann, die unter Verwendung nur politischer Kriterien von einem sehr strengen Modell bis zu einem anderen großzügigeren reichen, abhängig von der Orientierung der Parlamentsmehrheit, die das betreffende Gesetz stützt." 136 Da in Art. 1 Abs. 1 der spanischen Verfassung der politische Pluralismus als ein grundlegendes Staatsprinzip aufgeführt ist, sieht es das Verfassungsgericht als seine Aufgabe an, diesen, d. h. die Vielfalt des politischen Meinungsspektrums, zu gewährleisten. Salas, REDC 6 (1982), S. 150. Jiminez Campo, in: Aja (Hrsg.), Las tensiones entre el TC y el Legislador en Ia Europa actual, S. 178. 133 Vgl. hierzu auch Kontrollintensität, 2. Kap. A. lß. 134 STC 11/8117. 135 Vgl. auch Perez Royo, Revista juridica de Castilla-La Mancha, 3/4 (1988), s. 109. 136 STC 178/89/8. 131

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Die eminente Bedeutung, die der freien politischen Wertung des Gesetzgebers zukommt, wird im Urteil 4/81 dokumentiert: "In einem System des politischen Pluralismus (Art.l der Verfassung) ( ...) bedeutet die Existenz nur einer Option die Negierung des Pluralismus ( . . .). Es ist die Funktion des Verfassungsgerichts die Grenzen festzulegen, innerhalb derer die verschiedenen politischen Optionen auf legitime Weise angegangen werden können". 137 Dem politischen Pluralismus schreibt es das Verfassungsgericht zu, dass der Gesetzgeber verschiedene gesetzliche Lösungen in Betracht ziehen kann. 138 Gerade in Bereichen mit politisch motivierten Entscheidungsvarianten bemüht sich das Verfassungsgericht, die Wahl- und Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers zu betonen. Dem Gesetzgeber wird zugestanden, innerhalb der Verfassungsgrenzen "zu wählen, wie er es als passend für seine eigenen politischen Präferenzen ansieht. Wer sich nicht auf dieses Terrain begeben darf, ist das Verfassungsgericht (...) Die ideologischen und politischen Präferenzen sind legitim für den Gesetzgeber( ... ), aber sie dürfen in keiner Weise in unseren Gedankengang mit einfließen." 139 Das Verfassungsgericht kontrolliert den Gesetzgeber anband von streng juristischen Kriterien und bewertet nicht die politischen Beurteilungskriterien. Auch in STC 28/91 legt das Verfassungsgericht dar, dass die Regelungen für die Wahlkreiseinteilung für die Wahl des Europäischen Parlaments (einheitlich oder nach Autonomieregionen) dem politischen Kriterium des Gesetzgebers überlassen sind. In STC 239/92, in der es um das Gesetz über die Regionalversammlung von Murcia (7/88) geht, wird deutlich, dass die parteipolitischen Faktoren, die hinter einer Gesetzgebung stehen, kein Kriterium für die verfassungsgerichtliche Würdigung sein dürfen. Der Art. 5 Abs. 1 lit. c dieses Gesetzes legt die Zusammensetzung für die Verwaltungsorgane der Sparkasse der Region fest. Dabei werden den Gründem der Sparkasse 35% zugewiesen, 40% den Gemeinden, wobei die einzelne nicht mehr als 20% der Consejeros Generales representantes der Gemeindekörperschaften stellen darf. Die Beschwerdeführer machen diesbezüglich eine Verletzung des Art. 9 Abs. 2 und 3 CE geltend (letzteres: Willkürverbot), da durch eine solche Regelung die Sozialistische Partei (PSOE) die Mehrheit in der Verwaltung der Sparkasse erhalte. Das Verfassungsgericht führt diesbezüglich aus: "Es ist jedoch auszuschließen, dass diese Art von Ansprüchen über die vermutlich parteilichen Gründe des regionalen Gesetzgebers Gegenstand der Überle137

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139 4 Grau

STC 4/81/3. In diesem Sinne auch STC 6/84/4. STC 194/89/2.

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l. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

gungen für das Urteil der Verfassungsmäßigkeit sein können. Eine verfassungsgerichtliche Entscheidung darf nicht verwechselt werden mit einem Urteil über politische Ziele, sondern hat den abstrakten und objektiven Widerspruch zwischen den angefochtenen gesetzlichen Normen und denjenigen, die als Parameter der Verfassungsmäßigkeit dienen, zum Ziel. Die Kompetenz dieses Gerichts für die Würdigung, ob die angefochtene Norm mit den Werten und Prinzipien der Verfassung vereinbar ist, wird nicht beeinträchtigt. Jedoch ist das konkrete politische Ziel, welches der Gesetzgeber mit der Norm zu verfolgen vorgibt, nicht eine Frage, die diesem Gericht aufgegeben wird. Diese Zielsetzung ist vielmehr ein Problem rein politischer Würdigung, welches zu anderer Zeit und an anderem Ort gemäß den demokratischen Regeln der politischen Tätigkeit und Kritik erörtert und diskutiert werden muss." 140 Politische Wertentscheidungen werden vom Verfassungsgericht explizit von seiner an rechtlichen Kriterien ausgerichteten Prüfung ausgenommen. b) Ideologische Wertungen und Opportunität Ähnliches gilt auch für Bereiche, in denen ideologische Wertungen eine Rolle spielen. In seiner Entscheidung 194/89 heißt es: "Die Verfassung als normativer Rahmen läßt dem Gesetzgeber üblicherweise mehr oder weniger breite Spielräume, innerhalb derer er seine ideologischen Präferenzen, seine politischen Optionen und seine Opportunitätsüberlegungen in ein Gesetz einbringen kann". 141 Nicht zu verwechseln ist damit allerdings, dass das Verfassungsgericht durchaus darüber entscheidet, wann das Verhältnis zwischen angewandten Mitteln und verfolgtem Ziel vernünftigerweise verhältnismäßig ist. 142 (Obgleich auch diese Beurteilung über die Proportonialität von Zweck und Mittel ihm den Vorwurf einbringt, über Opportunitätsgesichtspunkte zu richten, die allein dem Funktionsbereich des Gesetzgebers zuzuordnen sind 143). Das Verfassungsgericht überprüft bei der Normenkontrolle die Konformität der vorgelegten Verfahrensgegenstände mit der Verfassung. "Dies ist demzufolge kein Werturteil darüber, ob die getroffene Regelung die günstigste ist, da letzteres das Tätigkeitsfeld ist, auf dem sich die verschiedenen politischen Optionen (... ) bewegen. Dies entspricht dem politischen Pluralismus, der in Art. 1 als einer der höchsten Werte der Rechtsordnung statuiert ist." 144 14Q 141 142 143

STC 239/92/2. STC 194/89/2. Vgl. z. B. STC 20/85/2. Sondervotum zu STC 20/85 von Richter Francisco Rubio Llorente.

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Zu beurteilen, ob die vorn Gesetzgeber gewählte Möglichkeit die beste ist, fällt nicht in die Kompetenz des Verfassungsgerichts. Teilweise wird diese Aussage des Verfassungsgerichts sogar als Ansatz einer richterlichen Selbstbeschränkung angesehen. 145 Bei der Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm des Militärstrafgerichtsgesetzes, die neben der Hauptstrafe auch die Ausschließung (separaci6n) vorn Dienst erlaubt, stellt das Verfassungsgericht fest, dass es ihm nicht zustehe, "über die Opportunität der Norm hinsichtlich der angestrebten Wirkungen und dem Ziel, welches verfolgt wird, zu urteilen. Dies ist eine Angelegenheit, die in den Zuständigkeitsbereich des Gesetzgebers fällt. " 146 Ähnlich auch die Entscheidung 189/87, in der das Verfassungsgericht an die Feststellung, dass der Gleichheitssatz nicht verletzt ist, hinzufügt, dass dies "nicht gleichbedeutend ist mit der Aussage, dass es die bestmögliche oder die der Verfassung arn ehesten entsprechende Norm ist. Es ist vielrnehr offensichtlich, dass diese Art von Aussage weit über das, was dieses Gericht sagen darf, hinaus gehen würde." 147 Auch in STC 341193 stellt das Verfassungsgericht klar: "Dieses Gericht ist auf keinen Fall Richter für (... ) die Opportunität oder die Nützlichkeit der Gesetze" .148 Es ist daher festzuhalten, dass die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers sich naturgemäß auf die verfassungsrechtlichen Aspekte bezieht und nicht alle Faktoren, die bei der Gesetzgebung eine Rolle spielen, einer Überprüfung unterzieht. Da die Verfassung nicht in allen Bereichen des staatlichen Lebens bereits detaillierte Vorgaben macht, tritt hierbei auch die Offenheit der Verfassung zu Tage. 149 Im Rahmen der Konkretisierung der Verfassung fließen verschiedene Faktoren in die gesetzgebefische Tätigkeit ein. 150 Die nicht in der Verfassung vorgegebenen politischen, ideologischen und teils wirtschaftlichen Kriterien sind allein vom Gesetzgeber zu würdigen und einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogen. 151 Auch STC 86/82/l. So Weber, JöR 34 (1985), S. 253. 146 STC 107/86/l. 147 STC 189/87/10. 148 STC 341/93 Ziff. 3 der Entscheidungszusammenfassung. 149 Vgl. auch Rodr(guez Bereijo, Revista espaiiola de Derecho Administrativo 91 (1996), s. 378. 150 Vgl. auch Mart(n Rebollo, S. 30. 151 Vgl. auch Rodriguez-Zapata y Perez, Revista de Administraci6n PUblica 100/ 102 (1983), S. 1539: "Asimismo existini una zona cierta de Ia funci6n legislativa 144

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die Opportunität der Gesetze wird nicht von der verfassungsgerichtlichen Kontrolle erfasst. Dieser Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers wird von der verfassungsgerichtlichen Kontrolle daher ausgenommen. Dies ist charakteristisch für die Stellung der Verfassungsrechtsprechung. "Verfassungsgerichtsbarkeit muss irgendwo auf der Mitte zwischen politischer Offenheit und rechtlicher Gebundenheit stabilisiert werden." 152 Das Verfassungsgericht bringt damit zum Ausdruck, dass es nicht die Stellung des Gesetzgebers beansprucht, sondern vielmehr respektiert, dass "das Gesetz als Ausdruck des Volkswillens" 153 eine privilegierte und unersetzbare Quelle darstellt. Mit dieser Kontrollabstinenz im Hinblick auf bestimmte Gesichtspunkte wird die Eigenverantwortung des Gesetzgebers in seinem ihm eigenen Funktionsbereich unterstrichen. IV. Verfassungsgerichtliche Verfahrensarten zur gesetzgebensehen Kontrolle

"Die Klärung der Funktion des Verfassungsgerichts, seiner Zusammenarbeit mit den übrigen Verfassungsorganen und seiner Möglichkeiten sowie Fähigkeiten kann nur dadurch versucht werden, indem man ein Bild seiner Zuständigkeitsaufgaben umreißt". 154 Gerade auch in den Zuständigkeiten, die dem Verfassungsgericht durch die Verfassung und das Verfassungsgerichtsgesetz zugewiesen werden, spiegeln sich Funktion und Aufgaben des Verfassungsgerichts wider.155 Diese Befugnisse stellen den Rahmen dar, in dem der Tribunal Constitucional seine Rechtsprechungstätigkeit ausübt, und wirken daher hierfür mitbestimmend. 156 Im Folgenden soll die verfahrensrechtliche Ausgangssituation für die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers dargelegt werden.

libre (sea en las Cortes Generales o en los Parlamentos aut6nomos) como manifestaci6n politica de Ia funci6n de direcci6n". 152 Roellecke, KritVj 74 (1991), S. 80. 153 STC 17/81/4. 154 Gonzalez Rivas, Revista juridica de Castilla-La Mancha 3/4 (1988), S. 543: "Una clarificaci6n de Ia funci6n de1 Tribunal, de su cooperaci6n con los restantes 6rganos constitucionales y de sus posibilidades y capacidades s6lo puede intentarse trazando un cuadro de sus misiones competenciales". 155 Vgl. auch Perez Royo, Tribunal Constitucional y divisi6n de poderes, S. 19, 20. 156 Vgl. auch Cruz Villa/on, ZaöRV 43 (1983), S. 74.

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1. Die "nachträglichen" Normenkontrollen Die unmittelbare Kontrolle von Gesetzen, die bereits verabschiedet und veröffentlicht sind, kann auf zwei Wegen, der abstrakten und der konkreten Normenkontrolle, vor dem Verfassungsgericht geltend gemacht werden. a) Abstrakte Normenkontrolle (recurso de inconstitucionalidad) Der sog. "recurso de inconstitucionalidad" (wörtlich: Klage auf Verfassungswidrigkeit) entspricht im wesentlichen der abstrakten Normenkontrolle des deutschen Verfassungsrechts. Er ist in der Verfassung in Art. 161 Abs. 1 lit. a CE verankert, die entsprechende Antragsbefugnis wird in Art. 162 Abs. 1 lit. a CE bestimmt. Zur Einleitung dieses Verfahrens sind neben dem Volksanwalt (defensor del pueblo) die wesentlichen politischen Organe 157, nämlich der Regierungspräsident, 50 Abgeordnete, 50 Senatoren, die ausführenden Organe der autonomen Gebietskörperschaften (d.h. deren Regierungen) und gegebenenfalls158 die Versammlungen derselben berechtigt. 159 Die Anzahl von 50 Abgeordneten (bei 300-400 Mitgliedern des Abgeordnetenhauses, Art. 68 Abs. 1 CE) bietet auch den Minoritäten im spanischen Parlament die Möglichkeit, eine abstrakte Normenkontrolle einzuleiten. 160 Die Zahl der 50 Senatoren bei ca. 250 Senatoren fasst ebenfalls den Kreis der Antragsberechtigten weit. 161 An die Antragsberechtigung der obersten Staatsorgane werden somit geringe Anforderungen im Hinblick auf die Mindestanzahl der erforderlichen Stimmen gestellt. Dem Aspekt, dass "die Verfassungsgerichtsbarkeit ( ... ) in 157 Jimenez Campo, in: Arozamena Sierra u. a. (Hrsg.), La Jurisdicci6n Constitucional en Espaiia, S. 78. 158 Und zwar für solche staatlichen Gesetze, Bestimmungen oder Akte mit Gesetzeskraft, die ihren eigenen Autonomiebereich beeinträchtigen können (Art. 32 Abs. 2 letzter Halbsatz LOTC). 159 Die deutschen Bundesländer dagegen sind zum Antrag einer abstrakten Normenkontrolle nicht berechtigt. 160 Im Vergleich zum deutschen Recht, das mindestens ein Drittel der Mitglieder des Bundestags (im Prinzip 598 Abgeordnete gern. § I Abs. 1 BWG, deren Anzahl sich um die der sog. Überhangmandate § 6 Abs. 5 BWG erhöht), d. h. mindestens 200, fordert (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG), werden damit für die Einleitung dieses Verfahrens durch einen Teil des Parlaments niedrigere Anforderungen gestellt; vgl. auch Österreich, das auch 113 der Mitglieder des Nationalrats verlangt (Art. 137, 148 Bundesverfassungsgesetz); siehe auch Torres del Moral, S. 432. 161 Im Vergleich hierzu hat der deutsche Bundesrat nur für Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG eine Antragsbefugnis.

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den parlamentarischen Demokratien notwendig in den Dienst des Minoritätenschutzes treten muss", wie es von Kelsen gefordert wird 162, wird dadurch Rechnung getragen. Die Antragsberechtigung für die Autonomen Gemeinschaften wird durch das spanische Verfassungsgerichtsgesetz (Art. 32 Abs. 2) an die Bedingung geknüpft, dass die angefochtenen Normen den eigenen Autonomiebereich berühren können. Diese in der Verfassung nicht angelegte Limitierung wird vom Verfassungsgericht großzügig ausgelegt. 163 Die Antragsberechtigung des Volksanwalts erhöht die Möglichkeit, dass auch außerhalb staatspolitischer Anlässe 164 ein Normenkontrollverfahren eingeleitet wird. Eine Besonderheit der abstrakten Normenkontrolle im spanischen Recht 165 besteht darin, dass deren Antrag grundsätzlich innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten nach der Veröffentlichung des Gesetzes eingereicht werden muss (Art. 33 Abs. 1 LOTC). 166 Ist diese Frist verstrichen, so kann das Gesetz im Wege der abstrakten Normenkontrolle nicht mehr durch das Verfassungsgericht auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft werden. 167 Trotz dieser Einschränkung kann die Effizienz der abstrakten NorKelsen, VVDStRL 5 (1929), S. 75. Vgl. STC 199/87/l: "Die Antragsberechtigung der Autonomen Gemeinschaften für die abstrakte Normenkontrolle dient (...) der ,Entschlackung' (depuraci6n) der Rechtsordnung und erstreckt sich so auf alle Tatbestände, die einen inhaltlichen Anknüpfungspunkt zwischen dem Gesetz des Zentralstaates und dem Kompetenzbereich der Autonomen Gemeinschaften aufweisen, was zudem nicht restriktiv ausgelegt werden darf." 164 Vgl. Garcfa-Pelayo y Alonso, REDC l (1981), S. 25, der insbesondere bei abstrakten Normenkontrollen und Kompetenzstreitigkeiten den Grund zu deren Vorlage an das Verfassungsgericht in einem rechtlichen Streit um politische Fragen oder Konflikte sieht: ,,Las demandas planteadas ante el Tribunal son en muchas ocasiones (especialmente en los recursos de inconstitucionalidad y en los conflictos de competencia) Ia formulaci6n en terminos de litis juridica de cuestiones o conflictos politicos". 165 Im Vergleich dazu sieht die bundesdeutsche Regelung für diesen Verfassungsrechtsbehelf keine zeitliche Beschränkung für die Antragstellung vor. 166 Eine Fristverlängerung auf neun Monate für den Fall, dass durch den Zusammentritt der "bilateralen Kommission zur Kooperation zwischen zentraler Staatsverwaltung und der jeweiligen Verwaltung der Autonomen Gemeinschaft" (Comisi6n Bilateral de Cooperaci6n entre Ia Administraci6n General del Estado y Ia respectiva Comunidad Aut6noma) die Streitigkeiten beigelegt werden sollen, wurde durch LO 1/2000 vom 7. Januar, der den Art. 33 LOTC reformierte, eingeführt. 167 Für Gesetze, die vor der Konstituierung des spanischen Verfassungsgerichts im Juli 1980 veröffentlicht wurden, wurde durch den Beschluss des Plenums des Verfassungsgerichts (acuerdo de 14 de julio de 1980 del Pleno del Tribunal Constitucional, abgedruckt in: Almagro Nosete, S. 698) der 15. Juli als Fristbeginn angesetzt. (Vgl. auch Cruz Villal6n, ZaöRV 43 (1983), S. 87). Diese Gesetze sind damit 162 163

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menkontrolle, die sich insbesondere in der Ausgestaltung der Antragsberechtigung ausdriickt, 168 nicht verleugnet werden. Nach Fristablauf ist eine Kontrolle auf anderem Verfahrensweg jedoch nicht ausgeschlossen und bleibt möglich. Hierbei kommt insbesondere die Richtervorlage in Betracht. b) Konkrete Normenkontrolle (cuesti6n de inconstitucionalidad) Die cuesti6n de inconstitucionalidad (wörtlich: Frage zur Verfassungswidrigkeit) wird vom spanischen Verfassungsgericht auch als konkrete Normenkontrolle bezeichnet. 169 Verfassungsrechtlich verankert in Art. 163 CE findet die konkrete Normenkontrolle ihre nähere Ausgestaltung in den Art. 35 ff LOTC. "Glaubt ein Richter oder ein (Kollegial-)Gericht, dass eine Norm mit Gesetzesrang, die auf den Fall anwendbar ist und von dessen Gültigkeit das Urteil abhängt, mit der Verfassung im Widerspruch stehen könnte, legt er die Frage dem Verfassungsgericht vor" (Art. 35 Abs. 1 LOTC). Die wesentlichen Voraussetzungen 170 der Richtervorlage sind Entscheidungsrelevanz der Norm und Zweifel des vorlegenden Richters oder Gerichts an deren Vereinbarkeil mit der Verfassung. Die Parteien eines Rechtsstreits können zwar die Vorlage zum Verfassungsgericht anregen, die Entscheidung liegt jedoch beim Richter bzw. Gericht. Dieser muss von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes nicht überzeugt sein, es genügen Zweifel an dessen Verfassungsmäßigkeit. 171 Die Entscheidungsrelevanz der Norm muss sich nicht zwingend auf ein richterliches Urteil beziehen, es genügt die Relevanz für Beschlüsse und sonstige richterliche Entscheidungen, die Regelungswirkung oder bindenden Charakter haben. 172 Auch bezüglich Zwischenentscheidungen und nicht vollstreckbaren Entscheidungen sind daher Vorlagen möglich. 173 Ebenso seit dem 15. Oktober 1980 der Kontrolle durch ein abstraktes Normenkontrollverfahren entzogen. 168 Amold, in: FS für Bodo Bömer, S. 14. 169 Vgl. STC 94/86/2. 170 Ähnlich auch die Voraussetzungen der konkreten Normenkontrolle des deutschen Verfassungsgerichtssystems. Im spanischen Recht ist jedoch auch die Vorlage vorkonstitutioneller Normen möglich, im deutschen hingegen nur, sofern sie in dem Willen des postkonstitutionellen Gesetzgebers aufgenommen worden sind und damit diesem zugerechnet werden können. 171 Vgl. STC 17/81/l. m Vgl. STC 76/82/ l.

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gilt dies bezüglich solcher Nonnen, die erst im Laufe der Vollstreckung anwendbar sind 174. Der Richtervorlage wird damit durch die Verfassungsrechtsprechung ein weiter Anwendungsbereich zugestanden. 175 Während in den 80er Jahren die konkreten Nonnenkontrollen eher selten beantragt wurden, ist ihr Anteil in den 90er Jahren stark angestiegen, in den letzten Jahren jedoch wieder deutlich gesunken. 176 c) Funktionen der nachträglichen Nonnenkontrollen gemäß der Verfassungsrechtsprechung Sinn und Zweck der beiden Varianten der nachträglichen Nonnenkontrolle weisen teilweise Übereinstimmungen auf, teilweise kommen ihnen spezifische Zielsetzungen zu. aa) Gemeinsamkeiten der abstrakten und konkreten Normenkontrolle Gemeinsam ist ihnen die Kontrolle von Gesetzen. "Die konkrete Normenkontrolle ist, wie die abstrakte, ein Instrument, das vornehmlich dazu bestimmt ist, abzusichern, dass die Tätigkeit des Gesetzgebers sich in den von der Verfassung gesetzten Grenzen hält. Dies erfolgt durch die Nichtigkeitserklärung derjenigen gesetzlichen Nonnen, die diese Grenzen verletzen. Das gemeinsame Objekt, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zu schützen, kann durch diese zwei prozessualen Wege erreicht werden ( ... ), deren teleologische Identität ( ...) nicht ignoriert werden kann.'.t 77

173 STC 76/82, vgl. auch Weber, in: Horn/Weber (Hrsg.), Richterliche. Verfassungskontrolle, S. 72. 174 STC 54/83, vgl. auch Rubio Llorente, in: Starck/Weber (Hrsg.) Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa Bd. I, S. 258. 175 Vgl. auch Rubio Llorente, in: Landfried (Hrsg.), Constituional Review and Legislation, S. 134. 176 1996 gingen 102 konkrete Normenkontrollen, 1997 hingegen 90, 1998 noch 51 und 1999 nur 33 beim Verfassungsgericht ein, Statistik des Verfassungsgerichts 1999, hrsg. vom Gabinete tecnico del Presidente, Übersicht (cuadro) Nr. 25, S. 32, vgl. auch Tenorio Sdnchez, Revista de Derecho PoHtico 37 (1992), S. 295. 177 STC 17/81/1, vgl. auch STC 94/86/2: "Die primäre Zielsetzung dieses Verfahrens (hier: konkrete Normenkontrolle), ebenso wie bei der abstrakten Normenkontrolle, besteht darin, zu gewährleisten, dass der Gesetzgeber sich innerhalb der Verfassungsgrenzen hält und zwar mittels der Annullierung der Gesetzesnormen, die diese Grenzen verletzen."

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Die Normenkontrollen dienen dem Rechtsschutz gegen Gesetze und der Prüfung, ob diese sich in dem von der Verfassung normierten Rahmen bewegen. Während der Verfahrensgegenstand dieser Normenkontrollen der Gleiche ist, weisen sie jedoch verschiedene Hintergründe auf. bb) Spezifische Aussagen zur konkreten Normenkontrolle

Die Richtervorlage ist Voraussetzung und Folge des Verwerfungsmonopols des Verfassungsgerichts, da nur auf diese Weise die Gerichte ihrer "doppelten" Verpflichtung gegenüber Gesetz und Verfassung gerecht werden können. 178 Erst wenn die Gesetzesanwendung zu einem in Widerspruch mit der Verfassung stehenden Ergebnis führen würde, steht ein Gericht vor der Problematik, dieser "doppelten Verpflichtung" zu genügen. In diesem Licht interpretiert das Verfassungsgericht auch die Zulassungsvoraussetzung der Entscheidungsrelevanz für die konkrete Normenkontrolle. Es genügt nicht, dass das vorgelegte Gesetz auf den konkreten Fall anzuwenden ist. Die Anwendung des fraglichen Gesetzes muss darüberhinaus zu einem anderen Ergebnis des konkreten Rechtsstreits führen als wenn es nicht angewendet würde. Dieses Erfordernis führt das Verfassungsgericht darauf zurück, dass "das Gesetz als Ausdruck des Volkswillens grundsätzlich allein vom Repräsentanten dieses Willens aufgehoben oder geändert werden darfd 79, und diese Repräsentanten eben die Gesetzgebungsorgane (Art. 66 CE) sind. Die Möglichkeit des Verfassungsgerichts, Gesetze für nichtig zu erklären, steht ihm nach eigener Aussage nur zu, wenn "dies äußerst schwere und gewichtige Gründe erfordem" 180, d.h. "ein Rechtsprechungsorgan sich in der Situation sieht, aufgrund seiner Gesetzesbindung (Art. 117 Abs. 1 CE) die Verfassung zu verletzen" 181 . Die Zulässigkeitsvoraussetzungen der konkreten Normenkontrolle verdeutlichen gemäß dem Verfassungsgericht daher den Respekt vor dem Gesetzgeber.182 178 Vgl. STC 17/8111: Das Fehlen der konkreten Normenkontrolle "würde implizieren, das Werk des Gesetzgebers dem vielleicht unterschiedlichen Kriterium einer erhöhten Anzahl von rechtsprechenden Organen zu unterwerfen, was u. a. zu einem hohen Grad an Rechtsunsicherheit führen könnte" . Vgl. auch Faller, EuGRZ 1986, S. 52, ebenso Torres del Moral, S. 435. 179 STC 17/81/2. 180 Z.B. STC 17/8114 "cuando asf 1o exigen razones muy graves y s61idas". 181 STC 17/81/4. 182 Rodriguez-Zapata y Perez, Revista de Administraci6n PUblica 100/102 (1983), s. 1535.

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Neben der Rechtssicherheit 183 dient die Richtervorlage auch dazu, die Gesetze bei Veränderungen der tatsächlichen Gegebenheiten im Laufe der Zeit einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen.184 "Die kontinuierliche Entschlackung der Rechtsordnung vom Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze aus und immer abgesehen von der Tätigkeit des Gesetzgebers selbst, ist auf diese Weise das Ergebnis eines notwendigen Zusammenspiels zwischen den rechtsprechenden Organen und dem Verfassungsgericht Nur diese Zusammenarbeit vermag zu garantieren, daß diese Säuberungsarbeit (Iabor depuradora) wirkungsvoll ist und sich auf dynamische und nicht nur statische Weise vollzieht, da nur auf diesem Weg und nicht durch die abstrakte Normenkontrolle die Wirkung, die die sich verändernde gesellschaftliche Realität auf den Inhalt der Normen ausübt, berücksichtigt werden kann." 185 Die Überprüfung von Gesetzen erfolgt hier meist gerade zu einem Zeitpunkt, in dem sich durch ihre Anwendung und die zeitliche Distanz ihre wahre Tragweite entfaltet hat. Während die abstrakte Normenkontrolle nur unmittelbar nach dem Erlass des Gesetzes angestrengt werden kann, gewährleistet die Richtervorlage die zeitlich unabhängige Kontrolle der Normen. Hierdurch wird eine verfassungsgerichtliche Reaktion auch angesichts der erst mit der Zeit erkennbaren Auswirkungen eines Gesetzes möglich. 186 Insbesondere in Anbetracht der sich wandelnden sozialen, gesellschaftlichen oder technologischen Umstände erfährt die konkrete Normenkontrolle ihre Bedeutung als direktes Kontrollinstrument gegenüber dem Gesetzgeber. 187 cc) Spezifische Aussagen zur abstrakten Normenkontrolle

Für die Institution der abstrakten Normenkontrolle betont das Verfassungsgericht insbesondere deren objektive Zielsetzung. "Die Möglichkeit, die abstrakte Normenkontrolle anzustrengen, gewährt die Verfassung den Antragsberechtigten nicht für ihre eigenen Interessen, sondern aufgrund der hohen politischen Qualifikation, welche ihnen aus ihrem Verfassungsauftrag zukommt." 188 183 Könnte jeder Richter bzw. jedes Gericht über die Anwendung der Gesetze entscheiden, würde dies neben der Verletzung der Gewaltenteilung und der Parlamentssouveränität die Rechtssicherheit beeinträchtigen. 184 Vgl. diesbezüglich auch die Frist bei der abstrakten Normenkontrolle; I. Kap. B. IV. I. 185 STC 17/81/1. 186 Vgl. auch Weber, in: Horn/Weber (Hrsg.), Richterliche Verfassungskontrolle, s. 65. 187 So auch Torres del Moral, S. 436. 188 STC 42/85/2.

B. Der Tribunal Constitucional als Kontrollorgan des Gesetzgebers

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Gleichzeitig zeigt dies aber auch die Vernetzung zwischen Politik und Verfassungsgericht, da die abstrakte Normenkontrolle nur durch Anträge, die von politischen Organen gestellt werden, eingeleitet werden kann. 189 Andererseits betont das Verfassungsgericht wiederholt die Bedeutung der abstrakten Normenkontrolle für die Rechtsordnung als solche. So äußert das Verfassungsgericht, dass die "abstrakte Entschlackung der Rechtsordnung (... ) die normalerweise die Aufgabe des ordentlichen Gesetzgebers ist und nur auf einen Antrag, zu dem sehr wenige Organe oder besonders qualifizierte Teile derselben berechtigt sind und der nur innerhalb einer kurzen Ausschlussfrist eingereicht werden kann, diesem Gericht zugewiesen ist." 190 Bezeichnend für die abstrakte Normenkontrolle ist daher, dass hier auf Initiative von politischen Kräften, die sich unter Umständen im gesetzgebensehen Entscheidungsprozess nicht durchgesetzt haben, das Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens kontrolliert wird. Die Tätigkeit des Verfassungsgerichts wird hier nahezu als Pendant zu der des Gesetzgebers qualifiziert.

dd) Ergebnis Auch wenn durch den identischen Verfahrensgegenstand das Ziel der Normenkontrolle immer auf die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze abzielt, muss doch gesehen werden, dass bei der konkreten Normenkontrolle auf veränderte Umstände der Realität reagiert werden kann, die für den Gesetzgeber bei Gesetzeserlass nicht ersichtlich waren, bei der abstrakten Normenkontrolle hingegen die Konfrontation mit der gesetzgebensehen Tätigkeit "unmittelbarer" erscheint.

2. Die präventive Normenkontrolle Die Normenkontrolle "a priori" bezieht sich im Gegensatz zur nachträglichen Normenkontrolle nicht auf bereits verkündete Gesetze. Gegenstand dieser Kontrolle sind vielmehr Gesetzesvorhaben, die erst noch verabschiedet und veröffentlicht werden sollen. Bei dieser Verfahrensart greift die verfassungsgerichtliche Entscheidung während des Gesetzgebungsverfahrens ein und wirkt daher wie ein Filter für den Eintritt einer Norm in die Rechtsordnung. 191 189 Vgl. auch Ruiz Lapena, in: Ramfrez (Hrsg.), Estudios sobre Ia Constituci6n Espaiiola de 1979, S. 387. 190 STC 17/8111.

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a) Die Möglichkeiten einer Normenkontrolle ex ante Während in Frankreich der Conseil Constitutionnel nur eine präventive Normenkontrolle ausüben kann, ist das Normenkontrollsystem in Spanien192 grundsätzlich auf eine Überprüfung von Normen "a posteriori" ausgerichtet.193 Die vorbeugende Normenkontrolle, die im Titel VI des LOTC ihre nähere Ausprägung erhalten hat, ist demgegenüber als Ausnahme anzusehen. Dabei ist nach dem Gegenstand einer solchen Kontrolle, d. h. zwischen den völkerrechtlichen Verträgen auf der einen und den Organgesetzen und Autonomiestatuten auf der anderen Seite, zu unterscheiden. b) Die Normenkontrolle ex ante gegenüber Organgesetzen und Autonomiestatuten Die präventive Normenkontrolle gegenüber Organgesetzen und Autonomiestatuten ist nicht ausdrücklich in der Verfassung angelegt. 194 Garcfa-Pelayo y Alonso, REDC I (1981), S. 26. Ähnlich das deutsche Recht, das de lege lata ausschließlich eine nachträgliche Normenkontrolle kennt, wobei allerdings erwähnt werden muss, dass es bis 1956 gern. § 97 BVerfGG die Möglichkeit gab, vom Bundesverfassungsgericht eine Stellungnahme zu Gesetzesvorhaben zu verlangen. Diese Gutachtenvorlage wurde jedoch mit der Begründung, dass eine solche Stellungnahme ohne Bindungswirkung dem Wesen eines Verfassungsgerichts widerspreche, durch Gesetz vom 21.7.1956 (BGBI. I, S. 662) abgeschafft. In ständiger Rechtsprechung hat das Verfassungsgericht jedoch die Möglichkeit einer vorbeugenden Normenkontrolle bei völkerrechtlichen Zustimmungsgesetzen zugelassen, um hier einen Konflikt bei Verfassungswidrigkeit des Zustimmungsgesetzes mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen entgegenzutreten (vgl. BVerfGE I, 413; 36, I (15)). Diese Art präventiver Normenkontrolle im deutschen Verfassungsgerichtssystem (nach Verabschiedung, aber vor Veröffentlichung und lokrafttreten des Zustimmungsgesetzes) wurde durch die Verfassungsrechtsprechung entwickelt, hat jedoch keine gesetzliche Verankerung gefunden. 193 Cruz Villalon, Revista de Derecho PUblico 82 (1981), S. 16; Figueruelo Burrieza. Revista de estudios politicos 81 ( 1993), S. 51. Auch wenn Perez Royo, in: El Tribunal Constitucional Bd. 3, S. 2203 das spanische Normenkontrollsystem als Kombination des deutschen und französischen Systems bezeichnet ("EI sistema espaiiol, en definitiva, ha combinado los dos sistemas ... el aleman y el frances ... "), darf dies nicht über das grundsätzliche Verhältnis dieser Kontrollmöglichkeiten hinwegtäuschen; vgl. derselbe, Tribunal Constitucional y divisi6n de poderes, S. 93 "un sistema fundamentalmente represivo de control de constitucionalidad." 194 Die Möglichkeit, dem Verfassungsgericht eine nicht in der Verfassung zugewiesene Kompetenz einzuräumen, ergibt sich aus der "Öffnungsklausel" des Art. 161 Abs. I lit. d CE, der die Zuständigkeit des Verfassungsgerichts "in allen dem Verfassungsgerlebt nach der Verfassung oder qualifizierten Gesetzen zugeschriebenen 19 1

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Sie wurde durch das Verfassungsgerichtsgesetz von 1979 gegenüber Vorhaben für Autonomiestatuten und Organgesetze in den Art. 2 und 79 LOTC eingeführt. Die Antragsberechtigung hierzu entspricht der zur abstrakten Normenkontrolle. 195 Sobald die als endgültig angesehene Fassung des anzufechtenden Vorhabens feststeht, ist der Antrag zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung innerhalb einer Frist von drei Tagen einzureichen (Art. 79 Abs. 2 S. 2 LOTC). Mit der Einlegung dieses Normenkontrollantrags wird dieser im Staatsblatt (Boletfn Oficial del Estado) veröffentlicht 196 und das Gesetzgebungsverfahren bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichts gehemmt 197. Gerade diese Suspendierung stellt einen entscheidenden Unterschied zu den nachträglichen Normenkontrollen dar. 198 Das lokrafttreten der Gesetze wurde teilweise über ein Jahr lang hinausgezögert199, was naturgemäß einen nicht unerheblichen Eingriff in die gesetzgeberische Tätigkeit darstellt. Zuständigkeitsbereichen" vorsieht, eine Regelung, die ähnlich auch im deutschen Grundgesetz in Art. 93 Abs. 2 GG vorhanden ist. 195 Damit kommt diese Befugnis dem Regierungspräsidenten, dem Volksanwalt, 50 Abgeordneten, 50 Senatoren sowie den vollziehenden Kollegialorganen (=Regierungen) und den Versammlungen der Autonomieregionen im Falle der Betroffenheit des eigenen Autonomiebereichs zu. 196 Femdndez Segado, S. 193 und Art. 86 Abs. 2 LOTC. 197 Art. 79 Abs. 2 S. 3 LOTC; das Verfassungsgericht hat nach Stellung des Normenkontrollantrags innerhalb von 25 bis 40 Tagen (Art. 79 Abs. 3 LOTC i. V. m. Art. 34 Abs. 2 LOTC) seine Entscheidung (pronunciamiento) zu fallen. Tatsächlich wurde diese Frist jedoch als Beurteilungsfrist gehandhabt, d.h. das Verfassungsgericht bestimmt nach Abschluss aller eingegangenen Stellungnahmen erst den Fristbeginn. 198 So auch der Beschluss (auto) 12011983/3: "Der wesentliche Unterschied (zwischen den präventiven und den nachträglichen Normenkontrollen, Ergänzung der Verf.) wurzelt in den Wirkungen, die durch die Einlegung des einen oder anderen Normenkontrollantrages hervorgerufen wird, da beim präventiven automatisch der Verfahrensweg für das Gesetzesvorhaben und der Lauf der Fristen (Art. 79 Abs. 2 LOTC) suspendiert wird, während in den übrigen Fällen weder die Geltung noch die Anwendung des Gesetzes (von einer Ausnahme abgesehen, Ergänzung d. Verf.) suspendiert werden kann." 199 Rubio Uorente, Forma del Poder, S. 424, vgl. z. B. auch STC 98/85 gegenüber dem Gesetzesvorhaben über die Gewerkschaftsfreiheit (Ley Organica de Libertad Sindical), das bereits am 26. Juli 1984 definitiv vom Plenum des Kongresses beschlossen worden war, während die verfassungsgerichtliche Entscheidung, die keine Unvereinbarkeit mit der Verfassung feststellte, erst am 29. Juli 1985 erging. Vgl. auch Antrag gegen die Einführung des Art. 417 CP (Straffreiheit der Abtreibung); am 2. Dez. 1983 wurde der Antrag auf präventive Normenkontrolle gestellt,

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Kommt das Verfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass das Vorhaben nicht mit der Verfassung vereinbar ist, so hat der Gesetzgeber dessen verfassungswidrige Vorschriften zu streichen oder zu ändern, bevor das Gesetzgebungsverfahren weitergeführt werden kann (Art. 79 Abs. 4 lit. b S. 2 LOTC). Das Verfassungsgericht hat, sofern es die Verfassungswidrigkeit feststellt, diese und die verletzte(n) Verfassungsvorschrift(en) zu konkretisieren (Art. 79 Abs. 4 lit. b S. 1 LOTC). Die Aufgabe des Verfassungsgerichts, den Widerspruch mit der Verfassung näher zu bezeichnen, geht damit über die reine Feststellung der Verfassungswidrigkeit hinaus. Diese Bestimmung des spanischen Verfassungsgerichtsgesetzes rechtfertigt es daher, dem Verfassungsgericht im Rahmen der präventiven Normenkontrolle für Organgesetze und Autonomiestatute die Befugnis einzuräumen, dem Gesetzgeber bzw. der Autonomieregion inhaltliche Vorgaben zu machen, inwiefern die Verfassungswidrigkeit zu beseitigen ist. Damit wird die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers für das vorliegende Vorhaben begrenzt. 200 c) Die Abschaffung der präventiven Normenkontrolle für Organgesetze und die Statuten der Autonomien und ihre Bedeutung für das Verhältnis Verfassungsgericht und Gesetzgeber Mit dem Organgesetz 4/1985 vom 7. Juni 201 wurde der Art. 79 LOTC, der die ausschließliche Grundlage für das "ob" und "wie" der präventiven Normenkontrolle gegenüber Organgesetzen und Statuten der Autonomien bildete, aufgehoben. 202 Die präventive Normenkontrolle gegen Organgesetze war von Anfang an umstritten, sie wurde als "anormale Figur" 203 bezeichnet wurde und in der Praxis mehr zum Zweck einer politischen als einer gerichtlichen Kontrolle angewandt. 204 Von der parlamentarischen Minderheit wurde die Einlegung dieses Rechtsbehelfs als aufschiebendes Veto benutzt.205 die verfassungsgerichtliche Entscheidung hierzu erging am 11 . April 1985 und erklärte die Ergänzungsbedürftigkeit des Gesetzesvorhabens. 200 Vgl. auch Figueruelo Burrieza, Revista de estudios politicos 81 (1993), S. 52, 53. 201 BOE 137/l985, vom 8. Juni. 202 Vgl. zu den insgesamt 7 Urteilen in präventiven Normenkontrollverfahren gern. Art. 78 LOTC G6mez Montoro, REDC 22 (1988), S. 168-170. 203 Rubio Llorente, in: Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa Bd. I, S. 262. 204 Ferntindez Segado, S. 191. 205 Rubio Uorente, in: Landfried (Hrsg.), Constitucional Review and Legislation, s. 133.

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Die Motive für die Abschaffung dieses präventiven Normenkontrollverfahrens werden in der Präambel des Abschaffungsgesetzes aufgefl.ihrt. 206 Hierbei wird betont, dass "der Titel IX der Verfassung ein System der legislativen Kontrolle ,a posteriori ' 207 und ohne Suspensivcharakter mittels des Verfassungsgerichts aufstellt, dem jegliche präventive Kontrolle fremd ist". Neben dem Ausnahmecharakter, den die präventive Normenkontrolle im spanischen Verfassungssystem einnimmt, wird auch die Anwendung dieser Institution als Grund für ihre Abschaffung in der Präambel erläutert: "Die bisherige Erfahrung aus mehr als drei Jahren Verfassungsgerichtsbarkeit hat gezeigt, dass die präventive Normenkontrolle zu einem Faktor geworden ist, der das klare System der Beziehungen der Verfassungsorgane des Staates verzerrt hat und dabei unerwartete und jenseits der Verfassung liegende Konsequenzen für die letzte Verfahrensphase bei der Gesetzesbildung hatte." Weiterhin wird in der Präambel der negative Einfluß der präventiven Normenkontrolle auf das Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber dargelegt. "Der durch die Verfassung gebildete Staat findet seine Grundlage in einem Gleichgewicht der Gewalten. Dieses zeichnet sich dadurch aus, dass jede Gewalt ihr streng begrenztes politisches und rechtliches Tätigkeitsfeld hat und sie sich untereinander nicht gegenseitig einmischen, so dass ihre harmonische Beziehung ins Wanken gebracht würde. Die Einführung der präventiven Normenkontrolle bedeutet jedoch eine Erschütterung fl.ir dieses ausgewogene Gleichgewichtssystem und wirkt sich auf das Verhältnis zwischen der legislativen Gewalt und dem Verfassungsgericht negativ aus. ( ... ) Wenn das Verfassungsgericht, ein rechtsprechendes Organ und daher weit entfernt von den politischen Wechselfällen der parlamentarischen Praxis, in den Gesetzgebungsprozess eingreift, bevor der parlamentarische Wille sich definitiv gebildet hat, sieht es sich in eine Funktion gedrängt, die nicht dem von der Verfassung normierten Gewaltensystem entspricht." Bezeichnend ist es, wenn die präventive Normenkontrolle als "Instrument zur Mitgesetzgebung in den Händen des Verfassungsgerichts" 208 beschrieben wird oder festgestellt wird, dass dem Verfassungsgericht die Funktion einer dritten Kammer zugewiesen wird209 •

206 207 208 209

Präambel der Ley Organica 411985, vom 7. Juni. So auch Perez Royo, Tribunal Constitucional y divisi6n de poderes, S. 93. Figueruelo Burrieza, Revista de estudios polfticos 81 (1993), S. 50. Alvarez Conde, S. 278.

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Jede der öffentlichen Gewalten hat ihren eigenen Wirkungskreis, in dem sie sich frei entfalten können soll, ohne dass das Verfassungsgericht diesbezüglich eingeschaltet werden kann. Mit der Abschaffung der präventiven Normenkontrolle gegen Organgesetze im Jahre 1985 wird der Einfluss des Verfassungsgerichts auf das Gesetzgebungsverfahren beschränkt. Die Kontrolle des Gesetzgebers bei der Gesetzgebung kann nunmehr erst nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens eingreifen und dieses nicht mehr direkt und unmittelbar beeinflussen. Die Tätigkeitsfelder von Verfassungsgericht und Gesetzgeber werden somit stärker getrennt, sie sind nicht mehr unmittelbar miteinander verflochten. d) Die präventive Kontrolle bei völkerrechtlichen Verträgen Die Zulässigkeil einer präventiven Normenkontrolle gegenüber völkerrechtlichen Verträgen ist in der spanischen Verfassung in Art. 95 Abs. 2 CE210 verankert. Dieser bestimmt, dass die Regierung sowie jede der Kammern (das Abgeordnetenhaus211 und der Senat212) vor dem Abschluss213 eines völkerrechtlichen Vertrags (Ratifizierung, vgl. Art. 154 ff. Reglamento del Congreso, Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses) vom Verfassungsgerlebt eine Entscheidung darüber beantragen kann, ob der völkerrechtliche Vertrag zu der Verfassung im Widerspruch steht oder nicht. Gegenstand der Kontrolle ist hier der paraphierte, d. h. in seinem Wortlaut festgelegte Vertrag.Z 14 Das Erfordernis einer präventiven Normenkontrolle bei völkerrechtlichen Verträgen ergibt sich aus der Überlegung, dass hier eine nachträgliche Kontrolle bei bereits eingegangen völkerrechtlichen Verpflichtungen problematisch ist. 215 Entsprechend heißt es in der Erklärung216 108/92, dem bis 1999 einzigen Urteil im Verfahren der präventiven Normenkontrolle gegenüber internationalen Verträgen: "Die Störung für Außenpolitik und internationale Beziehungen, zu der die potentielle Verfassungs210 Vorbild dafür ist Art. 54 der französischen Verfassung von 1958, vgl. Weber, in: Horn/Weber, Richterliche Verfassungskontrolle, S. 65 sowie Rubio Uorente, in: Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa Bd. I, S. 260. 211 Gemäß Art. 157 Reglamento del Congreso vom 10. Februar 1982 1/5 der Abgeordneten oder zwei Fraktionen. 212 Gemäß Art. 147 Reglamento del Senado vom 31. Mai 1982 einundzwanzig Senatoren oder eine Fraktion. 213 Art. 78 Abs. 1 LOTC spricht von celebraci6n, d.h. Abschluss, womit die Verabschiedung des Zustimmungsgesetzes gemeint ist; so auch Rubio Llorente, Forma del Poder, S. 422, Anm. 29. 214 Torres del Moral, S. 434. 215 Torres del Moral, S. 435. 216 "Declaraci6n", so die Bezeichnung für die Endentscheidung im präventiven Normenkontrollverfahren gegenüber völkerrechtlichen Verträgen.

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widrigkeitserklärung einer vertraglich zugesicherten Norm führen würde, ist evident. Gerade das Risiko einer derartigen Störung will diese Verfassungsbestimmung vermeiden." 217 Der Staat kann sich von dem völkerrechtlichen Vertrag nicht durch den Verweis auf dessen Unvereinbarkeit mit der nationalen Verfassung lösen, da die Bestimmungen des völkerrechtlichen Vertrags nur in der im jeweiligen Vertrag selbst vorgesehenen Form oder in Übereinstimmung mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts abgeschafft, verändert oder suspendiert werden können (Art. 96 Abs. 1 S. 2 CE), woraus sich die Notwendigkeit einer Kontrolle "a priori" ergibt. 218 "Durch das in Art. 95 Abs. 2 vorgesehene Verfahren erkennt die Grundnorm dem Verfassungsgericht die zweifache Aufgabe zu, die Verfassung zu schützen und gleichzeitig die Sicherheit und Stabilität der Verpflichtungen zu garantieren, die Spanien auf internationaler Ebene eingeht. (.. .) Wenn der Zweifel an seiner (des Vertrages, Anm. d. Verf.) Verfassungsmäßigkeit sich bestätigen sollte, kann der Vertrag ohne vorherige Verfassungsänderung nicht Gegenstand der Ratifikation sein (Art. 95 Abs. I CE)."219 Gemäß Art. 78 LOTC wird nach Eingang eines Antrags auf präventive Kontrolle das weitere Gesetzgebungsverfahren für den Abschluss des Vertrages automatisch suspendiert.220 Stellt der Tribunal Constitucional einen Widerspruch zwischen internationalem Vertrag und der Verfassung fest und soll trotzdem eine Ratifizierung erfolgen, so ist zuvor die Verfassung entsprechend zu ändern (Art. 95 Abs. 1 CE). Die Entscheidung des Verfassungsgerichts in diesem Verfahren ergeht nicht als Urteil (sentencia), sondern wird als Erklärung (declaraci6n) abgegeben. Diese Bezeichnung ist aber nicht im Sinne einer nur gutachtlichen Stellungnahme221 zu verstehen, da ihr gemäß Art. 78 Abs. 2 LOTC eine rechtliche Bindungswirkung zukommt. Aus dieser Bindungswirkung folgt jedoch nicht die absolute Verhinderung einer Ratifizierung des völkerrechtlichen Vertrags. Wird ein Widerspruch mit der Verfassung festgestellt, so steht der Abschluss des völkerrechtlichen Vertrages unter der Bedingung, dass zuvor eine entsprechende Verfassungsreform, die den Widerspruch aufhebt, durchgeführt wird. 222 Erklärung (declaraci6n) 108/92/1. Almagro Nosete, S. 52. 219 Erklärung (declaraci6n) 108/92/1. 220 Faller, EuGRZ 1986, S. 53. 221 Missverständlich in diesem Sinne Faller, wenn er hier von der Möglichkeit spricht, ein "Gutachten" beim Verfassungsgericht zu beantragen, vgl. Faller, EuGRZ 1986, s. 53. 222 Ferntindez Segado, S. 190. 21 7

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Die Richtung, in welche gegebenenfalls eine solche Reform gehen muss, soll dabei vom Verfassungsgericht selbst vorgegeben werden. 223 Ziel dieses Verfahrens ist nicht primär die Verhinderung verfassungswidrigen Rechts, sondern die Angabe, welchen Weg das Parlament beschreiten muss, um den völkerrechtlichen Vertrag ordnungsgemäß in die spanische Rechtsordnung zu integrieren.224 Insofern sind inhaltliche Vorgaben, d.h. konkrete Möglichkeiten für eine solche Reform vom Verfassungsgericht vorzuschlagen. 3. Verfahrensrechtliche Eigenheiten für die Normenkontrollen

Im Folgenden wird auf einige verfahrensrechtliche Eigenheiten im spanischen Verfassungsgerichtssystem eingegangen, die für die Normenkontrollen gelten. Bezogen auf die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebers erscheint hier zum einen das Plenumsprivileg bei Gesetzen, zum anderen die Frage nach einer Suspensivwirkung für Gesetze bei einem gegen sie eingelegten Verfassungsrechtsbehelf erwähnenswert. a) Das Plenumsprivileg bei Gesetzen Augenfällig ist, dass die allgemein verbindliche Beurteilung von Gesetzen, unabhängig davon, durch welchen Verfassungsgerichtsbehelf die Vorlage erfolgt, dem Plenum zugewiesen ist. Dabei ist anzumerken, dass das spanische Verfassungsgericht als Plenum (das sich aus allen 12 Verfassungsrichtern zusammensetzt) oder durch seine beiden Senate (jeweils bestehend aus sechs Verfassungsrichtern) handeln kann (Art. 6 Abs. 1 LOTC). 225 Durch enumerative Aufzählung (Art. 10 LOTC) wird dem Plenum sein Zuständigkeitsbereich zugewiesen und umfasst insbesondere alle Arten von Normenkontrollen und Kompetenzstreitigkeiten, sowie die Möglichkeit, jede Angelegenheit auf Vorschlag des Präsidenten oder durch drei Richter an sich zu ziehen (Art. 10 lit. k LOTC). 223 Rubio Llorente, Forrna del Poder, S. 423, vgl. auch Cruz Villal6n, Revista de Derecho PUblico 82 (1981), S. 13: "( ...) en orden a colocar al Iegislador en Ia via correcta para incorporar un deterrninado tratado al ordenamiento del Estado". 224 Pirez Royo, Curso de Derecho Constitucional, S. 560. 225 Mag diese Aufteilung in Plenum und zwei Senate auf den ersten Blick dem deutschen Verfassungsgerichtssystem ähneln, so ist dies dennoch nicht mit dem "Zwillingssenat" des Bundesverfassungsgerichts vergleichbar, bei dem der verfassungsgerichtliche Kompetenzbereich je nach Verfahrensart auf die beiden Senate verteilt ist (§ 14 Abs. l, 2 BVerfGG), das Plenum hingegen nur in seltenen Fällen (vgl. beispielsweise § 16 BVerfGG) tätig wird. Anders die Kompetenzverteilung innerhalb des spanischen Verfassungsgerichts: Das Plenum spielt hier eine weit gewichtigere Rolle.

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Den Senaten sind dagegen nur die Angelegenheiten zugewiesen, die nicht zur Kompetenz des Plenums gehören (Art. 11 Abs. 1 LOTC). Ihre Haupttätigkeit ist daher die Behandlung der Verfassungsbeschwerden (Art. 48 LOTC). Während den Senaten daher quantitativ der größere Teil der Streitigkeiten zugewiesen ist, stehen dem Plenum (mit den Normenkontrollen) die Angelegenheiten mit dem weiteren Wirkungskreis zu. 226 Auch in Folge eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens kann es jedoch zur obligatorischen Zuständigkeit des Plenums kommen. Art. 55 Abs. 2 LOTC bestimmt, dass der Senat, falls der Verfassungsbeschwerde stattzugeben ist, weil das angewandte Gesetz Rechte und Freiheiten verletzt, die Frage dem Plenum vorlegt, das die Verfassungswidrigkeit des genannten Gesetzes in einem neuen Urteil mit den in Art. 38 ff. LOTC vorgesehenen gewöhnlichen Rechtsfolgen (allgemeine Wirkungs- und Bindungskraft, Nichtigkeitsfolge) feststellen kann. Diese Vorlage, "autocuesti6n de inconstitucionalidad" oder "cuesti6n interna" (interne Richtervorlage) genannt227 , orientiert sich an den Verfahrensregeln der konkreten Normenkontrolle ("cuesti6n de inconstitucionalidad"). Während der erkennende Senat allein darüber entscheidet, ob durch die Anwendung des Gesetzes eine konkrete Grundrechtsverletzung erfolgt ise28 , und damit das Verfassungsbeschwerdeverfahren abschließt, entscheidet das Plenum in einem neuen, zeitlich nachfolgenden Verfahren über die generelle Gültigkeit des Gesetzes?29 Teilweise wird hier von einer praktischen Vorentscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes durch den Senat gesprochen. 230 226 Rubio Uorente, Fonna del Poder, S. 16; vgl. auch Statistik des spanischen Verfassungsgerichts 1999, hrsg. vom Gabinete tecnico del ?residente, Übersicht (cuadro) Nr. I, S. 5: 71 Angelegenheiten waren in diesem Jahr dem Plenum, 5651 den Senaten zugewiesen. 227 Vgl. Borraja Iniesta, Revista de Administraci6n Publica 98 (1982), S. 174. 228 Der Auffassung von Borraja lniesta, Revista de Administraci6n PUblica 98 ( 1982), S. 204 ff. kann nicht gefolgt werden. Er gesteht den Senaten die Möglichkeit der Annullierung zu, sofern dies im Klageantrag gefordert wird und hält den Art. 55 Abs. 2 LOTC nur dann für anwendbar, wenn der Senat zwar das Gesetz für verfassungswidrig beurteilt, dies aber, gebunden an den Klageantrag, der dies nicht fordert, nicht im Urteil erklären darf (ne ultra petitum), da er so entgegen dem "Kongruenzprinzip" (principio de congruencia) über den Klageantrag hinausgehen würde. Rechtsprechungspraxis, Wortlaut des Art. 55 Abs. 2 LOTC, der für eine solche Differenzierung keine Ansatzpunkte bietet und die Systematik der Zuständigkeitsverteilung zwischen Senat und Plenum stehen einer solchen Ansicht entgegen. 229 STC 34/8111; vgl. auch Rubio Uorente, in: Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa Bd. I, S. 272. 23° Perez Royo, Tribunal Constitucional y divisi6n de poderes, S. 73 sowie in Revista Juridica de Castilla-La Mancha num. 3/4 (1988), S. 103; vgl. auch Rubio Llorente, Forma del Poder, S. 452 in Anm. 30.

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Das Plenum ist an die Auffassung des Senats aber nicht gebunden231 und kann, wie es bisher (bis 1999) in drei Fällen erfolgte, zu dem Ergebnis kommen, dass die vom Senat als verfassungswidrig beurteilte und aus diesem Grund vorgelegte Norm verfassungsmäßig ist. 232 Die Bedeutung der internen Richtervorlage liegt darin, dass einerseits nur das Plenum "zuständig ist, um über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes mit Wirkung erga omnes gemäß den Art. I0 lit. a und 38 des LOTC zu entscheiden"233 , andererseits der Gesetzeskontrolle eine solch hohe Bedeutung beigemessen wird, dass hierfür stets ein eigenständiges Verfahren notwendig ist, wie die Konstellation STC 140/86 und STC 160/86 zeigt. Im ersten Verfahren entschied das Plenum über eine Verfassungsbeschwerde und im zweiten Urteil fallte das Plenum seine Entscheidung im Rahmen der internen Normenkontrolle. In diesem zweiten Verfahren (STC 160/86) entschied das Verfassungsgericht mit erga omnes Wirkung über die Verfassungsmäßigkeit des im Verfassungsbeschwerdeverfahren für verfassungswidrig befundenen Gesetzes (STC 140/86). Losgelöst von den verschiedenen Verfahrensarten, in denen es zur direkten oder indirekten Prüfung von Gesetzen kommt, liegt die Entscheidungskompetenz für die definitive Gesetzeskontrolle an sich immer beim Plenum des spanischen Verfassungsgerichts. 234 Auch wenn bereits das Plenum im Rahmen eines Verfassungsrechtsbehelfs ein Urteil gefällt hat, ist für die Entscheidung über die Gültigkeit eines Gesetzes ein erneutes Urteil erforderlich (es sei denn, es handelt sich ohnehin um eine Normenkontrolle).Z35

Vgl. auch STC 34/81/l. Vgl. z.B. STC 110/88 (Sala/Senat) und STC 185/90 (Pleno/Pienum). 233 STC 34/81/l. 234 Anders Borraja Iniesta, Revista de Administraci6n PUblica 98 (1982), S. 204, 205, der den Senaten die Gesetzeskontrolle bei entsprechendem Klagebegehren des Beschwerdeführers zugesteht und nur sofern die Annullierung des Gesetzes nicht beantragt wird, den Senaten die Kompetenz zur allgemeingültigen Beurteilung des Gesetzes aberkennt. Diese Auffassung hat sich allerdings in der Rechtsprechungspraxis nicht durchgesetzt. 235 Auch in der durch LO 7/1999 vom 21. April neu eingeführten Kommunalkompetenzstreitigkeit ("conflictos en defensa de la autonomfa local") wird für den Fall, dass das Plenum (vgl. Art. 10 c) bis LOTC) eine Verletzung der Selbstverwaltungsautonomie (autonomfa local) aufgrund eines insoweit verfassungswidrigen Gesetzes feststellt, für die Erklärung der Verfassungswidrigkeit ein neues Urteil im Rahmen eines internen Normenkontrollverfahrens (Art. 37 LOTC) verlangt (Art. 75 Absatz 5 Nr. 6 LOTC). 23t

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b) Möglichkeiten einer Suspendierung für Gesetze während der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Weiter erwähnenswert im Zusammenhang mit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Gesetzen ist die Regelung, wie sich die Stellung eines Normenkontrollantrags auf das angefochtene Gesetz auswirkt. Die Zulassung eines abstrakten oder konkreten Normenkontrollantrags suspendiert grundsätzlich weder die Gültigkeit noch die Anwendung des Gesetzes, der normativen Bestimmung oder des Einzelaktes mit Gesetzeskraft. Die Suspensivwirkung gegenüber einem Gesetz ist, da der Gesetzgeber als Repräsentant des Volkswillens einen erhöhten Grad an Legitimationsglaubwürdigkeit genießt, als Ausnahme anzusehen. 236 Eine solche Ausnahme kommt im spanischen Verfassungsgerichtssystem in zwei Fällen in Betracht, zum einen bei einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle für Regionalgesetze, zum anderen bei der präventiven Normenkontrolle (vgl. oben B. II. 2. a) dd)).

aa) Die Suspensivwirkung bei der Anfechtung gem. Art. 162 Abs. 2 CE Die Zulassung eines abstrakten Normenkontrollantrags, der gegen Gesetzesakte der autonomen Gebietskörperschaften durch den Präsidenten bzw. die Regierung eingelegt wird, bewirkt gemäß Art. 30 LOTC i. V. m. Art. 161 Abs. 2 S. 2 CE die Suspendierung der entsprechenden Vorschrift, sofern dies beantragt wurde. 237 Wird die Suspensivwirkung nicht beantragt, so tritt diese nicht ein. Der beantragte Suspensiveffekt erfolgt mit dem Zulassungsbeschluss des Verfassungsgerichts für das Normenkontrollverfahren automatisch. 238 Auch bei Kompetenzstreitigkeiten tritt gegenüber jedem Akt der autonomen Gemeinschaft, "der nach Ansicht der Regierung mit einem Zuständigkeitsfehler behaftet ist, die aufschiebende Wirkung automatisch239 für zunächst fünf Monate ein" (Art. 64 Abs. 2 LOTC). 240 STC 66/85, Leitsatz 5. Vgl. z.B. SSTC 259/88, 64/90. 238 Vgl. Terol Becerra, Revista jurfdica de Castilla-La Mancha 3/4 (1988), S. 266. 239 Rubio I.lorente, in: Starck/Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa Bd. I, S. 264. 240 Das Verfassungsgericht muss dann innerhalb fünf Monaten den Suspensiveffekt bestätigen oder aufheben (Art. 161 Abs. 2 CE), wobei in den meisten Fällen die Suspensivwirkung zwar aufrecht erhalten wurde, daran jedoch strenge Anforderungen gestellt wurden. In dem Beschluss 12/9211 legt das Verfassungsgericht über die Verlängerung der Suspensivwirkung dar: "(. .. ) über die Bestätigung oder die Aufhebung der Suspension einer Norm einer autonomen Gemeinschaft (... ) muss 236 237

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Als Beispiel sei die abstrakte Nonnenkontrolle gegen bestimmte Vorschriften des Gesetzes 11/1981 vom 7. Dezember von Katalonien über das Vermögen der autonomen Regierung Kataloniens genannt, die am 9. März 1982 eingelegt wurde. Die dritte Kammer des verfassungsgerichtlichen Plenums erließ am 11. März 1982 den Zulassungsbeschluss für dieses Verfahren und verfügte damit die Suspendierung der Geltung und Anwendung der angefochtenen Bestimmung des Gesetzes mit der formellen Veröffentlichung des Antrags im amtlichen Staatsblatt Diese Suspensivwirkung wurde mit dem vier Monate später erfolgten Urteil vom 27. Juli 1982241 , das die gesetzlichen Bestimmungen als verfassungskonform beurteilte, aufgehoben. Abgesehen von dem Fall, dass das verfassungsgerichtliche Verfahren vor dem Ablauf der fünf Monate beendet wird, ist es dem Verfassungsgericht möglich, die Suspensivwirkung auch innerhalb dieser fünf Monate aufzuheben. Ein solcher Beschluss ist jedoch, wie das Verfassungsgericht selbst darlegt, nur in Ausnahmesituationen angebracht. 242 Wird nicht innerhalb von fünf Monaten nach Einleitung des Verfahrens über den Antrag entschieden, so trifft das Verfassungsgericht nochmalig über die Suspensivwirkung (Art. 65 Abs. 2, 77 LOTC) einen Beschluss über deren Fortsetzung oder Aufhebung?43 Bei dieser Entscheidung wird davon ausgegangen, dass eine Suspensivwirkung über den Zeitraum von fünf Monaten hinaus nicht der Regelfall sein soll244, sondern vielmehr besonderer Gründe bedarf. 245 1999 wurde beispielsweise in 11 Fällen die Suspensivwirkung aufgehoben und lediglich in 2 Fällen bestätigt. 246 unter Berücksichtigung der Reichweite der Suspension und der Konsequenzen, die sich in der ein oder anderen Weise für öffentliche Interessen und gegebenenfalls für die betroffenen Individuen ergeben, entschieden werden. Maßgebliches Kriterium hierfür sind die Irreversibilität oder irreparable Schäden aus denjenigen Situationen, die entsprechend der getroffenen Entscheidung über die Suspensivwirkung hervorgerufen werden können. Dies ist unter dem Gesichtspunkt der streng kautelarischen Natur dieser Maßnahme zu untersuchen, ohne in irgendeiner Art und Weise die Endentscheidung vorwegzunehmen. Es muss vorliegend beachtet werden, dass die Verlängerung der Suspension (... ) eine Maßnahme ist, die mit höchster Vorsicht und mit Ausnahmecharakter getroffen werden muss, da nur so dabei vermieden wird, dass die Kompetenzausübung seitens der Comunidades Aut6nomas unnötig blockiert wird." So hebt das Verfassungsgericht im vorliegenden Fall die Suspensivwirkung mit der Begründung auf, dass diese nur dann aufrecht erhalten werden kann, sofern sich aus der Aufhebung der Suspensivwirkung unheilbare oder sehr schwer wiederherstellbare negative Wirkungen ergeben würden. 241 STC 58/82. 242 Beschluss (auto) 355/ 1989; vgl. auch Montoro Puerto, Jurisdicci6n constitucional y procesos constitucionales, S. 213. 243 Vgl. Verfahren Nr. 147/85, das am 24.2.85 eingeleitet wurde; am 3.7.85 wurde die Suspensivwirkung aufgehoben, das Urteil selbst (259/88) erging am 22.12.88. 244 Vgl. Beschluss (auto) 139/1981.

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Diese Suspensivwirkung bei der Normenkontrolle beschränkt sich auf Bestimmungen, die durch eine Autonome Gemeinschaft erlassen wurden, und kann für zentralstaatliches Recht nicht herangezogen werden. 247 Sie stellt eine Behinderung für die Legislativgewalt der regionalen Gebietskörperschaften (CCAA) dar, da deren Gesetze dadurch mit zeitlicher Verzögerung ihre Wirkung entfalten. Diese Beschränkung für den Regionalgesetzgeber unterstreicht die Bedeutung des Verfassungsgerichts. bb) Suspensivwirkung bei präventiver Normenkontrolle

Auch bei der präventiven Normenkontrolle tritt eine Suspensivwirkung ein, die die Verabschiedung des Gesetzesvorhabens vor der verfassungsgerichtlichen Entscheidung verhindert. Insbesondere bei den präventiven Normenkontrollen gegen Organgesetze gern. Art. 79 LOTC konnte das Gesetzgebungsverlabren erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung abgeschlossen werden. Das lokrafttreten der Gesetze wurde teilweise über ein Jahr lang hinausgezögert248, was naturgemäß einen nicht unerheblichen Eingriff in die gesetzgeberische Tätigkeit darstellt. Die bisher erst einmal angestrengte präventive Normenkontrolle gegenüber völkerrechtlichen Verträgen verzögerte die Ratifizierung durch den Gesetzgeber hingegen nur geringfügig. Eingereicht am 13. Mai 1992, erging die Entscheidung des Verfassungsgerichts am 1. Juli 1992. Die Ermächtigung zur Ratifizierung erfolgt durch Ley Organica 1011991 vom 28. Dezember, die Ratifizierung selbst am 29. Dezember 1992. c) Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Urteile bei der Normenkontrolle Umstritten ist, welche Bindungswirkung den verfassungsgerichtlichen Urteilen im Rahmen der Normenkontrollen zukommt.

Vgl. Beschluss (auto) 178/1986. Statistik des spanischen Verfassungsgerichts 1999, hrsg. vom Gabinete tecnico del Presidente, Übersicht (cuadro) Nr. 6, S. 10. 247 Weber, in: Horn/Weber (Hrsg.), Richterliche Verfassungskontrolle, S. 64. 248 Rubio Llorente, Forma del Poder, S. 424, vgl. z. B. auch STC 98/95, die am 29. Juli 1985 erging, der Text des angefochtenen Gesetzesvorhabens über die Gewerkschaftsfreiheit (Ley Organica de Libertad Sindical) war bereits am 26. Juli 1984 definitiv vom Plenum des Kongresses beschlossen worden. 245

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aa) Urteile der nachträglichen Normenkontrolle Der Art. 92 LOTC ermöglicht es dem Verfassungsgericht, einen Adressaten zur Ausführung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zu bezeichnen. "Das Gericht kann im Urteil oder in einem Beschluss oder nachträglich bestimmen, wer diese auszuführen hat und gegebenenfalls die Auswirkung der Ausführung bestimmen". Jedoch wird Art. 92 LOTC für die Normenkontrolle nicht herangezogen. Der Regelungsbereich dieser Norm, die in den Komplex der allgemeinen Verfahrensbestimmungen eingegliedert ist, orientiert sich an der Funktion der jeweiligen Verfahrensart. Art. 92 LOTC betrifft den Bereich der Exekutive, nicht den Gesetzgeber. 249 Für die Kontrolle gegenüber dem Gesetzgeber ist Art. 92 LOTC nicht zugeschnitten, da die Rechtsfolgen für die Normgeltung sich bereits von selbst mit dem verfassungsgerichtlichen Urteil ergeben und eine entsprechende Ausführung nicht vorgesehen ist. 250 Auch Art. 92 LOTC wird Die Vorschrift: "Das Gericht nachträglich bestimmen, wer Auswirkung der Ausführung tive, nicht den Gesetzgeber.

für die Normenkontrolle nicht herangezogen. kann im Urteil oder in einem Beschluss oder diese auszuführen hat und gegebenenfalls die bestimmen", betrifft den Bereich der Exeku-

Bereits in Art. 164 Abs. 1 S. 3 der spanischen Verfassung heißt es: "Die Entscheidungen, welche die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes oder einer Norm mit Gesetzesrang betreffen, sowie diejenigen, die sich nicht nur auf die Frage einer individuellen Grundrechtsbeeinträchtigung beschränken, haben allgemeine Bindungswirkung (plenos efectos frente a todos)." Über die Frage, ob jeder einzelnen Aussage des Verfassungsgerichts, die sich in einer Normenkontrollentscheidung wiederfindet, allgemeine Bindungswirkung zukommt, gibt es unterschiedliche Auffassungen. 251 In seiner Entscheidung 6/91 äußert sich das Verfassungsgericht über die Bedeutung der Werturteile und Auffassungen (apreciaciones y estimaciones), die in den Entscheidungsgründen (fundamentos jurfdicos) der verfas-

Vgl. Beschluss (auto) 309/1987. Vgl. Pulido Quecedo, S. 847. 251 Bejahend Pibernat Domenech, Revista juridica de Catalunya 4 (1987), S. 146; ablehnend gegenüber der Figur der Bindungswirkung an sich Bocanegra Sierra; EI valor de las sentencias del Tribunal Constitucional, S. 108 ff., insbes. S. 112, vgl. auch derselbe, in: Martfn Retortillo (Hrsg.), Estudios sobre Ia CE, S. 515: Die für ihn an die Stelle der Bindungswirkung tretende "Rechtskraftwirkung" (cosa juzgada) begrenzt er auf die Aussagen, die die verletzte Verfassungsvorschrift selbst betreffen. Vgl. zu dieser nicht unumstrittenen Problematik auch Rubio Llorente, REDC 22 (1988), S. 33. 24 9

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sungsgerichtlichen Urteile enthalten sind. Es unterscheidet dabei zwischen dem so genannten obiter dieturn und den dicta. Das obiter dieturn wird als "puro dictum, ,die im Vorübergehen gemachte Beobachtung'" charakterisiert und ist dadurch gekennzeichnet, dass es "nicht von Bedeutung, auch nicht als ergänzendes Argument"252 für die Entscheidungsgründe ist. Dem werden diejenigen Aussagen gegenübergestellt, die als Argumente "zur Hauptgrundlage oder ratio der Endentscheidung oder des Endurteils beitragen. " 253 Diesen Argumenten wird eine eigene Wirkung auch dann zugeschrieben, wenn sie nicht der Bestimmung oder Auslegung des Tenors dienen. Insoweit werden diese Aussagen als "rechtliche Stellungnahmen des Gerichts und (...) rechtliche Bezugsworte ausgestattet mit auctoritas"254 beschrieben. In ihrem Verhältnis zur Rechtsprechung ist ihre Bindungswirkung einheitlich geregelt. Die Bindung der Judikative an die verfassungsgerichtliche Interpretation wird in Art. 5 LOPP55 verdeutlicht. In diesem Zusammenhang werden die Entscheidungsgründe teilweise als "eine Form von Gesetzgebung" bezeichnet. 256 Obgleich Umfang und Reichweite der Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen nicht eindeutig determiniert sind, lässt sich zumindest feststellen, dass ihre Relevanz in einfachgesetzlichen Vorschriften betont wird. bb) Die Erklärung bei der präventiven Normenkontrolle

Was die präventive Normenkontrolle anbetrifft, in der die verfassungsgerichtliche Entscheidung als "Erklärung" ("declaraci6n") ergeht, sieht das spanische Verfassungsgerichtssystem die Bindungswirkung explizit vor. Art. 78 LOTC formuliert in seinem Abs. 2 S. 2, dass "das Verfassungsgericht seine Erklärung abgibt, die in Übereinstimmung mit Art. 95 der Verfassung bindenden Charakter besitzt". STC 6/91/4. STC 6/91/4. 254 STC 6/91/4. 255 Art. 5 Abs. I LOPJ: "Die Verfassung ist die höchste Norm der Rechtsordnung und bindet alle Richter und Gerichte, die die Gesetze und Rechtsverordnungen gemäß den Vorschriften und Prinzipien der Verfassung interpretieren sowie in Übereinstimmung mit der Interpretation anwenden, wie sie sich aus den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen jeglicher Verfahrensarten ergeben". 256 Gascon Abellan, REDC (41) 1994, S. 76: "una forrna de legislaci6n". 252 253

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Auch wenn die Entscheidungsform in diesem Verfahren nicht als Urteil bezeichnet wird, kommt ihr, wie sich aus dem Verfassungsgerichtsgesetz ergibt, eine entsprechende Bindungskraft zu. Trotz dieser Klarstellung im Verfassungsgerichtsgesetz hält es das Verfassungsgericht für angebracht, in der ersten Entscheidung in einem solchen Verfahren (der Erklärung zum Maastrichter Vertrag, 108/1992) die Rechtswirkungen dieser Entscheidungsform zu präzisieren: "Das, was bei uns angesucht werden kann, ist eine Erklärung, kein Gutachten, eine Entscheidung und nicht nur eine rechtliche Stellungnahme. Dieses Gericht (... ) verwandelt sich nicht (... ) in ein Konsultativorgan. ( ... ) Was hier beantragt wird, ist ( ... ) eine verbindliche Entscheidung. (... ) Obwohl die Form der Erklärung nicht die rechtliche Qualifikation als ,Urteil' (vgl. Art. 86 Abs. 2 LOTC) verdient, stellt sie eine gerichtliche Entscheidung mit verbindlichem Charakter dar (Art. 78 Abs. 2 LOTC) und entfaltet als solche erga omnes sämtliche Wirkungen der Rechtskraft ( . .. ), auch die positiven oder präjudiziellen, die alle öffentlichen Gewalten dazu verpflichten, unsere Erklärung zu respektieren und sich nach ihr zu richten. Insbesondere dann, wenn sie beinhalten sollte, dass eine bestimmte Vorschrift in Widerspruch zur Verfassung steht, ist der unmittelbare und direkte Vollzug darin zu sehen, die Verfassung vor Erteilung der Zustimmung zu dem Vertrag abzuändern. " 257 Das Verfassungsgericht unterstreicht damit die Bindung des Gesetzgebers an seine Beurteilung der Verfassungskonformität Unabhängig davon, ob die verfassungsgerichtliche Entscheidung als Urteil im nachträglichen Normenkontrollverfahren oder als Erklärung im präventiven Normenkontrollverfahren ergeht, kommt ihr rechtliche Bindungswirkung zu.

4. Verfassungsbeschwerde und Gesetzeskontrolle Der "recurso de amparo" (wörtlich: Klage auf Schutz), wie die Verfassungsbeschwerde im spanischen Recht in Anlehnung an die mexikanische Bezeichnung258 genannt wird, dient dem Schutz der in der Verfassung in Art. 14-30 gewährten Rechte (Art. 53 Abs. 2 CE i. V. m. Art. 41 Abs. 1 LOTC). 259 Diese Grundrechte und Grundfreiheiten sind gern. Art. 10 Abs. 2 im Lichte der Europäischen Menschenrechtskonvention auszulegen. 257 Erklärung (declaraci6n) 108/199211; Übersetzung übernommen aus EuGRZ 1993, s. 286. 258 Torres del Moral, S. 784, vgl. auch Weber, in: Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, S. 73, der erwähnt, dass "in der mexikanischen Verfassung Yucatans 1847 der sog. ,recurso de amparo' als ein individuelles Beschwerdeverfahren gegen Grundrechtsverletzungen vorgesehen war".

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Ein Vorgehen gegen ein Gesetz mittels der Verfassungsbeschwerde scheint prpblematisch. 260 Bei diesem Problemkreis ist zwischen zwei Fallgruppen zu unterscheiden. a) Die verdeckte Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde Ob eine verdeckte Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde, die unmittelbar gegen eine Gerichtsentscheidung oder einen sonstigen Anwendungsakt eines Gesetzes, mittelbar aber und eigentlich gegen die zugrunde liegende Rechtsnorm gerichtet ist261 , möglich ist, ergibt sich, wie auch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts klarstellt, aus Art. 55 Abs. 2 LOTC. 262 Diese Bestimmung des Verfassungsgerichtsgesetzes statuiert das besondere Vorgehen263 dafür, wie zu verfahren ist, wenn der Verfassungsbeschwerde aus dem Grund stattgegeben wird, dass das angewandte Gesetz Grundrechte oder Grundfreiheiten verletzt. Daraus leitet das Verfassungsgericht ab, dass im Rahmen der Verfassungsbeschwerde die Verfassungswidrigkeit des angewandten Gesetzes geltend gemacht werden kann. Das Urteil 41/8t264 wird in diesem Zusammenhang als Geburtsstunde des "amparo frente a leyes" angesehen. 265

259 Art. 41 Abs. 2 LOTC: "Die Verfassungsbeschwerde schützt alle Bürger gemäß den Bestimmungen, die dieses Gesetze aufstellt, gegen die Verletzungen der Rechte und Freiheiten (auf die sich der vorige Abschnitt bezieht .. .), die von (... ) der öffentlichen Gewalt herrühren." 260 Knaak, S. 200, vgl. auch Garda de Enterria, in: EI Tribunal Constitucional Bd. I, S. 22, 51. 261 Säcker, BayVBJ. 25 (1979), S. 193. 262 Vgl. u.a. den Beschluss (auto) 81/1980, SSTC 41/81/1, 148/86/4. 263 Vgl. verfahrensrechtliche Eigenheiten für die Normenkontrollen, oben l. Kap. B. IV. 3. a). 264 STC 41/81/1: "Eine vernünftige Interpretation dieser Vorschrift (des Art. 55 Abs. 2 LOTC) zwingt dazu, dies so zu verstehen, daß die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, das die Grundrechte oder die öffentlichen Freiheiten verletzt, von dem Beschwerdeführer behauptet werden kann. Auf diese Weise kann ein direkter Anspruch wegen der behaupteten Verfassungswidrigkeit durch eine Einzelperson zugelassen werden, wenngleich begrenzt auf die Gesetze, die die Rechte und Freiheiten, die in den Art. 14 bis 40 der Verfassung verankert sind, verletzen oder einschränken und auf die Fälle, in denen der Beschwerdeführer eine konkrete und aktuelle Verletzung seiner Rechte erfahren hat und der Verfassungsschutz untrennbar verbunden ist mit der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes." 265 Gil Cremades, REDC 53 (1998), S. 79, vgl. auch Borraja lniesta, Revista de Administraci6n PUblica 98 (1982), S. 219: "En el Derecho Constitucional espafiola existe el amparo frenta a leyes".

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

b) Kein Gesetz als Verfahrensgegenstand einer Verfassungsbeschwerde Ein anderes Problem ist, ob eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz 266 gerichtet möglich ist, d. h. ob ein Gesetz Gegenstand der Anfechtung sein kann. Gemäß Art. 41 Abs. 2 LOTC gewährt die Verfassungsbeschwerde Schutz gegenüber Grundrechtsverletzungen, die von Bestimmungen, Rechtsakten oder Realakten 267 der öffentlichen Gewalt ausgehen.Z68 Ursprünglich war der Schutz auch gegenüber formellen Gesetzen, sei es des Staates oder der autonomen Gebietskörperschaften, die unmittelbar zu einer Verpflichtung führten, ohne dass ein voriger Antrag oder ein Individualakt zu erfolgen hatte, vorgesehen.Z69 Die Regierung unterdrückte jedoch diese Bestimmung, so dass diese keinen Eingang in die endgültige Fassung des spanischen Verfassungsgerichtsgesetzes fand. 270 Bereits in seinem Beschluss vom 30. September 1980 führt das Verfassungsgericht aus: "Die behauptete Verfassungswidrigkeit des Gesetzes, die der Beschwerdeführer in seinem Anspruchsschreiben anzeigt, kann auf keinen Fall Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein, da unser System im Unterschied z. B. zu dem, das in der Bundesrepublik Deutschland besteht, ( ... ) für diesen Verfassungsgerichtsbehelf die gesetzlichen Normen ausschließt, deren Ungültigkeitsmachung nur im Wege der abstrakten Normenkontrolle gesucht werden kann, die dem einfachen Bürger nicht offen steht (Art. 32 LOTC), oder mittels der konkreten Normenkontrolle, vorgelegt durch Richter oder Gericht".Z71 Außerdem ist von Bedeutung, dass die Verfassungswidrigkeitserklärung von Gesetzen im Verfassungsgerichtsgesetz in den Art. 27 ff. LOTC gere266 Hierzu kommt es wegen der Erfordernis der Rechtswegerschöpfung (Art. 43 Abs. I LOTC: " ... una vez que se haya agotado Ia via judicial procedente") nur in seltenen Fällen, wie bei sog. "self-executing" Gesetzen, die ohne weiteren Anwendungs- oder Ausführungsakt unmittelbare Rechtswirkungen für den Einzelnen entfalten, bei denen daher, abgesehen von der Verfassungsgerichtsbarkeit, kein Rechtsweg besteht. 267 "disposiciones, actos juridicos o simple via de hecho". 268 Die Problematik ergibt sich auch aus Art. 42 LOTC, der für die Klage wegen Rechtsverletzungen, die auf Akte der Cortes (des spanischen Parlaments) oder der Versammlungen der autonomen Gebietskörperschaften (asambleas de las CCAA) zurückzuführen sind, eine Frist bestimmt und sich bei dieser Bestimmung auf Beschlüsse und Rechtsakte ohne Gesetzesrang (decisiones y actos sin valor de ley) beschränkt. Auch in den Art. 43, 44 werden Gesetze als Akte der öffentlichen Gewalt nicht aufgeführt. 269 Cano Mata, Comentarios a Ia LOTC, S. 241. 27 Fenuindez Segado, S. 159, 160. 271 Beschluss (auto) 2511980/4.

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gelt ist, die an die konkrete und abstrakte Normenkontrolle und damit an die dort geregelte Antragsbefugnis (Art. 35, 32) anknüpfen 272 , während für die Verfassungsbeschwerde (Art. 40 ff.) diese Regelungen nicht Anwendung finden. 273 In dem Beschluss (auto) 15711984/1 heißt es über Gesetze, dass "deren Anfechtbarkeit allein den Organen oder Organteilen, die in Art. 162 Abs. I a der Verfassung (... ) aufgezählt sind, vorbehalten ist und daher dem direkten Angriff durch die Bürger entzogen ist. " 274 Das spanische Verfassungsgericht betont in diesem Zusammenhang, dass "eine Verfassungsbeschwerde gegen Vorschriften oder Akte mit Gesetzesgeltung oder -kraft, die direkt deren Verfassungswidrigkeitserklärung anstrebt, nicht eingelegt werden kann". 275 Mag auch im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 24 CE ein Vorgehen gegen sog. self-executing Gesetze (leyes autoaplicativas) erforderlich erscheinen, so steht diese Möglichkeit de lege lata jedoch nicht offen. Die Verfassungsbeschwerde kann daher dem Verfassungsgericht nicht als Ausgangspunkt einer unmittelbaren Kontrolle mit allgemeiner Wirkung für ein Gesetz dienen, sondern eröffnet sich ihm hier nur mittelbar, nämlich durch die Einleitung einer "internen Richtervorlage" gemäß Art. 55 Abs. 2 CE.276 Festzuhalten ist damit, dass im Rahmen eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens selbst weder über die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes allgemein befunden wird noch sich diese direkt gegen ein Gesetz wenden kann. 277 Normenkontrolle und Verfassungsbeschwerde werden somit verfahrenstechnisch voneinander getrennt.

5. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle bei fehlender gesetzgeberischer Tätigkeit Grundsätzlich bedarf die Verfassung zu ihrer umfassenden Entfaltung einer positiven Tätigkeit durch den Gesetzgeber. Wird der Gesetzgeber in diesem Rahmen aktiv, so wird dies "als ,normative Entwicklung' der Verfassung bezeichnet'm8 . Vgl. STC 6/86/1 b. Vgl. auch das besondere Verfahren gemäß Art. 55 Abs. 2 LOTC. 274 Wiederholt im Beschluss (auto) 281/1985/1. 275 Beschluss (auto) 255/1985/1, vgl. auch Ritterspach, in: Zeidler (Hrsg.), FS für Hans Joachim Faller, S. 34. 276 Vgl. auch Weber, JöR 34 (1985), S. 265. 277 Vgl. Nichtzulassungsbeschluss 46/93 für eine Verfassungsbeschwerde gegen das kanarische Enteignungsgesetz 2/l992. 272 273

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Im Gegensatz zum portugiesischen Recht, in dem in Art. 283 der Verfassung explizit ein Verfahren zur abstrakten Kontrolle der Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen vorgesehen ist, gibt es in Spanien279 keine direkte Klage wegen Unterlassens. Die Verfassung bestimmt jedoch beispielsweise als Aufgabe der Legislative, die Grundrechte und Grundfreiheiten positiv auszugestalten (Art. 9 Abs. 2, 53 Abs. 1 CE) und legt dem Gesetzgeber somit die Pflicht zu einer gesetzlichen Regulierung auf. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern das Verfassungsgericht zu einem gesetzgebensehen Unterlassen Stellung beziehen kann. Eine Kontrolle des Verfassungsgerichts nicht über "Produkte" des Gesetzgebers, sondern über dessen "fehlende Produktion", d.h. seine Untätigkeit, scheint auf den ersten Blick in den Regelungen des Verfassungsgerichtsgesetzes zur Verfassungsbeschwerde nicht vorgesehen. 280 Ein Unterlassen des Gesetzgebers kann in unterschiedlichem Zusammenhang auftreten?81 a) Die Kontrolle bei unvollständiger Regelung (relatives Unterlassen) Eine relatives Unterlassen des Gesetzgebers liegt vor, wenn er lediglich eine Teilregelung trifft. Das Unterlassen des Gesetzgebers liegt hierbei darin, dass er grundsätzlich eine Regelung erlassen hat, dabei jedoch einen Aspekt oder eine Gruppe nicht einbezogen hat. Häufigste Erscheinung dieser Fallgruppe ist der gleichheitswidrige Begünstigungsausschluss. In einem solchen Fall bezieht das Verfassungsgericht die benachteiligte Gruppe meist durch seine Entscheidung in die Regelung ein, anstelle die Regelung insgesamt für verfassungswidrig zu erklären. Dies kann im Rahmen der Normenkontrolle oder der Verfassungsbeschwerde der Fall sein.

Cruz Villa/on, JöR 37 (1988), S. 89. Ebenso wie in den übrigen europäischen Verfassungsgerichtssystemen. 280 Vgl. auch Ferneindez Rodriguez, REDC 48 (1996), S. 236,237. 281 Wessei differenziert zwischen relativem und absoluten Unterlassen. Besteht bereits eine Teilregelung, so spricht er von einem relativen Unterlassen, da hier keine vollständige Regelung fehlt, sondern nur ein Aspekt ausgelassen wird oder mangelhaft ist, der mittels Analogie oder einer sonstigen Rechtsfolgenentscheidung ausgeglichen werden kann, Wessel, DVBl 1952, S. 164; vgl. auch Figueruelo Burrieza, Revista de estudios polfticos 81 (1993), S. 67; in ähnlichem Sinn spricht Pestalozza, in: Starck/Drath, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, S. 526 ff. von vertretbarer und unvertretbarer Pflicht, die vom Gesetzgeber nicht erfüllt wird. 278

279

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b) Die Kontrolle bei absolutem Unterlassen Interessant erscheint insbesondere die Variante, dass der Gesetzgeber überhaupt keine Regelung getroffen hat. 282 Diese verfassungsgerichtliche Feststellung einer "Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen des Gesetzgebers" ("inconstitucionalidad por omisi6n del legislador") erörtert das Verfassungsgerlebt erstmalig in seinem Urteil 24/82283 im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde. Eine solche verfassungsgerichtliche Kontrolle des absoluten Unterlassens kommt daher im Bereich der durch das Institut der Verfassungsbeschwerde garantierten Grundrechte und -freiheiten in Betracht. Auch wenn diese Praxis unterschiedliche Resonanz in der juristischen Literatur gefunden hat284, erlaubt die diesbezüglich bereits mehrmalig wiederholte Rechtsprechungstätigkeit285 hier von einer gefestigten Rechtsprechungspraxis des spanischen Verfassungsgerichts zu sprechen. Im Verfassungsbeschwerdeverfahren kann daher das Unterlassen des Gesetzgebers als Grundrechtsverletzung geltend gemacht werden. Ausdrücklich ist die Geltendmachung eines gesetzgebensehen Unterlassens im LOTC allein für den negativen Kompetenzkonflikt vorgesehen (Art. 61 Abs. 1, 68 Abs. 1, 72 LOTC). In diesem Rahmen kann das Verfassungsgericht dem zuständigen Gesetzgeber auferlegen, seine Kompetenz innerhalb einer bestimmten Frist auszuüben (vgl. Art. 72 Abs. 3 a LOTC). Bis 1999 kam es allerdings in allen negativen Kompetenzkonflikten zu abschlägigen Entscheidungen. 286 Bei dieser Streitigkeit um ein gesetzgeberisches Unterlassen geht es allerdings allein um das "ob" einer Tätigkeitspflicht, nicht dagegen um materielle Inhalte einer solchen Verpflichtung. 287 282 In der spanischen Rechtsliteratur wird diese Konstellation als negative Kontrolle der Gesetzgebung (control negativo de legislaci6n) bezeichnet, vgl. Santaolalla, REDC 41 (1994), S. 173. 283 In STC 24/82/3 definiert das Verfassungsgericht die sog. Verfassungswidrigkeil durch Unterlassen des Gesetzgebers ("inconstitucionalidad por omisi6n"): "Diese Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen setzt voraus, dass die Verfassung selbst dem Gesetzgeber die Notwendigkeit auferlegt, Normen zu ihrer Entfaltung aufzustellen und der Gesetzgeber diese nicht erlässt." (vgl. auch SSTC 74/87/4 und

87/89).

284 Zustimmend: Ferntindez Rodriguez, REDC 48 (1996), S. 227 ff., insbes. S. 240, anerkennend nur für den Kernbereich der Grundrechte: G6mez Puente, Revista de Derecho Administrativo 84 (1994), S. 633, ablehnend: Santaolalla, REDC 41 (1994), s. 173 ff. 285 Vgl. STC 31/94/6. 286 Vgl. SSTC 156/90, 37/92, 300/93. 287 Vgl. auch Rodriguez Oliver, in: EI Tribunal Constitucional Bd. 3, S. 2349.

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I. Kap.: Kontrolle des Gesetzgebers durch das Verfassungsgericht

Auch im Rahmen einer Richtervorlage ist die Erörterung eines gesetzgeberischen Unterlassens möglich. Bei der Vorlage einer vorkonstitutionellen Norm288 , deren Unvereinbarkeit mit der Verfassung und infolge dessen deren Derogierung festgestellt wird, kann es gleichzeitig zu der Erkenntnis kommen, dass der postkonstitutionelle Gesetzgeber in einem solchen Fall versäumt hat, eine mit der Verfassung vereinbare Neuregelung zu erlassen, und somit eine Lücke entstanden ist, die auf ein Unterlassen des Gesetzgebers zurückzuführen ist. Auch wenn hierbei nicht unmittelbar eine verfassungswidrige Unterlassung geltend gemacht wird, kann diese vom Verfassungsgericht in einem solchen Verfahren festgestellt werden. 289 Eine weitere Konstellation liegt der Entscheidung 45/89 zugrunde. Hier wird das gesetzgebensehe Unterlassen in der Unvollständigkeit einer Regelung gesehen. Der Gesetzgeber muss hier zusätzliche Optionen eröffnen, damit die vorgelegten Normen als mit der Verfassung vereinbar angesehen werden können. 290 c) Kontrolle während des Gesetzgebungsprozesses Gerade die präventiven Normenkontrollen geben dem Verfassungsgericht die Möglichkeit, die mangelhafte gesetzliche Regelung auf ein Fehlen weiterer gesetzgebenscher Regulierung zurückzuführen und damit dem Gesetzgeber nicht nur die Nichtregelung eines einzelnen Aspektes oder die fehlende Einbeziehung einer bestimmten Gruppe anzulasten, sondern die Untätigkeit als solche, d.h. eine mangelnde "Tiefe" der gesetzgebensehen Tätigkeit, zu bewerten. Beispiele hierfür sind das Urteil zum Abtreibungsparagraphen (STC 53/85) und die Entscheidung zum Maastrichter Vertrag (declaraci6n 108/92), in denen das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber inhaltliche Zusätze vorgibt. 291 288 Dies ist in Spanien im Gegensatz zum deutschen Recht unabhängig von der Aufnahme der Norm in den Willen des postkonstitutionellen Gesetzgebers möglich. 289 So Aguiar de Luque, Revista de Derecho Polftico 24 ( 1987), S. 26. 290 Vgl. STC 45/89/10. 291 In seinem Urteil 53/85 entscheidet das Verfassungsgericht bezüglich der Verfassungmäßigkeit des Gesetzesvorhabens des Art. 417 b des C6digo Penal (Strafgesetzbuch), der die Voraussetzungen bestimmt, unter denen die Abtreibung straflos ist (Urteilstenor), "das Vorhaben für das Organgesetz, durch das der Artikel 417 b des Strafgesetzbuches eingeführt wird, als unvereinbar mit der Verfassung zu erklären. Dies erfolgt nicht aufgrund der Voraussetzungen, unter denen der Artikel 417 b die Abtreibung für straflos erklärt, sondern weil in seiner Regelung Verfassungsforderungen nicht erfüllt werden, die sich aus Art. 15 der Verfassung (Recht auf Leben, Anm. der Verf.) ableiten. Dieser wird daher verletzt, gemäß den Vorgaben und der Reichweite, wie sie im Punkt 12 der Entscheidungsgründe (fundamento juridico) des vorliegenden Urteils bestimmt werden." Die fehlende Statuierung weiterer Sicherungen für die von der Verfassung geschützten Rechtsgüter (die Durchführung der Abtreibung in einer anerkannten Kli-

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d) Ergebnis für die Unterlassenskontrolle Es lässt sich daher feststellen, dass dem Verfassungsgericht im Wege der bestehenden verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten nicht nur die Gesetzeskontrolle, sondern auch eine Kontrolle für gesetzgeberisches Unterlassen, wenn auch nur beschränkt, möglich ist. Gleichzeitig ist dies auch erforderlich, um die Vorherrschaft und Bindungskraft der Verfassung auch dem Gesetzgeber gegenüber zu gewährleisten?92

nik zum Schutz für das Leben der Mutter beispielsweise) wird hier als Grund der Verfassungswidrigkeit angeführt. Die präventive Normenkontrolle gegenüber völkerrechtlichen Verträgen bezieht sich darauf, ob hier der Gesetzgeber noch eine Verfassungsänderung vorzunehmen hat. Es wird hierfür ein Widerspruch zur Verfassung und das Erfordernis einer Verfassungsänderung festgestellt, nicht jedoch eine bereits bestehende Verfassungswidrigkeit, weshalb hier nicht von einer Verfassungswidrigkeit durch Unterlassen im Sinne der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts gesprochen werden kann. 292 Vgl. auch Villaverde, Anuario de Derecho Constitucional y Pariamentario 8 (1996), s. 138. 6 Grau

Zweites Kapitel

Gesetzgeberische Verfassungswidrigkeit und die Reaktion des Verfassungsgerichts Für eine Analyse der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Gesetzgebers kommt neben den formellen Verfahrensmöglichkeiten des Verfassungsgerichts insbesondere der materiellen Rechtsprechung eine gewichtige Bedeutung zu. 1 Im Folgenden soll näher dargestellt werden, welche Gesichtspunkte bei der Prüfung der formellen und materiellen Verfassungswidrigkeit durch das Verfassungsgericht besondere Berücksichtigung finden und welche Konsequenzen ein verfassungsgerichtliches Urteil haben kann.

A. Formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung Die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung erfolgt im Hinblick auf formelle und materielle Gesichtspunkte. I. Formelle Verfassungsmäßigkeit der Gesetze Dem Gesetzgeber sind bei seiner Tätigkeit formelle Grenzen und Voraussetzungen durch die Verfassung vorgegeben. Zuständigkeit, Verfahren und Form der gesetzgebensehen Tätigkeit werden von der verfassungsgerichtlichen Kontrolle umfasst. 1. Zuständigkeit

Als Inhaber der legislativen Gewalt kann der Gesetzgeber grundsätzlich über jede Materie Gesetze erlassen.2 1 Vgl. auch Weber, in: Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik, S. 64; Pereira Menaut, Temas de Derecho Constitucional, S. 206 bezeichnet die Verfassungsentscheidungen als unerlässlich für das Studium des spanischen Verfassungsrechts. 2 Vgl. STC 76/83/4.

A. Formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung

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a) Abgrenzung der Einzelgesetze zu Akten der Exekutive Diese derart umfassende Kompetenz findet ihre Grenze jedoch dort, wo der Funktionsbereich der Exekutive betroffen ist. Das Verfassungsgericht achtet bei Einzelgesetzen (leyes singulares), d. h. bei Regelungen, die einen einzelnen Sachverhalt betreffen und daher eher dem Verwaltungsbereich zuzuordnen sind, darauf, dass diese nur im Ausnahmefall durch den Gesetzgeber erlassen werden. Es prüft daher bei Einzelgesetzen, ob besondere Gründe dafür vorliegen, dass eine Regelung durch den Gesetzgeber erfolgt? b) Erfordernis eines Gesetzesvorbehaltscontra Verweisungsvorschriften an die Exekutive Ein weiterer Gesichtspunkt der Kontrolle des Verfassungsgerichts gegenüber dem Gesetzgeber betrifft die Fälle, in denen der Gesetzgeber durch Verweisungen an die Exekutive (Regierung: STC 199/87; Gemeinden: STC 19/87) sich seiner Aufgabe zur Regulierung der entsprechenden Materie durch Gesetz entledigt und damit den Gesetzesvorbehalt verletzt. 4 Der Gesetzesvorbehalt (reserva de ley) läßt sich einzelnen Verfassungsbestimmungen5 entnehmen. Besonders geregelt ist er in Art. 81 Abs. 1 CE, der für Regelungen, welche die Ausgestaltung der Grundrechte und Grundfreiheiten zum Inhalt haben, die Form des sog. Organgesetzes bestimmt. Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber selbst tätig sein muss und die Regelungen nicht anderen Organen der Staatsgewalt überlassen kann. "Dieser Gesetzesvorbehalt birgt in der Tat eine wesentliche Garantie unseres Rechtsstaates in sich und muss als solcher geschützt werden". 6 Die Zuständigkeit des Gesetzgebers wird in diesen Fällen nicht als "Recht", sondern als "Pflicht" gewertet. Die Bedeutung des Gesetzesvorbehaltes liegt Jetztendlich darin, dass "die Regelungen für den Freiheitsraum, der den Bürgern zusteht, ausschließlich von dem Willen der Volksvertreter abhängen, weshalb dieser Bereich den Eingriffen der Exekutive (... ) entzogen ist". 7 Die Delegierung dieser gesetzgebensehen Kompetenz wird als verfassungswidrig eingestuft. 8 3 4

lll. 5 6 7

6•

Vgl. den Fall Rumasa (Enteignungsgesetz) STC 166/86111 B. Vgl. Perez Royo, Revista jurfdica de Castilla-la Mancha 3/4 (1988), S. 110, Z. B. Art. 36 CE, "Ia ley regulani"; Art. 37 Abs. I, "Ia Jey garantizani". STC 83/84/4. STC 83/84/4.

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2. Kap.: Verfassungswidrigkeit und Reaktion des Verfassungsgerichts

2. Die "Verhaltens"kontrolle

Auch das Gesetzgebungsverfahren als solches wird im Rahmen der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes vom Verfassungsgericht überprüft. Nicht jeder Verfahrensfehler bei der Entstehung eines Gesetzes im weiteren Sinn berührt die Verfassungsmäßigkeit Die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Gesetzgebungsverfahrens wird teilweise als "positive Einfallmöglichkeit in die Funktion des Gesetzgebers" bezeichnet.9 Bei der Beurteilung, inwieweit Fehler im Gesetzgebungsverfahren derart wesentlich sind, dass sie die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze berühren, orientiert sich das Verfassungsgericht insbesondere an dem Demokratieprinzip. a) Das Gesetzgebungsverfahren als Parlamentsangelegenheit Im Urteil I 08/86 geht es um das Gerichtsgesetz (LOPJ) und darum, ob Fehler im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führen. Ausgangspunkt ist Art. 88 der spanischen Verfassung, der bestimmt, dass "Gesetzesvorhaben im Ministerrat verabschiedet werden, der sie dem Kongress zusammen mit den Motiven und den notwendigen Vordebatten übermittelt (. ..)". Da Art. 3 Abs. 5 LOCG (Ley Organica del Consejo General) bestimmt, dass der Rechtsprechungsrat einen Bericht für die Gesetzesvorhaben abgeben kann, die seine Zusammensetzung, Organisation, Funktionsablauf und die Lenkung der Richter und Gerichte oder den rechtlichen Status der Richter berühren, ist dieser Bericht für das Gerichtsgesetz (LOPJ) als notwendige Vorgeschichte im Sinne des Art. 88 CE erforderlich. Zwar hat der Rechtsprechungsrat einen Bericht zu dem Vorentwurf des Gesetzes verfasst. Bevor dieser Vorentwurf jedoch als Gesetzesprojekt an den Kongress weitergeleitet wurde, war er bereits Gegenstand verschiedener Änderungen gewesen. Eine Stellungnahme des Rechtsprechungsrates zu dem Gesetzesvorhaben, so wie es an den Kongress weitergeleitet worden war, lag damit nicht vor. Das Verfassungsgericht führt dazu aus: "Es genügt klarzustellen, dass der aufgezeigte Defekt sich im Verwaltungsverfahren vor der Einreichung des Gesetzesprojekts an den Kongress und nicht im Rahmen des Legislativver8 Teilweise wird dies zusätzlich zur formellen Verfassungswidrigkeit als materieller Fehler angesehen, da die untergesetzliche Regelung eine Grundrechtsverletzung darstellen kann, vgl. Villaverde, La inconstitucionalidad por omision, S. 82, sowie dort Anm. 57. 9 Figueruelo Burrieza, Revista de estudios politicos 81 (1993), S. 50.

A. Formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung

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fahrens ereignet hat. Das Gesetzgebungsverfahren, d.h. die Bearbeitung des Gesetzes erfolgt bei den Cortes Generales, wodurch schwerlich aufrecht erhalten werden kann, dass der zitierte Fehler zur Ungültigkeit des Legislativverfahrens und des daraus hervorgegangenen Gesetzes führen kann. Auch findet die Berufung auf Art. 88 der Verfassung, wie vorher beschrieben, keine Berücksichtigung. Das Fehlen einer bestimmten Vorgeschichte hat nur dann Bedeutung, wenn den Kammern ein für ihre Entscheidung notwendiges Bewertungselement entzogen wird. In einem solchen Fall hätte der unmittelbar erkannte Fehler in den Kammern selbst angezeigt werden müssen. Die Antragsteller führen nicht an, dass eine solche Rüge erhoben wurde. Da diese Anzeige nicht erfolgt ist, ist hieraus zwingend zu schließen, dass die Kammern den Bericht nicht für ein Beurteilungselement hielten, das für ihre Entscheidung notwendig gewesen wäre. Ebensowenig kann sich dieses Gericht in die Abwägung über die Relevanz, die ein Bewertungselement für die Parlamentarier hat, einmischen." 10 Nicht jeder Fehler bei der Entstehung eines Gesetzes im weiteren Sinn berührt die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes. Das Verfassungsgericht stellt auf das Verfahren im Parlament selbst ab. Wird dort eine aktualisierte Stellungnahme eines anderen Organs nicht als fehlend moniert, so wird daraus der Schluss auf die Irrelevanz für die parlamentarische Willensbildung gezogen. Die Regelungen für das Gesetzgebungsverfahren werden unter dem Gesichtspunkt geprüft, inwieweit sie eine Rolle für die Willensbildung im Parlament einnehmen. 11 Verfahrensrechtliche Bestimmungen, die den Willensbildungsprozess der Parlamentarier nicht beeinflussen, berühren wiederum auch nicht die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes. Hintergrund dieser Argumentation ist das Kriterium des Demokratieprinzips.12 Die Parlamentsautonomie führt hier dazu, dass ohne eine Rüge des Verfahrensfehlers dieser nicht als wesentlich angesehen wird und daher die Gültigkeit des Gesetzes nicht berühren kann. b) Der politische Pluralismus als maßgebliches Kriterium für die Relevanz von Verfahrensvorschriften Im Verfahren STC 99/87 wurde der Normenkontrollantrag auch auf die formelle Verfassungswidrigkeit des vorgelegten Gesetzes wegen Verletzung STC 108/86/3. Vgl. auch Jimenez Aparicio, Revista del Centro de Estudios Constitucionales 1989, s. 152. 12 Vgl. Biglino Campos, in: Garrorena Morales (Hrsg.), EI parlamento y sus transformaciones actuales, S. 207, 208. to

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2. Kap.: Verfassungswidrigkeit und Reaktion des Verfassungsgerichts

der Art. 87 Abs. 1, 89 und 90 CE in Verbindung mit den Art. 123 und 125 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenkongresses und des Art. 108 der Geschäftsordnung des Senats gestützt. Diese Regelungen betreffen die Gesetzesinitiative. Ausgangspunkt war, dass der Senat Änderungsvorschläge für das Gesetzesvorhaben einbrachte, die dem Abgeordnetenkongress als Verbesserungsvorschläge übermittelt wurden. Geltend gemacht wird, dass diese Änderungen nicht "Verbesserungen" sind, sondern authentische Gesetzesvorschläge und deren Einreichung als solche hätten erfolgen müssen, damit das Parlament entsprechende Überlegungen anstelle. Diesbezüglich heißt es in Leitsatz I des verfassungsgerichtlichen Urteils: "Zwar erwähnt der Art. 28 Abs. 1 LOTC unter den Normen, deren Verletzung die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes verursachen kann, nicht die parlamentarische Geschäftsordnung. Doch besteht kein Zweifel, dass sowohl wegen der Unverletzlichkeit dieser Verfahrensregeln gegenüber der Tätigkeit des Gesetzgeber als auch vor allem wegen des instrumentalen Charakters, den diese Regeln im Hinblick auf die höchsten Werte unserer Rechtsordnung, den politischen Pluralismus (Art. 1 Abs. 1 CE), haben, die Nichtbeachtung der Vorschriften, die das gesetzgebensehe Verfahren regeln, zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führen kann. Dies ist dann der Fall, wenn die Nichtbeachtung der parlamentarischen Geschäftsordnung auf substantielle Weise den Vorgang der Willensbildung im Parlament beeinflusst." Im Zusammenhang mit der Erörterung, ob der Verfahrensfehler so wesentlich ist, dass er die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes berührt, zieht das Verfassungsgericht auch die Verletzung der Geschäftsordnung heran. 13 Jedoch findet sich weder in der Verfassung noch in der Geschäftsordnung eine materielle Abgrenzung zwischen Verbesserungsvorschlag und Gesetzesvorschlag. Kernpunkt für die Frage nach der formellen Verfassungswidrigkeit ist, ob das zu beurteilende fehlerhafte Verfahren Einfluss auf den Willensbildungsprozess im Parlament ausübt. Dass die Stellungnahme des Senats als Verbesserungsvorschlag und nicht als neuer Gesetzesvorschlag angenommen wurde, hat für die parlamentarische Willensbildung keine Relevanz. 14 Aus diesem Grund wirkt sich der Verfahrensmangel nicht auf die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes aus. 15 Hintergrund dieses Kriteriums ist der dem parlamentarischen System immanente Mechanismus: das Spiel der politischen Kräfte und das Mehrheitsprinzip bestimmen die parlamentarischen Entscheidungen. 16 Können sich 13 Vgl. auch Aja/Gonzalez Beilfuss, in: Aja (Hrsg.), Las tensiones entre el TC y el Legislador en Ia Europa actual, S. 271. 14 STC 99/87/1. 15 Vgl. auch Aja/Gonzalez Beilfuss, in: Aja (Hrsg.), Las tensiones entre el TC y el Legislador en Ia Europa actual, S. 271.

A. Formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung

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diese Faktoren frei entfalten, hütet sich das spanische Verfassungsgericht davor, politische und sonstige Kriterien für die getroffene Entscheidung in seine Überlegungen einfließen zu lassen. Ein anderes abstraktes Normenkontrollverfahren (STC 181/88) richtet sich gegen die erste Zusatzbestimmung des Gesetzes 30/1983 vom 28. Dezember über die Zuweisung der staatlichen Steuern an Katalonien. In dem Antrag wird angeführt, dass an dem Verfahren zu dieser Gesetzgebung nicht die gemischte Kommission von Staat und Katalonien beteiligt war. 17 Diese Beteiligungspflicht wird im Statut 18 von Katalonien vorgeschrieben. Diese Autonomiestatute gehören zum sogenannten "bloque de constitucionalidad". Sie werden vom Verfassungsgericht ebenso wie die Verfassung selbst als Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit gemäß Art. 28 LOTC herangezogen. Eine solche Bestimmung kommt daher einer Verfassungsvorschrift im verfassungsgerichtlichen Kontrollsystem als Maßstab gleich. Demzufolge wird die Regierung verpflichtet, das Vorhaben des betroffenen Gesetzes auf der Grundlage eines von der paritätisch besetzten gemischten Kommission gefassten Beschlusses auszuarbeiten. 19 Das Verfassungsgericht kommt hier zu dem Schluss, "dass im vorliegenden Fall die Regierung nicht legitimerweise einseitig die entsprechende Gesetzesinitiative ergreifen durfte, ohne die legislative Gewalt der Cortes Generales zu beeinträchtigen. Es besteht ein Fehler im Verfahrensablauf, der die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes 30/1983 selbst betrifft". 20 Den Teil des vorgelegten Gesetzes, für den eine Beteiligung der gemischten Kommission erforderlich gewesen wäre, erklärt das Verfassungsgericht in seiner Entscheidung für verfassungswidrig und nichtig. Es bleibt daher festzuhalten, dass in den Fällen, in denen die Gesetzesinitiative ohne die Beteiligung eines vorgesehenen Organs erfolgt, dieser formelle Fehler zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führt.

16 Vgl. Beschluss (auto) 65911987/2; vgl. ebenso für die Relevanz der Vorschriften der parlamentarischen Geschäftsordnungen: Piqueras Bautista, in: EI Tribunal Constitucional Bd. 3, S. 2226. 17 Vgl. STC 181/88/Sachverhalt (antecedentes) I. 18 Vgl. sechste Zusatzbestimmung des Statutes der Autonomieregion Katalonien. 19 Die Beteiligung dieser gemischten Kommission war u. a. deshalb erforderlich, weil durch dieses Gesetz Bestimmungen des Gesetzes 4111981 modifiziert wurden, die auf der Grundlage eines Beschlusses der gemischten Kommission vom 6. Nov. 1980 beruhten und bei deren Änderung demzufolge diese wiederum zu beteiligen ist. 20 STC 181/8817 letzter Absatz.

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2. Kap.: Verfassungswidrigkeit und Reaktion des Verfassungsgerichts

Wann eine Unregelmäßigkeit im Gesetzgebungsverfahren zur formellen Verfassungswidrigkeit führt, beurteilt sich nach der Schwere und Gewichtigkeit des Verfahrensfehlers, was in jedem Fall einzeln bewertet werden muss und sich schwer von vomherein festlegen läßt. Anband der Kasuistik der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kristallisieren sich jedoch bestimmte Kriterien und Gesichtspunkte heraus, die hier eine Rolle für die Wesentlichkeil eines Verfahrensfehlers spielen. 21 Das Verfassungsgericht stellt bei der Kontrolle darauf ab, ob die beteiligten Kräfte eine Partizipationsmöglichkeit hatten und damit ein rechtsstaatlieber Meinungsbildungsprozess gewährleistet ist. Es prüft, ob sich der politische Pluralismus, der in Art. I Abs. 1 CE als einer der höchsten Werte des spanischen Staates normiert wird, frei entfalten kann. 22 Diese Aspekte, die sich aus dem Demokratieprinzip ableiten lassen, werden bei der Kontrolle der formellen Gesetzgebungstätigkeit als Ausgangspunkt gewählt, um in diesem Licht das verfassungsmäßige Zustandekommen eines Gesetzes zu bewerten.

3. Kontrolle des richtigen Gesetzes"typs" (Form) Im spanischen Rechtssystem wird zwischen sog. Organgesetzen und gewöhnlichen Gesetzen unterschieden. 23 Werden durch "normales" Gesetz (ley ordinaria im Gegensatz zur ley organica24) Materien geregelt, die gemäß Art. 81 CE einer Normierung durch Organgesetz vorbehalten sind, so ist das Gesetz formell verfassungswidrig. Es wird durch das Verfassungsgericht für nichtig erklärt. 25 Auch der umgekehrte Fall kann vorliegen, nämlich dass durch sogenanntes Organgesetz Bereiche geregelt werden, für die ein einfaches Gesetz genügen würde. Hierbei wurde vertreten, dass das Verfassungsgericht sich in einem solchen Fall darauf beschränken müsse, das Organgesetz in ein ordentliches ("normales") Gesetz umzuwandeln, ohne seine Aufhebung zu bewirken. 26 Die Rechtsprechungspraxis bestimmt auch in diesen Fällen jedoch die (formelle) Verfassungswidrigkeit mit der Folge der Nichtigkeit. 27 V gl. auch Figueruelo Burrieza, Revista de estudios polfticos 81 (1993), S. 65. Auch das deutsche BVerfG zieht die ausreichende Volksrepräsentation als Kriterium für die Relevanz der Beurteilung einer formellen Verfassungswidrigkeit heran, vgl. BVerfGE 44, 308 (320). 23 Vgl. oben l. Kap. B. I. l. 24 V gl. Art. 90 Abs. l CE. 2s Z.B. STC 160/86. 26 Peces-Barba Marttnez, in: EI Tribunal Constitucional Bd. 3, S. 2069. 21

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A. FonneUe und materielle Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung

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Das Wahlrecht muss im Wahlgesetz (Ley Electoral), welches als solches bezeichnet werden muss, geregelt werden (Art. 70 Abs. 1 CE). In STC 72/ 84 definiert das Verfassungsgericht, unter welchen Voraussetzungen eine Materie das Wahlrecht im Sinne des Art. 70 Abs. 1 CE betrifft und erklärt das vorgelegte Gesetzes vorhaben, welches nicht als Wahlgesetz (Ley Electoral) erlassen wurde, aus diesem Grund für verfassungswidrig. 28 Der Gesetzestyp wird vom Verfassungsgericht als Kriterium der Verfassungsmäßigkeit überprüft. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Gesetzesform befasst sich ferner damit, inwieweit Steuerbestimmungen in dem Haushaltsgesetz (Presupuesto General del Estado) oder durch eigene Gesetze geregelt werden dürfen bzw. müssen. Ausgangspunkt für diese verfassungsrechtliche Frage ist der Art. 134 Abs. 7 CE, der bestimmt, dass im Haushaltsgesetz nicht Steuern erhoben werden können. Das Verfassungsgericht erklärte wiederholt Teile des Haushaltsgesetzes für verfassungswidrig und nichtig, da sie solche Bestimmungen enthielten.29 Mit dieser Kontrolle gewährleistet das Verfassungsgericht, dass der Gesetzgeber die in der Verfassung vorgeschriebene Form bei seiner Tätigkeit beachtet und neben inhaltlichen Anforderungen auch formellen verfassungsrechtlichen Vorgaben genügen muss. Bereits hier werden dem Gesetzgeber Vorschriften gemacht, deren Einhaltung das Verfassungsgericht überwacht.

ll. Die materiellen Bestimmungen der spanischen Verfassung als Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrolle

Im Gegensatz zur formellen Verfassungsmäßigkeit betrifft die materielle Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes die Übereinstimmung mit den Werten, staatspolitischen Organisationsprinzipien und dem sozialen Kontext, wie sie von der Verfassung geregelt werden. 30

1. Grundrechte und Grundfreiheiten Die in der spanischen Verfassung im Art. 14-29 niedergelegten Grundrechte und Grundfreiheiten unterliegen dem besonderen Schutz des Verlas27 28 29

30

Vgl. z. B. STC 76/83/2. STC 72/84/4. Vgl. SSTC 27/81, 68/96. Vgl. Murillo de La Cueva, Revista de estudios poHticos 7 (1979), S. 2 19.

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2. Kap.: Verfassungswidrigkeit und Reaktion des Verfassungsgerichts

sungsgerichts. 31 Wird ihr Schutz durch den Gesetzgeber nicht umgesetzt, so kann ihre Gewährleistung mittels der Verfassungsbeschwerde unmittelbar vor dem Verfassungsgericht von dem Einzelnen eingefordert werden. Sowohl Eingriffe in diese als auch deren Ausgestaltung durch den Gesetzgeber sind der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterworfen. Der Schutz der Grundrechte und Freiheiten gegenüber der öffentlichen Gewalt und den Staatsorganen ist Zweck der Verfassungsbeschwerde. Außerdem bilden sie die Grundlage für die politische Ordnung und den sozialen Frieden.32 Ihr Wesensgehalt und ihr Minimalinhalt werden durch die verfassungsgerichtliche Interpretation bestimmt und die gesetzgebensehe Tätigkeit an diesem Ergebnis gemessen.

2. Die so genannten "Bürgerrechte" Außer den Grundrechten und Grundfreiheiten sind in der spanischen Verfassung in den Art. 30-38 weitere bürgerliche Rechten und Freiheiten aufgeführt. Deren Verletzung kann zwar nicht als Ausgangspunkt einer Verfassungsbeschwerde geprüft werden, jedoch werden diese Rechte vom Verfassungsgericht bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit ebenfalls als Maßstab herangezogen. 33

3. Die Staatsprinzipien In Art. 1 Abs. 1 CE wird Spanien als sozialer und demokratischer Rechtsstaat beschrieben, der für Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und politischen Pluralismus als höchste Werte seiner Rechtsordnung eintreten will. Auch die Regionalautonomie wird in Art. 2 CE gewährleistet. Diese Staatsprinzipien werden vom Verfassungsgericht bei seinen Entscheidungen herangezogen, um Gesetze unter diesen Gesichtspunkten zu prüfen. 34 Als Interpretationskriterien finden sie Eingang in die Verfassungsrechtsprechung?5 So wird beispielsweise der Differenzierungsgrund bei einer Ungleichbehandlung daraufhin überprüft, ob soziale Wertungen Eingang in die Kriterien für eine unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Sachverhalte oder Personengruppen gefunden hat. "Die Bestimmung, was (.. .) unter einer Ungleichbehandlung zu verstehen ist, die zu einer Diskriminierung führt, wird im Wesentlichen durch die Verfassung gegeben, die dazu 31 32 33 34 35

Vgl. auch Gonzalez Rivas, La Justicia Constitucional, S. 125. STC 2/82/3. Vgl. z. B. Art. 31 Abs. I für SSTC 209/88, 214/94, Art. 37 in STC 11/81. Vgl. auch Gonzalez Rivas, La Justicia Constitucional, S. 124. Rubio Llorente, La forrna del poder, S. 96.

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zwingt, bestimmte Gesichtspunkte zu berücksichtigen, unter denen das Prinzip des sozialen und demokratischen Rechtsstaates des Art. 1 Abs. 1 herausragt". 36 In STC 4/81 führte allein die Verletzung der territorialen Autonomie (Art. 2, 137 CE) zur Verfassungswidrigkeit der angefochtenen Normen. Andererseits wird das allgemeine Prinzip des sozialen Rechtsstaats nur selten als alleiniger Parameter für die Beurteilung eines Gesetzes herangezogen. 37 Es dient vielmehr als Argumentationshilfe zur fundierten Begründung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen. Weiterhin wird beispielsweise aus dem Prinzip der Gerechtigkeit und dem Rechtsstaatsgebot (,justicia", "Estado de Derecho"38) der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für einen Eingriff in Verfassungsrechte abgeleitet. 39

4. Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik Im dritten Kapitel der spanischen Verfassung werden Leitprinzipien für die Sozial- und Wirtschaftspolitik aufgestellt. Hier werden der Schutz der Familie (Art. 39), soziale Grundversorgung (Art. 41), Gesundheitsschutz (Art. 43), eine stabile Wirtschaftspolitik (Art. 45), Jugendförderung und Behindertenschutz (Art. 49}, die Altersversorgung (Art. 50}, die Förderung von Kultur und Wissenschaft (Art. 44), Verbraucherschutz (Art. 51) etc. als Programm für die Staatspolitik vorgegeben. 40 Die Verwirklichung dieser Werte kann nicht als konkret bestimmte positive Pflicht des Gesetzgebers vom Verfassungsgericht gefordert werden, da deren Offenheit und Gestaltungsmöglichkeiten keine näher zu determinierenden verfassungsgerichtlichen Aussagen zu deren Realisierung ermöglichen.41 Art. 53 Abs. 3 CE bestimmt: "Anerkennung, Respekt und Schutz der im Dritten Kapitel bestimmten Prinzipien sind Grundlagen für die positive Gesetzgebun~ ( . .. )." Diese Prinzipien sind nicht als leere Programmsätze aufzufassen, sondern dienen als Orientierungsmaßstab der gesamten öffentlichen Gewalt. 42 STC 19/82/6. Aja/Gonzdlez Beilfuss, in: Aja (Hrsg.), Las tensiones entre el TC y el Legislador en Ia Europa actual, S. 268. 38 Vgl. STC 160/8717. 39 Rubio Uorente, La fonna del poder, S. 96. 40 Vgl. auch Gonzalez Rivas, La Justicia Constitucional, S. 124. 41 Vgl. STC 80/8211, in der dargelegt wird, dass die in Art. 39-52 bestimmten Werte erst ausgestaltet werden müssen. 36 37

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2. Kap.: Verfassungswidrigkeit und Reaktion des Verfassungsgerichts

Aus diesen Werten gewinnt das Verfassungsgericht rechtliche Kriterien für die Prüfung der gesetzgebensehen Entscheidung und stützt hierauf seine Argumentation. 43 Es lässt sich daher festhalten, dass in diesen Leitprinzipien Wertungen enthalten sind, die der Gesetzgeber berücksichtigen muss. Sie sind ihm zwar nicht absolut vorgegeben, müssen aber bei seiner Entscheidungsfindung als wesentliche Aspekte beachtet werden. 44 Insoweit werden diese Prinzipien als Maßstab für die Beurteilung der Verfassungswidrigkeit herangezogen. 45 Das Verfassungsgericht erstreckt seine Prüfung sowohl auf Verletzungen der Grundrechte und Staatsprinzipien als auch auf anderweitige Grundprinzipien, Struktur- und Organisationsprinzipien.46 5. "Bloque de constitucionalidad" Neben der Verfassung obliegt dem Verfassungsgericht auch die Prüfung der Vereinbarkeil mit den Autonomiestatuten. Als Maßstab der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gelten gern. Art. 28 Abs. 1 LOTC außerdem die Gesetze, die die Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche von Staat und Autonomien regeln. 47 Dieser Verfassungsblock wird erstmalig in STC 10/82 als Kontrollmaßstab vom Verfassungsgericht angewendet und erfahrt dadurch seine verfassungsgerichtliche Ausgestaltung. 48 6. Die Verfassung als Werteordnung Wiederholt bezeichnet das Verfassungsgericht die Verfassung als "Wertesystem" (sistema de valores),49 womit es ausdrückt, dass die Verfassung nicht nur die rechtlichen Rahmenbedingungen für die übrige Rechtsordnung

Vgl. STC 80/82/l. STC 222/92/6; vgl. Rodriguez Bereijo, Revista espaiiola de Derecho Administrativo 91 (1996), S. 37; Rubio llorente, La forma del poder, S. 96, 97. 44 Gasc6n Abellan, REDC 41 (1994), S. 81, vgl. auch STC 102/95/4 für den Umweltgenuss Art. 45 CE. 45 Peces-Barba Mart{nez. in: EI Tribunal Constitucional Bd. 3, S. 2071; vgl. auch STC 45/89/4. 46 Vgl. Weber, JöR 34 (1985), S. 259. 47 Vgl. Weber, JöR 34 (1985), S. 255. 48 STC I 0/82/2; vgl. auch Montaro Puerto, Jurisdicci6n constitucional y procesos institucionales, S. 193 49 Vgl. z. B. SSTC 9/81/3, 18/81/2; 21/81/10; 68/82/4; 315/94/4; 55/96/4. 42 43

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vorgibt, sondern dass ihre Prinzipien das ganze Rechtssystem durchdringen und ihr inhaltlich eine Gestalt geben.50 Durch Art. lO Abs. 2 CE werden die Allgemeine Europäische Menschenrechtskonvention und die internationalen Verträge und Abkommen über diese Materien ausdrücklich zur Interpretationshilfe für die von der Verfassung anerkannten Grundrechte und -freiheiten bestimmt. Das Verfassungsgericht zieht diese internationalen Bestimmungen in seiner Rechtsprechung heran, um die nationale Rechtsordnung "völkerrechtskonform" auszulegen. Dies trägt dazu bei, die Verfassung als ein Wertesystem zu begreifen. Die Verfassung ist nicht eine bloße Zusammenstellung von Regeln für ein rechtlich geordnetes Zusammenleben, sondern die Grundlage der gesamten Rechtsordnung, womit die materiellen Verfassungswerte verkörpert werden. 51 Eine Differenzierung nach programmatischen und zwingenden Regeln ist nicht möglich, vielmehr ist die Verfassung in ihrer Gesamtheit Parameter für die verfassungsgerichtliche Prüfung.52 111. Kontrollintensität des Verfassungsgerichts bei der Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit Im Rahmen der materiellen Verfassungsmäßigkeit wird geprüft, ob die gesetzgebensehe Tätigkeit ihrem Inhalt nach mit der Verfassung übereinstimmt.53 Die Kontrolle des Verfassungsgerichts ist hierbei bezüglich der Beachtung der verfassungsrechtlichen Inhalte bzw. Kriterien nicht in allen Fällen gleichermaßen intensiv. Teilweise wird eine intensive Kontrolle durchgeführt, teilweise nur die Vertretbarkeil der vom Gesetzgeber gewählten Variante überprüft, teils lässt das Verfassungsgericht eine Evidenzkontrolle genügen. 54 Es geht hierbei um das Problem, welche Ansprüche das Verfassungsgericht an die Begründung der gesetzgebensehen Regelung stellt, ob es die Wahl des Gesetzgebers als vertretbar beurteilt, ob es eine intensive Überprüfung der vorgelegten Frage durchführt oder sich auf evidente Gesichtspunkte der zu beurteilenden Angelegenheit beschränkt. Ein weiterer Gesichtspunkt betrifft die Frage, inwiefern das Verfassungsgericht die vom Gesetzgeber getroffenen Ausgangsfeststellungen hinterfragt oder hinnimmt, d.h. als eigenen Ausgangspunkt der verfassungsgerichtso Vgl. Garcia de Enterr{a, Revista de Derecho Polftico 44 (1998), S. 43. 51 52 53 54

Vgl. Garcia de Enterr{a, in: EI Tribunal Constitucional Bd. I, S. 85. Montoro Pueno, Jurisdicci6n constitucional y procesos institucionales, S. 193. Auch "Ergebniskontrolle" genannt, vgl. Stüwe, S. 62. Kategorisierung übernommen von Schlaich, Rn. 496 ff.

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liehen Überlegungen übernimmt und inwieweit es den Prognosespielraum des Gesetzgebers einer eigenen Beurteilung unterzieht. Aus der Kasuistik des spanischen Verfassungsgerichts werden im Folgenden einige Beispiele aufgeführt. Eine vollständige Schematisierung der Kontrollintensitätsgrade vorzunehmen würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen.

1. Evidenzkontrolle Überprüft das Verfassungsgericht eine gesetzgebensehe Regelung nur darauf, ob diese offensichtlich verfassungsrechtlichen Werten widerspricht, so wird dies als Evidenzkontrolle bezeichnet. 55 a) Evidenzkontrolle bei Grundrechtskollision (STC 5/81) Das Urteil 5/81, ein abstraktes Normenkontrollverfahren, befasst sich mit der Verfassungsmäßigkeit von Bestimmungen des Schulverfassungsgesetzes56. Danach stand dem Schulträger das Recht zu, die Schule an einem im Einklang mit den Verfassungsprinzipien und -grundsätzen stehenden Gedankengut auszurichten (Art. 34 LOECE). Hieran wurde kritisiert, dass die Lehrer dadurch in ihrer Weltanschauungs- und Religionsfreiheit sowie in ihren literarischen, wissenschaftlichen und technischen Aktivitäten, die Schüler in ihrer Weltanschauungsfreiheit und die Eltern in ihren Erziehungsrechten beeinträchtigt sein könnten. 57 Ausgangslage der verfassungsgerichtlichen Prüfung ist daher die Kollision zwischen der Freiheit zur Errichtung von Schulen (Art. 27 Abs. 6 CE) auf der einen Seite und auf der anderen Seite der Lehrfreiheit (Art. 20 Abs. 1 CE)58 sowie dem Erziehungsrecht der Eltern, welches gewährleistet, die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen. Eine detaillierte Prüfung erübrigt sich für das Verfassungsgericht bei der vorliegenden Konstellation: "Die sehr große Freiheit, welche die Verfassung in diesem Punkt dem ordentlichen Gesetzgeber belässt, die nur durch die Notwendigkeit, den ,Wesensgehalt' des garantierten Rechts zu respektieren (Art. 53 Abs. 1 CE), beschränkt ist, macht es allein schon unmöglich, diese gesetzliche Regelung als unvereinbar mit der Verfassung zu halten. Darüber hinaus ist Vgl. Schlaich, Bundesverfassungsgericht, S. 232 f. Ley Organica del Estatuto de Centros Escolares, LOECE. 57 Vgl. STC 5/81/5. 58 Die Lehrfreiheit des Art. 20 Abs. I CE wird in der spanischen Verfassungsrechtsdogmatik nicht auf die Hochschullehrer beschränkt wie die Lehrfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG; vgl. STC 5/81/9. 55

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jedenfalls klar, dass die Eltern durch die freie Wahl einer Schule mit einem bestimmten Gedankengut für die Kinder dazu verpflichtet sind, keinen Anspruch darauf zu erheben, dass die Schule Vorstellungen folgt oder Tätigkeiten durchführt, die mit diesem Gedankengut im Widerspruch stehen. " 59 Bei der hier angestellten Abwägung, ob das Erziehungsrecht der Eltern oder die Lehrfreiheit durch die Errichtung von Schulen verfassungswidrig beeinträchtigt wird, beschränkt sich das spanische Verfassungsgericht auf eine Evidenzkontrolle. Der weite Freiheitsrahmen des Gesetzgebers, der allein an die Beachtung des Wesensgehalts gebunden ist, verhindert hier eine tiefergehende Abwägung zwischen den betroffenen Grundrechten durch das Verfassungsgericht b) Evidenzkontrolle bei Ungleichbehandlungen aus wirtschaftlichen und politischen Differenzierungskriterien (STC 6/84) Beispiel dafür, dass der generell-abstrakte Charakter von Gesetzen dazu führt, dass das Verfassungsgericht eine detaillierte Betrachtung der tatsächlichen Auswirkungen der Norm nicht näher berücksichtigt, ist STC 6/84. Bei dieser konkreten Normenkontrolle ging es um die unterschiedliche Behandlung der Abfindungen bei Kündigung von Arbeitern in Betrieben mit weniger als 25 Arbeitnehmern und solchen mit 25 und mehr. Bei unzulässiger Kündigung ist der Arbeitgeber dazu verpflichtet, entweder den Arbeitnehmer wiedereinzustellen oder ihm eine Abfindung zu zahlen. Die in Art. 56 des Arbeiterstatuts vorgeschriebene Abfindungshöhe differenziert hierbei zwischen Betrieben mit weniger als 25 Arbeitnehmern und solchen mit 25 oder mehr Arbeitnehmern. 60 Grund der niedrigen Abfindungen ist der Schutz der kleineren und mittleren Betriebe in Verbindung mit der allgemeinen Arbeitsplatzkrise. "Die geringere Belastung für die kleineren Betriebe beruht auf deren grundsätzlich größeren wirtschaftlichen Schwierigkeiten (wobei auch nicht die weiterreichenden Auswirkungen für den Gesamtbetrag der Gehälter vergessen werden dürfen) und auch auf der größeren Problematik, die hier bei einer Wiedereinstellung auftauchen kann."6 1 Darauf, dass im Einzelfall die wirtschaftliche Situation von kleineren Betrieben besser sein kann als die von großen, geht das Verfassungsgericht nicht ein. Vielmehr sei der generelle Charakter des Gesetzes eine ihm eiSTC 5/81112. Die Höhe der Abfindung beträgt 45 Tage des Jahresgehalts für jedes Arbeitsjahr, jedoch nicht mehr als 42 Monatsgehälter. 61 STC 6/84/4. 59

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gene Eigenschaft und die Überlegungen daher allgemein anzustellen, losgelöst von den Einzelfällen. Da diese Regelung "allgemeine Zielsetzungen der Sozial- und Wirtschaftspolitik berücksichtigt", gelangt das Verfassungsgericht zur Ansicht, dass die Regelung "als Ganzes keine diskriminierende Ungleichbehandlung statuiert. " 62 Es findet hier somit eine generalisierende Betrachtung statt, die notwendigerweise an der Oberfläche bleibt. Nur bei evidentem Verfassungsverstoß hätte das Verfassungsgericht hier zum Ergebnis der Verfassungswidrigkeit gelangen können. c) Evidenzkontrolle für diskriminierende Auswahlkriterien beim Zugang zu öffentlichen Ämtern In STC 46/91 geht es um die Verfassungsmäßigkeit des Art. 34 des Parlamentsgesetzes über die öffentlichen Ämter der Regionalverwaltung und zwar konkret um den letzten Abschnitt dieses Paragraphen, der bestimmt, dass "in dem Auswahlverfahren die Kenntnis der katalanischen Sprache in Wort und Schrift bewertet werden soll". 63 Das Verfassungsgericht legt hierzu dar: "Sofern in den konkreten Auswahlverfahren für den Zugang zu öffentlichen Ämtern der autonomen Regierung das Erfordernis der Kenntnis des Katalanischen nicht unvernünftig und unverhältnismäßig angewandt wird( ... ), wird die in Art. 23 Abs. 2 CE gewährleistete Gleichheit nicht verletzt. In jedem Fall handelt es sich hier um reine Hypothesen, die auf keiner faktischen Evidenz beruhen und die auf keinen Fall die Verfassungsmäßigkeit des letzten Abschnitts des Art. 34 des katalanischen Gesetzes 17I 1985 beeinträchtigen. "64 Das Verfassungsgericht überprüft das Gesetz nicht in all seinen potentiellen Anwendungsmöglichkeiten, sondern nur bezogen auf die Möglichkeit einer unausweichlichen Verfassungswidrigkeit Um zum Urteil der Verfassungswidrigkeit einer Norm zu gelangen, die durch ihre Anwendung hervorgerufen wird, fordert das Verfassungsgericht, dass diese Verfassungswidrigkeit sich als evident darstellt. Andernfalls kommt die Beurteilung der Norm als verfassungswidrig nicht in Betracht. Führt das Auswahlkriterium der katalanischen Sprachkenntnisse tatsächlich zu einer Diskriminierung, so ist dies kein Gesichtspunkt, der für die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle maßgeblich ist. Eine Verfassungswidrigkeit der Norm lehnt das Verfassungsgericht mangels evidenten tatsächlichen Verfassungsverstoßes ab. 62 63 64

STC 6/84/4. Vgl. STC 46/91/Sachverhalt (antecedentes) l. STC 46/91/4.

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d) Evidenzkontrolle bei der Beurteilung wirtschaftlicher oder sozialer Möglichkeiten In STC 107/96 geht es um die Zwangsmitgliedschaft bei Handelskammern und die Grundfreiheit der freien Vereinigung, die in Art. 22 Abs. I CE gewährleistet wird. 65 Die Zwangsmitgliedschaft in einer öffentlich-rechtlichen Vereinigung stellt einen Eingriff in die negative Vereinigungsfreiheit dar. Eine Rechtfertigung kann dieser Eingriff zum einen in Verfassungsvorschriften finden oder durch Zwecke des Allgemeinwohls, die ohne die obligatorische Einschreibung nicht erreicht werden können. 66 Problematisch ist hierbei die Prüfung, ob es tatsächlich unmöglich ist, auch ohne Zwangsmitgliedschaft die Ziele einer solchen Vereinigung zu verfolgen. Keine Schwierigkeit besteht, wenn es klar ("de forrna patente y manifiesta") ist, dass auch ohne Zwangsmitgliedschaft die Ziele erreicht werden können. Anders stellt sich die Situation in den Fällen dar, in denen nicht eindeutig die Frage, ob auch ohne Zwangsmitgliedschaft die Ziele einer solchen Vereinigung verfolgt werden können, beantwortet werden kann und daher Zweifel aufgrund der bestehenden Unsicherheiten oder Unklarheiten 67 aufwirft. Eine solche Beurteilung weist das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber zu und sieht davon ab, "sich als absoluter Richter über diese Schwierigkeit zu gerieren, für dessen Einschätzung aufgrund der Natur der Sache dem Gesetzgeber ein weiter Beurteilungsraum zusteht. " 68 Die Kontrollintensität des Verfassungsgerichts beschränkt sich hier insoweit auf Evidenzfälle, in denen die falsche Beurteilung klar zu Tage tritt. Gerade diese Limitierung der verfassungsgerichtlichen Kontrollintensität wird teilweise kritisiert. Der Verfassungsrechtsprechung wird vorgeworfen, gegenüber Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers zu nachgiebig zu sein 65 Gemäß der spanischen Verfassungslehre wird die Zwangsmitgliedschaft für Berufskammem vom Schutzbereich der Vereinigungsfreiheit erfasst, da dieser in seiner negativen Komponente die Freiheit von jeglicher Zwangsmitgliedschaft umfasst. Anders stellt sich dies im deutschen Verfassungsrecht dar, das eine solche Zwangsmitgliedschaft an Art. 2 Abs. I GG, der allgemeinen Handlungsfreiheit misst, da sich die Vereinigungsfreiheit weder in ihrer positiven Gewährleistung (Freiheit zur Gründung) noch in ihrer negativen Seite (Freiheit zum Nichtbeitritt) auf öffentlichrechtliche Vereinigungen bezieht. 66 Vgl. STC 107/96/9, 4. Abs. 67 STC 107/96/6: "zona de incertidumbre o penumbra del concepto". 68 STC 113/94112, 179/94/8, 107/96/9.

7 Grau

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und die Begrenzung der Grundrechte und Grundfreiheiten dem Gesetzgeber zu überlassen. Die geringe Kontrollintensität wird als ständige Rechtsprechung (doctrina) bezeichnet und in diesem Zusammenhang von einem Verzicht der Verfassungsrechtsprechung bei der Gesetzeskontrolle gesprochen.69 Gerade für den Bereich der wirtschaftlichen und sozialen Einschätzungen läßt sich eine geringe Kontrollintensität des Verfassungsgerichts feststellen.

2. Vertretbarkeilskontrolle Die mittlere Stufe bei einer Kategorisierung der verschiedenen Stufen der Kontrollintensität des Verfassungsgerichts gegenüber Gesetzen nimmt die sogenannte Vertretbarkeitskontrolle ein. a) Die allgemeinen Differenzierungskriterien im Rahmen des Gleichheitsgrundsatzes (STC 99/84) Der allgemeine Gleichheitsgrundsatz findet sich im spanischen Verfassungsrecht in Art. 14 CE. Die Bindung aller Staatsgewalt und der gerichtliche Schutz dieser Grundrechts ergibt sich aus den entsprechenden Vorschriften des Art. 53 Abs. I, 2 CE. Außerdem wird das Gleichheitsprinzip als einer der obersten Werte des spanischen Staates (Art. 1 Abs. 1) aufgezählt, seine Ausgestaltung und Durchsetzung der öffentlichen Gewalt explizit auferlegt (Art. 9 Abs. 2 CE: Freiheit und Gleichheit). Unter dem Gleichheitsprinzip, das im Art. 14 CE als Diskriminierungsverbot ausgedrückt wird, versteht das Verfassungsgericht das Verbot "einer gesetzlichen Ungleichbehandlung, die ungerechtfertigt ist, weil sie nicht vernünftig ist".70 Auch legt das Verfassungsgericht dar, "dass das Vorliegen dieser Rechtfertigung im Hinblick auf Ziel und Wirkung der zu berücksichtigenden Maßnahme gewürdigt werden muss, wobei sich eine vernünftige Verhältnismäßigkeit zwischen angewandten Mitteln und angestrebtem Ziel zu ergeben hat."7t In der Verfassungsbeschwerde STC 99/84 wurde ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 14 CE geltend gemacht, da die Tierärzte des ICONA72 der beamtenrechtlichen Besoldungsgruppe 4 zugewiesen wurden, während andere Tierärzte mit Beamtenstatus beim Landwirtschafts69 Sondervotum des Verfassungsgerichtspräsidenten Alvaro Rodrfguez Bereijo sowie der Richter Julio Diego Gonzalez Campos, Carlos Viver Pi-Sunyer und Tomas S. Vives Ant6n zu STC 107/96/IV. 70 STC 34/81/3 B. 71 STC 34/81/3 C.

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ministerium der Besoldungsgruppe 5 zugeteilt sind. 73 Das Verfassungsgericht stellt in seinen Ausführungen heraus, dass gleiche Ausbildung und Gleichheit der Funktion und damit derselbe Titel nicht die einzigen Faktoren sind, die für die Bestimmung des Besoldungsgruppe herangezogen werden können, sondern vielmehr andere Kriterien in vernünftiger Weise (razonablemente) für die Kategorisierung der Beamten herangezogen werden können. Allein die Einbindung in verschiedene Verwaltungsstrukturen (Naturschutzinstitut und Landwirtschaftsministerium) erlaube bereits eine unterschiedliche Besoldung von Beamten mit gleichem Titel, so dass das Verfassungsgericht aufgrund der Vertretbarkeit dieses Differenzierungskriteriums eine Diskriminierung verneint. Bei der Überprüfung, ob der Gesetzgeber den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz gewahrt hat, begnügt sich das Verfassungsgericht damit, dass die Regelung ein vernünftiges Differenzierungskriterium erkennen lässt. Um den Gleichheitsgrundsatz zu wahren, reicht es nach Ansicht des Verfassungsgerichts nicht aus, dass ein Differenzierungsgrund an sich vorliegt, was einer Evidenzkontrolle gleichkommen würde. Es werden aber auch nicht alle Einzelheiten der Differenzierung detailliert untersucht, was einer intensiven Kontrolle entsprechen würde. Es kann daher von einer Vertretbarkeitskontrolle für allgemeine Differenzierungskriterien im Rahmen des Gleichheitsgrundsatzes gesprochen werden. 74 b) Vertretbarkeitskontrolle bei Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen (STC 19/88) Bei Grundrechtseingriffen prüft das Verfassungsgericht deren Verhältnismäßigkeit, was als allgemeines Rechtsprinzip gilt. 75 Teilweise wird dieses Erfordernis aus dem Gebot der Gerechtigkeit (Art. 1 Abs. 1 CE)76, teils aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 1 Abs. 1 CE, STC 160/87/6), teils aus dem 72 Instituto Nacional para Ia Conservaci6n de Ia Naturaleza; spanisches Naturschutzinstitut 73 Vgl. STC 99/84/3. 74 Anzumerken ist, dass bei Ungleichbehandlungen, die an die ausdrücklich in Art. 14 CE verbotenen Differenzierungskriterien, wie Geschlecht, Rasse etc. anknüpfen, höhere Anforderungen an deren Rechtfertigung gestellt werden, da diese "Faktoren der Ungleichheit der Verfassunggeber a priori für unzulässig gehalten hat, da sie im Widerspruch zur Würde des Menschen stehen (...)" (STC 317/94/2). Für diese besonderen Differenzierungen wird daher eine strengere verfassungsgerichtliche Kontrolle vorgenommen (vgl. hierzu STC 16/95/3: "Este examen mas riguroso, aplicable en terminos generales a los supuestos elemento detenninante de Ia discriminaci6n"). 75 STC 62/82/5. 76 SSTC 160/87/6; 173/95/26; 50/95/7.

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2. Kap.: Verfassungswidrigkeit und Reaktion des Verfassungsgerichts

Willkürverbot (Art. 9 Abs. 3 CE)77 abgeleitet oder als nahezu identisch mit dem Respekt vor dem Wesensgehalt oder dem Gleichheitsprinzip angesehen.78 In einigen Entscheidungen wird es mit dem Kriterium der "Vernünftigkeit" (razonabilidad) gleichgesetzt.79 STC 19/88 betrifft die Frage, ob die Anordnung einer Ersatzfreiheitsstrafe bei Nichtbezahlung einer Geldstrafe verhältnismäßig ist (Art. 91 CP80). Die Beurteilung dieser Frage erfolgt in Abgrenzung zu der verfassungsgerichtlichen Argumentation in STC 178/85, in der festgestellt wurde, dass die Untersuchungshaft bei Konkursverfahren unverhältnismäßig ist, da die Arrestierung einer Person ebenso durch einen Hausarrest bewerkstelligt werden kann. Im Fall des Art. 91 CP führt das Verfassungsgericht aus: "Es ist sicher, dass gegenüber den Fällen der Insolvenz andere normative Antworten gegeben werden können als die, die heute der Art. 91 CP aufstellt, obwohl auch diese hypothetischen Gesetzesalternativen, um nicht die pure und einfache Aussetzung jeder Strafe herbeizuführen, auf die ein oder andere Weise auf die Person Auswirkungen haben muss." 81 Die Verhängung einer Geldstrafe als strafrechtliche Sanktion darf für den Fall der Nichtbezahlung nicht folgenlos bleiben. Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Prüfung ist, ob die Ersatzfreiheitsstrafe an die Stelle der Geldstrafe treten darf oder ein Hausarrest als milderes Mittel vorrangig angeordnet werden müsste. Zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung der Ersatzfreiheitsstrafe bei Nichtbezahlung der Geldstrafe stellt das Verfassungsgericht fest: "Auf jeden Fall darf dieses Gericht weder die Rolle des Gesetzgebers übernehmen noch kann es insbesondere dessen Bestimmungen für willkürlich halten, wenn diese (... ) wie im vorliegenden Fall, in der vorigen Abwägung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit dessen, der das Strafgesetz gebrochen hat, ihre Grundlage haben". 82 Allein die festgestellte strafrechtliche Verantwortlichkeit genügt, um die Ersatzfreiheitsstrafe als verhältnismäßig und entsprechend verfassungsmäßig zu beurteilen. So legt das Verfassungsgericht dar, dass die festgestellte strafrechtliche Verantwortlichkeit die Grundlage für den Freiheitsentzug bildet. 77

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SSTC 6/88/3; 50/9517. Vgl. zusammenfassend STC 55/96/3. Vgl. STC 90/8312. C6digo Penal, spanisches Strafgesetzbuch. STC 19/88/8. STC 19/88/8.

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"Mit dieser Begründung für den Freiheitsentzug (... ), hat das Urteil über die Verhältnismäßigkeit sich zu begnügen. (...) Es ist uns nicht möglich, weitere Ermittlungen anzustellen, um die in der Norm konkret enthaltenen Rechtsfolgemöglichkeiten zu korrigieren( ...)". 83 Die Ersatzfreiheitsstrafe rechtfertigt sich laut Verfassungsgericht bereits aus der Notwendigkeit der Sanktionseffizienz für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter. Weitere Anforderungen, um die Anordnung der Ersatzfreiheitsstrafe bei Nichtbezahlung der Geldstrafe als verfassungsmäßig zu beurteilen, stellt das Verfassungsgericht nicht auf. Die Verhältnismäßigkeit zwischen Ersatzfreiheitsstrafe und der konkreten Verletzung des strafrechtlich geschützten Rechtsguts kann das Verfassungsgericht gemäß seiner eigenen Aussage nicht bewerten. Geht es um die Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs, so stellt das Verfassungsgericht nur dann eine Unverhältnismäßigkeil fest, wenn "dieser Mangel an Verhältnismäßigkeit zu einem exzessiven und unnötigen Einschnitt in die Rechte, welche die Verfassung garantiert, führt" 84 . Aus einer vertretbaren Argumentation folgt insoweit die verfassungsgerichtliche Bejahung der Verhältnismäßigkeit, ohne dass hier eine minutiöse Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs erfolgt. 3. Intensive Kontrolle In bestimmten Bereichen führt das Verfassungsgericht für die Frage der Verfassungsmäßigkeit von Normen eine intensive Kontrolle durch. a) Intensive inhaltliche Kontrolle für Möglichkeiten der Verletzung der Rechtsschutzgarantie in Einzelf